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Lenin Werke Band 18 - Red Channel

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PROLETARIER ALLER LANDER, VEREINIGT EUCH!<br />

LENIN<br />

WERKE<br />

<strong>18</strong>


HERAUSGEGEBEN AUF BESCHLUSS<br />

DES IX. PARTEITAGES DER KPR(B) UND DES<br />

II. SOWJETKONGRESSES DER UdSSR<br />

DIE DEUTSCHE AUSGABE ERSCHEINT<br />

AUF BESCHLUSS DES ZENTRALKOMITEES<br />

DER SOZIALISTISCHEN EINHEITSPARTEI<br />

DEUTSCHLANDS


INSTITUT FÜR MARXISMUS-LENINISMUS BEIM ZK DER KPdSU<br />

WI.LENIN<br />

WERKE<br />

INS DEUTSCHE ÜBERTRAGEN<br />

NACH DER VIERTEN RUSSISCHEN AUSGABE<br />

DIE DEUTSCHE AUSGABE<br />

WIRD VOM INSTITUT FÜR MARXISMUS-LENINISMUS<br />

BEIM ZENTRALKOMITEE DER SED BESORGT<br />


Wl.LENIN<br />

BAND <strong>18</strong><br />

APRIL i912-MÄRZ 1913<br />


Rnssisdicr Origlnaltltcl:<br />

B.B. JIEHHH-COIHHEHHH<br />

Mit 4 Faksimiles<br />

5. Auflage 1974<br />

Dietz Verlag Berlin<br />

Lizenznummer 1<br />

LSV0056<br />

Printed in the Germari Democratic Repablic<br />

Fotomedianischer Nachdnrck<br />

Satz: Karl-Marx-Werk, Pößneck, V 15/30<br />

Druck und Einband: LVZ-Drnckerei „Hermann Duncker", Leipzig, III <strong>18</strong> 138<br />

Best.-Nr.: 735 088 4<br />

EVP 7,50


VORWORT<br />

VII<br />

Die in <strong>Band</strong> <strong>18</strong> enthaltenen Arbeiten schrieb W. I. <strong>Lenin</strong> von April 1912<br />

bis März 1913, in der Periode des weiteren Aufschwungs der revolutionären<br />

Bewegung in Rußland.<br />

Den größten Teil des <strong>Band</strong>es bilden Arbeiten, in denen <strong>Lenin</strong> eine<br />

Analyse der sozialökonomischen und politischen Ursachen für das Heranreifen<br />

einer neuen Revolution in Rußland gibt. Er arbeitet die Taktik<br />

der bolschewistischen Partei unter den Bedingungen des revolutionären<br />

Aufschwungs aus und enthüllt den konterrevolutionären Charakter der<br />

liberalen Bourgeoisie und die verräterische Rolle der menschewistischen<br />

Liquidatoren, der Trotzkisten und „Wperjod"-Leute in der Arbeiterbewegung.<br />

Dazu gehören folgende Arbeiten: „Der revolutionäre Aufschwung",<br />

„Die politischen Parteien in Rußland", die Broschüre „Zur<br />

gegenwärtigen Sachlage in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands",<br />

„Die Liquidatoren gegen die Partei", „Wie P. B. Axelrod die<br />

Liquidatoren entlarvt" und andere.<br />

Eine große Gruppe von Arbeiten - „Die Wahlkampagne zur IV. Duma<br />

und die Aufgaben der revolutionären Sozialdemokratie", „Die Plattform<br />

der Reformisten und die Plattform der revolutionären Sozialdemokraten",<br />

„Die Ergebnisse der Wahlen", „über einige <strong>Red</strong>en der Arbeiterdeputierten"<br />

u. a. - ist der Wahlkampagne zur IV. Reichsduma, der Einschätzung<br />

der Ergebnisse der Wahlen und der Tätigkeit der sozialdemokratischen<br />

Dumafraktion gewidmet.<br />

In den Artikeln „Das Wesen der ,Agrarfrage in Rußland'", „Ein Vergleich<br />

des Stolypinschen Agrarprogramms mit dem der Volkstümler",<br />

„Das letzte Ventil" u. a. enthüllt <strong>Lenin</strong> das Wesen der Stolypinschen<br />

Agrarpolitik und zeigt, daß ein Fiasko dieser Politik unvermeidlich ist.


Vin Vorwort<br />

In den im <strong>Band</strong> enthaltenen Resolutionen der „Februar"beratung des<br />

ZK der SDAPR mit Parteifunktionären wird die Riditsdinur zu allen<br />

widitigen Fragen der sozialdemokratischen Arbeit in Rußland gegeben.<br />

Der <strong>Band</strong> enthält fünfzehn Dokumente, die zum erstenmal in den<br />

<strong>Werke</strong>n W. I. <strong>Lenin</strong>s veröffentlicht werden. Diese Arbeiten sind dem<br />

Kampf gegen das Liquidatorentam und der Ausarbeitung von Fragen der<br />

Taktik der bolsdiewistisdien Partei gewidmet.<br />

. In dem „Brief über die sozialdemokratisdie Dumafraktion" gibt<br />

W. I. <strong>Lenin</strong> den bolsdiewistisdien Abgeordneten in der IV. Duma Direktiven.<br />

Das Dokument „Zur Frage der Arbeiterdeputierten in der Duma und<br />

ihrer Deklaration" ist der Entwurf einer Deklaration für die sozialdemokratisdie<br />

Fraktion in der IV. Duma.<br />

In den Arbeiten „Illegale Partei und legale Arbeit", „Antwort an die<br />

Liquidatoren", „Ursprünglidies Postskriptum zu der Sdirift ,Zur gegenwärtigen<br />

Sachlage in der Sozialdemokratisdien Arbeiterpartei Rußlands'",<br />

„Kann heute die Losung der »Koalitionsfreiheit* die Grundlage der Arbeiterbewegung<br />

bilden?", „Brief an die Sdiweizer Arbeiter", „über die<br />

Stellung zum Liquidatorentum und über die Einheit. Thesen", „Ursprünglidies<br />

Postskriptum zn dem Artikel ,Die Entwiddung des revolutionären<br />

Streiks und der Straßendemonstrationen'" kritisiert <strong>Lenin</strong> die<br />

Ansiditen der Liquidatoren und Trotzkis, der die Liquidatoren uneingeschränkt<br />

unterstützte.<br />

Die Artikel „Die Kadetten und die Großbourgeoisie" und „Der Zusammenbrudi<br />

der konstitutionellen Illusionen" entlarven die Dumataktik<br />

der Partei der konterrevolutionären liberalen Bourgeoisie, der Kadetten.<br />

In den Arbeiten „Aufstände in Armee und Hotte", „Die Arbeiter<br />

und die ,Prawda'", „Einst und jetzt" analysiert <strong>Lenin</strong> den Aufschwung<br />

der revolutionären Bewegung und die Entwicklung der legalen bolschewistischen<br />

Presse.<br />

In der „Mitteilung" der „Februar"beratung des ZK der SDAPR mit<br />

Parteifunktionären werden die Ergebnisse der Beratung zusammengefaßt.


DIE WAHLKAMPAGNE ZUR IV. DUMA<br />

UND DIE AUFGABEN DER<br />

REVOLUTIONÄREN SOZIALDEMOKRATIE<br />

Die politischen Streiks und die Demonstrationen anläßlich des Gemetzels<br />

an der Lena zeigen das Anwachsen der revolntionären Bewegung<br />

der Arbeitermassen in Rußland. Und diese Verdichtung der revolutionären<br />

Atmosphäre läßt klar die Aufgaben der Partei und ihre Rolle in der<br />

Wahlkampagne hervortreten.<br />

Die Krise reift in einer neuen Situation heran. Die Schwarzhunderterduma,<br />

die den Gutsbesitzern die Macht, der Bourgeoisie eine Arena für<br />

Geschäfte, dem Proletariat eine kleine Tribüne gibt, bildet ein notwendiges<br />

Attribut dieser Situation. Wir brauchen diese Tribüne, brauchen<br />

die Wahlkampagne für die revolutionäre Arbeit unter den Massen. Wir<br />

brauchen die illegale Partei für die Leitung dieser ganzen Arbeit in ihrer<br />

Gesamtheit: im Taurischen Palast wie auf dem Kasaner Platz, in der<br />

Arbeiterversammlung wie im Streik, in der Bezirksversammlung der<br />

sozialdemokratischen Arbeiter wie in der öffentlichen Versammlung der<br />

Gewerkschaften. Nur hoffnungslos Blinde vermögen selbst jetzt nicht zu<br />

sehen, wie unsinnig, wie verderblich für die Arbeiterklasse der Otsowismus<br />

und das Liquidatorentum sind, diese Früchte des Verfalls und der<br />

Zerrüttung in der Epoche, da die Konterrevolution triumphierte. Das<br />

Beispiel der Volkstümler hat uns anschaulich gezeigt, welch skandalöse<br />

Null herauskommt bei der Addition des Citfuidatorentums der „Trudoaviki"<br />

wie auch der legalen Literaten vom „Russkoje Bogatstwo" 1 und<br />

„Sowremennik" 2 und des Otsowismus der „Partei" der Sozialrevolutionäre.<br />

Ziehen wir das allgemeine Fazit aus dem, was die Mobilisierung der<br />

politischen Kräfte für die Wahl ergeben hat. Drei Lager haben sich deut-


W.3.£enin<br />

lieh abgezeichnet: 1. Die Rechten, die für die Regierung sind - von<br />

Purischkewitsch bis Gutschkow. Der erzreaktionäre Gutsbesitzer und der<br />

altgläubige Kaufmann setzen sich mit Leib und Seele für die Regierung<br />

ein. 2. Die liberalen Bourgeois - die „Progressisten" und die Kadetten<br />

zusammen mit den Gruppen der verschiedenen „Nationalen", die gegen<br />

die Regierung und gegen die Revolution sind. Der konterrevolutionäre<br />

Charakter des Liberalismus ist eine der hauptsächlichsten Besonderheiten<br />

des gegebenen historischen Moments. Wer diesen konterrevolutionären<br />

Charakter der „kultivierten" Bourgeoisie nicht sieht, der hat alles vergessen<br />

und nichts gelernt, der legt sich zu Unrecht den Namen eines<br />

Demokraten bei, vom Sozialisten schon ganz zu schweigen. Und die<br />

Trudowiki und „unsere" Liquidatoren sehen schlecht und verstehen<br />

schlecht! 3. Das Lager der Demokratie, in dem nur die revolutionären<br />

Sozialdemokraten, die Antiliquidatoren, geschlossen, organisiert, entschieden<br />

und eindeutig ihr Banner der Revolution entfaltet haben. Die<br />

Trudowiki und unsere Liquidatoren schwanken zwischen dem Liberalismus<br />

und der Demokratie, zwischen der legalen Opposition und der Revolution.<br />

Die Klassenwurzeln, die das erste Lager vom zweiten scheiden, sind<br />

klar erkenntlich. Dagegen ist es den Liberalen gelungen, viele - von<br />

Wodowosow bis Dan - hinsichtlich der Klassenwurzeln irrezuführen, die<br />

das zweite Lager vom dritten scheiden. Die „Strategie" des Liberalen, die<br />

von Blank in den „Saprossy Shisni" 3 naiv ausgeplaudert wurde, ist simpel:<br />

die Kadetten sind das oppositionelle Zentrum, das Deichselpferd; die Beipferde<br />

(die „Flanken") sind rechts die Progressisten, links die Trudowiki<br />

und die Liquidatoren. Mit dieser „Troika" hoffen die Herren Miljukow<br />

in der Rolle der „verantwortungsbewußten Opposition" zum Triumph<br />

zu „fahren".<br />

Die Hegemonie der Liberalen in der russischen Befreiungsbewegung<br />

hat immer deren Niederlage nach sich gezogen und wird sie immer nach<br />

sich ziehen. Der Liberale laviert zwischen der Monarchie der Purischkewitsch<br />

und der Revolution der Arbeiter und Bauern, wobei er diese letz-,<br />

tere in jedem ernsten Moment verrät. Die Aufgabe der Revolution ist es,<br />

den Kampf der Liberalen gegen die Regierung auszunutzen und die<br />

Schwankungen und den Verrat des Liberalismus zu neutralisieren.<br />

Mit der Revolution schrecken, um auf diese Weise die Macht mit


Die Wahlkampagne zur IV. Duma<br />

Purischkewitsch und Romanow zu teilen, dabei gemeinsam die Revolution<br />

unterdrücken - das ist die Politik der Liberalen. Und diese Politik wird<br />

durch die Klassenlage der Bourgeoisie bestimmt. Das ist der Grund, warum<br />

die Kadetten in billigem „Demokratismus" machen, real aber mit dem<br />

sehr gemäßigten „Progressismus" der Jefremow, Lwow, Rjabuschinski<br />

und Co. verschmelzen.<br />

Den Kampf der Liberalen mit den Purischkewitsch um die Teilung der<br />

Macht ausnutzen, dabei keinesfalls im Volk den „Glauben" an den<br />

Liberalen aufkommen lassen, um so den revolutionären Ansturm der<br />

Massen, der die Monarchie stürzen, die Purischkewitsch und die Romanow<br />

mit Stumpf und Stiel ausrotten wird, voranzutreiben, zu verstärken, zu<br />

intensivieren - das ist die Taktik der proletarischen Partei. Bei den Wahlen:<br />

die Demokratie zusammenschließen gegen die Rechten und gegen<br />

die Kadetten; beim zweiten Wahlgang, in der Presse, in den Versammlungen<br />

den Kampf der Liberalen gegen die Rechten „ausnutzen". Daraus<br />

ergibt sich die Notwendigkeit einer revolutionären Plattform, die jetzt<br />

schon über den Rahmen der „Legalität" hinausgeht. Daraus ergibt sich die<br />

Losung der Republik als Gegengewicht zu dem liberalen Spiel mit „konstitutionellen"<br />

Losungen, mit Losungen einer „Rasputin-Treschtschenkowschen<br />

Konstitution". Unsere Aufgabe ist es, überall, stets und ständig,<br />

in allen Formen der Arbeit, auf allen Tätigkeitsgebieten eine Armee<br />

revolutionärer Kämpfer heranzubilden, zu welchen Wendungen uns auch<br />

ein Sieg der Reaktion oder der Verrat des Liberalismus oder die Verschleppung<br />

der Krise usw. zwingen sollte.<br />

Man betrachte die Trudowiki. Das sind volkstümlerische Liquidatoren<br />

sans phrases*. Wir sind Revolutionäre, wird von Herrn Wodowosow „angedeutet",<br />

aber... gegen den Artikel 129 4 ist eben nichts zu machen,<br />

fügt er hinzu. Hundert Jahre nach der Geburt Herzens vermag die<br />

„Partei" der Millionenmasse der Bauern nicht einmal ein Flugblatt - und<br />

sei es ein hektographiertes! - dem Artikel 129 zum Trotz herauszugeben!!<br />

Die Trudowiki, die „in erster Linie" zu einem Block mit den Sozialdemokraten<br />

neigen, vermögen nicht, sich klar über den konterrevolutionären<br />

Charakter der Kadetten zu äußern, verstehen nicht, den Grund für eine<br />

republikanische Bauernpartei zu legen. Dabei haben die Lehren der Jahre<br />

1905-1907 und 1908-1911 die Frage eben so gestellt: für die Republik<br />

* ohne Umschweife. "Die <strong>Red</strong>.


TV. 1 }. <strong>Lenin</strong><br />

kämpfen oder die Stiefel Purisdikewitsdis lecken, unter der Knute Markows<br />

und Romanows leben. Eine andere Wahl haben die Bauern nicht.<br />

Man betrachte die Liquidatoren. Wie die Martynow, Martow und Co.<br />

sich auch drehen und wenden, so wird doch jeder ehrliche und vernünftige<br />

Leser zugeben, daß R-kow 5 das Fazit eben aus ihren Anschauungen gezogen<br />

hat, als er erklärte: „Man soll sich keine Illusionen machen: der<br />

Triumph eines sehr gemäßigten bürgerlichen Progressismus bereitet sich<br />

vor." Der objektive Sinn dieses geflügelten Wortes: die Revolution ist eine<br />

Illusion, die Unterstützung der „Progressisten" eine Realität. Nun, sieht<br />

jetzt nicht jeder, der nicht absichtlich die Augen schließt, daß die Dan und<br />

Martow eben dies mit ein wenig anderen Worten sagen, wenn,sie die<br />

Losung ausgeben: „Die Duma (die vierte Duma, die Gutsbesitzerduma)<br />

den Händen der Reaktion entreißen"? wenn sie sich zum hundertsten<br />

Mal in die Idee von den zwei Lagern verrennen? wenn sie schreien: „vereitelt<br />

nicht" die progressive Arbeit der liberalen Bourgeois? wenn sie den<br />

„Linksblock" bekämpfen? wenn sie im „Shiwoje Delo" 6 voller Selbstzufriedenheit<br />

auf die „Auslandsliteratur, die niemand liest", herabblicken?<br />

wenn sie sich in der Praxis mit einer legalen Plattform, mit legalen<br />

Anschlägen auf die Organisation zufriedengeben? wenn sie liquidatorische<br />

„Initiativgruppen" 7 schaffen und dergestalt mit der revolutionären<br />

SDAPR brechen? Ist es etwa nicht klar, daß dasselbe Liedchen auch die<br />

Lewizki singen, die die liberalen Ideen vom Kampf um das Recht philosophisch<br />

vertiefen, die Newedomski, die als Neuestes die Ideen Dobroljubows<br />

nach rückwärts „revidieren", vom Demokratismus zum Liberalismus,<br />

die Smirnow, die mit dem „Progressismus" liebäugeln, und all die<br />

übrigen Ritter der „Nascha Sarja" 8 und des „Shiwoje Delo"?<br />

In Wirklichkeit könnten die Demokraten wie die Sozialdemokraten<br />

niemals, selbst wenn sie es wollten, den Sieg der „Progressisten" unter den<br />

Gutsbesitzern und den Bourgeois „vereiteln"! Das sind ganz und gar<br />

hohle Phrasen. Die ernsthaften Meinungsverschiedenheiten liegen nicht<br />

hier. Der Unterschied der liberalen und der sozialdemokratischen Arbeiterpolitik<br />

besteht nicht darin. Die Progressisten „unterstützen", weil man<br />

in ihren „Siegen" ein „Heranrücken des kultivierten Bourgeois an die<br />

Macht" erblickt, das ist eben liberale Arbeiterpolitik.<br />

Wir Sozialdemokraten erblicken in dem „Sieg" der Progressisten einen<br />

mittelbaren Ausdruck des demokratischen Aufschwungs. Die Zusammen-


Die Wahlkampagne zur IV. Duma<br />

stoße der Progressisten/mit den Rechten gilt es auszunutzen,- mit der<br />

bloßen Losung, die Progressisten zu unterstützen, ist nichts getan. Unsere<br />

Aufgabe ist es, den demokratischen Aufschwung zu fördern, die neue<br />

revolutionäre Demokratie, die in einem neuen Rußland auf neue Weise<br />

heranwächst, zu hegen und zu pflegen. Wenn sie nicht entgegen den<br />

Liberalen stark zu werden und zu siegen versteht, dann wird in Wirklichkeit<br />

kein „Triumph" der Progressisten und Kadetten bei den Wahlen<br />

ernstlich irgend etwas an der Lage in Rußland ändern.<br />

Daß ein demokratischer Aufschwung zu verzeichnen ist, das ist heute<br />

unbestreitbar. Dieser Prozeß vollzieht sich schwerer, langsamer, komplizierter,<br />

als wir es wünschen mögen, aber er vollzieht sich. Ihn muß man<br />

„unterstützen" und fördern durch die Wahlarbeit wie durch jede andere<br />

Arbeit. Die revolutionäre Demokratie organisieren - durch schonungslose<br />

Kritik am volkstümlerischen Liqtridatorentnm und am volkstümlerischen<br />

Otsowismus eine republikanische Bauernpartei schmieden - und vor allem<br />

und in erster Linie das „eigene Haus" von Liquidatorentum und Otsowismus<br />

säubern, die revolutionäre sozialdemokratische Arbeit im Proletariat<br />

verstärken und die illegale sozialdemokratische Arbeiterpartei festigen,<br />

das ist unsere Aufgabe. Wie sich die Lösung der heranreifenden revolutionären<br />

Krise gestalten wird, das hängt nicht von uns ab, sondern von<br />

unzähligen Faktoren, von der Revolution in Asien und vom Sozialismus in<br />

Europa; von uns aber hängt es ab, ob wir unter den Massen eine konsequente<br />

und unentwegte Arbeit im Geiste des Marxismus betreiben werden,<br />

und nur diese Arbeit allein geht niemals spurlos vorüber.<br />

„Sozia\-T)emohrat° 9Jr. 26, Tiaäj dem 7ext des<br />

8. Mai (-25. April) 1912. „ Sozidl-Demokrat".


DIE LIQUIDATOREN<br />

GEGEN DIE PARTEI<br />

Gegen die Parteikonferenz wird von den Liquidatoren aller Schattierungen<br />

in der legalen russischen Presse eine Hetze betrieben, deren hinterhältige<br />

Schamlosigkeit die Bulgarin und Burenin 9 vor Neid erblassen lassen<br />

muß. Die Artikel im „Shiwoje Delo", die die Delegierten offen danach<br />

fragen, von wem sie delegiert worden sind, und die unter dem Schutz der<br />

Zensur über das herfallen, was in der legalen Presse nicht verteidigt werden<br />

kann, sind ein solches Musterbeispiel an Ignorierung der elementaren<br />

Regeln publizistischer Ehrlichkeit, daß sie nicht nur den Protest der Konferenzanhänger,<br />

sondern den Abscheu aller ehrlichen Politiker überhaupt<br />

hervorrufen müßten. Die Artikel des anonymen Berichterstatters des<br />

„Vorwärts" 10 aber liefern eine solche Blütenlese an unverfrorener Wichtigtuerei<br />

und phrasenhafter Lüge, daß kein Zweifel daran möglich ist: der<br />

liquidatorische Auftrag, diese Artikel zu schreiben, ist in erfahrene Hände<br />

gelangt.»<br />

Die an die Wand gedrückten Gruppen und Zirkel der Liquidatoren<br />

beschränken sich jedoch nicht auf eine Verleumdungskampagne gegen die<br />

Partei. Sie versuchen, eine eigene Konferenz einzuberufen. Es werden<br />

natürlich alle Mittel angewandt, um dem OK 11 , das diese Konferenz einberuft,<br />

den Anschein der „Parteitreue", der „Fraktionslosigkeit", der<br />

„Vereinigung" zu geben. Sind diese Worte doch so bequem,.. .wenn es<br />

• Um die deutschen Genossen mit der wirklichen Sachlage in der SDAPR<br />

bekannt zu machen, hat die <strong>Red</strong>aktion des Zentralorgans eine spezielle Broschüre<br />

in deutscher Sprache herausgegeben, die unter anderem die Methoden<br />

des Anonymus aus dem „Vorwärts" entlarvt. (Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 17, S. 525 bis<br />

538. Die Ked.)


Die Liquidatoren gegen die Partei<br />

gilt, mit dem liquidatorischen Köder alle die zu fangen, die aus irgendeinem<br />

Grund mit der Parteikonferenz unzufrieden sind. Trotzki hat den<br />

Auftrag erhalten, alle Tugenden des OK und der künftigen Liquidatorenkonferenz<br />

zu besingen: wem anders als dem „professionellen Vereiniger"<br />

hätte man diesen Auftrag wohl auch geben sollen. Und er hat ein Loblied<br />

angestimmt... in allen Lettern, die die Wiener Druckerei zur Verfügung<br />

hat: „Die ,Wperjod'-Leute, die ,Golos'-Leute, die parteitreuen Bolsdiewiki,<br />

die parteitreuen Menschewiki, die sogenannten Liquidatoren und die<br />

Fraktionslosen — in Rußland und im Ausland - unterstützen entschieden<br />

die Arbeit..." des OK („Prawda" 12 Nr. 24).<br />

Der Ärmste hat wieder einmal... gelogen und sich wieder einmal verrechnet.<br />

Der gegen die Konferenz des Jahres 1912 mit soviel Lärm und<br />

Geschrei vorbereitete Block unter der Hegemonie der Liquidatoren kracht<br />

in allen Fugen, er kracht, weil die Liquidatoren allzu deutlich ihre Eselsohren<br />

gezeigt haben. Die Polen haben eine Mitarbeit im OK abgelehnt.<br />

Plechanow hat nach Korrespondenz mit einem Vertreter des letzteren<br />

einige interessante Einzelheiten klargestellt: 1. daß die Konferenz als<br />

„konstituierende" Konferenz, d. h. als Konferenz nicht der SDAPR, sondern<br />

irgendeiner neuen Partei geplant ist, 2. daß ihrer Einberufung ein<br />

„anarchisches" Prinzip zugrunde liegt, 3. daß „die Konferenz von Liquidatoren<br />

einberufen wird". Nachdem diese Umstände durch Genossen<br />

Plechanow klargestellt worden waren, konnte es uns schon nicht mehr<br />

wundernehmen, daß die sogenannten bolschewistischen (?!) Versöhnler<br />

Mut faßten und Trotzki überführen wollten, er habe... die Unwahrheit<br />

gesagt, als er sie zu den Anhängern des OK zählte. „Dieses OK in seiner<br />

jetzigen Zusammensetzung, mit seiner deutlichen Tendenz, der ganzen<br />

Partei sein eigenes Verhältnis zu den Liquidatoren aufzudrängen, mit den<br />

Prinzipien der organisatorischen Anarchie, die es der Auffüllung seines<br />

Mitgliederbestands zugrunde gelegt hat - dieses OK garantiert nicht im<br />

geringsten die Einberufung einer wirklich allgemeinen Parteikonferenz",<br />

so äußern sich heute unsere so mutig gewordenen „Parteitreuen" über das<br />

OK. Wo heute unsere Linkesten der Linken, die „Wperjod" -Leute,<br />

stehen, nachdem sie sich seinerzeit beeilt haben, ihre Sympathie für das<br />

OK zu bescheinigen, ist uns unbekannt, aber das ist auch nicht wichtig:<br />

wichtig ist, daß der liquidatorische Charakter der vom OK einberufenen<br />

Konferenz von Plechanow unwiderlegbar und in aller Eindeutigkeit fest-


8 W. J. <strong>Lenin</strong><br />

gestellt worden ist und daß die staatsmännischen Köpfe der „Versöhnler"<br />

sich diesen Tatsachen beugen mußten. Wer ist übriggeblieben? Die ausgesprochenen<br />

Liquidatoren und Trotzki...<br />

Die Grundlage dieses Blocks ist klar: Die Liquidatoren genießen die<br />

volle Freiheit, auf „alte Weise" ihre Linie im „Shiwoje Delo" und in der<br />

„Nascha Sarja" zu verfolgen, Trotzki aber deckt sie - vom Ausland her -<br />

durch die rrrevolutionäre Phrase, die ihn nichts kostet und sie in keiner<br />

Weise bindet.<br />

Aus dieser Geschichte folgt eine kleine Lehre für diejenigen, die im<br />

Ausland nach der Einheit seufzen und unlängst das Pariser Blatt „Sa<br />

Partiju" 13 geschaffen haben. Um die Partei aufzubauen, reicht es nicht<br />

aus, wenn man versteht, „Einheit" zu schreien, man muß noch irgendein<br />

politisches Programm, ein Programm des politischen Handelns haben<br />

Der Block der Liquidatoren, Trotzkis, der „Wperjod" -Leute, der Polen,<br />

der parteitreuen Bolschewiki (?), der Pariser Menschewiki usw. usw.<br />

usw. war im voraus zu einem skandalösen Reinfall verurteilt, denn er war<br />

auf Prinzipienlosigkeit, auf Heuchelei und auf die hohle Phrase gegründet.<br />

Den Seufzenden aber dürfte es schließlich nichts schaden, für sich<br />

selbst die so komplizierte und schwierige Frage zu lösen, mit wem sie die<br />

Einheit wollen. Wenn mit den Liquidatoren, warum sagen sie das dann<br />

nicht ohne Umschweife? Wenn sie aber gegen die Vereinigung mit den<br />

Liquidatoren sind, nach welcher Einheit seufzen sie dann?<br />

Die Januarkonferenz und die von ihr gewählten Organe sind das einzige,<br />

was gegenwärtig alle Parteiarbeiter der SDAPR in Rußland faktisch<br />

vereint. Außer ihr gibt es lediglich das Versprechen der Bundisten und<br />

Trotzkis, eine liquidatorische Konferenz durch das OK einzuberufen, und<br />

die „Versöhnler" mit ihrem liquidatorischen Katzenjammer.<br />

.SoziaVDemokrat" 3Vr. 26, Tiadb dem 7ext des<br />

8. TAai (25. April) I9i2. .Sozial-T>emokrat".


DEM GEDÄCHTNIS HERZENS<br />

Hundert Jahre sind seit dem Tage der Geburt Herzens vergangen. Ihn<br />

feiert das ganze liberale Rußland, wobei es sorgfältig den ernsten Fragen<br />

des Sozialismus aus dem Weg geht und vorsorglich verheimlicht, wodurch<br />

sich der Revolutionär Herzen von einem Liberalen unterschied. Herzens<br />

gedenkt auch die Rechtspresse, die verlogen beteuert, Herzen habe sich am<br />

Ende seiner Tage von der Revolution losgesagt. Und in den <strong>Red</strong>en der im<br />

Ausland weilenden Liberalen und Volkstümler über Herzen herrscht die<br />

Phrase, nichts als die Phrase.<br />

Die Arbeiterpartei muß Herzens gedenken, nicht um spießbürgerliche<br />

Lobgesänge anzustimmen, sondern um ihre eigenen Aufgaben klarzustellen,<br />

um Klarheit zu schaffen über den wirklichen historischen Platz des<br />

Schriftstellers, der bei der Vorbereitung der russischen Revolution eine<br />

große Rolle gespielt hat.<br />

Herzen gehörte zu der Generation der aus den Kreisen des Adels und<br />

der Gutsbesitzer stammenden Revolutionäre der ersten Hälfte des vorigen<br />

Jahrhunderts. Der Adel hat Rußland die Biron und Araktschejew gegeben,<br />

eine zahllose Menge von „besoffenen Offizieren, Raufbolden, Spielern,<br />

Helden des Jahrmarkts, Pikören, Schlägern, Bauernpeinigern und Wüstlingen"<br />

- und schöngeistigen Manilows*. „Und zwischen ihnen", schrieb<br />

Herzen, „entwickelten sich die Männer des 14. Dezember, eine Phalanx<br />

von Helden, wie Romulus und Remus mit der Milch einer Wölfin genährt<br />

... Es sind das wahre Recken, von Kopf bis Fuß aus reinem Stahl<br />

geschmiedet, kriegerische Paladine, die bewußt in den offensichtlichen<br />

Untergang gegangen sind, um die junge Generation zu neuem Leben auf-<br />

* Manilow - Gestalt aus Gogols Roman „Die toten Seelen". Der Tibers.<br />

2 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>


10 -W.1. Centn<br />

zurütteln und die Kinder zu läutern, die inmitten von Henkertum und<br />

Knechtseligkeit geboren worden waren." 14<br />

Zu diesen Kindern gehörte Herzen. Der Aufstand der Dekabristen<br />

rüttelte ihn auf und „läuterte" ihn. In dem leibeigenen Rußland der vierziger<br />

Jahre des 19. Jahrhunderts vermochte er es, sich auf das Niveau<br />

der größten Denker seiner Zeit zu erheben. Er machte sich die Dialektik<br />

Hegels zu eigen. Er verstand, daß sie die „Algebra der Revolution" ist.<br />

Er ging weiter als Hegel, zum Materialismus, im Gefolge Feuerbachs. Der<br />

im Jahre <strong>18</strong>44 geschriebene erste der „Briefe über das Studium der<br />

Natur" - „Empirie und Idealismus" - zeigt uns einen Denker, der die<br />

unzähligen modernen Empiriker, die modernen Naturwissensdiafder, wie<br />

auch die Unmasse der heutigen Philosophen, Idealisten und Halbidealisten,<br />

jetzt noch um Haupteslänge überragt. Herzen kam ganz dicht an den<br />

dialektischen Materialismus heran und machte halt vor dem - historischen<br />

Materialismus.<br />

Dieses „Haltmachen" führte auch zu dem geistigen Zusammenbruch<br />

Herzens nach der Niederlage der Revolution von <strong>18</strong>48. Herzen hatte<br />

Rußland bereits verlassen und beobachtete diese Revolution unmittelbar.<br />

Er war damals Demokrat, Revolutionär, Sozialist. Aber sein „Sozialismus"<br />

gehörte zu den in der Epoche von <strong>18</strong>48 so zahllosen Formen und<br />

Abarten des bürgerlichen und kleinbürgerlichen Sozialismus, die durch die<br />

Junitage endgültig den Todesstoß erhielten. Im Grunde genommen war<br />

das überhaupt kein Sozialismus, sondern schöngeistige Phrase, gutgemeinte<br />

Phantasterei, in die die bürgerliche Demokratie und ebenso das<br />

Proletariat, das sich noch nicht von deren Einfluß frei gemacht hatte, ihr<br />

damaliges revolutionäres Streben kleideten.<br />

Der geistige Zusammenbruch Herzens, sein tiefer Skeptizismus und<br />

Pessimismus nach dem Jahre <strong>18</strong>48, war der Zusammenbruch der bürgerlichen<br />

Illusionen im Sozialismus. Das geistige Drama Herzens war ein<br />

Erzengnis und eine Widerspiegelung jener weltgeschichtlichen Epoche, da<br />

das revolutionäre Streben der bürgerlichen Demokratie scfocw in den letzten<br />

Zügen lag (in Westeuropa), die revolutionäre Gesinnung des sozialistischen<br />

Proletariats jedoch nodb nidht herangereift war. Das haben die<br />

Ritter der liberalen russischen Sprachschwelgerei nicht verstanden und<br />

konnten es nicht verstehen, die heute ihre konterrevolutionäre Gesinnung<br />

mit blumenreichen Phrasen über den Skeptizismus Herzens bemänteln.


Dem Qedädrtnis Herzens 11<br />

Bei diesen Rittern, die die russische Revolution von 1905 verraten, die<br />

selbst jeden Gedanken an den Ehrentitel Revolutionär vergessen haben, ist<br />

der Skeptizismus eine Form des Übergangs von der Demokratie zum<br />

Liberalismus - zu jenem knechtseligen, gemeinen, schmutzigen, bestialischen<br />

Liberalismus, der im Jahre <strong>18</strong>48 die Arbeiter zusammenschoß, der<br />

die umgestürzten Throne wieder aufrichtete, der Napoleon III. Beifall<br />

klatschte und den Herzen verfluchte, ohne seine Klassennatur zu verstehen.<br />

Bei Herzen war der Skeptizismus eine Form des Übergangs von den<br />

Illusionen des „über den Klassen stehenden" bürgerlichen Demokratismus<br />

zum harten, unerbittlichen, unbesiegbaren Klassenkampf des Proletariats.<br />

Der Beweis: die „Briefe an einen alten Freund", an Bakunin, die Herzen<br />

ein Jahr vor seinem Tod, im Jahre <strong>18</strong>69, schrieb. Herzen bricht mit dem<br />

Anarchisten Bakunin. Gewiß, noch sieht Herzen in diesem Bruch nur taktische<br />

Meinungsverschiedenheiten und nicht den Abgrund zwischen den<br />

Weltanschauungen des vom Siege seiner Klasse überzeugten Proletariats<br />

und des an seiner Rettung verzweifelnden Kleinbürgers. Gewiß, Herzen<br />

wiederholt auch hier wieder die alten bürgerlich-demokratischen Phrasen,<br />

der Sozialismus müsse auftreten mit „einer Predigt, die sich in gleicher<br />

Weise an den Arbeiter wie an den Unternehmer, an den Bauern wie an<br />

den Bürger wendet". Und dennoch, als Herzen mit Bakunin brach, wandte<br />

er seine Blicke nicht dem Liberalismus zu, sondern der Internationale, der<br />

Internationale, die von Marx geführt wurde - der Internationale, die begann,<br />

„die üHeere zu sammeln", die Heere des Proletariats, „die Arbeiterweit"<br />

zu vereinigen, „die die Welt verläßt, die genießt, ohne zu arbeiten"!<br />

15<br />

Da Herzen das bürgerlich-demokratische Wesen der ganzen Bewegung<br />

von <strong>18</strong>48 und all der Formen des vormarxschen Sozialismus nicht verstanden<br />

hatte, konnte er um so weniger die bürgerliche Natur der russischen<br />

Revolution verstehen. Herzen ist der Begründer des „russischen"<br />

Sozialismus, der „Volkstümlerrichtung". Herzen erblickte den „Sozialismus"<br />

in der Befreiung des Bauern mit Landzuteilung, im Grundbesitz der<br />

Dorfgemeinden und in der bäuerlichen Idee vom „Recht auf Grund und<br />

Boden". Seine Lieblingsgedanken zu diesem Thema hat er unzählige Male<br />

entwickelt.


12 IV. 1. <strong>Lenin</strong><br />

In Wirklichkeit gibt es in dieser Lehre Herzens wie in der ganzen<br />

russischen Volkstümlerrichtung - bis zu der matten Volkstümlerei der<br />

heutigen „Sozialrevolutionäre" — au


Dem Qedädbtnis Herzens 13<br />

lieh für die Befreiung der Bauern ein. Das sklavische Schweigen war gebrochen.<br />

Aber Herzen gehörte dem Milieu der Gutsbesitzer, der Herren an. Er<br />

hatte Rußland im Jahre <strong>18</strong>47 verlassen, hatte das revolutionäre Volk nicht<br />

gesehen und konnte keinen Glauben an das Volk haben. Daher sein liberaler<br />

Appell an die „Spitzen". Daher seine zahllosen süßlichen Briefe im<br />

„Kolokol" an Alexander II., den Henker, die man heute nicht ohne Abscheu<br />

lesen kann. Tschernyschewski, Dobroljubow, Serno-Solowjewitsdi,<br />

diese Vertreter der neuen Generation der Rasnotschinzen*-Revolutionäre,<br />

hatten tausendmal recht, wenn sie Herzen Vorwürfe machten wegen dieser<br />

Abweichungen vom Demokratismus zum Liberalismus. Allein die<br />

Gerechtigkeit fordert zu sagen, daß bei allen Schwankungen Herzens<br />

zwischen Demokratismus und Liberalismus dennoch der Demokrat in<br />

ihm die Oberhand behielt<br />

Als einer der widerwärtigsten Typen des liberalen Gesindels, Kawelin,<br />

der sich früher für den „Kolokol" gerade wegen seiner liberalen Tendenzen<br />

begeistert hatte, gegen die Konstitution auftrat, über die revolutionäre<br />

Agitation herfiel, sich gegen die „Gewalttätigkeit" und die Aufrufe zur<br />

Gewalt wandte und Geduld zu predigen begann, da bradh Herzen mit<br />

diesem liberalen Weisen. Herzen zog über sein „kümmerliches, abgeschmacktes<br />

und schädliches Pamphlet" her, das geschrieben sei „nicht<br />

für den Druck, sondern damit die liberalisierende Regierung es sich zur<br />

Richtschnur nehme", über Kawelins „politisch-sentimentale Sentenzen",<br />

die „das russische Volk als Vieh, die Regierung aber als Ausbund der<br />

Weisheit" darstellten. Der „Kolokol" veröffentlichte einen Artikel „Grabrede",<br />

in dem die Professoren gegeißelt wurden, „die das verfaulte Spinngewebe<br />

ihrer hochmütig kümmerlichen Ideen weben, die Exprofessoren,<br />

die einst treu und bieder waren, dann aber erbosten, als sie sahen, daß die<br />

gesunde Jugend mit ihrer skrofulösen Denkweise nicht sympathisieren<br />

kann". Und Kawelin erkannte sich irr diesem Porträt sofort wieder.<br />

Als Tschernyschewski verhaftet wurde, schrieb der niederträchtige<br />

Liberale Kawelin: „Die Verhaftungen scheinen mir nicht empörend...<br />

die revolutionäre Partei hält alle Mittel für gut, um die Regierung zu<br />

* Rasnotsdiinzen - Angehörige der Intelligenz, hervorgegangen aus der<br />

Geistlichkeit, der Beamtenschaft, dem Kleinbürgertum und der Bauernschaft.<br />

Der Tibers.


14 W.I.<strong>Lenin</strong><br />

stürzen, und diese verteidigt sich mit ihren Mitteln." Herzen gab diesem<br />

Kadetten eine treffende Antwort, als er anläßlidi des Verfahrens gegen<br />

Tsdiernysdiewski sagte: „Und da kommen diese kläglichen, farblosen<br />

Mensdien, diese qualligen Sdileimer, und sagen, man dürfe diese <strong>Band</strong>e<br />

von Räubern und Sdiuften, die uns regiert, nidit schmähen!"<br />

Als der Liberale Turgenjew einen Privatbrief mit der Versicherung<br />

seiner allerergebensten Gefühle an Alexander II. richtete und zwei Goldstücke<br />

für die bei der Niedersdilagung des polnisdien Aufstands verwundeten<br />

Soldaten spendete, schrieb der „Kolokol" von der „grauhaarigen<br />

Magdalena (männlichen Gesdiledits), die Seiner Majestät geschrieben<br />

hat, sie könne keinen Schlaf finden und quäle sidi ab, weil Seine Majestät<br />

nichts von der Reue wisse, die sie empfinde". Und Turgenjew erkannte<br />

sich sofort.<br />

Als das ganze Geliditer der russisdien Liberalen von Herzen abrückte,<br />

weil er Polen verteidigte, als die ganze „gebildete Gesellschaft" dem<br />

„Kolokol" den Rücken kehrte, ließ sich Herzen nidit beirren. Er fuhr<br />

fort, für die Freiheit Polens einzutreten, und geißelte audi weiterhin die<br />

Büttel, die Sdiarfrichter und Henker Alexanders II. Herzen rettete die<br />

Ehre der russischen Demokratie. „Wir haben die Ehre des russischen<br />

Namens gerettet", schrieb er an Turgenjew, „und dafür hat uns die<br />

sklavische Mehrheit leiden lassen."<br />

Als die Nadiridit eintraf, ein leibeigener Bauer habe einen Gutsbesitzer<br />

wegen eines Ansdilags auf die Ehre seiner Braut ersdilagen, kommentierte<br />

Herzen diese Nadiridit im „Kolokol": „Das hat er ausgezeichnet<br />

gemacht!" Als mitgeteilt wurde, daß zur Durchführung einer „ruhigen"<br />

„Befreiung" Militärbefehlshaber eingesetzt würden, schrieb Herzen: „Der<br />

erste gescheite Oberst, der sich mit seiner Abteilung den Bauern anschließt,<br />

anstatt sie niederzumachen, wird auf den Thron der Romanows<br />

kommen." Als der Oberst Reitern sich in Warschau ersdioß (<strong>18</strong>60), um<br />

nicht zum Helfershelfer der Henker zu werden, schrieb Herzen: „Wenn<br />

ersdiossen werden muß, so müssen die Generale erschossen werden, die<br />

den Befehl geben, auf Waffenlose zu schießen." Als man in Besdna fünfzig<br />

Bauern niedermachte und ihren Anführer, Anton Petrow, hinrichtete<br />

(12. April <strong>18</strong>61), schrieb. Herzen im „Kolokol":<br />

„Oh, wenn meine Worte dod» zu dir dringen könnten, Arbeitsmann und<br />

Märtyrer der russisdien Erde!... Wie würde ich didi lehren, deine geistlidien


Dem Qedädbtnis Herzens 15<br />

Hirten zu verachten, die der Petersburger Synod und der deutsche Zar über<br />

dich gesetzt haben... Du hassest den Gutsbesitzer, du hassest den Gerichtsschreiber,<br />

du fürchtest sie-und mit vollem Recht; aber du glaubst noch an den<br />

Zaren und den Hohenpriester... glaub ihnen nichtf Der Zar ist mit ihnen<br />

und sie mit ihm. Ihn siehst du jetzt, du, Vater des ermordeten Jünglings in<br />

Besdna, du, Sohn des ermordeten Vaters in Pensa... Deine Hirten - sie sind<br />

unwissend wie du, arm wie du ... Das war auch jener Antonius, der in Kasan<br />

für dich gelitten hat" (nicht der Bischof Antonius, sondern Anton von Besdna).<br />

„... Die Leichen deiner Heiligen werden keine achtundvierzig Wunder tun, ein<br />

Gebet zu ihnen hilft nicht gegen Zahnweh,- aber das lebendige Andenken an<br />

sie kann ein Wunder verrichten - deine Befreiung."<br />

Das zeigt, wie gemein und niedrig unsere Liberalen, die sich in der<br />

„legalen" Sklavenpresse verschanzt haben, Herzen verleumden, wie sie<br />

seine schwachen Seiten übertrieben darstellen und seine starken mit<br />

Schweigen übergehen. Es ist nicht die Schuld Herzens, es ist sein Unglück,<br />

daß er das revolutionäre Volk eben in Rußland in den vierziger Jahren<br />

nicht sehen konnte. Als er es in den sedbziger Jahren gesehen hatte, trat er<br />

furchtlos auf die Seite der revolutionären Demokratie gegen den Liberalismus.<br />

Er kämpfte für den Sieg des Volkes über den Zarismus und nicht<br />

für einen Pakt der liberalen Bourgeoisie mit dem Gutsbesitzerzaren. Er<br />

erhob das Banner der Revolution.<br />

Wenn wir Herzen feiern, sehen wir deutlich drei Generationen, drei<br />

Klassen, die in der russischen Revolution wirksam waren. Zunächst - die<br />

Adligen und Gutsbesitzer, die Dekabristen und Herzen. Eng ist der Kreis<br />

dieser Revolutionäre. Furchtbar fern stehen sie dem Volk. Aber ihre Sache<br />

ist nicht verlorengegangen. Die Dekabristen weckten Herzen. Herzen<br />

entfaltete die revolutionäre Agitation.<br />

Diese Agitation wurde aufgegriffen von den Rasnotschinzen-Revolutionären,<br />

von Tsdiernyschewski bis zu den Helden der „Narodnaja<br />

Wolja", die sie erweiterten, festigten und stählten. Weiter wurde der<br />

Kreis der Kämpfer, enger ihre Verbindung mit dem Volk. „Die jungen<br />

Steuerleute im künftigen Sturm" hat Herzen sie genannt. Aber das war<br />

noch nicht der eigentliche Sturm.<br />

Der Sturm, das ist die Bewegung der Massen selbst. Das Proletariat, die<br />

einzige wirklich revolutionäre Klasse, hat sich erhoben, ist an ihre Spitze


16 TV. 7. <strong>Lenin</strong><br />

getreten und hat zum erstenmal die Millionen Bauern zum offenen, revolutionären<br />

Kampf mitgerissen. Der erste Stoß des Sturmes erfolgte im<br />

Jahre 1905. Der nächste beginnt vor unsern Augen an Kraft zu gewinnen.<br />

Indem es Herzen feiert, lernt das Proletariat an seinem Beispiel die<br />

gewaltige Bedeutung der revolutionären Theorie verstehen; lernt es verstehen,<br />

daß die unverbrüchliche Treue zur Revolution und der revolutionäre<br />

Appell an das Volk auch dann nicht vergebens sind, wenn ganze<br />

Jahrzehnte die Ernte von der Saat trennen; lernt es die Rolle der verschiedenen<br />

Klassen in der russischen und internationalen Revolution zu bestimmen.<br />

Um diese Lehren bereichert, wird sich das Proletariat den Weg<br />

zum freien Bündnis mit den sozialistischen Arbeitern aller Länder bahnen<br />

und jenes Reptil, die zaristische Monarchie, zertreten, gegen das Herzen<br />

als erster das hehre Banner des Kampfes erhoben hat, indem er an die<br />

Massen appellierte mit dem freien russisdben Wort.<br />

„Sozia\-T>em6kral" 9fr. 26, TJadi dem. Text des<br />

8. Mai (25. April) 1912. „Sozial-Bemohrat".


DER GRUNDBESITZ<br />

IM EUROPÄISCHEN RUSSLAND<br />

Die Hungersnot, in die 30 Millionen Bauern geraten sind, hat von<br />

neuem die Frage nach der Lage der Bauernschaft in Rußland auf die<br />

Tagesordnung gesetzt. Gewöhnlich läßt man bei Erörterungen über diese<br />

Frage die Hauptsache außer acht: die Wechselbeziehung zwischen dem<br />

Großgrundbesitz der - vornehmlich adligen - Gutsherren und der Lage<br />

der Bauernschaft. Auf diese Hauptsache eben wollen wir das Augenmerk<br />

der Leser lenken.<br />

Im Jahre 1907 wurde vom Innenministerium die „Grundbesitzstatistik<br />

für 1905" herausgegeben. Auf Grund dieser offiziellen Angaben, die<br />

sicherlich keinesfalls der Parteinahme für die Bauern verdächtigt werden<br />

können, kann man eine ziemlich genaue Vorstellung über eine der hauptsächlichen<br />

Ursachen der Hungersnot gewinnen.<br />

Die Regierungsstatistik hat die Bodenfläche in den 50 Gouvernements<br />

des Europäischen Rußlands mit 395 Millionen Desjatinen angegeben.<br />

Aber diese Ziffer gibt kein Bild der wirklichen Sachlage, weil in ihr über<br />

100 Millionen Desjatinen an fiskalischen Ländereien im Hohen Norden, in<br />

den Gouvernements Archangelsk, Olonez und Wologda einbegriffen<br />

sind. Für die Landwirtschaft sind diese Ländereien größtenteils ungeeignet;<br />

es sind das die Tundren und Wälder des Hohen Nordens. Gewöhnlich<br />

wird auf diese Ländereien nur verwiesen, um die wirkliche Verteilung<br />

des für landwirtschaftliche Zwecke tauglichen Bodens im dunkeln zu<br />

lassen.<br />

Scheidet man diese Ländereien aus, so erhält man als Gesamtfläche<br />

geeigneten Bodens (abgerundet) 280 Millionen Desjatinen. Von diesem<br />

Boden befinden sich 101 Millionen Desjatinen in Privatbesitz, und<br />

17


<strong>18</strong><br />

r W. 1. <strong>Lenin</strong><br />

139 Millionen sind Anteilland. Es gilt, den gutsherrlidien Großgrundbesitz<br />

und den kleinbäuerlichen Grundbesitz auseinanderzuhalten.<br />

über die großen Güter macht die Regierungsstatistik folgende Angaben:<br />

Persönliches Privateigentum an Qrund und Boden<br />

im Europäisdoen Rußland<br />

Durchsdinitts-<br />

Anzahl große einer<br />

der Land in Besitzung<br />

Größe des Besitzes Besitzungen Desjatinen in Desjatinen<br />

von 50O- 2 000 Desjatinen 21748 20 590 708 947<br />

„ 2000-10000 „ 5 386 20602109 3 825<br />

über 10000 699 20798 504 29 754<br />

Insgesamt 27 833 61991 321 2 227<br />

Diese Angaben sind unvollständig, da weder die Apanageländereien<br />

noch die Ländereien der großen Handelsgesellschaften und dergleichen<br />

einbezogen sind. Aber immerhin können wir aus diesen Angaben die<br />

"Hauptsache über den gutsherrlichen Grundbesitz in Rußland erfahren.<br />

Siebenhundert Gutsbesitzer besitzen 2 i Millionen Desjatinen, das heißt,<br />

jeder einzelne besitzt fast dreißigtausend Desjatinen.<br />

Weniger als achtundzwanzigtausend Gutsbesitzer besitzen 62 Millionen<br />

Desjatinen Land, das heißt, im Durchschnitt entfallen auf jeden einzelnen<br />

2200 "Desjatinen. Hinzufügen muß man hier die Apanageländereien; man<br />

zählt über fünf Millionen Desjatinen. Dann gehören mehr als dreieinhalb<br />

Millionen Desjatinen Land 272 „Handels- und Industriegesellschaften,<br />

Betriebsgesellschaften u. a.". Es sind das zweifellos große Güter — ihre<br />

Hauptmasse ist im Gouvernement Perm konzentriert -; hier gehören<br />

neun solchen Gesellschaften fast anderthalb Millionen Desjatinen Land<br />

(die genaue Ziffer: t 448 902).<br />

Wir erhalten also insgesamt keinesfalls weniger, sondern sicherlich<br />

mehr als 70 Millionen Desjatinen Land, die den größten Gutsbesitzern<br />

gehören. Die Zahl dieser großen Gutsbesitzer erreicht nicht 30 000.<br />

Nehmen wir jetzt den Grundbesitz der Bauern. Nach den Angaben der<br />

Regierungsstatistik besaßen die Bauern mit den kleinsten Parzellen an<br />

Anteilland:


Der Qrundbesitz im Europäisäoen Rußland 19<br />

Größe des Anteillandes<br />

Bis 5 Desjatinen<br />

5-8 „<br />

8-15 „<br />

Anteilland<br />

Anzahl der Höfe<br />

2 857650<br />

3 317601<br />

3 932 485<br />

Land in<br />

Desjatinen<br />

9030 333<br />

21 706 550<br />

42<strong>18</strong>2 923<br />

Im Durchschnitt<br />

auf<br />

einen Hof<br />

Desjatinen<br />

3,1<br />

6,5<br />

10,7<br />

Insgesamt 10107736 72 919 806 7,0<br />

Also besitzen zehn Millionen Bauernfamilien - von insgesamt etwa<br />

13 Millionen - 73 Millionen Des/atmen Land. Im Durchschnitt entfallen<br />

auf einen Hof sieben Desjatinen. Hinzufügen muß man hier noch die im<br />

Privatbesitz befindlichen kleinen Wirtschaften: Besitzer mit bis zu 10 Desjatinen<br />

zählt man 409 864, an Land besitzen sie 1625 226 Desjatinen,<br />

d. h. weniger als vier Desjatinen je Hof. Folglich erhalten wir ungefähr<br />

zehneinhalb Millionen Bauernfamilien mit 75 Millionen Desjatinen Land.<br />

Nunmehr können wir diese grundlegenden Daten, die bei den Betrachtungen<br />

über die Bauernfrage sehr häufig vergessen oder unrichtig dargestellt<br />

werden, zusammenfassen:<br />

Der gutsherrliche Großgrundbesitz: 30 000 Besitzer - 70 Millionen<br />

Desjatinen Land.<br />

Der kleinbäuerliche Grundbesitz: zehneinhalb Millionen Besitzer -<br />

75 Millionen Desjatinen Land.<br />

Selbstverständlich sind das allgemeine Angaben. Um die Lage der<br />

Bauern und die Bedeutung der großen Güter eingehender zu studieren,<br />

muß man auf die Angaben für die verschiedenen Gebiete oder Bezirke,<br />

zuweilen sogar für die einzelnen Gouvernements, zurückgreifen. Aber die<br />

Ökonomen der Regierung wie die Ökonomen aus dem liberalen Lager und<br />

teilweise sogar aus dem Lager der Volkstümler verdunkeln sehr häufig den<br />

Xern der Bodenfrage eben durch Hinweise auf einzelne Gebiete oder auf<br />

einzelne spezielle Seiten der Frage. Um sich über die fundamentale Bedeutung<br />

der Bodenfrage und über die Lage der Bauern klarzuwerden, darf<br />

man die angeführten grundlegenden Angaben nicht außer acht lassen, darf<br />

man nicht gestatten, daß das Grundlegende durch Einzelheiten verdunkelt<br />

werde.


20 W.l£enin<br />

Beispiele für solche Verdtmkelnngsversnche werden wir im nächsten<br />

Artikel anführen.* Heute jedoch wollen wir das erste grundlegende Fazit<br />

ziehen. Der Grund und Boden im Europäischen Rußland ist so verteilt,<br />

daß die größten Gutsbesitzer, von denen jeder über mehr als 500 Desjatinen<br />

verfügt, 70 Millionen Desjatinen besitzen, wobei die Zahl dieser<br />

Gutsbesitzer nicht einmal 30 000 erreicht.<br />

Die übergroße Mehrheit der Bauern hingegen, nämlich zehneinhalb<br />

Millionen Familien von insgesamt 13 Millionen Bauernfamilien, besitzen<br />

75 Millionen Desjatinen Land.<br />

Die Durdisdinittsgröße der Güter der Großgrundbesitzer beträgt<br />

2200 Desjatinen. Die Durchschnittsgröße der Parzelle des Kleinbauern -<br />

sieben Desjatinen.<br />

Ginge der Grund und Boden der dreißigtausend Großbesitzer an die<br />

zehn Millionen Bauernhöfe über, so würde sich der Bodenbesitz dieser<br />

Höfe fast verdoppeln.<br />

Welche wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Gutsbesitzern und<br />

den Bauern sich aus einer solchen Bodenverteilung ergeben, darüber das<br />

nächste Mal.<br />

„Netoskaja Swesda' 3Vr. 3, "Nada dem Jext der<br />

6. Mai 1912. ."Newskaja Swesda".<br />

IXnUrsdoriit-.lLSiMn.<br />

* Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 60-64. D»e <strong>Red</strong>.


