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Ein Fernseh-Präsident will es wissen

Von Gerhard Lechner

Politik
Spitzbübischer Traum der Schwiegermütter: Selenski.
© Kvartal 95

Der Wahlkampf um die Präsidentschaft in der Ukraine wird spannend. Der Comedian Wolodymyr Selenski hat gute Chancen.


Kiew. Am Anfang war Wassili Petrowitsch Goloborodko. Ein knapp unter 40-jähriger Klassenlehrer an einer Schule in Kiew. Ein bescheidener, ganz gewöhnlicher Ukrainer, der nicht allzu viel verdient, immer noch bei seinen Eltern im heruntergekommenen Plattenbau wohnt und sich über die Unzulänglichkeiten des oligarchisch geprägten Systems seines Landes ärgert.

Eines Tages platzt dem Geschichtsprofessor wegen eines ärgerlichen Vorfalls an seiner Schule der Kragen und er setzt zu einer Wutrede gegen das System an. Ein Schüler filmt die Szene, die Sequenz landet auf YouTube. Goloborodko wird landesweit bekannt - und nach einer Crowd-funding-Kampagne, die seine Schüler organisiert haben, für alle überraschend zum Präsidenten der Ukraine gewählt.

"Sluga Naroda", "Diener des Volkes" heißt die Fernsehserie, die seit 2015 mit großem Erfolg in der Ukraine läuft. Goloborodko ist darin die Hauptfigur - als Präsident krempelt der einfache Bürger aus Kiew mit entwaffnender Ehrlichkeit das verlogene und korrupte oligarchische System des Landes um, obwohl er es alles andere als leicht hat: Hinter den Kulissen wird immer wieder versucht, den ehemaligen Geschichtslehrer, der sich anfangs gegen seine Berufung zum Präsidenten gewehrt hat, zu stoppen oder ins System einzubinden. Goloborodko aber hält den zahlreichen Versuchungen stand. Auch gegenüber westlichen Gläubigern, die die Ukraine mit herablassender Arroganz behandeln, zeigt er sich unbeeindruckt - und schleudert ihnen bei einer gemeinsamen Pressekonferenz ein herzhaftes "Geht in den A..." entgegen.

Das alles wird stets humorvoll und auch selbstironisch vorgetragen - und wirkt so realistisch, dass sich heute viele Ukrainer tatsächlich einen Mann wie Goloborodko zum Präsidenten wünschen. Und sie könnten ihn auch bekommen: Denn Wolodymyr Selenski, der landesweit bekannte ukrainische Schauspieler, Showmoderator und Kabarettist, der Mann, der Goloborodko spielt, hat am späten Silvesterabend in einer Art Neujahrsansprache tatsächlich angekündigt, bei der Präsidentschaftswahl am 31. März zu kandidieren. Seine Partei "Diener des Volkes" hat er schon registrieren lassen. Eine Website für seine Kandidatur gibt es auch bereits - obwohl man sich bei dem Komiker Selenski, der lange offen gelassen hat, ob er antritt oder nicht, nie ganz sicher sein kann, wie ernst seine Ankündigungen gemeint sind.

In den Hinterzimmern der Macht in der Ukraine dürfte seine Kandidatur jedenfalls gehörig Staub aufgewirbelt haben. Denn Selenski, der in seinen Shows mit der politischen Klasse abrechnet, ist, obwohl er politisch bisher kaum in Erscheinung getreten ist, kein Spaßkandidat. Dafür ist die Zustimmung für den Mann aus dem russischsprachigen Krivoj Rog (ukrainisch: Krivyj Rih) in der Nähe der südöstlichen Industriemetropole Dnipro - dem ehemaligen Dnipropetrowsk - einfach zu groß. Seit Monaten schon belegt Selenski in Umfragen Platz zwei hinter Ex-Premierministerin Julia Timoschenko. Präsident Petro Poroschenko muss sich bereits hinter ihn einreihen.

Der meist spitzbübisch lächelnde, witzige Schwiegermuttertraum mit der rauen Stimme könnte es also in die Stichwahl schaffen - und dort laut einer Umfrage sogar Timoschenko schlagen. Zumindest derzeit, "denn in der Ukraine ändern sich die Verhältnisse oft sehr stark in kurzer Zeit", sagt der deutsche Ukraine-Forscher Andreas Umland im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". So ist noch unklar, wie stark der Rückenwind für Poroschenko nach der Erlangung der Eigenständigkeit der ukrainisch-orthodoxen Kirche sein wird. Mit dem Kirchenthema könnte Poroschenko, meinen Beobachter, bei den zahlreichen religiös bewegten Menschen im Land noch stark punkten.

Marionette eines Oligarchen?

Ob das reichen wird, um seine magere Bilanz bei der Bekämpfung der Korruption zu überdecken, wird sich zeigen. Das Rennen zwischen Selenski, Timoschenko und Poroschenko, das sich jetzt abzeichnet, dürfte jedenfalls interessant werden. Und höchstwahrscheinlich auch brutal. Denn der Umstand, dass Selenski quasi aus dem Nichts kommt, lässt Verschwörungstheorien über seine Financiers ins Kraut schießen. Crowdfunding war es jedenfalls keines, das ihn in seine jetzige Position gebracht hat, sondern seine Shows, Serien und Filme. Nachdem Selenski beim Sender 1+1 arbeitet, der dem Oligarchen Ihor Kolomojski gehört, wird über Verbindungen zwischen ihm und Kolomojski mehr als nur gemunkelt.

In der Hitze des Wahlkampfs kann es außerdem passieren, dass manche dem Komiker Kontakte zum Kreml vorwerfen. Der meist russisch sprechende Selenski vertritt gegenüber Moskau einen - verglichen mit Poroschenko - vergleichsweise milden Kurs, der auf raschen Frieden abzielt. Bei vielen kriegsmüden Ukrainern kommt das mittlerweile an.

Finanziell dürfte Selenski von Kolomojski nicht so stark abhängig sein, wie es aussieht. Sein Wahlkampf kommt ohne große Summen aus, Selenski orchestriert alles über seine TV-Präsenz. Ob er damit aber auch die ältere Bevölkerung abseits der großen Städte erreicht, ist fraglich.

Sehnsucht nach Ehrlichkeit

Die größte Schwäche des Komikers ist aber paradoxerweise zugleich seine allergrößte Stärke: Selenski lebt von seinem Status als absoluter politischer Außenseiter, als Mann abseits des politischen Systems. In seiner Show hat er das vor Publikum als möglichen Pluspunkt für eine Kandidatur angeführt - "obwohl manche sagen, dass es ein Minus ist".

Die Sehnsucht der Ukrainer nach neuen, ehrlichen und aufrichtigen Gesichtern in der Politik ist riesig. Timoschenko etwa ist schon seit den 1990er Jahren in Kiew politisch aktiv, Poroschenko gehört zu den reichsten Oligarchen. Selenski wäre ein junges, gänzlich neues Gesicht - ob er aber den Anforderungen einer Präsidentschaft in Zeiten von Krieg und Wirtschaftsproblemen gewachsen wäre? Er müsste sich wohl auf Berater aus der bestehenden politischen Klasse stützen, etwa auf Kolomojskis Leute. In diesem Fall würden Selenskis präsidentielle Auftritte wohl anders aussehen, als sein Fernseh-Präsident es suggeriert hat.