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Arbeit Selbsttest

Arbeitslos sein – aber nur für einen Tag

Für einen Tag arbeitslos: Als Steffen Fründt mit seinem Schild Posten bezog, bekam er rasch Gesellschaft von einem echten Arbeitslosen Für einen Tag arbeitslos: Als Steffen Fründt mit seinem Schild Posten bezog, bekam er rasch Gesellschaft von einem echten Arbeitslosen
Für einen Tag arbeitslos: Als Steffen Fründt mit seinem Schild Posten bezog, bekam er rasch Gesellschaft von einem echten Arbeitslosen
Quelle: Reto Klar/Reto Klar
Ausgestattet mit einem Pappschild vor Bauch und Rücken hat sich Steffen Fründt in der Fußgängerzone aufgestellt, darauf war zu lesen: "Ich suche Arbeit jeder Art." Ablehnung, Betroffenheit, Solidarität – der Autor bekommt in den Reaktionen der Passanten zu spüren, was Arbeitslosigkeit bedeutet.

Mittagspause in der Hamburger Innenstadt. Frühling liegt in der Luft. Die Büromenschen strömen ins Freie, sie flirten und lachen. Aber nicht mit mir. Für mich regnet es heute, und zwar Blicke. Ein smarter Banker mustert mich abschätzig aus der Entfernung und dreht sich dann mit säuerlichem Gesicht zu seinen Kollegen um. Andere schielen verstohlen aus den Augenwinkeln, und sobald ich zurückschaue, schauen sie schnell auf ihre Handys. Für die hübschen Frauen bin ich unsichtbar. Mit starrem Blick stöckeln sie vorbei, den Latte-macchiato-Becher fest umklammert. Ein paar 14-Jährige drehen sich feixend nach mir um.

Ich habe keine ansteckende Krankheit, will niemandem etwas stehlen und rieche auch nicht streng. Dennoch bin ich für Hamburg plötzlich ein Paria, ein Aussätziger der Gesellschaft. Um mich dazu zu machen, reichten fünf Wörter und ein Ausrufezeichen: „Ich suche Arbeit jeder Art!“

In altmodisch geschwungenen Lettern steht der Satz auf zwei Papptafeln, die wie Sandwichbrötchen vorne und hinten von meinen Schultern herabhängen. Genau wie bei dem Mann mit Hut, 1931 auf einer Straße in Berlin aufgenommen, dessen Foto bis heute in vielen Schulbüchern abgedruckt ist, als Symbol für die große Wirtschaftskrise Anfang der 30er-Jahre. Damals lag die Weltwirtschaft am Boden, Millionen von Menschen landeten auf der Straße. Nicht alle trugen ein Schild um den Hals. Doch ausgemergelte Männer, die in ausgetragenen Anzügen auf der Suche nach Arbeit durch die Städte zogen, waren damals ein vertrautes Bild.

Heute sieht es anders aus. Was nicht bedeutet, dass die Lage auch anders wäre. Auch heute befindet sich die Wirtschaft in einer globalen Krise, von der keiner sicher weiß, ob sie wirklich schon zu Ende geht. 3,6 Millionen Menschen in Deutschland sind offiziell arbeitslos gemeldet. Doch das Massenphänomen Arbeitslosigkeit findet fast ausschließlich im Privaten statt. Eine millionenfache Tragödie aus Minderwertigkeitsgefühlen, Mittel- und Perspektivlosigkeit. Eine gigantische Verschwendung von Geld und Leben. „Ich suche Arbeit“, das ist ein Satz, der auf Millionen von Menschen zutrifft. Doch wer ihn auf ein Schild schreibt und sich damit in die Fußgängerzone stellt, der kann etwas erleben.