DIE TRUDOWIKI<br />

UND DIE ARBEITERDEMOKRATIE<br />

Die Wahlkampagne für die Wahlen zur IV. Duma hat zu einer gewissen<br />

Belebung geführt und das Interesse für politische Fragen erhöht.<br />

Die durch die Ereignisse an der Lena ausgelöste breite Bewegung hat diese<br />

Belebung vertieft und dieses Interesse besonders groß werden lassen. Mehr<br />

denn je ist es heute am Platze, die Frage des Verhältnisses der Trudowiki,<br />

d. h. der Bauerndemokratie, zur Arbeiterdemokratie zu erörtern.<br />

Herr W. Wodowosow legt in dem Artikel „Die Trudowildgruppe und<br />

die Arbeiterpartei" („Saprossy Shisni" Nr. 17) den Standpunkt der<br />

Trudowiki in dieser Frage dar, wobei er auf meine Artikel in der<br />

„Swesda" <strong>18</strong> „Liberalismus und Demokratie"* antwortet. Der Streit berührt<br />

das eigentliche Wesen der beiden politischen Richtungen, in denen<br />

die Interessen von neun Zehnteln der Bevölkerung Rußlands ihren Ausdruck<br />

finden. Es ist darum die Pflicht eines jeden Demokraten, dem<br />

Gegenstand des Streites die größte Aufmerksamkeit entgegenzubringen.<br />

I<br />

Die Arbeiterdemokratie steht auf dem Standpunkt des Klassenkampfes.<br />

Die Lohnarbeiter bilden eine bestimmte Klasse in der modernen Gesellschaft.<br />

Die Lage dieser Klasse unterscheidet sich radikal von der Lage der<br />

Klasse der Kleinbesitzer, der Bauern. Darum kann von ihrer Vereinigung<br />

in einer Partei keine <strong>Red</strong>e sein.<br />

Das Ziel der Arbeiter ist die Vernichtung der Lohnsklaverei durch die<br />

Beseitigung der Herrschaft der Bourgeoisie. Die Bauern erheben demokratische<br />

Forderungen, die geeignet sind, die Leibeigenschaft in allen<br />

• Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 17, S. 561-570. Die <strong>Red</strong>.<br />

21


22 IV. 3. <strong>Lenin</strong><br />

ihren sozialen Grundlagen und Erscheinungsformen zu vernichten, die<br />

aber ungeeignet sind, die Herrschaft der Bourgeoisie auch nur anzutasten.<br />

Die diesen wie jenen gemeinsamen Aufgaben bringen in Rußland in der<br />

gegenwärtigen Etappe die Bauern- und die Arbeiterdemokratie einander<br />

näher, die nicht anders als getrennt marschieren können, die aber vereint<br />

handeln können - und es im Interesse des Erfolges müssen — gegen alles,<br />

was dem Demokratismus widerspricht. Wenn diese Vereinigung oder<br />

diese Gemeinsamkeit des Handelns nicht verwirklicht werden wird, wenn<br />

sich die Bauerndemokratie nicht von der Vormundschaft der Liberalen<br />

(der Kadetten) frei machen wird, kann von ernsthaften demokratischen<br />

Umgestaltungen in Rußland keine <strong>Red</strong>e sein.<br />

Das sind die Anschauungen der Arbeiterdemokraten, der Marxisten,<br />

die ich in den beiden Artikeln „Liberalismus und Demokratie" entwickelt<br />

habe.<br />

Die Trudowiki, deren Anschauungen Herr Wodowosow darlegt, wollen<br />

eine „über den Klassen stehende" Partei sein. Ihrer Überzeugung nach<br />

könnte eine Partei „durchaus den Interessen von drei Gesellschaftsklassen<br />

Genüge leisten": der Bauernschaft, der Arbeiterklasse und der „werktätigen<br />

Intelligenz".<br />

Ich hatte gesagt, diese „Überzeugung" widerspreche 1. allen Wahrheiten<br />

der ökonomischen Wissenschaft, 2. allen Erfahrungen der Länder,<br />

die der gegenwärtigen Epoche in Rußland ähnliche Epochen durchgemacht<br />

haben, 3. den Erfahrungen Rußlands in einer besonders wichtigen, besonders<br />

kritischen Periode der russischen Geschichte ^im Jahre 1905. Ich<br />

hatte mich lustig gemacht über die echt kadettischen Ansprüche, verschiedene<br />

Klassen zu „umfassen", und hatte daran erinnert, daß die Kadetten<br />

die Herren Maklakow als „werktätige Intelligenz" bezeichnen.<br />

Herr Wodowosow versucht, ohne diese meine Argumente vollständig<br />

und im Zusammenhang anzuführen, fragmentarische Einwendungen zu<br />

machen. Gegen das erste Argument z. B. erklärt er: „Die Bauernschaft ist<br />

eine Masse, die von ihrer Arbeit lebt, ihre Interessen sind die Interessen<br />

der Arbeit, und darum bildet sie die eine Abteilung in der großen Armee<br />

der Arbeit, so wie die Arbeiter die andere Abteilung bilden."<br />

Das ist keine marxistische ökonomische Wissenschaft, sondern eine<br />

bürgerliche: durch die Phrase von den Interessen der Arbeit wird hier der<br />

grundlegende Unterschied zwischen der Lage des Kleinbesitzers und der


Die Jrudotviki und die Arbeiterdemokratie 23<br />

des Lohnarbeiters vertuscht. Der Arbeiter besitzt keinerlei Produktionsmittel<br />

und verkauft sich selbst, seine Hände, seine Arbeitskraft. Der Bauer<br />

besitzt Produktionsmittel - Geräte, Vieh, Land, eigenes oder gepachtetes -<br />

und verkauft die Produkte seiner Wirtschaft, er ist Kleinbesitzer, Kleinunternehmer,<br />

Kleinbürger.<br />

Die Bauern dingen auch heute in Rußland nicht weniger als zwei Millionen<br />

landwirtschaftlicher Lohnarbeiter für ihre Wirtschaften. Gingen<br />

aber alle Gutsbesitzerländereien ohne Ablösung an die Bauern über, dann<br />

würden sie noch weitaus mehr Arbeiter dingen.<br />

Ein solcher Übergang des Bodens an die Bauern liegt im gemeinsamen<br />

Interesse der gesamten Bauernschaft, aller Lohnarbeiter, der ganzen<br />

Demokratie, weil der gutsherrliche Grundbesitz die Basis ist für die politische<br />

Macht der Gutsbesitzer, für eine Macht von solchem Typus, wie ihn<br />

Purischkewitsch, dann Markow 2 und die übrigen „Größen der III. Duma",<br />

die Nationalisten, Oktobristen usw. Rußland besonders anschaulich<br />

vor Augen geführt haben. '<br />

Hieraus erhellt, daß das gemeinsame Ziel, das heute den Bauern und<br />

Arbeitern gesetzt ist, absolut nichts Sozialistisches in sich birgt, entgegen<br />

der Meinung der Schwarzhunderterignoranten und zuweilen auch der<br />

Liberalen. Dieses Ziel ist ein ausschließlich demokratisches Ziel. Ist dieses<br />

Ziel erreicht, so wäre die Freiheit für Rußland errungen, aber noch keineswegs<br />

die Lohnsklaverei vernichtet.<br />

Um das vereinte Handeln verschiedener Klassen ernsthaft zu organisieren,<br />

für einen wirklichen und dauerhaften Erfolg solchen Handelns bedarf<br />

es der klaren Erkenntnis, worin die Interessen dieser Klassen übereinstimmen<br />

und worin sie auseinandergehen. Jegliche Irrtümer, jegliche<br />

„Mißverständnisse" in dieser Hinsicht, jede Verdunkelung der Sache<br />

durch Phrasen muß sich auf das verhängnisvollste auswirken, muß den<br />

Erfolg vereitern.<br />

II<br />

„Die landwirtschafdiche Arbeit unterscheidet sich von der Fabrikarbeit;<br />

aber die Fabrikarbeit unterscheidet sich doch auch von der Arbeit der Handlungsgehilfen<br />

im Laden - allein die ,Swesda' beweist den Handlungsgehilfen<br />

eindringlich, daß sie mit den Arbeitern eine Klasse bilden, daß sie darum die<br />

Sozialdemokratie als ihre Vertreterin betrachten müssen ..."


24 W. J. <strong>Lenin</strong><br />

Das ist die Erwiderung des Herrn Wodowosow auf die Argumente von<br />

dem tiefen Klassenunterschied zwischen den Kleinbesitzern und den<br />

Lohnarbeitern! Die Betrachtungen des Herrn Wodowosow sind auch hier<br />

von dem gewöhnlichen Geist der bürgerlichen politischen Ökonomie<br />

durchdrungen. Der landwirtschaftliche Kleinbesitzer gehört zusammen<br />

mit dem Fabrikanten, mit dem Kleinbesitzer in Handel und Gewerbe zu<br />

einer Klasse; hier gibt es keinen Unterschied zwischen Klassen, sondern<br />

zwischen Berufen. Der landwirtschaftliche Lohnarbeiter gehört mit dem<br />

•Cobnarbeiter aus Fabrik und Handel zu einer Klasse.<br />

Diese Wahrheiten sind vom Standpunkt des Marxismus die allerelementarsten<br />

Wahrheiten. Und wenn Herr Wodowosow „meinen" Marxismus<br />

„äußerst vereinfacht" nennt, so hofft er vergeblich, dadurch das Wesen der<br />

Sadbe verdecken zu können: daß nämlich die Trudowiki ständig von der<br />

marxistischen politischen Ökonomie zur bürgerlichen abirren.<br />

Dieselbe Tendenz zum Abirren, und zwar in eben derselben Richtung,<br />

offenbart Herr Wodowosow, wenn er meine 1 Berufung auf die Erfahrungen<br />

aller Länder und auf die Erfahrungen Rußlands - hinsichtlich des tiefgreifenden<br />

Klassenunterschiedes zwischen den Kleinbesitzern und den<br />

Lohnarbeitern - mit dem Hinweis darauf zu widerlegen versucht, daß zuweilen<br />

verschiedene Parteien eine Klasse repräsentieren und umgekehrt.<br />

Die Arbeiter in Europa folgen manchmal den Liberalen, den Anarchisten,<br />

den Klerikalen usw. Die Gutsbesitzer verteilen sich zuweilen auf verschiedene<br />

Parteien.<br />

Was ist denn damit bewiesen? Lediglich, daß außer den Klassenunterschieden<br />

auch andere Unterschiede, z. B. religiöse, nationale usw., Einfluß<br />

auf die Bildung von Parteien haben.<br />

Diese Tatsache stimmt, aber in welcher Beziehung steht sie zu unserem<br />

Streit? Zeigt Herr Wodowosow für Rußland die besonderen historischen<br />

- religiösen, nationalen oder anderen - Bedingungen auf, die sich in dem<br />

gegebenen 7a\\ den Klassenunterschieden binzugesellen würden?<br />

Herr Wodowosow hat absolut keine derartigen Bedingungen aufgezeigt<br />

und konnte sie auch nicht aufzeigen. Der Streit ging ausschließlich<br />

darum, ob bei uns eine „über den Klassen stehende" Partei mögr<br />

lieh sei, die „den Interessen von drei Klassen Genüge leisten" würde<br />

(wobei es lächerlich ist, die „werktätige Intelligenz" als Klasse zu bezeichnen).


Die Jrudowiki und die Arbeiterdemokratie 25<br />

Auf diese Frage gibt die Theorie die klare Antwort: das ist unmöglich!<br />

Eine ebenso klare Antwort geben die Erfahrungen des Jahres 1905, wo<br />

sich in den unmittelbarsten und größten Massenaktionen in einem außerordentlich<br />

wichtigen kritischen Augenblick der russischen Geschichte alle<br />

Klassen- und Gruppenunterschiede, alle nationalen usw. Unterschiede besonders<br />

deutlich offenbart haben. Die Theorie des Marxismus erhielt ihre<br />

Bestätigung durch die Erfahrungen des Jahres 1905, die gezeigt haben,<br />

daß eine einheitliche Bauern- und Arbeiterpartei in Rußland unmöglich ist.<br />

Al!e drei Dumas haben dasselbe gezeigt.<br />

Was soll da der Hinweis darauf, daß in verschiedenen Ländern Europas<br />

manchmal eine Klasse auf mehrere Parteien aufgeteilt war oder verschiedene<br />

Klassen unter der Führung einer Partei vereinigt waren? Dieser Hinweis<br />

besagt absolut nichts. Mit diesem Hinweis geht Herr Wodowosow<br />

nur der zu erörternden Frage aus dem Wege, versucht er nur, den Leser<br />

abzulenken.<br />

Für den Erfolg der russischen Demokratie ist es überaus wichtig, daß<br />

sie ihre Kräfte kenne, die Lage der Dinge nüchtern betrachte, klar be-<br />

' greife, auf welche Klassen sie zu rechnen vermag. Sich durch Illusionen<br />

verführen lassen, die Klassenunterschiede durch Phrasen verdecken, sich<br />

mit frommen Wünschen über sie hinwegsetzen — all das ist im höchsten<br />

Grade schädlich.<br />

Man muß den tiefen, im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft, im<br />

Rahmen der Herrschaft des Marktes nicht zu beseitigenden Klassenzwiespalt<br />

zwischen den Bauern und den Arbeitern Rußlands offen anerkennen.<br />

Man muß offen anerkennen, worin beute ihre Interessen übereinstimmen.<br />

Man muß jede dieser Klassen einigen, ihre Kräfte zusammenschließen,<br />

ihr politisches Bewußtsein entwickeln und die gemeinsame Aufgabe bestimmen.<br />

Eine „radikale" (ich gebrauche den Ausdruck des Herrn Wodowosow,<br />

obgleich er mir nicht sehr glücklich scheint) Bauernpartei ist nützlich und<br />

notwendig.<br />

Alle Versuche, eine „über den Klassen stehende" Partei zu schaffen, die<br />

Versuche, Bauern und Arbeiter in einer Partei zu vereinigen, die Versuche,<br />

irgendeine niditexistierende „werktätige Intelligenz" als besondere<br />

Klasse hinzustellen, sind äußerst schädlich, sind verderblich für die<br />

russische Freiheit, weil solche Versuche nichts anderes zur Folge haben<br />

3 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>


26 IV. 1. <strong>Lenin</strong><br />

können als Enttäuschungen, Kräfteverlust und Trübung des politischen<br />

Bewußtseins.<br />

Wir stehen der Bildung einer konsequent demokratischen Bauernpartei<br />

voller Sympathie gegenüber und sind eben deshalb verpflichtet, die erwähnten<br />

Versuche zu bekämpfen. Die Arbeiter sind zugleich verpflichtet,<br />

gegen den Einfluß der Liberalen auf die demokratische Bauernschaft zu<br />

kämpfen.<br />

III<br />

über das Verhältnis der Liberalen zur bürgerlichen Demokratie, der<br />

Kadetten zu den Trudowiki, hat die Konferenz der letzteren nichts Klares<br />

und Bestimmtes gesagt. 19 Bei den Trudowiki ist kein Verständnis dafür zu<br />

entdecken, daß gerade die Abhängigkeit der demokratischen Bauernschaft<br />

von den Liberalen einer der Hauptgründe war für den Mißerfolg der<br />

Freiheitsbewegung in den Jahren 1905/1906, daß ein Erfolg dieser Bewegung<br />

unmöglidb ist, wenn nicht die breiten Schichten und die führenden<br />

Schichten der Bauernschaft den Unterschied zwischen Demokratismus und<br />

Liberalismus erkennen, wenn sie sich nicht frei machen von der Vormundschaft<br />

und der Herrschaft der Liberalen.<br />

Herr Wodowosow hat diese Frage von grundlegender Wichtigkeit nur<br />

höchst flüchtig und unzureichend berührt. Er erklärt, daß „die Kadettenpartei<br />

vornehmlich die Interessen der städtischen Bevölkerung vertritt".<br />

Das stimmt nicht. Eine solche Bestimmung der Klassenwurzeln und der<br />

politischen Rolle der Partei der Kadetten ist ganz und gar untauglich.<br />

Die Partei der Kadetten ist die Partei der liberal-monarchistischen<br />

Bourgeoisie. Die soziale Basis dieser Partei (wie auch der „Progressisten")<br />

sind die (im Vergleich zu den Oktobristen) ökonomisch fortschrittlicheren<br />

Schichten der Bourgeoisie, insbesondere aber die bürgerliche Intelligenz.<br />

Zwar folgt noch ein Teil des städtischen und ländlichen Kleinbürgertums<br />

dieser Partei, doch lediglich kraft der Tradition (d. h. der einfachen Gewohnheit,<br />

der blinden Wiederholung des Gestrigen) und weil er von den<br />

Liberalen direkt betrogen wird. -<br />

Wenn die Kadetten sich als Demokraten bezeichnen, betrügen sie sich<br />

selbst und betrügen sie das Volk. In Wirklichkeit sind die Kadetten konterrevolutionäre<br />

Liberale.<br />

Die ganze Geschichte Rußlands, besonders des 20. Jahrhunderts, be-


Die Jrudowiki und die Arbeiterdemokratie 27<br />

sonders der Jahre 1905/1906, hat das vollauf bewiesen, der Sammelband<br />

„Wechi" 20 aber hat das besonders anschaulich, klar und vollständig<br />

demonstriert und enthüllt. Und keinerlei „Vorbehalte" der kadettischen<br />

Diplomaten gegenüber den „Wechi" werden an dieser Tatsache etwas<br />

ändern.<br />

Der erste Abschnitt der Freiheitsbewegung in Rußland, das erste Jahrzehnt<br />

des 20. Jahrhunderts hat offenbart, daß noch breite Massen der<br />

Bevölkerung, die zur Demokratie neigen, nicht in genügendem Maße<br />

politisch bewußt sind, den Liberalismus vom Demokratismus nicht unterscheiden<br />

und sich der Führung der Liberalen unterwerfen. Solange sich<br />

das nicht ändert und soweit sich das nicht ändert, ist es zwecklos, von<br />

irgendeiner demokratischen Umgestaltung Rußlands auch nur zu reden.<br />

Das würde nur leeres Gerede sein.<br />

Welche Einwendungen macht Herr Wodowosow gegen diese Prämissen,<br />

auf denen mein Artikel aufgebaut war? „Die Trudowiki", schreibt er,<br />

„halten es unter den gegenwärtigen Bedingungen für äußerst untaktisch<br />

(!!), zuviel von dem konterrevolutionären Charakter der Kadetten<br />

zu sprechen "<br />

Da hat man's! Was soll hier die „Taktik"? was soll hier das „zuviel"?<br />

Wenn es wahr ist, daß die Kadetten konterrevolutionäre Liberale sind,<br />

dann ist es Pflicht, die Wahrheit zu sagen. Ob man viel, ob man wenig<br />

von den konterrevolutionären Rechten und von den konterrevolutionären<br />

Liberalen sprechen soll — das ist eine ganz und gar zweitrangige Frage:<br />

Jedesmal, wenn der Publizist von den Rechten spricht, jedesmal, wenn er<br />

von den Liberalen spricht, muß er die Wahrheit sagen. Die Trudowiki<br />

haben über die Rechten die Wahrheit gesagt. Dafür sprechen wir ihnen<br />

unser Lob aus. Von den Liberalen haben die Trudowiki selbst zu sprechen<br />

begonnen - und sie haben die Wahrheit nicht ausgesprochen l<br />

Nur deswegen machen wir den Trudowiki Vorwürfe.<br />

„Zuviel" oder zuwenig - das ist durchaus belanglos. Mögen die<br />

Trudowiki tausend Zeilen den Rechten widmen und fünf den Liberalen,<br />

wir werden dagegen nichts einwenden. Nicht deswegen haben wir Einwendungen<br />

gegen die Trudowiki erhoben. Wir haben Einspruch dagegen<br />

erhoben, daß in diesen „fünf Zeilen" (machen Sie sich selbst den Vorwurf,<br />

Herr Wodowosow, daß Sie Ihr unglückliches „zuviel" in die Debatte<br />

geworfen haben!) nicht die Wahrheit über die Liberalen gesagt wurde.


28 WJ.<strong>Lenin</strong><br />

Herr Wodowosow'ist einer Antwort auf das Wesentliche ausgewichen:<br />

Sind die Kadetten konterrevolutionär oder nicht?<br />

Das Ausweichen der Trudowiki vor dieser Frage ist ein großer Fehler,<br />

ein Zeichen dafür, daß in der Praxis ein Teil der Demokraten und ein Teil<br />

der ehemaligen Marxisten vom Liberalismus abhängig ist.<br />

Diese Frage ist durch die ganze Geschichte des ersten Jahrzehnts des<br />

20. Jahrhunderts unabwendbar aufgeworfen.<br />

Heute wachsen in Rußland überall, in den verschiedensten Schichten<br />

der Bevölkerung, neue demokratische Elemente heran. Das ist eine Tatsache.<br />

Diese demokratischen Elemente müssen, während sie heranwachsen,<br />

in konsequentem Demokratismus erzogen werden. Eine solche Erziehung<br />

ist unmöglich, ohne das wahre Wesen der Liberalen klarzustellen, die<br />

über Hunderte von Organen verfügen, hundert Sitze in der Duma innehaben<br />

und dergestalt ständig in pseudodemokratischer Richtung unvergleichlich<br />

mehr Menschen beeinflussen, als unsere Propaganda erfassen<br />

kann.<br />

Die Demokratie muß ihre Kräfte zusammenschließen. Die Trudowiki<br />

werden wir stets für ihre demokratischen <strong>Red</strong>en über die Rechten loben.<br />

Aber ihr Demokratismus wird inkonsequent sein, wenn sie dann, wenn sie<br />

von den Liberalen sprechen, auf liberale Art sprechen, anstatt eine Sprache<br />

zu sprechen, die eines Demokraten würdig ist.<br />

Nicht zwei Lager kämpfen bei den Wahlen, sondern drei. Verwechseln<br />

Sie nicht, meine Herren Trudowiki, das zweite (liberale) Lager mit dem<br />

dritten (demokratischen). Vertuschen Sie nicht den Unterschied zwischen<br />

ihnen - für diese schlechte Sache tragen schon die Liberalen „zuviel"<br />

Sorge.<br />

„Prawda" 5Vr. 13 und 14, Tlada dem Jext der .Prawda".<br />

8.und9.!Mai 1912.<br />

Unterschrift-. P.P.


DIE POLITISCHEN PARTEIEN IN RUSSLAND<br />

Die Wahlen zur Reichsduma veranlassen alle Parteien, ihre Agitation<br />

zu verstärken, ihre Kräfte zusammenzufassen, um möglichst viel Abgeordnete<br />

„ihrer" Partei durchzubringen.<br />

Dabei wird auch bei uns, wie in allen anderen Ländern, die hemmungsloseste<br />

Wahlreklame entfaltet. Alle bürgerlichen Parteien, das heißt alle<br />

diejenigen, die die ökonomischen Privilegien der Kapitalisten verteidigen,<br />

machen für ihre Parteien ebenso Reklame, wie die einzelnen Kapitalisten<br />

für ihre Waren Reklame machen. Man betrachte die Geschäftsinserate in<br />

einer beliebigen Zeitung, und man wird sehen, wie die Kapitalisten die<br />

„effektvollsten", schreiendsten, modischsten Bezeichnungen für ihre<br />

Waren ersinnen und sie über den grünen Klee loben, ohne sich auch nur<br />

den geringsten Zwang anzutun, ohne vor irgendeiner Lüge oder Erfindung<br />

haltzumachen.<br />

Das Publikum - zumindest in den großen Städten und in den Handelszentren<br />

- hat sich längst an die Geschäftsreklame gewöhnt und weiß, was<br />

sie wert ist. Leider verwirrt die politische Reklame unvergleichlich mehr<br />

Menschen, ihre Entlarvung ist weitaus schwieriger, der Betrag hält hier<br />

viel länger vor. Die Namen der Parteien werden — in Europa wie auch bei<br />

uns - zuweilen direkt zum Zweck der Reklame ausgewählt, die „Programme"<br />

der Parteien werden sehr, sehr oft nur geschrieben, um das<br />

Publikum zu betrügen. Je größer die politische Freiheit in einem kapitalistischen<br />

Land ist, je mehr Demokratismus es gibt, d. h., je größer die<br />

Macht des Volkes und der Volksvertreter ist, desto unverfrorener wird<br />

häufig die Reklame der Parteien.<br />

Wie soll man sich da, bei einer solchen Lage der Dinge, in dem Kampf<br />

29


30 IV. 1. <strong>Lenin</strong><br />

der Parteien zurechtfinden? Bedeutet nicht dieser Kampf mit all seinem<br />

Betrug und seiner Reklame, daß Vertretungskörperschaften, Parlamente,<br />

Versammlungen von Volksvertretern überhaupt unnütz, ja sogar schädlich<br />

sind, wie das die Erzreaktionäre, die Feinde des Parlamentarismus, nicht<br />

müde werden zu versichern? Nein. Gibt es keine Vertretungskörperschaften,<br />

so gibt es noch weitaus mehr Täuschung, politische Lüge und<br />

betrügerische Machinationen jeder Art, und das Volk hat weitaus weniger<br />

Mittel in der Hand, um den Betrug aufzudecken und die Wahrheit ausfindig<br />

zu machen.<br />

Um sich in dem Kampf der Parteien zurechtzufinden, darf man den<br />

Parteien nicht aufs Wort glauben, sondern muß ihre wirkliche Geschichte<br />

studieren, muß man nicht so sehr studieren, was die Parteien über sich<br />

selbst sagen, als vielmehr, was sie tun, wie sie bei der Entscheidung der<br />

verschiedenen politischen Fragen handeln, wie sie sich in den Fragen verhalten,<br />

die die Lebensinteressen der verschiedenen Klassen der Gesellschaft<br />

berühren, der Gutsbesitzer, der Kapitalisten, der Bauern, der<br />

Arbeiter und so weiter.<br />

Je größer die politische Freiheit in einem Lande ist, je fester begründet<br />

und demokratischer seine Vertretungskörperschaften sind, desto leichter<br />

ist es für die Volksmassen, sich im Kampf der Parteien zurechtzufinden<br />

und die Politik zu erlernen, d. h. den Betrug aufzudecken und die Wahrheit<br />

ausfindig zu machen.<br />

Am klarsten tritt die Teilung jeder Gesellschaft in politische Parteien<br />

in der Zeit tiefer, das ganze Land erschütternder Krisen hervor. Die<br />

Regierungen pflegen dann notgedrungen Stützen in den verschiedenen<br />

Klassen der Gesellschaft zu suchen; der ernste Kampf fegt alle Phrasen,<br />

alles Kleinliche, Angeschwemmte hinweg; die Parteien spannen alle ihre<br />

Kräfte an, wenden sich an die Massen des Volkes, und die Massen, geleitet<br />

vom richtigen Instinkt, aufgeklärt durch die im offenen Kampf erworbenen<br />

Erfahrungen, folgen den Parteien, die die Interessen dieser oder<br />

jener Klasse zum Ausdruck bringen.<br />

Die Zeiten solcher Krisen bestimmen stets für viele Jahre, ja selbst<br />

Jahrzehnte, die Parteiengrappierung der gesellschaftlichen Kräfte des<br />

betreffenden Landes. In Deutschland z. B. waren die Kriege von <strong>18</strong>66<br />

und <strong>18</strong>70 eine solche Krise; in Rußland die Ereignisse von 1905. Es ist<br />

unmöglich, das Wesen unserer politischen Parteien zu begreifen, es ist


Die politisiert Parteien in Rußland 31<br />

unmöglich, sich klar darüber zu werden, welche "Klassen diese oder jene<br />

Partei in Rußland vertritt, ohne auf die Ereignisse dieses Jahres zurückzugehen.<br />

Beginnen wir unsere kurze Skizze der politischen Parteien in Rußland<br />

mit den extremen Rechtsparteien.<br />

Auf dem äußersten rechten Flügel treffen wir den Bund des russischen<br />

Volkes.<br />

Das Programm dieser Partei wird im Blatt des Bundes des russischen<br />

Volkes, im „Russkoje Snamja" [Reußenfahne], herausgegeben von<br />

A. I. Dubrowin, folgendermaßen dargelegt:<br />

„Der Bund des russischen Volkes, den der Zar am 3. Juni 1907 von der Höhe<br />

seines Thrones herab des Appells gewürdigt hat, ihm eine zuverlässige Stütze<br />

zu sein, indem er für alle und in allem als Beispiel der Gesetzlichkeit und der<br />

Ordnung diene, bekennt, daß der Wille des Zaren nur verwirklicht werden<br />

kann, wenn 1. die mit der russischen rechtgläubigen, kanonisch geordneten<br />

Kirche unlösbar und lebendig verbundene Selbstherrschaft ihre Macht voll<br />

einsetzt; wenn 2. russisches Volkstum nicht nur in den inneren Gouvernements,<br />

sondern auch in den Randgebieten herrschend wird; wenn 3. eine ausschließlich<br />

aus russischen Männern zusammengesetzte Reichsduma bestehen wird als<br />

Hauptgehilfin des Selbstherrschers in seinen Bemühungen um den staatlichen<br />

Aufbau; wenn 4. die grundlegenden Thesen des Bundes des russischen Volkes<br />

bezüglich der Juden voll und ganz beachtet werden und wenn 5. Beamte, die<br />

zu den Gegnern der zaristischen absoluten Macht gehören, aus dem Staatsdienst<br />

entlassen werden."<br />

Wir haben diese feierliche Deklaration der Rechten genau wiedergegeben,<br />

einerseits, um den Leser unmittelbar mit dem Original bekannt<br />

zu machen, und anderseits im Hinblick darauf, daß die hier dargelegten<br />

Grundmotive ihre Geltung bewahren für alle Parteien der Mehrheit der<br />

III. Duma, d. h. sowohl für die „Nationalisten" als auch für die Oktobristen.<br />

Das wird aus der weiteren Darlegung zu ersehen sein.<br />

Das Programm des Bundes des russischen Volkes wiederholt im Grunde<br />

genommen die alte Losung aus den Zeiten der Leibeigenschaft: Rechtgläubigkeit,<br />

Selbstherrschaft, Volkstum. Was die Frage betrifft, vermittels<br />

derer man den Bund des russischen Volkes gewöhnlich von den auf ihn<br />

folgenden Parteien zu unterscheiden pflegt, nämlich die Anerkennung<br />

oder Ablehnung „konstitutioneller" Prinzipien in der russischen Staats-


32 IV. J. <strong>Lenin</strong><br />

Ordnung, so ist es besonders wichtig, hervorzuheben, daß der Bund des<br />

russischen Volkes durchaus nicht gegen eine Vertretungskörperschaft<br />

schlechthin ist. Aus dem zitierten Programm ist ersichtlich, daß der Bund<br />

des russischen Volkes für die Existenz einer Reichsduma in der Rolle einer<br />

„Gehilfin" eintritt. - •<br />

Die Eigenart der russischen, wenn man sich so ausdrücken darf, Konstitution<br />

hat der Dubrowinmann eben richtig, d. h. entsprechend der tatsächlichen<br />

Lage der Dinge, zum Ausdruck gebracht. Sowohl die Nationalisten<br />

als auch die Oktobristen stehen in ihrer wirklichen Politik-eben auf<br />

diesem Standpunkt. Der Streit zwischen diesen Parteien über die „Konstitution"<br />

läuft in bedeutendem Maße auf einen Streit um Worte hinaus:<br />

die „Rechten" sind nicht gegen eine Duma, sie betonen lediglich mit<br />

besonderem Eifer, daß sie „Gehilfin" sein soll ohne irgendwelche Festlegung<br />

ihrer Rechte, die Nationalisten und Oktobristen bestehen ihrerseits<br />

nicht auf irgendwelche genau bestimmte Rechte und denken auch keineswegs<br />

an reale Garantien dieses Rechts. Und die „Konstitutionalisten"<br />

des Oktobrismus vertragen sich durchaus mit den „Gegnern der Konstitution"<br />

auf dem Boden der Konstitution des 3. Juni.<br />

Die Hetze gegen die Fremdstämmigen im allgemeinen und gegen die<br />

Juden im besonderen ist im Programm der Schwarzhunderter offen, klar<br />

und bestimmt formuliert. Wie stets sprechen sie hier gröber, rücksichtsloser,<br />

aufreizender das aus, was die übrigen Regierungsparteien mehr<br />

oder weniger „schamhaft" oder diplomatisch zu verstecken suchen.<br />

In Wirklichkeit beteiligen sich - wie das jedermann weiß, der einigermaßen<br />

mit der Tätigkeit der III. Duma, mit der Presse vom Schlage des<br />

„Nowoje Wremja", des ÄSwet", des „Golos Moskwy" 21 usw. vertraut<br />

ist - an der Hetze gegen die Fremdstämmigen sowohl die Nationalisten<br />

wie die Oktobristen.<br />

Es fragt sich, welches denn nun die soziale Basis der Partei der Rechten<br />

ist, welche Klasse sie vertritt, welcher Klasse sie dient.<br />

Die Rückkehr zu den Losungen der Leibeigenschaft, das Einstehen für<br />

alles Alte, alles Mittelalterliche im russischen Leben, die volle Zufriedenheit<br />

mit der Konstitution des 3. Juni, dieser C/Mtsbesitzerkonstitution, die<br />

Verteidigung der Privilegien des Adels und des Beamtentums - all das<br />

gibt eine klare Antwort auf unsere Frage. Die Rechten, das ist die Partei<br />

der feudalen Gutsbesitzer, des Rates des vereinigten Adels. Nicht umsonst


Die poUtisdßen Parteien in Rußland 33<br />

hat doch gerade dieser Rat eine so hervorragende, mehr noch, führende<br />

Rolle gespielt bei der Auseinanderjagung der II. Duma, bei der Änderung<br />

des Wahlgesetzes und beim Staatsstreich vom 3. Juni.<br />

Um die ökonomische Macht dieser Klasse in Rußland deutlich zu<br />

machen, genügt es, auf die folgende grundlegende Tatsache hinzuweisen,<br />

die durch Zahlen der von der Regierung, vom Innenministerium, herausgegebenen<br />

Bodenstatistik vom Jahre 1905 bewiesen wird.<br />

Im Europäischen Rußland besitzen weniger als 30000 Gutsbesitzer<br />

70 Millionen Desjatinen Land; ebensoviel besitzen die 10 Millionen<br />

Bauernfamilien mit dem kleinsten Bodenanteil. Auf einen Großgrundbesitzer<br />

ergibt das im Durchschnitt ungefähr 2300 Desjatinen Land; auf<br />

einen armen Bauern 7 Desjatinen Land - je Familie, je Hof.<br />

Es ist ganz natürlich und unvermeidlich, daß der Bauer auf einem<br />

solchen „Anteil" nicht leben, sondern nur langsam sterben kann. Ständige<br />

Hungersnöte, von denen Millionen betroffen sind - wie die Hungersnot in<br />

diesem Jahr -, zerstören in Rußland fortlaufend, nach jeder Mißernte, die<br />

Bauernwirtschaft. Die Bauern müssen Land bei den Gutsbesitzern pachten<br />

- gegen Abarbeit jeder Art. Für das Land arbeitet der Bauer mit<br />

seinem Pferd und seinen Geräten bei dem Gutsbesitzer. Das ist der alte<br />

Frondienst, nur daß er offiziell nicht Leibeigenschaft genannt wird. Und<br />

auf Grundstücken von 2300 Desjatinen können die Gutsbesitzer im allgemeinen<br />

auch keine andere Wirtschaft führen als eine auf Schuldknechtschaft<br />

und Abarbeit, d. h. auf Frondienst beruhende Wirtschaft. Mit<br />

Hilfe von Lohnarbeitern bearbeiten sie lediglich einen Teil dieser gewaltigen<br />

Besitzungen.<br />

Weiter, diese selbe Klasse der adligen Gutsbesitzer stellt dem Staat<br />

den weitaus größten Teil aller höheren und mittleren Beamten. Die Privilegien<br />

des Beamtentums in Rußland, das ist die andere Seite der Privilegien<br />

und der auf dem Grundbesitz beruhenden Macht der adligen Gutsbesitzer.<br />

Hieraus wird begreiflidi, daß der Rat des vereinigten Adels und<br />

die „rechten" Parteien nicht zufällig, sondern unvermeidlich, nicht auf<br />

Grund des „bösen Willens" einzelner Personen, sondern unter dem<br />

Druck der Interessen einer unerhört mächtigen Klasse eine Politik der<br />

alten Leibeigenschaftstraditionen vertreten. Die alte herrschende Klasse,<br />

die Nachkömmlinge der Fronherren, die nach wie vor die herrschende<br />

geblieben ist, hat sich die entsprechende Partei geschaffen. Diese Partei,


34 IV. 1.<br />

das sind eben der „Bund des russischen Volkes" oder die ,;Rechten" in der<br />

Reichsduma und im Reichsrat.<br />

Aber wenn einmal Vertretungskörperschaften existieren, wenn einmal<br />

die Massen in der politischen Arena schon offen in Aktion getreten sind,<br />

wie sie es bei uns im Jahre 1905 getan haben, dann wird es für jede Partei<br />

notwendig, in diesen oder jenen Grenzen an das Volk zu appellieren. Womit<br />

aber können die rechten Parteien an das Volk appellieren, sich an das<br />

Volk wenden?<br />

Natürlich ist es unmöglich, geradeheraus über den Schutz der Interessen<br />

der Gutsbesitzer zu sprechen. Es wird von der Erhaltung der guten<br />

alten Zeit im allgemeinen gesprochen, man strengt sich nach Kräften an,<br />

Mißtrauen gegen die Fremdstämmigen, insbesondere gegen die Juden, zu<br />

säen, völlig unentwickelte, völlig unwissende Menschen zu Pogromen, zur<br />

Hetze gegen „den Jud" hinzureißen. Man bemüht sich, die Privilegien<br />

der Adligen, der Beamten und der Gutsbesitzer hinter <strong>Red</strong>en über die<br />

„Unterdrückung" der Russen durch die Fremdstämmigen zu verbergen.<br />

Solcherart ist die Partei der „Rechten". Ihr Mitglied Purischkewitsch,<br />

einer der angesehensten <strong>Red</strong>ner der Rechten in der III. Duma, hat sehr<br />

viel und erfolgreich daran gearbeitet, dem Volk zu zeigen, was die Rechten<br />

wollen, wie sie handeln, wem sie dienen. Purischkewitsch, das ist ein<br />

talentvoller Agitator.<br />

Neben den „Rechten", die in der III. Duma 46 Abgeordnete zählen,<br />

stehen die „"Nationalisten" mit 91 Abgeordneten. Die Schattierung, die<br />

sie von den Rechten unterscheidet, ist völlig unbedeutend: im Grunde genommen<br />

sind das nicht zwei Parteien, es ist eine Partei, die unter sich die<br />

„Arbeit" geteilt hat, gegen den Fremdstämmigen, den „Kadetten" (den<br />

Liberalen), den Demokraten usw. zu hetzen. Die einen verrichten plumper,<br />

die anderen raffinierter genau das gleiche Werk. Und für die Regierung<br />

ist es ja von Vorteil, daß die „extremen" Rechten, die zu jedem<br />

Skandal, Pogrom, zum Mord an den Herzenstem, Jollos und Karawajew<br />

fähig sind, ein wenig im Hintergrund bleiben, gleichsam als ob sie die<br />

Regierung von rechts „kritisierten" ... Eine ernste Bedeutung kann der<br />

Unterschied zwischen Rechten und Nationalisten nicht haben.<br />

Die Oktobristen haben in der III. Duma 131 Abgeordnete, wobei<br />

natürlich auch die „rechten Oktobristen" in diese Zahl einbegriffen sind.<br />

Sie unterscheiden sich in der heutigen Politik in nichts Wesentlichem von


Die politisiert Parteien in Rußland 35<br />

den Rechten, es sei denn dadurch, daß ihre Partei außer dem Gutsbesitzer<br />

auch noch dem Großkapitalisten dient, dem altgläubigen Kaufmann, der<br />

Bourgeoisie, die das Erwachen der Arbeiter und dann auch der Bauern<br />

zu selbständigem Leben in solchen Schrecken versetzt hat, daß sie ganz<br />

und gar zur Verteidigung der alten Zustände zurückgekehrt ist. Es gibt<br />

Kapitalisten in Rußland - und ihrer sind nicht gerade wenig -, die mit<br />

ihren Arbeitern keineswegs besser umgehen als die Gutsbesitzer mit den<br />

ehemaligen Leibeigenen; die Arbeiter, der Handelsangestellte sind für sie<br />

ebenfalls Gesinde, Dienstleute. Niemand versteht diese alten Zustände<br />

besser zu verteidigen als die rechten Parteien, die Nationalisten und die<br />

Oktobristen. Zwar gibt es auch Kapitalisten, die in den Semstwo- und<br />

Städtetagungen von 1904 und 1905 eine „Konstitution" forderten, aber<br />

gegen die Arbeiter sind sie bereit, sich mit der Konstitution des 3.- Juni<br />

völlig zufriedenzugeben.<br />

Die Partei der Oktobristen ist die wichtigste konterrevolutionäre Partei<br />

der Gutsbesitzer und Kapitalisten. Sie ist die führende Partei der<br />

III. Duma: 131 Oktobristen und 137 Rechte und Nationalisten bilden die<br />

solide Mehrheit der III. Duma.<br />

Das Wahlgesetz vom 3. Juni 1907 hat den Gutsbesitzern und Großkapitalisten<br />

die Mehrheit gesidhert-. In allen Wahlmännerversammlungen<br />

der Gouvernements, die die Abgeordneten in die Duma entsenden, gehört<br />

die Mehrheit den Gutsbesitzern und den Wahlmännern der ersten städtischen<br />

(d. h. großkapitalistischen) Kurie. In den Versammlungen von<br />

28 Gouvernements gehört die Mehrheit sogar den Wahlmännern der<br />

Grundbesitzer allein. Die ganze Politik der Regierung des 3. Juni ist mit<br />

Hilfe der oktobristischen Partei durchgeführt worden, für alle Sünden<br />

und Verbrechen der III. Duma fällt ihr die Verantwortung zu.<br />

In Worten, in ihrem Programm setzen sich die Oktobristen für die<br />

„Konstitution" ein und sogar... für die Freiheit! In der Tat aber hat<br />

diese Partei alle Maßnahmen gegen die Arbeiter (wie z. B. den Entwurf<br />

eines Versicherungsgesetzes - man denke nur an den Vorsitzenden der<br />

Dumakommission für Arbeiterfragen, Baron Tiesenhausen!), gegen die<br />

Bauern, gegen eine Beschränkung von Willkür und Rechtlosigkeit unterstützt.<br />

Die Oktobristen sind genauso eine Regierungspartei wie die Nationalisten.<br />

Dieser Umstand wird nicht im geringsten dadurch geändert, daß<br />

die Oktobristen von Zeit zu Zeit - urd besonders vor den Wahlen! -


36 WJ. <strong>Lenin</strong><br />

„oppositionelle" <strong>Red</strong>en halten. Oberall, wo Parlamente existieren, ist<br />

schon seit jeher zu beobachten, beobachtet man ständig, wie die bürgerlichen<br />

Parteien Opposition spielen, ein Spiel, das ihnen nichts schadet,<br />

denn keine Regierung nimmt es ernst, ein Spiel, das im Hinblick auf den<br />

Wähler, den es mit der oppositionellen Gesinnung „einzuseifen" gilt,<br />

manchmal nicht ohne Nutzen ist.<br />

Spezialisten und Virtuosen der Oppositionsspielerei sind hingegen die<br />

Kadetten, die konstitutionellen „Demokraten", die Partei der „Volksfrei'<br />

heit" - die wichtigste oppositionelle Partei der III. Duma.<br />

Ein Spiel ist schon die Bezeichnung dieser Partei, die in Wirklichkeit<br />

absolut keine demokratische Partei ist, keineswegs eine Partei des Volkes,<br />

keine Partei der Freiheit, sondern eine Partei der halben, wenn nicht der<br />

viertel Freiheit ist.<br />

In Wirklichkeit ist das die Partei der liberal-monarchistischen Bourgeoisie,<br />

die die Volksbewegung weitaus mehr fürchtet als die Reaktion.<br />

Der Demokrat glaubt an das Volk, glaubt an die Bewegung der Massen,<br />

unterstützt sie in jeder Weise - obgleich er nicht selten (wie die bürgerlichen<br />

Demokraten, die Trudowiki) eine unrichtige Vorstellung hat von<br />

der Bedeutung dieser Bewegung im Rahmen der kapitalistischen Ordnung.<br />

Der Demokrat strebt aufrichtig danach, mit allem Mittelalterlichen aufzuräumen.<br />

Der Liberale fürchtet die Bewegung der Massen, hemmt sie und verteidigt<br />

bewußt bestimmte, und zwar die wichtigsten mittelalterlichen Einrichtungen,<br />

um eine Stütze gegen die Massen, insbesondere gegen die<br />

Arbeiter, zu haben. Die Teilung der Macht mit den Purischkewitsdi -<br />

keinesfalls die Vernichtung aller Grundlagen für die Macht der Purischkewitsch<br />

-, das ist es, was die Liberalen erstreben: Alles für das Volk,<br />

alles durch das Volk - sagt der demokratische Kleinbürger (darunter der<br />

Bauer und der Trudowik), der aufrichtig die Vernichtung aller Grundlagen<br />

der Purischkewitschordnung erstrebt, ohne jedoch die Bedeutung<br />

des Kampfes der Lohnarbeiter gegen das Kapital zu begreifen. Umgekehrt,<br />

mit den Purischkewitsch die Macht über die Arbeiter und über die<br />

Kleinbesitzer zu teilen, das ist das wirkliche Ziel der liberal-monarchistischen<br />

Bourgeoisie.<br />

Die Kadetten besaßen in der I. und II. Duma die Mehrheit bzw. die beherrschende<br />

Position. Sie benutzten sie für ein sinnloses und schmachvolles


Die politischen Parteien in Rußland 37<br />

Spieh. nach rechts machten sie in Loyalität und Ministerwürdigkeit (wir<br />

sind imstande, friedlich alle Widersprüche zu lösen, ohne den Mushik- zu<br />

verderben und ohne Purischkewitsch zu kränken), nach links in Demokratismus.<br />

Rechts haben die Kadetten als Ergebnis dieses Spiels zu guter<br />

Letzt einen Fußtritt erhalten. Links erwarben sie sich die gerechte Bezeichnung:<br />

Verräter der Volksfreiheit. In den ersten beiden Dumas haben<br />

sie allezeit nicht nur die Arbeiterdemokratie, sondern auch die Trudowiki<br />

bekämpft. Es genügt, daran zu erinnern, daß der von den Trudowiki (in<br />

der I. Duma) aufgestellte Plan örtlicher Bodenkomitees, dieser elementar<br />

demokratische Plan, ein Plan des demokratischen Abc, von den Kadetten<br />

zu 7al\ gebracht wurde, weil sie die Vorherrschaft des Gutsbesitzers und<br />

des Beamten über den Bauern in den Flurbereinigungskommissionen verteidigten!<br />

In der III. Duma spielten die Kadetten die „verantwortungsbewußte<br />

Opposition", die Opposition mit dem Genitiv. Als solche haben sie wiederholt<br />

für das Regierangsbudget gestimmt („Demokraten"!); sie machten<br />

den Oktobristen die Ungefährlichkeit und Harmlosigkeit ihres „Zwangs" -<br />

loskaufs (Zwang für die Bauern) klar - man denke an Beresowski 1; sie<br />

schickten Karaulow auf die Tribüne, damit er „gottesfürchtige" <strong>Red</strong>en<br />

halte; sie sagten sich von der Bewegung der Massen los; sie appellierten<br />

an die „Spitzen" und unterdrückten die Vertreter der Massen (der Kampf<br />

der Kadetten gegen die Arbeiterdeputierten in der Frage der Arbeiterversicherung)<br />

usw. usf.<br />

Die Kadetten sind die Partei des konterrevolutionären Liberalismus.<br />

Durch ihren Anspruch auf die Rolle der „verantwortungsbewußten Opposition",<br />

d. h. einer anerkannten, gesetzlichen, zur Konkurrenz mit den<br />

Oktobristen zugelassenen Opposition nicht gegen das Regime des 3. Juni,<br />

sondern innerhalb des Regimes des 3. Juni - durch diesen Anspruch haben<br />

sich die Kadetten als „Demokraten" endgültig selbst das Grab gegraben.<br />

Die schamlose wechistische Propaganda der kadettischen Ideologen, der<br />

Herren Struve, Isgojew und Co., die von Rosanow und Antonius von<br />

Wolhynien mit Lob überhäuft worden sind, und die Rolle der „verantwortungsbewußten<br />

Opposition" in der III. Duma, das sind zwei Seiten<br />

einer Medaille. Die von den Purischkewitsch geduldete liberal-monarchistische<br />

Bourgeoisie möchte neben Purischkewitsch Platz nehmen.<br />

Der Block der Kadetten mit den „Progressisten" in der gegenwärtigen


38 W.I. <strong>Lenin</strong><br />

Zeit, bei den Wahlen zur IV. Duma, bestätigt noch einmal von neuem den<br />

zutiefst konterrevolutionären Charakter der Kadetten. Die Progressisten<br />

erheben nicht den geringsten Anspruch darauf, Demokraten zu sein, sagen<br />

kein Sterbenswort von Kampf gegen das ganze Regime des 3. Juni und<br />

träumen nicht einmal von einem „allgemeinen Wahlrecht". Es sind das<br />

gemäßigte Liberale, die ihre Verwandtschaft mit den Oktobristen nicht<br />

verbergen. Das Bündnis der Kadetten mit den Progressisten sollte selbst<br />

den Blindesten unter den „kadettisdien Chorsängern" die Augen öffnen<br />

über das wahre Wesen der kadettischen Partei.<br />

Die demokratische Bourgeoisie in Rußland repräsentieren die Volkstümler<br />

aller Schattierungen, von den linkesten Sozialrevolutionären bis<br />

zu den Volkssozialisten und den Trudowiki. Sie alle gebrauchen gern<br />

„sozialistische" Phrasen, doch darf sich der klassenbewußte Arbeiter über<br />

die Bedeutung dieser Phrasen keiner Täuschung hingeben. In Wirklichkeit<br />

gibt es weder in irgendwelchem „Recht auf Grund und Boden" noch<br />

in der „ausgleichenden Bodenverteilung" noch in der „Sozialisierung des<br />

Grund und Bodens" auch nur ein Qran Sozialismus. Das muß jeder begreifen,<br />

der weiß, daß bei Aufhebung des Privateigentums am Grund und<br />

Boden und bei einer neuen, und sei es der „gerechtesten", Verteilung des<br />

Bodens die Warenproduktion, die Macht des Marktes, des Geldes, des<br />

Kapitals, nicht nur unangetastet bleibt, sondern sich im Gegenteil noch<br />

weiter entfaltet.<br />

Aber die Phrasen über das „Arbeitsprinzip" und den „Volkstümler-<br />

Sozialismus" bringen den tiefen Glauben (und das aufrichtige Bestreben)<br />

des Demokraten zum Ausdruck, daß die Ausrottung alles Mittelalterlichen<br />

in den Bodenbesitzverhältnissen und zugleich damit auch in der<br />

politischen Ordnung möglich und notwendig ist. Wenn die Liberalen (die<br />

Kadetten) danach streben, mit den Purischkewitsch die politische Macht<br />

und die politischen Privilegien zu teilen, so sind die Volkstümler darum<br />

eben Demokraten, weil sie danach streben, und in der gegenwärtigen Zeit<br />

danach streben müssen, alle Privilegien in den Bodenbesitzverhältnissen<br />

und alle Privilegien in der Politik zu beseitigen.<br />

Die Lage der russischen Bauernschaft in ihrer großen Masse ist derart,<br />

daß sie von irgendeinem Kompromiß mit den Purischkewitsch (das für<br />

den Liberalen vollkommen möglich, erreichbar und naheliegend ist) nicht<br />

einmal träumen kann. Darum besitzt der Demokratismus der Klein-


Die politisdben Parteien in Rußland 39<br />

bourgeoisie noch für eine ziemlich lange Zeit in Rußland Wurzeln in der<br />

Masse, während die Stolypinsche Agrarreform, diese bürgerliche Politik<br />

der Purisdikewitsch gegen den Mushik, bislang nichts Dauerhaftes geschaffen<br />

hat außer... der Hungersnot für 30 Millionen!<br />

Die Millionen hungernder Kleinbesitzer müssen unbedingt eine andere,<br />

eine demokratische Agrarreform erstreben, die zwar über den Rahmen<br />

des Kapitalismus nicht hinausgehen kann, die Lohnsklaverei nicht beseitigen<br />

wird, aber das Mittelalter von der russischen Erde hinwegzufegen<br />

vermag.<br />

Die Trudowiki sind in der III. Duma furchtbar schwach, aber sie vertreten<br />

die Massen. Das Schwanken der Trudowiki zwischen den Kadetten<br />

und der Arbeiterdemokratie ergibt sich unvermeidlich aus der Klassenlage<br />

der Kleinbesitzer, wobei die besondere Schwierigkeit, diese zusammenzuschließen,<br />

zu organisieren und aufzuklären, die äußerste Unbestimmtheit<br />

und Gestaltlosigkeit der Trudowiki als Partei zur Folge hat Darum<br />

eben bieten die Trudowiki - gefördert durch den einfältigen „Otsowismus"<br />

der linken Volkstümler - das traurige Bild einer liquidierten Partei.<br />

Die Trudowiki unterscheiden sich von unseren beinah-marxistischen<br />

Liquidatoren dadurch, daß sie Liquidatoren aus Schwäche, jene aber aus<br />

Böswilligkeit sind. Den schwachen kleinbürgerlichen Demokraten helfen,<br />

sie dem Einfluß der Liberalen entreißen, das Lager der Demokratie gegen<br />

die konterrevolutionären Kadetten, und nicht nur gegen die Rechten, zusammenschließen<br />

- das ist die Aufgabe der Arbeiterdemokratie.<br />

In bezug auf diese, die ihre eigene Fraktion in der III. Duma gehabt<br />

hat, können wir hier nur wenig sagen.<br />

Die Parteien der Arbeiterklasse haben sich überall in Europa dadurch<br />

herausgebildet, daß sie sich vom Einfluß der allgemeinen demokratischen<br />

Ideologie frei machten-und lernten, den Kampf der Lohnarbeiter gegen<br />

das Kapital zu sondern vom Kampf gegen den Feudalismus, unter anderem<br />

eben, um diesen letzteren Kampf zu intensivieren, ihn frei zu machen<br />

von allen Schwankungen und aller Zaghaftigkeit. In Rußland hat sich die<br />

Arbeiterdemokratie sowohl vom Liberalismus als auch von der bürgerlichen<br />

Demokratie (den Trudowiki) klar abgegrenzt, zum großen Vorteil<br />

für die Sache der Demokratie überhaupt.<br />

Die liquidatorische Strömung in der Arbeiterdemokratie („Nascha<br />

Sarja" und „Shiwoje Delo") teilt die Schwäche der Trudowikirichtung,


40 W. 3. <strong>Lenin</strong><br />

preist die Gestaltlosigkeit, möchte die Lage der „geduldeten" Opposition<br />

einnehmen, sagt sich los von der Hegemonie der Arbeiter, beschränkt sich<br />

auf Worte über eine „legale" Organisation (wobei sie die nicht legale<br />

schmäht), propagiert eine liberale Arbeiterpolitik. Der Zusammenhang<br />

dieser Strömung mit dem Zerfall und der Depression in den Zeiten der<br />

Konterrevolution ist offensichtlich, ihr Abfall von der Arbeiterdemokratie<br />

wird offenkundig.<br />

Die klassenbewußten Arbeiter, die nichts liquidieren, die sich als Gegengewicht<br />

zu den liberalen Einflüssen zusammenschließen, sich als Klasse<br />

organisieren, alle möglichen Formen des Zusammenschlusses, des gewerkschaftlichen<br />

usw., entwickeln, treten als Vertreter der £obnarbeit dem<br />

Kapital und zugleich als Vertreter der konsequenten Demokratie dem<br />

ganzen alten Regime in Rußland entgegen und verurteilen alle Zugeständnisse<br />

an dieses Regime.<br />

Als Illustration veröffentlichen wir die Angaben über die parteimäßige<br />

Zusammensetzung der III. Reichsduma, die wir dem offiziellen Duma-<br />

„Handbuch" für das Jahr 1912 entnehmen.<br />

Zusammensetzung der III. Reicbsduma<br />

naäo Parteien<br />

Gutsbesitzer:<br />

Rechte<br />

Nationalisten<br />

Unabhängige Nationalisten<br />

Rechte Oktobristen<br />

Oktobristen<br />

Insgesamt Regierungsparteien<br />

Bourgeoisie:<br />

Progressisten<br />

Kadetten<br />

Polnisches Kolo<br />

Polnisch-Litauisch-Belorussische Gruppe<br />

Mohammedanische Gruppe<br />

Insgesamt Liberale<br />

46<br />

74<br />

17<br />

11<br />

120<br />

268<br />

36<br />

52<br />

11<br />

7<br />

9<br />

US


Die poUtisdien Parteien in Jiußland 41<br />

Bürgerliche Demokratie:<br />

Trudowikigruppe 14<br />

Arbeiterdemokratie:<br />

Sozialdemokraten 13<br />

Insgesamt Demokraten 27<br />

Parteilose 17<br />

Insgesamt • 437<br />

In der III. Reichsduma gab es zwei Mehrheiten: 1. Rechte und Oktobristen<br />

= 268 von 437; 2. Oktobristen und Liberale = 120 +. 115 = 235<br />

von 437. Beide Mehrheiten sind konterrevolutionär.<br />

„Newskaja Swesda" Nr. 5, TJadb dem 7ext der<br />

10. !Mai 1912. „TJewskaja Swesda".<br />

iXnters


42<br />

EINE ENQUETE<br />

ÜBER DIE ORGANISATIONEN<br />

DES GROSSKAPITALS 22<br />

Die Abteilung für Industrie und Wirtschaft der Kaiserlich Russischen<br />

Technischen Gesellschaft hat eine Enquete durchgeführt über die „Öffentlichen<br />

Organisationen der Handels- und Industrieidasse in Rußland" -<br />

richtiger: über die Organisationen des Großkapitals. Die Ergebnisse dieser<br />

Enquete sind jetzt in dem Buch des Herrn Gusdika 23 „Die Vertretungsorganisationen<br />

der Handels- und Industrieklasse in Rußland" (St. Petersburg<br />

1912) dargelegt worden. Sowohl das hier vorhandene Material als<br />

audi die Schlußfolgerungen, die der Autor in recht bestimmter Form<br />

niederschreibt, verdienen große Aufmerksamkeit.<br />

Die Enquete der Technischen Gesellschaft war eigentlich den „Vertretungs"organisationen<br />

der Kapitalisten gewidmet, die etwa 80% aller<br />

Organisationen bilden. Etwa 15% entfallen auf die Kartelle, Trusts und<br />

Syndikate; etwa 5% auf die Arbeitgeberverbände,- die übrigen auf die<br />

Börsenkomitees, die Kongreßräte usw. Diese letzteren Organisationen bezeichnen<br />

sidi selber am liebsten als „Vertretungs"organe. Ihre Aufgabe<br />

ist es, auf die Organe der Staatsmacht Einfluß zu nehmen.<br />

Die Arbeitgeberverbände führen nach Meinung des Herrn Guschka den<br />

„unmittelbaren" Klassenkampf mit den Lohnarbeitern, während die Vertretungsorganisationen<br />

einen „mittelbaren" Klassenkampf führen, den<br />

„Kampf mit den anderen Klassen vermittels des Drucks auf die Staatsmacht<br />

und die öffentliche Meinung".<br />

Diese Terminologie ist natürlich falsch. Sie zeigt uns sofort einen der


Eine Encjueie über die Organisationen des Qroßkapitah 43<br />

grundlegenden Mängel, die Herr Guschka mit den meisten Repräsentanten<br />

der „professoralen", bürgerlichen politischen Ökonomie teilt. Angeblich<br />

erkennt man den Begriff des Klassenkampfes an, angeblich legt man<br />

ihn der Untersuchung zugrunde. In Wirklichkeit aber wird dieser Begriff<br />

eingeengt und verzerrt. In der Tat ergibt sich bei Herrn Guschka, daß der<br />

Kampf der Kapitalisten gegen die Lohnarbeiter im Rahmen der gegebenen<br />

politischen Ordnung ein „unmittelbarer" Klassenkampf ist, während der<br />

Kampf um die politisdbe Ordnung selbst ein „mittelbarer'' Klassenkampf<br />

ist! Wohin gehört dann der Kampf um die „Staatsmacht" selbst?<br />

Aber auf diesen Grundfehler in der „Weltanschauung" des Herrn<br />

Guschka werden wir an entsprechender Stelle einzugehen haben. Die Bedeutung<br />

seiner Arbeit liegt nicht in der Theorie, sondern in der Zusammenstellung<br />

der Tatsachen. Die Angaben, die die Organisationen des vorherrschenden<br />

Typs umfassen, sind auf jeden Fall von beträchtlichem Interesse.<br />

Die Gesamtzahl der „Vertretungs"organisationen des Großkapitals betrug<br />

im Jahre 1910 in Rußland 143. Davon sind 71 Börsengesellschaften<br />

mit ihren Komitees. Dann 14 Komitees für Handel und Manufakturen,<br />

3 Kaufmannschaften, 51 Organisationen der „Verbands"gruppe (Kongresse,<br />

ihre Räte, Beratungskontore usw.) und 4 Organisationen unbestimmter<br />

Gruppe. Auf die Enquete haben insgesamt 62 Organisationen,<br />

d. h. weniger als die Hälfte, geantwortet. Von den 51 Organisationen der<br />

„Verbands"gruppe, die am meisten Interesse verdient, haben 22 auf die<br />

Enquete geantwortet.<br />

Charakteristisch sind die Angaben über den Zeitpunkt der Gründung<br />

der Organisationen. Von den 32 Börsenkomitees, die auf die Enquete geantwortet<br />

haben, sind 9 in den hundert Jahren von <strong>18</strong>00 bis 1900 gegründet<br />

worden; 5 in den vier Jahren von 1901 bis 1904; 9 in den zwei Jahren<br />

der Revolution, 1905 und 1906; und 9 von 1907 bis 1910.<br />

„Hier zeigt sich in voller Deutlichkeit", schreibt Herr Guschka, „der Stoß,<br />

den der Prozeß der Selbstorganisierung der Vertreter des Kapitals durch die<br />

gesellschaftliche Bewegung des stürmischen Jahres 1905 erhalten hat."<br />

Von den 22 Organisationen der Verbandsgruppe sind nur 7 in der Zeit<br />

von <strong>18</strong>70 bis 1900 entstanden; 2 von 1901 bis 1904; 8 in den zwei Jahren<br />

der Revolution, 1905/1906; und 5 von 1907 bis 1910. Alle diese „Kongreßräte"<br />

der Vertreter der Industrie im allgemeinen, der Bergbau-


44 TV. 7. £enin<br />

industriellen, der Erdölindustriellen usw. usf. sind hauptsächlich ein Produkt<br />

der revolutionären und der konterrevolutionären Epoche.<br />

Nach Industriezweigen unterscheiden sich die Organisationen folgendermaßen.<br />

In den Gruppen der Börsenkomitees sind die Branchen größtenteils<br />

gemischt; diese Komitees vereinigen gewöhnlich alle Industrie- und<br />

Handelszweige der betreffenden Gegend. In der Gruppe der Komitees für<br />

Handel und Manufakturen steht im Vordergrund das Textilwesen. In der<br />

Hauptgruppe, der Verbandsgruppe, entfällt fast die Hälfte der Organisationen<br />

auf die Industrie und nicht auf den Handel, nämlich auf Bergbau<br />

und Hüttenindustrie.<br />

„Diese Gruppe von Industriezweigen (Bergbau und Hüttenindustrie)<br />

bildet eben die ökonomische Basis für die Organisationen der modernen<br />

industriellen ,Garde' Rußlands", schreibt Herr Guschka, der eine kleine<br />

Passion dafür hat, über den Gegenstand seiner Untersuchung in „gehobenem<br />

Stil" zu reden.<br />

Nur für einen Teil der Organisationen gelang es, die Gesamtsumme des<br />

Umsatzes oder der Produktion des ganzen Handels-"und Industriezweiges<br />

der betreffenden Organisation zu bestimmen. Es ergab sich eine Gesamtsumme<br />

von 1570 Millionen Rubel, wovon 1319 Mill. Rbl. auf die Mitglieder<br />

der Organisationen entfallen. Also sind 84% organisiert. Der Umsatz<br />

von 3134 Mitgliedern der Organisationen betrug 1121 Mill. Rbl.,<br />

was im Durchschnitt 358 000 Rbl. je Mitglied ergibt. Die Zahl der Arbeiter<br />

bei 685 Mitgliedern der Organisationen beträgt ungefähr 219 000<br />

(der Autor rechnet auf S. 111 irrtümlicherweise 319 000), d. h., im Durchschnitt<br />

entfallen mehr als 300 Arbeiter auf ein Mitglied der Organisation.<br />

Es ist klar, daß es sich eben um die Organisationen des (Großkapitals<br />

und sogar, richtiger, des größten Kapitals handelt. Herr Guschka ist sich<br />

dessen durchaus bewußt, er verweist z. B. darauf, daß Mitglieder der<br />

Börsenkomitees und der Komitees für Handel und Manufakturen nur die<br />

großen und größten Kaufleute und Industriellen werden und daß die<br />

Organisation der Kongresse der Vertreter von Industrie und Handel die<br />

„größten" kapitalistischen Unternehmen umfaßt.<br />

Zu Unrecht spricht darum der Autor im Titel seines Buches von Organisationen<br />

„der Handels- und Industrieklasse in Rußland". Das ist falsch.<br />

Das ist wiederum eine Einengung des Begriffs der Klasse. In Wirklichkeit<br />

ist bei Herrn Guschka die <strong>Red</strong>e von einer Sdbidbt und nicht von einer


Sine Enquete über die Organisationen des Qroßkapitäls 45<br />

Klasse. Gewiß, die Schicht der größten Kapitalisten beherrscht natürlich<br />

ökonomisch alle anderen, erdrückt sie unweigerlich durch die Ausmaße<br />

ihres Umsatzes; all das steht außer Zweifel. Aber trotzdem ist es eine<br />

Schicht und keine Klasse. Ein gewaltiger Unterschied besteht zum Beispiel<br />

zwischen der politischen Rolle der Vertretungsorganisationen dieser<br />

Schicht und der politischen Herrschaft dieser Schicht, zwischen ihrer politischen<br />

Herrschaft - und der politischen Herrschaft der Handels- und<br />

Industrieklasse.<br />

Im Zusammenhang damit muß folgende Betrachtung des Herrn Guschka<br />

vermerkt werden: „Wir in Rußland", schreibt er, „sind gewohnt, einen<br />

sehr großen Maßstab anzulegen, um zu bestimmen, was als großes oder<br />

nicht großes Unternehmen zu bezeichnen ist, weil bekanntlich die Konzentration<br />

des Kapitals bei uns außergewöhnlich stark ist und selbst die Konzentration<br />

des Kapitals in Deutschland übertrifft..."<br />

Der Vergleich mit Deutschland ist falsch. Wenn es bei uns z. B. im Ural<br />

in der Bergbau- und Hüttenindustrie sehr wenige oder gar keine Kleinbetriebe<br />

gibt, so aus Gründen ganz besonderer Art: infolge des Fehlens<br />

voller Gewerbefreiheit, infolge der Überreste des Mittelalters. Und<br />

unsere amtliche (oder, was dasselbe ist, unsere volkstümlerische) Unterscheidung<br />

zwischen Fabrikindustrie und „Kustar"industrie* - führt sie<br />

etwa nicht dazu, daß unsere Industriestatistik mit der deutschen nicht vergleichbar<br />

ist? täuscht sie etwa nicht auf Schritt und Tritt den Beobachter<br />

hinsichtlich der „ungewöhnlichen Konzentration" in Rußland, indem sie<br />

die „ungewöhnliche" Zersplitterung der Unmenge von bäuerlichen Kleinbetrieben<br />

verdeckt?<br />

II<br />

Es ist von Interesse, einige Angaben der Enquete über die Tätigkeit der<br />

Vertretungsorganisationen des Großkapitals festzuhalten. Der Autor gibt<br />

z. B. eine Zusammenstellung der Auskünfte über ihre Budgets. Das Budget<br />

der 22 Organisationen der Verbandsgruppe weist 3 950 000 Rubel Einnahmen<br />

auf, während die Gesamtsumme der Einnahmen aller Organisationen<br />

7V4 Millionen Rubel beträgt. „Dieses sich auf 7% Millionen be-<br />

* Kustarindustrie - die vorwiegend ländliche rassische Hausindustrie. Der<br />

Tibers.


