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Panorama Überschwemmungskatastrophe

Madeira, eine Insel aus Schlamm und Wasser

Die sintflutartigen Regenfälle auf der portugiesischen Ferieninsel Madeira haben bei reißenden Überschwemmungen und Schlammlawinen 43 Menschen in den Tod gerissen. Immer noch gibt es Vermisste, es herrscht Chaos. Das Auswärtige Amt verzichtet indes auf eine Reisewarnung.

Das Schlimmste war der Tod der Nachbarin. Wie ein Felsbrocken die Frau am Kopf traf. Wie sie zu Boden sank. Das Bild verschwindet nicht. Inés Nascimento war auf der Flucht vor dem Wasser, als es geschah. Jetzt sitzt die 13-Jährige in der Militärkaserne von Sao Martiño, wird von Psychogen betreut und sagt: „Wir waren zwischen zwei Erdlawinen eingeschlossen, sie sahen aus wie riesige Berg, die uns verschlingen wollten.“ Wann sie und ihre Familie in das 980-Einwohner-Dorf Santo António zurückkehren kann, weiß niemand. Wahscheinlich steht ihr Haus nicht mehr, abgeräumt von den Wassermassen.

Die Ungewissheit quält auch Virginia Vieira. Die 45-Jährige war in der Hauptstadt Funchal, als es passierte. Zum Einkaufen. Jetzt kann sie nicht mehr nach Hause. Sie sagt: „Ich habe nichts von meiner Familie gehört, ich habe keine Ahnung, ob nach alle am Leben sind.“

n Funchal gehen die Menschen jetzt durch den Matsch. Suchen auf dem Boden nach etwas, was nicht zerstört, nicht mitgerissen wurde von der Flut. Manche sammeln das auf, was vor ihre Häuser gespült wurde. Alles liegt kreuz und quer in der braunen Suppe, da eine Schublade, dort ein Mülleimer, dahinter ein Buch. Letztlich können aber nur Bagger Ordnung schaffen.

Zwei Tage nach den Regenfällen und den Überschwemmungen und den Erdrutschen ist auf der portugiesischen Insel Madeira alles anders. Die Trauminsel trägt Trauer. 43 Menschen sind nach offiziellen Angaben gestorben, darunter eine britische Touristin. Doch es gibt immer noch Vermisste. 120 Menschen wurden verletzt, 250 sind obdachlos. Militärtrupps verteilen saubere Kleider und Lebensmittel.

IDas Wasser krachte ungebremst durch die engen Schluchten der bergigen Insel. Ganze Brücken wurden weggerissen, neue Autobahnen überflutet, viele Autos wurden ins Meer gespült, das Wasser brach sich durch Wohnzimmer, Strommasten kippten um. Die Räumanstrengungen sind massiv: 270 Bulldozer und Bagger beschicken 150 Lastwagen. Die Innenstadt der bei Touristen beliebten Hauptstadt Funchal ist gesperrt, zu gefährlich ist es dort solange die Bautrupps beschäftigt sind. Der Süden der Stadt ist von Schlamm und Schutt bedeckt. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir mehr Leichen finden werden“, sagt Bürgermeister Miguel Albuquerque.

Mittlerweile scheint ab und zu die Sonne, man kann sich kaum mehr vorstellen, wie es beim Unglück war: So etwas habe es noch nie gegeben auf ihrer Insel, sagen die Menschen auf Madeira.

Dabei sind die Leute Regen hier gewohnt, auch hatte es 1993 einen Erdrutsch gegeben, acht Menschen starben damals. Doch bei dem heftigen Regen fielen in der Stunde 52 Liter Wasser pro Quadratmeter. Zum Vergleich: Binnen acht Stunden fiel so viel Regen wie sonst in einem ganzen Monat. „Blumeninsel“ wird Madeira genannt, auch „Perle des Atlantiks“. Es sind kitschige Begriffe. Sie passen nicht, in den Stunden nach der Tragödie.

