„Stell dir vor, ich weiß noch genau, wo ich gerade war.“
Zwischen Kinderabteilung und Restaurant hat er gestanden, dort vorne an der Treppe hinunter zur Markthalle. Ute Jäger reagiert nicht. Probe sitzen.
„Komm Theo, teste auch mal, ist gemütlich.“
Hat sie denn nicht verstanden? Es ist wieder da! Das, wonach Theo Jäger 25 Jahre gesucht hat: Seine Erinnerung. Wiedergefunden an einem Samstag im August 2007 – bei Ikea in Kassel.
Höxter, 24. Mai 1982: Um 15 Uhr geht Ute Jäger früher als sonst aus dem Büro nach Hause. Sie sorgt sich. Ihr Mann Theo hatte am Morgen eine Zahn-OP und sich seitdem nicht gemeldet. In der Wohnung liegt er, bewusstlos, mit weit aufgerissenen Augen. Ute Jäger, damals 24, greift zum Hörer. Was denn bloß schiefgelaufen sei bei der OP, fragt sie. „Ihr Mann war gar nicht hier“, sagt die Frau in der Leitung. „Rufen Sie sofort den Notarzt!“
Diagnose: Hirnblutung. Möglicherweise ein Aneurysma im Zentralhirn. 17 Tage Koma und die Frage, ob Ute Jäger möglicherweise die Apparate abschalten lassen möchte. Doch dann wächst die Hoffnung. „Es wäre schön, wenn Sie hier sind, wenn er aufwacht“, sagt ein Arzt. Klar wird sie da sein. So wie sie in Zukunft immer da sein wird. Jeden Tag, jede Woche, jeden Monat, jedes Jahr. Bis heute.
Plötzlich ist alles weg
Als der Physikstudent die Augen wieder öffnet, erkennt er Ute Jäger nicht. Auch ihre gemeinsame Tochter nicht. Sara, die Erstgeborene, damals gerade 17 Monate alt.
Theo Jäger sagt heute, „die Festplatte“ war gelöscht. „Als ich nach der Reha nach Hause kam, wusste ich nicht einmal mehr, dass ich morgens aufstehen muss.“ Laufen, Schreiben – alles wird der 25-Jährige wieder lernen. Seine Erinnerung an das, was vor der Krankheit war, kommt zurück. Nicht aber das Erinnerungsvermögen für Dinge, die kurz zuvor geschehen sind. Wo will ich hin? Wo habe ich das Auto geparkt? Habe ich das Essen schon gewürzt?
Professor Hans-Joachim Markowitsch spricht von einer anterograden Amnesie, einer Gedächtnisstörung, bei der die Merkfähigkeit für Neues massiv reduziert ist. Der Hirnforscher sagt, es handele sich dabei um eine dissoziative Störung, sie werde weniger durch eine Hirnschädigung hervorgerufen, sondern sei vor allem wohl psychischer Natur.
„Oft haben diese Patienten eine sehr ambitionierte und genaue Lebensplanung, die durch das Ereignis, also in Herrn Jägers Fall die Hirnblutung, über den Haufen geworfen wird“, erklärt Markowitsch. Die sich daraus ergebende psychische Belastung ändere auch den Stoffwechsel im Gehirn und so könne es eben zu solchen Ausfällen kommen.
Etwa ein halbes Dutzend dieser Fälle seien wissenschaftlich beschrieben. „Die Patienten befinden sich in einem Zustand einer ‚learned helplessness‘, der gelernten Hilflosigkeit, mit der sie sich arrangieren – basierend auf einem Grundvertrauen, das sie in die Menschen haben, die sich um sie kümmern.“ Dass Theo Jägers Gedächtnis zurückgekommen ist, überrascht Hans-Joachim Markowitsch nicht. Er und seine Kollegen gehen davon aus, dass es Trigger gibt – also Situationen, die an vergangene Situationen erinnern – und die so das Erinnerungsvermögen plötzlich reaktivieren können. Bei Theo Jäger war es jener Ikea-Besuch im August 2007, der zum Trigger wurde und seine Merkfähigkeit reaktivierte.
