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Rousseau – Philosoph und Paranoiker

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Foto: In Genf steht dieses Rousseau-Denkmal.
Foto: In Genf steht dieses Rousseau-Denkmal. © dpa

Hannover - Vor 300 Jahren wurde Jean-Jacques Rousseau geboren. Der so widersprüchliche wie wirkungsmächtige Aufklärer hatte viele Gesichter. Ein Porträt in acht Skizzen.

„Meine Geburt war mein erstes Unglück“, schrieb Jean-Jacques Rousseau in seiner posthum erschienenen Autobiografie, den „Bekenntnissen“, mit dem ihm eigenen Pathos. Tatsächlich starb seine Mutter noch im Wochenbett. Seine Kindheit war vielen schmerzlichen Wechselfällen ausgesetzt. Der Vater, ein Uhrmacher in Genf, musste nach einem Streit mit einem der dort herrschenden Patrizier die streng calvinistische Stadtrepublik verlassen. Der zehnjährige Jean-Jacques wurde dann verschiedenen Erzieherinnen und Erziehern anvertraut, begann später zwei Lehren, als Gerichtsschreiber und Graveur, entfloh 1728 seinem gewalttätigen Meister und wurde in Annecy von der attraktiven Madame de Warens aufgenommen, deren Geliebter er später wurde. Sie kümmerte sich damals um Konvertiten, und so trat denn auch der calvinistisch erzogene Jean-Jacques zum Katholizismus über – ein Schritt, den er später wieder rückgängig machte.

Der Ge- und Vertriebene

Der Vielbegabte erprobte sich in ganz unterschiedlichen Metiers, war Diener, Musiklehrer und Erzieher, sogar Sekretär des französischen Botschafters in Venedig. Mit einem neuen Musiknotierungssystem (Zahlen ersetzen dort die Notenschrift) versuchte er in Paris zu reüssieren, lernte immer wieder einflussreiche Gönner (und Gönnerinnen!) aus dem Hochadel kennen. Eine lebenslange, erst spät legalisierte Verbindung ging er allerdings mit der völlig ungebildeten Wäscherin Thérèse Levasseur ein – alle gemeinsamen fünf Kinder wurden kurz nach der Geburt ins Findelhaus gebracht.

1750 gewann er den ersten Preis bei einem Wettbewerb der Akademie Dijon zur Frage „Hat der Fortschritt der Wissenschaften und Künste zum Verderb oder zur Veredlung der Sitten beigetragen?“ – was ihn sofort bekannt machte. Für die von Diderot betreute Enzyklopädie schrieb er die Artikel über Musik, komponierte die Oper „Der Dorfwahrsager“, die ihm zeitlebens Geld einbrachte. Um frei schreiben zu können, verdiente er seinen Lebensunterhalt als Notenkopist. Immer wieder verbrachte er längere Lebens- und Schaffensphasen zurückgezogen in der Provinz. Gestorben ist er in Ermenonville bei Paris, wo ihm ein adliger Bewunderer ein Haus zur Verfügung gestellt hatte. Dort erlag er am 2. Juli 1778 einem Schlaganfall.

Der Miss- und Unverstandene

„Zurück zur Natur“ – diese Parole wird bis heute Rousseau zugeschrieben und hat mit seiner Theorie doch nichts zu tun. Der erste, der genüsslich diese Formel in die Welt setzte, war Voltaire. Zwischen ihm und Rousseau entwickelte sich im Laufe der Jahre eine bittere Feindschaft. Zwar hatte Rousseau in seiner Beantwortung der Akademiepreisfrage einen Naturzustand beschrieben, in dem es keinen Egoismus, keine Selbstsucht und keine Gier gab. Aber er glaubte keineswegs, dass es einen Weg zurück geben könnte.