Die verschlossenen Gesichter der Passanten scheinen sich zu einer einzigen Wand der Ablehnung zu vereinen, der ich alleine gegenüberstehe. Doch nach einigen Minuten schon bekommt die Mauer Lücken. Einer murmelt: „Geht mir auch so, Mann.“ Eine Frau lächelt mich an und sagt im Vorbeigehen leise: „Viel Glück!“

In den ablehnenden Blicken lese ich jetzt noch etwas anderes: Betroffenheit. „Ist es denn wirklich schon so schlimm?“, fragt ein Mann fast ärgerlich, ohne aber eine Antwort abzuwarten. Eine resolute Frau um die sechzig will wissen: „Was haben Sie denn gelernt?“ Journalist. „Oh. Damit haben Sie es natürlich schwer heutzutage...?“

Arbeitslosigkeit, das spricht aus den mitfühlenden Blicken genauso wie aus den verächtlichen, Arbeitslosigkeit ist in unserer Gesellschaft eine schwere Schmach. Wer nicht arbeitet, dessen Leben fehlt der Sinn. Oder der gesellschaftliche Nutzen. Oder beides. Nur wer selbst arbeitslos ist, kann wohl wissen, wie es sich wirklich anfühlt, am privaten Pranger zu stehen. In der Familie, im Freundeskreis, vor den früheren Kollegen.

Plötzlich merke ich, dass da jemand neben mir steht, mit einer Baseballkappe auf dem Kopf und einem Stück Pappe in der Hand. Darauf die Worte: „Ich Auch!!!“ Der Mann sieht meinen Blick und grinst fröhlich: „Moin, ich bin Gerd. Was dagegen, wenn ich mich dazustelle?“

Gerd ist seit eineinhalb Jahren arbeitslos und de facto Bettler. Sein letzter vernünftiger Job sei eine Anstellung als Kellner auf Norderney gewesen, erzählt er: „Ich will arbeiten und nicht nur herumsitzen und um Almosen betteln. Das mit dem Schild ist eine gute Idee. Jobcenter kannste eh’ vergessen.“ Bei Gerd erschwert die Lage, dass er seit Monaten obdachlos ist. Seine Postanschrift ist die Bahnhofsmission. Außerdem gab es da eine siebenjährige Haftstrafe wegen einer nicht unerheblichen Straftat. Das macht Gerd nicht gerade zum idealen Arbeitnehmer. Auf der anderen Seite: Er ist erst 43 Jahre alt. „Das ist doch zu früh zum Aufgeben!“

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In Hamburg waren im März 81.865 Arbeitslose registriert. Zugleich leben hier mehr Millionäre als in irgendeiner anderen deutschen Stadt. Beide Gruppen haben gemeinsam, dass sie ihren Status in der Öffentlichkeit nicht gerne herausstreichen. Ansonsten gibt es kaum Berührungspunkte. Langzeitarbeitslose und Einkommensmillionäre leben in derselben Stadt, aber in verschiedenen Welten.

Gerd ist schon vor einer Weile weitergezogen. Da schreitet ein Mann mit forschem Schritt heran, mit cremefarbenem Trenchcoat, Flanellpullover und ausgeprägter Pistenbräune. „Suchen Sie wirklich einen Job?“, fragt er, ohne mir in die Augen zu schauen. Hätten Sie denn einen? „Wenn Sie einen Führerschein haben, vielleicht. Meine Frau hat ihren verloren, und ich suche jemanden, der sie herumkutschiert.“ Zwar nur für sechs Wochen, aber immerhin: ein Jobangebot.

Das bleibt vorerst die letzte Begegnung mit den Gutsituierten. Dafür erfahre ich umso mehr Solidarität von unten. In der Bahnhofsunterführung löst sich aus einer Gruppe lautstarker Trinker eine Frau, deren Gesicht schlimm zugerichtet ist. „Am besten, Sie stellen sich woanders hin. Wenn Sie neben uns stehen, bleibt ohnehin keiner stehen.“ Einer ihrer Bekannten nennt mir die Handynummer eines gewissen Herrn Sch. „Außendienst, Zeitschriften und so. Der besorgt dir auch ’ne Wohnung. Und wenn er sagt, Freitag gibt’s Geld, dann ist das so.“

Ich trage einen guten Mantel, auch die Stiefel waren nicht billig. Doch die Leute sehen nur das Schild. Am Mönckebergbrunnen kommt ein Muttchen mit Kopftuch auf mich zu. Aus ihrem mit Klebestreifen geflickten Einkaufswägelchen kramt sie die Visitenkarte einer Zeitarbeitsfirma hervor. „Ist noch bis 18 Uhr geöffnet“, sagt sie mit schlesischem Akzent. „Wenn Du nicht traust, kann ich mitkommen.“