250.000 Menschen wohnen auf der Atlantikinsel, etwa eine Millionen macht im Jahr hier Urlaub. 170.000 deutsche Touristen kamen im Jahr 2009 nach Madeira, so die portugiesische Tourismusbehörde. Mit dem Reiseveranstalter Tui sind aktuell 1400 deutsche Pauschaltouristen auf Madeira, ihnen geht es gut, sagte Konzernsprecherin Anja Braun der WELT ONLINE. Vereinzelt habe es seit Samstag Umbuchungswünsche gegeben. Es seien vor allem Wanderurlauber, die nun nicht mehr nach Madeira möchten, da die Insel zum Teil noch nicht sicher ist und einige Wanderwege gesperrt sind. Pauschalurlauber, die viel Zeit auf der Hotelanlage verbringen würden, wären von den Verwüstungen nicht betroffen, so die Tui-Sprecherin. Die Hotels seien unberührt, der Erholung stehe nichts im Wege.

Das Kreuzfahrtschiff Aida Luna konnte das wahrscheinlich schönste Ziel der Reise gar nicht ansteuern: Kurzfristig entschied man sich, statt Madeira nach Gran Canaria zu fahren. „Unser Schiff hat vom Unwetter nichts mitbekommen“, sagte ein Sprecher des Konzerns WELT ONLINE. In den nächsten Tagen soll entschieden werden, ob Madeira angefahren werden kann. Schließlich sei bei den Unwettern auch der Hafen beschädigt worden.

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Beim Auswärtigen Amt gibt es nur vorsichtige Reisehinweise. Warnungen, heißt es, gebe es nur für Krisenregionen wie Iran oder Irak. Jedoch empfehle man Madeira-Reisenden, sich über die Medien zu informieren und den Veranstalter zu kontaktieren. Lufthansa-Gäste in Deutschland haben wahrscheinlich mehr Probleme als Fluggäste auf Madeira. Der Flughafen ist inzwischen wieder geöffnet, heißt es. Zum Teil komme es noch zu geringen Verspätungen.

Massentourismus wie auf den Kanarischen Inseln gibt es auf Madeira nicht. Erst im Jahr 1964 wurde der Flughafen eingeweiht. Zuvor gelangte man nur mit dem Schiff auf die Insel. Das verleiht dem Tourismus einen Aufschwung. Es gibt jedoch weiterhin nur Luxushotels – Portugals Diktator Salazar ist strickt gegen den Massentourismus. 1986 trat Portugal der Europäischen Gemeinschaft bei, im Jahr 2000 wird die von der Europäischen Union finanzierte größere Landebahn des Flughafens eröffnet, immer mehr Touristen besuchen die Insel. Jetzt steht neben dem Flughafen eine spontan aufgebaute Leichenhalle. Aufgebart dort auch ein Feuerwehrmann. Er versuchte eine Frau zu retten. Wurde vom braunen Strom mitgerissen.

Gestritten wird jetzt über mögliche Fehler beim Städtebau. „Früher oder später musste es zu einer Katastrophe kommen“, sagt Violante Saramago, Tochter des Literaturnobelpreisträgers José Saramago. Flüsse mit einem Flussbett von bis zu 14 Metern Breite habe man nicht auszementieren dürfen – so laufe das Wasser doch nur noch schneller ab. Und: „Man hätte auch keine Kreuzungen über die Flüsse bauen dürfen, früher oder später musste es zu einer Katastrophe kommen.“

Der berühmteste Sohn der Insel ist der teuerste Fußballspieler der Welt: Christiano Ronaldo, sonst ein eher großmäuliger Typ, war schwer betroffen. Er sagte: „Niemand kann diesem Desaster gleichgültig gegenüber stehen.“ Er möchte ein Benefizspiel organisieren, um den Menschen in seiner Heimat zu helfen. Ronaldo wurde in einem Arbeiterviertel der Hauptstadt geboren, in den 90er Jahren spielte er in Nachwuchsmannschaften von Nacional Funchal – und am Sonntag traf er für seinen Club Real Madrid zum 1:0, riss sich das Trikot hoch, auf seinem Unterhemd standen sieben Buchstaben: MADEIRA.

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