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Wirtschaft Urbanisierung

Deutschland wird zu einer einzigen großen Stadt

Korrespondent Europäische Wirtschaft
Schon 2005 lebte die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten. 2050 werden es nach aktuellen Schätzungen zwei Drittel sein Schon 2005 lebte die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten. 2050 werden es nach aktuellen Schätzungen zwei Drittel sein
Schon 2005 lebte die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten. 2050 werden es nach aktuellen Schätzungen zwei Drittel sein
Quelle: Getty Images
Geht die Landflucht ungebremst weiter, wird es hierzulande in einigen Jahrzehnten nur noch Stadtbevölkerung geben. Die Folgen für die Wirtschaft wären gravierend – aber nicht unbedingt negativ.

Worum geht es

In Singapur wird der Platz knapp, und die Regierung greift zu drastischen Maßnahmen. Die Verwaltung des winzigen südostasiatischen Stadtstaats ist dabei, hunderttausende von Gräbern auszugraben und die Leichname zu exhumieren, um Platz zu schaffen für neue Wohnblöcke, Straßen und Einkaufszentren.

Von derartigen Engpässen sind deutsche Großstädte weit entfernt, wenngleich in gefragten Ballungsräumen wie München und Berlin zehntausende von Wohnungen fehlen. Verantwortlich dafür ist eine neue Völkerwanderung vom Land in die Stadt. Die Folgen zeigen sich bereits: Ländliche Gebiete vor allem im Osten Deutschlands bluten aus, und die beliebtesten Städte platzen aus allen Nähten.

Was aber, wenn dieser Trend ungebrochen anhält? Was würde es für die Wirtschaft bedeuten, wenn praktisch die gesamte Bevölkerung in die Städte zieht und Deutschland langsam zu Deutschstadt würde? Führende Stadtökonomen aus Europa und den USA haben sich auf dieses Gedankenexperiment eingelassen.

Edward Glaeser, einer der weltweit bekanntesten Stadtökonomen, glaubt, dass Deutschland sehr gut auf eine fast vollständige Urbanisierung vorbereitet wäre: „Deutschland ist im weltweiten Vergleich ein extrem gut funktionierendes Land“, sagt Glaeser, der an der amerikanischen Elite-Universität Harvard forscht und lehrt. „Ich bin sehr optimistisch, dass Deutschland die Voraussetzungen hat, um die zunehmende Verstädterung in den Griff zu kriegen.“

Während Großstädte und ihr Umland an Bevölkerung zulegen, geht die Landflucht vor allem in ostdeutschen Regionen weiter
Während Großstädte und ihr Umland an Bevölkerung zulegen, geht die Landflucht vor allem in ostdeutschen Regionen weiter
Quelle: Infografik Die Welt

Öffentlicher Personennahverkehr, sauberes Wasser, Polizei – je größer die Stadt ist, desto wichtiger sei eine gut funktionierende Verwaltung. „Wenn es irgendein Land fertigbringt, dann Deutschland“, sagt Glaeser.

Städter sind besonders produktiv

Die wirtschaftlichen Folgen einer stärkeren Verstädterung könnten erheblich sein, denn Ökonomen gehen davon aus, dass die Menschen in Städten produktiver sind, als wenn sie auf dem Land wohnen. „Verstädterung führt zu höherer Produktivität und dadurch zu mehr Wachstum“, sagt etwa Gabriel Ahlfeldt, Associate Professor an der London School of Economics (LSE).

Ökonomen sehen dabei vor allem zwei Kräfte am Werk: Weil Arbeitnehmer in großen florierenden Städten unter vielen Arbeitgebern wählen können, landet der Einzelne mit höherer Wahrscheinlichkeit in einem Job, der ihm besonders gut liegt. Umgekehrt haben die Arbeitgeber mehr Möglichkeiten, einen passenden Kandidaten für eine Stelle zu finden.

Wenn sich zudem Firmen in einer Stadt ballen, lernen die Firmen voneinander und kopieren und adaptieren, was bei anderen gut läuft – ganz besonders, wenn Firmen aus unterschiedlichen Bereichen voneinander lernen. Dieser Fluss von Wissen scheint verantwortlich dafür, dass Unternehmen in Städten innovativer sind als Firmen auf dem Land.

Dieser Produktivitätsvorteil bleibe selbst in Zeiten von Handys und Videokonferenzen erhalten, sagt Ahlfeldt: „In Städten verbreitet sich Wissen schneller; das gilt für Wissen zwischen Firmen, aber auch für die Art von Informationen, wie man sie abends nach der Arbeit beim Bier austauscht.“ Händler in der Londoner City könnten sich beispielsweise im Pub über Handelsstrategien austauschen.