46 W. 7. <strong>Lenin</strong><br />

laufende Jahresbudget unserer 56 Organisationen", schreibt Herr<br />

Gusdika, „würde sich wahrscheinlich auf das Anderthalb- bis Zweifache<br />

erhöhen, wenn man die Finanzberichte der anderen Organisationen mit<br />

heranziehen könnte, die in unserer Enquete nicht erfaßt sind."<br />

Aber mehr als die Hälfte dieses Budgets, nämlich 4V2 Millionen Rubel,<br />

wird für wirtschaftliche und wohltätige Zwecke ausgegeben. Für die reinen<br />

Vertretungsfunktionen verwenden die 56 Organisationen 2,7 Mill. Rubel.<br />

„Die überwiegende Zahl der Antworten bzw. der Finanzberichte stellen<br />

unter den Ausgaben für die Vertretungsfunktionen die Gehälter der Angestellten<br />

und sodann die Mieten in den Vordergrund. Bei 64,4% der<br />

Organisationen entfällt dabei der größere Teil der Ausgaben auf die Gehälter<br />

der Angestellten, bei 26,7% auf die Mieten."<br />

Diese Zahlen sind, bei einem Umsatz der untersuditen Kapitalistenverbände<br />

von 1319 Mill. Rubel, ein Zeugnis für sehr bescheidene Ausgaben,<br />

so daß die rhetorische Schlußfolgerung des Herrn Guschka - das<br />

Budget der Ausgaben sei eine „Kennziffer für die Tinanzmadbt" (hervorgehoben<br />

vom Autor) „der Vertretungsorganisationen der Handels- und<br />

Industriebourgeoisie in Rußland" \ - uns wiederum die übermäßige Vorliebe<br />

dieses Autors für „große Worte" zeigt.<br />

Dem „dritten Element", d. h. der im Dienste der Kapitalistenverbände<br />

stehenden Intelligenz, widmet der Autor das 9. Kapitel seines Buches.<br />

29 Börsenkomitees haben, wie sich ergibt, 77 Vertreter des dritten Elements<br />

aufgeführt, die in den Diensten dieser Komitees stehen; ferner<br />

haben die 22 Organisationen der Verbandsgruppe <strong>18</strong>0 solcher Angestellten<br />

aufgeführt. Überwiegend werden je Organisation 2 bis 4 Vertreter<br />

des dritten Elements genannt. In Anbetracht dessen, daß die Kapitalistenverbände<br />

derartige Zahlen nicht selten zu niedrig angeben, hält der Autor<br />

den Schluß für wahrscheinlich, „daß sich in den Diensten der Vertretungsorganisationen<br />

des Kapitals in verantwortlichen Funktionen eine Armee (!!)<br />

von Intellektuellen von nidht weniger ah tausend Mann befindet", Sekretäre,<br />

Buchhalter, Statistiker, Rechtsberater usw.<br />

Wenigen nur bedarf es, damit Herr Guschka von einer „Armee" zu<br />

sprechen beginnt.<br />

Die Verlagstätigkeit der Kapitalistenverbände wird durch folgende Zahlen<br />

gekennzeichnet. Als Antwort auf die Enquete hat man außer den ausgefüllten<br />

Fragebogen eine kleine Bibliothek von 288 Bänden erhalten -


Eine Encfuete über die Organisationen des Qroßkapitals 47<br />

Arbeiten der Kongresse, Rechenschaftsberichte, Statuten, Memoranden,<br />

die niemals zum Verkauf gelangten.<br />

Neun Organisationen geben periodische Zeitschriften heraus: „Gorno-<br />

Sawodskoje Delo" [Bergbau], „Neftjanoje Delo" [Erdölindustrie], „Promyschlennost<br />

i Torgowlja" [Industrie und Handel], „Iswestija Rossiskowo<br />

Obschtschestwa Winokurennych Sawodtschikow" [Nachrichten der Russischen<br />

Gesellschaft der Branntweinbrenner] usw. Die Gesamtzahl der<br />

herausgegebenen Nummern dieser Publikationen gibt der Autor mit 2624<br />

„Bänden" an; indem er ihnen 452 Bände „Arbeiten", Jahresberichte usw.<br />

sowie 333 Bände nichtperiodischer Publikationen hinzufügt, kommt Herr<br />

Guschka auf eine Endsumme von 3409 „Bänden", die er als „solide" bezeichnet.<br />

Die Gesamtzahl aller Publikationen beträgt wahrscheinlich<br />

4000-5000 Bände.<br />

„In dieser Bibliothek ist - ohne Übertreibung - ein ganzer Schatz verborgen",<br />

ruft Herr Guschka aus, „reichhaltigstes Material, um, wenn man sich<br />

so ausdrücken darf, die Anatomie und Physiologie der Großbourgeoisie in<br />

Rußland zu studieren... Ohne dieses wertvolle Material studiert zu haben,<br />

kann man sich keine richtige Vorstellung machen vom Gleichgewichtsverhältnis<br />

der herrschenden gesellschaftlichen Kräfte Rußlands, insbesondere von der<br />

sozialen Natur und der Rolle der russischen Staatsmacht sowohl vor als auch<br />

nach 1905."<br />

Derartige Exkursionen in den Bereich der Frage nach der sozialen<br />

Natur und der Rolle der russischen Staatsmacht unternimmt Herr Guschka<br />

sehr häufig. In Anbetracht der Wichtigkeit dieser Frage und ihrer Verzerrung<br />

durch den Autor, der maßlos übertreibt und eben darum unaufhörlich<br />

schwört, daß er „ohne Übertreibung" spreche, verlohnt es sich,<br />

diese Exkursionen besonders zu betrachten.<br />

III<br />

„Der Schwerpunkt der Tätigkeit der zu untersuchenden Organisationen",<br />

schreibt Herr Guschka, „als Vertretungsorganisationen, d. h. als Organisationen,<br />

die sich der Vertretung der Interessen der Industrie- und Handelsklasse<br />

widmen, liegt natürlich darin, daß sie den Standpunkt der Angehörigen<br />

dieser Klasse in den verschiedenen ihre Interessen berührenden Fragen formulieren<br />

und diesen Standpunkt auf die verschiedenste Art und Weise verteidigen."


48 IV. 7. <strong>Lenin</strong><br />

Es ist nicht zu bezweifeln, daß gerade hier der „Schwerpunkt" liegt. In<br />

den Ermittlungsbogen ist viel Aufmerksamkeit darauf verwandt worden,<br />

welche Fragen die-Organisationen der Kapitalisten erörtert und welche<br />

Anträge sie gestellt haben. Der Autor faßt die erhaltenen Angaben zusammen<br />

und stellt eine lange Liste von Fragen auf, die seiner Meinung<br />

nach „Fragen allgemeiner Natur" sind. Als wichtigste Fragenkomplexe<br />

ergeben sich: a) Arbeiterversicherung, Feiertagsruhe usw.; b) Einkommensteuer,<br />

Gewerbesteuer usw.; c) Zollpolitik; d) Verkehrswesen; e) Aktiengesellschaften,<br />

Kredit usw.; f) Konsulate im Ausland, Statistik, Organisation<br />

des Bergdepartements; g) Teilnahme der Kaufmannschaft an den<br />

Semstwoinstitutionen, am Reichsrat, an der vorbereitenden Prüfung von<br />

Gesetzentwürfen der Regierung usw.<br />

In diesem Zusammenhang kommt Herr Guschka zu dem Schluß: „Auf<br />

jeden Fall ist, wie aus den aufgezählten Fragenkomplexen und Anträgen<br />

ersichtlich, die Tätigkeitssphäre unserer Organisationen sehr breit..."<br />

Liest man eine solche Schlußfolgerung, so stutzt man unwillkürlich und<br />

überlegt, ob nicht zufällig das Wörtchen nicfot ausgelassen ist Denn es ist<br />

offensichtlich, daß die von dem Autor angeführte Tätigkeitssphäre sehr<br />

wenig breit ist. Aber es handelt sich hier durchaus nicht um einen falschen<br />

Zungenschlag, sondern um die grundlegende „Konzeption" des Autors.<br />

„Es ist schwer", meint er, „ein mehr oder weniger wesentliches Gebiet des<br />

sozialen und politischen Lebens des Landes zu nennen, das nicht in die<br />

Tätigkeitssphäre der Vertretungsorganisationen des Kapitals einbezogen<br />

wäre."<br />

Unglaublich, aber wahr: Herr Guscfaka tischt allen Ernstes eine solch<br />

himmelschreiende Unwahrheit auf und wiederholt sie in Dutzenden von<br />

Tonarten!<br />

„Es ist schwer... zu nennen ..." Nun, und das Wahlgesetz? und die<br />

Agrarfrage? Oder sind das keine „wesentlichen Gebiete des sozialen und<br />

politischen Lebens des Landes" ?<br />

Herr Guschka betrachtet das „soziale und politische Leben" unter dem<br />

engen Gesichtswinkel des "Kaufmanns. Er vermag durchaus nicht zu begreifen,<br />

daß seine keinen Widerspruch duldende Erklärung gerade für<br />

Enge und absolut nicht für Weite zeugt. Die von den Kaufleuten aufgeworfenen<br />

Fragen zeichnen sich eben durch ihre Enge aus, denn sie<br />

berühren nur die Kaufleute. Bis zu allgemein politischen Fragen vermögen


Eine Enejuete über die Organisationen des Qroßkapitals 49<br />

sich die Kapitalisten nidht aufzuschwingen. „Die Zulassung der Vertreter<br />

von Industrie und Handel" in diese oder jene lokalen oder zentralen<br />

Institutionen - das sind die Grenzen für die „Kühnheit" ihrer Anträge.<br />

Wie diese Institutionen überhaupt organisiert sein sollen, darüber vermögen<br />

sie sich keine Gedanken zu machen. Sie nehmen die auf Weisung<br />

anderer gebildeten Institutionen hin und erbetteln sich darin ein Plätzchen.<br />

Sie stellen sich sklavisch auf den nicht von ihrer Klasse bereiteten<br />

Boden des Staates, und auf diesem Boden stellen sie ihre „Anträge" zur<br />

Wahrung der Interessen ihres Standes, ihrer Gruppe, ihrer Schicht, wobei<br />

sie selbst hier kein wirkliches Verständnis für die Interessen der ganzen<br />

Klasse an den Tag legen.<br />

Herr Guschka, der die Angelegenheit so verzerrt, daß es zum Himmel<br />

schreit, verfällt geradezu in Lobeshymnen. Er schreibt von dem „energischen<br />

und beharrlichen Druck auf die Organe der Staatsmacht". „Unsere<br />

Organisationen" „verstehen das selber ausgezeichnet (!!)..." „Die Organisationen<br />

des Großkapitals wurden zu einer wahren Vorduma ausgestaltet,<br />

die faktisch wohl größeren Einfluß auf die Gesetzgebung ausübt<br />

als die Reichsduma, und das um so mehr", versucht der Autor zu witzeln,<br />

„als auf das kapitalistische Parlament der Artikel 87 M nicht angewandt<br />

wird und die Organisationen des Kapitals noch niemals vorsätzlich für<br />

drei Tage nach Hause geschickt wurden "<br />

Dieser Witz zeugt anschaulich von der maßlosen engstirnigen Borniertheit<br />

der Herren Industriemagnaten und ihres Barden Guschka. Eine<br />

Kleinigkeit, eine ganze Kleinigkeit hat man vergessen: die Duma als gesamtstaatliche<br />

Institution wirft Fragen auf, die sich auf die gesamte Staatsverwaltung<br />

und auf alle Klassen beziehen, während die Organisationen<br />

der Magnaten der Kaufmannschaft es für Mut halten, wenn sie Fragen<br />

aufwerfen, die nur die Kaufmannschaft, nur die Rechte der Kaufleute<br />

betreffen.<br />

Herr Guschka geht so weit, die Worte des Börsenkomitees von Ufa aus<br />

dem Rechenschaftsbericht für 1905/1906 anzuführen! „Die Regierung<br />

selbst sucht sich... vermittels einer Reihe gründlicher Umgestaltungen<br />

der Börseninstitutionen... würdige "Helfer"; und er bezeichnet diese<br />

Worte als „richtig", schreibt sie gesperrt, spricht von der „lebendigen und<br />

aktiven Znsammenarbeit mit der Regierang".<br />

Wenn man solche Dinge liest, erinnert man sich unwillkürlich des deut-


50 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />

sehen Wortes Lobhudelei* - kriecherische Lobpreisung oder lobpreisende<br />

Kriecherei. Im Jahre 1905/1906 spricht man mit selbstzufriedener Miene<br />

von der „gründlichen Umgestaltung" - „der Börseninstitutionen"! Das<br />

ist der Standpunkt eines Lakaien, dem der Herr gestattet, sich mit dem<br />

Koch über die Zusammenstellung des Mittagsmahls usw. zu „beraten",<br />

wofür er sie „meine würdigen Helfer" nennt.<br />

Wie sehr sich Herr Guschka diesem Standpunkt nähert, ist aus dem<br />

Unterabschnitt des Kapitels XV über die Ergebnisse der Anträge der<br />

Organisationen zu ersehen, den er betitelt: „Verlustpositionen". „Es ist<br />

nicht zu bestreiten", lesen wir hier, „daß es gewisse Qebiete gibt, -wo die<br />

Anträge und Forderungen der Vertreter des Kapitals tatsächlich auf den<br />

Widerstand der Regierung stoßen." Es folgen Beispiele in folgender<br />

Reihenfolge: 1. Das Gebiet der Staatsforsten; der Fiskus ist selber Holzindustrieller;<br />

2. das Gebiet der Eisenbahntarife; der Fiskus ist selber<br />

Unternehmer; 3. die Frage der Vertretung in den Semstwos und 4. die<br />

Frage der Vertretung in der Reichsduma und im Reichsrat. „In beiden<br />

Fällen", sagt der Autor zu den beiden letzten Punkten, „machen sich<br />

natürlich die intimen engen Beziehungen der Bürokratie zu der anderen<br />

herrschenden Klasse geltend - zur Klasse der Guts- und Großgrundbesitzer."<br />

„Sieht man aber von den wenigen aufgezeigten Fragen ab", fährt Herr<br />

Guschka zufrieden fort, „dann ist zu sagen, daß auf allen übrigen Gebieten ...<br />

die Daten unserer Enquete die Position der Handels- und Industrieklasse als<br />

Position des Gewinns ausweisen ..."<br />

Nicht wahr, das ist wirklich eine Perle! Die Verlustposition, das sind<br />

Wald, Eisenbahn, Semstwo und Parlament. „Sieht man aber von den<br />

wenigen aufgezeigten Fragen ab" - dann ist die Position eine Position des<br />

Gewinns!<br />

Und in den „Schlußfolgerungen" seines Buches gelangt Herr Guschka<br />

in dem Bestreben, das „traditionelle Vorurteil" von der Unterwerfung<br />

und Rechtlosigkeit der Handels- und Industrieklasse zu bekämpfen, zu<br />

einer, man kann sagen, pathetischen Lobhudelei:<br />

„Nicht als rechtlose, erniedrigte Klasse nimmt die Handels- und Industriebourgeoisie<br />

ihren Platz am Tisch des russischen Staatslebens ein, sie tritt auf<br />

als begehrter Gast und Mitarbeiter, als .würdiger Helfer' der Staatsmacht, der<br />

•„Lobhudelei" bei <strong>Lenin</strong> deutsch. Der Tibers.


Eine Enquete über die Organisationen des Qroßkapitah 51<br />

einen hervorragenden Platz einnimmt sowohl nach der herkömmlichen Sitte als<br />

nach dem Gesetz, nach dem geschriebenen Recht, und das nicht erst seit<br />

gestern."<br />

Das paßt ganz und gar in eine offizielle <strong>Red</strong>e irgendeines Krestownikow,<br />

Awdakow, Tiesenhausen und anderer Kumpane bei einem Gastmahl<br />

eines Ministers. Eben solche <strong>Red</strong>en, gehalten in eben solchem Ton, sind<br />

jedem Russen bekannt. Es fragt sich nur, wie man einen „Gelehrten"<br />

nennen soll, der Anspruch darauf erhebt, eine ernste Enquete „wissenschaftlich"<br />

zu bearbeiten, und dabei Tischreden knechtseliger Kaufleute<br />

als „Schlußfolgerungen aus der Enquete" in die Literatur überträgt?<br />

„Aus der guten alten Zeit", fährt Herr Guschka fort, „ist uns die zur Stärke<br />

eines Vorurteils entwickelte Ansicht verblieben, wonach im kapitalistischen<br />

Rußland der Widerspruch zu beobachten sei, daß die ökonomisdb herrschende<br />

Großbourgeoisie nach wie vor politisd} unterjocht bleibt. Das ganze Material<br />

unserer Enquete schlägt eine fühlbare Bresche in diese traditionelle Konzeption."<br />

Es bedarf der maßlosesten Vulgarisierung des Marxismus, mit dessen<br />

Termini Herr Guschka kokettiert, um eine Enquete über die Organisationen<br />

der Kapitalisten für geeignet zu halten, „Material" zu liefern zur<br />

Frage der politischen Unterjochung der Bourgeoisie durch den Absolutismus<br />

und die Gutsbesitzer. Material, das wirklich eine Antwort auf diese<br />

Frage gäbe, hat der Autor kaum berührt, und das konnte, insofern er in<br />

den Grenzen der vorliegenden Enquete blieb, nicht anders sein.<br />

Die Enquete, die bloß eine Seite des Lebens unserer Bourgeoisie berührt,<br />

bestätigt im Gegenteil deren politische Unterjochung. Die Enquete<br />

zeigt, daß die Bourgeoisie ökonomisch vorrückt, daß einzelne, spezielle<br />

Rechte der Bourgeoisie erweitert werden, daß ihre Organisierung zur<br />

Klasse wächst, daß ihre Rolle im politischen Leben größer wird. Aber<br />

gerade weil sich diese Änderungen vollziehen, wird der Gegensatz<br />

zwischen Absolutismus und Gutsbesitzern, die neunundneunzig Hundertstel<br />

der politischen Macht in ihren Händen behalten, einerseits und dem<br />

ökonomischen Erstarken der Bourgeoisie anderseits nodb tiefer.<br />

Herr Guschka, der mit marxistischen Termini kokettiert, teilt in Wirklichkeit<br />

den Standpunkt eines billigen Sozialliberalismus. Das Verbrämen<br />

dieses Liberalismus mit einer marxistischen Phraseologie ist eine der<br />

spezifischen Besonderheiten oder - wenn man will - Krankheiten Ruß-


52 IV. 1. <strong>Lenin</strong><br />

lands. Auf dem Standpunkt des Liberalismus stehend, ist Herr Guschka<br />

an die Frage nach der sozialen Natur der rassischen Staatsmacht geraten,<br />

ohne auch nur annähernd den ganzen Umfang und die ganze Bedeutung<br />

dieser Frage begriffen zu haben.<br />

Die Klassennatur der russischen Staatsmacht hat nach 1905 eine ernsthafte<br />

Veränderung erfahren. Es ist das eine Veränderung nach der Seite<br />

der Bourgeoisie. Die III. Duma, der „Wechi"-Liberalismus und eine Reihe<br />

anderer Zeichen legen Zeugnis ab von einem neuen „Schritt auf dem<br />

Wege der Umwandlung" unserer alten Staatsmacht „in eine bürgerliche<br />

Monarchie". Aber obwohl sie einen weiteren Schritt auf diesem neuen<br />

Weg macht, bleibt sie die alte Macht, und die Summe der politischen<br />

Widersprüche wird dadurch größer. Herr Guschka, der an diese ernste<br />

Frage geraten ist, hat seine Unfähigkeit offenbart, sich in ihr zurechtzufinden.<br />

rv<br />

Bei der Bearbeitung des Materials der ziemlich speziellen Enquete hat<br />

Herr Gnschka noch eine prinzipielle Frage von größter Wichtigkeit berührt,<br />

auf die besonders eingegangen werden muß. Es ist das die Frage<br />

nach der „Rolle des Jahres 1905", wie der Titel eines der Unterabschnitte<br />

des Kapitels XIII in dem Buch des Herrn Guschka lautet.<br />

Mit der 41. Frage des Fragebogens, wieviel Sitzungen das Vollzugsorgan<br />

der betreffenden Organisation in jedem der letzten 5 Jahre abgehalten<br />

hat, war beabsichtigt klarzustellen, in welchem Maße die Organisationen<br />

im Jahre 1905 eine verstärkte Tätigkeit entfalteten. Das durch<br />

die Enquete erhaltene Material hat, nach den Worten des Herrn Guschka,<br />

„im Leben unserer Organisationen eine solche Erscheinung", d. h. eine<br />

merkliche Verstärkung ihrer Tätigkeit, „nicht aufgezeigt".<br />

„Und das ist auch begreiflich", bemerkt Herr Guschka.<br />

Womit nun will er das erklären?<br />

Die Verbände der „Arbeitgeber", urteilt er, mußten im Jahre 1905<br />

angesichts des verstärkten Streikkampfes ihre Tätigkeit intensivieren.<br />

„Die Organisationen von reinem Vertretungstyp jedoch", fährt Herr Guschka<br />

fort, „befanden sich in einer bis zu einem gewissen Grad entgegengesetzten<br />

Lage: ihr Hauptkontrahent, die Regierungsmacht, befand sich gerade im<br />

Laufe des Jahres 1905 in der Lage einer Macht, die sich verteidigt, die an sich


Eine Enquete über die Organisationen des Qroßkapitals 53<br />

selbst am wenigsten glaubt und anderen am wenigsten Vertrauen einflößt. In<br />

jenem .verrückten' Jahr, ,als die Obrigkeit davongelaufen war', schien es allen,<br />

darunter auch den Industriellen (besonders am Ende des Jahres), daß die alte<br />

.Obrigkeif schon nicht mehr zurückkehren werde.<br />

Darum eben hatten die Vertretungsorganisationen des Kapitals in jener<br />

Zeit keinen Grund, die Aktivität ihrer Vertretung gegenüber den Organen der<br />

Regierungsmacht zu verstärken."<br />

Diese Erklärung taugt nicht das geringste. Wenn wirklich „die Obrigkeit<br />

davongelaufen war", so hätte die Flucht der alten politischen Obrigkeit<br />

unbedingt die Aktivität der neuen ökonomischen Macht verstärken<br />

müssen, hätte sie diese zur neuen politischen Obrigkeit machen müssen.<br />

Wenn die Macht sich vornehmlich verteidigte, wie konnte dann der „Mitarbeiter<br />

und würdige Helfer" dieser Macht (was zu sein Herr Guschka<br />

der Handels- und Industriebourgeoisie bescheinigt) seine Tätigkeit nicht<br />

verstärken, um diese Macht und sich selbst zu verteidigen? Unser Autor<br />

hat absolut nicht überlegt, was er sagt, er beschränkte sich einfach auf das<br />

gangbarste, herkömmlichste Gerede. Er spürte vielleicht, daß es sich um<br />

eine höchst wichtige Frage handelt, von deren Lösung es abhängt oder mit<br />

deren Lösung eng verbunden ist, welche Antwort auf die allgemeinere<br />

Frage nach der politischen Rolle der Bourgeoisie zu geben ist - und er<br />

fürchtete gleichsam, ernsthaft an diese wichtige Frage heranzugehen,<br />

ergriff gleichsam vor ihr die Flucht<br />

Man denke sich hinein in die folgende Betrachtung des Autors zu demselben<br />

Punkt, zur Rolle des Jahres 1905:<br />

„Sich häufig zu versammeln, um ihre Haltung gegenüber aen sozialpolitischen<br />

Fragen, die damals das ganze Land bewegten, zu formulieren, fühlten<br />

die Organisationen des Kapitals ebenfalls keine Neigung: Durch die breite<br />

Welle der Volksbewegung in den Hintergrand gedrängt, zogen sie es vor, einstweilen<br />

die Ergebnisse des um sie herum tobenden Kampfes abzuwarten,- aber<br />

zuletzt, als die .Obrigkeit* unzweideutig ihre Absicht erkennen ließ, wieder<br />

ihren Platz .einzunehmen', begannen auch die Organisationen der Handelsund<br />

Industrieklasse allmählich zu der gewohnten Form und dem üblichen Intensitätsgrad<br />

ihrer Vertretungstätigkeit zurückzukehren."<br />

Die Organisationen des Kapitals waren „durch die breite Welle der<br />

Volksbewegung in den Hintergrund gedrängt..." Sehr gut! Nur überlegt<br />

jedoch Herr Guschka wiederum nicht, was er sagt. Gegen wen war


54 W. J. <strong>Lenin</strong><br />

die breite Welle der Volksbewegung gerichtet? - Gegen die alte Macht.<br />

Wie konnte dann der „Mitarbeiter und würdige Helfer" dieser Macht<br />

in den Wintergrund gedrängt sein? Er hätte - wäre er wirklich Mitarbeiter<br />

und würdiger Helfer gewesen - um so energischer in den Vordergrund<br />

treten müssen, je größer seine von der alten Organisation der politischen<br />

Macht unabhängige ökonomische Kraft war.<br />

Wie konnte der „Mitarbeiter und würdige Helfer" der alten Macht in<br />

eine solche Lage geraten, daß er es „vorzog, abzuwarten" ?<br />

Herr Gusdika hatte sich vorgenommen, gegen die Theorie von der<br />

politischen Unterjochung der ökonomisch herrschenden Bourgeoisie ins<br />

Feld zu ziehen, aber schon beim ersten Herangehen an die Sache verhedderte<br />

er sich! Im Gegenteil, die „Theorie", die zu zerschlagen er versprach,<br />

wird durch den Verlauf der Ereignisse im Jahre 1905 bekräftigt.<br />

Das große Handels- und Industriekapital wie der russische bürgerliche<br />

Liberalismus beschränkten sich im Jahre 1905 nicht darauf „abzuwarten",<br />

sie nahmen auch eine sehr bestimmte konterrevolutionäre Stellung ein.<br />

Die Tatsachen, die das bezeugen, sind allzu gut bekannt. Aber es unterliegt<br />

keinem Zweifel, daß im Vergleich zu den Kräften des Absolutismus<br />

und der Klasse der Gutsbesitzer das Großkapital bis zu einem gewissen<br />

Grad „in den Hintergrund gedrängt" war.<br />

Wie aber konnte es geschehen, daß in der bürgerlichen Revolution die<br />

Bourgeoisie durch den größten Aufschwung der „Welle der Volksbewegung"<br />

am meisten in den Hintergrund gedrängt wurde?<br />

Das konnte geschehen, weil nur die völlige Verzerrung des Begriffs<br />

„bürgerliche Revolution" zu der Ansicht führt, diese würde an Kraft verlieren,<br />

wenn die Bourgeoisie von ihr abschwenkt. Das mußte geschehen,<br />

weil' die Haupttriebkraft der bürgerlichen Revolution in Rußland das<br />

Proletariat und die Bauernschaft sind, während die Haltung der Bourgeoisie<br />

schwankend bleibt. Durch die Gutsbesitzer und den Absolutismus<br />

politisch unterjocht, nimmt die Bourgeoisie anderseits eine konterrevolutionäre<br />

Haltung ein, wenn die Arbeiterbewegung stärker wird. Daraus<br />

ergibt sich ihr Schwanken, ihr Zurückweichen in den „Hintergrund". Sie<br />

ist sowohl gegen die alte Ordnung als für sie. Sie ist bereit, ihr gegen die<br />

Arbeiter zu helfen, aber sie ist durchaus imstande, sich zu „konstituieren",<br />

ja, ihre eigene Herrschaft zu stärken und auszudehnen ohne<br />

irgendwelche Gutsbesitzer und ohne irgendwelche Überreste des alten


£ ine Encfuete über die Organisationen des Qroßkapitals 55<br />

politischen Regimes: davon sprechen klar die Erfahrungen solcher Länder<br />

wie Amerika u. a.<br />

Hieraus wird klar, warum der größte Aufschwung der „breiten Welle<br />

der Volksbewegung" und die größte Schwächung der alten Macht ein verstärktes<br />

Zurückweichen der Handels- und Industriebourgeoisie in den<br />

„Hintergrund" nach sich ziehen kann. Es ist das eben die Klasse, die im<br />

Kampf des Neuen gegen das Alte, der Demokratie gegen das Mittelalter,<br />

neutralisiert werden kann, denn obzwar sie sich neben dem Alten heimischer,<br />

ruhiger und bequemer fühlt, vermag diese Klasse auch bei einem<br />

noch so vollständigen Sieg des Neuen zu herrschen.<br />

Spricht man über die Enquete der Kaiserlich Russischen Technischen<br />

Gesellschaft, so kann man den Artikel des Herrn A. Jermanski in Nr. 1/2<br />

und 3 der liquidatorischen „Nascha Sarja" nicht mit Stillschweigen übergehen.<br />

Herr Jermanski gibt die Arbeit des Herrn Guschka sehr ausführlich<br />

wieder, macht jedoch nicht ein einziges Mal den Vorbehalt, daß er mit<br />

ihm nicht einverstanden sei! Als ob ein Mann, der sich zu den Marxisten<br />

rechnet, sich mit dem faden Liberalismus des Barden der Handels- und<br />

Industriemagnaten solidarisieren könnte!<br />

Herr Jermanski geht sogar noch weiter als Herr Guschka in der gleichen<br />

Richtung, der Richtung eines leicht marxistisch getönten Sozialliberalismus<br />

ä la Brentano und Sombart.<br />

„Die Organisationen des Vertretungstyps", schreibt Herr Jermanski,<br />

„sind Organisationen des Klassenkampfes in seinem vollen Umfang und<br />

in gesamtnationalem (teilweise sogar in internationalem) Maßstab. Die<br />

Angaben der Enquete geben ein Bild davon, daß das Gebiet der Fragen,<br />

die von den Organisationen behandelt werden, fast unbegrenzt ist. Die<br />

Tätigkeit unserer Organisationen erstreckt sich auf fast alle Aufgaben von<br />

gesamtstaatlicher Bedeutung, wie dies das Börsenkomitee von Jekaterinoslaw<br />

ganz richtig formuliert." So urteilt Herr Jermanski in einer Zeitschrift,<br />

die Anspruch darauf erhebt, marxistisch zu sein! Dieses Urteil ist<br />

so ganz und gar falsch, daß es zum Himmel schreit. Die Auffassung vom<br />

Klassenkampf im Sinne von Marx wird hier durch die liberale Auffassung<br />

vom Klassenkampf ersetzt. Als gesamtnational und gesamtstaatlich wird


56 W. J. <strong>Lenin</strong><br />

gerade das proklamiert, worin das Hauptmerkmal des Qesam(nationalen<br />

und des gesamtstaatlichen fehlt - die Frage der Staatsmacht und das<br />

ganze Gebiet der „gesamtstaatlichen" Verwaltung, der gesamtstaatlichen<br />

Politik usw.<br />

Man sehe sich an, bis zu welchen Ungeheuerlichkeiten sich Herr Jermanski<br />

versteigt in einem Eifer, mit dem sein Verstand nicht Schritt hält.<br />

Indem er dagegen ankämpft, daß man die „kapitalistische Bourgeoisie in<br />

Rußland" (er will sagen die große Handels- und Indnstriebourgeoisie)<br />

für kraftlos, mangelhaft entwickelt usw. hält, sucht er eine „moderne<br />

Formel", die die „faktische Lage der Großbourgeoisie in Rußland" zum<br />

Ausdruck brächte.<br />

Und was stellt sich heraus? Als eine solche Formel akzeptiert Herr<br />

Jermanski die Worte von Awdakow, die dieser im Rat für Bergbau und<br />

Hüttenwesen während der Debatten (hört, hört!) über den Übergang zu<br />

einer neuen Organisation der TSergbaukongresse mit einem gewählten<br />

Präsidenten gebraucht hat. Die (russische) Praxis ist so, erklärte Awdakow,<br />

„daß uns bislang niemand irgendwann in irgendeiner Hinsicht Beschränkungen<br />

auferlegt hat".<br />

„Das eben ist die Formel", schreibt Herr Jermanski, „die denkbar gut auf<br />

die Gegenwart paßt."<br />

Nun, das fehlte gerade noch! Man hat den stumpfsinnigen Kaufleuten,<br />

die ergeben das Joch der staatlichen Privilegien des Gutsbesitzers tragen,<br />

bei der Organisation der Bergbaukongresse keine Beschränkungen auferlegt!<br />

Anstatt den redseligen Kit Kitytsch* Awdakow der Lächerlichkeit<br />

preiszugeben, ist Herr Jermanski-aufs eifrigste bemüht zu versichern, daß<br />

Awdakow kein Kit Kitytsch sei, daß er die „moderne Formel" für die<br />

„faktische Lage der Großbourgeoisie in Rußland" gegeben habe! Kit<br />

Kitytsch Awdakow jedoch gleicht ganz und gar einem fett gewordenen<br />

Kammerdiener, der nicht einmal daran zu denken wagt, an Stelle des<br />

gnädigen Herrn selber zum unbeschränkten Herrn zu werden, der gerührt<br />

ist, daß der gnädige Herr ihm gestattet, sich in der Bedientenstabe mit der<br />

Kammerzofe, mit dem Koch usw. zu beraten.<br />

Die folgende Tirade aus dem Artikel des Herrn Jermanski zeigt, daß<br />

* Gestalt aus der Komödie A. Ostrowskis „Der bittre Rest beim fremden<br />

Fest". Der übers.


Sine Enquete über die Organisationen des Qroßkapitals 57<br />

er eben diesen Unterschied zwischen der Lage eines Kammerdieners und<br />

der des Herrn nicht begreifen will:<br />

„Hier wird es auch nicht überflüssig sein", schreibt er, „eine Gegenüberstellung<br />

zu machen: alle erinnern sich, wie entschieden, wie sozusagen vor dem<br />

ganzen Volk die Bestrebungen der Semstwoletrte, ,an den Angelegenheiten der<br />

inneren Verwaltung teilzunehmen', als ,sinnlose Träumereien' bezeichnet wurden<br />

,• anderseits hatte das Petersburger Börsenkomitee schon in der vorkonstitutionellen<br />

Zeit, als es von der Notwendigkeit sprach, ,das Recht der Börsengesellschaften<br />

(man beachte das!), an den Angelegenheiten der Verwaltung teilzunehmen,<br />

möglichst weit auszudehnen', allen Grund hinzuzufügen: .Dieses<br />

Recht der Börsengesellschaften stellt nicht irgendeine Neuerung dar, da die<br />

Börsengesellschaften es teilweise schon genießen.' Das, was für andere eine<br />

,sinnlose Träumerei' war, das war für die Vertreter des Großkapitals keine<br />

Träumerei, sondern Wirklichkeit, ein Element der realen Konstitution."<br />

„Das" ist ja nicht das, Herr Jermanski! Ihre „Gegenüberstellnng"<br />

bringt an den Tag, daß Sie nicht die Fähigkeit besitzen oder nicht den<br />

Wunsch haben, zu unterscheiden zwischen dem Bestreben (der Gutsbesitzerklasse),<br />

selber unbeschränkter Herr ztt werden, und dem Bestreben<br />

(des reich gewordenen Gutsvogts Hinz oder Kunz), sich mit den<br />

anderen "Dienern des Herrn zu beraten. Das sind „zwei ganz verschiedene<br />

Dinge".<br />

Es ist nur natürlich, daß die Schlußfolgerungen Herrn Jermanskis ganz<br />

im Geiste Larins gehalten sind. Die Vertreter des Großkapitals, schreibt<br />

Herr Jermanski, „haben in Rußland schon längst die Stellung der herrschenden<br />

Klasse im vollen Sinne dieses Wortes eingenommen".<br />

Das ist absolut unwahr. Hier ist sowohl die Selbstherrschaft vergessen<br />

worden als auäb die Tatsache, daß die Macht und die Einkünfte nach wie<br />

vor in den Händen der feudalen Grundbesitzer Verbleiben. Zu Unrecht<br />

glaubt Herr Jermanski, daß „erst am Ende des 19. und zu Beginn des<br />

20. Jahrhunderts" unsere Selbstherrschaft „aufgehört hat, eine ausschließlich<br />

feudale zu sein". Schon in der Epoche Alexanders II. gab es im<br />

Vergleich zu der Epoche Nikolaus' I. diese „Ausschließlichkeit" nicht<br />

mehr. Aber ein feudales Regime, das die Eigenschaft verliert, ausschließlich<br />

feudal zu sein, das Schritte zur bürgerlichen Monarchie hin macht, mit<br />

der „vollkommenen Herrschaft der Vertreter des Großkapitals" zu verwechseln,<br />

ist absolut unstatthaft.<br />

5 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>


58 'W.I.<strong>Lenin</strong><br />

VI<br />

Die <strong>Red</strong>aktion der „Nascha Sarja" hat, wie üblich, den Artikel des<br />

Herrn Jermanski mit einem „kleinen Vorbehalt" versehen: der Autor<br />

„unterschätzt die Bedeutung, die für sie (die Großbourgeoisie) die unmittelbare<br />

Beteiligung an der politischen Macht" habe.<br />

Das System der Vorbehalte hat sich bei den Liquidatoren fest eingenistet.<br />

In einer Reihe von Artikeln entwickelt Jermanski auf das ausführlichste<br />

Ansichten über den Klassenkampf in liberalem Geiste. Die<br />

Propaganda der Zeitschrift ist eine liberale Propaganda ... Und die „Erinnerung<br />

an die schönen Tage" des Marxismus wird in zwei Zeilen einer<br />

Anmerkung versteckt! Die Leser der „Nascha Sarja" werden im Geist des<br />

Liberalismus erzogen, der den Marxismus ersetzt, die <strong>Red</strong>aktion aber<br />

„distanziert sich" - durch einen Vorbehalt, ganz wie in der kadettischen<br />

„Retsch" 25 .<br />

Es handelt sich durchaus nicht nur darum, daß Herr Jermanski eine bestimmte<br />

Seite der Frage „unterschätzt". Es handelt sich um seine völlig<br />

falschen Anschauungen über den Klassenkampf. Es handelt sich um<br />

seinen grundsätzlichen Fehler bei der Einschätzung der sozialen Struktur<br />

der Selbstherrschaft. Wir haben seit langem darauf verwiesen und werden<br />

nicht müde werden, darauf zu verweisen, daß man dieser Frage nicht mit<br />

Spötteleien über die „Antworten von 1908" (oder 1912) usw. aus dem<br />

Wege gehen kann. In keiner einigermaßen ernsten Publizistik darf diese<br />

Frage übergangen werden.<br />

Die Meinungsverschiedenheit zwischen Jermanski und Larin einerseits<br />

und der <strong>Red</strong>aktion der „Nascha Sarja" anderseits ist eine Meinungsverschiedenheit<br />

zwischen offenen und in ihrer Art ehrlichen Liquidatoren<br />

und den Diplomaten des Liquidatorentums. Darüber darf man sich keine<br />

Illusionen machen.<br />

Larin schrieb: Unsere Staatsmacht ist schon eine bürgerliche Macht geworden.<br />

Darum sollen sich die Arbeiter nicht in Erwartung der Revolution<br />

(und nicht „für die Revolution", fügte er hinzu) organisieren, sondern<br />

für die Teilnahme an der konstitutionellen Erneuerung des Landes. Jermanski,<br />

der von einer anderen Seite her an die Frage herantritt, wiederholt<br />

dem Wesen der Sache nach die erste Prämisse Larins, wobei er auf<br />

die Schlußfolgerungen nur anspielt, ohne sie geradeheraus auszusprechen.


Eine Encjuete über die Organisationen des Großkapitals 59<br />

Martow „berichtigte" Larin ebenso, wie die <strong>Red</strong>aktion der „Nasdia<br />

Sarja" Jermanski berichtigt: Die Staatsmacht sei noch nicht bürgerlich,<br />

und für die Arbeiter „genüge" es, sich an den Widerspruch zwischen Konstitutionalismus<br />

und Absolutismus zu halten.<br />

Auf diese Weise ergibt sich in den Schlußfolgerungen zwischen Martow<br />

(mitsamt der <strong>Red</strong>aktion der „Nasdia Sarja") und Larin-Jermanski eine<br />

Übereinstimmung, die völlig natürlich ist bei ihrer Übereinstimmung in<br />

den grundlegenden Prämissen der liberalen Einstellung zur Arbeiterpolitik.<br />

Wir jedoch glauben nadi wie vor, daß diese Einstellung von Grund aus<br />

falsdi ist. Es handelt sich nicht darum, ob Jermanski die „Linkssdiwenkung"<br />

der Gutsdikow, Rjabusdiinski und Co. „untersdiätzt", oder ob<br />

Martow sie „übersdiätzt". Es handelt sidi nidit darum, ob Jermanski „die<br />

Bedeutung untersdiätzt, die für die Bourgeoisie die unmittelbare Beteiligung<br />

an der politischen Macht hat", oder ob Martow sie „übersdiätzt".<br />

Es handelt sidi darum, daß sie beide die Bedeutung nidit nur „untersdiätzen",<br />

sondern einfadi nicht verstehen, die die „unmittelbare Beteiligung<br />

an der politischen Madit" für die Arbeiterklasse hat und für die ihr folgende,<br />

von den gegenwärtigen Sdiwankungen des Liberalismus freie<br />

bürgerlidie Demokratie! Beide denken sie lediglich an die eine „politisdie<br />

Madit", wobei sie die andere vergessen.<br />

Beide richten sie ihre Blidce nadi oben und sehen nidit die unteren<br />

Schichten. Aber wenn zehn Rjabusdiinski und hundert Miljukow knurren<br />

und liberal entrüstet sind, so bedeutet das, daß Dutzende Millionen<br />

Kleinbürger und allerlei „kleine Leute" ihre Lage als unerträglich empfinden.<br />

Und diese Millionen sind auch eine mögliche Quelle der „politisdien<br />

Madit". Allein der Zusammensdiluß derartiger demokratischer Elemente,<br />

sowohl gegen die Rechten als auch unabhängig von den Schwankungen der<br />

Liberalen, vermag die Fragen zu „lösen", vor die die Gesdiidite Rußland<br />

zu Anfang des 20. Jahrhunderts gestellt hat.<br />

.Proswesdhtsäienije" TJr. 5-7, Tiadb dem Jett der Zeitschrift<br />

April-Juni 1912. .Vroswesdhtsdhenije".<br />

Unterschrift: W.Tljin.


60<br />

DAS WESEN DER<br />

„AGRARFRAGE IN RUSSLAND"<br />

Eine „Agrarfrage" - um diesen herkömmlichen und landläufigen Ausdruck<br />

zu gebrauchen - gibt es in allen kapitalistischen Ländern. Aber in<br />

Rußland gibt es neben der allgemeinen kapitalistischen Agrarfrage eine<br />

andere, eine „echt russische" Agrarfrage. Um in aller Kürze den Unterschied<br />

der beiden Agrarfragen hervorzuheben, wollen wir darauf verweisen,<br />

daß es in keinem einzigen zivilisierten kapitalistischen Land eine<br />

einigermaßen breite demokratisdie Bewegung der kleinen Landwirte für<br />

den Übergang des Grund und Bodens der Großgrundbesitzer in ihre<br />

Hände gibt.<br />

In Rußland gibt es eine solche Bewegung. Und dementsprechend<br />

erheben und unterstützen die Marxisten in keinem anderen europäischen<br />

Land als in Rußland die Forderung nach Übergang des Grund und Bodens<br />

an die kleinen Landwirte. Die russische Agrarfrage hat unvermeidlich<br />

dazu geführt, daß a\\e Marxisten diese Forderung anerkennen, unabhängig<br />

von den Meinungsverschiedenheiten im Zusammenhang damit, wie die<br />

Besitzverhältnisse und die Verfügung über den anfallenden Grund und<br />

Boden organisiert werden sollen (Aufteilung, Munizipalisierung, Nationalisierung).<br />

Woraus ergibt sich nun dieser Unterschied zwischen „Europa" und<br />

Rußland? Etwa aus der Eigenständigkeit der Entwicklung Rußlands, etwa<br />

aus dem NichtVorhandensein des Kapitalismus in Rußland oder aus der<br />

besonderen Hoffnungslosigkeit, Ausweglosigkeit unseres Kapitalismus?<br />

Das glauben die Volkstümler der verschiedenen Schattierungen. Diese<br />

Ansicht jedoch ist grundfalsch, und das Leben hat sie längst widerlegt.<br />

Der Unterschied zwischen „Europa" und Rußland ergibt sich aus der


Das "Wesen der „Agrarfrage in Rußland" 61<br />

außerordentlichen Rückständigkeit Rußlands. Im Westen hat sich die<br />

bürgerliche Agrarordnung schon völlig herausgebildet, die Leibeigenschaft<br />

ist längst hinweggefegt worden, ihre Oberreste sind unbedeutend und<br />

spielen keine ernste Rolle mehr. Das wichtigste gesellschaftliche Verhältnis<br />

auf dem Gebiet der Landwirtschaft ist im Westen das Verhältnis des<br />

Lohnarbeiters zum Unternehmer, zum Farmer, zum Bodeneigentümer.<br />

Der kleine Landwirt nimmt dort eine Zwischenstellung ein, er geht einerseits<br />

über in die Klasse der Lohnarbeiter, der Verkäufer ihrer Arbeitskraft<br />

(die zahlreichen Formen der sogenannten Nebenarbeit oder des Nebenerwerbs<br />

des Bauern), und anderseits in die Klasse der Arbeitgeber (die<br />

Zahl der bei den kleinen Landwirten arbeitenden Lohnarbeiter ist weitaus<br />

höher, als man gewöhnlich glaubt).<br />

In Rußland hat zweifellos eine ebenso kapitalistische Organisation der<br />

Landwirtschaft schon Fuß gefaßt, und sie entwickelt sich unentwegt. Sowohl<br />

die gutsherrliche als auch die bäuerliche Wirtschaft entwickeln sich<br />

in eben dieser Richtung. Aber die rein kapitalistischen Verhältnisse sind<br />

bei uns noch in gewaltigem Ausmaß durch feudale Verhältnisse niedergehalten.<br />

Der Kampf der Masse der Bevölkerung, in erster Linie der<br />

Masse der Bauernschaft schlechthin, gerade gegen diese Verhältnisse -<br />

darin eben besteht die Eigenart der russischen Agrarfrage. Im Westen gab<br />

es seinerzeit eine soldbe „Frage" allenthalben, aber sie ist dort schon längst<br />

gelöst worden. In Rußland hat man sich mit ihrer Lösung verspätet, die<br />

Agrarreform" von <strong>18</strong>61 hat sie nicht gelöst, und die Stolypinsche Agrarpolitik<br />

kann sie unter den gegebenen Umständen nidht lösen.<br />

In dem Artikel „Der Grundbesitz im Europäischen Rußland"<br />

(„Newskaja Swesda" 26 Nr.3)* haben wir die hauptsächlichsten Daten angeführt,<br />

die das Wesen der russischen Agrarfrage in der Gegenwart klarstellen.<br />

Ungefähr 70 Millionen Desjatinen Land für 30000 der größten Gutsbesitzer<br />

und annähernd ebensoviel für 10 Millionen Bauernhöfe, das ist<br />

der Grundton des Bildes. Von welchen wirtschaftlichen Beziehungen zeugt<br />

dieses Bild?<br />

Dreißigtausend der größten Gutsbesitzer, das sind hauptsächlich die<br />

Repräsentanten des alten Herrenstandes und der alten Leibeigenenwirtschaft.<br />

Von den 27 833 Besitzern von Gütern mit über 500 Desjatinen<br />

* Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 17-20. Die <strong>Red</strong>.


62 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />

sind <strong>18</strong> 102 Adlige, d. h. fast zwei Drittel. Die ungeheuren Latifundien,<br />

die sich in ihren Händen befinden - im Durchschnitt entfallen auf jeden<br />

einzelnen dieser Großgrundbesitzer mehr als 2000 Desjatinen! - können<br />

nicht mit dem Inventar des Besitzers und durch Lohnarbeiter bestellt werden.<br />

Bei einer solchen Sachlage ist das alte Fronsystem weitgehend unvermeidlich,<br />

d.h. das Bestehen der Kleinkultur, der Kleinwirtschaft auf<br />

großen Latifundien, die Bearbeitung der Gutsbesitzerländereien mit dem<br />

Inventar des Kleinbauern.<br />

Eben dieses Fronsystem ist auch bekanntlich in den zentralen, altrussischen<br />

Gouvernements des Europäischen Rußlands, im Herzen unseres<br />

Ackerbaus, besonders weit verbreitet. Die sogenannte Abarbeit stellt<br />

nichts anderes dar als die direkte Fortsetzung und ein Überbleibsel des<br />

Systems der Fronwirtschaft. Unmögliche, auf Schuldknechtschaft basierende<br />

Wirtschaftsmethoden nach Art der Verdingung im Winter, der<br />

Arbeit für die abgeschnittenen Bodenstücke, der Bearbeitung in „krugi"*<br />

usw. usf. - all das ist ebenfalls Frondienst. Der bäuerliche „Bodenanteil"<br />

ist bei einem solchen Wirtschaftssystem ein Mittel, um dem Qutsbesilzer<br />

Arbeitskräfte zu verschaffen, und nicht nur Arbeitskräfte, sondern auch<br />

Inventar, das, und sei es noch so erbärmlich, zur Bearbeitung der Gutsbesitzerländereien<br />

dient.<br />

Äußerstes Elend der Masse der Bauern, die an ihren Bodenanteil gebunden<br />

sind und von ihm nicht leben können, äußerste Primitivität der<br />

landwirtschaftlichen Technik, äußerst geringe Entwicklung des inneren<br />

Marktes für die Industrie - das sind die Folgen aus dieser Lage der Dinge.<br />

Und den eindringlichsten Beweis dafür, daß in ihrem Wesen, im Kern,<br />

die Sache bis auf unsere Tage unverändert geblieben ist, bildet die jetzige<br />

Hungersnot, von der 30 Millionen Bauern betroffen sind. Nur die durch<br />

die Leibeigenschaft hervorgebrachte Niedergedrücktheit, Verlassenheit,<br />

Hilflosigkeit der Masse der geknechteten Kleinbesitzer kann in der Zeit<br />

einer sich schnell entwickelnden und (in den besten kapitalistischen Wirtschaften)<br />

schon relativ hochstehenden landwirtschaftlichen Technik zu<br />

einer solch schrecklichen Massenhungersnot führen.<br />

Der grundlegende Widerspruch, der zu diesen schrecklichen Heimsuchungen<br />

führt, die der Bauernschaft Westeuropas seit den Zeiten des<br />

Mittelalters unbekannt sind, ist der Widerspruch zwischen dem in unserer<br />

* d. h. je einer Desjatine Sommergetreide und Wintergetreide. Der Tibers.


Das Wesen der .Agrarfrage in Rußland' 63<br />

Industrie hoch entwickelten, in unserer Landwirtschaft beträchtlich entwickelten<br />

Kapitalismus und den Qrundbesitzverhältnissen, die nach wie<br />

vor mittelalterlich, feudalistisch bleiben. Aus dieser Lage herauszukommen<br />

ist unmöglich, ohne den alten Grundbesitz radikal zu beseitigen.<br />

Feudalistisch ist nicht nur der gutsherrliche, sondern auch der bäuerliche<br />

Grundbesitz. Was den ersteren anbelangt, ist die Sache so augenscheinlich,<br />

daß keinerlei Zweifel aufkommen können. Wir wollen lediglich<br />

bemerken, daß die Beseitigung der feudalen Latifundien, sagen wir, der<br />

Wirtschaften mit mehr als 500 Desjatinen, die Großproduktion in der<br />

Landwirtschaft nicht untergraben, sondern im Gegenteil stärken, entfalten<br />

wird. Denn die feudalen Latifundien sind ein Stützpunkt des<br />

kleinen, auf Schuldknechtschaft gegründeten Ackerbaus und durchaus<br />

nicht der Großproduktion. Auf den gewaltigen, mehr als 500 Desjatinen<br />

großen Grundstücken ist es in den meisten Gegenden Rußlands fast unmöglich,<br />

zumindest aber äußerst schwierig, Qroßwirtsdbaft zu betreiben,<br />

den ganzen Boden mit dem Inventar des Besitzers und mit freien Lohnarbeitern<br />

zu bestellen. Die Verringerung des Umfangs solcher Besitzungen<br />

ist eine der Voraussetzungen für den Untergang des kleinen, auf Schuldknechtschaft<br />

beruhenden Ackerbaus und für den Übergang zur kapitalistischen<br />

Großproduktion in der Landwirtschaft.<br />

Anderseits bleibt auch der bäuerliche Anteilbodenbesitz in Rußland<br />

mittelalterlich und feudalistisch. Und dabei handelt es sich nicht nur um<br />

die juristische Form des Besitzes, die jetzt durch die feldwebelmäßige Zerstörung<br />

der Dorfgemeinde und die Konstituierung des privaten Grundeigentums<br />

verändert wird - es handelt sich ebensosehr um seine tatsädblidbe<br />

Gestalt, die keinerlei Zerschlagung der Dorfgemeinde berührt.<br />

Die tatsächliche Lage der gewaltigen Masse kleiner und kleinster bäuerlicher<br />

„Parzellen" (= winziger Bodenstücke), zum größten Teil Streuländereien,<br />

Boden allerschlechtester Qualität (dank der Vermessung des<br />

bäuerlichen Bodens im Jahre <strong>18</strong>61 unter der Leitung der feudalen Gutsbesitzer<br />

und infolge der Erschöpfung des Bodens), läßt die Bauern unvermeidlich<br />

in ein Verhältnis der Schuldknechtschaft gegenüber dem erblichen<br />

Besitzer des Latifundiums, dem ehemaligen „Herrn" geraten.<br />

Man stelle sich nur recht anschaulich dieses Bild vor: auf 30000 Besitzer<br />

von Latifundien mit je 200Q Desjatinen Land kommen 10000000<br />

Bauernhöfe mit einem Bodenstück von 7 Desjatinen je „Durchschnitts"-


64 'W.J.<strong>Lenin</strong><br />

hof. Es ist klar, daß die Zerschlagung der Dorfgemeinde, die Schaffung<br />

des privaten Grundeigentums nodb keineswegs imstande sein wird, Schuldknechtschaft,<br />

Abarbeit, Frondienst, Not und Elend der Leibeigenschaft<br />

und die sich daraus ergebenden feudalen Abhängigkeitsformen zu ändern.<br />

Die auf Grund einer solchen Lage der Dinge auf die Tagesordnung<br />

gesetzte „Agrarfrage" ist die Frage nach der Beseitigung der Oberreste<br />

der Leibeigenschaft, die zu einem untragbaren Hindernis für die kapitalistische<br />

Entwicklung Rußlands geworden sind. Die Agrarfrage in Rußland,<br />

das ist die Frage der radikalen Beseitigung des alten, mittelalterlichen<br />

Grundbesitzes, des gutsherrlichen Grundbesitzes wie auch des bäuerlichen<br />

Anteilbodenbesitzes, die absolut notwendig geworden ist, weil<br />

dieser Grundbesitz in seiner extremen Rückständigkeit in keiner Weise<br />

dem ganzen kapitalistisch gewordenen System der Volkswirtschaft entspricht.<br />

Eine radikale Beseitigung ist notwendig, weil die Diskrepanz über alle<br />

Maßen groß ist, weil das Alte zu alt, „die Krankheit zu weit gediehen" ist.<br />

Dieser Prozeß muß seinem Inhalt nach auf jeden Fall und in allen seinen<br />

Formen bürgerlich sein, da das ganze Wirtschaftsleben Rußlands schon<br />

bürgerlich ist und der Grundbesitz sich ihm unbedingt unterordnen wird,<br />

sich unbedingt den Anforderungen des Marktes, dem Druck des in unserer<br />

heutigen Gesellschaft allmächtigen Kapitals anpassen wird.<br />

Aber wenn eine radikale Beseitigung notwendig ist, wenn dieser Prozeß<br />

bürgerlich sein muß, so bleibt noch unentschieden, weldbe der beiden<br />

unmittelbar interessierten Klassen, die der Gutsbesitzer oder die der<br />

Bauern, diese Umwälzung durchführen oder ihre Richtung festlegen, ihre<br />

Formen bestimmen wird. Diese „unentschiedene Frage" werden wir im<br />

nächsten Artikel behandeln: „Ein Vergleich des Stolypinschen Agrarprogramms<br />

mit dem der Volkstümler."*<br />

„Newskaja Swesda" Nr. 6, Tiadh dem 7ext der<br />

22.7Aail9i2. .TJewskaja Swesda".<br />

Unterschrift: JL S.<br />

Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 133-139. Die <strong>Red</strong>.


