16°
Logo lw

Zapping - der Streamingcheck

Seltene Perle in einer Wüste banaler Bespaßung

Warum die Netflix-Dokumentation „Der Zweite Weltkrieg – Von der Front“ neue Maßstäbe als immersives Serienerlebnis setzt.

Die Doku-Szenen wie diese leben von der Unmittelbarkeit des kolorierten Archivmaterials
Die Doku-Szenen wie diese leben von der Unmittelbarkeit des kolorierten Archivmaterials Foto: Netflix

Im Grunde sind sie viel zu selten, doch wenn vorhanden, umso bemerkenswerter, jene Serien, die dazu angetan sind, pauschale Kritiken an dem Qualitätsverständnis kommerzieller Streaming-Dienste ins Positive zu relativieren – und so den Beweis zu erbringen, dass Serienproduktion nicht nur eine auf primäre Unterhaltung ausgerichtete wirtschaftliche Aktivität sein muss.

Lesen Sie auch:

Eine solche seltene Perle in einem ansonsten kaum überschaubaren Meer von Banalitäten und nervenkitzelnder Bespaßung ist seit wenigen Tagen auf Netflix abrufbar. Sie zeigt in besonderem Maße, welche wertvolle und nachhaltige Rolle dieses neue, dominante Medium in der ebenso kulturellen wie spezifisch historischen Aufarbeitung insbesondere zeitgeschichtlicher Fakten im Sinne ihrer pädagogischen Nutzung ausüben kann.

In sechs packenden und hochinteressanten Episoden einer in dieser Form und Intensität bislang einzigartigen Doku-Staffel garantiert die britische Serie „Der Zweite Weltkrieg – Von der Front“ („World War II: From the Frontlines“) tatsächlich sowohl vorbildlichen Bildungsstoff als auch ein, gerade deshalb umso wertvolleres TV-Erlebnis.

Überarbeitetes und unveröffentlichtes Archivmaterial

In der Tat, in solch atemberaubender Intensität hat man die Realitäten des Zweiten Weltkriegs, als die schlimmste Katastrophe in der Menschheitsgeschichte, bisher noch nicht gesehen. Dank innovativer technischer Methoden der Kolorierung und aus der Fülle eines bislang unveröffentlichten bzw. wenig bekannten filmischen Archivmaterials schöpfend, wurde hier von dem britischen Produzenten Rob Coldstream, bekannt für seine Serien über John Lennon und Donald Trump, ein kleines dokumentarisches Meisterwerk geschaffen.

Die Stärke dieser von Schauspieler John Boyega erzählten Dokumentation liegt in erster Linie in der Wucht der Bilder, in dem gelungenen, rhythmisch perfekten Zusammenschnitt von Bild und Ton, unterlegt mit Originalkommentaren und einer der Dramatik der Ereignisse perfekt angepassten musikalischen Untermalung.

Aus der Unmittelbarkeit der perspektivischen Erfahrung, wiedergegeben in den Blicken und Gesichtszügen der Soldaten, der fliehenden Zivilisten, der verzweifelten Opfer – Augen und Mimik, aus denen die Euphorie der einen, die Angst und Panik der Anderen sprechen – kommt die ganze dramatische Intensität des Zweiten Weltkrieges in seiner vielfachen, fürchterlichen Bandbreite und der Unbeschreiblichkeit seiner grausamen Auswüchse zum Ausdruck.

Lesen Sie auch:

Aus unmittelbarer Frontperspektive

Zu Wasser, zu Land, zu Meer, vom Polarkreis bis Nord-Afrika und vom Atlantik bis tief in die russischen Ebenen vor Moskau hinein, dann auch in den Weiten des Pazifiks, breitete sich zwischen 1939, ausgehend mit dem deutschen Überfall auf Polen, bis zum finalen nuklearen Inferno, 1945 in Japan, die bis dato schlimmste Katastrophe im Namen einer wahnhaften, menschenverachtenden Ideologie aus.

Lesen Sie auch:

In einem einzigartigen immersiven Erlebnis findet sich der Zuschauer dieser in mancher Hinsicht beeindruckenden Serie wieder, inmitten der mordenden und brandschatzenden Horden der Hitlertruppen, zwischen den drangsalierten und misshandelten Menschen in den Warschauer Ghettos, in der unbeschreiblichen Hölle der von nazistischen „Übermenschen“ betriebenen Vernichtungs- und Konzentrationslager.

Oder aber er hat das Gefühl, inmitten von amerikanischen Marineeinheiten einen japanischen Kamikazeangriff aus direkter Nähe mitzuerleben, in einem Panzer der deutschen Wehrmacht zu sitzen, mit US-GI‘s auf das besetzte Paris vorzurücken bzw. mit sowjetischen Rotarmisten am Endangriff auf Berlin teilzunehmen. Daneben kommen aber auch persönliche Schilderungen und die Darstellung von Einzelschicksalen nicht zu kurz. In der Authentizität der Bilder liegen dabei die beklemmende Faszination dieser Serie und die bewegende Dramatik ihrer Botschaft.

Die dokumentarische Inszenierung mag dabei stellenweise auf Kosten historischer Detailgenauigkeit gehen – über Luxemburg zum Beispiel geht zu keinem Moment mit keinem Wort die Rede und auch die ideologische Dimension des Zweiten Weltkrieges wird kaum behandelt –, bei der generellen Darstellung des Zweiten Weltkrieges in seiner vor allem menschlich traumatischen Dimension hat diese Dokumentation dennoch zweifellos neue qualitative Maßstäbe gesetzt.

___________________

Die Doku-Serie „Der Zweite Weltkrieg – Von der Front“ ist in sechs 45-minütigen Episoden auf Netflix abrufbar.

Das könnte Sie auch interessieren








Das Neueste aus Wort+