Irgendwann schieben sich graue Wolken vor die Sonne, ein ungemütlicher Wind zerrt an den Tafeln, und eine ältere Dame bekommt Mitleid: „Gehen Sie doch in eine Passage. Da ist es wärmer, und die Leute bleiben lieber stehen!“

Die Europa-Passage an der Binnenalster ist einer dieser neuen Shoppingtempel mit Glasdach, Marmorboden und den üblichen Filialisten. Kaum habe ich vor dem Starbucks Posten bezogen, kommt ein Mann Mitte dreißig die Rolltreppe heruntergefahren und bleibt fünf Meter von mir entfernt stehen. Dann zückt er nur in aller Seelenruhe sein Handy, macht ein Foto von mir und geht. Ein Rentner hat den Vorgang beobachtet, kommt noch ein Stück näher heran und knipst mich ebenfalls. Keiner der beiden spricht mich an, fragt zumindest mit den Augen um Erlaubnis.

Sicherheitsleute: Sie sind hier nicht erwünscht

Wahrscheinlich hätte der Nächste ein Video gedreht und bei Youtube veröffentlicht, doch dazu kommt es nicht. Von irgendwoher sind plötzlich zwei Sicherheitsleute aufgetaucht. Dies sei Privatbesitz, belehren sie mich, ich sei hier nicht erwünscht und möge doch bitte gehen. Jetzt gleich.

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Kaltherziges Hamburg? Nicht nur. Kaum habe ich die geheizte Passage verlassen, eilt mir ein Paar mittleren Alters hinterher. „Hat man Sie gerade wirklich hinausgeworfen?“, fragt die Frau empört. „Warten Sie hier –? Ich gehe sofort zur Geschäftsleitung.“

Das großformatige Arbeitsgesuch auf Brust und Rücken provoziert nicht nur Wachpersonal, sondern auch Anteilnahme. Ein Anzugträger mit freundlichem Gesicht kommt herbeigelaufen, um mich auf einen jungen Mann mit Klemmbrett aufmerksam zu machen, der ein Stück die Straße hoch steht. Der hat auch tatsächlich einen Job für mich, als freiberuflicher Spendensammler für eine große Hilfsorganisation. „Flexible Arbeitszeiten, lockere Leute, gutes Geld und dabei die Welt retten!“, schwärmt der Rekrutierer, der selbst erst 17 Jahre alt ist und noch zur Schule geht. Was dabei herausspringt? „Bei Ihnen wären das neun Euro pro Stunde, plus 60 Prozent Provision.“ Ganz astrein kann das nicht sein.

Ein alter Mann, der mich schon eine ganze Weile lang aus der Distanz beobachtet hat, bemerkt nachdenklich: „Das erinnert mich an früher.“ Die große Krise kann auch er allenfalls als kleines Kind erlebt haben. „Die Geschichte wiederholt sich“, sagt er dennoch mit verschwörerischer Miene. „Sie kommt nur in einem neuen Gewand, damit wir sie nicht erkennen!“

Jobtipps, Lebenshilfe, sogar Geschichtsunterricht. Jetzt auf einmal scheint mir jeder etwas mit auf den Weg geben zu wollen. Sogar ein Obdachloser will mir helfen und rät mir, wie er selbst Obdachlosenzeitungen zu verkaufen. „Zwei, drei Euro die Stunde. Davon kann man leben. Keine Arge, kein Sozialamt!“

Ein bulliger Typ mustert mich wortlos. Dann schüttelt er den Kopf und geht. Als ich ihm hinterherrufe, was denn gewesen sei, brummt er über die Schulter: „Mein Bruder arbeitet im Tiefbau, 17 Euro die Stunde. Das ist echte Arbeit. Aber nicht mit den Händen.“

Das Einzige, was mir an diesem Tag niemand rät, ist ein Gang zum Arbeitsamt.

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