EINIGE ERGEBNISSE DER MOBILISIERUNG<br />

FÜR DIE WAHLEN<br />

Die politischen Kräfte, die an den Wahlen zur Reichsdnma beteiligt<br />

sind, haben sich schon fast alle endgültig organisiert. Auf jeden Fall sind<br />

die grundlegenden Parteigruppierungen in so bestimmten Umrissen hervorgetreten,<br />

daß von irgendwelchen ernsthaften und wesentlichen Veränderungen<br />

keine <strong>Red</strong>e mehr sein kann.<br />

Die Regierung hat schon längst die Wahlkampagne begonnen. Die<br />

Rechten, die Nationalisten und die Oktobristen „arbeiten" mit offenkundiger<br />

Unterstützung der Behörden. Ein unlängst von der „Retsch" veröffentlichtes<br />

und von vielen Zeitungen abgedrucktes Rundschreiben der<br />

Gouverneure an die Kreispolizeichefs über die Ergreifung von „Maßnahmen",<br />

um die Nominierung „linker" Kandidaten als Bevollmächtigte<br />

(besonders der Bauern) oder als Wahlmänner zu verhindern, lüftet ein<br />

wenig den Schleier über der „WahT'maschinerie des Innenministeriums.<br />

Ohne Zweifel wird von dieser Seite alles mögliche - und unmögliche -<br />

gegen die Opposition unternommen werden. Nicht umsonst betonte der<br />

Premier Kokowzow in seiner <strong>Red</strong>e vor den Moskauer Kaufleuten so<br />

stark die Verderblichkeit der „Opposition der Opposition wegen".<br />

Aber wenn man auch an dem Eifer der Regierung und der Polizei bei<br />

den Wahlen nicht zu zweifeln braucht, so unterliegt es doch ebenfalls<br />

keinem Zweifel, daß in der Stimmung der Wähler eine weitgehende<br />

Wandlung „nach links" vor sich gegangen ist und vor sich geht. Keinerlei<br />

Kniffe der Regierung sind imstande, an dieser Tatsache etwas zu ändern.<br />

Im Gegenteil, Kniffe und „Maßnahmen" vermögen lediglich die Unzufriedenheit<br />

zu steigern. Und wenn diese Unzufriedenheit bei der Großbourgeoisie<br />

in einer „oppositionellen" <strong>Red</strong>e Schubinskis oder in einer<br />

65


66 "W. J. <strong>Lenin</strong><br />

„vorsichtigen" Anspielung Rjabuschinskis ihren Ausdruck findet, daß<br />

„kultivierte Regierungsmethoden" wünschenswert seien, oder in giftigen<br />

Sticheleien der kadettischen „Retsch" gegen das Kabinett - dann ist leicht<br />

zu verstehen, daß die Unzufriedenheit in dem weiten Kreis der von den<br />

Rjabuschinski, Golowin usw. abhängigen „kleinen Leute" weitaus größer<br />

und ernsthafter ist.<br />

Welches sind nun die politischen Gruppierungen im Lager der diese<br />

Unzufriedenheit politisch zum Ausdrude bringenden Opposition, die hervorgetreten<br />

sind? Hervorgetreten ist die „verantwortungsbewußte",<br />

liberal-monarchistische Opposition der Kadetten und Progressisten. Der<br />

Block zwischen ihnen ist ein deutliches Zeichen dafür, daß die Kadetten<br />

weitaus „rechter" stehen, als es den Anschein hat.<br />

Hervorgetreten ist die Arbeiterdemokratie, die sich nicht die „Unterstützung"<br />

der kadettisch-progressistisdien Opposition, sondern die Ausnutzung<br />

ihrer Konflikte mit den Rechten (einschließlich der Nationalisten<br />

und Oktobristen) zur Aufgabe gemacht hat, um aufklärend zu wirken<br />

und die Demokratie zu organisieren. Hervorgetreten ist schließlich auch<br />

die bürgerliche Demokratie: Auf der Konferenz der Trudowiki hat sie sich<br />

für ein Abkommen „in erster Linie mit den Sozialdemokraten" ausgesprochen,<br />

ohne jedoch zugleich irgendeine bestimmte Losung des Kampfes<br />

gegen den konterrevolutionären Liberalismus der Kadetten zu geben,<br />

d. h., in der Praxis schwankt sie nach wie vor zwischen diesen und jenen.<br />

Welches sind nun die Schlußfolgerungen aus dieser „politischen Mobilisierung"<br />

der Parteien für die Wahlen? Die erste und grundlegende<br />

Schlußfolgerung, die die Arbeiterdemokratie schon längst gezogen hat,<br />

ist die, daß es nicht zwei, sondern drei kämpfende Lager gibt. Die Liberalen<br />

möchten gar zu gern die Sache so darstellen, als ob im Grunde genommen<br />

zwei Lager im Kampf ständen, und die Liquidatoren gleiten, wie<br />

wiederholt gezeigt worden ist, ständig zu dieser selben Ansicht hinab. Für<br />

die Konstitution oder gegen die Konstitution? - so formulieren die Kadetten<br />

die Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden Lagern. In<br />

Wirklichkeit jedodi besagt diese Formulierung rein gar nichts, denn auch<br />

die Oktobristen versidiern, sie seien Anhänger einer Konstitution, ja, und<br />

überhaupt solle nicht darüber gesprodien werden, was man eine Konstitntion<br />

nennen könne und was nidit, sondern von dem genauen Inhalt bestimmter<br />

liberaler oder demokratischer Forderungen.


Einige Ergebnisse der Mobilisierung für die Wahlen 67<br />

Drei Lager werden eben durch den Inhalt der Forderungen bestimmt,<br />

durch den realen Unterschied der Klassentendenzen: das Lager der Rechten<br />

oder das Regierungslager; das liberale Lager oder das der liberalmonarchistischen<br />

Bourgeoisie, die auf konterrevolutionärem Boden steht,<br />

und das demokratische Lager. Es geht dabei nicht so sehr um die „Chancen"<br />

unter dem gegebenen Wahlsystem - nein, die Sache reicht viel tiefer,<br />

es geht um den ganzen Charakter der politischen Propaganda in der Zeit<br />

der Wahlen, um den ganzen politisch-ideologischen Gehalt der Wahlkampagne.<br />

Die tagtägliche „Strategie" der Liberalen ist bei einer solchen Sachlage<br />

darauf gerichtet, selber die Hegemonie über die „ganze" Oppositionsbewegung<br />

zu erringen. Und die liberalen „Saprossy Shisni" haben das<br />

von der „Retsch" so sorgsam gehütete „Geheimnis" dieser Strategie ausgeplaudert.<br />

„Die Progressisten", schreibt Herr R. B. 27 in Nr. 13 der „Saprossy",<br />

„haben ihre Kampagne mit einem vielversprechenden Zug (!)<br />

eröffnet, indem sie den sogenannten parteilosen progressiven Block' bildeten,<br />

der von den ersten Tagen an eine große Anziehungskraft auf die<br />

oppositionellen politischen Kreise ausübte, die rechts von den Kadetten<br />

stehen." Anderseits „entspricht die Wahlplattform der Trudowikigruppe<br />

ungeachtet ihrer Verschwommenheit - zum Teil vielleicht gerade dank<br />

dieser Verschwommenheit - den Wünschen weiter Kreise der demokratischen<br />

Intelligenz". „Unter bestimmten Bedingungen könnte die Trudowikigruppe<br />

links von den Kadetten dieselbe Rolle spielen, die rechts von<br />

den Kadetten die Gruppe der Progressisten übernommen hat. Die oppositionelle<br />

Front bestände dann aus beweglichen und schwankenden, aber<br />

elastischen äußeren Flanken und einem unbeweglichen, aber stabilen Zentrum,<br />

was in strategischer Beziehung auch im politischen Kampf seine<br />

vorteilhaften Seiten hat."<br />

Was die Herren Miljukow und Schingarjow im Sinn haben, hat R. B.<br />

auf der Zunge! Die Kadetten brauchen gerade zwei „elastische" Flanken:<br />

die Progressisten für das Einfangen des bürgerlichen Wählers, der auf<br />

dem Boden des 3. Juni steht, und die „verschwommenen" Demokraten<br />

für das Einfangen der demokratisch gesinnten breiten Masse. Diese „Strategie"<br />

entspringt in der Tat der Natur der Partei der Kadetten selbst. Es<br />

ist das die Partei der konterrevolutionären Liberalen, die durch Lug und<br />

Trug gewisse demokratische Schichten, wie einen Teil der Handlungs-


68 W. J. <strong>Lenin</strong><br />

gehilfen, der kleinen Angestellten usw., an sich zieht. Eine solche Partei<br />

braucht gerade den „parteilosen Progressisten" als die eigentliche Klassenstütze<br />

und den verschwommenen Demokraten als ansprechendes Aushängeschild.<br />

Den Typ des Progressisten können der Gutsbesitzer Jefremow und der<br />

Millionär Rjabuschinski abgeben. Typ des verschwommenen Demokraten<br />

sind der Trudowik aus dem Lager der Volkstümler und der Liquidator<br />

aus dem der Marxisten. Man nehme die ganze Geschichte der Kadettenpartei,<br />

und man wird sehen, daß ihr Handeln stets gerade darin bestand,<br />

den Demokratismus im Munde zu führen, einen „Jefremowschen und<br />

Rjabuschinski entsprechenden" Liberalismus jedoch in die Tat umzusetzen.<br />

Angefangen zumindest mit der Vereitelung des Plans für die örtlichen<br />

Bodenkomitees von 1906 und endend mit der Abstimmung für das<br />

Budget in der III. Duma oder mit den „Londoner" Losungen Miljukows 28<br />

usw., sehen wir eben diese "Natur der Kadettenpartei und die pseudodemokratische<br />

Aufmachung.<br />

Die Ungeschicklichkeit des Herrn R. B. von den „Saprossy" ist so groß,<br />

daß er ungewollt die Wahrheit ausgesprochen hat, die vor den Demokraten<br />

so sorgsam verborgen wird und von den Liberalen so verwirrt<br />

worden ist. Das Programm der Progressisten, gesteht er, „stellt die Frage<br />

auf eine feste, reale Basis"! In diesem Programm jedoch gibt es außer allgemeinen<br />

Phrasen rein oktobristischer Fasson (z. B. „völlige Verwirklichung<br />

des Manifests vom 17. Oktober") rein gar nichts. Als feste und<br />

reale Basis wird die Basis eines bürgerlichen Liberalismus bezeichnet, der<br />

so gemäßigt, so kraftlos, so ohnmächtig ist, daß es geradezu lächerlich<br />

wäre, auf ihn Hoffnungen irgendwelcher Art zu setzen. Diejenigen, die<br />

1907 „friedliche Erneuerer" waren, diejenigen, die in der III. Duma die<br />

Mitte zwischen Kadetten und Oktobristen hielten, sie sind es, die eine<br />

feste und reale Basis genannt werden!<br />

Der Millionär Rjabuschinski ist Progressist. Das Organ dieser oder ähnlicher<br />

Progressisten ist das „Utro Rossii" [Der Morgen Rußlands]. Und<br />

niemand anders als die „Retscfe", das Organ der Kadetten, die einen<br />

Block mit den Progressisten eingegangen sind, schrieb: „Am zufriedensten<br />

von allen" (mit der <strong>Red</strong>e Kokowzows) „ist das Organ der Moskauer<br />

Industriellen ,Utro Rossii'... Es bläst in dasselbe Hörn wie Krestownikow:<br />

,Das kommerzielle und industrielle Moskau kann sich mit Recht


Einige Ergebnisse der Mobilisierung für die "Wahlen 69<br />

als zufriedengestellt betrachten'." Und die „Retsdo" fügt von sich aus hinzu:<br />

„Insoweit es. vom ,Golos Moskwy' und ,Utro Rossii' abhängt, sind sie<br />

bereit, keinerlei Linie zu verfolgen, und fühlen sich zufriedengestellt."<br />

Es fragt sich, wo sind die Anzeichen dafür, daß Jefremow oder andere<br />

Progressisten eine „Linie" haben"} Solche Anzeichen gibt es nicht. Einen<br />

derartigen Progressismus unterstützen, gleichgültig ob er sich Progressismus<br />

oder Kadettismus nennt, heißt nichts anderes, als die Position der<br />

Demokratie aufgeben. Eine andere Sache ist es, die Konflikte zwischen der<br />

Bourgeoisie und den Gutsbesitzern, zwischen den Liberalen und den<br />

Rechten auszunutzen. Nur das kann sich der Demokrat zur Aufgabe<br />

machen.<br />

Die klare Erkenntnis des konterrevolutionären Charakters des Liberalismus<br />

der Kadetten und der Progressisten ist notwendig, um diese Aufgabe<br />

zu erfüllen, um jene außerordentlich breiten Massen, die ökonomisch von<br />

den Jefremow und Rjabuschinski abhängen, politisch aufzuklären und zu<br />

organisieren. Der Hauptmangel, der den Trudowiki und den Liquidatoren<br />

gemeinsam ist, besteht in dem Fehlen dieser klaren Erkenntnis. Bei den<br />

Trudowiki gibt es überhaupt keine Klassencharakteristik des Liberalismus,<br />

bei den Liquidatoren ergeben die Phrasen, daß man „die "Duma den<br />

Händen der Reaktion entreißen" wird, daß die Kadetten und Progressisten<br />

der Macht näherkommen, daß sie eine historisch-fortschrittlidie<br />

Arbeit vollbringen (siehe Martow und Dan), in ihrer Gesamtheit doch<br />

eben jene Rolle der kadettischen „Flanke", mit der auch R. B. so zufrieden<br />

ist.<br />

Die subjektiven Wünsche der Trudowiki und der Liquidatoren sind<br />

natürlich nicht von dieser Art, aber es handelt sich nicht um ihre subjektiven<br />

Pläne, sondern um die objektive Gruppierung der gesellschaftlichen<br />

Kräfte. Diese Gruppierung jedoch zeigt uns klar, trotz aller Anhänger der<br />

Idee von den zwei Lagern, trotz des schadenfrohen Geschreis über die<br />

Desorganisation der Arbeiterdemokratie (siehe Herr R. B. in demselben<br />

Artikel), daß das dritte Lager sich gebildet hat. Seine Linie ist deutlich<br />

angegeben und allen bekannt. Die antiliquidatorischen Arbeiter verfolgen<br />

diese Linie, indem sie alle Demokraten im Kampf sowohl gegen die Rechten<br />

als auch gegen den Liberalismus zusammenschmieden. Ohne sich<br />

irgendwelche Illusionen zu machen über den ohnmächtigen, in allen grundsätzlichen<br />

Fragen vor der Reaktion kriechenden Liberalismus der Kadet-


70 W.I.Zenin<br />

ten, nutzen die Arbeiter seine Zusammenstöße mit der Reaktion für sidi<br />

aus, für ihre Klassenorganisation, für ihre Demokratie, die heute in der<br />

Tiefe der von den Jefremow und Rjabusdiinski unterjochten Volksmassen<br />

in aller Stille heranreift.<br />

Der Kampf der Rechten gegen die „verantwortungsbewußte" Opposition<br />

muß dazu dienen, und wird - dank der antiliquidatorischen Taktik<br />

der Arbeiter - dazu dienen, das Bewußtsein und die selbständige Organisation<br />

einer solchen „Opposition" zu entwickeln, die auf den wenig ehrenvollen<br />

Titel „verantwortungsbewußt" keinen Anspruch erhebt.<br />

,?iewshx]a Swesda" 7$r. 6, Nadb dem 7ext der<br />

ii.TAcA 1912. .Newskaja Swesda".<br />

Unterschrift: B. Q.


WIRTSCHAFTLICHER<br />

UND POLITISCHER STREIK<br />

Seit 1905 ist in der offiziellen Streikstatistik, die vom Ministerium für<br />

Handel und Industrie geführt wird, eine ständige Unterteilung der Streiks<br />

in wirtschaftliche und politische eingeführt worden. Die Einführung dieser<br />

Unterteilung ist vom Leben erzwungen worden, das eigentümUdbe Formen<br />

der Streikbewegung hervorgebracht hat. Die Kombination des wirtschaftlichen<br />

und des politischen Streiks - das ist einer der Hauptzüge<br />

dieser Eigentümlichkeit. Und in der gegenwärtigen Zeit, da die Streikbewegung<br />

anschwillt, ist es im wissenschaftlichen Interesse, im Interesse<br />

eines bewußten Herangehens an die Ereignisse erforderlich, daß die Arbeiter<br />

diesen eigentümlichen Zug der russischen Streikbewegung aufmerksam<br />

betrachten.<br />

Vor allen Dingen wollen wir einige grundlegende Zahlen anführen, die<br />

wir der Streikstatistik der Regierung entnehmen. Im Verlauf der drei<br />

Jahre von 1905 bis 1907 stand die russische Streikbewegung auf einer<br />

solchen Höhe, wie sie bislang die "Welt noöi nidht gesehen bat. Die Regierungsstatistik<br />

erstreckt sich lediglich auf Fabriken und <strong>Werke</strong>, so daß sowohl<br />

die Unternehmen des Bergbaus und Hüttenwesens wie die Eisenbahnen,<br />

sowohl die Bauarbeiten wie viele andere Zweige der Lohnarbeit<br />

unberücksichtigt bleiben. Aber allein schon in den Fabriken und <strong>Werke</strong>n<br />

streikten 1905 2863000 Menschen, d.h. etwas weniger als 3 Millionen,<br />

1906 1 108 000 und 1907 740000. In den ganzen 15 Jahren von <strong>18</strong>94<br />

bis 1908, da man in Europa damit begann, systematisch eine Streikstatistik<br />

zu führen, war die Höchstzahl der Streikenden im Jahr in<br />

Amerika 660000.<br />

Die rassischen Arbeiter haben folglich als die ersten in der Weh einen<br />

71


72 TV. 1 }. <strong>Lenin</strong><br />

solchen Massenstreikkampf entfaltet, wie wir ihn in den Jahren von 1905<br />

bis 1907 gesehen haben. Nunmehr haben die englischen Arbeiter auf dem<br />

Gebiet des wirtschaftlichen Streiks der Bewegung einen neuen starken<br />

Anstoß gegeben. Die führende Rolle der russischen Arbeiter erklärt sich<br />

nicht daraus, daß sie stärker, organisierter, entwickelter wären als die<br />

westeuropäischen Arbeiter, sondern daraus, daß es in Europa noch keine<br />

großen nationalen Krisen mit selbständiger Beteiligung der proletarischen<br />

Massen gegeben hat. Wenn diese Krisen hereinbrechen, dann werden die<br />

Massenstreiks in Europa noch stärker sein, als sie es 1905 in Rußland<br />

waren.<br />

Wie war das Verhältnis zwischen wirtschaftlichem und politischem<br />

Streik in diesem Zeitabschnitt? Darauf gibt die Regierungsstatistik folgende<br />

Antwort:<br />

Zahl der Streikenden in Jausend-.<br />

1905 1906 1907<br />

In wirtschaftlichen Streiks 1439 458 200<br />

In politischen Streiks 1424 650 540<br />

Insgesamt 2863 1108 '740<br />

Hieraus ist der enge und unlösbare Zusammenhang beider Arten von<br />

Streiks zu ersehen. Der größte Aufschwung der Bewegung (1905) zeichnet<br />

sich aus durch die breiteste wirtsdbafilidbe Kampf basis: Die politischen<br />

Streiks ruhen in diesem Jahr auf einer festen und soliden Basis von wirtschaftlichen<br />

Streiks. Die Zahl der aus wirtschaftlichen Gründen Streikenden<br />

ist höher als die Zahl der aus politischen Gründen Streikenden.<br />

In dem Maße, wie die Bewegung in den Jahren 1906 und 1907 abflaut,<br />

sehen wir die wirtschaftliche Basis sdbwädher werden: die Zahl der aus<br />

wirtschaftlichen Gründen Streikenden fällt 1906 auf vier Zehntel der<br />

Gesamtzahl der Streikenden und 1907 auf drei Zehntel. Politischer und<br />

wirtschaftlicher Streik unterstützen sich also gegenseitig und sind jeder<br />

ein Kraftquell für den anderen. Ohne die enge Verbindung dieser Streikformen<br />

ist eine wirklich breite Massenbewegung, die Bedentang für das<br />

ganze Volk erhielte, unmöglich. Am Anfang der Bewegung besitzt der<br />

wirtschaftliche Streik nicht selten die Eigenschaft, die Zurückgebliebenen<br />

aufzurütteln und in Bewegung zu bringen, die Bewegung zu verallgemeinern,<br />

sie auf eine höhere Stufe zu heben.


Wirtsdhaftliäier und politischer Streik 73<br />

Im ersten Quartal des Jahres 1905 überwog zum Beispiel der wirtschaftliche<br />

Streik beträchtlich gegenüber dem politischen: auf den ersteren<br />

entfielen 604000 Streikende, auf den letzteren nur 206000. Im letzten<br />

Quartal des Jahres 1905 jedoch ist das Verhältnis umgekehrt: auf wirtschaftliche<br />

Streiks entfallen 430000 und auf politische Streiks 847000<br />

Streikende. Das heißt, daß zu Beginn der Bewegung viele Arbeiter den<br />

wirtschaftlichen Kampf in den Vordergrund stellten, zur Zeit des größten<br />

Aufschwungs aber war es umgekehrt. Doch die Verbindung des wirtschaftlichen<br />

mit dem politischen Streik existierte die ganze Zeit hindurch.<br />

Ohne diese Verbindung, wir wiederholen es, ist eine wirklich große Bewegung,<br />

die große Ziele verwirklicht, unmöglich.<br />

Die Arbeiterklasse tritt beim politischen Streik als die führende Klasse<br />

des ganzen Volkes auf. Das Proletariat spielt in solchen Fällen die Rolle<br />

nicht einfach einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, sondern die Rolle<br />

des Hegemons, d. h. des Leiters, des Vorkämpfers, des Führers.'Die politischen<br />

Ideen, die in der Bewegung zutage treten, tragen gesamtnationalen<br />

Charakter, das heißt, sie berühren die grundlegenden, fundamentalen<br />

Verhältnisse des politischen Lebens des ganzen Landes. Dieser<br />

Charakter des politischen Streiks weckte - wie alle wissenschaftlichen<br />

Untersuchungen des Zeitabschnitts von 1905 bis 1907 hervorheben -<br />

das Interesse an der Bewegung bei allen Klassen und insbesondere natürlich<br />

bei den breitesten, zahlenmäßig stärksten und demokratischsten<br />

Schichten der Bevölkerung, bei der Bauernschaft und so weiter.<br />

Anderseits wird die Masse der Werktätigen niemals bereit sein, sich<br />

einen allgemeinen „Fortschritt" des Landes vorzustellen ohne ökonomische<br />

Forderungen, ohne eine unmittelbare und unverzügliche Verbesserung<br />

ihrer Lage. Nur wenn die wirtschaftliche Lage des Arbeitenden<br />

verbessert wird, wird die Masse in die Bewegung einbezogen, nimmt sie<br />

energisch an ihr teil, weiß sie diese zu schätzen, offenbart sie Heldenmut,<br />

Selbstaufopferung, Standhaftigkeit und Ergebenheit für die große Sache.<br />

Anders kann es nicht sein, denn die Lebensbedingungen der Arbeiter sind<br />

in „gewöhnlichen" Zeiten unglaublich schwer. Indem die Arbeiterklasse<br />

für eine Verbesserung der Lebensbedingungen kämpft, wädist sie zugleich<br />

sowohl moralisch als auch geistig und politisch, wird sie fähiger, ihre großen<br />

Freiheitsziele zu verwirklichen.<br />

Die vom Ministerium für Handel und Industrie herausgegebene Streik-<br />

6 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>


74 'W.I.<strong>Lenin</strong><br />

Statistik bestätigt voll und ganz diese gigantische Bedeutung des wirtschaftlichen<br />

Kampfes der Arbeiter in einer Zeit der allgemeinen Belebung. Je<br />

stärker der Drnck der Arbeiter, eine desto größere Verbesserung ihrer<br />

Lebensbedingungen erreichen sie. Sowohl die „Sympathie der Gesellschaft"<br />

als auch die Verbesserung der Lebensbedingungen sind das Resultat<br />

einer hohen Entwicklungsstufe des Kampfes. Wenn die Liberalen<br />

(und die Liquidatoren) den Arbeitern sagen: Ihr seid stark, wenn ihr die<br />

Sympathien der „Gesellschaft" besitzt, so sagen die Marxisten den Arbeitern<br />

etwas anderes: Ihr besitzt die Sympathien der „Gesellschaft",<br />

wenn ihr stark seid. Unter Gesellschaft sind in diesem Fall alle möglichen<br />

demokratischen Schichten der Bevölkerung zu verstehen, das Kleinbürgertnm,<br />

die Bauern, die Intelligenz, die in enger Berührung mit dem Arbeiterleben<br />

steht, die Angestellten usw.<br />

Am stärksten war die Streikbewegung im Jahre 1905. Und was war die<br />

Folge? Wir sehen, daß die Arbeiter gerade während dieses Jahres die<br />

größte Verbesserung ihrer Lebensbedingungen erzielten. Die Regierungsstatistik<br />

zeigt, daß im Jahre 1905 von 100 Streikenden nur 29 den Kampf<br />

einstellten, ohne etwas erreicht zu haben, das heißt, eine völlige Niederlage<br />

erlitten. In den vorangegangenen zehn Jahren (<strong>18</strong>95 bis 1904) hatten<br />

von 100 Streikenden 52 den Kampf eingestellt, ohne etwas erreicht zu<br />

haben! Der Massencharakter der Bewegung hat also den Erfolg des Kampfes<br />

in gewaltigem Ausmaß, fast auf das Doppelte, erhöht.<br />

Als aber die Bewegung anfing abzuflauen, da begannen auch die Erfolge<br />

des Kampfes sich zu verringern: 1906 beendeten von 100 Streikenden 33<br />

den Kampf, ohne etwas erreicht zu haben, oder, richtiger, sie erlitten eine<br />

Niederlage; 1907 waren es 58; 1908 sogar 69 von 100!!<br />

Die wissenschaftlichen Daten der Statistik für eine ganze Reihe von<br />

Jahren bestätigen also durchaus die eigene Erfahrung und Beobachtung<br />

eines jeden klassenbewußten Arbeiters, daß es notwendig ist, den wirtschaftlichen<br />

Streik mit dem politischen zu vereinigen, und daß eine solche<br />

Vereinigung in einer wirklich breiten und das ganze Volk umfassenden<br />

Bewegung unerläßlich ist<br />

Die heutige Welle der Streikbewegung bestätigt gleichermaßen voll und<br />

ganz diese Schlußfolgerung. Im Jahre 1911 ist die Zahl der Streikenden<br />

gegenüber dem Jahre 1910 auf das Doppelte angewachsen (100 000 gegen<br />

50 000), aber trotzdem war diese Zahl noch sehr gering; die rein wirt-


TVirtsdoaftlicher und politischer Streik 75<br />

schaftlichen Streiks blieben eine verhältnismäßig „enge" Angelegenheit,<br />

hatten noch keine Bedeutung für das ganze Volk gewonnen. Dagegen sieht<br />

heute jedermann, daß die Streikbewegung des laufenden Jahres nach den<br />

bekannten Aprilereignissen gerade eine solche Bedeutung erlangt hat.<br />

Darum ist es von äußerster Wichtigkeit, gleich von Anfang an den<br />

Anstrengungen der Liberalen und der liberalen Arbeiterpolitiker (der<br />

Liquidatoren), die bemüht sind, den Charakter der Bewegung zu entstellen,<br />

entschieden entgegenzutreten. Ein Liberaler, Herr Sewerjanin, hat<br />

in den „Russfaje TVedomosti" einen Artikel veröffentlicht gegen das<br />

„Hineintragen" wirtschaftlicher oder „irgendwelcher" (sieh mal einer an!)<br />

„Forderungen" in den Streik zum 1. Mai, und die kadettische „Ketsdo"<br />

hat voller Sympathie die Hauptstellen dieses Artikels abgedruckt.<br />

„Solche Streiks", schreibt der Herr Liberale, „mit dem Zeitpunkt gerade<br />

des 1. Mai zn verbinden ist... meistens unbegründet... Auch ist es irgendwie<br />

seltsam: Wir feiern den Tag des internationalen Arbeiterfestes, und bei diesem<br />

Anlaß fordern wir einen Zuschlag von 10 Prozent auf Kattun der und der<br />

Sorten." („Retsch" Nr. 132.)<br />

Dem Liberalen scheint „seltsam", was dem Arbeiter völlig verständlich<br />

ist. Nur Verteidiger der Bourgeoisie und ihrer maßlosen Profite können<br />

über die Forderung eines „Zuschlags" spotten. Die Arbeiter jedoch wissen,<br />

daß gerade der breite Charakter der Forderung nach einem Zuschlag,<br />

gerade der allseitige Charakter der Streiks vor allem anderen eine Masse<br />

neuer Teilnehmer heranzieht, vor allem anderen die Stärke des Drucks<br />

und die Sympathie der Gesellschaft gewährleistet, vor allem anderen<br />

sowohl den Erfolg der Arbeiter selbst als auch die gesamtnationale Bedeutung<br />

ihrer Bewegung garantiert. Darum muß man gegen die liberale<br />

Entstellung, die Herr Sewerjanin, die „Russkije Wedomosti" und die<br />

„Retsdb" propagieren, entschieden ankämpfen und die Arbeiter mit allem<br />

Nachdruck vor derartigen üblen Ratgebern warnen.<br />

Der Liquidator Herr W. Jeshow tritt gleich in der ersten Nummer der<br />

liquidatorischen Zeitung „Newski Golos" 30 mit einer ebensolchen, rein<br />

liberalen Entstellung hervor, obzwar er an die Frage von einer etwas anderen<br />

Seite her herangeht. Herr W. Jeshow geht besonders auf die Streiks<br />

ein, zu denen es auf Grund der wegen des 1. Mai verhängten Strafen kam.<br />

Der Autor, der-mit Recht auf die ungenügende Organisiertheit der Arbeiter<br />

verweist, zieht aus diesem berechtigten Hinweis die allerverkehrtesten


76 W.J.<strong>Lenin</strong><br />

und für die Arbeiter schädlichsten Schlußfolgerungen. Die Unorganisiertheit<br />

sieht Herr Jeshow darin, daß man in der einen Fabrik einfach aus<br />

Protest streikte, in der anderen zugleich wirtschaftliche Forderungen aufstellte<br />

usw. In der Tat liegt jedoch in dieser Mannigfaltigkeit der Streikformen<br />

noch nicht die geringste Unorganisiertheit: es ist Dummheit, sich die<br />

Organisiertheit unbedingt als Einförmigkeit vorzustellen! Die Unorganisiertheit<br />

ist ganz und gar nicht dort zu suchen, wo Herr Jeshow sie sucht.<br />

Aber noch weitaus schlimmer ist seine Sdhlußfoigerung-.<br />

„Dadurch" (d. h. durch die Mannigfaltigkeit der Streiks und die verschiedenen<br />

Formen der Kombination von Wirtschaft und Politik) „wurde in einer<br />

beträchtlichen Zahl von Fällen der prinzipielle Charakter des Protestes (man<br />

streikte ja wohl nicht um 25 Kopeken) verwischt, er wurde kompliziert durch<br />

wirtschafdiche Forderungen..."<br />

Das ist eine wahrhaft empörende, durch und durch verlogene, durch<br />

und durch liberale Betrachtungsweise! Zu glauben, daß die Forderung von<br />

„25 Kopeken" den prinzipiellen Charakter des Protestes „vertuschen"<br />

könnte, heißt auf das Niveau eines Kadetten hinabsinken. Im Gegenteil,<br />

Herr Jeshow, über die Forderung von „25 Kopeken" soll man nicht spötteln,<br />

sie verdient volle Anerkennung! Im Gegenteil, Herr Jeshow, diese<br />

Forderung „vertuscht" den „prinzipiellen Charakter des Protestes" nidbt,<br />

sondern verstärkt ihn! Erstens ist die Frage der Verbesserang der Lebensbedingungen<br />

aud] eine prinzipielle Frage, und zwar eine überaus wichtige<br />

prinzipielle Frage, und zweitens schwäche ich meinen Protest nicht ab,<br />

sondern verstärke ihn, wenn ich nicht gegen eine Erscheinungsform der<br />

Unterdrückung, sondern gegen zwei, drei usw. dieser Erscheinungsformen<br />

protestiere.<br />

Jeder Arbeiter wird mit Entrüstung die empörende liberale Entstellung<br />

der Sache durch Herrn Jeshow zurückweisen.<br />

Aber bei Herrn Jeshow ist das keineswegs ein falscher Zungenschlag.<br />

Er schreibt weiterhin noch empörendere Dinge:<br />

„Die eigene Erfahrung hätte den Arbeitern sagen müssen, daß die Komplizierung<br />

ihres Protestes durch wirtschaftliche Forderungen genauso unzweckmäßig<br />

ist wie auch die Komplizierung eines gewöhnlichen Streiks durch prinzipielle<br />

Forderungen."<br />

Das ist falsch, tausendmal falsch! Schande über den „Newski Golos",<br />

daß er solche Ergüsse druckt. Durchaus zweckmäßig ist, was Herrn Jeshow


"WirtsdiaftUdber und pdlitis&er Streik 77<br />

unzweckmäßig scheint. Sowohl die eigenen Erfahrungen eines jeden<br />

Arbeiters als auch die Erfahrungen einer sehr großen Zahl rassischer Arbeiter<br />

in der jüngsten Vergangenheit besagen das Qegenteil von dem, was<br />

Herr Jeshow lehrt.<br />

Nur die Liberalen können gegen eine „Komplizierung" selbst des „gewöhnlichsten"<br />

Streiks durch „prinzipielle Forderungen" protestieren; das<br />

zum ersten. Und zweitens begeht unser Liquidator einen groben Fehler,<br />

wenn er die heutige Bewegung mit dem Maß „gewöhnlicher" Streiks mißt.<br />

Und vergebens versucht Herr Jeshow, seine liberale Konterbande unter<br />

fremder Flagge zu verbergen, vergebens vermengt er die Frage der Xombinierung<br />

des wirtschaftlichen und des politischen Streiks mit der Frage<br />

der Vorbereitung des einen wie des anderen! Natürlich, vorbereiten und<br />

sich vorbereiten, dabei so gründlich, einmütig, geschlossen, überlegt, entschieden<br />

wie möglich, all das ist höchst wünschenswert. Darüber kann es<br />

keinen Streit geben. Aber vorbereiten muß man, entgegen Herrn Jeshow,<br />

gerade die Kombination beider Streikarten.<br />

„Wir stehen vor einem Zeitabschnitt wirtschaftlicher Streiks", schreibt Herr<br />

Jeshow. „Es wäre ein nicht wiedergutzumachender Fehler, wenn sie verflochten<br />

würden mit politischen Aktionen der Arbeiter. Eine solche Vermischung würde<br />

sich sowohl auf den wirtschaftlichen Kampf der Arbeiter wie auch auf den<br />

politischen Kampf schädlich auswirken."<br />

Weiter, scheint es, geht's nimmer! Das Hinabsinken des Liquidators<br />

auf das Niveau des Dutzendliberalen ist aus diesen Worten ganz klar zu<br />

ersehen. Jeder Satz enthält einen Fehler! Jeden Satz muß man in sein<br />

direktes Gegenteil verwandeln, um die Wahrheit zu erhalten!<br />

Es stimmt nicht, daß wir vor einem Zeitabschnitt wirtschaftlicher Streiks<br />

stehen. Ganz im Gegenteil. Wir stehen vor einem Zeitabschnitt nicht nur<br />

wirtschaftlicher Streiks. Wir stehen vor einem Zeitabschnitt politischer<br />

Streiks. Die Tatsachen, Herr Jeshow, sind stärker als Ihre liberalen Entstellungen,<br />

und wenn Sie die statistischen Karten über die Streiks, die im<br />

Ministerium für Handel und Industrie gesammelt werden, erhalten könnten,<br />

dann würde sogar diese Regierungsstatistik Sie völlig widerlegen.<br />

Es stimmt nicht, daß die „Verflechtung" ein Fehler wäre. Ganz im<br />

Gegenteil. Es wäre ein nicht wiedergutzumachender Fehler, wenn die<br />

Arbeiter nicht die ganze Eigentümlichkeit, die ganze Bedeutung, die ganze<br />

Notwendigkeit, die ganze prinzipielle Wichtigkeit gerade einer solchen


78 TV."}. <strong>Lenin</strong><br />

„Verflechtung" begriffen. Zum Glück aber verstehen die Arbeiter das ausgezeichnet<br />

und weisen voller Verachtung die Predigt der liberalen Arbeiterpolitiker<br />

zurück.<br />

Es stimmt schließlich nicht, daß eine solche Vermischung sich auf beide<br />

Formen „schädlich auswirken" würde. Ganz im Gegenteil. Sie wirkt sich<br />

auf beide günstig aus. Sie stärkt beide.<br />

Herr Jeshow belehrt irgendwelche von ihm entdeckte „Hitzköpfe".<br />

Man höre:<br />

„Es gilt, die Stimmung der Arbeitennassen organisatorisch zu fixieren<br />

..." - Heilige Wahrheit! - „Es gilt, die Agitation für die Gewerkschaften<br />

zu verstärken, neue Mitglieder für sie zu werben..."<br />

Das ist durchaus richtig, aber... aber Herr Jeshow, es ist unzulässig,<br />

die „organisatorische Fixierung" auf die Gewerkschaften allein zu besdbräriken!<br />

Denken Sie daran, Herr Liquidator!<br />

„Das ist um so notwendiger, als sich heute unter den Arbeitern nicht wenig<br />

Hitzköpfe finden, die sich durch die Massenbewegung hinreißen lassen und in<br />

den Versammlungen gegen die Qewerksdbaften auftreten, da diese nutzlos und<br />

unnötig seien."<br />

Das ist eine liberale Verleumdung der Arbeiter. Nicht „gegen die Gewerkschaften"<br />

sind die Arbeiter aufgetreten, die den Liquidatoren das<br />

Leben sauer gemacht haben und immer sauer machen werden. Nein, die<br />

Arbeiter sind gegen die "Beschränkung der organisatorischen Fixierung nur<br />

auf die „Gewerkschaften" allein aufgetreten, wie sie so klar aus dem vorhergehenden<br />

Satz des Herrn Jeshow hervorgeht<br />

Die Arbeiter sind nicht „gegen die Gewerkschaften" aufgetreten, sondern<br />

gegen die liberale Entstellung des Charakters ihres Kampfes, die den<br />

ganzen Artikel des Herrn Jeshow kennzeichnet.<br />

Der russische Arbeiter ist politisch reif genug, um die große Bedeutung<br />

seiner Bewegung für das ganze Volk zu verstehen. Er ist reif genug, um<br />

die ganze Falschheit, die ganze Armseligkeit der liberalen Arbeiterpolitik<br />

zu begreifen, und stets wird er sie voller Verachtung zurückweisen.<br />

Veröffentlicht am 31. TAai 1912 "Nach dem 7ext der „Newskaja<br />

in der „TJewskaja Swesda" 7ir. 10. Swesda", verglichen mit dem<br />

"Unterschrift:1w. Petrotv. 7ext des Sammelbandes „Marxismus<br />

und Eicjuidatorentum",<br />

7eil II, St. Petersburg 1914.


DIE FRAGE DER UMSIEDLUNG<br />

Bekanntlich haben die Regierung nnd die konterrevolutionären Parteien<br />

auf die Umsiedlung der Bauern besonders große Hoffnungen gesetzt Sie<br />

sollte nach der Meinung aller Konterrevolutionäre die Agrarfrage wenn<br />

nicht radikal lösen, so doch zumindest in bedeutendem Maße entschärfen<br />

und ungefährlich machen. Darum eben begann man gerade dann für die<br />

Umsiedlung besonders Reklame zu machen, sie auf jede Weise zu fördern,<br />

als im Europäischen Rußland die Bauernbewegung einsetzte und sich entwickelte.<br />

Was die Vertreter der Regierung und weiterblickende Politiker, zum<br />

Beispiel unter den Oktobristen, im Sinn haben, das kommt so unverhüllten<br />

Reaktionären wie dem Erzreaktionär Markow 2 aus Kursk auf die<br />

Zunge. Und dieser Abgeordnete erklärte bei der Erörterung der Frage der<br />

Umsiedlung in der Duma geradeheraus, mit lobenswerter Offenheit:<br />

„Jawohl, eben durch Umsiedlung muß die Regierung die Agrarfrage<br />

lösen." (1. Sitzungsperiode.)<br />

Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Umsiedlung, falls sie richtig<br />

organisiert wird, eine gewisse Rolle in der wirtschaftlichen Entwicklung<br />

Rußlands spielen könnte. Selbstverständlich darf diese Rolle nicht überschätzt<br />

werden, nicht einmal heute, wo die Lage der Bauern so ganz und<br />

gar unerträglich ist, daß der russische Mushik bereit ist, nicht nur nach<br />

Sibirien, sondern bis ans Ende der Welt zu wandern; nicht einmal heute,<br />

wo man die landarmen und landlosen Bauern auf jede Weise zur Umsiedlung<br />

und Abwanderung ermuntert, um sie vor der Verführung zu bewahren,<br />

die in dem Anblick der gutsherrlichen Latifundien liegt; wo der<br />

Erlaß vom 9. November 31 für die Umsiedler die Liquidation der Überreste<br />

79


80 W.l. Centn<br />

ihrer heimatlidien Wirtschaft außerordentlich erleichtert hat; nicht einmal<br />

heute, wie die Apologeten des natürlichen Zuwachses selber zugeben<br />

müssen. Lediglich in den Gouvernements, die den höchsten Prozentsatz an<br />

Abwanderern stellen (der Süden, der Westen und das Zentrale Schwarzerdegebiet<br />

Rußlands), kommt die Abwanderung dem natürlichen Zuwachs<br />

gleich, resp. sie übersteigt ihn nur um ein weniges<br />

Nichtsdestoweniger gibt es in Sibirien noch eine beträchtliche Reserve<br />

an freien Ländereien, die für die Umsiedlung geeignet sind. Allerdings ist<br />

noch sehr wenig getan worden, um diese auch nur annähernd genau zu<br />

bestimmen. Kulomsin setzte schon <strong>18</strong>96 die Reserve an Kolonisationsländereien<br />

mit 130000 Siedlerstellen an. Seit dieser Zeit ist das Zehnfache<br />

an Siedlerstellen zugewiesen worden, und die Reserve ist noch nicht<br />

erschöpft. Im Gegenteil, nach Berechnungen der Siedlungsverwaltung beläuft<br />

sich 1900 die vorhandene Reserve für die Umsiedlung geeigneter<br />

Ländereien auf 3 Millionen Siedlerstellen für 6 Millionen Umsiedler. Wie<br />

man sieht, sind die Ziffern außerordentlich verschieden; sie schwanken<br />

innerhalb eines sehr breiten Bereichs.<br />

Wie dem aber auch sei, selbst wenn man einen bestimmten Prozentsatz<br />

der letzten Zahlen im Hinblick auf die übliche bürokratische Schönfärberei<br />

zu streichen hätte, so unterliegt es dennoch keinem Zweifel, daß es in<br />

Sibirien noch eine Reserve an Ländereien gibt und also eine Umsiedlung<br />

nach dort sowohl für Sibirien als auch für Rußland von einer gewissen<br />

Bedeutung sein könnte, wenn sie nur zweckmäßig organisiert würde.<br />

Eben diese conditio sine qua non* aber wird von der gegenwärtigen<br />

Regierung nicht erfüllt. Die heutige Organisation des Umsiedlungswesens<br />

zeigt und beweist ein übriges Mal, daß unsere „alte Ordnung" absolut<br />

unfähig ist, die elementarsten wirtschaftlichen Bedürfhisse der Bevölkerung<br />

zu befriedigen; die schlechte Organisierung der Umsiedlung legt noch einmal<br />

Zeugnis davon ab, daß die heutigen Herren der Lage unvermögend<br />

sind, auch nur irgend etwas für den wirtschaftlichen Fortschritt des Landes<br />

zu tun.<br />

Die Richtung, den Charakter und die Art der Durchführung der Siedlungspolitik<br />

klarzustellen, das eben war auch der Zweck der <strong>Red</strong>en, die<br />

die sozialdemokratischen Abgeordneten bei der alljährlichen Erörterung<br />

des Budgetvoranschlags der Siedlungsverwaltung hielten.<br />

* unerläßliche Bedingung. Die <strong>Red</strong>.


Die frage der Umsiedlung 81<br />

Welches Ziel verfolgt die Regierung bei der Umsiedlung der Bauern?<br />

Das ist die grundlegende Frage, die alle anderen bestimmt, denn das von<br />

der Regierung bei der Durchführung der Siedlungspolitik verfolgte Ziel<br />

bestimmt den gesamten Charakter dieser Politik.<br />

Der Abgeordnete Woiloschnikow, der in der 2. Sitzungsperiode der<br />

Duma im Namen der sozialdemokratischen Fraktion sprach, charakterisierte<br />

die Aufgaben, die sich die Regierung bei der Umsiedlung der<br />

Bauern stellt, folgendermaßen: „Die Siedlungspolitik", sagte Woiloschnikow,<br />

„ist eins der Glieder der gesamten Agrarpolitik der Regierung. Die<br />

Gutsbesitzer brauchten schwache und nicht widerstandsfähige Bauern als<br />

billige Arbeitskräfte, und die Regierung war auf jede Weise bemüht, die<br />

Umsiedlung zu bremsen und den Bevölkerungsüberschuß an Ort und<br />

Stelle zu belassen. Aber nicht genug damit: sie führte einen intensiven<br />

Kampf gegen die eigenmächtige Umsiedlung, d. h., sie war bestrebt, dieses<br />

Sicherheitsventil zu schließen; aber der natürliche Bevölkerungszuwachs<br />

jener Zeit wurde immer größer, die Zeiten änderten sich; als drohende<br />

Gefahr zeichneten sich die Erhebung des Proletariats und der hungernden<br />

Bauernschaft ab und all die sich daraus ergebenden Folgen. Regierung und<br />

Gutsbesitzer begannen, sich auf die Umsiedlung zu orientieren, legten sie<br />

neben dem Erlaß vom 9. November ihrer Agrarpolitik zugrunde, aber<br />

wenn dort, bei der Durchführung des Erlasses vom 9. November, die Aufmerksamkeit<br />

auf die Starken und Kräftigen konzentriert war, darauf, den<br />

Schwachen das Land wegzunehmen und es den starken Bauern zu geben,<br />

so geht es hier darum, möglichst viele schwache Bauern nach Sibirien abzuschieben;<br />

und obwohl sich in letzter Zeit eine Tendenz zur Erhöhung<br />

des Durchschnittsniveaus des wohlhabenden Umsiedlers bemerkbar macht,<br />

so wird dennoch die Hauptmasse, nach der Terminologie Stolypins,<br />

weiterhin von den Schwachen gebildet. An dieser intensiven Abschiebung<br />

nehmen ebenso auch die Flurbereinigungskommissionen teil, oder, ich<br />

möchte sagen, sie wurden dazu herangezogen.<br />

Den Flurbereinigungskommissionen ist die Verpflichtung auferlegt worden,<br />

den Siedlern die Grundstücke zu übergeben, zuzuweisen, und damit<br />

eben einen Schlußstrich zu ziehen unter die alten Mißstände auf dem<br />

Agrargebiet. Also, meine Herren, der Erlaß vom 9. November, die verstärkte<br />

Propagierung der Umsiedlung, die verstärkte Abschiebung der<br />

Schwachen nach Sibirien und die Flurbereinigungskommissionen - das


82 W. J.<strong>Lenin</strong><br />

sind zwei eng miteinander verbundene Seiten ein und derselben Frage,<br />

ein und derselben Politik. Es ist unschwer zu sehen, daß die Durchfährung<br />

des Erlasses vom 9. November dazu beiträgt, daß sich die Starken und<br />

Kräftigen auf Kosten der armen Bauern auf den Bodenanteilen festsetzen,<br />

daß sie dadurch eben dazu beitragen wird, diese schwachen, in<br />

kolonisatorischer Hinsicht wenig geeigneten Elemente in die ihnen fremden<br />

Randgebiete zu verstoßen. Sowohl in bezug auf die Dorfgemeinde als<br />

auch in bezug auf die Umsiedlung hat sich die Regierung in ihrer Siedlungspolitik<br />

einzig und allein von den Interessen des Häufleins feudaler<br />

Gutsbesitzer leiten lassen und überhaupt der herrschenden Klassen, die<br />

die Arbeitermassen und die werktätige Bauernschaft unterdrücken. Sie ist<br />

jedes Verständnisses bar für die elementaren Bedürfnisse des Landes und<br />

die Erfordernisse der Volkswirtschaft" (77. Sitzung, 2. Sitzungsperiode.)<br />

Am vollständigsten legte diese Seite der Sache der Abgeordnete<br />

Tschcheidse dar (in seiner <strong>Red</strong>e in der 2. Sitzungsperiode der Reichsduma),<br />

der ein detailliertes Bild der Siedlungspolitik im Kaukasus zeichnete.<br />

Der sozialdemokratische <strong>Red</strong>ner bewies vor allem, gestützt auf Tatsachen<br />

und Zahlen, daß alle offiziellen Mitteilungen über die freien Ländereien<br />

im Kaukasus in himmelschreiender Weise der Wahrheit widersprechen.<br />

Wir möchten besonders unterstreichen, daß der Abgeordnete<br />

Tschcheidse, um allen Vorwürfen der Voreingenommenheit und der Entstellung<br />

aus dem Wege zu gehen, ausschließlich offizielle Angaben und<br />

Berichte von Regierungsbeamten benutzte. Nach Angaben, die schon in<br />

den achtziger Jahren durch den ehemaligen Minister für Staatsdomänen<br />

gesammelt worden sind, „wurden allein nur unter den Staatsbauern, die<br />

auf fiskalischen Ländereien im Kaukasus angesiedelt waren, in vier transkaukasischen<br />

Gouvernements gezählt: 22 000, die völlig ohne Land waren,<br />

66 000 mit einem Bodenanteil bis zu einer Desjatine pro Kopf, 254 000 mit<br />

Anteilen vou ein bis zwei Desjatinen, 5013 mit Anteilen von zwei bis vier<br />

Desjatinen - insgesamt ungefähr 1 000 000 mit kleineren Anteilen, als die<br />

Minimalnorm für die Landzuteilung an die im Kaukasus angesiedelten<br />

Umsiedler vorsieht. Im Gouvernement Kutais zählte man unter 29977<br />

Bauernstellen 2541 ohne Land oder mit einem Anteil bis zu einer Desjatine<br />

pro Hof, 4227 mit ein bis zwei Desjatinen, 4016 mit zwei bis drei<br />

Desjatinen und 5321 mit drei bis fünf Desjatinen. Nach, neuesten Angaben<br />

beträgt in vier transkaukasischen Gouvernements die Zahl der Siedlun-


Die 7ra0e der Umsiedlung 83<br />

gen, die fiskalisches Land überhaupt nicht oder in nnznreidiendem Maße<br />

besitzen, ungefähr 46 Prozent, während im Gouvernement Kutais ungefähr<br />

33 Prozent Höfe gezählt wurden, die nicht über fiskalisches Land<br />

verfügen. Aus dem Bericht des Bakuer Komitees über die Notlage der<br />

landwirtschaftlichen Industrie erfahren wir, daß derartige mit zuwenig<br />

Land versorgte Siedlungen aus ihrer Mitte diejenigen ausscheiden, die<br />

kein Land haben, daß diese sich bei Besitzern beträchtlicher Bodenanteile<br />

ansiedeln und sich dann viele Jahre lang in einer solchen abhängigen Lage<br />

befinden- Und der Senator Kusminski sagt in seinem alleruntertänigsten<br />

Bericht folgendes: ,Es ist zu vermerken, daß zuweilen der eigentliche<br />

Stamm der Siedler von Personen gebildet wird, die den Ackerbau aufgegeben<br />

haben und das zu Zwecken der Kolonisation erhaltene Land an<br />

Dorfgenossen oder an einheimische Bauern aus der benachbarten Siedlnng<br />

verpachten/ Also werden schon vor 25 Jahren in Transkaukasien unter<br />

den Staatsbauern, die, man könnte meinen, besser mit Land versorgt sein<br />

sollten als die anderen Kategorien der Bauern, Hunderttausende gezählt,<br />

die ohne Übertreibung als Tagelöhner bezeichnet werden können. Schon<br />

vor 25 Jahren waren die ortsansässigen Bauern genötigt, das Land zu<br />

pachten, das den Umsiedlern gegeben worden war."<br />

So sehen die Angaben _ aus, auf deren Grundlage man sich ein Bild<br />

davon machen kann, wie die Staatsbauern im Kaukasus mit Land versorgt<br />

sind.<br />

„Was die sogenannten zeitweilig verpflichteten Bauern betrifft", fuhr der<br />

<strong>Red</strong>ner fort, „so ist auf Grund von aufgestellten Dokumenten zu ersehen, daß<br />

im Gonv. Tiflis 1444 Bauernstellen völlig ohne Ackerland geblieben waren und<br />

386 nicht einmal Hofland erhalten hatten. Das sind 13 Prozent der Gesamtzahl<br />

der Gutsbanern im Gouv. Tiflis. Im Gouv. Kutafs war die Zahl der landlosen<br />

Bauern bei der Reform noch höher. Geht man selbst vom Verhältnis znr Gesamtzahl<br />

der Leibeigenen im Gonv. Tiflis aus, so erhält man auch dann im<br />

Gonv. Kutais insgesamt 5590 Bauernstellen oder 25000 Personen, die bei der<br />

Bauernbefreiung im Kaukasus kein Stückchen Land erhalten haben. 20 Jahre<br />

nach der Reform, im Jahre <strong>18</strong>95 - fährt der Verfasser des Memorandums über<br />

die Liquidierung der Pflichtverhältnisse fort - wurde im Gouv. Jelisawetpol die<br />

Zahl der landlosen Bauern mit 5308 Banernstellen oder 25 000 Personen beiderlei<br />

Geschlechts angegeben. Im Gouv. Baku waren es 3906 Bauernstellen oder<br />

11709 Landlose beiderlei Geschlechts. Und nun die Daten über die Landversorgung<br />

der Bauern aus der Zahl der zeitweilig Verpflichteten, die ihre


84 "W.J.Cemrt<br />

Bodenanteile nicht losgekauft haben, aber irgendeine Wirtschaft besitzen. Im<br />

Gouv. Tiflis entfallen auf die Person 0,9 Desj., im Gouv. Kutais 0,6 Desj. Bei<br />

denjenigen, die ihre Anteile losgekauft haben, entfallen im Gouv. Tiflis 1,7 Desj.<br />

auf die Person und im Gouv. Kutais 0,7 Desj. Derart sind die Bauern, die<br />

irgendeine Wirtschaft haben, mit Land versorgt Eine allgemeine Charakteristik<br />

der wirtschaftlichen Lage der Bauern im Kaukasus gibt der Bericht des<br />

Gouvernementskomitees von Kutais über die Notlage der landwirtschafdichen<br />

Industrie. Nach Angaben, die aus verschiedenen offiziellen Untersuchungen<br />

geschöpft sind, erreicht die Zahl der Bauern, die ärgste Not leiden, im Gouvernement<br />

Kutais 70 Prozent. Mehr noch, hier wird zugleich auch erwähnt, daß<br />

im Gouv. Kutais 25% des Adels akute Not leiden.<br />

Solche Besitzer von Grundstücken - fährt der Bericht fort - können ihre<br />

wirtschaftliche Selbständigkeit nur aufrechterhalten, wenn sie einem Nebenerwerb<br />

nachgehen, und sind völlig der Möglichkeit beraubt, Mittel für Verbesserungen,<br />

für Gerätschaften und für die Bodendüngung aufzuwenden. Die<br />

große Nachfrage konnte nicht ohne Einfluß bleiben auf die Höhe der Bodenpacht,<br />

die bei dem System der Halbpacht 60 Prozent der Bruttoeinnahme erreicht<br />

und zuweilen, bei Zahlung einer festgelegten Menge von Bodenerzeugnissen,<br />

in Jahren der Mißernte die Bruttoeinnahme übersteigt. Die Verpachtung<br />

von Land gegen Geld trifft man selten an, und die Pachtsumme erreicht<br />

30 Rubel für eine Desjatine im Jahr. So ist es im Gouvernement Kutais. Nun<br />

einige Angaben über die Bodenversorgung der Bauern in vier Kreisen des<br />

Gouv. Jelisawetpol. Auf Grund der Angaben über alle Bauern, die auf Gutsländereien<br />

leben, ergibt sich hier, daß in vier Kreisen des Gouv. Jelisawetpol,<br />

nämlich in den Kreisen Dshebrail, Sangesur, Schuschä und Dshewanschir, die<br />

Bodenzuteilung nur 0,6 Desj. pro Person erreicht. Nach Berechnung des Senators<br />

Knsminski erreicht im Kreis Lenkoran, Gouv. Baku, bei den Siedlern, die<br />

auf Gutsländereien angesiedelt worden sind, der durchschnittliche Bodenanteil<br />

pro Person männlichen Geschlechts nicht mehr als 0,5 Desj. Im Kreis Kuba<br />

nicht mehr als 0,9 Desj. Derart, meine Herren", schloß der <strong>Red</strong>ner, „steht es<br />

in Transkaukasien um die Versorgung der Bauern mit Land."<br />

Wenn, was den Bodenmangel angeht, die Lage der kaukasischen Bauern<br />

sich kaum von der Lage der Bauern in Rußland unterscheidet, so erhebt<br />

sich die Frage: Woraus wird denn im Kaukasus der Bodenfonds für<br />

Kolonisationszwecke gebildet, und warum wird die Umsiedlung nach dort<br />

betrieben, anstatt einheimische Bauern anzusiedeln?<br />

Der Siedlungsfonds wird gebildet, indem die Rechte der Einheimischen<br />

auf den Grund und Boden in himmelschreiender Weise verletzt werden,


Die 7rage der Umsiedlung 85<br />

und die Umsiedlung aas Rußland wird betrieben zu Nutz und Frommen<br />

des berüchtigten nationalistischen Prinzips der „Russifizierung der Randgebiete".<br />

Der Abgeordnete Tsdidieiidse hat eine Reihe von Beispielen angeführt,<br />

wiederum offiziellen Quellen entnommen, wie die Einheimischen ganzer<br />

Ortschaften im Interesse der Bildung eines Bodenfonds für Kolonisationszwecke<br />

von ihren angestammten Plätzen verjagt wurden, wie ganze Gerichtsprozesse<br />

aufgezogen wurden, um die Enteignung des Grund und<br />

Bodens der Gebirgsbevölkerung zu rechtfertigen (Bericht des Adelsmarschalls,<br />

Fürst Zereteli, an den Innenminister über die Gebirgssiedlung<br />

Kiknaweleti, Kreis Kutais) usw. Und all das sind nicht vereinzelte Tatsachen,<br />

nicht Ausnahmefälle, sondern, wie auch der Senator Knsminski<br />

konstatiert, „typische Fälle".<br />

Das Resultat ist ein ausgesprochen feindseliges Verhältnis zwischen<br />

Siedlern und Einheimischen. Als z. B. die Gemeinde Alar von ihrem Grund<br />

und Boden vertrieben worden war, „ausgesiedelt", wie Senator Kusminski<br />

sich ausdrückt, „ohne Land zugeteilt zu bekommen und der Willkür des<br />

Schicksals überlassen", da wurden die Okkupanten ihres Bodens, die Siedler,<br />

auf Staatskosten bewaffnet: den örtlichen Kreishauptleuten wurde vorgeschrieben,<br />

„dafür Sorge zu tragen, daß die Bauern der neu entstandenen<br />

Siedlungen in der Mugansteppe, einschließlich der Bauern aus Pokrowka,<br />

mit Waffen, 10 Berdan-Gewehre auf 100 Höfe, versorgt werden". Eine<br />

interessante Illustration, um den „nationalistischen Kurs" der gegenwärtigen<br />

Politik zu charakterisieren.<br />

Nichtsdestoweniger verwiesen die rechten Abgeordneten der Reichsduma<br />

triumphierend auf das Vorhandensein eines Siedlungsfonds von<br />

1 700000 Desj., von dem der Statthalter im Kaukasus berichtet. Allein,<br />

wie derselbe Statthalter bezeugt, ist fast die Hälfte dieses Fonds schon<br />

von Siedlern besetzt, ein beträchtlicher Teil befindet sich in Gegenden,<br />

wo, wie wiederum der Statthalter bestätigt, es dem an die Verhältnisse<br />

nicht gewöhnten Landwirt physisch unmöglich ist, eine Wirtschaft zu betreiben.<br />

Der Abgeordnete Tsdicheidse charakterisierte ebenfalls, wie die Regierung<br />

die Neusiedlungen an Ort und Stelle gestaltet. „Die ungenügende<br />

Wasserversorgung und Bewässerung der Siedlergrundstücke, heißt es in<br />

einem Schreiben des Statthalters, vor allem in den östlichen Gebieten


86 W. 3. <strong>Lenin</strong><br />

Transkaukasiens, ist einer der Hauptgründe für die Rückwanderung der<br />

Siedler, die dort schon ansässig geworden waren. Aus dem Schwarzmeergebiet<br />

fliehen die neu Angesiedelten, weil es an Wegen fehlt, die für den<br />

Wagenverkehr — nicht nur zwischen den einzelnen Ortschaften, sondern<br />

auch innerhalb der Siedlungen selbst — geeignet wären. Dem muß man<br />

hinzufügen, daß die ungünstigen, für die Siedler -ungewohnten klimatischen<br />

Verhältnisse, die in vielen Gegenden des Kaukasus Malariaerkrankungen<br />

hervorrufen, welche nicht nur die Menschen, sondern auch das<br />

Vieh zugrunde richten, ihrerseits nicht weniger als die Wegelosigkeit zur<br />

Flucht der minder standhaften Neusiedler aus dieser Region beitragen.<br />

Unter dem Einfluß der dargelegten Ursachen ist eine ständige Abwanderung<br />

aus den Gouvernements Jelisawetpol, Baku, dem Gebiet Dagestan<br />

•wie auch aus dem Gouvernement Tiflis und dem Schwarzmeergöuvernement<br />

zu beobachten."<br />

Und so beurteilt der Statthalter selber die Ergebnisse der Umsiedlung<br />

nach dem Kaukasus wie folgt: „Das bis in die letzte Zeit hinein praktizierte<br />

Verhalten gegenüber der kaukasischen Bevölkerung in ihren Bodenangelegenheiten'",<br />

sägt der Statthalter, „kann schon darum nicht länger<br />

geduldet werden, als es zweifellos in der revolutionären Stimmung der<br />

Landbevölkerung eine recht bedeutende Rolle spielt."<br />

Ganz und gar analoge Ziele verfolgen die Regierung und die herrschenden<br />

Klassen bei der Umsiedlung von Bauern nach Sibirien; auch in diesem<br />

Fall verfolgt man politische Ziele, setzt man sich völlig über die Interessen<br />

der Siedler wie über die Rechte der Alteingesessenen hinweg.<br />

In den Abwanderungsgebieten in Rußland sind jetzt die Flurbereinigungskommissionen,<br />

die Landeshauptleute und die Gouverneure mit den<br />

Angelegenheiten der Umsiedlung betraut. Zutiefst daran interessiert, die<br />

örtliche landarme und landlose Bauernschaft so weit zu lichten, daß an Ort<br />

und Stelle nur soviel zurückbleiben, wie für die Bedürfnisse des Großgrundbesitzes<br />

(als Lieferanten von Lohnarbeit) erforderlich sind, haben<br />

die Flurbereinigungskommissionen die armen Bauern derart energisch<br />

„ausgesiedelt", daß sogar die Siedlungsverwaltung murrte. „Die Flurbereinigungskommissionen",<br />

protestierte ein Siedlungsbeamter, „stellen<br />

Gruppen von bettelarmen Menschen zusammen, die von ihrem Heimatort<br />

an der Reiseunterstützung bedürfen, des Darlehens nicht für die Einrichtung<br />

der neuen Wirtschaft, sondern für den bloßen Unterhalt; trifft man


Die Trage der TAmsiedlung 87<br />

aber einmal ausnahmsweise einen Siedler mit geringen Geldreserven, so<br />

gibt er alles für Reise und Verpflegung aus."<br />

Und diese „schwachen" Stiefsöhne einer Agrarpolitik, die als ihre<br />

Devise das „Setzen auf die Starken" proklamiert hat, werden haufenweise<br />

nach Sibirien abgeschoben, in Viehwagen ohne jede Einrichtung, vollgepfercht<br />

mit Greisen, Kindern und schwangeren Frauen. In diesen selben<br />

Viehwagen (mit der berühmten Aufschrift: 40 Mann, 8 Pferde) bereiten<br />

die Siedler ihr Essen zu, waschen sie ihre Wäsche, hier Hegen oft auch ansteckend<br />

Kranke, die gewöhnlich von den Siedlern verborgen werden aus<br />

Angst, daß man sie heraussetzen und auf diese Weise von der Gruppe<br />

trennen würde. An den Endpunkten und auf den Stationen bringt man die<br />

Siedler im besten Fall in speziell errichteten Zelten unter, im schlimmsten<br />

Fall läßt man sie einfach unter freiem Himmel, in Sonne und Regen liegen.<br />

Der Abgeordnete Woiloschnikow berichtete in der Duma, wie er selber<br />

auf der Sretensker Sammelstelle beobachtet habe, daß Typhuskranke ungeschützt<br />

im Regen lagen. Und derartige Reisebedingungen für die Siedler,<br />

wie sie oben geschildert worden sind, haben zwei Minister (Stolypin<br />

und Kriwoschein) „erträglich" gefunden: „Die sanitären Verhältnisse bei<br />

der Beförderung der Siedler sind erträglich", berichten sie alleruntertänigst,<br />

„unterwegs finden viele sogar ihnen ungewohnte Bequemlichkeiten."<br />

Wahrhaftig, der bürokratische Gleichmut kennt lceine Grenzen!<br />

Nachdem sie auf der Reise in das „gelobte Land" derartige Strapazen<br />

erduldet haben, finden diese armen Siedler auch in Sibirien kein Glück.<br />

Führen wir zum Beispiel an, wie der Abgeordnete Woiloschnikow an<br />

Hand von Zitaten aus offiziellen Berichten ihre Etablierung an den neuen<br />

Orten charakterisierte.<br />

Ein Beamter (für besondere Aufträge der Siedlungsverwaltung) schreibt:<br />

„Die meisten Ländereien liegen verstreut in Waldgegenden, ohne Wasser,<br />

ohne Saatflächen, ohne Weideland." Ein anderer fügt hinzu; „Die Darlehnsgewährung<br />

hat völlig ihren Charakter, ihre Bedeutung für die Einrichtung<br />

einer Wirtschaft verloren; der Umfang des Darlehens ist an und<br />

für sich zu klein, um eine wirkliche Hilfe für die Einrichtung der Wirtschaft<br />

zu sein. Die festgelegte Ordnung für die Gewährung von Darlehen<br />

hat diese ganze Sache in reinste Philanthropie verwandelt; sich mit einem<br />

Darlehen von 150 Rubel einrichten und zwei Jahre lang ernähren ist ein<br />

Ding der Unmöglichkeit."