Mit den Begriffen „Naturzustand“ oder „Naturmensch“ formulierte er Maßstäbe, die er an die gesellschaftliche Entwicklung anlegte. Er wollte so verdeutlichen, wie sehr der Mensch durch die gesellschaftlichen Zwänge seiner inneren, seiner wahren Natur entfremdet wird. Im Zusammenhang gelesen, erschließt sich auch seine ambivalente Einschätzung von Kunst und Wissenschaft. Sie haben einerseits den Prozess der Zivilisation vorangetrieben und damit den Verfall der natürlichen Sitten beschleunigt, andererseits sind sie in der aktuellen Situation unentbehrlich: Mit ihrer Hilfe sollen gesellschaftliche Verhältnisse angestrebt werden, die der menschlichen Natur so wenig Gewalt antun wie möglich.

Freilich verdanken sich viele Missverständnisse auch seinem schwierigen Charakter. Er verdächtigte ohne Grund Freunde, an einer Verschwörung gegen ihn beteiligt zu sein. Rousseau entwickelte mit zunehmendem Alter immer mehr Züge eines krankhaften Verfolgungswahns.

Der Selbsterklärer

Der sich oft unverstanden fühlende Rousseau richtete sich bewusst an die Nachwelt, von der er sich mehr Anerkennung für sein Lebenswerk erhoffte. Bei seinen exzessiven Selbsterkundungen waren Selbstkritik und Selbststilisierung nicht leicht zu unterscheiden. Gern bekannte er sich zu Armut und Schlichtheit (er liebte es auch, mit einem betont schlichten „Armeniergewand“ und einer Pelzmütze aufzutreten), er entsagte feierlich dem Ruhm, litt aber unter der Missachtung einiger Zeitgenossen, und er verwies stolz auf seine Wahrhaftigkeit. Rousseau beherrschte das Pathos der Authentizität, die er mit der Entblößung seines tiefsten Innern zu beglaubigen suchte. Er scheute sich dabei nicht, über sehr intime, mitunter recht peinliche Empfindungen und Erlebnisse zu berichten. Nicht zuletzt an seinem Beispiel entwickelte er das Modell des modernen, autonomen Individuums, das nur sich selbst gehört.

Der Pädagoge

Bei seiner intensiven Beschäftigung mit seiner Biografie nimmt seine Kindheit einen wichtigen Platz ein. Nie zuvor hat ein Schriftsteller ihre prägende Kraft so ernst genommen. Rousseau gilt deshalb vielen als der Entdecker der Kindheit, die zuvor nicht als besondere Lebens- und Erlebniswelt betrachtet wurde. Johann Heinrich Pestalozzi hat ihn deshalb auch als Begründer einer neuen Pädagogik gefeiert. Die wichtigste Idee von Rousseaus Erziehungsroman „Emile“ ist die, dass der Erzieher dem Zögling nichts aufpfropft, sondern, einer Hebamme gleich, lediglich das aus ihm herausholt, was in ihm natürlicherweise an guten Gaben angelegt ist. Erst in einer späteren Phase soll er dann lernen, ein nützlicher Bürger zu werden. Die Kindheit sieht Rousseau als Zustand der Unschuld und der Ganzheit – sie ist der Spiegel, in dem der Erwachsene sein gebrochenes Ich reflektieren kann.

Der Liebesforscher

Rousseau, der zeitlebens ein kompliziertes Verhältnis zu Frauen hatte, konnte sich in die Gefühlsturbulenzen der Geschlechterbeziehung hineinfühlen. Mit seinem zu Lebzeiten populären Buch „Julie oder die neue Heloïse“ (1761) gilt er als Erfinder des Liebesromans. Aber auch hier nehmen philosophische Überlegungen einen großen Platz ein. Er beschäftigt sich darin mit zwei Ideen der Liebe. Am Beispiel einer Dreiecksbeziehung von Julie, ihrem Geliebten und ihrem Gatten entwickelt er die Spannung von Leidenschaft und vernünftiger Zuneigung. Zielt die erste Form auf das Einswerden, was auf Dauer nur Enttäuschungen hervorruft (wie soll sich die Spannung halten?), gründet die zweite Form auf die gegenseitige Ergänzung zweier autonomer Individuen. Mit der Emphase, mit der Rousseau das Reich der Gefühle erkundete, wurde er zum Vorbild der Romantiker.

