Dr. Alexandra Hildebrandt

Dr. Alexandra Hildebrandt

für Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Das Handwerk im Zeitalter der Digitalisierung und Handvergessenheit

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Handwerkliche Fähigkeiten sind heute genauso wichtig und wertvoll wie digitale Kompetenzen.

Wer handwerkliche Fähigkeiten nicht ausbildet, wird weder reifen noch „begreifen“. Das Wort stammt aus der haptischen und taktilen Sphäre. Wo etwas mit Händen gegriffen wird, lässt es sich auch begreifen. Auch die Worte „erfassen“ oder „auffassen“ vermitteln, dass sie zufassenden Händen ihre Bildung verdanken. 

Der Begriff des Handwerks, in der altgriechischen Bezeichnung „techne“ noch mit Kunst gleichgesetzt, erhält immer dann eine besondere gesellschaftliche Bedeutung, wenn das Haptische seine Bedeutung verliert. Immer mehr Tätigkeiten werden heute „mit links“, mit nur einer Hand, erledigt (z.B. Steuern eines Autos mit Servolenkung und Spurassistenten, Fernbedienungen). Der Londoner Medizinprofessor Roger Kneebone vom Imperial College London bemerkt, dass auch seine Studenten kein handwerkliches Geschick mehr hätten: Sie könnten zwar Bildschirmgeräte bedienen und übers Smartphone wischen, seien aber unfähig, eine Wunde zuzunähen. Sie sind „weniger kompetent und weniger zuversichtlich“. Als Grund nannte er, dass sie vor dem Fernseher säßen anstatt nähen oder sticken zu lernen (Grundkompetenzen, die sie auch in ihrem Beruf brauchen), Holz zu bearbeiten oder ein Instrument zu spielen. 

Ohne Handwerk können wir auch technologische Möglichkeiten nicht nachhaltig nutzen, denn dazu braucht es Können und Meisterschaft. Die Ausbildung der klassischen Form verschwindet immer mehr: „Wir kennen die Reihenfolge Azubi, Geselle, Meister.“ Aktuelle Entwicklungen belegen jedoch, dass es heute keine Ausbildungsbrücke dazwischen mehr gibt.

Häufig geht es heute darum, gleich zu führen und Funktionsmacht zu erhalten.

Wenn Manager, die sich nie die Hände schmutzig gemacht haben, dann aber ihren Job verlieren und gefragt werden, was sie „können“, antworten sie: „Ich kann führen!“ Aber ohne Gesellenstufe mit ausgebildeter Gestaltungsmacht ist das in Krisen- und Umbruchzeiten nichts wert. Fertige Lösungen kann niemand anbieten, aber es ist wichtig, sich das Problem immer wieder bewusst zu machen: „Deutschland gehen die Meister aus!“ (Gunter Dueck) 

2008 veröffentlichte der amerikanische Philosoph Richard Sennett sein Buch „Handwerk“, in dem er schreibt, dass handwerkliches Können zwei emotionale Belohnungen für den Erwerb von Fähigkeiten bereithält: „eine Verankerung in der greifbaren Realität und Stolz auf die eigene Arbeit.“ Er beklagt allerdings, dass sich Akademiker in der Regel zu wenig auf die Welt der Dinge und die Bedeutung der Hände für den Kopf einlassen. Gerade ist ein weiteres wichtiges Buch erschienen, das sich dem Zeitalter der Handvergessenheit, der Krise des Handwerkerberufs und der Handschrift widmet. In seiner Kulturgeschichte „Hände“ regt uns der Literatur- und Medienwissenschaftler Jochen Hörisch aber vor allem dazu an, aus unserem Leben das Beste zu machen. Das bedeutet auch, dass wir uns in unserer Arbeit verwirklichen können, dass sie lebenswert ist.

Die hohe Zeit des Handwerks

Besondere Aufmerksamkeit schenkt er Goethes poetischen Hand-Reflexionen, weil sie die zentrale Frage jeder Lebenskunstlehre umkreisen: Ob und inwieweit haben wir unser Leben in der Hand haben und können es selbst gestalten? Mit Goethes Hilfe möchte uns Jochen Hörisch dazu ermuntern, unser Leben auch und gerade im Zeitalter der Handvergessenheit in die eigenen Hände zu nehmen. Der Weltbürger und Dichter fragte immer danach, in der Gewalt welcher Hände die Menschen seien, und inwieweit sie sich selbst in der Hand haben. Goethe betrat die Literaturszene mit Werken, die ein starkes Interesse an Hand-Motiven belegen (Handprothese des Götz von Berlichingen, Werthers Faszination für die Hände seiner geliebten Lotte, „Torquato Tasso“, Hand-Motive im „Wilhelm Meister“, „Faust“ sowie „Dichtung und Wahrheit“). Der Lebenskünstler Wilhelm Meister führt sein Leben mit glücklicherer Hand als Werther, weil er die vorüberziehenden Momente des Glücks sofort zu begreifen und zu ergreifen sucht. Wenige Tage vor seinem Tod schreibt Goethe an Wilhelm von Humboldt: „Je früher der Mensch gewahr wird, daß es ein Handwerk, daß es eine Kunst gibt, die ihm zur geregelten Steigerung seiner natürlichen Anlagen verhelfen, desto glücklicher ist er.“

All dies belegt die Bedeutung des Handwerks bis in die Gegenwart, denn es …

  • trägt zur Welterschließung bei, macht glücklich und stiftet Sinn.
  • regt zum Selbstdenken an und erinnert an den kreativen Teil in uns.
  • unterstützt uns bei der Urteilsfähigkeit und Entscheidungsfindung (Fokussierung und Konzentration).
  • lehrt Schritt für Schritt vorzugehen und etwas „Ins-Werk-zu-setzen“, aber auch mit den Konsequenzen des eigenen Tuns konfrontiert zu sein.