88 W.J.<strong>Lenin</strong><br />

Und nun, als Beispiel, eine Schilderung der sanitären Verhältnisse in den<br />

neuen Siedlungen in denselben offiziellen Berichten.<br />

„Nach dem Typhus", schreibt ein Beamter*, „hat hier der Skorbut nicht<br />

geringere Ausmaße angenommen,- fast in allen Siedlungen, in allen Hütten gibt<br />

es an dieser Krankheit Leidende oder Kandidaten dafür. Häufig liegen in einer<br />

Hütte sowohl Typhus- als Skorbutkranke. In der Siedlung Okur-Sdiaskoje<br />

konnte ich solch ein Bild sehen: der Hausherr liegt am Typhus danieder im<br />

Stadium der Hautabschuppung, seine schwangere Frau ist wegen Nahrungsmangels<br />

äußerst schwach; der Sohn, ein Junge von zwölf Jahren, hat geschwollene<br />

Drüsen und Skorbut; die Schwester der Fran hat Skorbut, kann nicht<br />

gehen, sie hat ein Brustkind; ihr zehnjähriger Junge hat Skorbut, Nasenbluten<br />

und ist schwach auf den Beinen, und von der ganzen Familie ist lediglich ihr<br />

Mann gesund.<br />

Auf Skorbut und Typhus folgt Nachtblindheit. Man kann Siedlungen treffen,<br />

wo buchstäblich alle Siedler, ohne Ausnahme, nachtblind sind. Die Siedlungsgruppe<br />

am Fluß Jemna ist inmitten eines dichten Waldes entstanden, wo es kein<br />

Ackerland, keine Heuschläge gibt, und im Verlauf von zwei, drei Jahren konnten<br />

die Neusiedler kaum ihre Höfe ausbauen und elende Hütten errichten. Von<br />

eigenem Getreide konnte keine <strong>Red</strong>e sein; man hat ausschließlich von dem<br />

Darlehen gelebt, und als dieses aufgebraucht war, machte sich ein schrecklicher<br />

Brotmangel fühlbar,- viele hungerten buchstäblich. Zu dem Brotmangel kommt<br />

der Mangel an Trinkwasser hinzu."<br />

Solchen Mitteilungen begegnet man auf Schritt und Tritt. Wie schrecklich<br />

diese offiziellen Berichte aber auch sind, klar ist, daß sie doch nicht das<br />

bis zu Ende aussprechen, was ist, das heißt, daß sie die Wirklichkeit beschönigen.<br />

Fürst Lwow zum Beispiel, Bevollmächtigter der Gesamtrussischen<br />

Semstwoorganisation, bekanntlich ein Mann von gemäßigten Anschauungen,<br />

charakterisierte nach einer Reise in den Fernen Osten die<br />

Kolonisation im Amurgebiet folgendermaßen:<br />

„Abgeschnitten von der Welt, wie auf einer unbewohnten Insel, inmitten<br />

sumpfiger Fetzen öder Taiga, morastiger Täler und morastiger Berge, wird der<br />

leicht verzagende und bettelarme Siedler natürlich von den unerhört primitiven<br />

Bedingungen des Lebens, der Arbeit und des Unterhalts überwältigt Er verfällt<br />

in Apathie, nachdem er seinen geringen Energievorrat gleich zu Anfang im<br />

Kampf mit der rauhen Natur erschöpft hat, um sich eine dürftige Behausung<br />

zu bauen. Skorbut und Typhus ergreifen den erschöpften Organismus und<br />

• „Memorandum", S. 8.


Die Trage der Umsiedlung 89<br />

bringen ihn auf den Friedhof. In vielen Dörfern gab es 1907 eine geradezu<br />

unglaublich hohe Sterblichkeit, 25 und 30 Prozent. Soviel Höfe es hier gibt,<br />

soviel Kreuze gibt es auch, und nicht wenige Dörfer sind dazu verurteilt, geschlossen<br />

entweder auf neue Grundstücke oder auf den Friedhof umzusiedeln.<br />

Wieviel bittere Tränen unglücklicher Familien, welch kostspielige Begräbnisse'<br />

auf Staatskosten in dem fernen Randgebiet an Stelle der Kolonisation! Nicht<br />

so bald werden die von der Taiga zerschlagenen Überreste der vorjährigen<br />

verstärkten Siedlerwelle wieder auf die Beine kommen. Noch viele werden<br />

dahinsterben, viele werden davonlaufen, werden nach Rußland zurückkehren,<br />

werden die Region durch Erzählungen über ihr Elend in Verruf bringen,<br />

werden Schrecken verbreiten und die weitere Umsiedlung aufhalten. Nicht<br />

umsonst ist in diesem Jahr eine Abwanderung aus dem Küstengebiet in nie dagewesenem<br />

Ausmaß zu verzeichnen, während ein auf ein Fünftel verringerter<br />

Siedlerstrom in das Gebiet fließt."<br />

Fürst Lwow ist mit Recht entsetzt über die Weltabgeschiedenheit und<br />

Verlassenheit des Siedlers in der unermeßlichen sibirischen Taiga, insbesondere<br />

bei der sibirischen Wegelosigkeit. Man kann sich vorstellen, wie<br />

glänzend dort jetzt die Einrichtung von Einzelhöfen und die Abtrennung<br />

von Sonderland verläuft, denn eben dieselben Leiter der Agrarpolitik<br />

proklamierten „die Notwendigkeit einer entschiedenen Wendung (!) in<br />

der Agrarpolitik in Sibirien", „die Schaffung und Festigung des Privateigentums",<br />

„die endgültige Zuteilung der Grundstücke an die einzelnen<br />

Bauern auf der Grundlage des Erlasses vom 9. November 1906", „die Zuweisung<br />

von Siedlerstellen, nach Möglichkeit bei Aufteilung des Grund<br />

und Bodens in Sonderland"* usw.<br />

Es ist ganz natürlich, daß unter solchen Kolonisationsbedingungen von<br />

den in den Jahren 1903 bis 1905 angesiedelten Siedlern nach Angaben der<br />

Siedlungsverwaltung 10 Prozent überhaupt kein Zugvieh, 12 Prozent nur<br />

ein einziges Stück Zugvieh, 15 Prozent keine Kuh und 25 Prozent keinen<br />

Pflug besaßen (aus der <strong>Red</strong>e des Abgeordneten Gaidarow in der<br />

1. Sitzungsperiode, der damals im Namen der sozialdemokratischen Fraktion<br />

gesprochen hatte). Mit vollem Recht hat darum der Abgeordnete<br />

Woiloschnikow, gestützt auf dieselben offiziellen Berichte, folgendes Fazit<br />

der Siedlungspolitik der Jahre 1906 bis 1908 gezogen:<br />

„Im Verlauf der drei Jahre 1906, 1907 und 1908 sind 1 552 439 Personen<br />

beiderlei Geschlechts über den Ural geschickt worden, bettelarm, durch die<br />

• „Memorandum", S. 60, 61, 62.<br />

7 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>


90<br />

r W. 7. <strong>Lenin</strong><br />

Regierangsreklame in unbekannte Gegenden gelockt, der Willkür des Schicksals<br />

überlassen. Von ihnen haben sich, wie die Siedlungsverwaltung schreibt,<br />

564 041 angesiedelt, 284984 Personen beiderlei Geschlechts kehrten zurück.<br />

Also weiß man nach den Mitteilungen der Siedlungsverwaltung von 849 025<br />

Menschen, wohin aber sind die übrigen geraten? Wo sind diese 703 414 Menschen?<br />

Meine Herren, die Regierung weiß ausgezeichnet um ihr bitteres Los,<br />

aber sie will von ihnen nicht sprechen,- ein Teil von ihnen wurde den Dörfern<br />

der Alteingesessenen zugeschrieben, ein Teil füllte die Reihen des sibirischen<br />

Proletariats auf und geht betteln.<br />

Aber für einen gewaltigen Teil hat die Regierung kostspielige Begräbnisse<br />

gerichtet, und darum eben schweigt sich die Regierung über sie aus."<br />

So bewahrheiten sich die Hoffnungen von Markow 2, durch die Umsiedlung<br />

„die Agrarfrage zu lösen". Angesichts derartiger Tatsachen waren<br />

sogar die oktobristischen Repräsentanten des Großkapitals genötigt, die<br />

„Defekte des Siedlungswesens" anzuerkennen. Schon in der 1. Sitzungsperiode<br />

hatten die Oktobristen den Wunsch zum Ausdruck gebracht (und<br />

die Duma unterstützte diesen Wunsch), „die Bedingungen für die Beförderung<br />

der Siedler zu verändern und zu verbessern", „in den Siedlungsgebieten<br />

die für ihre kulturelle und ökonomische Entwicklung notwendigen<br />

Bedingungen zu schaffen", „bei der Zuweisung von Land und bei der<br />

Ansiedlung der Siedler die Interessen und Rechte der örtlichen Bauernschaft<br />

und der fremdstämmigen Bevölkerung zu beachten". Es versteht<br />

sich, daß diese vorsichtigen und vorsätzlich zweideutigen Wünsche ohnehin<br />

eine „Stimme des Predigers in der Wüste" geblieben sind. Und die<br />

so hartnäckigen Oktobristen wiederholen sie geduldig von Jahr zu Jahr...<br />

„TJewskaja Swesda" ?Jr. li, Tiadh dem 7ext der<br />

3. "Juni 1912. .TJewskaja Swesda".<br />

Untersdbrift: W. 7.


DER REVOLUTIONÄRE AUFSCHWUNG 32<br />

Der grandiose Maistreik des Proletariats von ganz Rußland und die mit<br />

ihm verbundenen Straßendemonstrationen, die revolutionären Proklamationen<br />

und revolutionären <strong>Red</strong>en vor den Arbeitermassen haben deutlich<br />

gezeigt, daß Rußland in eine Phase des revolutionären Aufschwungs eingetreten<br />

ist.<br />

Dieser Aufschwung ist keineswegs wie ein Blitz aus heiterem Himmel<br />

gekommen. Nein, er wurde durch die ganzen Verhältnisse des russischen<br />

Lebens schon seit langem vorbereitet, und die Massenstreiks im Zusammenhang<br />

mit den Erschießungen an der Lena und dem 1. Mai haben lediglich<br />

endgültig seinen Eintritt manifestiert. Der zeitweilige Triumph der<br />

Konterrevolution war unlösbar verbunden gewesen mit dem Abflauen des<br />

Massenkampfes der Arbeiter. Die Zahl der Streikenden liefert eine wenn<br />

auch nur annähernde, dafür aber unbedingt objektive und präzise Vorstellung<br />

von den Ausmaßen dieses Kampfes.<br />

In den zehn Jahren vor der Revolution, in den Jahren <strong>18</strong>95 bis 1904,<br />

betrug die Durchschnittszahl der Streikenden (rund gerechnet) 43 000<br />

jährlich. Im Jahre 1905 - 2% Millionen, 1906 - 1 Million, 1907 - 3 /4 Millionen.<br />

Die drei Jahre der Revolution zeichnen sich durch einen in der<br />

Welt nodh nirgends dagewesenen Aufschwung des Streikkampfes des Proletariats<br />

aus. Sein Abflauen, das in den Jahren 1906 und 1907 begann,<br />

stand 1908 endgültig fest: 175 000 Streikende. Der Staatsstreich vom<br />

3. Juni 1907, der die Selbstherrschaft des Zaren im Bunde mit der Duma<br />

der erzreaktionären Gutsbesitzer und der Handels- und Industriemagnaten<br />

wiederherstellte, war das unvermeidliche Ergebnis des Abflauens der<br />

revolutionären Energie der Massen.<br />

91


92 W. 3. <strong>Lenin</strong><br />

Die drei Jahre von 1908 bis 1910 waren eine Periode des zügellosen<br />

Wütens der Konterrevolution der Schwarzhunderter, des bürgerlich-liberalen<br />

Renegatentums und der Depression und des Zerfalls in den Reihen<br />

des Proletariats. Die Zahl der Streikenden geht immer mehr zurück, sie<br />

fällt auf 60 000 im Jahre 1909 und auf 50 000 im Jahre 1910.<br />

Aber vom Ende des Jahres 1910 an beginnt eine merkliche Wendung.<br />

Die Demonstrationen im Zusammenhang mit dem Tode des Liberalen<br />

Muromzew und Leo Tolstois wie auch die Studentenbewegung weisen<br />

deutlich darauf hin, daß ein anderer Wind zu wehen begonnen hat, daß<br />

eine gewisse Wendung in der Stimmung der demokratischen Massen eingetreten<br />

ist. Das Jahr 1911 zeigt uns einen allmählichen Übergang der<br />

Arbeitermassen zur Offensive: die Zahl der Streikenden erreicht 100000.<br />

Von verschiedenen Seiten her gibt es Anzeichen dafür, daß die durch den<br />

Triumph der Konterrevolution hervorgerufene Müdigkeit und Erstarrung<br />

vorübergeht, daß von neuem Ridituru} auf die Revolution genommen<br />

ist. Die Gesamtrussische Konferenz der SDAPR im Januar 1912 konstatierte<br />

als Endergebnis ihrer Einschätzung der Lage, daß „in breiten Kreisen<br />

der Demokratie und in erster Linie in den Reihen des Proletariats sich der<br />

Beginn einer politischen Belebung bemerkbar macht. Die Arbeiterstreiks<br />

der Jahre 1910/1911, die einsetzenden Demonstrationen und proletarischen<br />

Kundgebungen, der Beginn einer Bewegung unter der städtischen<br />

bürgerlichen Demokratie (Studentenstreiks) usw. - all das sind Erscheinungsformen<br />

der anwachsenden revolutionären Stimmung der Massen<br />

gegen das Regime des 3. Juni". (Siehe die „Mitteilung" über die Konferenz,<br />

S. <strong>18</strong>*.)<br />

Schon zu Beginn des zweiten Quartals des laufenden Jahres war diese<br />

Stimmung so weit herangereift, daß sie in der Aktion der Massen ihren<br />

Ausdruck fand und einen revolutionären Aufschwung schuf. Der Gang<br />

der Ereignisse in den letzten anderthalb Jahren zeigt handgreiflich, daß<br />

dieser Aufschwung nichts Zufälliges an sich hat, daß sein Einsetzen durchaus<br />

gesetzmäßig und durch die gesamte vorherige Entwicklung Rußlands<br />

zwangsläufig bedingt ist.<br />

Die Erschießungen an der Lena waren der Anlaß für das Umschlagen<br />

der revolutionären Stimmung der Massen in einen revolutionären Aufschwung<br />

der Massen. Es gibt nichts Verlogeneres als die liberale Erfindung,<br />

• Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 17, S. 458. Die <strong>Red</strong>.


Der revolutionäre Aufsdbwung 93<br />

die von Trotzki, der darin den Liquidatoren folgt, in der Wiener<br />

„Prawda" nachgeplappert wird, wonach „der Kampf für die Koalitionsfreiheit<br />

die Qrundfacje ist sowohl für die Tragödie an der Lena als auch<br />

für ihren mächtigen Widerhall im Lande". Beim Streik an der Lena war<br />

die Koalitionsfreiheit weder eine spezifische Forderung noch die Hauptforderung.<br />

Bei den Erschießungen an der Lena ist keineswegs zutage getreten,<br />

daß es keine Freiheit ausgerechnet der Koalition gibt, sondern daß<br />

es keine Freiheit gibt gegenüber... der Provokation, der allgemeinen<br />

Rechtlosigkeit und der grenzenlosen Willkür.<br />

Wie wir schon in Nr. 26 des „Sozial-Demokrat" 33 klargestellt haben,<br />

spiegelt sich in den Erschießungen an der Lena aufs genaueste das ganze<br />

Regime der Monarchie des 3. Juni wider. Charakteristisch für die Ereignisse<br />

an der Lena ist keineswegs der Kampf für eines der <strong>Red</strong>ote, und sei<br />

es das kardinalste, das für das Proletariat wichtigste Recht. Charakteristisch<br />

für sie ist das völlige Fehlen der elementarsten Gesetzlichkeit in<br />

jeder Beziehung. Das Charakteristische besteht darin, daß der Provokateur,<br />

der Spitzel, der Ochranamann, der Zarenscherge den Weg der<br />

Massenerschießungen ohne irgendwelche politischen Vorwände betreten<br />

hat. Gerade diese allgemeine Rechtlosigkeit im russischen Leben, gerade<br />

die Hoffnungslosigkeit und Unmöglichkeit des Kampfes für einzelne<br />

Rechte, gerade diese Unverbesserlichkeit der Zarenmonarchie und ihres<br />

ganzen Regimes sind bei den Ereignissen an der Lena so grell in Erscheinung<br />

getreten, daß sie in den Massen das revolutionäre Feuer entzündet<br />

haben.<br />

Wenn sich die Liberalen schier überschlugen und überschlagen in ihrem<br />

Bemühen, den Ereignissen an der Lena und den Maistreiks den Charakter<br />

einer gewerkschaftlichen Bewegung und eines Kampfes für „Rechte" zu<br />

verleihen, so ist doch für jedermann, der durch die Diskussionen der Liberalen<br />

(und der Liquidatoren) nicht geblendet ist, etwas anderes klar. Klar<br />

ist der revolutionäre Charakter des Massenstreiks, der in der Petersburger<br />

Proklamation verschiedener sozialdemokratischer Gruppen (und sogar<br />

einer Sozialrevolutionären Arbeitergruppe!) zum 1. Mai besonders unterstrichen<br />

worden ist, die die von der Gesamtrussischen Konferenz der<br />

SDAPR im Januar 1912 ausgegebenen Losungen wiederholt und die wir<br />

in der Rubrik „Chronik" im vollen Wortlaut abdrucken.<br />

Die wichtigste Bestätigung des revolutionären Charakters der Lena-


94 W.i.tenin<br />

und Maistreiks liegt zudem nicht einmal in den Losungen. Die Losungen<br />

haben das formuliert, was die Tatsachen besagen. Die Tatsache der von<br />

einem Bezirk auf den andern überspringenden Massenstreiks, ihr gewaltiges<br />

Anwachsen, die Schnelligkeit ihrer Verbreitung, die Kühnheit der<br />

Arbeiter, die immer häufiger werdenden Kundgebungen und revolutionären<br />

<strong>Red</strong>en, die Forderung nach Abschaffung der Geldstrafen wegen<br />

Teilnahme an der Maifeier, die uns aus der ersten russischen Revolution<br />

bekannte Kombinierung des politischen und des wirtschaftlichen Streiks -<br />

all das weist augenfällig auf den wahren Charakter der Bewegung hin, auf<br />

den revolutionären Aufschwung der Massen.<br />

Erinnern wir uns der Erfahrungen des Jahres 1905. Die Ereignisse<br />

zeigen uns, daß die Jradition des revolutionären Massenstreiks unter den<br />

Arbeitern lebendig ist und daß die Arbeiter diese Tradition sofort aufgegriffen,<br />

neu belebt haben. Der in der Welt bislang unvergleichliche<br />

Aufschwung der Streikbewegung im Jahre 1905 ergab 810 000 Streikende<br />

im ersten und 1 277 000 im letzten Vierteljahr, wobei der wirtschaftliche<br />

Streik mit dem politischen verbunden war. Die Lenastreiks haben nach<br />

annähernden Berechnungen bis zu 300 000 Arbeiter, die Maistreiks bis<br />

zu 400 000 Arbeiter erfaßt, und die Streiks wachsen und wachsen immer<br />

noch an. Jede Zeitungsnummer - sogar der liberalen Zeitungen - berichtet<br />

darüber, wie die Streikflamme um sich greift. Das zweite Quartal des<br />

Jahres 1912 ist noch nicht ganz abgelaufen, und schon jetzt zeichnet sidi<br />

ganz klar die Tatsache ab, daß der Beginn des revolutionären Aufschwungs<br />

im Jahre 1912 dem Umfang der Streikbewegung nach hinter dem Beginn<br />

des Aufschwungs im Jahre 1905 nicht zurückbleibt, sondern ihn eher übertrifft!<br />

Die russische Revolution hat als erste diese proletarische Methode der<br />

Agitation, der Aufrüttelung, des Zusammenschlusses und der Hineinziehung<br />

der Massen in den Kampf in großem Maßstab entwickelt. Und<br />

jetzt wendet das Proletariat diese Methode von neuem und mit noch<br />

festerer Hand an. Keine Kraft der Welt könnte das zustande bringen, was<br />

mit dieser Methode die revolutionäre Avantgarde des Proletariats zustande<br />

bringt. Das ungeheure Land mit einer Bevölkerung von 150 Millionen,<br />

die über einen gigantischen Raum verstreut, zersplittert, bedrückt,<br />

rechtlos, unwissend ist und von einem Schwärm von Behörden, Polizisten,<br />

Spitzeln vor „schlechten Einflüssen" behütet wird - dieses ganze Land


Der revolutionäre Aufschwung 95<br />

gerät in Gärung. Die rückständigsten Schichten sowohl der Arbeiter als<br />

auch der Bauern kommen direkt und indirekt mit den Streikenden in Berührung.<br />

Hunderttausende von revolutionären Agitatoren treten plötzlich<br />

auf den Plan, deren Einfluß sich dadurch unendlich steigert, daß sie mit<br />

den unteren Schichten, mit der Masse unlösbar verbunden sind und in<br />

ihren Reihen bleiben, daß sie für die dringendsten Bedürfnisse jeder<br />

Arbeiterfamilie kämpfen und mit diesem unmittelbaren Kampf für die<br />

dringenden wirtschaftlichen Bedürfnisse den politischen Protest und den<br />

Kampf gegen die Monarchie verbinden. Denn dank der Konterrevolution<br />

sind Millionen und aber Millionen von brennendem Haß gegen die Monarchie<br />

erfüllt, beginnen sie deren Rolle zu verstehen, und nun dringt die<br />

Losung der fortgeschrittenen Arbeiter der Hauptstädte: Es lebe die demokratische<br />

Republik! unausgesetzt durch Tausende von Kanälen, im Gefolge<br />

jedes Streiks, in die zurückgebliebenen Schichten, in die abgelegene<br />

Provinz, ins „Volk", „in die Tiefe Rußlands".<br />

Außerordentlich charakteristisch ist die Betrachtung des Liberalen<br />

Sewerjanin über den Streik, die von den „Russkije Wedomosti" freundlich<br />

aufgenommen und von der „Retsch" voller Sympathie abgedruckt wurde:<br />

„Haben die Arbeiter irgendeinen Grund, in den Streik zum 1. Mai wirtschaftliche<br />

oder irgendwelche (!) Forderungen hineinzutragen?" fragt Herr<br />

Sewerjanin, und er antwortet: „Ich wage zu glauben, daß es solche nicht gibt.<br />

Jeder wirtschafdiche Streik kann und soll nur nach ernstem Abwägen der Aussichten<br />

begonnen werden... Solche Streiks mit dem Zeitpunkt gerade des<br />

1. Mai zu verbinden, ist darum auch meistens unbegründet... Auch ist es<br />

irgendwie seltsam: Wir feiern den Tag des internationalen Arbeiterfestes, und<br />

bei diesem Anlaß fordern wir einen Zuschlag von 10 Prozent auf Kattun der<br />

und der Sorten."<br />

So argumentiert ein Liberaler! Und diese grenzenlose Banalität, Niedertracht<br />

und Gemeinheit wird von den „besten" liberalen Zeitungen, die auf<br />

die Bezeichnung demokratisch Anspruch erheben, voller Sympathie aufgenommen!<br />

Der gröbste Eigennutz eines Bourgeois, die niederträchtigste Feigheit<br />

eines Konterrevolutionärs - das steckt hinter den effektvollen Phrasen des<br />

Liberalen. Er möchte die Taschen der Unternehmer nicht antasten. Er<br />

möchte eine „manierliche" und „unschädliche" Demonstration für die<br />

„Koalitionsfreiheit"! Das Proletariat aber zieht statt dessen die Massen in<br />

den revolutionären Streik, der Politik und Wirtschaft unlösbar verbindet,


96 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />

in den Streik, der die zurückgebliebensten Schichten durch den Erfolg im<br />

Kampf für die sofortige Verbesserung des Arbeiterlebens anzieht und<br />

gleichzeitig das Volk gegen die Zarenmonardbie aufrüttelt.<br />

Ja, die Erfahrungen des Jahres 1905 haben die tief verwurzelte und<br />

große Tradition der Massenstreiks geschaffen. Und es darf nicht vergessen<br />

werden, wohin diese Streiks in Rußland führen. Hartnäckige<br />

Massenstreiks sind bei uns untrennbar mit dem bewaffneten Aufstand<br />

verbunden.<br />

Man möge diese Worte nicht mißdeuten. Es handelt sich keineswegs<br />

um einen Aufruf zum Aufstand. Ein solcher Aufruf wäre im gegenwärtigen<br />

Moment höchst unvernünftig. Es handelt sich um die Feststellung<br />

des Zusammenhangs zwischen Streik und Aufstand in Rußland.<br />

Wie reifte der Aufstand von 1905 heran? Erstens häuften sich durch<br />

Massenstreiks, Demonstrationen und Kundgebungen die Zusammenstöße<br />

der Menge mit Polizei und Militär. Zweitens ermunterten die Massenstreiks<br />

die Bauernschaft zu einer Reihe einzelner, zersplitterter, halb spontaner<br />

Aufstände. Drittens griffen die Massenstreiks sehr schnell auf Heer<br />

und Flotte über, lösten Zusammenstöße auf wirtschaftlicher Basis<br />

(„Erbsenmeutereien" usw.) und dann Aufstände aus. Viertens begann die<br />

Konterrevolution seihst den Bürgerkrieg mit Pogromen, Mißhandlungen<br />

von Demokraten usw.<br />

Die Revolution von 1905 endete keineswegs deshalb mit einer Niederlage,<br />

weil sie „zu weit" gegangen, weil der Dezemberaufstand „künstlich"<br />

gewesen wäre, wie die liberalen Renegaten usw. glauben. Im Gegenteil,<br />

die Ursache der Niederlage liegt darin, daß der Aufstand nidht weit genug<br />

gegangen ist, daß die Erkenntnis seiner Notwendigkeit in den revolutionären<br />

Klassen nicht weit genug verbreitet war und nicht genügend<br />

festen Fuß gefaßt hatte, daß der Aufstand nicht einmütig, entschlossen,<br />

organisiert, gleichzeitig, offensiv durchgeführt wurde.<br />

Untersuchen wir nunmehr, ob sich gegenwärtig Anzeichen für ein Heranreifen<br />

des Aufstands beobachten lassen. Um nicht der revolutionären<br />

Leidenschaftlichkeit zu erliegen, nehmen wir die Oktobristen als Zeugen.<br />

Dem deutschen Oktobristenbund in Petersburg gehören größtenteils sogenannte<br />

„linke" und „konstitutionelle" Oktobristen an, für die die Kadetten<br />

eine besondere Vorliebe haben und die (im Vergleich zu den anderen<br />

Oktobristen und Kadetten) am ehesten fähig sind, die Ereignisse


Der revolutionäre AujsAnoung 97<br />

„objektiv" zu beobachten, ohne sich das Ziel zu setzen, die Obrigkeit mit<br />

der Revolution zu schrecken.<br />

Das Organ dieser Oktobristen, die „St.-Petersburger Zeitung", schrieb<br />

in der politischen Wochenschau vom 6. (19.) Mai:<br />

„Der Mai ist gekommen. Das pflegt, ganz abgesehen von der Witterung,<br />

für den Residenzler kein angenehmes Ereignis zu sein, da der Mai mit dem<br />

Proletariats-JTest' beginnt. In diesem Jahr, wo noch die Lena-Demonstrationen<br />

den Arbeitern im Blut steckten, war der 1. Mai besonders gefährlich. Es roch<br />

brenzlig in der von allerhand Streik- und Demonstratiorisgerüchten durchschwirrten<br />

Großstadtluft. Auch die treue Polizei geriet in merkliche Bewegung,<br />

veranstaltete Haussuchungen, verhaftete einige Personen und bereitete sich in<br />

Massenaufgeboten zur Verhinderung von Straßenkundgebungen vor. Daß die<br />

Polizei nichts Scharfsinnigeres fand, als die <strong>Red</strong>aktionen der Arbeiterblätter<br />

zu durchwühlen und ihre <strong>Red</strong>akteure zu drangsalieren, spricht nicht für tiefe<br />

Kenntnis der Fäden, an denen die Gliederpuppen-Regimenter der Arbeiterschaft<br />

gezerrt werden/Diese Fäden sind aber vorhanden. Die Disziplin, die<br />

Allgemeinheit des Streiks und vieles andere spricht dafür. Deshalb ist dieser<br />

größte bisher dagewesene Maistreik - es traten 100 000 oder gar 150 000 Arbeiter<br />

großer und kleiner Betriebe in den Ausstand - so unheimlich. Es war nur<br />

eine friedliche Parade - doch die Geschlossenheit dieses Heeres ist beachtenswert.<br />

Das um so mehr, als andere beunruhigende Erscheinungen mit der neuerlichen<br />

Erregung der Arbeiterschaft Hand in Hand gingen: Auf verschiedenen<br />

Schiffen unserer Marine sind Matrosen wegen revolutionärer Umtriebe verhaftet<br />

worden. Nach allem, was an die Öffentlichkeit durchsickert, sieht es<br />

nicht gut aus auf unseren zusammengeschmolzenen Kriegsschiffen ... Audi die<br />

Eisenbahner haben wiederum Sorgen erregt. Freilich ist es nirgends auch nur<br />

zu Streikversuchen gekommen, aber Verhaftungen, darunter eine so aufsehenerregende<br />

wie die des Gehilfen des Chefs der Güterstation an unserer Nikolai-<br />

Bahn, A. A. Uschakow, beweisen, daß es auch hier Gefahren gibt.<br />

Die revolutionären Umtriebe unreifer Arbeitermassen können auf den Ausfall<br />

der nächsten Reichsdumawahl natürlich nur schädlich wirken. Sie sind um<br />

so unmotivierter, als ... der Zar Manuchin ernannt und der Reichsrat die<br />

Arbeiterversicherung angenommen hat."!!<br />

So urteilt ein deutscher Oktobrist. Wir unserseits wollen dazu bemerken,<br />

daß wir, was die Matrosen betrifft, genaue Beridite von Ort und<br />

Stelle erhalten haben, die beweisen, daß das „Nowoje Wremja" die Angelegenheit<br />

übertreibt und aufbauscht. Es ist offensichtlich, daß die<br />

Ochrana provokatorisch „arbeitet". Vorzeitige Aufstandsversuche wären


98<br />

der Gipfel der Unvernunft. Die proletarische Avantgarde muß begreifen,<br />

daß die grundlegenden Voraussetzungen für einen rechtzeitigen - d. h.<br />

siegreichen - bewaffneten Aufstand in Rußland die Unterstützung der<br />

Arbeiterklasse durch die demokratische Bauernschaft und die aktive Beteiligung<br />

der Armee sind.<br />

Massenstreiks haben in revolutionären Epochen ihre eigene objektive<br />

Logik. Sie sprühen nach allen Seiten Hunderttausende und Millionen<br />

Funken - und ringsherum liegt der leicht entzündliche Stoff der aufs<br />

äußerste getriebenen Erbitterung, der unerhörten Hungerqualen, der<br />

schrankenlosen Willkür, der schamlosen und zynischen Verhöhnung des<br />

„Bettlers", des „Mushik", des gemeinen Soldaten. Dazu füge man die bis<br />

aufs äußerste entfesselte antisemitische Pogromhetze der Schwarzhunderter,<br />

die von der Hofkamarilla des stumpfsinnigen und blutgierigen Nikolaus<br />

Romanow insgeheim genährt und dirigiert wird ... „So war es und<br />

so wird es bleiben" 34 , sagte Minister Makarow, und diese prophetischen<br />

Worte kommen über sein Haupt, über das seiner Klasse und seines gutsherrlichen<br />

Zaren!<br />

Der revolutionäre Aufschwung der Massen legt jedem sozialdemokratischen<br />

Arbeiter, jedem ehrlichen Demokraten große und verantwortungsvolle<br />

Pflichten auf. „Allseitige Unterstützung der beginnenden Bewegung<br />

der Massen" (jetzt muß schon gesagt werden: der begonnenen revolutionären<br />

Bewegung der Massen) „und ihre Entwicklung in die Breite auf<br />

dem Boden der voll zu verwirklichenden Losungen der Partei" - so hat die<br />

Gesamtrussische Konferenz der SDAPR diese Pflichten definiert. Die<br />

Losungen der Partei - demokratische Republik, Achtstundentag, Konfiskation<br />

des gesamten Gutsbesitzerlandes - müssen die Losungen der gesamten<br />

Demokratie, die Losungen der T-'olfesrevolution werden.<br />

Um die Bewegung der Massen zu unterstützen und zu erweitern, bedarf<br />

es der Organisation und nochmals der Organisation. Ohne eine illegale<br />

Partei läßt sich diese Arbeit nicht durchführen und hat es gar keinen<br />

Zweck, darüber zu sprechen. Bemüht, den Ansturm der Massen zu unterstützen<br />

und zu verbreitern, muß man zugleich die Erfahrungen des Jahres<br />

1905 sorgfältig berücksichtigen und, bei Klarstellung der Notwendigkeit<br />

und Unvermeidlichkeit des Aufstands, vor vorzeitigen Versuchen dieser<br />

Art warnen und von ihnen zurückhalten. Das Anwachsen der Massenstreiks,<br />

die Einbeziehung anderer Klassen in den Kampf, der Zustand der


Der revolutionäre Aufsdbwunc) 99<br />

Organisationen, die Stimmung der Massen - all das wird von selbst den<br />

Moment zeigen, da sich alle Kräfte im einmütigen, entschlossenen, offensiven,<br />

rückhaltlos kühnen Vorstoß der Revolution gegen die Zarenmonarchie<br />

werden vereinigen müssen.<br />

Ohne siegreiche Revolution wird es in Rußland keine Freiheit geben.<br />

Ohne Sturz der Zarenmonarchie durch den Aufstand des Proletariats<br />

und der Bauernschaft wird es in Raßland keine siegreiche Revolution<br />

geben.<br />

rSozial-T>emokrat' TJr. 27, Naäb dem 7ext des<br />

17. (4.) Juni 1912. .Sozial- Demokrat".


100<br />

DIE LOSUNGEN<br />

DER GESAMTRUSSISCHEN KONFERENZ<br />

DER SDAPR IM JANUAR 1912<br />

UND DIE MAIBEWEGUNG<br />

An anderer Stelle der vorliegenden Nummer findet der Leser den vollen<br />

Text einer Proklamation, die von Petersburger Arbeitern kurz vor der<br />

nun berühmt gewordenen Maikundgebung gedruckt und verbreitet worden<br />

ist. Diese Proklamation verdient, daß man sehr ausführlich auf sie<br />

eingeht, denn sie ist ein sehr wichtiges Dokument in der Geschichte der<br />

Arbeiterbewegung Rußlands und in der Geschichte unserer Partei.<br />

Die Proklamation ist die Widerspiegelung eines gewissen Zustands der<br />

Desorganisation in der sozialdemokratischen Partei in der Hauptstadt,<br />

denn unterschrieben ist der Aufruf nicht vom Petersburger Komitee, sondern<br />

von einzelnen sozialdemokratisdien Gruppen und sogar von einer<br />

Sozialrevolutionären Arbeitergruppe. In den meisten Gegenden Rußlands<br />

steht es um unsere Partei eben so, daß die führenden Komitees und<br />

Zentren einerseits ständig verhaftet werden und anderseits sich ständig<br />

von neuem bilden dank dem Bestehen aller möglichen sozialdemokratischen<br />

Betriebs-, Gewerkschafts-, Unterbezirks- und Bezirksgruppen,<br />

eben jener „Zellen", die stets den Haß der Liberalen und der Liquidatoren<br />

auf sich gezogen haben. Im letzten Heft der Zeitschrift dieser Herren<br />

(„Nasdia Sarja" Nr. 4, 1912) kann der Leser noch einmal wieder<br />

feststellen, wie Herr, W. Lewizki, sich in ohnmächtiger Wut krümmend<br />

und von Schimpfereien überfließend, gegen die „Wiedergeburt der Partei<br />

durch eine künstliche Belebung politisch toter Zellen" geifert.<br />

Besonders typisch, besonders bedeutsam wird die hier betrachtete Proklamation<br />

eben dadurch, daß infolge der Verhaftung des Petersburger<br />

Komitees gerade Zellen auf den Plan treten mußten, die mit Hilfe der<br />

Polizei ihres den Liquidatoren so verhaßten „führenden Zentrums"


Die Losungen der Qesamtrussisdjen Konferenz der SVJPR 101<br />

beraubt waren. Infolge dieses in den Augen eines jeden Revolutionärs<br />

bedauerlichen Umstands ist das selbständige Leben der Zellen zum Vorschein<br />

gekommen. Die Zellen mußten in aller Eile, den wütenden Verfolgungen<br />

durch die Polizei ausgesetzt, die vor dem 1. Mai geradezu aus<br />

dem Häuschen geriet, ihre Kräfte sammeln, die Verbindungen organisieren,<br />

die „Illegalität" wiederherstellen. Die Gruppen, Vertreter usw., die<br />

die Proklamation unterschrieben haben - das alles ist eben die den Liberalen<br />

und Liquidatoren verhaßte Illegalität. Zur selben Zeit, da dieser<br />

selbe liquidatorische Führer, Herr Lewizki, im Namen der „Nascha<br />

Sarja" und des „Shiwoje Delo", natürlich mit Schaum vor dem Mund,<br />

über den „Jllegalitätskult" herfällt (siehe S. 33 des genannten Heftes),<br />

erhalten wir mit der Petersburger Proklamation ein genaues und vollständiges<br />

Dokument, das uns die Existenz dieser Illegalität, ihre Lebenskraft,<br />

den Inhalt ihrer Arbeit und deren Bedeutung vor Augen führt.<br />

Das Petersburger Komitee ist durch die Verhaftungen ausgeschaltet<br />

worden - es wird sich nun zeigen, was denn die illegalen Zellen an sich<br />

darstellen, was sie tun und was sie tun können, welche Ideen sie wirklich in<br />

sich aufgenommen und entwickelt und nicht bloß von der obersten Parteiinstanz<br />

übernommen haben, welche Ideen wirklich die Sympathien der<br />

Arbeiter genießen.<br />

Aus der Proklamation ist zu ersehen, was die Zellen tun: Sie setzen die<br />

Arbeit des zeitweilig (zur Befriedigung all der verschiedenartigen Feinde<br />

der Illegalität) zerstörten Petersburger Komitees fort. Sie fahren fort,<br />

den 1. Mai vorzubereiten. Sie stellen in aller Eile die Verbindungen zwischen<br />

den verschiedenen illegalen sozialdemokratischen Gruppen wieder<br />

her. Sie ziehen auch Sozialrevolutionäre Arbeiter heran, da sie gut die Bedeutung<br />

verstehen, die der proletarischen Vereinigung in der lebendigen<br />

revolutionären Arbeit zukommt. Sie vereinen diese verschiedenen sozialdemokratischen<br />

Gruppen und sogar eine „Gruppe sozialrevolutionärer<br />

Arbeiter" um bestimmte Kampflosungen. Und siehe, hervortritt gerade<br />

der wahre Charakter der Bewegung, die wahre Stimmung des Proletariats,<br />

die wahre "Kraft der SDAPR und ihrer Gesamtrussischen Konferenz vom<br />

"Januar.<br />

Eine hierarchische Instanz, die das Aufstellen eben dieser und nicht<br />

anderer Losungen hätte dekretieren können, ist infolge der Verhaftungen<br />

nicht vorhanden. Die proletarische Masse zu vereinigen, die sozialdemo-


102 W.3.£enin<br />

kratisdien und sogar einen Teil der Sozialrevolutionären Arbeiter zu vereinigen<br />

ist also nur durch Losungen möglich, die in den Massen wirklich<br />

unbestritten sind - nur durch Losungen, die ihre Kraft nicht aus „Dekreten<br />

von oben" (wie sich Demagogen und Liquidatoren ausdrücken)<br />

schöpfen, sondern aus der "Überzeugung der revolutionären Arbeiter<br />

selbst.<br />

Und was hat sich gezeigt?<br />

Es hat sich gezeigt, daß nadh der Zerstörung des Petersburger Komitees,<br />

als keine. Möglichkeit bestand, es unverzüglich wiederherzustellen, als die<br />

eine Gruppe von Arbeitern auf die andere ausschließlich ideologisch und<br />

nicht organisatorisch einwirken konnte, die Losungen der Qesamtrussisdien<br />

Konferenz der SDAPK vom Januar IS 12 angenommen wurden,<br />

der Konferenz, die den geradezu wütenden, wilden Haß der Liberalen,<br />

der Liquidatoren, der Liber, Trotzki und.Co. auf sich gezogen hat!<br />

„Unsere Losungen", schrieben die Petersburger Arbeiter in ihrer Proklamation,<br />

„sollen sein: Konstituierende Versammlung, Achtstundentag,<br />

Konfiskation der Gutsbesitzerländereien." Und weiterhin ertönt in der<br />

Proklamation der Ruf: „Nieder mit der Zarenregierung! Nieder mit der<br />

autokratischen Verfassung des 3. Juni! Es lebe die demokratische Republik!<br />

Es lebe der Sozialismus!"<br />

Wir ersehen aus diesem lehrreichen Dokument, daß alle Losungen, die<br />

die Konferenz der SDAPR aufgestellt hat, vom Petersburger Proletariat<br />

aufgenommen worden sind und den ersten Schritten der neuen russischen<br />

Revolution ihren Stempel aufgedrückt haben. Alle diejenigen, die die<br />

Januarkonferenz verleumden und schmähen, mögen, soweit es ihnen beliebt,<br />

ihr schmutziges Werk fortsetzen. Die Antwort hat ihnen das revolutionäre<br />

Proletariat von Petersburg gegeben. Jene Arbeit, die von der<br />

revolutionären Sozialdemokratie schon lange vor der letzten Konferenz<br />

geleistet worden ist, die das Proletariat aufrief, die Rolle des Führers der<br />

T'olfesrevolution zu übernehmen - sie hat ihre Früchte gezeitigt trotz aller<br />

Verfolgungen durch die Polizei, trotz der Verhaftungswelle vor dem<br />

1. Mai und der Hetzjagd auf Revolutionäre, trotz der Flut von Lügen und<br />

Schmähungen in der liberalen und liquidatorischen Presse.<br />

Hunderttausende Angehörige des Petersburger Proletariats - und nach<br />

ihnen die Arbeiter in allen Teilen Rußlands — sind in den Streik getreten<br />

und haben Straßendemonstrationen veranstaltet nicht als eine der ver-


Die Losungen der Qesamtrussisdben Konferenz der SDAPX. 103<br />

sdbiedenen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft, nicht mit „ihren" nur<br />

gewerkschaftlichen Losungen, sondern als Hegemon, der das Banner der<br />

Revolution erhebt für das ganze Volk, im Namen des ganzen Volkes, um<br />

all die Klassen aufzurütteln und in den Kampf einzubeziehen, die die<br />

Freiheit brauchen, die sie zu erkämpfen vermögen.<br />

Die revolutionäre Bewegung des Proletariats in Rußland hat eine<br />

höhere Stufe erreicht. Begann sie im Jahre 1905 mit Massenstreiks und<br />

der Gaponiade, so beginnt die Bewegung im Jahre 1912, ungeachtet der<br />

Zertrümmerung unserer Parteiorganisationen durch die Polizei, mit<br />

Massenstreiks und der Aufpflanzung des republikanischen Banners 1 Einzelne<br />

„Zellen", voneinander isolierte „Gruppen" von Arbeitern haben<br />

trotz der schwersten und schwierigsten Bedingungen das Ihre getan. Das<br />

Proletariat hat seine „Maikomitees" geschaffen und hat den Kampf aufgenommen<br />

mit einer revolutionären Plattform, würdig der Klasse, der es<br />

bestimmt ist, die Menschheit von der Lohnsklaverei zu befreien.<br />

Die Maibewegung zeigt uns ebenfalls, welche Bedeutung so manche<br />

Worte über die „Vereinigung" haben und wie sich in der lat die Vereinigung<br />

der Arbeiter vollzieht. Der Vertreter der Partei der Sozialrevolutionäre,<br />

Rubanowitsch, schreibt in der Pariser Zeitung Burzews „Buduschtscheje"<br />

35 : „Hervorgehoben werden muß der folgende bemerkenswerte<br />

Zug der diesjährigen Maibewegung: In den vorbereitenden Versammlungen<br />

lehnten es die Petersburger Arbeiter ab, die zwischen den verschiedenen<br />

sozialistischen Gruppen bestehenden Trennungswände anzuerkennen<br />

... die Tendenz zu einem Übereinkommen herrschte vor." Die<br />

von uns abgedruckte Proklamation zeigt klar und deutlich, welche Tatsachen<br />

Anlaß zu einer solchen Schlußfolgerung geben. Es ist das die Tatsache,<br />

daß die sozialdemokratischen Zellen, die ihr leitendes Zentrum<br />

verloren hatten, die Verbindung mit den Gruppen jeder Art wiederherstellten,<br />

daß sie zu diesem Zweck Arbeiter gleich welcher Gesinnungsrichtung<br />

heranzogen und unter ihnen allen ihre Parteilosungen propagierten.<br />

Und diese Parteilosungen wurden, eben weil sie richtig sind, weil<br />

sie den revolutionären Aufgaben des Proletariats entsprechen, weil sie die<br />

Aufgaben der Revolution des ganzen Volkes umfassen, von allen Arbeitern<br />

angenommen.<br />

Die Vereinigung ist zustande gekommen, weil die Januarkonferenz der<br />

SDAPR Schluß gemacht hat mit dem leeren Spiel der Abmachungen der


104 W.I.<strong>Lenin</strong><br />

Auslandsgrüppdien, Schluß mit dem unnützen Umwerben der Liquidatoren<br />

der revolutionären Partei, und zur redhten Zeit mit klaren und präzisen<br />

Kampflosungen hervorgetreten ist. Die Vereinigung des Proletariats<br />

in der revolutionären Aktion wurde erreicht nicht durch Übereinkommen<br />

der proletarischen (sozialdemokratischen) Partei mit der nichtproletarischen<br />

(Sozialrevolutionären) Partei, nicht durch Vereinbarungen mit den<br />

von der sozialdemokratischen Partei abgefallenen Liquidatoren, sondern<br />

durch den Zusammenschluß der in den russischen sozialdemokratischen<br />

Organisationen tätigen Arbeiter und ihre richtige Einschätzung der Aufgaben<br />

des Augenblicks.<br />

Das ist eine gute Lehre für diejenigen, die dem Geschwätz der Liberalen<br />

aus dem „Bund" und der Trotzki aus Wien erliegen und es noch<br />

fertigbringen, an eine „Vereinigung" mit den Liquidatoren zu glauben.<br />

Die berüchtigte „Organisationskommission" Libers, Trotzkis und<br />

der Liquidatoren schrie auf allen Gassen nach der „Vereinigung", konnte<br />

aber in Wirklichkeit keine einzige, den revolutionären Kampf der Arbeiter<br />

tatsächlich vereinigende Losung hervorbringen und hat das auch nicht<br />

getan. Die Liquidatoren stellten ihre Losungen, nichtrevolutionäre Losungen<br />

auf, Losungen der liberalen Arbeiterpolitik — die Bewegung aber ging<br />

an ihnen vorbei. Das ist es, was den trotzkistischen Fabeln von der „Vereinigung"<br />

zugrunde liegt!<br />

Am 23. April (6. Mai) versicherte in Wien Trotzki, der Stein und Bein<br />

schwor, daß er „die Vereinigung anstrebt", und die Konferenz in allen<br />

Tonarten verwünschte, den Gutgläubigen, daß „der Kampf für die Koalitionsfreiheit<br />

die Qrundlage" (!!) der Ereignisse an der Lena und ihres<br />

Widerhalls sei, daß „diese Forderung im Mittelpunkt (!!) der revolutionären<br />

Mobilisierung des Proletariats steht und stehen wird". Es verging<br />

etwa eine Woche, und diese erbärmlichen Phrasen des Nachbeters der<br />

Liquidatoren waren wie Spreu hinweggefegt von den - „Vertretern aller<br />

organisierten Arbeiter St. Petersburgs", von der „Sozialdemokratischen<br />

Gruppe ,Objedinenije' [Einigkeit]", der „Zentralen städtischen sozialdemokratischen<br />

Gruppe", der „Gruppe sozialrevolutionärer Arbeiter",<br />

der „Gruppe sozialdemokratischer Arbeiter" und den „Vertretern der<br />

Maikomitees".<br />

Das sozialdemokratische Proletariat von Petersburg hat verstanden,<br />

daß nicht im Namen eines einzelnen Rechts, und sei es das wesentlichste,


Die Losungen der Qesamtrussisdben Konferenz der SDAPR 105<br />

das wichtigste für die Arbeiterklasse, sondern im Namen der Treiheit des<br />

ganzen Volkes der neue revolutionäre Kampf begonnen werden muß.<br />

Das sozialdemokratische Proletariat von Petersburg hat verstanden,<br />

daß es die Forderungen verallgemeinern muß und sie nicht in einzelne<br />

Teile zerlegen darf - daß die Republik die Koalitionsfreiheit einschließt<br />

und nicht umgekehrt -, daß man ins Zentrum treffen, das öbel an der<br />

Wurzel fassen muß, das ganze System, die ganze Ordnung des zaristischen<br />

Schwarzhunderterrußlands zerstören muß.<br />

Das sozialdemokratische Proletariat von Petersburg hat verstanden,<br />

daß es lächerlich und dumm ist, die Fordernng nach Koalitionsfreiheit an<br />

Nikolaus Romanow, an die Schwarzhunderterduma zu richten; daß es<br />

lächerlich und dumm ist, anzunehmen, die gegenwärtige Staatsordnung<br />

Rußlands, unsere „autokratische Verfassung des 3. Juni" sei mit der<br />

Koalitionsfreiheit zu vereinbaren-, daß in einem Land der allgemeinen und<br />

völligen Rechtlosigkeit, in einem Land, wo schrankenlose Willkür und die<br />

Provokation der Behörden herrschen, in einem Land, wo man nicht einmal<br />

die „Freiheit" hat, den Millionen Hungernden die elementarste Hilfe zu<br />

leisten, daß in einem solchen Land nur liberale Schwätzer und Vertreter<br />

der liberalen Arbeiterpolitik in den „Mittelpunkt der revolutionären Mobilisierung"<br />

die Koalitionsfreiheit stellen können.<br />

Das sozialdemokratische Proletariat von Petersburg hat das verstanden<br />

und hat das republikanische Banner entrollt, es hat die Forderung erhoben<br />

nach dem Achtstundentag und der Konfiskation der Gutsbesitzerländereien<br />

als den einzigen Garantien für einen wirklich demokratischen<br />

Charakter der Revolution.<br />

„Sozial-Demokrat" 7Jr. 27, Tladb dem Jext des<br />

17. (4 J Juni i9l2. „Sozial-Demokrat".<br />

8 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>


106<br />

DIE LIQUIDATOREN<br />

GEGEN DEN REVOLUTIONÄREN MASSENSTREIK<br />

Der Leitartikel der vorliegenden Nummer war schon in die Druckerei<br />

gegeben worden, als wir die Nr. 1 des liquidatorischen „NewsH Golos"<br />

erhielten. Der bekannte Liquidator W. Jeshow von der „Nasdia Sarja"<br />

hat das neue Organ gleich mit einer solchen Perle geschmückt, daß man<br />

nur staunen kann! Ist das etwa nicht gelungen:<br />

„Dadurch" (d. h. durch die Mannigfaltigkeit der Streiks, die sich bald allein<br />

auf den Protest gegen die Geldstrafen beschränkten, die wegen der Teilnahme<br />

an den Maikundgebungen verhängt worden waren, bald zu diesem Protest<br />

wirtschaftliche Forderungen hinzufügten usw.) „wurde in einer beträdidichen<br />

Zahl von Fällen der prinzipielle Charakter des Protestes (man streikte ja wohl<br />

nicht um 25 Kopeken) verwischt (!??!), er wurde kompliziert durch wirtschaftliche<br />

Forderungen<br />

Die eigene Erfahrung hätte den Arbeitern sagen müssen, daß die Komplizierung<br />

ihres Protestes durch wirtschaftliche Forderungen genauso unzweckmäßig<br />

(!!) ist wie auch die Komplizierung (!?) eines gewöhnlichen Streiks<br />

durch prinzipielle Forderungen.<br />

Es gilt, die Stimmung der Arbeitermassen organisatorisch zu fixieren. Es<br />

gilt, die Agitation für die Gewerkschaften zu verstärken, neue Mitglieder für<br />

sie zu werben. Das ist um so notwendiger, als sich heute unter den Arbeitern<br />

nicht wenig Hitzköpfe finden, die sich durch die Massenbewegung hinreißen<br />

lassen und in Versammlungen gegen die Qewerksdoaften auftreten, da diese<br />

nutzlos and unnötig seien.<br />

Wir stehen vor einem Zeitabschnitt wirtschafdicher Streiks" (nur wirtschaftlicher?).<br />

„Es wäre ein nicht wiedergutzumachender Fehler, wenn sie verflochten<br />

würden mit politischen Aktionen der Arbeiter (!!!). Eine solche Vermischung<br />

würde sich sowohl auf den wirtschaftlichen Kampf wie auch auf den politischen<br />

Kampf schädlich (!!??) auswirken."


Die £icfuidatoren gegen den revolutionären Massenstreik 107<br />

Da hat man den ganzen liberalen Herrn Sewerjanin, kopiert von einem<br />

Liquidator! Völliges Unverständnis dafür, daß der revolutionäre Massenstreik<br />

zwangsläufig sowohl den wirtschaftlichen als auch den politischen<br />

Streik in sich vereinigt, Engstirnigkeit, eine ungeheuerliche Verzerrung des<br />

revolutionären Charakters des Aufschwungs und Versuche, ihn mit der<br />

Elle „gewöhnlicher Streiks" zu messen, ein höchst reaktionärer Rat, die<br />

Politik nicht durch die Wirtschaft zu „komplizieren" und sie nicht miteinander<br />

zu „verflechten", ein Struve und Maklakow würdiger Ausfall in der<br />

legalen Presse gegen die revolutionären sozialdemokratischen Arbeiter:<br />

sie sind „Hitzköpfe", sind „gegen die Gewerkschaften"!<br />

Der Liberale kann in dem revolutionären Sozialdemokraten nur einen<br />

Menschen sehen, der „gegen die Gewerkschaften" ist. Aber die Arbeiter<br />

in den Versammlungen waren natürlich nicht „gegen die Gewerkschaften",<br />

sondern gegen die Ersetzung der revolutionären Losungen durch<br />

liberale, womit Herr Jeshow und Co. sich befassen. Nicht die Koalitionsfreiheit<br />

ist unsere Losung, sagten die Arbeiter, nicht allein durch „Gewerkschaften"<br />

und nicht hauptsächlich durch sie kann man unsere Bewegung<br />

„organisatorisch fixieren". Unsere Losung ist die Republik (siehe<br />

den Petersburger Aufruf der Arbeiter), wir bauen die illegale Partei auf,<br />

die den revolutionären Ansturm der Massen gegen die Zarenmonarchie<br />

zu führen vermag. Das war es, was die Arbeiter in den Versammlungen<br />

erklärten.<br />

Die Herren Liber und Trotzki aber wollen den Arbeitern einreden, es<br />

wäre möglich, das sozialdemokratische Proletariat und seine Partei mit<br />

den Liberalen ä la Jeshow, Potressow und Co. zu „vereinigen"!<br />

„Sozial-Demokrat" 2Vr. 27, Nadb dem JexX des<br />

17.C4.)Juni 1912. .Sozial-Demokrat".