Der (Anti?)Aufklärer

Chronisten der Kulturgeschichte ordnen Rousseau gern als Frühromantiker oder Spätaufklärer ein, manche sehen in ihm gar einen Gegner der Aufklärung. Tatsächlich entzweite sich Rousseau mit vielen Aufklärern wie Voltaire oder Diderot. Der erste Bruch kam schon mit seiner ersten Abhandlung. Mit seiner Kritik des Zivilisationsprozesses auf dem Hintergrund eines idealen Naturzustands widersprach er fundamental dem Fortschrittsoptimismus der Aufklärer. Zudem hat er die Vernunft und das Gefühl auf die selbe Stufe gestellt, ja, das Gefühl sogar als Erkenntnisquelle verstanden. Auch sah er keinen Gegensatz von Vernunft und Religion. Was ihn vielen Aufklärern verdächtig machte, waren seine Attacken gegen den Atheismus. Seine Idee einer „natürlichen Religion“ hat aber mit Offenbarungs- oder gar Wunderglauben nichts zu tun: „Ich sehe Gott in seinen Werken, fühle ihn in mir und über mir.“ Vom Christentum, auf das er sich vorsichtshalber beruft, unterscheidet ihn seine Ablehnung der Erbsünde und seine Überzeugung, dass der Mensch von Natur aus gut ist.

Der Gesellschaftskritiker

„Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.“ Mit diesem rhetorischen Paukenschlag beginnt seine 1762 erschienene Schrift „Gesellschaftsvertrag“, die schnell verboten wurde. Rousseaus Gesellschaftskritik orientiert sich an einem Entwicklungsmodell: Im Naturzustand waren alle Menschen vereinzelt und selbstgenügsam, sie schlossen sich aber irgendwann aus äußeren Zwängen zusammen. Diese Phase beschreibt Rousseau als Goldenes Zeitalter, eine Gesellschaft der Hirten und Schäfer. Das Unheil begann, als das Privateigentum eingeführt wurde und die sich entwickelnde Ungleichheit zu einer gegenseitigen Abhängigkeit und damit zu einer Einengung der natürlichen Freiheit führte. Er formuliert damit ein Problem, das in allen Gesellschaften mit großer sozialer Ungleichheit sich auch heute noch stellt.

Rousseau will klären, wie Freiheit in der Gesellschaft überhaupt möglich ist. Zugleich verfolgt er ein Konzept der gesellschaftlichen Einheit. Sein Lösungsvorschlag: Alle bleiben frei, wenn sie sich freiwillig dem Gemeinwillen unterordnen, der letztlich der Freiheit aller dient. Der ist identisch mit dem Gemeinwohl und mehr als die zufällige Summe der Einzelmeinungen. Rousseau stellt nun Überlegungen an, wie der Gemeinwille zu ermitteln ist, und denkt dabei an Volksabstimmungen. Ihm ist klar, dass sein Modell nur in kleinen Gemeinschaften funktionieren könnte, in denen keine großen sozialen Unterschiede herrschen. Mit seiner brüsken Ablehnung der repräsentativen Demokratie und der Idee einer unteilbaren Volkssouveränität öffnete er ungewollt Einfallstore für kollektivistische Interpretationen.

Die Projektionsfigur

Manchen gilt er deshalb als Ahnherr des Totalitarismus des 20. Jahrhunderts. Schließlich beriefen sich während der Französischen Revolution radikale Jakobiner wie Robespierre auf ihn. Dabei hatte sich Rousseau immer gegen gewaltsame Umstürze ausgesprochen. Seine Verteidigung des Privateigentums macht es linksradikalen Vereinnahmern schwer, die sich aber dafür auf Rousseaus Entfremdungskritik berufen können. Die hat auch einige Konservative angezogen.

Ihm geht es eben wie allen großen Denkern: Ihre Theorien werden als Ideensteinbruch ausgebeutet – und sie zuweilen für Gedanken bewundert oder gehasst, die sie gar nicht gedacht haben.

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