„Geiz ist geil“ (Saturn), „Wer hat’s erfunden?“ (Ricola), „3, 2, 1 – meins!“ (eBay): Nur eine kleine Auswahl der deutschlandweit bekannten Werbeslogans, die auf Jean-Remy von Matt zurückgehen. Es war also kein leichtes Erbe, das Peter Figge vor fünf Jahren antrat, als er den Alleinvorstand der Kreativ- und Werbeagentur übernahm, die von Matt 1991 gemeinsam mit Holger Jung in Hamburg begründet hatte. Umso angenehmer, dass der heutige Chef von Jung von Matt „grundsätzlich nie“ mit Jean-Remy von Matt verglichen wird, wie er im aktuellen „Chefgespräch“-Podcast der WirtschaftsWoche berichtet. Er selbst sei eben kein Kreativer, sagt Figge. „Insofern gewährt man mir da sozusagen die Gnade des Beraterdaseins.“
Der studierte Wirtschaftswissenschaftler stieg 2010 als Vorstandsvorsitzender bei Jung von Matt ein. Im Juli 2018, als Jean-Remy von Matt in den Aufsichtsrat wechselte, übernahm Figge als Alleinvorstand die Führung der Agenturgruppe, die weltweit derzeit etwa 700 Mitarbeiter beschäftigt und 2021 97,5 Millionen Euro umsetzte. Der kreative Maschinenraum bei Jung von Matt findet sich seither jenseits der Führungsetage – und bedient sich inzwischen auch mal Werkzeugen, die in kreativen Berufen noch vor wenigen Jahren undenkbar schienen. Datenerhebungen im digitalen Raum etwa. Oder Künstlicher Intelligenz. Tools wie ChatGPT würden künftig „noch mehr Kreativität ermöglichen, aber definitiv Kreativität nicht ersetzen“, prognostiziert Figge diesbezüglich im Podcast-Gespräch.
Das Unternehmensportfolio hat der Manager konsequent erweitert, seitdem er 2018 die alleinige Führung bei Jung von Matt übernahm, zuletzt unter anderem eigene Agenturableger für Start-ups und Videospiel-Kultur eingeführt. Diese Entwicklung sei vergleichbar mit der multikulturellen Gesellschaft, die das Unternehmen umgebe, erläutert Figge im Podcast: „Wir werden immer diverser.“ Es sei wichtig, sich „kontinuierlich neue Impulse reinzuholen“, sagt Figge. Und: „Das wird nie aufhören.“ Umso wichtiger aber sei es bei alledem, den Kern des Unternehmens „immer wieder zu erhalten“.
Und dieser Kern, das gibt die Unternehmensgeschichte der laut Branchenmagazin W&V „kreativsten Agentur Deutschlands“ eindeutig vor, liegt darin, frecher zu sein als die Konkurrenz. Neues zu probieren, zu überraschen, auch zu provozieren. Gründungskunde der Werbeagentur war in den Neunzigerjahren der Autovermieter Sixt. Bis heute verschaffen in Hamburg konzipierte Werbeplakate mit provokanten Anspielungen auf Politiker und Figuren der Popkultur regelmäßig große Aufmerksamkeit für den Autovermieter.
Mangelnder Mut zum Risiko
Allerdings: Kunden wie Sixt-Gründer Erich Sixt seien inzwischen eine Seltenheit, erzählt Figge im Podcast auch: „Entscheidungsstarke Kunden, die den Mut haben, auch mal ins Risiko zu gehen, haben inzwischen einen schweren Stand.“ Das gelte umso mehr, je größer der jeweilige Konzern sei.
Schuld daran sei die inzwischen allgegenwärtige Furcht vor einem möglichen Imageschaden, vor wütenden Reaktionen im Internet. „Die Angst vor dem Shitstorm ist immer da“, sagte Agenturgründer Jean-Remy von Matt schon 2016. Und in den vergangenen sieben Jahren hat diese Angst noch einmal deutlich zugenommen, wie Peter Figge in seiner täglichen Arbeit als Werber beobachtet.