108<br />

, VEREINIGER"<br />

Die Liquidatoren „vereinigen sich" aus Leibeskräften. Dieser Tage<br />

fehlte nicht viel, und sie hätten sich mit den Leuten von der PPS 36 „vereinigt",<br />

mit der sogenannten „Lewica", einer der Fraktionen des polnischen<br />

Sozialnationalismus.<br />

Seit mehr als zehn Jahren kämpft die Sozialdemokratie in Polen gegen<br />

den Sozialnationalismus der PPS. So ist es gelungen, eine Reihe nationalistischer<br />

Vorurteile aus den Köpfen eines Teils der PPS (der „Lewica")<br />

auszutreiben. Aber der Kampf dauert an. Die polnischen sozialdemokratischen<br />

Arbeiter sprechen sich gegen die Vereinigung mit der genannten<br />

Fraktion der PPS als Organisation aus, da sie der Meinung sind, daß das<br />

der Sache schaden würde. Einzelne Arbeiter und einzelne Gruppen der<br />

„Lewica" gehen in die Reihen der Sozialdemokratie über, da sie nicht<br />

stehenbleiben wollen bei einer nur halbschlächtigen Revision der Prinzipien<br />

des PPS-Nationalismus. Und ausgerechnet in dieser Zeit sind unsere<br />

Liquidatoren darauf aus, sich mit der PPS-Lewica zu „vereinigen"!<br />

Das ist ganz das gleiche, als wollten die russischen Sozialdemokraten<br />

sich unter Umgehung des „Bund" mit, sagen wir, den sogenannten „Zionistischen<br />

Sozialisten" „vereinigen" oder ohne die Sozialdemokratie Lettlands<br />

mit dem sogenannten „Lettischen Sozialdemokratischen Verband"<br />

(der in Wirklichkeit Sozialrevolutionär ist)<br />

Wir sprechen schon gar nicht von der formalen Seite der Sache. Die<br />

Sozialdemokratie Polens hat auf dem Stockholmer Parteitag mit der<br />

SDAPR ein Übereinkommen geschlossen, wonach in Polen Gruppen gleich<br />

welcher Art nur durch Eintritt in die Organisation der Sozialdemokratie<br />

Polens in die SDAPR gelangen können. Und die Gesamtrussische Kon-


„Vereinter" 109<br />

ferenz der SDAPR vom Dezember 1908 hat es mit großer Stimmenmehrheit<br />

abgelehnt, die Frage der Vereinigung mit der „Lewica" audi nur zu<br />

diskutieren. 37<br />

Es ist völlig klar, daß Trotzki und seine Freunde, die Liquidatoren, die<br />

ständig nach der „Vereinigung" schreien, in Wirklichkeit die Spaltung<br />

eben in Polen vertiefen. Zum Glück für die SDAPR ist diese ganze Liquidatorenkumpanei<br />

mitsamt den ihnen nachtrottenden „Versöhnlern" absolut<br />

außerstande, in der Praxis irgend etwas zu tun - und das auch in<br />

Polen nicht. Andernfalls würde natürlich die Vereinigung der Liquidatoren<br />

mit der PPS zur entschiedensten Spaltung in Polen führen.<br />

Warum haben sich denn die Liquidatoren auf ein offenkundiges Abenteuer<br />

eingelassen? Nun, natürlich nicht, weil es ihnen „gut geht". Mit<br />

irgend jemand müssen sie sich doch vereinigen, irgendeine „Partei" müssen<br />

sie doch schaffen. Da die Sozialdemokraten, die Sozialdemokratie Polens,<br />

nicht mit ihnen gehen, sind sie genötigt, statt der Sozialdemokraten<br />

PPS-Leute zu nehmen, die mit unserer Partei nichts gemein haben. Da in<br />

den rassischen Städten unsere alten Parteiorganisationen nicht mit ihnen<br />

gehen, sind sie genötigt, statt der sozialdemokratischen Zellen sogenannte<br />

„Initiativgruppen" der Liquidatoren zu nehmen, die mit der SDAPR<br />

nichts gemein haben.<br />

„Wem es gut geht, der liebt keine Veränderungen" ... Ist es nicht an<br />

der Zeit, meine Herren Liquidatoren, daß Sie beginnen, sich auch mit den<br />

Sozialrevolutionären (mit den Sozialrevolutionären Eicjuidatoren?) zu vereinigen?<br />

Diese Herren brennen doch wohl auch vor Begierde, sich zu<br />

„vereinigen". Eine schöne „breite" Partei werden Sie dann haben. Selbst<br />

Latin wird zufrieden sein...<br />

Solange sich die Liquidatoren mit „fremden Mächten" „vereinigen",<br />

wird zwischen ihnen und den „Versöhnlern" der Schacher über die Bedingungen<br />

der „Vereinigung" dieses liquidatorisch-versöhnlerischen Lagers<br />

selbst fortgesetzt. Herr W. Lewizld veröffentlicht in der „Nascha Sarja"<br />

einen manifestartigen Artikel, der sich an „alle Strömungen" wendet, die<br />

bereit sind, gegen die jüngste Konferenz der SDAPR anzukämpfen.<br />

Herr Lewizki hat diesen Artikel betitelt: „Für die Vereinigung — gegen<br />

die Spaltung". Nun, ist das nicht ganz wie bei Trotzki? Seitdem die Par-


110 W.J.Cenin<br />

teianhänger den Liquidatoren in allen Sphären der Arbeit eine glänzende<br />

Abfuhr erteilten, haben sich Lewizki und Co. eine sehr „versöhnlerische"<br />

Sprache zu eigen gemacht. Oh, sie sind ganz und gar für die „Einheit".<br />

Sie stellen lediglich folgende vier bescheidene Bedingungen für die „Vereinigung"<br />

:<br />

1. Kampf gegen die Konferenz der SDAPR, die alle Sozialdemokraten<br />

außer einer Handvoll Schwankender vereinigt hat.<br />

2. Schaffung einer „zentralen Initiativgruppe" (hervorgehoben von<br />

Herrn Lewizki, „Mascha Sarja" Nr. 4, S. 31) an Stelle der Partei. (Was<br />

liquidatorische „ Initiativ" gruppen sind, hat Plechanow unlängst in der<br />

Presse klargestellt: siehe seinen „Dnewnik Sozialdemokrata" 38 Nr. 16. Im<br />

Dienst der Liquidatoren verheimlichen sowohl der „Bund" wie auch<br />

Trotzki ihren Lesern die Klarstellung Plechanows. Das wird Ihnen nicht<br />

gelingen, meine Herren!)<br />

3. Keine Belebung der „politisch toten Zellen" (ebenda, S. 33).<br />

4. Anerkennung der Losung „Qegen den 3llegalitätskult" (ebenda,<br />

S. 33).<br />

Das Programm ist entworfen, wenn auch nicht so offen und bestimmt<br />

wie in vergangenen Zeiten, aber doch klar genug. Und Lewizki erklärt<br />

hier sofort allen Trotzkis in aller Ausführlichkeit: Sie haben ja keine<br />

Wahl, meine Herren. Nehmen Sie unsere Bedingungen an, dafür gehen<br />

wir (d. h. Lewizki und Co.) gern auf folgendes ein: Sie (d. h. Trotzki<br />

und seinesgleichen) können „sich zum Trost" sagen, daß nicht Sie den<br />

Liquidatoren entgegengekommen sind, sondern die Liquidatoren Ihnen.<br />

In demselben Heft der „Nascha Sarja" droht Martow frühzeitig der<br />

zukünftigen sozialdemokratischen Fraktion der IV. Duma: Falls sie auch<br />

so antiliquidatorisch sein sollte wie ihre ränkesüchtige Vorgängerin, „würden<br />

Fälle wie der Fall Beloussow 39 schon keine Ausnahme mehr, sondern<br />

die Regel sein", d. h., einfacher gesprochen, die Liquidatoren würden die<br />

Dumafraktion spalten. Wie schrecklich... meine Herren Liquidatoren.<br />

Wenn Sie stark genug wären, so hätten Sie schon längst Ihre eigene liquidatorische<br />

Dumafraktion geschaffen ...<br />

Die Sache der „Vereinigung" liegt in sicheren Händen - da ist nichts<br />

zu sagen ...<br />

Die erbärmliche Komödie der liquidatorisch-trotzkistischen „Vereinigerei"<br />

stößt die anspruchslosesten Menschen ab. Die Vereinigung voll-


„Vereiniger" 111<br />

zieht sich, nur ist das eine Vereinigung nicht mit den Liquidatoren, sondern<br />

gegen sie.<br />

Was die unglaubliche Hochstapelei Trotzkis, Libers („Bund") und der<br />

Liquidatoren mit ihrer berüchtigten „Organisationskommission" angeht,<br />

so glauben wir, daß es genügt, die Leser, die die strittigen Fragen ernsthaft<br />

und durchdacht an Hand von Dokumenten nachprüfen möchten und<br />

nicht gewillt sind, Worten Glauben zu schenken, auf folgende Tatsachen<br />

zti verweisen:<br />

Im Juni 1911 wurde in Paris die Auslandsorganisationskommission gebildet,<br />

nachdem Liber und Igorew die Versammlung der ZK-Mitglieder<br />

verlassen hatten. Die erste Organisation in Rußland, an die sich die Auslandsorganisationskommission<br />

wandte, war Kiew. Sogar Trotzki gibt zu,<br />

daß es über sie keinen Streit geben kann. Im Oktober 1911 wurde unter<br />

Beteiligung Kiews die Russische Organisationskommission geschaffen. Im<br />

Januar 1912 berief diese die Konferenz der SDAPR ein.<br />

Im Januar 1912 tagte eine Beratung des „Bund", des lettischen Zentralkomitees<br />

und des Kaukasischen Gebietskomitees (alle drei Gruppen sind<br />

liquidatorische Gruppen). Die Polen treten sofort zurück, nachdem sie das<br />

ganze Vorhaben für liquidatorisch erklärt haben. Dann wird von den<br />

„Versöhnlern" und von Plechanow, der in Nr. 16 des „Dnewnik Sozialdemokrata"<br />

erklärte, diese Konferenz werde von den Liquidatoren einberufen,<br />

der Beitritt abgelehnt. Heute haben wir Juni 1912, und sowohl<br />

der „Bund" wie Trotzki haben außer den „Golos"-Leuten und den „Wperjod"-Leuten<br />

niemanden „vereinigt", haben keine einzige ernsthafte und<br />

unbestrittene Organisation in Rußland für sich gewonnen, haben Plechanow<br />

kein sachliches Wort erwidert, haben die Propaganda der Liquidatoren<br />

in der „Nascha Sarja" und ähnlichen Organen nicht um ein Jota<br />

geändert!<br />

Der Phrasen aber und der Großspurigkeit betreffs der „Vereinigung"<br />

ist kein Ende.<br />

„SoziaVDemokrat" ?Jr. 27, • TJadj dem Jext des<br />

1 7. M ")uni 1912. „ Sozial-T)emokrat".


112<br />

ÜBER DEN CHARAKTER<br />

UND DIE BEDEUTUNG UNSERER POLEMIK<br />

MIT DEN LIBERALEN<br />

Der bekannte Vertreter des Revisionismus und der liberalen Arbeiterpolitik,<br />

Herr Prokopowitsch, hat in den „Russkije Wedomosti" einen<br />

Artikel „Eine drohende Gefahr" veröffentHdit. Die Gefahr besteht nach<br />

der Meinung dieses Politikers darin, daß die Wahlen zur IV. Reidisduma<br />

von den Kreispolizeichefs gemacht werden könnten. Das Mittel zur Bekämpfung<br />

der Gefahr sei „die Vereinigung aller konstitutionellen Elemente<br />

des Landes", d. h. sowohl der Sozialdemokraten und Trudowiki als<br />

auch der Kadetten und Progressisten.<br />

Die reditskadettischen „Russkije Wedomosti" erklären in einer besonderen<br />

redaktionellen Bemerkung ihre Befriedigung" über den Artikel<br />

des Herrn Prokopowitsch. „In einer solchen Vereinigung der oppositionellen<br />

Kräfte", schreibt die Zeitung, „sehen wir augenblicklich das dringendste<br />

Erfordernis der Stunde."<br />

Die offiziell-kadettische „Retsch", die den Inhalt des Artikels des Herrn<br />

Prokopowitsch und das Urteil der „Russkije Wedomosti" wiedergibt, bemerkt<br />

ihrerseits:<br />

„Liest man jedoch die Organe sozialdemokratischer Richtung, die ihre ganzen<br />

Anstrengungen vor allem auf den Kampf gegen die Opposition richten, so<br />

kann man diesem Appell (d.h. dem ,Vereinigungs'appell) schwerlich irgendeine<br />

reale Bedeutung beimessen."<br />

Immer wieder erhebt sich somit die wichtige Frage nach der Wahltaktik<br />

und nach dem Verhältnis der Arbeiter zu den Liberalen. Immer<br />

wieder muß man sich davon überzeugen, daß die Liberalen an diese Frage<br />

nicnt wie ernste Politiker herangehen, sondern wie Heiratsvermittlerinnen.<br />

Nicht Klärung der Wahrheit, sondern ihre Verdunkelung ist ihr Ziel.


Tiber den Charakter und die Bedeutung unserer Polemik 113<br />

In der Tat, man denke sich in folgende Situation hinein. Verstehen die<br />

Liberalen unter „Vereinigung" die Verschmelzung der Parteien? Keineswegs.<br />

Sowohl Herr Prokopowitsch wie die „Russkije Wedomosti" und die<br />

„Retsch" erklären wie aus einem Munde, daß das nicht der Fall sei.<br />

Also versteht man unter Vereinigung das Zusammenwirken gegen die<br />

Rechten - von Purischkewitsch bis Gutschkow?? Anscheinend ja!<br />

Es fragt sich, lehnt irgend jemand der „Linken" ein solches Zusammenwirken<br />

ab?<br />

Niemand lehnt es ab, das ist allbekannt.<br />

Ein Abkommen mit den Liberalen über eine Stimmabgabe gegen die<br />

Rechten, das eben ist eine „Vereinigung" der Demokraten und der Liberalen<br />

bei den Wahlen. Womit sind denn nun die Liberalen unzufrieden?<br />

Warum verschweigen sie, daß die „Linken" mit aller Bestimmtheit, in<br />

aller Eindeutigkeit Abkommen anerkannt haben? Warum schweigen sie<br />

sich schamhaft darüber aus, daß gerade die Liberalen nidbts Klares, Bestimmtes,<br />

Eindeutiges, Formelles über Abkommen mit den Linken, mit<br />

den Demokraten, mit den Marxisten gesagt haben? Warum sagen sie,<br />

wenn sie über die Wahltaktik sprechen, kein Wort über den bekannten<br />

Beschluß der Konferenz der Kadetten, die Blocks mit den „linken Oktobristen"<br />

für zulässig erklärt hat?<br />

Die Tatsachen liegen auf der Hand, meine Herren, und keinerlei Ausflüchte<br />

werden da helfen. Gerade die Linken, gerade die Marxisten haben<br />

sich klar, eindeutig und in aller Form für ein Abkommen mit den Liberalen<br />

(den Kadetten einschließlich der Progressisten) gegen die Rechten<br />

ausgesprochen. Einer wirklich eindeutigen und formellen Antwort im<br />

Hinblick auf die Linken ausgewichen sind gerade die Kadetten!<br />

Herr Prokopowitsch kennt diese Tatsachen sehr gut, und darum ist es<br />

völlig unverzeihlich, daß er so die Wahrheit entstellt, d. h., den eindeutigen<br />

Beschluß der Marxisten und das Ausweichen der Kadetten verschweigt.<br />

Was ist der Grund für dieses Verschweigen? Das zeigen klar die angeführten<br />

Worte der „Retsch", wonach wir angeblich unsere „ganzen Anstrengungen<br />

vor allem auf den Kampf gegen die Opposition richten".<br />

Die Phrase der „Retsch" ist so formuliert, daß sich aus ihr unvermeidlich<br />

ergibt: Wollen sich die Demokraten mit den Liberalen vereinigen,<br />

dann dürfen sie nicht „alle Anstrengungen" auf den Kampf gegen die<br />

Opposition „richten". Sagt das doch klar heraus, ihr Herren! Stellt eure


114 W. 1. Lettin<br />

Bedingungen eindeutig, in aller Form! Das ist ja gerade euer Pech, daß ihr<br />

das nidbt tun könnt. Alle Welt würde lachen, wenn ihr den Versuch unternähmet,<br />

eine solche Bedingung zu formulieren. Ihr würdet, wenn ihr eine<br />

solche Bedingung aufstellt, euch selbst widerlegen, denn ihr alle habt einstimmig<br />

die „bedeutenden Meinungsverschiedenheiten" zwischen den<br />

Liberalen und den Demokraten (von den Marxisten schon ganz zu schweigen)<br />

zugegeben.<br />

Gibt es aber einmal Meinungsverschiedenheiten, sind sie nun einmal<br />

bedeutend, wie kann man dann den Kampf vermeiden?<br />

Die Heuchelei des Liberalismus besteht eben darin, daß er einerseits die<br />

Verschmelzung verwirft, die bedeutenden Meinungsverschiedenheiten zugibt,<br />

die Unmöglichkeit „eines Verzichts der Parteien auf die Grundsätze<br />

ihres Programms" („Russkije Wedomosti") betont, anderseits aber sich<br />

über den „Kampf gegen die Opposition" beschwert!!<br />

Aber betrachten wir die Sache etwas näher. Erstens, stimmt es denn,<br />

daß die Zeitungen und Zeitschriften, von denen die „Retsch" spricht, ihre<br />

ganzen Anstrengungen vor allem auf den Kampf gegen die Opposition<br />

richten? Nein, das stimmt ganz und gar nicht. Keine, nicht eine einzige<br />

Frage können die Liberalen vorbringen, in der die Demokraten nicht ihre<br />

ganzen Anstrengungen vor allem auf den Kampf gegen die Rechten richteten<br />

!! Wer diese Worte nachprüfen will, der mag ein Experiment machen.<br />

Man nehme, sagen wir, drei beliebige aufeinanderfolgende Nummern<br />

einer beliebigen Zeitung der Marxisten. Man nehme als Stichprobe drei<br />

politische Fragen und vergleiche an Hand der dokumentarischen Angaben,<br />

gegen wen in den gewählten Fragen in den gewählten Zeitungsnummern<br />

der Kampf der Marxisten vor allem „gerichtet" ist!<br />

Ihr werdet dieses einfache und jedem mögliche Experiment nicht machen,<br />

ihr Herren Liberalen, denn jedes derartige Experiment wird zeigen, daß<br />

ihr unrecht habt.<br />

Mehr noch. Eine zweite und besonders wichtige Erwägung spricht noch<br />

überzeugender gegen euch. Wie führen die Demokraten im allgemeinen<br />

und die Marxisten im besonderen ihren Kampf gegen die Liberalen? Sie<br />

führen ihn so und nur so, daß jeder, entschieden und unbedingt jeder Vorwurf<br />

oder jede Anklage an die Adresse der Liberalen einen noch entschiedeneren<br />

Vorwurf, eine nodh schwerere Anklage gegen die Rechten in sich<br />

schließt.


Tiber den Charakter und die Bedeutung unserer Polemik 115<br />

Darum eben geht es, das eben ist der Kern der Sache! Einige Beispiele<br />

werden unseren Gedanken anschaulich erläutern.<br />

Wir bezichtigen die Liberalen, die Kadetten, der konterrevolutionären<br />

Gesinnung. Man zeige uns auch nur eine von uns ausgesprochene Beschuldigung<br />

dieser Art, die nicht noch stärker die Rechten träfe.<br />

Wir bezichtigen die Liberalen des „Nationalismus", des „Imperialismus".<br />

Man zeige uns auch nur eine von uns ausgesprochene Beschuldigung<br />

dieser Art, die sich nicht noch stärker gegen die Rechten richtete.<br />

Wir haben den Liberalen den Vorwurf gemacht, sie fürchteten die Bewegung<br />

der Massen. Nun, und? Vermag man in unseren Zeitungen eine<br />

Formulierung dieses Vorwurfs zu finden, die nicht auch gegen die Rechten<br />

gerichtet wäre?<br />

Wir haben den Liberalen den Vorwurf gemacht, sie verteidigten „gewisse"<br />

mittelalterliche Einrichtungen, die geeignet seien, sich gegen die<br />

Arbeiter „auszuwirken". Die Liberalen dessen bezichtigen heißt, eben<br />

damit alle Rechten dessen und noch anderer Dinge mehr zu bezichtigen.<br />

Die Zahl dieser Beispiele läßt sich beliebig vergrößern. Immer und überall,<br />

ohne jede Ausnahme, wird man finden, daß die Arbeiterdemokratie<br />

den Liberalen ausschließlich ihre Verwandtschaft mit den Rechten, die<br />

Unentschlossenheit und die Tiktivität ihres Kampfes gegen die Rechten,<br />

ihre Halbheit zum Vorwurf macht, womit sie eben die Rechten nicht nur<br />

der „halben Schuld", sondern der ganzen bezichtigt.<br />

„Der Kampf gegen die Liberalen", den die Demokraten und Marxisten<br />

führen, geht mehr in die Tiefe, ist konsequenter, inhaltsreicher, klärt die<br />

Massen besser auf und schmiedet sie fester zusammen als der Kampf<br />

gegen die Rechten. So steht die Sache, ihr Herren!<br />

Und um in dieser Hinsicht keinerlei Zweifel zu lassen, um einer absurden<br />

Entstellung des Sinns und der Bedeutung unseres Kampfes gegen<br />

die Liberalen vorzubeugen, um z. B. der absurden Theorie vorzubeugen<br />

von der „einen reaktionären Masse" (d. h. dem Vermengen von Liberalen<br />

und Rechten in dem einen politischen Begriff reaktionärer Block, reaktionäre<br />

Masse), sprechen wir in unseren offiziellen Erklärungen vom Kampf<br />

gegen die Rechten stets in andrer Weise als vom Kampf gegen die Liberalen.<br />

Herr Prokopowitsch, wie auch jeder gebildete Liberale, weiß das sehr<br />

gut. Er weiß, daß z. B. in unserer Definition der sozialen Natur, der


116 "W. 3. <strong>Lenin</strong><br />

Klassennatur der verschiedenen Parteien stets das Mittelalterliche bei den<br />

Rechten, das Bürgerliche bei den Liberalen betont wird. Das sind „zwei<br />

ganz verschiedene Dinge". Das Mittelalterliche kann (und muß) vernichtet<br />

werden, selbst wenn man in den Grenzen des Kapitalismus bleibt. Das<br />

Bürgerliche kann in diesen Grenzen nicht vernichtet werden, aber man<br />

kann (und muß) gegen den bürgerlichen Gutsbesitzer an den bürgerlichen<br />

Bauern, gegen den bürgerlichen Liberalen an den bürgerlichen Demokraten,<br />

gegen die bürgerliche Halbfreiheit an die bürgerliche ganze Freiheit<br />

„appellieren". Eben in solchen Appellationen, nur in solchen Appellationen<br />

besteht unsere Kritik am Liberalismus in dem Zeitpunkt, den<br />

Rußland durchlebt, d. h. jene Kritik, die wir vom Standpunkt der nächsten<br />

und aktuellen Aufgaben dieses Zeitpunkts üben.<br />

Man nehme z. B. folgende Phrase des Herrn Prokopowitsch: „Die<br />

Schaffung von gesunden Voraussetzungen für das politische Leben der<br />

Volksmassen, das eben ist das nächste Ziel, das in der Gegenwart sowohl<br />

die Linken als auch die Opposition vereinigt."<br />

Es gibt nichts Inhaltsloseres, Leereres, Trügerischeres als diese Phrase.<br />

Unter diese Phrase setzt auch der Oktobrist und der raffinierte „Nationalist"<br />

seine Unterschrift, denn irgend etwas Klares folgt aus ihr nicht.<br />

Das ist ein einfaches Versprechen, eine bloße Deklamation, ein diplomatisches<br />

Verbergen der wahren Gedanken. Aber wenn Herrn Prokopowitsch,<br />

wie auch vielen anderen Liberalen, die Sprache gegeben ist, um die<br />

wahren Gedanken zu verbergen, so werden wir versuchen, unsere Pflicht<br />

zu erfüllen: das aufzudecken, was hier verborgen wird. Nehmen wir vorsichtshalber<br />

ein etwas bescheideneres, kleineres Beispiel.<br />

Ist das Zweikammersystem eine gesunde Voraussetzung für das politische<br />

Leben? Wir glauben - nein. Die Progressisten und Kadetten glauben<br />

- ja. Wegen solcher Anschauungen bezichtigen wir die Liberalen des<br />

Antidemokratismus, der konterrevolutionären Gesinnung. Und wenn wir<br />

solch eine Bezichtigung gegen die Liberalen aussprechen, dann bezichtigen<br />

wir eben damit in noch höherem Maße alle Rechten.<br />

Es fragt sich weiterhin, wie verhält es sich hier mit der „Vereinigung<br />

der Linken und der Opposition"? Lehnen wir wegen dieser Meinungsverschiedenheit<br />

eine Vereinigung mit den Liberalen gegen die Rechten<br />

ab? Nein, wir lehnen sie keineswegs ab. Die konterrevolutionären Ansichten<br />

der Liberalen in dieser Frage wie in allen analogen, weitaus widb-


Tiber den Charakter und die 'Bedeutung unserer Polemik 117<br />

tigeren Fragen der politischen Freiheit sind uns seit langem, seit 1905,<br />

wenn nicht früher, bekannt, aber nichtsdestoweniger wiederholen wir auch<br />

im Jahre 1912: Sowohl beim zweiten Wahlgang wie im zweiten Stadium<br />

der Wahlen sind Abkommen mit den Liberalen gegen die Rechten zulässig.<br />

Denn der bürgerliche monarchistische Liberalismus ist bei all seiner<br />

Halbheit ganz und gar nicht dasselbe wie die feudale Reaktion. Diesen<br />

Unterschied nicht ausnutzen wäre eine ganz schlechte Arbeiterpolitik.<br />

Aber gehen wir weiter. Wie soll er ausgenutzt werden? Unter weldben<br />

Bedingungen ist eine „Vereinigung der Linken und der Opposition" möglich?<br />

Der Liberale antwortet auf diese Frage: Von einer Vereinigung kann<br />

keine <strong>Red</strong>e sein, wenn die Linken unentwegt die Opposition bekämpfen.<br />

Und der Liberale erläutert seinen Gedanken so: Je bescheidener die Forderung,<br />

desto weiter der Kreis derer, die damit einverstanden sind, desto<br />

vollständiger die Vereinigung, desto größer die Kraft, die diese Forderung<br />

zu verwirklichen vermag; für eine „leidliche" Konstitution mit einem<br />

Zweikammersystem (und mit anderen wie drückt man das möglichst<br />

milde aus?... kleinen Abweichungen vom Demokratismus) werden sowohl<br />

alle Demokraten als auch alle Liberalen sein; das ist sehr viel; wenn<br />

man sich aber auf den „reinen" Demokratismus versteift, dann werden<br />

die Progressisten abfallen, auch viele Kadetten werden „abgestoßen", und<br />

das Resultat ist eine Zersplitterung und Entmachtung der „konstitutionellen<br />

Elemente". #<br />

So urteilt der Liberale- Wir aber urteilen anders. Ohne Bewußtheit der<br />

Massen kann es keine Wendung zum Besseren geben. Das ist unsere<br />

grundlegende These. Der Liberale schaut nach oben, wir jedoch schauen<br />

nach „unten". Verzichten wir darauf, die Schädlichkeit des Zweikammersystems<br />

klarzustellen, oder schwächen wir den „Kampf" gegen alle und<br />

jede antidemokratischen Ansichten in dieser Frage auch nur um ein Jota<br />

ab, so „gewinnen" wir für uns den liberalen Gutsbesitzer, Kaufmann,<br />

Advokaten, Professor — sie alle sind leibliche Brüder Purischkewitschs, und<br />

irgend etwas Ernstes gegen die Purischkewitsch können sie nicht ausrichten.<br />

Indem wir sie „gewinnen", stoßen wir die Massen ab - sowohl in dem<br />

Sinne, daß die Massen, für die der Demokratismus kein diplomatisches<br />

Aushängeschild, keine Paradephrase, sondern eine dringliche, ureigene<br />

Angelegenheit, eine Frage von Tod und Leben ist, daß diese Massen das<br />

Vertrauen zu den Anhängern des Zweikammersystems verlieren, als auch


1<strong>18</strong> W.1. <strong>Lenin</strong><br />

in dem Sinne, daß eine Abschwächung der Angriffe auf das Zweikammersystem<br />

ein Zeichen ist für eine unzureichende Bewußtheit der Massen;<br />

sind aber die Massen unaufgeklärt, energielos und unentschlossen, dann<br />

sind überhaupt keine Veränderungen zum Besseren möglich.<br />

Durch eure Polemik gegen die Liberalen entzweit ihr die Linken und<br />

die Opposition, erklären uns die Kadetten und die Herren Prokopowitsch.<br />

Wir antworten, daß der konsequente Demokratismus die schwankendsten,<br />

unzuverlässigsten, den Purischkewitsch gegenüber duldsamsten Liberalen<br />

abstößt; ihrer ist eine Handvoll; aber er gewinnt die Millionen, die heute<br />

zu einem neuen Leben erwachen, zu einem „gesunden politischen Leben",<br />

wobei wir unter diesem Wort bei weitem nicht das, ganz und gar nicht<br />

das verstehen, was Herr Prokopowitsch darunter versteht.<br />

Anstatt des Zweikammersystems hätte man als Beispiel auch die Zusammensetzung<br />

der Flurbereinigungskommissionen nehmen können:<br />

Soll man ein Drittel des Einflusses den Gutsbesitzern, das zweite den<br />

Bauern, das dritte den Beamten einräumen, wie es die Kadetten vorschlagen,<br />

oder sollen die Wahlen ganz und gar frei sein bei einem völlig demokratischen<br />

Wahlrecht? Was nun ist im Hinblick auf diesen Punkt unter<br />

den „gesunden Voraussetzungen für das politische Leben der Volksmassen"<br />

zu verstehen, Herr Prokopowitsch? Wen stoßen wir ab und wen<br />

gewinnen wir durch einen konsequenten Demokratismus in dieser Frage?<br />

Und mögen uns die „Russkije Wedomosti" nicht erwidern, daß „gegenwärtig<br />

gegenüber allen anderen Punkten der Programme ein allen progressiven<br />

Parteien gemeinsamer Punkt dominiert, der Punkt, der die Verwirklichung<br />

der politischen Freiheit fordert". Gerade eben weil dieser<br />

Punkt dominiert - das ist absolut unbestreitbar, das ist die heilige Wahrheit<br />

-, ist es notwendig, daß die breitesten Massen, die Millionen und aber<br />

Millionen die halbe Freiheit von der ganzen Freiheit unterscheiden und<br />

den unlösbaren Zusammenhang des politischen Demokratismus mit dem<br />

Demokratismus der Agrarumgestaltungen begreifen.<br />

Wenn die Massen nicht interessiert, bewußt, aktiv, tätig, entschlossen,<br />

selbständig sind, kann auf dem einen wie auf dem anderen Gebiet absolut<br />

nichts getan werden.<br />

.Tlewskaja Swesda" SVr. 12, Nadh dem Jext der<br />

10. Juni 1912. n7Jewskaja Swesda".<br />

lAntersdbrift:W.1.


KAPITALISMUS UND „PARLAMENT"<br />

119<br />

Die Wahrheiten des Demokratismus dürfen uns nicht einen Umstand<br />

übersehen lassen, der von bürgerlichen Demokraten häufig aus dem Auge<br />

gelassen wird: daß die Vertretungskörperschaften in kapitalistischen Ländern<br />

unvermeidlich eigentümliche Formen der Beeinflussung der Staatsmacht<br />

durch das Kapital erzeugen. Ein Parlament gibt es bei uns nicht -<br />

aber parlamentarischen Kretinismus unter den Liberalen, parlamentarisdbe<br />

Korruption unter allen bürgerlichen Abgeordneten gibt es bei uns soviel<br />

man will.<br />

Diese Wahrheit müssen sich die Arbeiter gründlich zu eigen machen,<br />

wenn sie lernen wollen, die Vertretungskörperschaften für die Entwicklung<br />

des Bewußtseins, der Geschlossenheit, der Wirksamkeit und Aktivität<br />

der Arbeiterklasse auszunutzen. Alle dem Proletariat feindlichen sozialen<br />

Kräfte - die „Bürokratie", der Grundbesitz, das Kapital - nutzen diese<br />

Vertretungskörperschaften schon gegen die Arbeiter aus. Man muß wissen,<br />

wie sie das machen, um zu lernen, die selbständigen Interessen der Arbeiterklasse<br />

und ihre selbständige Entwicklung zu verfechten.<br />

Die III. Duma hat einen Beschluß gefaßt, den einheimischen Maschinenbauern<br />

Prämien auszuzahlen. Welchen einheimischen? - Den in Rußland<br />

„arbeitenden"!<br />

Sieht man nun genauer zu - dann zeigt sich, daß gerade ausländische<br />

Kapitalisten ihre Betriebe nach Rußland verlegt haben. Die Zölle sind<br />

hoch, die Profite unermeßlich, da übersiedelt das ausländische Kapital<br />

eben nach Rußland selbst. Ein amerikanischer Trust - ein Kapitalistenverband<br />

von Millionären - hat z. B. in der Nähe von Moskau, in Ljuberzy,<br />

eine gewaltige Fabrik für landwirtschaftliche Maschinen errichtet. Und in


120 W. J. <strong>Lenin</strong><br />

Charkow baut der Kapitalist Mehlhose und in Berdjansk der Kapitalist<br />

John Greaves landwirtschaftliche Maschinen. Nicht wahr, wieviel „echt<br />

Russisches", „Einheimisches" steckt in diesen Unternehmern?<br />

Aber selbstverständlich könnten sie ohne die allseitige Hilfe der russischen<br />

Kapitalisten überhaupt nidht in Rußland tätig sein. Eine Hand<br />

wäscht die andere. Die amerikanischen, englischen, deutschen Kapitalisten<br />

scheffeln Profit mit Hilfe der russischen Kapitalisten, für die ein sehr guter<br />

Teil abfällt. Man nehme z. B. die Goldfelder an der Lena oder die Bergbau-<br />

und Hüttenbetriebe im Ural. Wieviel Millionen haben hier die ausländischen<br />

und die russischen Kapitalisten miteinander geteilt!<br />

Eine Duma ist da sehr nützlich für die Herren Industriellen. Die Kapitalisten<br />

haben in der Duma wie im Reichsrat eine gehörige Zahl ihrer Vertreter,<br />

und zudem ist ja auch der Gutsbesitzer in unseren Tagen ohne<br />

Kapital ein Nichts. Die Kapitalisten wie die Gutsbesitzer haben in Gestalt<br />

der Duma einen fertigen Apparat zur Durchbringung von Gesetzen<br />

über „Prämien" (für sidh selbst), über Schutzzölle (d. h. eine andere Form<br />

von Prämien für sich selbst), über Konzessionen (eine dritte Form von<br />

Prämien für sich selbst) und so weiter ohne Ende.<br />

Ein liberaler „Skeptiker" schrieb darüber in der liberalen „Retsch" gar<br />

nicht übel. So voller Gefühl schrieb er gegen die „Nationalisten" (die sich<br />

selber „Prämien" gewährten als Ansporn für den „einheimischen" Maschinenbau<br />

der Herren Greaves, Mehlhose, Ellworthy und anderer Gesellschaften),<br />

daß auch ich etwas vom Skeptizismus angesteckt wurde.<br />

Ja, die „Nationalisten" entlarvt der Herr liberale „Skeptiker" nicht<br />

übel. Aber warum schweigt er von den Kadetten? Als z. B. Golowin Konzessionen<br />

erwarb, hat ihm da etwa nicht seine Stellung als Dumaabgeordneter<br />

und ehemaliger Dumapräsident bei dieser nützlichen und einträglichen<br />

Beschäftigung geholfen?<br />

Als Maklakow die „Tagijew"-Honorare einheimste, hat es ihm da etwa<br />

nicht seine Stellung als Dumaabgeordneter erleichtert, so „vorteilhafte"<br />

Geschäfte machen zu können?<br />

Und wieviel kadettische Gutsbesitzer, Kaufleute, Kapitalisten, Finanziers,<br />

Advokaten, Geschäftemacher haben noch ihre Transaktionen ausgedehnt,<br />

ihre „Verbindungen" gefestigt, ihre „Geschäfte" abgeschlossen<br />

unter Ausnutzung ihres Abgeordnetenmandats und der Vorteile, der Annehmlichkeiten,<br />

die dieses Mandat gewährt?


Kapitalismus und „Parlament" 121<br />

Wie wäre es, wenn man eine Enquete durchführte über die Finanzoperationen<br />

von Dumaabgeordneten und unter Beteiligung von Dumaabgeordneten?<br />

In allen kapitalistischen Ländern aber sind Maßnahmen getroffen, die<br />

gewährleisten, daß das „Geschäftsgeheimnis" gewahrt bleibt, daß kein<br />

„Parlament" eine solche Enquete zuläßt.<br />

Den Arbeiterdeputierten ist jedoch zweifellos vieles, was diese Frage<br />

betrifft, bekannt, und wenn man sich bemüht, sich dafür einsetzt, Auskünfte<br />

sammelt, Material zusammenträgt, in den Zeitungen sucht, auf der<br />

Börse Erkundigungen einzieht usw., kann man auch selber eine sehr aufschlußreiche<br />

und sehr nützliche „Enquete" über die ges&äftUdben Transaktionen<br />

von Dumaabgeordneten und unter Beteiligung von Dumaabgeordneten<br />

durchführen.<br />

In den europäischen Parlamenten sind diese Transaktionen allgemein<br />

bekannt, und die Arbeiter enthüllen sie ständig unter Namhaftmachung<br />

der Geschäftemacher - zur Belehrung des Volkes.<br />

„Newskaja Swesda" 3Vr. 13, SVacfe dem Text der<br />

17. Juni 19i2. „TJewskaja Swesda".<br />

lAntersdbrift: Ein nicbt-<br />

Uberaler Skeptiker.<br />

9 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>


122<br />

DIE WAHLEN UND DIE OPPOSITION<br />

Die Marxisten haben ihre prinzipielle Stellung zu den Wahlen schon<br />

längst festgelegt. Die rechten Parteien, von Purischkewitsch bis Gutschkow,<br />

die liberal-monarchistische Bourgeoisie (die Kadetten und die Progressisten)<br />

und die Demokratie (die Arbeiterdemokratie und die bürgerliche,<br />

d. h. die Trudowiki) - das sind die drei Haupdager, die sich im Wahlkampf<br />

gegenüberstehen. Der Unterschied zwischen ihnen ist grundlegend:<br />

Sie vertreten verschiedene Klassen, sie unterscheiden sich durch ihr ganzes<br />

Programm und ihre ganze Taktik. Nur wenn man die prinzipielle Basis<br />

der Politik eines jeden dieser Lager klar erfaßt hat, kann man für die<br />

Wahlkampagne die richtigen praktischen Schlüsse ziehen.<br />

Seit die Marxisten, vor einem halben Jahr etwa, diese Thesen definitiv<br />

aufgestellt haben*, wird ihre Richtigkeit besonders anschaulich durch das<br />

Auftreten der liberalen Opposition bestätigt. Unsere „Nachbarn und<br />

Feinde von rechts", die keineswegs unsere Auffassungen teilen, lieferten<br />

uns mit lobenswertem Eifer die beste Bestätigung ihrer Richtigkeit. Man<br />

kann es zum Qesetz erheben: die Entwicklung der politischen Aktivität<br />

und der politischen Auffassungen eines Kadetten bekräftigt vorzüglich die<br />

Auffassungen der Marxisten. Anders ausgedrückt: macht ein Kadett den<br />

Mund auf, seien Sie überzeugt, er wird nicht schlechter als mancher Marxist<br />

die Auffassung der liberalen Arbeiterpolitiker widerlegen.<br />

Aus diesem Grunde übrigens ist es für die Arbeiter von doppeltem<br />

Nutzen, die Kadettenpolitik aufmerksam zu verfolgen: erstens erkennt<br />

man dadurch ausgezeichnet den liberalen Bourgeois, und zweitens lernt<br />

man, die Fehler mancher Anhänger der Arbeiterklasse deutlicher zu sehen.<br />

* Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 17, S. 357-361. Die <strong>Red</strong>.


Die Wahlen und die Opposition 123<br />

Von diesem doppelten Nutzen dürfte sicherlich die kürzliche Stellungnahme<br />

der „Retsdb" zu den in den „Russkije Wedomosti" abgegebenen<br />

wichtigen Wahlerklärungen sein. Es sind das die Erklärungen Herrn Akimows<br />

(Wl. Machnowez),-eines alten „Ökonomisten", d. h. Opportunisten<br />

der Zeit von <strong>18</strong>97 bis 1902. Sie beinhalten eine direkte Verteidigung des<br />

„progressiven Blocks", dessen (übrigens nidht veröffentlichte!) „Plattform"<br />

Herr Akimow, der sich Sozialdemokrat nennen möchte, für „durchaus<br />

annehmbar für die Sozialdemokratie" hält.<br />

Zahlreiche politische Säuglinge (von Paris bis Krasnojarsk) und gewitzte<br />

Diplomaten (von Wien bis Wilna) 40 sagten uns und sagen uns noch<br />

heute, daß die liberale Arbeiterpolitik ein „Schreckgespenst" sei. Schaut<br />

doch auf Herrn Akimow, ihr liebwerten Opponenten! Ihr werdet hier<br />

gewiß nicht leugnen können, daß sich in ihm unverkennbar die liberale<br />

Arbeiterpolitik verkörpert. Und ihr werdet auch nicht sagen können, daß<br />

Akimow ein „Unikum" sei, d. h. ein Einzelgänger und eine einzigartige,<br />

unnachahmliche Seltenheit. Denn wie viele unnachahmliche Eigenschaften<br />

Herr Akimow auch haben mag, ein Einzelgänger ist er nicht; es wäre die<br />

direkte Unwahrheit, wollte man das behaupten. Er ist nach Herrn Prokopowitsch<br />

aufgetreten und im Einvernehmen mit ihm. Er hat ein verbreitetes<br />

liberales Organ gefunden - eine bequeme Tribüne, die seine <strong>Red</strong>en weithin<br />

hörbar macht. Er hat eine „gute Presse" unter den liberalen Journalisten<br />

gefanden. O nein, das ist kein Einzelgänger. Mag er schon lange<br />

keiner Gruppe mehr angehören. Mögen seine Rechte, sich Sozialdemokrat<br />

zu nennen, völlig fiktiv sein. Aber er vertritt eine politische Linie, die<br />

Wurzeln hat, die lebt und, wenn sie auch oft versteckt ist, bei der geringsten<br />

politischen Belebung immer wieder hervorbricht.<br />

Die „Retsdb" läßt „dem nüchternen Realismus" der Überlegungen des<br />

Herrn Akimow „völlige Gerechtigkeit widerfahren" und betont mit besonderem<br />

Vergnügen seine Meinung, daß „die Sozialdemokraten heute den<br />

Teil ihrer politischen Aufgaben hervorkehren müssen, der bei genügend<br />

breiten, politisch starken Kreisen des Volkes Unterstützung findet".<br />

Nun ja, wie sollte sich die „Retsch" darüber nicht freuen! Was die<br />

„Nascha Sarja" mit tausend Ausreden und Ausflüchten, mit einem Vorbehalt<br />

nach dem anderen, die Spuren verwischend und mit einem Geprunk<br />

längst abgewetzter quasimarxistischer Wörtchen sagt, damit platzt Herr<br />

Akimow direkt heraus, grob, einfältig, naiv ... unglaublich naiv.


124 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />

Formal haben die „Nascha Sarja" und der „Newski Golos" natürlich<br />

durchaus die Möglichkeit, jede Verantwortung für Herrn Akimow abzulehnen.<br />

Faktisch aber entnimmt die breite Leserschaft, die in bezug auf<br />

Feinheiten nicht gewitzigt ist und sich für Feinheiten nicht interessiert,<br />

diesen liquidatorischen Publikationen gerade den „Akimowismus" und<br />

ausschließlich ihn. Die Sache der Progressisten „nicht hintertreiben",<br />

schrieb Martow. „Den Teil der Aufgaben hervorkehren", der die Unterstützung<br />

der Trogressisten findet, schreibt Akimow, natürlich mit dem<br />

Vorbehalt, daß die Parteilosigkeit der Progressisten es jeder Partei erleichtere,<br />

ihre Selbständigkeit (auf dem Papier) zu wahren. Einen größeren<br />

Teil der Aufgaben hervorkehren, als den Progressisten angenehm ist, das<br />

heißt eben ihre Sache „hintertreiben": das ist die Dechiffrierung der<br />

Losung Martows im lebendigen politischen Kampf, durch den Haufen, den<br />

Akimow gut vertritt.<br />

Die Kadetten und die Progressisten sind nach Akimows Überzeugung<br />

„breite und politisch starke Kreise des Volkes". Gerade das ist die liberale<br />

Unwahrheit, von der kürzlich die „Newskaja Swesda" in einem Artikel<br />

über den Charakter und die Bedeutung der marxistischen Polemik mit den<br />

Liberalen schrieb.* In Wirklichkeit ist die liberal-monarchistische Bourgeoisie<br />

in ihrer Gesamtheit, die Kadetten, die Progressisten und viele andere<br />

einbegriffen, ein sehr enger Kreis des Volkes, der auch politisch außerordentlich<br />

schwach ist.<br />

Einen breiten Kreis im Volke kann die Bourgeoisie niemals darstellen.<br />

Politisch stark kann sie sein und ist sie in einer ganzen Reihe kapitalistischer<br />

Länder - nur nicht in Preußen, nur nicht in Rußland. Hier erklärt<br />

sich ihre erstaunliche, groteske, nahezu unglaubliche politische Schwäche<br />

vollauf dadurch, daß diese Bourgeoisie die Revolution weit mehr fürchtet<br />

als die Reaktion. Politische Schwäche ist die unvermeidliche Folge. Und<br />

alles Gerede von einer „politischen Stärke" der Bourgeoisie, das diese<br />

grundlegende Besonderheit der Lage der Dinge in Rußland ignoriert, ist<br />

völlig falsch und deshalb absolut zu nichts nütze.<br />

Herr Akimow ist als ganz und gar offener und gemäßigter Liberaler<br />

aufgetreten: euch, ihr Herren Kadetten und Progressisten, halten wir für<br />

eine Kraft, eure Plattform nehmen wir durchaus an (obwohl es diese Plattform<br />

nicht gibt!), wir selbst kehren gegenwärtig den 7eil der Aufgaben<br />

* Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 112-1<strong>18</strong>. BieJled.


Die Wahlen und die Opposition 125<br />

hervor, der eure Unterstützung genießt, euch bitten wir nur um eins -<br />

„daß in die Listen des Blödes (der Progressisten) auch die Sozialdemokraten<br />

aufgenommen werden". Das, buchstäblich das schrieb Akimow! Zu<br />

allem, zu allem bin ich bereit - werd' ich nur in die Liste der Liberalen<br />

aufgenommen!<br />

Von Seiten der „Retsch" war es geradezu engherzig, daß sie sogar eine<br />

so gemäßigte Bitte zurückwies. Es gehe doch um die Wähler des 3. Juni,<br />

rufen die Kadetten Akimow in Erinnerung. Und was sind unter ihnen die<br />

Sozialdemokraten? Eine Null — „mit Ausnahme der großen Städte, von<br />

denen doch nicht die <strong>Red</strong>e"ist". Und das offizielle Kadettenorgan belehrt<br />

herablassend den ergebenen und gehorsamen Akimow: „Mit Ausnahme<br />

der Randgebiete werden sie (die Sozialdemokraten) sich fast überall leiten<br />

lassen müssen nicht von der Absicht, eigene Kandidaten aufzustellen, sondern<br />

von Erwägungen, wie der Sieg des progressiven Blocks über den<br />

Schwarzhunderterblock der Unterdrücker des Volkes zu gewährleisten<br />

ist."<br />

Der Liberale hat die demütig hingestreckte Hand des liberalen Arbeiterpolitikers<br />

grob ausgeschlagen! Das ist der verdiente Lohn für den Verzicht<br />

auf den Kampf in den großen Städten. Die großen Städte gehören uns,<br />

weil wir stark sind, sagen die Kadetten, und das übrige Rußland gehört<br />

uns, weil die Männer des 3. Juni und ihr Gesetz vom 3. Juni, das uns das<br />

Monopol der Opposition sichert, stark sind.<br />

Keine schlechte Antwort. Die Lehre, die Akimow erhalten hat, ist eine<br />

harte, aber eine nützliche Lehre.<br />

.Tiewskaja Swesda" 7$r. 14, "Nadh dem 7ext der<br />

24. Juni 1912. .TJewskaja Swesda".<br />

Vntersdirift: %. 7.


126<br />

DIE BEDEUTUNG DER WAHLEN<br />

IN PETERSBURG<br />

Die Zeitungen melden, daß die Frage des Zeitpunkts der Einberufung<br />

der IV. Reichsduma und des Zeitpunkts der Wahlen in den herrschenden<br />

Kreisen verschiedentlich Zweifel hervorgerufen hat. Die einen sprachen<br />

sich dafür aus, die Einberufung der Reichsduma bis zum Januar zu verschieben,<br />

die anderen waren für den Oktober. Jetzt soll die Frage zugunsten<br />

der zweiten Meinung entschieden worden sein.<br />

Die Wahlen sind also schon ganz nahe herangerückt, nur noch etwa<br />

7-9 Wochen trennen uns von ihnen. Es gilt daran zu denken, die Energie<br />

in der gesamten Wahlarbeit zu verzehnfachen.<br />

Ich möchte im vorliegenden Artikel auf eine spezielle Frage eingehen,<br />

die jedoch für die Arbeiterdemokratie eine überaus große und allgemeine<br />

Bedeutung erlangt hat. Es ist das die Frage nach der Rolle der Petersburger<br />

Wahlen.<br />

Die Wahlen zur 2. städtischen Kurie in Petersburg stehen im Brennpunkt<br />

der ganzen Wahlkampagne anläßlich der Wahlen zur IV. Reichsduma.<br />

Nur in Petersburg gibt es eine leidlich organisierte Arbeiterpresse, die<br />

bei den schweren Verfolgungen, denen sie ausgesetzt ist, den Geldstrafen<br />

und den Verhaftungen der <strong>Red</strong>akteure, bei der ganzen Unsicherheit ihrer<br />

Lage und der Unterdrückung durch die Zensur die Anschauungen der<br />

Arbeiterdemokratie schwach widerzuspiegeln vermag.<br />

Ohne Tagespresse bleiben Wahlen eine dunkle Angelegenheit, und ihre<br />

Bedeutung im Sinne der politischen Aufklärung der Massen sinkt um die<br />

Hälfte, wenn nicht noch mehr.<br />

Die Petersburger Wahlen erlangen dadurch die Bedeutung eines


Erste Seite der „Newskaja Swesda" Nr. 15 vom 1. Juli 1912, in der W. I. <strong>Lenin</strong>s<br />

Artikel „Die Bedeutung der Wahlen in Petersburg" und „Ein Vergleich des<br />

Stolypinsdien Agrarprogramms mit dem der Volkstümler" erschienen<br />

•Verkleinert


Die Bedeutung der 'Wahlen in Petersburg 129<br />

Musterbeispiels der Wahlkampagne, die die Arbeiterdemokratie unter den<br />

unglaublich schweren rassischen Bedingungen durchzuführen hat. Eine<br />

andere allen sichtbare Wahlkampagne können die Arbeiter nirgends<br />

durchführen. In der Arbeiterkurie haben die Wahlen natürlich sehr große<br />

Bedeutung, aber die Arbeiter können hier nicht mit den anderen Klassen<br />

der Bevölkerung in Berührung kommen, können deshalb nicht genügend<br />

breit die Forderungen des ganzen Volkes, die Auffassungen über die Aufgaben<br />

der allgemeinen Politik darlegen, die die fortgeschrittene, proletarische<br />

Demokratie entwickelt hat, damit sie der ganzen Demokratie überhaupt<br />

als Leitfaden dienen.<br />

In Petersburg wird direkt gewählt. Deshalb kann sich der Wahlkampf<br />

hier viel bestimmter, klarer, parteilicher als anderswo entfalten. Die übrigen<br />

großen Städte könnten eine ebenso große Bedeutung wie Petersburg<br />

haben, aber der administrative Druck ist in .der Provinz nodb viel stärker<br />

als in der Hauptstadt, so daß es für die Arbeiterdemokratie schwer ist,<br />

sich einen Weg zu bahnen, sich Gehör zu verschaffen.<br />

In Petersburg muß schließlich der Kampf in der 2. Kurie zwischen den<br />

Liberalen und der Demokratie entbrennen. Die Kadetten betrachten die<br />

2. Kurie als ihre Domäne. Petersburg wird vertreten von Miljukow,<br />

Roditschew und Kutler.<br />

Selbstverständlich kann man diese Vertretung einer ziemlich breiten<br />

Masse demokratischer Wähler durch Liberale keineswegs als normal bezeichnen.<br />

Die Wahlen zur II. Duma haben gezeigt, daß die „Herrschaft"<br />

der Kadetten unter den demokratischen Wählern der Städte alles andere<br />

als beständig ist. In Petersburg selbst hätte der „Linksblock" bei den<br />

Wahlen zur II. Duma, d. h. der Block der Arbeiterdemokratie und der<br />

bürgerlichen Demokratie (der Volkstümler), nicht nur siegen können,<br />

sondern sogar gewiß gesiegt, wenn damals die Menschewiki vom Schlage<br />

Dans und Co. nicht die Wahlkampagne der Arbeiter gespalten und so für<br />

den Erfolg der Sache überaus schädliche Schwankungen und Verwirrungen<br />

unter den Volkstümlern hervorgerufen hätten. Es genügt, daran zu<br />

erinnern, daß selbst die „Sozialrevolutionäre" bei den Wahlen zur<br />

II. Duma bis zum letzten Augenblick den Menschewiki gefolgt sind und<br />

den Block mit den Kadetten verteidigt haben!<br />

Nach dem jetzigen Wahlgesetz ist ein zweiter Wahlgang möglich, so<br />

daß im ersten Stadium keinerlei Blocks möglich oder zulässig sind.


130 W.lCenin<br />

In Petersburg steht ein Kampf zwischen der Arbeiterdemokratie und<br />

den Liberalen bevor. Die Volkstümler werden wohl kaum so viel Kraft<br />

haben, um selbständig aufzutreten: Allzu eifrig haben sie sich schon selbst<br />

„liquidiert", indem sie der Linie unserer Liquidatoren folgen. Deshalb ist<br />

den Arbeiterdemokraten die Unterstützung der bürgerlichen Demokratie<br />

(der Trudowiki und der Volkstümler) fast gewiß, wenn nicht im ersten<br />

Stadium der Wahlen, so jedenfalls im zweiten Wahlgang.<br />

Die Liberalen haben aus Petersburg ihren Führer, Herrn Miljukow.<br />

Sie hatten bisher eine große Mehrheit. Die finanziellen Mittel, die ihnen<br />

die liberal-monarchistische Bourgeoisie zukommen läßt, die Mittel der<br />

Agitation in Gestalt von zwei Tageszeitungen, eine faktisch geduldete, de<br />

facto nahezu legalisierte Organisation - all das verschafft den Kadetten<br />

riesige Vorteile.<br />

Auf der Seite der Arbeiter sind die Arbeitermasse, der konsequente und<br />

ehrliche Demokratismus, die Energie und die Hingabe für die Sache des<br />

Sozialismus und der Arbeiterdemokratie. Die Arbeiter können siegen,<br />

wenn sie sich auf diese Kräfte stützen und über eine Arbeitertageszeitung<br />

verfügen. Der Kampf der Arbeiter um die Deputiertensitze von Petersburg<br />

erlangt zweifellos in der ganzen Wahlkampagne zur IV. Duma riesige<br />

und gesamtrussische Bedeutung.<br />

Die Freunde von Gerüchten über eine „Vereinigung" der ganzen Opposition<br />

- von den Progressisten und Kadetten bis zu dem vorsichtigschlauen<br />

Liquidator Martow und den plump-naiven Prokopowitsch und<br />

Akimow -, alle suchen die Frage der Wahlen in Petersburg zu umgehen<br />

oder im dunkeln zu lassen. Sie umgehen das politische Zentrum und verlieren<br />

sich gern in politische, sozusagen, Bärenwinkel. Sie reden viel, eifrig<br />

und gewandt davon, was angebracht sein wird im zweiten Stadium der<br />

Wahl, d. h. wenn der grundlegende, wichtigste, entscheidende Teil der<br />

Wahlkampagne schon vorbei ist - und sie „schweigen beredt" über<br />

Petersburg, das die Kadetten erobert haben und das man von ihnen<br />

zurückerobern und der Demokratie wiedergeben muß.<br />

Deputierte der Demokratie von Petersburg gab es weder nach dem Gesetz<br />

vom 11. Dezember 1905 41 noch nach dem Gesetz vom 3. Juni 1907 42 ,<br />

so daß das Wort wiedergeben hier fehl am Platze scheint. Doch gehört<br />

Petersburg der Demokratie nach dem ganzen Verlauf der ganzen Befreiungsbewegung<br />

in Rußland, und auf einer bestimmten Stufe ihrer Ent-


Die 'Bedeutung der Wahlen in Petersburg 131<br />

wicklung wird nidht einmal der unerhört hohe Damm des Wahlgesetzes<br />

vom 3. Juni die „demokratische Flut" aufhalten können.<br />

Die meisten Wähler der 2. Kurie entstammen zweifellos den demokratischen<br />

Schichten der Bevölkerung. Die Kadetten ziehen sie an sich, wobei<br />

sie sie direkt betrügen, indem sie sich, die liberal-monarchistische Partei<br />

der Bourgeoisie, für die Demokratie ausgeben. Einen solchen Betrug praktizierten<br />

und praktizieren alle Liberalen der Welt bei den Wahlen zu<br />

allen und jeglichen Parlamenten. Und die Arbeiterparteien aller Länder<br />

messen ihre Erfolge im übrigen daran, inwieweit es ihnen gelingt, die kleinbürgerliche<br />

Demokratie dem Einfluß der Liberalen zu entreißen.<br />

Diese Aufgabe müssen sich auch die russischen Marxisten mit aller<br />

Klarheit und Bestimmtheit ein für allemal stellen. In bezug auf die großen<br />

Städte haben sie deshalb in ihren bekannten Januarbeschlüssen direkt<br />

gesagt, daß Blocks hier, da es offensichtlich keine Schwarzhundertergefahr<br />

gibt, nur mit den Demokraten gegen die Liberalen zulässig sind.* Dieser<br />

Beschluß „packt den Stier bei den Hörnern". Er gibt eine direkte Antwort<br />

auf eine der wichtigsten Fragen der Wahltaktik. Er bestimmt den Qeist,<br />

die Richtung, den Charakter der ganzen Wahlkampagne.<br />

Einen groben Fehler machen umgekehrt diejenigen Liquidatoren, die<br />

von den Kadetten gern als von „Vertretern" der „städtischen Demokratie"<br />

reden. Solches Gerede verfälscht die Sache: die Wahlsiege der Liberalen<br />

über die Demokraten, die Wahlbetrügereien der Liberalen an den demokratischen<br />

Wählern werden dergestalt als Beweise für den „Demokratismus"<br />

der Kadetten ausgegeben. Als ob Europa nicht Dutzende von Beispielen<br />

dafür kennte, wie antidemokratische Parteien jahrelang verschiedene<br />

demokratische Schichten am Gängelband führten, bis wirkliche bürgerliche<br />

Demokraten, meistens aber Sozialdemokraten, diese Schichten<br />

dem Einfluß der ihnen ihrer Geisteshaltung nach fremden politischen Parteien<br />

entrissen.<br />

Der Wahlkampf in Petersburg ist ein Kampf zwischen den Liberalen<br />

und der Arbeiterdemokratie um die Hegemonie in der ganzen Befreiungsbewegung<br />

Rußlands.<br />

Diese außerordentlich wichtige Rolle der Petersburger Wahlen führt<br />

uns übrigens zu zwei praktischen Schlußfolgerungen. Wem viel gegeben<br />

ist, von dem wird viel gefordert. Die Petersburger Arbeiter müssen die<br />

* Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 17, S. 461. Die -<strong>Red</strong>.