Das Handwerk ist auch im Zeitalter der Digitalisierung unverzichtbar.

In der Wirtschaft geht es heute vor allem darum, Handwerk, Technik und Unternehmensorganisation mit dem schnelllebigen Markt und der damit zusammenhängenden neuen Arbeitswelt zu verbinden. Was das konkret bedeutet, zeigt sich am Beispiel des Familienunternehmens Häcker Küchen in Rödinghausen. Können und Meisterschaft spielen hier noch immer eine große Rolle. In der hochtechnisierten Produktion geht es zwar um das Bedienen der Maschinen – dennoch soll den Auszubildenden eine möglichst breite Basis mitgegeben und der Werkstoff Holz nahegebracht werden, um auf diese Weise ein Grundverständnis für Nachhaltigkeit und handwerkliche Fähigkeiten mitgeben zu können. Sie sind hier deshalb genauso wichtig wie digitale. Ausgebildet wird bereits seit 1980. Im Jahr 1992 starteten die ersten Holzmechaniker ihre Ausbildung. Heute bildet das Unternehmen in vielen Berufen (u.a. Industriekaufmann/-frau, Holzmechaniker/in und Fachinformatiker/in, Elektroniker/in).

Alle Auszubildenden erhalten gleichermaßen digitales und analoges Anwendungswissen.

So entwickelt sich die Ausbildung zum Holzmechaniker immer mehr weg von handwerklichen Tätigkeiten hin zur industriellen Fertigung und der Bedienung von CNC gesteuerten Maschinen. Damit dies auch in der Ausbildung bei Häcker möglich ist, bekam die Ausbildungswerkstatt ein neues CNC-Bearbeitungszentrum. Zentrum ist eine HOMAG CENTATEQ-P110 und ersetzt ein altes, in die Jahre gekommenes BAZ. Die neue Maschine verfügt über vier Achsen, 18 Werkzeugplätze, 18 Bohrspindeln, ein drehbares Nutaggregat sowie über ein Kombiaggregat zur flexiblen Bearbeitung. Darüber hinaus werden noch fünf Programmierplätze für die Auszubildenden geschaffen, um auch eigenständig Programme erstellen zu können.

Auch der Baudienstleister KRIEGER + SCHRAMM setzt sich dafür ein, den Nachwuchs vor allem für körperlich anstrengende Tätigkeiten im Handwerk zu begeistern. Das ist allerdings eine große Herausforderung, denn „wer da nicht mit viel Geld locken kann, muss sich etwas anderes einfallen lassen“, sagt Firmengründer Matthias Krieger, der jüngere Mitarbeiter zu Eigenständigkeit und Leistung anspornen will. So gibt es für die unter 30-Jährigen die Projektgruppe „Jugend im Unternehmen“, die beispielsweise eine Mitarbeitertour auf den Kilimandscharo organisiert hat – samt Reise, Unterkunft und Bergführer. Zwei Drittel der Kosten übernahm das Unternehmen, den Rest die Mitarbeiter.

Das Unternehmen bildet Maurer, Dachdecker, Poliere und Bauzeichner aus und bietet neben der klassischen Lehre auch ein duales Studium sowie den Einsatz in den Niederlassungen Frankfurt, Kassel, Berlin und München an. „Wir sind bestimmt nicht die bestbezahlenden Arbeitgeber in der Region“, sagt der HR-Verantwortliche Michael Fuhlrott. „Aber wir bieten unseren Mitarbeitern Entwicklungsmöglichkeiten, gehen auf individuelle Bedürfnisse und Stärken ein und legen sehr viel Wert auf Fort- und Weiterbildung.“ So planen viele auch im Handwerk heute viele frühzeitig ihre weitere Karriere. „Da gibt es den Maurer-Lehrling, der im dritten Lehrjahr weiß, dass er im Anschluss noch den Techniker im Hochbau machen möchte, um dann Polier zu werden. Wir versuchen, das allen zu ermöglichen“, so Fuhlrott.

Es ist wichtig, immer wieder auf solche Beispiele zu verweisen – auch und gerade, weil Handwerk und Industrie in den sozialen Medien nur selten im Fokus stehen. „Aber warum? Sind diese Branchen nicht sozial? Haben sie nichts zu erzählen?“, fragt Philipp Riederle in seinem Buch „Wie wir arbeiten und was wir fordern“, in dem er zeigt, wie die digitale Generation die Berufswelt revoltiert. „All das, was Euch beschäftigt, welche Probleme Ihr gelöst habt, welche spannenden Projekte anstehen, welcher der Kollegen einen besonderen Beitrag geleistet hat, kann wunderbar und authentisch in den Social Media abgebildet werden. Und findet dann auch Interessenten!“

Weiterführende Literatur:

Jochen Hörisch: Hände. Eine Kulturgeschichte. Hanser Verlag, München 2021.

Thomas Brinkjost: NEUES CNC-BEARBEITUNGSZENTRUM. Die Ausbildungswerkstatt wurde auf den neuesten Stand gebracht. In: INTERN. Das Magazin für Häcker-MitarbeiterInnen. Nr. 36 (November 2020), S. 21.

CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. SpringerGabler Verlag. 2. Auflage Heidelberg Berlin 2021.

Wer schreibt hier?

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Freie Publizistin und Autorin, Nachhaltigkeitsexpertin, Dr. Alexandra Hildebrandt

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Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".
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