Letzte Woche sind die Jägers in einer Talkshow aufgetreten. Ein Bekannter hat sie auch gesehen. „Mensch, Theo, wie du das nur geschafft hast!“
„Ich kann froh sein, dass ich meine private Sekretärin hatte“, scherzt er. Er nimmt es meistens mit Humor.
Die Belastung für die Ehefrau
Für Ute Jäger aber war die Zeit von 1982 bis 2007 schwer und alles andere als lustig. Sie musste so vieles für ihren Mann sein: seine Sekretärin, seine Lehrerin, Aufpasserin und Organisatorin. Die „Leitstute der Jäger-Herde“, wie sie sagt, die inzwischen um Delia und Timna reicher geworden war.
„Ich musste immer achtgeben, dass er sich nicht verirrt, musste ihm ganz genau sagen, was er wie machen muss, sonst ging es schief.“
Ging Theo Jäger irgendwo zur Toilette, musste sie vor der Tür warten, denn sobald er in einem anderen Raum war, hatte er vergessen, wo er war und mit wem er dort war.
Kochte er mittags, um sie zu entlasten, vergaß er entweder, was sich im Topf oder dass sich eben jener auf dem heißen Herd befand.
Holte er die Kinder von der Schule ab, durfte ihn niemand auf der Straße ansprechen, sonst hätte er sein Vorhaben und damit die Kinder vergessen.
So gingen die Kinder mit der Situation um
Timna, die jüngste Tochter, hat Theo Jäger mal mit ihren Freundinnen in der Stadt getroffen. „Bist du dir sicher, dass das dein Vater war?“, fragten die anderen Mädchen danach. „Er hat dich doch gar nicht erkannt!“
Später konnte er wieder arbeiten gehen. Vor seinem Studium war er Fernmeldehandwerker – deshalb gab man ihm bei der Telekom eine Chance in der Verwaltung. Als die Familie dann in den Ferien mit Freunden nach Dänemark fahren wollte, vergaß er den Urlaub einzureichen – und bestand darauf, mit dem Zug nachzukommen. Ute Jäger stand wie vereinbart am Bahnsteig, doch von ihrem Mann fehlte jede Spur.
Kein Handy, Schneechaos, Verspätung, Anschlusszug verpasst.
Wie sollte sie ihn nur jemals wiederfinden?
Theo Jäger kam schließlich am nächsten Tag wohlbehalten an sein Ziel. Und doch: Es waren Momente wie diese, die Ute Jäger an ihre Grenzen brachten. „Ich dachte oft, ich schaffe das nicht mehr.“
Er kann endlich wieder bewusst genießen
Ob es den Kindern je an etwas gefehlt hat, fragten die Eltern einmal. Nein – sie hätten sich doch immer geliebt gefühlt. Die Antwort machte Ute und Theo Jäger glücklich. Sie wollten sich und ihre Liebe nicht verlieren. Es ist ihnen gelungen.
Gleich wollen sie in die Stadt fahren. Ute Jäger will sich ein Kleid kaufen – ihre Tochter Delia wird bald heiraten. Vielleicht können sie auf der Feier auch tanzen – jetzt da Theo Jäger sich sogar die Tanzschritte wieder merken kann.
Mehr als sieben Jahre sind seit jenem Samstag im August vergangen. Die Jägers versuchen, alles ganz bewusst zu genießen. Weil er endlich wieder dazu in der Lage ist. Weil er nicht mehr nur wie ein Roboter versucht, stoisch seine Aufgaben zu erledigen, stets darauf fokussiert, sie bloß nicht zu vergessen. Weil seine „Festplatte“ endlich komplett wiederhergestellt ist.