132 W.1. <strong>Lenin</strong><br />

i<br />

Wahlkampagne in Petersburg in der 2. städtischen Kurie im Namen der<br />

ganzen Arbeiterdemokratie ganz Rußlands führen. Ihnen fällt eine große<br />

und schwere Aufgabe zu. Sie geben das Beispiel. Sie müssen ein Höchstmaß<br />

an Initiative, Energie und Beharrlichkeit an den Tag legen. Sie haben<br />

das mit der Arbeitertageszeitung getan. Sie müssen die großartig begonnene<br />

Sache auch bei den Wahlen fortsetzen.<br />

Ganz Rußland richtet seine Aufmerksamkeit auf den Wahlkampf in<br />

Petersburg. Und ganz Rußland muß Petersburg Hilfe leisten. Ohne die<br />

möglichst vielseitige Hilfe von allen Ecken und Enden Rußlands werden<br />

die Petersburger Arbeiter den „Feind" allein nicht überwältigen können.<br />

.Newskaja Swesda" 3Vr. 15, Tiado dem 7ext der<br />

i. "Juli i9i2. „Newskaja Swesda".<br />

Unterschrift: 7. 7.


EIN VERGLEICH DES<br />

STOLYPINSCHEN AGRARPROGRAMMS<br />

MIT DEM DER VOLKSTÜMLER<br />

133<br />

In den vorhergehenden Artikeln (siehe „Newskaja Swesda" Nr. 3 und<br />

6)* brachten wir die Hauptdaten, die den Grandbesitz im Europäischen<br />

Rußland charakterisieren, und umrissen das Wesen der Agrarfrage in<br />

Rußland. Die mittelalterlichen Verhältnisse im Grundbesitz beseitigen,<br />

darauf läuft dieses Wesen hinaus.<br />

Der Widerspruch zwischen dem Kapitalismus, der in der ganzen Welt<br />

und auch bei uns in Rußland herrscht, und dem mittelalterlichen Qrundbesitz,<br />

dem gutsherrlichen Besitz wie dem bäuerlichen Anteilbesitz, ist<br />

unversöhnlich. Der alte, mittelalterliche Grundbesitz muß unter allen Umständen<br />

beseitigt werden, und je entschiedener, erbarmungsloser, kühner<br />

das geschieht, um so besser für die ganze Entwicklung Rußlands, am so<br />

besser für die Arbeiter und für die Bauern, die jetzt nidht nur vom Kapitalismus<br />

unterdrückt-und geknechtet werden, sondern auch durch die unzähligen<br />

Überreste des Mittelalters.<br />

Es fragt sich nun, wie kann man bei einer solchen Lage der Dinge das<br />

Stolypinsche Agrarprogramm mit dem der Volkstümler vergleichen? Ist<br />

nicht das eine der völlige Gegensatz des anderen?<br />

Jawohl, aber dieser Gegensatz schließt nicht aus, daß sich das Stolypinsche<br />

Agrarprogramm und das der Volkstümler in einem wesentlichen<br />

Punkt gleichen. Beide Programme geben nämlich zu, daß man den alten<br />

Grundbesitz beseitigen muß. Das Alte muß beseitigt werden, und das<br />

möglichst rasch und entschieden, sagen die Verfechter der Stolypinschen<br />

„Flurbereinigung", wobei man aber so vorgehen müsse, daß die ganze<br />

Last der Mehrheit der Bauern, den am meisten ruinierten, am meisten<br />

* Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 17-20 und 60-64. Die "<strong>Red</strong>.


134 'W.I.L.enin<br />

verelendeten Bauern zufällt. Die Gutsbesitzer sollen dabei nichts verlieren.<br />

Ist es nicht zu vermeiden, daß sie einen Teil ihrer Ländereien verlieren,<br />

so dürfen diese nur dann enteignet werden, wenn die Gutsbesitzer<br />

freiwillig zustimmen und eine vom Standpunkt der Gutsbesitzer „gerechte"<br />

Einschätzung erfolgt. Die wohlhabenden Bauern sollen eine<br />

Unterstützung erhalten, die Ruinierung der Masse der „schwachen" aber<br />

braucht man nicht zu scheuen.<br />

Das ist das Wesen des Stolypinschen Agrarprogramms. Der Rat des<br />

vereinigten Adels, der Stolypin das Programm vorgeschrieben hat, handelte<br />

als echter Vertreter von Reaktionären - nicht von Schwätzern, sondern<br />

von Männern der Tat. Der Rat des vereinigten Adels war seinen<br />

Klasseninteressen durchaus treu, als er beschloß, auf die Starken zu setzen.<br />

Und in der Tat, nach 1905 war klargeworden, daß Polizei und Bürokratie<br />

allein keinen genügenden Schutz vor den Bauern bieten.<br />

Wo konnte der Rat des vereinigten Adels noch Verbündete suchen?<br />

Nur unter der kleinen Minderheit der wohlhabenden Bauern, der „Kulaken",<br />

der „DorfWucherer". Andere Verbündete auf dem Lande konnte<br />

er nicht finden. Und um die „neuen Gutsbesitzer" für sich zu gewinnen,<br />

scheuten sich die Reaktionäre nicht, ihnen das ganze "Dorf buchstäblich<br />

zum Plündern auszuliefern.<br />

Muß schon etwas beseitigt werden, so laßt uns den Anteilbesitz zu<br />

unseren Gunsten und zugunsten der neuen Qutsbesitzer beseitigen - das<br />

ist der Kern der Agrarpolitik, die der Rat des vereinigten Adels Stolypin<br />

diktiert hat.<br />

Rein theoretisch gesprochen muß man jedoch zugeben, daß ein nicht<br />

minder entschiedenes, ja sogar ein noch viel entschiedeneres Vorgehen auch<br />

von der anderen Seite her möglich ist. Jedes Ding hat zwei Seiten. Wenn<br />

zum Beispiel die 70 Millionen Desjatinen Land, die 30 000 Gutsbesitzern<br />

gehören, den 10 000 000 Bauernhöfen zusätzlich zu ihren 75 Millionen<br />

Desjatinen zugeteilt würden, wenn die einen wie die anderen Ländereien<br />

zusammengetan und dann zwischen den wohlhabenden und mittleren<br />

Bauern aufgeteilt würden (die Dorfarmut hätte ohnehin nichts zum<br />

Pflügen, Säen, Düngen, zur Bodenbestellung), was wäre das Ergebnis<br />

einer solchen Umwandlung?<br />

Man stelle diese Frage vom rein ökonomischen Standpunkt, man betrachte<br />

diese prinzipielle Möglichkeit unter dem Gesichtswinkel der all-


Ein Vergleich des Stolypinsdhen Agrarprogramms mit dem der Volkstümler 135<br />

gemeinen Bedingungen der kapitalistischen Wirtschaft in der ganzen<br />

Welt. Man wird sehen, daß das Ergebnis der von uns vorgeschlagenen<br />

Umwandlung eine konsequentere, entschiedenere, erbarmungslosere Beseitigung<br />

des mittelalterlichen Grundbesitzes wäre, als es im Programm<br />

Stolypins vorgesehen ist.<br />

Warum gerade des mittelalterlichen und nur des mittelalterlichen?<br />

Weil der kapitalistisdbe Grundbesitz dem Wesen der Sache nach durch<br />

keinen Besitzwechsel, ja nicht einmal durch den Übergang sämtlicher Ländereien<br />

in die Hände des Staates (in der Wissenschaft der politischen<br />

Ökonomie „Nationalisierung" des Bodens genannt) aufgehoben werden<br />

kann. Kapitalistischer Grundbesitz ist Grundbesitz desjenigen, der über<br />

Kapital verfügt und sich am besten dem Markt anpaßt. Wem auch immer<br />

der Grund und Boden als Eigentum gehören möge, dem alten Gutsbesitzer,<br />

dem Staat oder dem Bauern mit Anteilland - der Grund und Boden wird<br />

immer in die Hände des Landwirts geraten, der ihn jederzeit pachten<br />

kann. Die Pacht gedeiht in alten kapitalistischen Ländern bei den mannigfachsten<br />

Formen des Grundbesitzes. Keinerlei Verbote können den Kapitalisten,<br />

den Landwirt, der über Kapital und Kenntnis des Marktes verfügt,<br />

daran hindern, sich Land anzueignen, solange der Markt die gesamte<br />

gesellschaftliche Produktion beherrscht, d. h. solange diese Produktion<br />

kapitalistisch bleibt.<br />

Mehr noch. Die Bodenpacht ist für den reinen Kapitalismus, für die<br />

vollständigste, freieste, „idealste" Anpassung an den Markt sogar bequemer<br />

als das Grundeigentum. Warum? Weil das private Grundeigentum<br />

den Besitzwechsel des Grund und Bodens erschwert, die Anpassung<br />

der Bodennutzung an die Marktverhältnisse hemmt, den Boden an die<br />

betreffende Familie oder Person und ihre Erben bindet, selbst -wenn sie<br />

schlechte Landwirte wären. Die Pacht ist eine elastischere Form, bei der<br />

sich die Bodennutzung am einfachsten, am leichtesten, am schnellsten dem<br />

Markt anpaßt.<br />

Aus diesem Grunde bildet übrigens England keine Ausnahme von den<br />

anderen kapitalistischen Ländern, sondern hat die vom Standpunkt des<br />

Kapitalismus vollkommenste Agrarverfassung, wie Marx in seiner Rodbertus-Kritik<br />

zeigt. 43 Und worin besteht die Agrarverfassung Englands?<br />

Im alten Grundbesitz, im Landlordismus, bei neuer, freier, rein kapitalistischer<br />

Pacht.


136 W. I.<strong>Lenin</strong><br />

Und wenn dieser Landlordismus ohne Landlords existierte, d. h. wenn<br />

der Grund und Boden nicht Eigentum der Landlords, sondern des Staates<br />

wäre? So wäre das eine vom Standpunkt des Kapitalismus noch vollkommenere<br />

Agrarverfassung, mit einer noch freieren Anpassung der Bodennutzung<br />

an den Markt, mit einer noch leichteren Mobilisierung des Bodens<br />

als Wirtschaftsobjekt, mit einer noch größeren Freiheit, Breite, Klarheit<br />

und Bestimmtheit des Klassenkampfes, der Bestandteil jedes kapitalistischen<br />

Grundbesitzes ist.<br />

Und je mehr nun das betreffende Land hinter dem Weltkapitalismus<br />

zurijj&geblieben ist, je größere Anstrengungen es machen muß, um die<br />

Nachbarn einzuholen, je mehr es seine „Krankheit", mittelalterlichen<br />

Grundbesitz und versklavende Kleinwirtschaft, „verschleppt" hat, je dringender<br />

es die radikale Beseitigung all seiner Grundbesitzverhältnisse, die<br />

Umwandlung seiner ganzen Agrarverhältnisse nötig hat - um so natürlicher<br />

ist es, daß in einem solchen Lande unter der Landbevölkerung alle<br />

möglichen Ideen und Pläne zur Nationalisierung des Grund und Bodens<br />

entstehen und weite Verbreitung finden.<br />

Das Jahr 1905 wie die ersten beiden Dumas haben unzweideutig bewiesen,<br />

und die III. Duma hat indirekt durch ihre (von den Gutsbesitzern<br />

gesiebten) „Bauern"deputierten bestätigt, daß in der russischen Landbevölkerung<br />

alle möglichen Ideen und Pläne zur Nationalisierung des<br />

Grund und Bodens überaus weit verbreitet sind. Bevor man diese Ideen<br />

billigt oder mißbilligt, muß man sich fragen, weshalb sie eine so weite<br />

Verbreitung erfahren haben, weldhe wirtschaftliche Notwendigkeit sie<br />

hervorgebracht hat.<br />

Es genügt nicht, diese Ideen vom Standpunkt ihrer inneren Geschlossenheit,<br />

Harmonie oder theoretischen Richtigkeit zu kritisieren. Man muß sie<br />

vom Standpunkt der wirtschaftlichen Notwendigkeit kritisieren, die in<br />

diesen Ideen ihre Widerspiegelung gefunden hat, mag diese Widerspiegelung<br />

manchmal noch so „wunderlich", falsch und „verzerrt" sein.<br />

Die wirtschaftliche Notwendigkeit, die die Ideen der Nationalisierung<br />

des Grund und Bodens in der russischen Bauernschaft Anfang des 20. Jahrhunderts<br />

hervorgebracht hat, ist die Notwendigkeit der raschen Beseitigung<br />

des alten Grundbesitzes. Die Ideen der „ausgleichenden Verteilung"<br />

des ganzen Grund und Bodens sind die Ideen der Qleidbbeit, die im<br />

Kampf gegen die Überreste der Leibeigensdiaft notwendigerweise ent-


Ein Vergleidh des Stolypinsdhen Jgrarprogramms mit dem der Volkstümler 137<br />

stehen und die unvermeidlich auf den Grund und Boden Obertragen werden,<br />

wenn 30 000 Nachkömmlinge der Fronherren 70 Millionen Desjatinen<br />

und 10 000 000 versklavte Bauern 75 Millionen Desjatinen besitzen.<br />

Die Überführung der ersten Ländereien in die Kategorie der zweiten<br />

oder vielmehr in die Hände der Besitzer der zweiten ist keineswegs<br />

utopisch. Utopisch ist lediglich der Wunschtraum von einer Gleichheit der<br />

Grundbesitzer, solange die Herrschaft des Marktes besteht, utopisch ist<br />

der Wunschtraum von einem allen „Bürgern und Bürgerinnen" (einschließlich<br />

der Nichtlandwirte) im Kapitalismus zustehenden „<strong>Red</strong>bt auf Grund<br />

und Boden". Aber das Utopische dieser Ideen darf uns nicht die echte,<br />

lebendige Realität dessen vergessen lassen, was hinter ihnen in der Praxis<br />

verborgen ist.<br />

Die Aufhebung aller mittelalterlichen Unterschiede des Grundbesitzes<br />

- des gutsherrlichen, des Anteilbesitzes usw. - enthält nichts Utopisches.<br />

Der Bruch mit den alten Agrarverhältnissen enthält nichts Utopisches. Im<br />

Gegenteil, gerade die Entwicklung des Kapitalismus erfordert aufs dringlichste<br />

einen solchen Bruch. Es kann im Kapitalismus weder eine „ausgleichende<br />

Verteilung" nodh eine „Sozialisierung" des Bodens geben. Das<br />

ist eine Utopie.<br />

Eine Nationalisierung des Grund und Bodens im Kapitalismus ist ökonomisch<br />

durchaus möglich, und ihre rede Bedeutung würde in jedem<br />

Falle, d. h. wie, durch wen, unter welchen Bedingungen sie auch durchgeführt<br />

würde, ob sie eine dauerhafte und für lange Zeit bestehende<br />

Maßnahme wäre oder vorübergehend und für kurze Zeit Wirksamkeit<br />

erlangte - ihre reale Bedeutung würde in jedem Falle in der maximalen<br />

Beseitigung alles Mittelalterlichen im russischen Grundbesitz und in den<br />

russischen Agrarverhältnissen, in der freiesten Anpassung der neuen<br />

Bodennutzung und des neuen Grundbesitzes an die neuen Bedingungen<br />

des Weltmarktes bestehen.<br />

Stellen wir uns für einen Augenblick die Verwirklichung des Planes der<br />

linken Volkstümler wenigstens dergestalt vor, daß sämtliche Ländereien<br />

unter alle Bürger und Bürgerinnen zu gleichen Teilen aufgeteilt werden.<br />

Eine solche Aufteilung im KapitalismusJst ganz und gar absurd. Sie wäre<br />

nicht von Bestand, könnte sich im Kapitalismus nicht einmal ein Jahr lang<br />

halten. Heißt das aber, daß ihre Ergebnisse gleich Null wären oder ein<br />

Minus bedeuten würden?<br />

10 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>


138 W.3.£enin<br />

Keineswegs! Ihre Ergebnisse wären ein riesiges Plus - durchaus nicht<br />

ein Plus, wie es die linken Volkstümler erwarten, sondern ein überaus<br />

reales Plus. Dieses Plus würde darin bestehen, daß jegliche Unterschiede<br />

zwischen den jetzigen Standes- und Rangformen des Grundbesitzes aufgehoben<br />

würden. Das wäre ein Riesengewinn für die ganze Volkswirtschaft,<br />

für den Kapitalismus, für das Proletariat, denn es gibt nichts<br />

Schädlicheres für die Entwicklung Rußlands als unseren alten, gegenwärtigen<br />

Grundbesitz. Der gutsherrliche Grundbesitz wie der Anteilbesitz<br />

sind durdh und duräo fronherrschaftliche Formen des Grundbesitzes.<br />

Ihre ausgleichende Neuverteilung wäre nicht von Bestand, aber die<br />

Jlüdkkebr zum alten wäre unmöglich! Die einmal beseitigten Raine würde<br />

keine „Restauration" wiederherstellen. Keine politische Macht der Welt<br />

könnte die Errichtung neuer Raine, Grenzen, Formen der Bodennutzung<br />

verhindern, die den neuen Erfordernissen des Marktes entsprechen.<br />

„Die alten Schranken niederreißen", sagte ein linker Volkstümler, wie<br />

ich mich entsinne, in der II. Duma. Er glaubte, daß es dadurch zu einer<br />

„ausgleichenden Bodennutzung" kommen würde. Er irrte. Aber aus seinem<br />

TAunde — so ist die Ironie der Geschichte! - sprach der konsequenteste und<br />

unerschrockenste, der radikale "Bourgeois, der die Absurdität der alten,<br />

mittelalterlichen „Trennwände" unseres „AnteiT'besitzes, unseres „adligen",<br />

„kirchlichen" usw. usf. Besitzes fühlt, der die Notwendigkeit sieht,<br />

alle diese Trennwände niederzureißen für eine neue Aufteilung des<br />

Bodens. Nur wird das nicht „nach Köpfen" geschehen, wie es der Volkstümler<br />

erträumt, sondern nadh dem Kapital, wie es der Markt vorschreibt.<br />

Die konstruktiven Pläne der Volkstümler sind utopisch. Aber ihre konstruktiven<br />

Pläne enthalten ein Element der Zerstörung, was das Mittelalter<br />

betrifft. Und dieses Element ist keineswegs utopisch. Es ist lebendigste<br />

Realität. Es ist die konsequenteste und progressivste Realität vom Standpunkt<br />

des Kapitalismus und des Proletariats.<br />

Fassen wir unsere Ansichten kurz zusammen. Die reale Übereinstimmung<br />

zwischen dem Stolypinschen Agrarprogramm und dem der Volkstümler<br />

besteht darin, daß beide den alten, mittelalterlichen Grundbesitz<br />

radikal beseitigen. Und das ist sehr gut. Nichts anderes ist er wert. Am<br />

reaktionärsten sind die Kadetten von der „Retsdb" und den „Russkije<br />

Wedomosti", die Stolypin deswegen Vorwürfe machen — anstatt die Notwendigkeit<br />

eines noch konsequenteren und entschiedeneren Vorgehens zu


Ein Vergleidh des Stolypinsdhen Agrarprogramms mit dem der Volkstümler 139<br />

beweisen. Wir werden in einem folgenden Artikel sehen, daß ein Vorgehen<br />

im Sinne Stolypins die Schuldknechtschaft und die Abarbeit nidbt<br />

beseitigen kann, daß aber ein Vorgehen im Sinne der Volkstümler dazu<br />

imstande ist.*<br />

Wir wollen einstweilen bemerken, daß das einzige durchaus reale Ergebnis<br />

der Stolypinschen Methode die Hungersnot ist, die 30 Millionen<br />

betroffen hat. Und wer weiß, ob die Stolypinsche Methode dem russischen<br />

Volk nicht beibringen wird, wie man entschiedenervorgehen muß. Zweifellos<br />

wird es daraus lernen. Ob es die Lehren ziehen wird - wir werden es<br />

sehen.<br />

„ftewskaja Swesda" Nr. 15, TJadh dem Text der<br />

1. Juli i9i2. „TJewskaja Swesda".<br />

Wntersdtrift: JL S.<br />

* Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 237-242. Die <strong>Red</strong>.


140<br />

DIE LAGE IN DER SDAPR<br />

UND DIE NÄCHSTEN AUFGABEN<br />

DER PARTEI<br />

Die SDAPR hat unerhört schwere Jahre wütender Konterrevolution<br />

hinter sich und ist jetzt auf dem richtigen Wege zur Wiederherstellung<br />

ihrer Organisation, zur Stärkung ihrer Kräfte und des führenden Einflusses<br />

auf das russische Proletariat, das 1905 der Selbstherrschaft wuchtige<br />

Schläge versetzt hat und sie in der kommenden Revolution vernichten<br />

wird. :<br />

Die schweren Jahre von 1908 bis 1911 waren Jahre der Spaltung; eben<br />

in dieser Zeit löste sich von der SDAPR der jetzige Hauptvorstand der<br />

Sozialdemokratie Polens und Litauens, die 1906 unserer Partei beigetreten<br />

war und gemeinsam mit uns Bolschewiki den menschewistischen<br />

Opportunisten entgegentrat.<br />

Die sozialdemokratischen Arbeiter Polens müssen dieses Abrücken des<br />

jetzigen Hauptvorstands von der SDAPR kritisch beurteilen. Daher<br />

greife ich sehr gern den Vorschlag des Warsdhauer Komitees der SDPuL<br />

auf, in der „Gazeta Robotnicza" 44 eine kurze Darstellung der Ursachen<br />

der Spaltung in der Partei und der traurigen Rolle zu geben, die dabei der<br />

jetzige Hauptvorstand gespielt hat, und in diesem Zusammenhang die<br />

nächsten Aufgaben des sozialdemokratischen Proletariats ganz Rußlands<br />

darzulegen.<br />

I<br />

Die Genossen polnischen Arbeiter kennen die Meinungsverschieden-,<br />

heiten zwischen den Bolschewiki und den Menschewiki zur Zeit der Revolution<br />

von 1905. Einige hervorragende Vertreter der SDPuL, wie zum<br />

Beispiel Rosa Luxemburg, standen zunächst, 1904, auf der Seite der


Die Lage in der SDJPR 141<br />

Menschewiki, aber die Revolution, die klar den Opportunismus der Menschewiki<br />

bewies, offenbarte bald ihren Fehler.<br />

Mit der Konterrevolution der Jahre 1908-1911 begann eine neue<br />

Etappe in der Geschichte Rußlands. Die alte Selbstherrschaft machte einen<br />

weiteren Schritt in Richtung der bürgerlichen Monarchie. Es entstand eine<br />

Duma der Gutsbesitzer und der Großbourgeoisie. Der Zarismus verlor<br />

noch nicht seinen fronherrschaftlichen Charakter, betrieb aber eine bürgerliche<br />

Agrarpolitik, die möglichst rasch das private Grundeigentum einführen<br />

sollte - um den Preis einer unerhörten Ruinierung und der Vertreibung<br />

von Millionen von Bauern. Der bürgerliche Liberalismus vollzog<br />

eine jähe Wendung zur Konterrevolution und feierte wahre Orgien an<br />

Abtrünnigkeit.<br />

Unter der Intelligenz herrschten allgemein und mehr denn je Spaltung<br />

und Zerfahrenheit. Das Proletariat wurde vom Zarismus, der für die<br />

Revolution Rache nahm, verfolgt und von den Renegaten mit Strömen von<br />

Verleumdnngea überschüttet.<br />

Die SDAPR hatte die Aufgabe, die revolutionäre sozialdemokratische<br />

Partei der Arbeiterklasse zu erhalten und sich zugleich den neuen Bedingungen<br />

der Arbeit anzupassen.<br />

Gleich die ersten Schritte zur Lösung dieser Aufgabe enthüllten neue<br />

antiproletarische Strömungen in der SDAPR, die die Existenz der Partei<br />

selbst untergruben. Sie waren hervorgegangen ans der historischen Situation<br />

unserer Konterrevolution. Diese bürgerlichen Strömungen sind das<br />

Licfuidatorentum und der Otsowismus.<br />

Erfaßt von der Welle der bürgerlichen Desertion, schworen die Liquidatoren<br />

der Revolution ab. Sie machten ein Kreuz über die illegale Partei,<br />

suchten sich den einzig legalen Boden in dem sozusagen „konstitutionellen"<br />

Regierungsregime des 3. (16.) Juni und propagierten seine konstitutionelle<br />

Erneuerung. Eine „legale Arbeiterpartei" und Losungen konstitutioneller<br />

Reformen — das war das Wesen ihrer Politik. Das war keine<br />

sozialdemokratische, sondern eine Überale Arbeiterpolitik.<br />

Natürlich ist es einfach lächerlich, die Liquidatoren mit den westeuropäischen<br />

Opportunisten innerhalb der sozialdemokratischen Arbeiterparteien<br />

zu vergleichen (wie es der" jetzige Hauptvorstand unter dem Einfluß<br />

Tyszkas tut). Unsere Liquidatoren erkennen die Partei in ihrer illegalen,<br />

d. h. jetzigen, Form nicht an und organisieren eine neue legale


142 W.1.£enin<br />

Partei. Das ist keine Strömung innerhalb der Partei, sondern ein Abrücken<br />

von der Partei. Die offene Absage an die Partei und ihre Zerstörung<br />

durch die Liquidatoren riefen bei den Menschewiki selber heftigen<br />

Protest hervor. Die menschewistischen Arbeiter in Rußland sind nidbt den<br />

Liquidatoren gefolgt, und im Ausland stellte sich der Menschewik Plechanow<br />

an die Spitze der „parteitreuen" Menschewiki (der Antiliquidatoren).<br />

Plechanow hat jetzt in der Presse offen und unzweideutig erklärt, daß die<br />

Liquidatoren eine neue Partei organisieren.<br />

Zur Information der pohlischen Arbeiter ergänzen wir, daß die wichtigsten<br />

Organe der Liquidatoren im Ausland der „Golos Sozial-Demokrata"<br />

45 (Martow, Dan, Axelrod und andere ,,Golos"-Leute) und in Rußland<br />

die „Nascha Sarja" (Potressow, Lewizld, Tscherewanin u. a.) sind.<br />

Die „Otsowisten" („Abberufler" - abgeleitet von: die sozialdemokratischen<br />

Abgeordneten aus der III. Duma abberufen) boykottierten die<br />

III. Duma, sie begriffen nicht die Notwendigkeit, die Damatribüne und<br />

alle „legalen Möglichkeiten" für die revolutionäre sozialdemokratische<br />

Arbeit auszunutzen. Aus den Losungen der revolutionären Taktik von<br />

1905 machten sie inhaltslose Phrasen. Die Erfahrungen zeigten bald, daß<br />

der Boykott der III. Duma ein Unsinn war, der die sozialdemokratischen<br />

russischen Boykottisten selbst gegen ihren Willen zum Anarchismus führte.<br />

War die Mehrheit der Bolschewiki' im Sommer 1907 für den Boykott, so<br />

verstand sie es doch schon im Frühjahr 1908, die Lehren zu ziehen, und<br />

erteilte der Agitation der „Otsowisten" in Petersburg und Moskau eine<br />

schwere Abfuhr. Nach dieser völligen Niederlage in Rußland fristeten die<br />

Otsowisten und ihre Verteidiger, zusammengeschlossen in dem völlig<br />

ohnmächtigen „Wperjod"-Grüppchen (Lunatscharski, Alexinsldu. a.), ein<br />

kümmerliches Leben im Ausland.<br />

Es erübrigt sich hinzuzufügen, daß infolge der Schwäche der Mehrheit<br />

der Organisationen in Rußland, infolge der Loslösung der ausländischen<br />

Gruppen von der Arbeit in Rußland die meisten dieser Gruppen völlig<br />

„frei" die Partei zerstörten und zersetzten, daß sie keinerlei Disziplin<br />

anerkannten und von keiner Organisation in Rußland ein Mandat zur<br />

Leitung eines Organs, zur Herausgabe von Broschüren und Proklamationen<br />

hatten. Außer Grüppchen mit unterschiedlichen prinzipiellen Auffassungen<br />

entstanden — wie es natürlich ist — einzelne völlig prinzipienlose<br />

Grüppchen, die unter dem Schein der „Versöhnung" und der „Vereini-


Die Lage in der SDAPR 143<br />

gung" der Partei bestrebt waren, durch Maklertum, Winkeldiplomatie<br />

und Intrigen politisches Kapital zu erwerben. Große Meister auf diesem<br />

Gebiet waren Trotzki mit der Wiener „Prawda" und Tyszka mit dem<br />

Hauptvorstand.<br />

II<br />

Die SDAPR stand vor der Frage, wie die Partei wiederherzustellen sei.<br />

Natürlich konnte man die Partei weder zusammen mit denen wiederherstellen,<br />

die die Partei liquidieren wollten, noch mit denen, die die Duma<br />

und die legalen Möglichkeiten boykottierten; entweder mußten die ausländischen<br />

Grüppchen, die diese bürgerliche Politik betrieben, diese aufgeben<br />

und sich der überwiegenden Mehrheit der Organisationen, Gruppen<br />

und Zirkel in Rußland fügen, oder aber Rußland mußte die Partei wiederherstellen<br />

entgegen diesen ausländischen Grüppcben.<br />

Im Januar 1910 fand die letzte Plenartagung des ZK der SDAPR statt,<br />

die den Versuch machte, die sich von der Sozialdemokratie abspaltenden<br />

Liquidatoren und Otsowisten zu retten und auf den Weg der Parteiarbeit<br />

zu führen. Die Absurdität und der unsozialdemokratische Charakter beider<br />

Abweichungen waren so offensichtlich, daß es niemanden gab, der sie<br />

verteidigt hätte. Einstimmig wurde festgestellt, daß es sich um bürgerliche<br />

Strömungen handelt, daß nur die Abkehr von ihnen die Wiedergeburt der<br />

Partei ermöglicht.<br />

Ein einstimmiger Beschluß reicht aber nicht aus, wenn ihm nicht eine<br />

einheitliche Aktion folgt. Die Liquidatoren und Otsowisten mißachteten<br />

die Beschlüsse des ZK-Plenums und ließen in ihrer Zersetzungstätigkeit<br />

nicht nach, sondern verstärkten sie noch. So kämpfte für die Partei anderthalb<br />

Jahre lang (von Januar 1910 bis Juni 1911) ihr Zentralorgan unter<br />

der Führung der Bolschewiki und der Polen, wobei der Menschewik<br />

Plechanow den Kampf gegen die Liquidatoren energisch unterstützte.<br />

Qegen die Partei „arbeiteten" mit aller Kraft die Liquidatoren, die<br />

„Wperjod"-Leute, Trotzki und der „Bund". Die Letten schwankten,<br />

stellten sich aber häufiger auf die Seite der Liquidatoren.<br />

Die Liquidatoren gingen in ihrer Zersetzungstätigkeit so weit, daß sie<br />

das ZK der Partei zerstörten! Das Plenum beschloß, das ZK in Rußland<br />

wiederherzustellen und neue Mitglieder zu kooptieren - aber die Liquidatoren<br />

willigten nicht einmal ein, auch nur zu einer einzigen Sitzung zu


144 W. 3. <strong>Lenin</strong><br />

erscheinen, und erklärten eine illegale Partei wie ein illegales ZK für<br />

„schädlich". Kann man nach all dem aus einem anderen Grunde als um<br />

zu intrigieren die Liquidatoren mit den westeuropäischen Opportunisten<br />

vergleichen?<br />

Die Partei blieb ohne ZK. Der Zerfall der Partei war unausbleiblich.<br />

Sie wiederherzustellen waren nur die russischen, d. h. die in Rußland<br />

arbeitenden Organisationen imstande. Und hier gerade zeigte sich in<br />

ihrem ganzen Glanz die heuchlerische Intrigantenpolitik Tyszkas, der im<br />

Hauptvorstand die Anhänger einer prinzipielleren Politik majorisierte und<br />

den Hauptvorstand dazu brachte, mit der SDAPR zu brechen, so daß<br />

dieser schließlich eine Stellung zwischen der Partei und den Liquidatoren<br />

der Partei einnahm.<br />

Um diese Politik, die der polnischen sozialdemokratischen Bewegung<br />

Schaden zufügt, begreiflich zu machen, wollen wir zunächst eine Tatsache<br />

aus der Sphäre des ideologischen Kampfes in unserer Partei anführen.<br />

Das Plenum des ZK hat, wie wir oben zeigten, das Liquidatorentum<br />

einstimmig verurteilt. Aber ein Teil der wichtigsten Resolution (ihr sogenannter<br />

Paragraph 1) wurde in direkt entgegengesetztem Sinne abgefaßt;<br />

das kam den Liquidatoren zupaß. In diesem Paragraphen hieß es,<br />

daß die Sozialdemokratie gegenwärtig, d. h. zur Zeit der Konterrevolution,<br />

zum erstenmal voll und ganz die Methoden der internationalen Sozialdemokratie<br />

anwendet. Dieser Paragraph, der ein Schlupfloch für Renegatentheorien<br />

ließ, war von Tyszka vorgeschlagen worden, der zwischen<br />

den Liquidatoren und der Partei zu lavieren suchte. Natürlich unterstützten<br />

die Liquidatoren diesen Paragraphen wärmstens, halfen sie Tyszka zu<br />

„siegen"; ein Teil der Bolschewiki, die sogenannte Gruppe der „Versöhnler"<br />

(d. h. faktisch Trotzkisten), glitt ebenfalls zu den Liquidatoren ab.<br />

Nach dem Plenum spottete Plechanow trefflich und scharf über die<br />

„Aufgedunsenheit", Verschwommenheit und Allgemeinheit dieses Punktes<br />

(ohne zu wissen, wer sein Urheber war). Ich nahm nach Plechanow Stellung<br />

und berichtete von meinem erfolglosen Kampf gegen den Bund<br />

Tyszkas mit den „Versöhnlern" und Liquidatoren.*<br />

Kein einziger der zahlreichen Publizisten des Hauptvorstands hat in<br />

den letzten zwei Jahren auch nur ein Wort zur Verteidigung dieses Paragraphen<br />

gesagt.<br />

* Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 16, S. 226-232. Die -<strong>Red</strong>.


Die Lage in der SDJPR 145<br />

Tyszkas Lavieren führte einzig nnd allein zu einer liquidatorischen<br />

Entstellung der Auffassungen der Partei. -<br />

Noch trauriger waren die Folgen dieser Politik in der Organisationsfrage.<br />

Ein ZK existiert nicht. Die Partei wiederherstellen kann nur eine<br />

Konferenz der Organisationen in Rußland. Wie aber soll man eine Konferenz<br />

einberufen? Offenkundig nidit zusammen mit denen, die die Partei<br />

liquidieren, sondern ohne sie.<br />

Tyszka balanciert, laviert und macht in „Vereinigung" der Partei mit<br />

denen, die sie liquidieren. Zuerst schließen sidb. Tyszka plus das „Versöhnler"grüppdien<br />

(ein völlig ohnmächtiges Auslandsgrüppchen, das ein<br />

volles Jahr lang von keiner einzigen Organisation in Rußland auch nur<br />

eine einzige Bestellung auf seine Druckerzeugnisse erhalten hat) den Bolsdiewiki<br />

an, sie übernehmen die Xontrolle der Einberufung der Konferenz,<br />

geben den Agenten, die die Konferenz einberufen sollen, Geld und<br />

schicken sie überallhin, wobei sie behaupten, sie würden die Partei „vereinigen"<br />

(eine Behauptung, die bei den Liquidatoren wie bei uns homerisches<br />

Gelächter erregt).<br />

Diese Agenten beginnen ihre Rundfahrt in "Kiew, wo die Organisation<br />

so eindeutig mensdiewistisch war, daß dies sogar unsere notorischen<br />

Feinde, Trotzki und die Letten, in der Presse zugegeben haben. Angesichts<br />

der zügellosen Angriffe der Liquidatoren auf unsere Konferenz müssen<br />

die polnischen Arbeiter wissen, daß eben unter Beteiligung der genannten<br />

Organisation die Russische Organisationskommission für die Einberufung<br />

der Konferenz gebildet wurde (im Oktober 1911). Und eben ein Delegierter<br />

dieser Organisation (Kiews) war auf der Konferenz Vorsitzender<br />

der Mandatsprüfungskommission!<br />

Es ist klar, daß in der Russischen Organisationskommission die Mehrheit<br />

von den Bolschewiki und einem Teil der „parteitreuen" (d. h. antiliquidatorischen)<br />

Menschewiki gebildet wird. Die anderen Grüppchen<br />

waren darin nicht vertreten, sind sie doch nur ausländische Fiktionen ohne<br />

Verbindungen in Rußland.<br />

Und da verläßt Tyszka aus Verzweiflung, daß er nicht vermitteln und<br />

intrigieren, nicht in Vereinigung mit den Liquidatoren machen kann, die<br />

ROK und erscheint trotz dreimaliger Einladung nicht zur Konferenz.<br />

Statt dessen nimmt er an einer Beratung der Liquidatoren 48 über die


146 IV. 7. Centn<br />

Einberufung einer anderen (liquidatorischen) Konferenz teil und... verläßt<br />

sie mit der Erklärung, daß dort Liquidatoren seien!! Ist solch ein<br />

„Versöhnler" etwa kein Komödiant?*<br />

III<br />

Die Januarkonferenz der SDAPR vereinigte die Mehrheit der Organi-'<br />

sationen in Rußland: Petersburg, Moskau, das Wolgagebiet und den Kaukasus,<br />

den Süden, die Westgebiete. Die Konferenz stellte fest, daß sich<br />

die Liquidatoren („Nascha Sarja") außerhalb der Partei gestellt haben.<br />

Die Konferenz lehnte jegliche Verantwortung für die Auslandsgrüppchen<br />

ab, die durch ihre Aktionen die Partei zersetzen.<br />

In ihren 23 Sitzungen erörterte die Konferenz eingehend alle Fragen<br />

der Taktik, sie nahm eine ganze Anzahl von Beschlüssen im Geiste der<br />

vorangegangenen vierjährigen Arbeit des Zentralorgans und aller führenden<br />

Parteiinstanzen an. Die Konferenz konstituierte sich als höchste<br />

Parteiinstanz und wählte ein Zentralkomitee.<br />

Daß die Liquidatoren und mit ihnen alle ohnmächtigen Auslandsgrüppchen<br />

gegen die Parteikonferenz Gift und Galle speien, ist durchaus begreiflich.<br />

Die Konferenz hat sie verurteilt. Jeder Verurteilte hat das Recht,<br />

24 Stunden lang auf seine Richter zu schimpfen.<br />

Aber es gibt weder ein anderes ZK nodb eine andere sozialdemokratische<br />

Partei in Rußland. Tyszka und der Hauptvorstand, die dieser Konferenz<br />

ausgewichen sind und den pohlischen Arbeitern versichern, daß es<br />

(unter Mitwirkung von Maklern) möglich sei, die Partei mit den Liquidatoren<br />

zu „vereinigen", betrügen die Arbeiter. Dieser Betrug beraubte die<br />

polnischen" Arbeiter der Möglichkeit, sich mit den russischen Genossen zu<br />

beraten, zusammen mit ihnen die Taktik und die Losungen in einem so<br />

wichtigen Augenblick zu erörtern, wie ihn der revolutionäre Aufschwung<br />

der April- und Maitage und die Wahlen zur IV. Duma kennzeichnen.<br />

Die Verstärkung des revolutionären Aufschwungs unter dem russischen<br />

* Der Hauptvorstand nennt im „Vorwärts" Trotzki einen Agenten der<br />

Liquidatoren und weist im „Czerwony Sztandar" [Rotes Banner] nach, daß eine<br />

Vereinignng nicht nur mit der liqnidatorischen PPS-Lewica, sondern auch mit<br />

dem liqtridatorischen „Bund" in Polen unmöglich sei!! Tyszka jedoch verspricht,<br />

die SDAPR mit den russischen Liquidatoren zu vereinigen.


Die Lage in der SDAVTL 147<br />

Proletariat ist offensichtlich. Diesen Prozeß fördern, die illegale Organisation<br />

festigen, der Bewegung die richtigen revolutionären Lösungen<br />

geben, dem Opportunismus der legalistischen Liquidatoren eine Abfuhr<br />

erteilen, die legalen Organisationen mit antiliquidatorischem Geist erfüllen<br />

und in dieser Richtung die Wahlen zur IV. Duma durchführen -<br />

das sind die nächsten Aufgaben, die die SDAPR gegenwärtig in der Praxis<br />

zu lösen hat, wobei ihre theoretische Stellung zu diesen Aufgaben von der<br />

Gesamtrussischen Januarkonferenz festgelegt wurde.<br />

Was die Richtung ihrer Arbeit betrifft, so marschieren die pohlischen<br />

revolutionären sozialdemokratischen Arbeiter gemeinsam mit uns. Ich<br />

erlaube mir daher zu schließen, indem ich der Überzeugung Ausdruck<br />

gebe, daß das Proletariat Polens es vermögen wird, sich trotz der prinzipiellen<br />

Schwankungen des gegenwärtigen Hauptvorstands auch organisatorisch<br />

mit uns, mit der SDAPR, zu vereinigen.<br />

Veröftentlidit am i6. "Juli i9l2 "Naäi dem 7ext der Zeitung,<br />

in der „ Qazeta Robotnicza" T^r. i5/i6. Aus dem Volnisdoen.<br />

Vntersdirift: 7$. <strong>Lenin</strong>.


148<br />

ANTWORT AN DIE LIQUIDATOREN«<br />

Die Liquidatoren vom „Newski Golos" schreiben sich die Finger wund,<br />

um die Einheit der Arbeiterwahlen in Petersburg zu zerstören. Das wird<br />

ihnen nicht gelingen. Das heuchlerische Geschrei nach „Einheit"... (von<br />

Seiten der £icfuidatoren!!') wird niemanden betrügen.<br />

Die Einheit der Arbeiterdemokratie ist gesichert.<br />

Die Arbeiter folgen nicht denen, die die Arbeiterdemokratie liquidieren<br />

und nur versprechen, sie zu ersetzen ... durch eine legale „Partei", die<br />

eine liberale Arbeiterpolitik betreibt. Die Einheit der Arbeitermassen,<br />

und nicht eine „Vereinbarung" auf Kosten dieser Einheit mit den intellektuellen<br />

Spalterzirkeln der Liquidatoren, das ist es, was die klassenbewußten<br />

Arbeiter wollen. Und die „Prawda"® folgt dieser Losung.<br />

Uns verwirren nicht die unwürdigen Ausfälle der Liquidatoren, die<br />

offen fragen, wo das zu „finden" ist, was sich der „Offenheit" nicht<br />

rühmt... Zimmert nur, Herrschaften, eure ,;offene" Plattform, baut eure<br />

neue, „legale" Partei, viel Glück auf den Weg!<br />

PS. Ich bitte dringend, mir umgehend oder möglichst bald auf die hier<br />

aufgeworfene Frage zu antworten. JAan darf nidbt schweigen. Man kann<br />

alles verderben und den Protest der Arbeiter von links hervorrufen, wenn<br />

man darüber schweigt. Man muß den Liquidatoren eine Abfuhr erteilen.<br />

Man kann keine Wahlen durchführen, wenn man verheimlicht, für<br />

wen diese Arbeit geleistet wird (doch nicht für die Liquidatoren?).<br />

Wollt Ihr „links" nicht alles verschärfen und verderben, so veröffentlicht<br />

diese „Antwort an die Liquidatoren". Solltet Ihr sie nidbt bringen, so<br />

schickt mir dieses Blatt unverzüglidh zurück. Das ist für mich wichtig !<br />

Qesdhrieben im "Juli 1912.<br />

Zuerst veröftentlidbt TJadh dem Manuskript.<br />

1933 im £enin-Sammelband XXV.


IN DER SCHWEIZ<br />

149<br />

Die Schweiz wird von den dortigen Sozialisten eine „Republik der<br />

Lakaien" genannt. Das kleinbürgerliche Land, in dem einer der wichtigsten<br />

Erwerbszweige seit eh und je das Gastwirtsgewerbe war, hing allzusehr<br />

von den reichen Tagedieben ab, die für Sommerreisen ins Gebirge<br />

Millionen hinauswerfen. Der vor dem reichen Touristen katzbuckelnde<br />

kleine Unternehmer war bis vor kurzem der häufigste Typ des schweizerischen<br />

Bourgeois.<br />

Jetzt ändert sich die Lage. In der Schweiz entwickelt sich eine Großindustrie.<br />

Eine große Rolle spielt bei diesem industriellen Aufschwung die<br />

Ausnutzung der Wasserfälle und der Gebirgsflüsse für die direkte Gewinnung<br />

von elektrischer Energie. „Weiße Kohle" nennt man häufig diese<br />

Kraft des herabstürzenden Wassers, die der Industrie die Steinkohle ersetzt.<br />

Die Industrialisierung der Schweiz, d. h. die Entwicklung einer einheimischen<br />

Industrie, einer Großindustrie, machte der früheren Stagnation<br />

der Arbeiterbewegung ein Ende. Der Kampf zwischen Kapital und Arbeit<br />

verschärft sich. Der müde, spießerische Geist, der früher oft in einigen<br />

Arbeiterbünden der Schweiz herrschte, schwindet, und an seine Stelle<br />

tritt die kämpferische Stimmung des klassenbewußten, organisierten Proletariats,<br />

das seine Kraft erkennt.<br />

Die Arbeiter der Schweiz täuschen sich keineswegs darüber, daß ihre<br />

Republik eine bürgerliche Republik ist, die die gleiche Lohnsklaverei in<br />

Schutz nimmt, wie sie in ausnahmslos allen kapitalistischen Ländern besteht.<br />

Doch zugleich verstehen es die schweizerischen Arbeiter heute ausgezeichnet,<br />

die Freiheit ihrer republikanischen Einrichtungen für die<br />

Schulung und Organisierung der breiten Arbeitermassen auszunutzen.


150 W. I.<strong>Lenin</strong><br />

Die Früchte dieser Arbeit traten bei dem Generalstreik in Zürich am<br />

12. Juli (29. Juni a. St.) deutlich zutage.<br />

Das war so. Die Maler und Schlosser von Zürich streikten schon<br />

mehrere Wochen, um eine Lohnerhöhung und eine Verkürzung der Arbeitszeit<br />

durchzusetzen. Die Unternehmer gerieten in Wut und beschlossen,<br />

den Widerstand der Streikenden zu brechen. Die Regierung der<br />

bürgerlichen Republik eilte den Kapitalisten, denen sie ihren Eifer beweisen<br />

wollte, zu Hilfe und begann, die streikenden Ausländer auszu<br />

weisen l (In der Schweiz arbeiten viele zugewanderte ausländische Arbeiter,<br />

besonders Italiener.) Aber dieser grobe Gewaltakt half nicht. Die<br />

Arbeiter hielten stand.<br />

Daraufhin griffen die Kapitalisten zu folgender Methode. In Hamburg<br />

(Deutschland) existiert eine Firma Ludwig Koch, die sich besonders mit<br />

der Beschaffung von Streikbrechern befaßt. Die Züricher Kapitalisten -<br />

Patrioten nnd Republikaner, Scherz beiseite! - ließen sich von dieser<br />

Firma Streikbrecher kommen, unter ihnen wissentlich allerlei kriminelle<br />

Typen, die in Deutschland wegen Kuppelei, Schlägerei usw. verurteilt<br />

worden waren. Diesen Vagabunden oder Lumpenproletariern gaben die<br />

Kapitalisten Revolver. Die frech gewordene <strong>Band</strong>e dieser Streikbrecher<br />

verteilte sich auf die Wirtshäuser im Arbeiterviertel und benahm sich unerhört<br />

rowdyhaft. Als sich die Arbeiter zusammenschlössen, um die<br />

Rowdys zu verjagen, ersdhoß einer von diesen einen streikenden Arbeiter.<br />

Die Geduld der Arbeiter war erschöpft. Der Mörder wurde verprügelt.<br />

Es wurde beschlossen, im Stadtrat von Zürich eine Anfrage über die Ausschreitungen<br />

der Rowdys einzubringen. Und als der Stadtrat die Kapitalisten<br />

in Schutz nahm und die Streikposten verbot, beschlossen die Arbeiter,<br />

mit einem vierundzwanzigstündigen Qenerälstreik zu protestieren.<br />

Für den Streik sprachen sich einmütig alle Gewerkschaftsverbände aus.<br />

Nur die Buchdrucker machten eine traurige Ausnahme. Sie stimmten<br />

gegen den Streik, und die Versammlung der 425 Vertreter aller Arbeiterorganisationen<br />

von Zürich quittierte diesen Beschluß der Buchdrucker mit<br />

lauten „Pfui!"-Rnfen. Der Streik wurde beschlossen, obwohl die Führer<br />

der politischen Organisationen dagegen waren (der alte Geist der verspießerten,<br />

opportunistischen schweizerischen Führer!).<br />

Die Arbeiter wußten,, daß die Kapitalisten und die Verwaltung versuchen<br />

würden, den friedlichen Streik zum Scheitern zu bringen, und sie


Jn der Söbweiz 151<br />

handelten daher nach der weisen Regel: „Wenn schon Krieg, dann wie im<br />

Krieg". Im Krieg läßt man den Feind nicht wissen, wann der Angriff erfolgen<br />

wird. Die Arbeiter erklärten am Donnerstag, daß der Streik am<br />

Dienstag oder Mittwoch durchgeführt würde, setzten ihn aber in Wirklichkeit<br />

für Jreitag fest. Die Kapitalisten und die Verwaltung wurden<br />

überrumpelt.<br />

Der Streik gelang ausgezeichnet. Am frühen Morgen waren 30 000 Flugblätter<br />

in deutscher und italienischer Sprache verteilt worden. Etwa 2000<br />

Streikende hielten die Straßenbahndepots besetzt. Albs stand still. Das<br />

Leben in der Stadt war erstorben. Der Freitag ist in Zürich Markttag, aber<br />

die Stadt lag wie tot. Der Genuß von Alkohol (aller alkoholischen Getränke)<br />

war vom Streikkomitee untersagt worden, und die Arbeiter hielten<br />

sich streng an diesen Beschluß.<br />

Um 2 Uhr nachmittags fand eine imposante Massendemonstration<br />

statt. Nachdem die <strong>Red</strong>en gehalten waren, ging man friedlich und ohne<br />

Gesang auseinander.<br />

Die Regierung und die Kapitalisten, die gehofft hatten, die Arbeiter zu<br />

Gewaltakten provozieren zu können, mußten ihren Mißerfolg erkennen,<br />

und jetzt rasen sie vor Wut. Ein besonderer Erlaß verbietet im ganzen<br />

Kanton Zürich nicht nur Streikposten, sondern auch Versammlungen im<br />

Freien und Demonstrationen. Die Polizei besetzte das Volkshaus in<br />

Zürich und verhaftete eine Reihe von Arbeiterführern. Die Kapitalisten<br />

verfügten, um sich für den Generalstreik zu rächen, eine dreitägige Aussperrung.<br />

Die Arbeiter verhalten sich ruhig, sie halten den Boykott von Schnaps<br />

und Wein streng ein und sagen einander: „Warum sollten wir Arbeiter<br />

nicht drei Tage im Jahr feiern, wo doch die Reichen das ganze Jahr lang<br />

feiern."<br />

„Vrawda" Nr. 63, Nada dem 7ext der „Vrawda".<br />

12. Juli i9i2.<br />

TAntersdbrift: B. Sb.


152<br />

DEMOKRATIE<br />

UND VOLKSTUMLERIDEOLOGIE<br />

IN CHINA<br />

Der Artikel des provisorischen Präsidenten der chinesischen Republil<br />

Sun Yat-sen, den wir der Brüsseler sozialistischen Zeitung „Le Peuple"<br />

[Das Volk] entnehmen, ist für uns Russen von außerordentlichem Interesse.<br />

Ein Sprichwort sagt: Der Außenstehende sieht besser. Sun Yat-sen ist<br />

ein außerordentlich interessanter „außenstehender" Zeuge, denn obwohl<br />

er ein europäisch gebildeter Mensch ist, ist er offenbar mit Rußland ganz<br />

und gar nicht vertraut. Und dieser europäisch gebildete Vertreter der<br />

kämpfenden und siegreichen chinesischen Demokratie, die sich die Republik<br />

erobert hat, wirft vor unseren Augen - ganz und gar unabhängig von<br />

Rußland, von den russischen Erfahrungen, von der russischen Literatur -<br />

rein russische Fragen auf. Der fortgeschrittene chinesische Demokrat<br />

urteilt buchstäblich wie ein Russe. Seine Ähnlichkeit mit einem russischen<br />

Volkstümler ist so groß, daß sie bis zur vollen Übereinstimmung der<br />

Hauptgedanken und einer ganzen Reihe einzelner Aussprüche geht.<br />

Der Außenstehende sieht besser. Die Plattform der großen chinesischen<br />

Demokratie - denn eben eine solche Plattform stellt der Artikel Sun Yatsens<br />

dar - veranlaßt uns und gibt uns die willkommene Gelegenheit, die<br />

Frage der gegenseitigen Beziehungen zwischen Demokratismus und Volkstümlerideologie<br />

in den gegenwärtigen bürgerlichen Revolutionen Asiens<br />

noch einmal unter dem Gesichtswinkel der neuen Weltereignisse zu überprüfen.<br />

Es ist das eine der ernstesten Fragen, vor die Rußland in seiner<br />

revolutionären Epoche, die 1905 begann, gestellt worden ist. Und nicht<br />

nur Rußland, sondern ganz Asien, wie die Plattform des provisorischen<br />

Präsidenten der chinesischen Republik zeigt, besonders wenn man diese


"Demokratie und Volkstümlerideologie in China 153<br />

Plattform der Entwicklung der revolutionären Ereignisse in Rußland, in<br />

der Türkei, in Persien und China gegenüberstellt. Rußland ist in sehr<br />

vielen und sehr wesentlichen Beziehungen zweifellos ein asiatischer Staat,<br />

und dabei ein ganz besonders barbarischer, mittelalterlicher, schändlich<br />

rückständiger asiatischer Staat.<br />

Die russische bürgerliche Demokratie ist im Sinne der Volkstümler-'<br />

ideologie gefärbt - beginnend mit ihrem ältesten und einsamen Vorläufer,<br />

dem Adligen Herzen, und endend mit ihrer Massenvertretung,<br />

den Mitgliedern des Bauembundes im Jahre 1905, den Trudowikiabgeordneten<br />

der ersten drei Dumas von 1906 bis 1912. Jetzt sehen wir, daß<br />

die bürgerliche Demokratie Chinas in ganz der gleichen volkstümlerischen<br />

Färbung auftritt Betrachten wir nun am Beispiel Sun Yat-sens, worin die<br />

„soziale Bedeutung" der Ideen besteht, die aus der tiefen revolutionären<br />

Bewegung Hunderter und aber Hunderter Millionen Menschen hervorgegangen<br />

sind, die jetzt endgültig in den Strom der weltumfassenden kapitalistischen<br />

Zivilisation hineingezogen werden.<br />

Streitbare, ehrliche demokratische Gesinnung erfüllt jede Zeile der<br />

Plattform Sun Yat-sens. Volles Verständnis für die Mangelhaftigkeit einer<br />

„Rassen"revolution. Keine Spur eines Apolitizismus oder auch nur einer<br />

Geringschätzung der politischen Freiheit, keinerlei Zulassung des Gedankens<br />

einer Vereinbarkeit der chinesischen Selbstherrschaft mit einer chinesischen<br />

„Sozialreform", mit einer chinesischen konstitutionellen Umgestaltung<br />

usw. Voller Demokratismus mit der Forderung der Republik.<br />

Direkte Stellung der Frage nach der Lage der Massen, der Frage des<br />

Massenkampfes, heißes Mitgefühl mit den Werktätigen und Ausgebeuteten,<br />

Glaube an ihr Recht und ihre Kraft.<br />

Vor uns haben wir wirklich die große Ideologie eines wirklich großen<br />

Volkes, das sein jahrhundertealtes Sklaventum nicht mir beklagt, von<br />

Freiheit und Gleichheit nicht nur träumt, sondern es auch versteht, gegen<br />

die jahrhundertealten Unterdrücker Chinas zu kämpfen.<br />

Es drängt sich von selbst der Vergleich zwischen dem provisorischen<br />

Präsidenten der Republik im wilden, öden, asiatischen China und den<br />

verschiedenen Präsidenten der Republiken in Europa, in Amerika, in den<br />

Ländern der fortgeschrittenen Kultur auf. Dort sind die Präsidenten der<br />

Republiken durchweg Manager, Agenten oder Puppen in den Händen der<br />

Bourgeoisie, die durch und durch verfault ist, von Kopf bis Fuß, mit<br />

11 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>


154 W. I.<strong>Lenin</strong><br />

Schmutz und Blut bespritzt - nicht mit dem Blut der Padischahs und Großmoguln,<br />

sondern mit dem Blut der Arbeiter, die im Namen des Fortschritts<br />

imd der Zivilisation erschossen werden, wenn sie streiken. Dort sind die<br />

Präsidenten Vertreter einer Bourgeoisie, die sich schon längst von allen<br />

Idealen ihrer Jugend losgesagt hat, die sich selbst bis zum äußersten<br />

prostituiert und sich den Millionären, Milliardären, den verbürgerlichten<br />

Feudalherren usw. mit Haut und Haaren verkauft hat.<br />

Hier der asiatische provisorische Präsident einer Republik, ein revolutionärer<br />

Demokrat, voll Edelsinn und Heroismus, wie sie einer Klasse<br />

eigen sind, die aufsteigt und nicht abwärts gleitet, die die Zukunft nicht<br />

fürchtet, sondern an sie glaubt und mit Selbstverleugnung für sie kämpft -<br />

einer Klasse, die das Vergangene haßt und es versteht, sich des Abgestorbenen,<br />

der alles Leben erstickenden Fäulnis zu entledigen, einer Klasse,<br />

die sich nicht um ihrer Privilegien willen an die Erhaltung und Wiederaufrichtung<br />

des Vergangenen klammert.<br />

Was denn? Heißt das vielleicht, daß der materialistische Westen verfault<br />

ist und das Licht nur aus dem mystischen, religiösen Osten leuchtet?<br />

Nein, gerade umgekehrt. Das heißt, daß der Osten endgültig den Weg<br />

des Westens betreten hat, daß neue Hunderte und aber "Hunderte Millionen<br />

Menschen nunmehr am Kampf für die Ideale teilnehmen, zu denen<br />

sich der Westen durchgekämpft hat. Verfault ist die Bourgeoisie des<br />

Westens, vor der schon ihr Totengräber steht — das Proletariat. Aber in<br />

Asien existiert nodh eine Bourgeoisie, die fähig ist, die ehrliche, streitbare<br />

und konsequente Demokratie zu vertreten, eine würdige Gefährtin der<br />

großen Verkünder und großen Tatmenschen am Ende des <strong>18</strong>. Jahrhunderts<br />

in Frankreich.<br />

Der Hauptvertreter oder die soziale Hauptstütze dieser, einer historisch<br />

fortschrittlichen Sache noch fähigen, asiatischen Bourgeoisie ist der Bauer.<br />

Neben ihm gibt es bereits eine liberale Bourgeoisie, deren Führer, wie<br />

Yüan Schi-kai, am ehesten des Verrats fähig sind: gestern fürchteten sie'<br />

noch den „Sohn des Himmels" und krochen vor ihm; dann - als sie eine<br />

Kraft sahen, als sie den Sieg der revolutionären Demokratie fühlten -<br />

verrieten sie den Himmelssohn, und morgen werden sie die Demokraten<br />

verraten, um einer Abmachung mit irgendeinem alten oder neuen „konstitutionellen"<br />

Himmelssohn willen.<br />

Ohne einen starken, wahrhaften demokratischen Aufschwung, der die


Demokratie und VolkstümUrideohgie in China 155<br />

werktätigen Massen entflammt, sie fähig macht, Wunder zu vollbringen,<br />

und der in jedem Satz der Plattform Sun Yat-sens sichtbar wird, wäre<br />

eine wirkliche Befreiung des chinesischen Volkes von der jahrhundertealten<br />

Sklaverei unmöglich.<br />

Aber diese Ideologie des streitbaren Demokratismus ist bei den chinesischen<br />

Volkstümlern verknüpft erstens mit sozialistischen Träumereien,<br />

mit der Hoffnung, den Weg des Kapitalismus in China zu vermeiden, dem<br />

Kapitalismus zuvorzukommen, and zweitens mit dem Plan und der Propagierung<br />

einer radikalen Agrarreform. Gerade diese beiden politischideologischen<br />

Strömungen stellen das Element dar, welches das Wesen der<br />

Volkstütnlerriditung in der spezifischen Bedeutung dieses Begriffs, d. h.<br />

zum Unterschied vom Demokratismus, in Ergänzung zum Demokratismus,<br />

ausmacht.<br />

Welchen Ursprung und welche Bedeutung haben diese Strömungen?<br />

Die chinesische Demokratie konnte die alte Ordnung in China nicht<br />

stürzen und die Republik nicht erobern ohne einen gewaltigen geistigen<br />

und revolutionären Aufschwung der Massen. Ein solcher Aufschwung<br />

setzt voraus und erzeugt das aufrichtigste Mitgefühl mit der Lage der<br />

werktätigen Massen, den glühendsten Haß gegen ihre Unterdrücker und<br />

Ausbeuter. Doch in Europa und Amerika, von wo die fortschrittlichen<br />

Chinesen, alle Chinesen, soweit sie diesen Aufschwung verspürten, ihre<br />

Befreiungsideen entlehnt haben, steht schon die Befreiung von der Bourgeoisie,<br />

d. h. der Sozialismus, auf der Tagesordnung. Die Folge ist unvermeidlich<br />

die Sympathie der chinesischen Demokraten für den Sozialismus,<br />

ihr subjektiver Sozialismus.<br />

Sie sind subjektiv Sozialisten, weil sie gegen die Unterdrückung und<br />

Ausbeutung der Massen sind. Aber die objektiven Verhältnisse Chinas,<br />

eines •zurückgebliebenen, halbfeudalen Agrarlandes, stellen im Leben<br />

dieses fast eine halbe Milliarde zählenden Volkes allein eine bestimmte,<br />

historisch-eigentümliche Form dieser Unterdrückung und dieser Ausbeutung<br />

auf die Tagesordnung: den Feudalismus. Der Feudalismus fußte auf<br />

der Vorherrschaft des Ackerbaus und der Naturalwirtschaft; die Quelle<br />

der feudalen Ausbeutung des chinesischen Bauern war seine Tesseluncj an<br />

die Scholle in dieser oder jener Form; die politischen Träger dieser Ausbeutung<br />

waren die Feudalherren, alle zusammen und jeder einzelne, mit<br />

dem Kaiser als dem Haupt des Systems.