Verstädterung entlastet die öffentlichen Kassen

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Stadtforscher Glaeser erwartet, dass eine stärkere Urbanisierung hierzulande für eine Innovationsexplosion sorgen könnte: „Eine stärkere Urbanisierung könnte Wunder wirken und die deutsche Wirtschaft in eine komplett neue Richtung führen“, spekuliert der Wissenschaftler.

Aber nicht jeder teilt diese Sicht. Marius Brülhart, Professor für Volkswirtschaft an der Universität Lausanne, hat jüngst in einer großen globalen Studie herausgefunden, dass vor allem Schwellen- und Entwicklungsländer von der Verstädterung profitieren. Aber ab einem Pro-Kopf-Einkommen, das dem von Bulgarien oder Brasilien entspricht, werde der Effekt kaum wahrnehmbar.

Eine stärkere Konzentration der Bevölkerung hierzulande könnte durchaus die öffentlichen Kassen entlasten. Zum einen, weil höhere Produktivität höhere Steuereinnahmen bringt. Aber auch die Ausgaben könnten sinken: Wenn auf dem Land niemand mehr wohnt, müssen keine gut ausgebauten Straßen mehr in dünn besiedelte Gegenden führen und brauchen abgelegene Dörfer keine Kläranlagen und keinen Anschluss an die Stromversorgung mehr.

„Der Staat muss nicht mehr in jedem Weiler eine Turnhalle bauen und kann seine Angebote viel besser auslasten, wenn die Bevölkerung konzentriert ist. Auch der Öffentliche Personennahverkehr lässt sich viel günstiger organisieren, wenn viele Menschen dicht beieinander wohnen und nicht über das Land verstreut“, sagt Brülhart.

Der Norden und Süden gewinnen Einwohner hinzu
Der Norden und Süden gewinnen Einwohner hinzu
Quelle: Infografik Die Welt

„Die meiste Infrastruktur wie Straßen, Kanalisation oder Telefonleitungen hat hohe Fixkosten beim Bau und beim jährlichen Unterhalt. Je dichter besiedelt ein Bereich ist, desto günstiger wird es, jeden Einzelnen zu versorgen“, ergänzt LSE-Professor Ahlfeldt. „Ganz offensichtlich gibt der Staat in Städten weniger pro Person aus als auf dem Land. Deshalb ist zu erwarten, dass die staatlichen Haushalte entlastet werden, wenn die Deutschen nur noch in Städten leben. “

Betreuung ist auf dem Lande oft Privatsache

Allerdings ist es in dicht besiedelten Gebieten häufig deutlich komplizierter und teurer zu bauen als in der freien Fläche. Die neue Crossrail etwa, die ab Ende 2019 London in Ost-West-Richtung durchqueren soll, wird geschätzte 18 Milliarden Euro kosten. Und in Boston wurden beim sogenannten „Big Dig“ fast 15 Milliarden Dollar verbuddelt, als die größte Stadtautobahn unter die Erde verlegt wurde.

Großprojekte in den Metropolen kosten hohe Milliardenbeträge
Großprojekte in den Metropolen kosten hohe Milliardenbeträge
Quelle: Infografik Die Welt

Ökonom Brülhart rechnet zudem mit höheren Kosten für den Staat an anderer Stelle, weil der soziale Zusammenhalt in der Stadt oft weniger stabil sei als auf dem Land. Wo auf dem Land die Großmutter die Kinder betreue oder die Familien sich untereinander helfen, müsse in der Stadt eine Kinderbetreuung vom Staat angeboten werden.

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„Vieles, was in den beständigeren ländlichen Gesellschaften stärker von Familien oder unter Bekannten organisiert wird, muss in der Stadt vom Staat angeboten werden“, sagt Brülhart. Das gelte zum Beispiel für Krippen, die Pflege von Alten und generell die Betreuung einsamer Menschen, von denen es in den Städten mehr gebe. „Menschen in Städten haben ein größeres Bedürfnis nach Unterstützung durch den Staat als die ländliche Bevölkerung, welche im Allgemeinen weniger mobil ist und sich somit stärker auf familiäre und gemeinschaftliche Bande abstützen kann.“

Wären die Menschen in Deutschstadt dann also auch unglücklicher als heute? Vermutlich nicht. Untersuchungen in den USA haben gezeigt, dass Menschen, die in Städten leben, nicht glücklicher sind als Menschen auf dem Lande – aber eben auch nicht unglücklicher.

Eine Ausnahme ist New York, wo die Bewohner überdurchschnittlich unzufrieden sind. „Aber das ist ein New-York-Ding“, sagt Stadtforscher Glaeser. „Dort gelten zufriedene und glückliche Menschen als dumm.“

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Quelle: N24

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