„Für mich ist das grundsätzlich ein Spiegelbild unserer Gesellschaft“, holt Figge im Podcast aus: „Wir alle, zumindest in den westlichen Ländern und in Deutschland, erleben, dass wir in einer immer multikulturelleren, diverseren, vielfältigeren Gesellschaft leben, in der wir uns alle auch ein Stück weit in unsere eigene Filterblase begeben. Gleichzeitig wollen wir alle aber Orientierung, Haltung und Richtung.“ Eine komplexe Gemengelage. Umso mehr für die Werbebranche, in der es „kommunikativ immer um starke, wirksame, einfache Lösungen“ geht, die zwangsläufig nicht immer restlos der ganzen „heterogenen Anspruchsvielfalt“ der gegenwärtigen Gesellschaft entgegenkommen könnten, sagt Figge.
Die in Kundenkreisen omnipräsente Angst vor einem Shitstorm mache die Arbeit für eine Werbeagentur, die sich Unerwartetes und Provokantes auf die Fahnen schreibt, nicht einfacher, erkennt der Manager entsprechend an. „Die Kraft des Unerwarteten, die in der Werbung sehr wirksam ist, kann ich natürlich nur dann nutzen, wenn ich auch den Mut habe, etwas Unerwartetes zu tun“, sagt Figge. Viele Kunden wollten einerseits „etwas sehr Innovatives, das nicht schon 20 Mal gemacht wurde“, andererseits aber auch „absolute Sicherheit und Shitstormresilienz“. Immer wieder müsse er ihnen erklären, dass es beides zur selben Zeit nicht geben könne. „Diese Diskussion führe ich häufig mit Kunden“, sagt Figge. All das mache seine Arbeit inzwischen immer anspruchsvoller.
Stetiges Abwägen
Wie nun aber meistert Jung von Matt diesen schmalen Grat zwischen kalkuliertem Wagnis und unkalkulierbarem Risiko? Es sei ein stetiger Abwägeprozess, immer im Dialog mit dem jeweiligen Kunden, erläutert Figge. „Wir müssen uns in jedem Einzelfall ernsthaft damit auseinandersetzen: Was bedeutet das jetzt, wenn wir ein Risiko eingehen, wenn wir etwas Neues ausprobieren? Wenn wir Grenzen überschreiten? Was heißt das für die vielen verschiedenen Themen, die Sensibilität bergen: Equality, Gender, LGBTQAI+, Rassismus, Nachhaltigkeit.“ All diese Punkte müsse man jedes Mal aufs Neue einzeln durchgehen.
Dieser Prozess ziehe sich jeweils durch alle Abteilungen der Agentur, präzisiert eine Jung-von-Matt-Sprecherin. Strategieplanung, Social-Media-Berater und PR-Verantwortliche würden mit jedem Kunden „die kalkulierbaren Risiken“ im Einzelfall besprechen.
Dass sich ein Shitstorm selbst bei all dieser vorgeschalteten Abwägung nicht immer verhindern lässt, hat Jung von Matt in den vergangenen Jahren immer wieder zu spüren bekommen. 2013 etwa zog die Agentur eine Eigenwerbung zurück, die einen weiblichen Ausschnitt in Nahaufnahme zeigte. Facebook-Nutzer sahen darin Sexismus. „Verstanden! Wir entschuldigen uns für den Fehlgriff“, ruderte das Social-Media-Team daraufhin zurück.
Zuletzt sorgte 2019 ein Werbevideo für Kritik, das Jung von Matt für die Einzelhandelskette Edeka produziert hatte. Darin waren anlässlich des Muttertags Väter zu sehen, denen der Umgang mit ihren Kindern Probleme bereitete. „Danke Mama, dass du nicht Papa bist“, lautete die Pointe des Clips, der auf sozialen Netzwerken vielfach als sexistisch und männerfeindlich bewertet wurde. Inzwischen ist das Video nicht mehr im Internet zu finden.
Ein Restrisiko lässt sich eben dann doch nicht vermeiden – besonders nicht in der Werbung. Am Ende steht für Werber Figge deshalb vor allem eine zentrale „feste Überzeugung“: Es sei wichtig, als Unternehmen ,„auch Grundsatzpositionen durchzuhalten“. Nichts sei verheerender als „jeder einzelnen Meinung hinterherzurennen“, sagt Figge. „Das führt langfristig zum Tod einer Marke.“
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