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Weltgeschehen „Gebäre mehr Soldaten“

Russland erschwert Frauen Zugang zu Abtreibungen, um Bevölkerung zu vergrößern

„Eine durchorganisierte Show – Korruption und Autoritarismus werden nicht angesprochen“

Bei einem Fernsehauftritt stellte sich der russische Präsident Wladimir Putin den Fragen russischer Journalisten und Bürger. Russlandexpertin Sarah Pagung spricht bei WELT TV über den Auftritt des russischen Machthabers und seine Bedeutung.

Quelle: WELT TV

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Seit 1990 schrumpft die russische Bevölkerung. Eine Entwicklung, die durch den Krieg gegen die Ukraine verstärkt wird. Für das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche liegt die Lösung auf der Hand: die Abschaffung von Schwangerschaftsabbrüchen. Damit stößt er bei Putin auf offene Ohren.

Russlands Patriarch Kirill hat aus seiner Sicht die Lösung für das Problem der schrumpfenden Bevölkerung gefunden: Wenn Schwangerschaftsabbrüche aufhörten, würde die Bevölkerung „wie mit einem Zauberstab“ wieder wachsen. Und seine Einstellung hat Folgen für die Frauen Russlands. In einigen Regionen werden bereits Abtreibungen in privaten Kliniken und der Zugang zur „Pille danach“ eingeschränkt. Gesundheitsbehörden drängen Ärzte an staatlichen Kliniken dazu, Frauen vom Schwangerschaftsabbruch abzuhalten.

Aktivisten sehen dies als Teil einer großangelegten Kampagne. „Wenn ein Land sich im Krieg befindet, führt das üblicherweise zu dieser Art von Gesetzgebung“, sagte die russische Feministin Leda Garina, die in Georgien im Exil lebt. Diese Maßnahmen vermittelten Frauen eine eindeutige Botschaft: „Bleib‘ zu Hause und gebäre mehr Soldaten.“

Die Sowjetunion war 1920 das erste Land der Welt, das Abtreibung entkriminalisierte. Der Kreml nähert sich jetzt aber Schritt für Schritt der Anti-Abtreibungslinie der orthodoxen Kirche an. Russland versucht, seine demografische Krise, weiter verschärft durch die Corona-Pandemie und den Ukraine-Krieg, zu bewältigen, indem das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in Frage gestellt wird.

Präsident Wladimir Putin selbst hat sich zum Verfechter der Großfamilie ernannt – im Namen traditioneller und patriotischer Werte. Er sei dagegen, Abtreibungen ganz zu verbieten, aber Schwangerschaftsabbrüche seien gegen das Interesse des Staates, sagte Putin in der vergangenen Woche. Er wolle, dass schwangere Frauen „das Leben des Kindes schützen“, um „das demografische Problem zu lösen“.

Seit Jahren versucht der Präsident, seine Landsleute durch finanzielle Anreize zum Kinderkriegen zu motivieren, da Russlands Bevölkerung seit den 1990er-Jahren schrumpft. Durch den Ukraine-Krieg hat das Problem eine neue Dimension bekommen.

Der Kreml sehe dies „als Frage des nationalen Überlebens“, sagt die Politologin Tatiana Stanovaya vom Carnegie Russia Eurasia Center. Jeglicher Widerstand gegen Positionen der Regierung in sozialen Fragen sei für Putin ein westliches Komplott. „Das betrifft jetzt auch Abtreibungen. Sie glauben, dass es der Plan des Westens ist, Frauen vom Schwangerschaftsabbruch zu überzeugen und so Russlands demografisches Problem zu verschlimmern.“

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Im vergangenen Monat hatte das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche, Patriarch Kyrill, die Behörden aufgefordert, Schwangerschaftsabbrüche zu erschweren. So könne die Bevölkerung wie „mit einem Zauberstab“ wieder wachsen. Seither haben mehr als ein Dutzend Regionen angefangen, Abtreibungen in Privatkliniken zu unterbinden oder zumindest zu einzuschränken. Privatkliniken verabreichen vor allem die Abtreibungspille und stellen weniger Fragen, sagt die Demografin Viktoria Sakjewitsch.

Staatliche Kliniken haben vor Jahren Beratungsgespräche mit Schwangeren eingeführt, in denen sie versuchen, die Frauen zu überzeugen, nicht abzutreiben. Aber die jüngsten Empfehlungen des Gesundheitsministeriums an die Ärzteschaft gehen weiter. Es gehe darum, Frauen „davon abzuhalten, sie unter Druck zu setzen, ihnen Angst zu machen“, sagt Sakjewitsch. Manche Regionen haben sogar einen Bonus für Ärzte ausgeschrieben, die Frauen vom Schwangerschaftsabbruch abhalten.

Wenn es Privatkliniken jetzt verboten würde, Abtreibungen vorzunehmen, könnte Sakjewitsch zufolge eine „Grauzone“ von Einrichtungen entstehen, die sich für Abbrüche bezahlen lassen. Das würde einkommensschwache Frauen am härtesten treffen, deren Anteil bei Schwangerschaftsabbrüchen am größten ist. Sie fürchtet einen Schwarzmarkt für Abtreibungspillen und möglicherweise sogar Abtreibungen in Hinterhöfen.

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Früher waren sogenannte Lebensschützer eine Randerscheinung, aber der Krieg habe ein politisches Umfeld geschaffen, in dem radikalere Initiativen entstünden, erklärt Stanovaya. Putins eigenes politisches Lager ist in der Frage gespalten. Einige Männer in der Regierung unterstützen die neuen Maßnahmen, aber die ranghöchste Politikerin, Walentina Matwjenko, warnt vor „tragischen Konsequenzen“.

Beobachter fürchten, die jüngste Entwicklung könnte erst der Anfang sein. „Wir müssen uns auf mehr Verbote, mehr Beschränkungen einstellen“, betont Sergej Sacharow, russischer Demograf an der Universität Straßburg. Schwangerschaftsabbrüche könnten zum Beispiel aus der staatlichen Krankenversicherung herausgenommen werden, wie die Kirche fordert.

Nach Ansicht der Politologin Jekaterina Schulmann soll die Debatte den Russen vor der nächsten Wahl im März Gesprächsstoff liefern, da sie „nicht über den Krieg oder die Wirtschaft reden können“. Die Politiker packten das demografische Problem am falschen Ende an, sagt Schulmann. „Sie sollten die Todesfälle bei jungen Männern bekämpfen, die der Hauptgrund für das Schrumpfen der Bevölkerung sind. Anstatt Frauen dazu zu bewegen, mehr Kinder zu kriegen.“ Aber über die Lebenserwartung von Männern zu reden, ist Tabu, während Moskau hunderttausende Männer zum Kämpfen in die Ukraine schickt.

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AFP/luz

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