156 W.l <strong>Lenin</strong><br />

Und nun zeigt sidi, daß sich aus den subjektiv-sozialistischen Gedanken<br />

und Programmen des chinesischen Demokraten in der Praxis ein Programm<br />

der „Änderung aller Rechtsgrundlagen" einzig und allein des „unbeweglichen<br />

Eigentums", ein Programm der Vernichtung einzig und allein<br />

der feudalen Ausbeutung ergibt.<br />

Darin liegt der %ern der Volkstümlerideologie Sun Yat-sens, seines<br />

fortschrittlichen, kämpferischen, revolutionären Programms der bürgerlich-demokratischen<br />

Agrarumgestaltungen und seiner sogenannten sozialistischen<br />

Theorie.<br />

Diese Theorie ist, vom Standpunkt der Doktrin betrachtet, die Theorie<br />

eines kleinbürgerlichen „sozialistischen" Reaktionärs. Denn es ist ganz<br />

und gar reaktionär, davon zu träumen, daß es in China möglich sei, dem<br />

Kapitalismus „zuvorzukommen", daß in China infolge seiner Rückständigkeit<br />

die „soziale Revolution" leichter sei usw. Und Sun Yat-sen läßt selbst<br />

mit unnachahmlicher, man könnte fast sagen kindlicher Naivität seine<br />

reaktionäre Volkstümlertheorie in Rauch aufgehen, wenn er anerkennt, was<br />

anzuerkennen das Leben erzwingt: daß nämlich „China am Vorabend<br />

einer gigantischen industriellen" (d.h. kapitalistischen) „Entwicklung<br />

steht", daß in China „der Handel" (d. h. der Kapitalismus) „sich in gewaltigem<br />

Ausmaß entfalten wird", daß es „bei uns in 50 Jahren viele<br />

Schanghais geben wird", d. h. Millionenzentren kapitalistischen Reichtums<br />

und proletarischer Not und Armut.<br />

Aber es fragt sich - und das ist der ganze Kem der Frage, das ist der<br />

interessanteste Punkt, vor dem nicht selten der kastrierte liberale Quasimarxismus<br />

haltmacht -, es fragt sich, ob Sun Yat-sen auf Grund seiner<br />

reaktionären ökonomischen Theorie wirklich ein reaktionäres Agrarprogramm<br />

vertritt<br />

Darum eben geht es, daß dem nicht so ist. Darin eben besteht die<br />

Dialektik der gesellschaftlichen Verhältnisse Chinas, daß die chinesischen<br />

Demokraten, die mit dem Sozialismus in Europa aufrichtig sympathisierten,<br />

ihn in eine reaktionäre Theorie verwandelt haben und auf Qrund<br />

dieser reaktionären Theorie, daß China dem Kapitalismus „zuvorkommen"<br />

könne, ein rein kapitdlistisdies, maximal kapitalistisches Agrarprogramm<br />

verfechten!<br />

In der Tat, worauf läuft die „ökonomische Revolution" hinaus, von der<br />

Sun Yat-sen am Anfang seines Artikels so prunkvoll und dunkel spricht?


Demokratie und Volkstümlerideofogie in China 157<br />

Auf die Übergabe der Rente an den Staat, das heißt auf die Nationalisierung<br />

des Bodens mittels einer Art Einheitssteuer im Sinne Henry<br />

Georges. Irgend etwas anderes Reales ist in der von Sun Yat-sen vorgeschlagenen<br />

und verkündeten „ökonomischen Revolution" nicht enthalten.<br />

Der Unterschied zwischen dem Wert des Bodens in einem bäuerlichen<br />

Krähwinkel und in Schanghai besteht in dem Unterschied der Größe der<br />

Rente. Der Preis des Bodens ist kapitalisierte Rente. Dafür zu sorgen, daß<br />

der „Wertzuwachs" des Bodens „Eigentum des Volkes" werde, bedeutet,<br />

die Rente, d. h. das Eigentum an Grund und Boden, dem Staat zu übergeben,<br />

oder anders gesagt, den Boden zu nationalisieren.<br />

Ist eine solche Reform im Rahmen des Kapitalismus möglich? Sie ist<br />

nicht nur möglich, sondern sie stellt sogar den reinsten, maximal konsequenten,<br />

ideal vollkommenen Kapitalismus dar. Das hat Marx im „Elend<br />

der Philosophie" gezeigt und eingehend im III. <strong>Band</strong> des „Kapitals" bewiesen;<br />

besonders anschaulich hat er das in der Polemik gegen Rodbertus<br />

in den „Theorien über den Mehrwert" 49 entwickelt<br />

Die Nationalisierung des Bodens gibt die Möglichkeit, die absolute<br />

Rente zu beseitigen und nur die Differentialrente übrigzulassen. Die<br />

größtmögliche Ausmerzung der mittelalterlichen Monopole und der mittelalterlichen<br />

Verhältnisse in der Landwirtschaft, die größtmögliche Freiheit<br />

des Handels mit Grund und Boden, die leichteste Anpassung der Bodenbewirtschaftung<br />

an den Markt - das bedeutet die Nationalisierung des<br />

Bodens nach der Lehre von Marx. Die Ironie der Geschichte besteht darin,<br />

daß die Volkstümlerrichtung im Namen des „Kampfes gegen den Kapitalismus"<br />

in der Landwirtschaft ein Agrarprogramm vertritt, dessen volle<br />

Verwirklichung die schnellste Entwicklung des Kapitalismus in der Landwirtschaft<br />

bedeuten würde.<br />

Welche ökonomische Notwendigkeit hat in einem der am weitesten<br />

zurückgebliebenen Bauernländer Asiens zur Verbreitung der fortschrittlichsten<br />

bürgerlich-demokratischen Programme in der Bodenfrage geführt?<br />

Die Notwendigkeit der Vernichtung des Feudalismus in allen seinen Formen<br />

und Erscheinungen.<br />

Je mehr China hinter Europa und hinter Japan zurückblieb, desto mehr<br />

drohte ihm Zerstückelung und nationaler Zerfall. „Erneuern" konnte es<br />

nur der Heroismus der revolutionären Volksmassen, der fähig ist, auf dem


158 "W.1. <strong>Lenin</strong><br />

Gebiet der Politik die chinesische Republik zu schaffen und auf dem Gebiet<br />

der Landwirtschaft mittels der Nationalisierung des Bodens den<br />

raschesten kapitalistischen Fortschritt zu sichern.<br />

Ob und in welchem Maße das gelingt, das ist eine andere Frage. Verschiedene<br />

Länder haben in ihrer bürgerlichen Revolution verschiedene<br />

Stufen der politischen Demokratie und der Agrardemokratie verwirklicht,<br />

und dabei in den buntesten Kombinationen. Entscheiden werden die internationale<br />

Lage und das Verhältnis der gesellschaftlichen Kräfte in China.<br />

Der Kaiser wird sicherlich die Feudalherren, die Bürokratie und die chinesische<br />

Geistlichkeit vereinigen und die Restauration vorbereiten. Yüan<br />

Schi-kai, der Vertreter der Bourgeoisie, die eben erst aus einer liberalmonarchistischen<br />

zu einer liberal-republikanischen geworden ist (auf wie<br />

lange?), wird eine Politik des Lavierens zwischen der Monarchie und der<br />

Revolution betreiben. Die revolutionäre bürgerliche Demokratie, die von<br />

Sun Yat-sen vertreten wird, sucht ganz richtig den Weg zur „Erneuerung"<br />

Chinas in der Entwicklung der größtmöglichen Selbsttätigkeit, Entschlossenheit<br />

und Kühnheit der bäuerlichen Massen in der Sache der politischen<br />

und der Agrarreformen.<br />

Und schließlich wird, in dem Maße, wie in China die Zahl der Schanghais<br />

wachsen wird, auch das chinesische Proletariat wachsen. Es wird<br />

wahrscheinlich diese oder jene chinesische sozialdemokratische Arbeiterpartei<br />

bilden, die bei gleichzeitiger Kritik an den kleinbürgerlichen Utopien<br />

und den reaktionären Anschauungen Sun Yat-sens den revolutionärdemokratischen<br />

Kern seines politischen und Agrarprogramms sicherlich<br />

sorgfältig herausheben, bewahren und weiterentwickeln wird.<br />

„7Jewska]a Swesda" 5Vr. n, Ttaäi dem 7ext der<br />

15. Juli i9i2. „TJewskaja Swesda",<br />

Zlntersdhrift: IV l Jljin.


DER PARTEITAG<br />

DER ITALIENISCHEN SOZIALISTEN<br />

159<br />

In diesen Tagen wurde in der Stadt Reggio (Provinz Emilia) der XIII.<br />

Parteitag der Italienischen Sozialistischen Partei beendet.<br />

Der innere Kampf in der Italienischen Sozialistischen Partei hat in den<br />

letzten Jahren besonders scharfe Formen angenommen. Anfangs gab es<br />

zwei Grundrichtungen: die Revolutionäre und die Reformisten. Die ersten<br />

verteidigten den proletarischen Charakter der Bewegung und kämpften<br />

gegen jegliche Erscheinungsformen des Opportunismus, d. h. gegen den<br />

Geist der Mäßigung, des Paktierern mit der Bourgeoisie, des Verzichts auf<br />

die (sozialistischen) Endziele der Arbeiterbewegung. Der Klassenkampf,<br />

das ist das Grundprinzip, die Grundlage der Anschauungen dieser Richtung.<br />

Die Reformisten vergaßen im Kampf um Reformen, d. h. um einzelne<br />

Verbesserungen der politischen und wirtschaftlichen Lage, ständig den<br />

sozialistischen Charakter der Bewegung, sie setzten sich für Blocks und<br />

Bündnisse mit der Bourgeoisie ein bis zum Eintritt eines Sozialisten in ein<br />

bürgerliches Kabinett, bis zum Verzicht auf konsequent republikanische<br />

Überzeugungen (im monarchistischen Italien gilt die republikanische Propaganda<br />

an sich nicht als ungesetzlich), bis zur Verteidigung der „Kolonialpolitik",<br />

der Politik der Eroberung von Kolonien, der Unterdrückung,<br />

Ausplünderung und Ausrottung der Eingeborenen usw.<br />

Diese beiden Grundrichtungen, die es in dieser oder jener Form in allen<br />

sozialistischen Parteien gibt, brachten in Italien noch zwei extreme Richtungen<br />

hervor, die sich völlig vom Sozialismus abwandten und die deshalb<br />

zur Lostrennung von der sozialistischen Arbeiterpartei führten. Eines dieser<br />

nichtsozialistischen Extreme ist der Syndikalismus, der eine Zeitlang


160 TV. J.<strong>Lenin</strong><br />

in Italien „Mode" wurde. Die Syndikalisten neigten zum Anarchismus,<br />

verfielen in revolutionäre Phrasen, untergruben die Disziplin des Arbeiterkampfes,<br />

verzichteten auf die Ausnutzung der Parlamentstribüne durch<br />

die Sozialisten oder verteidigten diesen Verzicht.<br />

Der Einfluß der Anarchisten ist überall schwach, und die Arbeiterbewegung<br />

überwindet diese Krankheit schnell.<br />

Die italienischen Syndikalisten (mit ihrem Führer Arturo Labriola an<br />

der Spitze) stehen gegenwärtig schon außerhalb der Sozialistischen Partei.<br />

Ihre Rolle in der Arbeiterbewegung ist ganz unbedeutend. Die revolutionären<br />

Marxisten in Italien wie auch in den anderen Ländern zeigen<br />

nicht die geringste Nachsicht gegenüber den anarchistischen Stimmungen<br />

und Richtungen, die die proletarische Bewegung zersetzen.<br />

Die Reformisten sind weniger beharrlich gegenüber jenen extremen<br />

rechten Reformisten, die zur liberalen Arbeiterpolitik hinabgleiten und<br />

endgültig in das Lager der Liberalen und auf die Seite der Bourgeoisie<br />

übergehen. Die Absonderung dieser Verräter an der Sache der Arbeiter<br />

von der Sozialistischen Partei geht deshalb selten ohne einen unerhört<br />

harten Kampf der revolutionären Marxisten gegen alle Reformisten vonstatten.<br />

So war es zum Beispiel in Frankreich, als der Opportunist und<br />

Reformist Millerand sich endgültig der Bourgeoisie verkaufte und in das<br />

bürgerliche Kabinett eintrat.<br />

So steht die Sache auch in Italien. Die Reformisten spalteten sich in die<br />

Unken Reformisten (mit Turati an der Spitze) und in die rechten Reformisten<br />

(mit Bissolati an der Spitze). Der Parteitag in Reggio Emilia manifestiert<br />

den letzten Akt dieser Spaltung.<br />

Auf dem Parteitag waren drei Richtungen vertreten: 1. die Revolutionäre<br />

(sie hatten entsprechend der Zahl ihrer Anhänger in der Partei auf<br />

dem Parteitag etwa 12500 Stimmen), 2. die Unken Reformisten (etwa<br />

9000) und 3. die rechten Reformisten (etwa 2000). Die Revolutionäre<br />

stellten den Antrag, Bissolati und noch drei extreme rechte Reformisten<br />

aus der Partei auszuschließen. Von den linken Reformisten war ein Drittel<br />

ebenfalls für ihren Ausschluß, aber mit einer „milderen" Begründung, und<br />

zwei Drittel waren gegen den Ausschluß und für eine einfache Rüge.<br />

Da die Revolutionäre, wie aus den angeführten Zahlen ersichtlich, die<br />

Mehrheit hatten, siegten sie, und Bissolati und Co. wurden ausgeschlossen.<br />

Worin bestanden die Anschauungen und Handlungen Bissolatis, die es


Der Parteitag der italienisdhen Sozialisten 161<br />

notwendig machten, ihn aus der Partei auszuschließen? Entgegen den<br />

wiederholten Beschlüssen der Partei ging Bissolati in der Unterstützung<br />

des bürgerlichen Kabinetts so weit, daß er selbst fast zn einem „Minister<br />

ohne Portefeuille" geworden war (d. h., ohne Minister zu sein, verhielt er<br />

sich wie ein Gesinnungsgenosse und Mitglied des bürgerlichen Kabinetts).<br />

Entgegen den republikanischen Oberzeugungen, denen die italienischen<br />

Sozialisten streng folgen, fuhr Bissolati zum Quirinal, besuchte den<br />

König und führte mit ihm Verhandlungen! Bissolati verstieg sich bis zur<br />

Verteidigung des Krieges, den Italien gegenwärtig gegen die Türkei führt,<br />

obgleich die ganze Partei diesen Krieg entschieden als schamlosen bürgerlichen<br />

Raub und als schmutziges Gemetzel an den afrikanischen Eingeborenen<br />

in Tripolis verurteilt hat, gegen die moderne, todbringende Waffen<br />

eingesetzt werden.<br />

Nach dem Ausschluß von Bissolati und Co. aus der Partei traten alle<br />

rechten Reformisten aus der Partei aus und gründeten eine eigene Partei,<br />

die sie „Reformsozialistische Partei" nannten. Hinter diesem Aushängeschild<br />

verbirgt sich in WirkUdbkeit die „Partei" der liberal-monarchistischen<br />

„Arbeiter"politiker.<br />

Eine Spaltung ist eine schwere, schmerzhafte Angelegenheit. Aber zuweilen<br />

wird sie notwendig, und in solchen Fällen ist jegliche Schwäche,<br />

jegliche „Sentimentalität" (ein Wort, das in Reggio unsere Landsmännin<br />

Balabanowa gebrauchte) ein Verbrechen. Die Führer der Arbeiter sind<br />

keine Engel, keine Heiligen, keine Heroen, sondern Menschen wie alle.<br />

Sie machen Fehler. Die Partei korrigiert sie. Es hat Fälle gegeben, wo die<br />

deutsche Arbeiterpartei opportunistische Fehler selbst solcher großen Führer<br />

wie Bebel korrigieren mußte.<br />

Aber wenn man auf dem Fehler beharrt, wenn zur Verteidigung des<br />

FelJers eine Gruppe gebildet wird, die alle Beschlüsse der Partei, die<br />

ganze Disziplin der proletarischen Armee mit Füßen tritt, dann ist eine<br />

Spaltung notwendig. Und indem die Partei des sozialistischen Proletariats<br />

Italiens die Syndikalisten und rechten Reformisten aus ihrer Mitte entfernte,<br />

beschritt sie den richtigen Weg.<br />

.Vrawda", 5Vr. 66, Tiaäo dem lexX der „Vrawda".<br />

15."Juli i9i2.<br />

'Unterschrift :1.


162<br />

RUSSISCHE „REDEFREIHEIT"<br />

Die Zeitung „Wetterfahne", auch noch „Nowpje Wremja" genannt,<br />

gibt eine Korrespondenz ihres werten Kollegen, der „Peterburgskije Wedomosti"<br />

[Petersburger Nachrichten], aus Iwanowo-Wosnessensk wieder.<br />

„In unserer Fabrikstadt", schreibt man der Zeitung, „haben Unflätigkeiten<br />

auf der Straße die menschliche <strong>Red</strong>eweise verdrängt Es fluchen die Fabrikarbeiter,<br />

unflätig schimpfen die Kutscher, anständig gekleidete Leute, die Polizisten<br />

bei der Ausübung ihrer Dienstobliegenheiten."<br />

Und das „Nowoje Wremja" bemerkt zu diesem Sittenbild:<br />

„Die glückliche Arbeiterstadt, wo die kühnsten sozialdemokratischen<br />

Wünsche in bezug auf eine durch nichts geregelte <strong>Red</strong>efreiheit verwirklicht<br />

sind."<br />

Nicht wahr, wie lehrreich dieser grobe Ausfall ist?<br />

Wer wüßte nicht, ihr Herren <strong>Red</strong>akteure eines regierungstreuen Blattes,<br />

daß gerade die der Regierung am nächsten stehenden rechten Parteien<br />

in der III. Duma die <strong>Red</strong>efreiheit in puncto Unflätigkeiten „verwirklicht"<br />

haben? Wer wüßte nicht, daß sich die Herren Purischkewitsch, Markow<br />

und ihre Kollegen in ganz Rußland dadurch einen Namen gemacht haben?<br />

Unvorsichtig, wirklich unvorsichtig handelt das „Nowoje Wremja"! Es<br />

könnte seine Lakaienrolle geschickter spielen... So aber erinnert einen<br />

plötzlich eine der Regierung ohne Schmeichelei ergebene Zeitung daran,<br />

welche „<strong>Red</strong>efreiheit" von den Purischkewitsch und Co. praktiziert wird<br />

und welche von den sozialdemokratischen Dumaabgeordneten.<br />

Die <strong>Red</strong>efreiheit der Purischkewitsch in der Gutsbesitzerduma und die<br />

<strong>Red</strong>efreiheit in den Arbeiterversammlungen ... Ein gutes Wahlthema berührt<br />

das in seinem groben Eifer ungeschickte „Nowoje Wremja"!<br />

J>rawda" Tit. 66,15. JHI» 1912. TJaä) dem Text der .Trawda".<br />

Vntersdn-ift: IV.


WIE P.B.AXELROD<br />

DIE LIQUIDATOREN ENTLARVT<br />

163<br />

P. B. Axelrod ist es bestimmt, in der Entwicklung der opportunistischen<br />

Strömung unter den Marxisten eine originelle Rolle zu spielen. Viel Staub<br />

wirbelte er seinerzeit zum Beispiel mit der Idee des „Arbeiterkongresses"<br />

auf. Seine Propaganda gewann und begeisterte manche Arbeiter. Aber je<br />

umfassender diese Propaganda betrieben wurde, je näher die praktische<br />

Ausführung heranrückte, desto deutlicher wurde der phantastische Charakter<br />

der ganzen Idee. Sie platzte von selbst. Die Erfahrung hat bestätigt,<br />

was die Bolschewiki oft genug gesagt hatten: Axelrods „Ideen" sind<br />

Hirngespinste der opportunistischen Intelligenz, Wunschträume, wie man<br />

den harten Klassenkampf und politischen Kampf „umgehen" kann.<br />

Genau die gleiche Geschichte wiederholte sich jetzt mit der Idee eines<br />

Arbeiterverlages und einer „fraktionslosen" Arbeiterzeitung. Welcher<br />

Petersburger Arbeiter erinnert sich nicht, wie die Liquidatoren vor noch<br />

gar nicht langer Zeit eben diese Idee im Sinne hatten? wie sie die Arbeiter<br />

mit dem Wunschtraum verlocken wollten, man könne den Kampf innerhalb<br />

der Arbeiterdemokratie „umgehen" ? wie komisch ungehalten sie über<br />

die „Swesda" waren, weil diese erklärt hatte, daß man die Frage der<br />

liberalen Arbeiterpolitik (man denke an den Beschluß der Bäcker 50 ) nicht<br />

umgehen könne, daß das Gerede von einer Arbeiterkontrolle über eine<br />

fraktionslose Zeitung bloße Demagogie sei?<br />

Und nun hat Axelrod in Nr. 6 des Liquidatorenblattes „Newski Golos"<br />

die Demagogie seiner eigenen Freunde vortrefflich entlarvt - mußte er sie<br />

entlarven. Demagogie heißt unerfüllbare Versprechungen machen. Der


164 W. 1. Cenin<br />

Gedanke eines breiten Arbeiterkongresses, eines legalen Arbeiterverlages,<br />

einer fraktionslosen Arbeiterzeitung ist verlockend. Die ganze Sadie ist<br />

aber die, daß diese verlockenden Dinge unerfüllbar sind ohne vorherigen<br />

harten und schweren Kampf für die politische Freiheit überhaupt, für den<br />

Sieg des Marxismus innerhalb der Arbeiterdemokratie usw. Demagogische<br />

Versprechungen machen ist leicht. Doch zeigt das Leben bald ihre Unerfüllbarkeit<br />

und enthüllt den Opportunismus der „rosigen Illusionen".<br />

Im „Newsld Golos" Nr. 6 bietet Axelrod erstaunlich viel an leerer<br />

Deklamation. So die Beteuerung, daß er und seine Freunde „progressive<br />

Vertreter der Partei", die Gegner aber „reaktionäre" Vertreter seien.<br />

Selbstverständlich ist es Axelrod sehr angenehm, das zu denken, den<br />

Liquidatoren, das zu drucken. Aber nur allzu billig ist diese Deklamation!<br />

Sich selbst dafür loben, daß man „progressiv" sei... wäre es da nicht<br />

besser, Wesen und Bedeutung der Differenzen zu erklären?<br />

„Der Gedanke an die Möglichkeit eines zu keiner Fraktion gehörenden<br />

sozialdemokratischen (eines wirklich sozialdemokratischen, ohne Anführungszeichen)<br />

Organs erscheint noch jetzt als eine Utopie, und zwar eine Utopie, die<br />

den Interessen der parteipolitischen Entwicklung und der organisatorischen Vereinigung<br />

des Proletariats unter dem Banner der Sozialdemokratie objektiv<br />

zuwiderläuft. Du magst die Natur zur Tür hinausjagen, sie kommt durchs<br />

Fenster und durch die Spalten wieder herein."<br />

So schreibt Axelrod. Das sind sehr vernünftige Gedanken. Das ist in<br />

seinem Kern völlig richtig. Es zeigt, daß Axelrods Freunde, die Liquidatoren,<br />

die gestern noch gerade den von Axelrod jetzt verurteilten Gedanken<br />

in die Arbeitermasse schlenderten, keineswegs recht hatten. Nur können<br />

wir nichts „Progressives" darin sehen, unerfüllbare Versprechungen<br />

zu machen...<br />

„Man kann sagen, daß wir keine in feste Organisationsform gebrachten<br />

Fraktionen besitzen", schreibt Axelrod. „Es gibt an ihrer Stelle verschiedene<br />

kleine Gruppen und Grüpplein, von denen nur wenige an ihren bestimmten<br />

politischen, taktischen und organisationsmäßigen Anschauungen festhalten,<br />

während die anderen ziellos umherirren oder zwischen den Füßen der ersteren<br />

trotteln."<br />

Der erste Teil des Satzes stimmt nicht ganz. Axelrod weiß sehr wohl,<br />

daß etwas durchaus in feste Organisationsform Gebrachtes existiert, soweit<br />

das heute nur möglich ist. Aber der zweite Teil stimmt - es gibt in der


Wie P. B. Axelrod die Liquidatoren entlarvt 165<br />

Tat viele Grüpplein, die umherirren und zwischen den Füßen der anderen<br />

trotteln. Wenn Axelrod diese vom Verlauf der Ereignisse diktierte Wahrheit<br />

ausspricht, entlarvt er wiederum seine Freunde. Wer wüßte nicht,<br />

daß die Freunde Axelrods gerade jetzt eben mit einer zur Schau getragenen,<br />

papierenen „Vereinigung" der umherirrenden Grüpplein prahlen?<br />

Ist es nicht dieselbe Nr. 6 des „Newski Golos", in der sie diese fiktive<br />

„Vereinigung" aller Liquidatoren mit allen Umherirrenden versprechen?<br />

„Der Zentralpunkt und die Hauptquelle der Streitigkeiten", fährt Axelrod<br />

fort, „ergeben sich aus dem verschiedenen Verhalten verschiedener Parteikreise<br />

zur neuen, offenen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung" (nidit zur legalen<br />

Partei, verehrter P. B. Axelrod? Es ist nicht schön, wenn man das Wesen einer<br />

Differenz verfälscht!) „und aus den wesentlich verschiedenen Auffassungen der<br />

nächsten politischen Aufgaben und der politischen Taktik der russischen Sozialdemokratie.<br />

Die Fragen dieser Art gewinnen gerade jetzt, wo eine neue gesellschaftliche<br />

und politische Bewegung beginnt, eine besonders unmittelbare brennende<br />

Bedeutung. Und gerade hier ist die russische Sozialdemokratie in zwei<br />

große Lager gespalten. Es fragt sich: Wie kann das projektierte Arbeiterblatt<br />

eine neutrale Stellung zwischen den beiden entgegengesetzten Lagem einnehmen?<br />

Ist auch nur im Prinzip eine solche Stellung zulässig? Offenbar nein "<br />

Eine völlig richtige Schlußfolgerung. Axelrod schlägt ausgezeichnet<br />

nicht nur diejenigen seiner Freunde, die gestern mit einem neutralen und<br />

fraktionslosen Blatt Lärm machten, sondern auch diejenigen, die heute<br />

naiven Leuten versichern, sie wollten sich mit den neutralen Grüpplein<br />

„verständigen", „vereinigen", zusammenschließen u. dgl. m.<br />

Große Lager gibt es in der Tat zwei. Das eine ist durchaus in feste<br />

Organisationsformen gebracht. Seine Antworten auf alle von Axelrod<br />

aufgezählten Fragen sind durchaus in aller Form gegeben, exakt, bestimmt,<br />

und gleichen nicht den verstreuten und einander widersprechenden Artikeln<br />

einzelner Publizisten. Das andere Lager jedoch, das der Liquidatoren,<br />

dem Axelrod angehört, ist wissentlich weder in feste Organisationsformen<br />

gebracht (statt dessen gibt es nur Versprechungen, eine legale<br />

Arbeiterpartei zu schaffen, nur <strong>Red</strong>ereien von offenen politischen Arbeitergesellschaften,<br />

die noch unmöglicher sind als der Arbeiterkongreß 1906/<br />

1907), noch hat es bestimmte, exakte Antworten auf die von Axelrod<br />

selbst aufgezählten Fragen gegeben (statt bestimmter Antworten gibt es<br />

nur die publizistischen Übungen eines Jeshow, Lewizki, Kljonow, Tschazki<br />

u. a.).


166 IV. J. <strong>Lenin</strong><br />

„Sobald sich die verlegerische und literarische Arbeitergruppe entschließt,<br />

mit einem bestimmten Aktionsprogramm hervorzutreten, eine bestimmte Stellung,<br />

und sei es zum Beispiel in Fragen, die mit der Wahlkampagne zusammenhängen,<br />

zu beziehen, den Arbeitern diese oder jene Aufgaben und Parolen in<br />

dieser Kampagne zu geben und sich für diese oder jene Taktik gegenüber den<br />

verschiedenen politischen Parteien auszusprechen, sobald die Verlagsgenossenschaft,<br />

sage ich, ihrer Publikation den Charakter eines prinzipiell proletarischen<br />

politischen Organs verleihen will, wird sie von Angesicht zu Angesicht denselben<br />

brennenden Fragen und Meinungsverschiedenheiten gegenüberstehen,<br />

die die russische Sozialdemokratie bewegen und spalten. Und dann kann es<br />

passieren, daß diese Genossenschaft selbst zu einem neuen Herd ebensolcher<br />

Streitigkeiten wird - wenn sich ihre Mitglieder nicht rechtzeitig einigen und<br />

über diese Fragen verständigen."<br />

Sehr richtig und sehr gut widerlegt Axelrod die Liquidatoren. Was für<br />

die „Genossenschaft" gilt, gilt für die „Nascha Sarja" und den „Newski<br />

Golos" erst recht. Weshalb einigen sie sich denn nicht über die brennenden<br />

Tragen und Meinungsverschiedenheiten? Weshalb geben sie keine exakten<br />

Antworten wenigstens auf die von Axelrod aufgezählten wichtigsten Fragen<br />

(Stellung zu den verschiedenen Parteien, die Aufgaben und Parolen,<br />

die Taktik)?<br />

„Arzt, hilf dir selber." Axelrod hat den Arbeitern die Notwendigkeit<br />

klarer und exakter Antworten auf die „brennenden Fragen" so gut erklärt,<br />

daß die Literaten von der „Nascha Sarja" und vom „Newski Golos"<br />

(vielleicht aber auch nicht nur vom „Newski Golos" ...) auf die Worte<br />

Axelrods hören sollten. Es geht nidht ohne exakte und klare Antworten<br />

auf die „brennenden Fragen", man darf sich nicht auf Artikel beschränken<br />

- wäre das doch Zirkelunwesen! -, notwendig sind Beschlüsse, exakte, in<br />

aller Form gefaßte, durchdachte, bestimmte. Nicht umsonst spricht doch<br />

Axelrod - und er tut es ausgezeichnet! - von einem bestimmten Aktionsprogramm,<br />

von Aufgaben und "Parolen usw.<br />

Die Liquidatoren heißen übrigens eben deshalb Liquidatoren, weil sie<br />

das Alte verwerfen, aber Neues nicht bieten. Daß eine legale Partei nützlich<br />

ist und offene politische Gesellschaften notwendig sind - davon haben<br />

uns alle Liquidatoren die Ohren vollgeredet. Aber dieses <strong>Red</strong>en reicht doch<br />

noch nicht aus, und von einer 7at ist bei den Liquidatoren rein gar nichts<br />

zu sehen. Es fehlt gerade das, was Axelrod von den Arbeitern verlangt!<br />

Im Feuilleton des „Newski Golos", unter dem Strich, bietet Axelrod


"Wie P. B. Axelrod die Liquidatoren entlarvt 167<br />

prächtiges entlarvendes Material gegen die Liquidatoren über dem Stridb,<br />

im redaktionellen Teil der Zeitung. Man lese aufmerksam Axelrods Feuilleton,<br />

und man wird erkennen, daß es Betrug und Selbstbetrug ist, wenn<br />

die Liquidatoren von einer „Verständigung" über die Wahlplattform, von<br />

einer „einheitlichen" Plattform usw. schreien.<br />

Ein „Anhänger der Swesda" hat in der „Newskaja Swesda" Nr. 16 diesen<br />

Betrug bereits entlarvt. Aber die Entlarvung durch Axelrod ist noch<br />

gründlicher und noch wertvoller, eben weil sie von Axelrod ausgeht.<br />

Wir sind durchaus für eine einheitliche Plattform, und zwar für die,<br />

die von den Bolschewiki und parteitreuen Menschewiki schon lange angenommen<br />

worden ist und verwirklicht wird, wie der „Anhänger der<br />

Swesda" richtig bemerkt. Wir sind durchaus für eine einheitliche Wahlkampagne,<br />

und zwar auf dieser Plattform, auf der Basis eben dieser Beschlüsse,<br />

der bestimmten und exakten Antworten auf alle „brennenden<br />

Fragen".<br />

Wenn die Liquidatoren nach „Einheit" schreien, versuchen sie, die politisch<br />

unentwickelten Arbeiter mit dem bloßen Klang des Wortes mitzureißen.<br />

„Einheit" ist angenehm, „fraktionslose Organe" sind sympathischer!<br />

Aber man lese sogar Axelrod, auch er wird einem erklären, daß<br />

Fraktionslosigkeit unmöglich, utopisch ist, daß es zwei Cager in der Arbeiterdemokratie<br />

gibt, daß diese Lager Qegensätze bilden.<br />

Wie denn? Die Liquidatoren werden doch nicht etwa eine „Plattform"<br />

Zur Verschleierung ihrer Ansichten verteidigen? - eine diplomatische<br />

Plattform, die die Bourgeoisie so liebt? - eine Plattform, die keinerlei Antworten<br />

auf die „brennenden Fragen" vorsieht, sondern sich „einfach" und<br />

„nur" damit beschäftigt, die Kandidaten „in die Duma zu bringen" ?<br />

Das wäre der Gipfel der Prinzipienlosigkeit. Darauf werden sich die<br />

Arbeiter niemals einlassen. Solche Plattformen, wie „offen" sie auch sein<br />

mögen, werden keinen einzigen Tag Bestand haben.<br />

Nein. Wir haben genug vom Selbstbetrug. Es ist an der Zeit, der Wahrheit,<br />

die diesmal auch der Führer der Liquidatoren, Axelrod, offen zugegeben<br />

hat, ins Auge zu schauen. Wollt ihr Herren Liquidatoren auf<br />

„eurer" Plattform beharren (obwohl ihr sie bisher noch nicht dargeboten<br />

habt, und an Plattformen, die sechs Wochen vor den Wahlen aufgestellt<br />

werden, glauben wir nicht!) - wollt ihr auf „eurer" Taktik beharren (obwohl<br />

ihr sie bisher nirgends exakt, in aller Form, parteimäßig dargelegt


168 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />

habt!) -, so beklagt euch bei euch selbst! Dann habt ihr die Einheit verletzt,<br />

die sdoon vorhanden ist. Dann fällt eudh die ganze Verantwortung<br />

für diese Verletzung zu.<br />

Nein. Wir haben genug vom Selbstbetrug. Das liquidatorische Geschrei<br />

nach „Einheit" dient nur der Irreführung. Die Liquidatoren wissen sehr<br />

gut, daß sie die Arbeiter gegen sich haben, sie wissen auch ebensogut,<br />

welch völlige, vernichtende Niederlage ihnen ihr isoliertes Auftreten einbringen<br />

würde. Deshalb sind sie auch bereit, alles mögliche zu versprechen<br />

- werden sie nur in die Duma gewählt.<br />

So geht es nicht. So handeln nur Bourgeois. Die Arbeiterdemokratie<br />

glaubt nur an Programme, Beschlüsse, Taktiken, Losungen, die jahrelang<br />

vor den Wahlen in die Tat umgesetzt wurden und bei den Wahlen nur<br />

zum hundertsten Male wiederholt werden. Wer aber ohne diese Beschlüsse,<br />

nur für die Wahlen, nichtssagende „Plattformen" aufstellt, der<br />

verdient keinerlei Vertrauen.<br />

Axelrods Feuilleton ist eine nützliche Sache für die Überwindung des<br />

Selbstbetrugs, für die Belehrung der verschiedenen Verfasser „neuer",<br />

„offener", „gemeinsamer" Plattformen.<br />

II<br />

Der Schluß des Artikels von Axelrod, von dem wir in der „Newskaja<br />

Swesda" Nr. <strong>18</strong> sprachen, ist jetzt in der „Nascha Sarja" erschienen. Im<br />

allgemeinen hat dieser Schluß unser Urteil vollauf bestätigt, und wir können<br />

nur wiederholen: Axelrods Artikel ist eine nützliche Sache für die<br />

Überwindung des Selbstbetrugs, für die Klärung der wirklichen Natur des<br />

Liquidatorentnms, für die Einschätzung der ganzen Hohlheit der berüchtigten<br />

„Fraktionslosigkeit", für die man sich heutzutage in manchen Zirkeln<br />

so sehr und so unnütz begeistert.<br />

Besonders ausdrucksvoll und überzeugend widerlegt Axelrod Trotzki,<br />

der heute im <strong>Band</strong> (in festem?) mit den Liquidatoren steht. „Die ideologische<br />

und organisatorische Vereinigung der progressiven Elemente...",<br />

schreibt Axelrod, dem es Spaß macht, die Liquidatoren parteitreue Progressisten<br />

und uns Reaktionäre des Parteiprinzips zu nennen, „zu einer<br />

selbständigen Fraktion ist, bei der gegebenen Lage der Dinge, ihre direkte<br />

Pflicht, ihre unaufschiebbare Aufgabe." „Will man bei dieser Sachlage in


TVie V. B. Axelrod die Liquidatoren entlarvt 169<br />

der Partei von einem Aufheben jeder Fraktionsspalttmg als dem alleinrettenden<br />

Mittel sprechen, so tut man es dem Vogel Strauß gleich, der bei<br />

nahender Gefahr den Kopf in den Sand steckt, so betrügt man sich selbst<br />

und andere in bezug auf die wirkliche Lage der Dinge in der Sozialdemokratie<br />

..." („Nasdia Sarja" Nr. 6, S. 15.)<br />

Armer Trotzki! Es ist geradezu grausam und engherzig, wenn P. B.<br />

Axelrod gegen einen treuen Freund der Liquidatoren und Mitarbeiter der<br />

„Nascha Sarja" so losdonnert. Was können wir jetzt erwarten? Wird<br />

Trotzki mit einem vernichtenden Artikel gegen den Fraktionär Axelrod<br />

auftreten, oder wird Martow den Versöhnler Trotzki mit dem Fraktionär<br />

Axelrqd aussöhnen, indem er, wie gewöhnlich, aus dem Leim Gehendes<br />

mit Hilfe eines Dutzends Vorbehaltspflaster zusammenflickt?<br />

Kann man denn jetzt noch im Ernst davon sprechen, daß es den berüchtigten<br />

Block* Trotzlds, der lettischen und jüdischen Beinahe-Marxisten<br />

usw. mit Axelrod gibt?<br />

Axelrods Artikel enthält einen Punkt, der ernsthaft analysiert zu werden<br />

verdient, nämlich über die „Europäisierung" unserer sozialdemokratischen<br />

Bewegung. Bevor wir aber zu diesem Punkt übergehen, müssen<br />

einige Worte über eine gewisse Methode der Liquidatoren gesagt werden.<br />

Eine Seite des Artikels von Axelrod (die 16.) bildet eine Kollektion von<br />

stärksten, boshaftesten, sorgsam ausgesuchten Schmähungen gegen die<br />

Antiliquidatoren überhaupt und den Schreiber dieser Zeilen im besondern.<br />

Auf Beschimpfungen brauchte man überhaupt nicht zu antworten (in Axelrods<br />

Lage bleibt nichts anderes übrig, als zu schimpfen und zu fluchen),<br />

gäbe es nicht dokumentarische Beweise dafür, daß die einen solches Gekeif<br />

besonders ausnutzen, die anderen sich dadurch verwirren lassen.<br />

Herr Tschemow stellt zum Beispiel in den „Sawety" 51 als Antwort auf<br />

die Beweise Kamenews, daß er, der Führer der „linken" Volkstümler, von<br />

der Demokratie zum Liberalismus absinke, einen Strauß der stärksten<br />

Ausdrücke der Liquidatoren und Antiliquidatoren zusammen und macht<br />

• Axelrods Artikel trägt das Datnm des 17. Mai 1912 - ist also fünf Monate<br />

nach der feierlichen Bildung des Blocks der Trotzkisten und Liquidatoren zur<br />

Bekämpfung der Antiliqaidatoren unter dem Banner der „Fraktionslosigkeit"<br />

geschrieben!<br />

12 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>


170 W.1. Lettin<br />

sich darüber lustig. Herrn Tschemows Manier ist so verwerflich, daß es<br />

genügt, auf sie aufmerksam zu machen und weiterzugehen.<br />

Nirgendwo in der Welt ist es auch nur bei einem einzigen prinzipiellen<br />

Kampf zwischen den Gruppen innerhalb der sozialdemokratischen Bewegung<br />

ohne vielerlei persönliche und organisatorische Konflikte abgegangen.<br />

Speziell die „konfliktbedingten" Ausdrücke herauszufischen ist Sache von<br />

Schmutzfinken. Sich durch diese Konflikte verwirren lassen, sich von<br />

ihnen entmutigt oder verachtungsvoll abwenden - dort ist doch alles Krakeel<br />

! - können nur nervenschwache Dilettanten aus dem Kreis der „Sympathisierenden".<br />

Leute, die sich ernsthaft für die Arbeiterbewegung<br />

interessieren, werden es immer lernen - das ist möglich und notwendig —,<br />

wenn sie auch nur die historische Rolle der großen Männer der Arbeiterbewegung<br />

studieren, die „konfliktbedingte" Seite des Kampfes der Ideen,<br />

des Kampfes der Strömungen von der prinzipiellen Seite zu unterscheiden.<br />

Menschen sind Menschen, und ohne „konfliktbedingtes" Material, ohne<br />

„Krakeel" ist es bei den historischen Konflikten zwischen den Marxisten<br />

und den Anarchisten (Marx und Bakunin), den Guesdisten und den Jauresisten,<br />

den Lassalleanern und den Eisenachern usw. nicht abgegangen.<br />

Es gibt auch heute noch literarische Schmutzfinken, die sich speziell<br />

damit befassen, „aus jenen Zeiten" Sträuße von tausendundein Beschuldigungen<br />

unehrlichen Verhaltens u. dgl. m. zu sammeln. Es gibt aber auch<br />

ernste Sozialdemokraten, und diese decken die ideohgisdhen Wurzeln der<br />

Meinungsverschiedenheiten auf, die bei der Spaltung der einzelnen Gruppen,<br />

unter den Bedingungen des Emigrantendaseins usw. unausbleiblich<br />

die Form heftiger und erbitterter Konflikte annehmen.<br />

Mögen die Leser nicht denken, daß wir irgend jemanden „abschrecken"<br />

wollen, das Material zu studieren, worauf Axelrod an den besonders<br />

zänkischen Stellen seines Artikels anspielt - nur anspielt. Ganz im Gegenteil.<br />

Wer über die sozialdemokratische Bewegung alles wissen will, den<br />

fordern wir auf, dieses Material zu studieren. Im Ausland ist es vollständig<br />

vorhanden, es gibt da nicht nur leidenschaftliche Beschuldigungen,<br />

sondern atfch Dokumente und Zeugenaussagen neutraler Personen. Ein<br />

Studium dieser Dokumente und dieser Aussagen wird die Frage beantworten,<br />

weshalb der im Januar 1910 gemachte Versuch, zwischen den<br />

Liquidatoren und den Antiliquidatoren völligen Frieden zu schließen, gescheitert<br />

ist.


ieV.H. Jhcelrod die Liquidatoren entlarvt 171<br />

Eine der interessantesten und prinzipiellsten Stellen in Axelrods Artikel<br />

ist die folgende:<br />

„Die Bildung einer festen Fraktion erscheint als direkte Pflicht und dringende<br />

Aufgabe der Freunde einer Parteireform oder, genauer..." (hört!)<br />

„ einer Parteirevolution, denn nur so werden sie die Aufgabe lösen können,<br />

den Charakter der russischen Sozialdemokratie, wie er in der Zeit vor der<br />

Revolution geprägt wurde und sich in der Revolution weiterentwickelt hat, zu<br />

europäisieren, d.h. radikal zu verändern und sie auf den Fundamenten aufzubauen,<br />

auf denen der Parteibau der europäischen Sozialdemokratie ruht."<br />

Die Liquidatoren sind also Anhänger einer Parteirevolution. Diese<br />

überaus wahre Erklärung Axelrods ist wert, hervorgehoben zu werden:<br />

eine bittere Wahrheit ist nützlicher als ein „erhebend schöner Wahn"*,<br />

ist wertvoller als diplomatische Ausflüchte und Vorbehalte. Machen Sie<br />

doch eine Parteirevolution, verehrter P.B. Axelrod! Wir werden sehen,<br />

ob Sie und Ihre Freunde mehr Erfolg haben als die „Revolutionäre", die<br />

ganz vor kurzem erst eine „Revolution" (gegen die Republik) in Portugal<br />

machen wollten. 52<br />

Das Wichtigste in der angeführten Äußerung aber ist die berüchtigte<br />

„Europäisierung", von der Dan wie Martow, Trotzki wie Lewizki und<br />

alle Liquidatoren in allen Tonarten reden. Hier liegt einer der Kernpunkte<br />

ihres Opportunismus.<br />

„Den Charakter der russischen Sozialdemokratie europäisieren, d.h.<br />

radikal verändern..." Man denke über diese Worte nach. Was bestimmt<br />

den „Charakter" jeglidher Sozialdemokratie und dessen radikale<br />

Veränderung? - Zweifellos die allgemeinen ökonomischen und politischen<br />

Verhältnisse des betreffenden Landes. Zweifellos läßt sich der Charakter<br />

der Sozialdemokratie des einen oder anderen Volkes nur bei radikaler<br />

Wandlung dieser Verhältnisse radikal verändern.<br />

All das sind ganz und gar unbestrittene Binsenwahrheiten. Aber gerade<br />

diese Binsenwahrheiten enthüllen Axelrods opportunistischen Fehler! Darin<br />

eben besteht ja sein Pech, daß er den harten und schweren Kampf für<br />

eine noch nicht vollzogene radikale Änderung der russischen politischen<br />

Verhältnisse umgehen will, indem er von einer radikalen Wandlung des<br />

„Charakters der russischen Sozialdemokratie" träumt.<br />

Wie die Kadetten, die gern von Europäisierung faseln (die Liquida-<br />

*~Zitat aus dem Gedicht „Der Held""von A. S. Puschkin. Der Tibers.


172 IV. jf. <strong>Lenin</strong><br />

toren haben sowohl das kadettische Wort als auch die kadettischen Ideen<br />

übernommen), mit diesem verschwommenen Wort den exakten Begriff<br />

der unverrückbaren Grundpfeiler der politischen Freiheit verschleiern und<br />

„konstitutionelle Opposition" „spielen", so spielen auch die Liquidatoren<br />

„europäische Sozialdemokratie", obwohl es in dem Lande, in dem sie<br />

sich mit ihrem Spiel die Zeit vertreiben, noch keine Verfassung gibt, die<br />

Grundlagen des „Europäismus" nodh fehlen, der schwere Kampf um sie<br />

nodh bevorsteht.<br />

Ein nackter Wilder, der sich einen Zylinderhut aufsetzen und sich<br />

deshalb für einen Europäer halten würde, sähe ziemlich lächerlich aus. An<br />

eben einen solchen Wilden erinnert der Freund der Bourgeoisie Miljukow,<br />

wenn er in der III. Duma versichert: „Wir haben, Gott sei Dank, eine<br />

Verfassung" - und der Arbeiterfreund Axelrod, wenn er sich einen Zylinderhnt<br />

aufsetzt mit der Aufschrift: „Ich bin ein europäischer Sozialdemokrat".<br />

Beide, Miljukow wie Axelrod, sind lächerlich in ihrer Naivität. Beide<br />

sind Opportunisten, denn mit illusionistischen Phrasen von „Europäismus"<br />

umgehen sie die schwierige und aktuelle Frage, wie sich diese oder jene<br />

Klasse unter nichteuropäischen Umständen verhalten muß, um hartnäckig<br />

für die Sicherung der Qrundhgen des Europäismus zu kämpfen.<br />

Daß gerade die Umgehung einer lebendigen und aktuellen Sache vermittels<br />

illusionistischer Phrasen das Ergebnis ist, das hat gerade Axelrod<br />

mit seinem Artikel bewiesen. Trotzki hat einen ganz europäischen -<br />

aber auch ganz und gar europäischen — Vorschlag ausgearbeitet, eine<br />

„Pressekommission" als „gewähltes kollektives Kontrollorgan" zur Kontrolle<br />

der Arbeiter über die Arbeiterzeitungen zu bilden (S. <strong>18</strong> in Axelrods<br />

Artikel). Trotzki hat sich dabei wahrscheinlich sogar mit den „europäischen<br />

Sozialdemokraten" beraten, und sie haben ihm, worauf er besonders<br />

stolz ist, ihren Segen zuteil werden lassen.<br />

Und da erbarmt sich der „europäische Sozialdemokrat" Axelrod, nachdem<br />

er an die zwei Monate verstreichen ließ, in denen Trotzki allen<br />

Petersburger Sozialdemokraten mit seinen allgemeines Gelächter auslösenden<br />

Briefen über „gewählte kollektive Kontrollorgane" lästig wurde,<br />

schließlich Trotzkis und erklärt ihm, daß die „Pressekommission" nichts<br />

tauge, daß sie unmöglich sei, daß statt ihrer die „Verständigung" der<br />

Arbeiter mit dem liquidatorischen „Shiwoje Delo" erreicht werden müsse<br />

(S. <strong>18</strong> und 19 in Axelrods Artikel)!!


Wie J>. B. Axelrod die Liquidatoren entlarvt 173<br />

Das ist ein kleines Beispiel, mit dem wir uns leider begnügen müssen. Es<br />

ist aber sehr kennzeichnend. Das lächerliche Ergebnis, das bei dem „europäischen"<br />

Plan Trotzkis für eine „Pressekommission" herausgekommen<br />

ist, kommt auch heraus bei den „europäischen" Plänen aller Liquidatoren<br />

für eine „legale Arbeiterpartei" oder „legale politische Arbeitergesellschaften",<br />

für eine „Kampagne" des „Kampfes für die Koalitionsfreiheit"<br />

usw.<br />

Die „europäischen" Pläne Trotzkis für eine „Pressekommission", ein<br />

„gewähltes kollektives Kontrollorgan" zur Kontrolle über die Arbeiterzeitung<br />

„aller Arbeiterorganisationen, die feste Gestalt angenommen haben",<br />

haben lediglidh dazu geführt, daß das legalistische „Arbeiterverlag"-Spiel<br />

den Arbeitern eine besondere Lehre erteilt hat, die Liquidatoren aber in<br />

der Tat weder eine „Pressekommission" nodb eine Arbeiterpresse zustande<br />

brachten! So sehen die Tatsachen aus.<br />

Die „Pressekommission" war der Wunschtraum eines opportunistischen<br />

Intellektuellen, der unter Außerachtlassung der schwierigen nichteuropäischen<br />

Verhältnisse der Arbeiterbewegung in Rußland einen ausnehmend<br />

guten europäischen Plan aufstellte und das zum Anlaß nahm, vor<br />

der ganzen Welt mit seinem „Europäismus" zu prahlen.<br />

Dieses bittere Los der Liquidatoren ist nicht zufällig, sondern unausbleiblich.<br />

Sobald sich ihre „europäischen" Pläne der Ausführung nähern,<br />

wird sofort offenbar, daß es Seifenblasen, Hirngespinste opportunistischer<br />

Intellektueller sind. So war es mit dem Arbeiterkongreß und mit der<br />

„Pressekommission", mit der legalen politischen Arbeitergesellschaft (die<br />

wirren Vorbehalte, mit denen Martow in der „Nascha Sarja" Nr. 5 diesen<br />

„Plan" zu „retten" sucht, machen diese Sache keineswegs besser) und mit<br />

der Kampagne des Kampfes für die Koalitionsfreiheit.<br />

Mit „Europäismus" bezeichnen die Liquidatoren die Arbeitsbedingungen<br />

der Sozialdemokraten in den wichtigsten Staaten Europas nadh <strong>18</strong>7:1,<br />

d. h. gerade in einer Periode, da die ganze historische Epoche der bürgerlichen<br />

Revolutionen abgeschlossen war und sidi die Qrundlagen der politischen<br />

Freiheit für eine lange Zeit fest herausgebildet hatten. Die „Wandlung<br />

des Charakters" der Sozialdemokratie in diesen Staaten erfolgte<br />

erstens nado einer radikalen Änderung der politischen Verhältnisse, nachdem<br />

sich eine bestimmte Verfassungsordnung verhältnismäßig sehr fest<br />

eingebürgert hatte, und zweitens war diese Wandlung nur eine zeit-


174 TV.I.<strong>Lenin</strong><br />

weilige Wandlung für eine bestimmte Periode (die, wie auch die vorsichtigsten<br />

Sozialdemokraten Europas allgemein zugeben, gerade in der<br />

letzten Zeit ihrem Ende entgegengeht).<br />

Unter solchen Bedingungen eines völlig gefestigten bürgerlichen Konstitutionalismus<br />

konnte eine Kampagne zum Beispiel für die Koalitionsfreiheit<br />

oder für das allgemeine Wahlrecht, überhaupt für konstitutionelle<br />

Reformen, unter bestimmten Umständen zu einer Kampagne der Arbeiterklasse,<br />

zu einer wirklich politischen Kampagne, zu einem wirklichen Kampf<br />

für konstitutionelle Reformen werden.<br />

Unsere opportunistischen Intellektuellen jedoch übertragen die Losungen<br />

solcher „europäischer" Kampagnen auf einen Boden, der der elementarsten<br />

Grundlagen des europäischen Konstitutionalismus ermangelt, sie<br />

suchen die eigentümliche historische Evolution, die der Schaffung dieser<br />

Grundlagen gewöhnlich vorausgeht, zu umgehen.<br />

Der Reformismus unseres Axelrod und seiner Freunde, die sich als<br />

„europäische Sozialdemokraten" aufspielen, unterscheidet sich vom Reformismus<br />

Bissolatis, dieses echten Europäers, dadurch, daß Bissolati die<br />

Prinzipien des Klassenkampfes und einer konsequenten marxistischen<br />

Theorie und Praxis für Reformen opfert, die von der wirklich herrschenden<br />

liberalen Bourgeoisie tatsächlich (mit diesen oder jenen Schmälerungen)<br />

durchgeführt werden. Axelrod jedoch bringt dasselbe Opfer wie<br />

Bissolati für Reformen, von denen ohnmächtige, nicht ernst zu nehmende,<br />

verträumte Liberale nur unnütz schwatzen.<br />

Zu einer wirklichen Kraft wird die liberale Bourgeoisie bei uns in<br />

Rußland nur dann werden, wenn die Entwicklung des Landes über die<br />

Schüchternheit der Liberalen, über ihre versöhnlerischen, halbschlächtigen<br />

Losungen hinwegschreitet. So war es überall. Die Liberalen wurden zu<br />

einer Macht nur dann, wenn die Demokratie entgegen den Liberalen<br />

siegte.<br />

Veröffentlicht am 22. und 29. "]u\i 1912 Tiaäi dem 7ext der Zeitung,<br />

in der „Newskaja Swesda" "Nr. <strong>18</strong> und 19. verglühen mit dem 7ext des<br />

"Unterschrift: W. 7. Sammelbandes „Marxismus<br />

und Licfuidatorentum", 7eil<br />

11, St. Petersburg 1914.


HPABUA<br />

enjusiiui rwnui rutr«. Cpcm, 1 Atrycr» i»u i\ UfeHA 2 Kon.<br />

EioAneTeHt. KoHTopmHi IIEHA.<br />

Erste Seite der „Prawda" Nr. 80 vom 1. August 1912<br />

mit einer Fortsetzung von W. I. <strong>Lenin</strong>s Artikel<br />

„Ergebnisse der Arbeit eines halben Jahres"<br />

"Verkleinert


ERGEBNISSE DER ARBEIT<br />

EINES HALBEN JAHRES 53<br />

177<br />

Mit der Herausgabe einer Arbeitertageszeitung haben die Petersburger<br />

Arbeiter eine große, ja, man kann ohne Übertreibung sagen, eine historische<br />

Tat vollbracht. Die Arbeiterdemokratie hat sich unter ungemein<br />

schwierigen Bedingungen zusammengeschlossen und gefestigt. Selbstverständlich<br />

kann man bei uns nicht von einer festen Tundierung der demokratischen<br />

Arbeiterpresse sprechen. Jeder weiß sehr gut, welchen Verfolgungen<br />

die Arbeiterzeitungen ausgesetzt sind.<br />

Aber bei alledem bleibt die Gründung der „Prawda" ein hervorragendes<br />

Zeugnis des Bewußtseins, der Energie und der Geschlossenheit der<br />

russischen Arbeiter.<br />

Es ist von Nutzen, Rückschau zu halten und einige Ergebnisse der halbjährigen<br />

Arbeit zu betrachten, die von den russischen Arbeitern zur<br />

Herausgabe einer eigenen Presse geleistet worden ist. Eben seit Januar<br />

dieses Jahres hat sich in den Arbeiterkreisen Petersburgs endgültig das<br />

Interesse für eine eigene Presse herausgebildet, sind in Organen aller<br />

Schattierungen, die der Arbeiterwelt nahestehen, eine Reihe von Artikeln<br />

über eine Arbeitertageszeitung erschienen.<br />

I<br />

Angaben darüber, von wem und wie die Arbeitertagespresse in Rußland<br />

geschaffen worden ist, liegen glücklicherweise relativ vollständig<br />

vor. Es sind das die Angaben über die Sammlungen für eine Arbeitertageszeitung.<br />

Beginnen wir bei den Samminngen, mit deren Hilfe die „Prawda"


178 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />

geschaffen wurde. Für die Zeit vom 1. Januar bis zum 30. Juni, genau für<br />

ein halbes Jahr, liegen uns die Berichte der „Swesda", der „Newskaja<br />

Swesda" und der „Prawda" vor. Die öffentliche Abgabe dieser Berichte<br />

gewährleistete ihre absolute Richtigkeit; zufällige Fehler wurden auf<br />

Grund von Hinweisen der interessierten Personen unverzüglich korrigiert.<br />

Das Wichtigste und Interessanteste für uns ist nicht die Gesamtsumme<br />

der Sammlungen, sondern die Zusammensetzung der Spender. Wenn zum<br />

Beispiel die „Newskaja Swesda" in Nr. 3 die Gesamtsumme der Sammlungen<br />

für die Arbeitertageszeitung mit 4288 Rubel 84 Kopeken angab<br />

(vom Januar bis zum 5. Mai; die Summen nicht eingerechnet, die seit dem<br />

22. April, dem Tag des Erscheinens der „Prawda", bei dieser Zeitung<br />

direkt eingingen), dann erhebt sich vor uns sofort die Frage: Welche Rolle<br />

haben bei der Aufbringung dieser Summe die Arbeiter und Arbeitergruppen<br />

selbst gespielt? Setzt sie sich aus großen Beiträgen von Sympathisierenden<br />

zusammen? Oder haben hier die Arbeiter selber persönliches,<br />

lebhaftes Interesse für die Arbeiterpresse gezeigt und die hohe Summe<br />

durch Beiträge einer großen Anzahl von Arbeitergruppen aufgebracht?<br />

Vom Standpunkt der Initiative, der Energie der Arbeiter selbst sind<br />

100 Rubel, die, sagen wir, 30 Arbeitergruppen gesammelt haben, viel<br />

wichtiger als 1000 Rubel, die von einigen Dutzend „Sympathisierenden"<br />

aufgebracht wurden. Eine Zeitung, begründet auf Jünfkopekenstüdken,<br />

die von kleinen Arbeiterzirkeln in den <strong>Werke</strong>n und Fabriken gesammelt<br />

worden sind, ist um ein vielfaches solider, fester und sidberer fundiert<br />

(sowohl vom finanziellen Standpunkt aus als auch - was am wichtigsten<br />

ist — im Hinblick auf die Entwicklung der Arbeiterdemokratie) als eine<br />

Zeitung, die sich auf Dutzende und Hunderte Rubel gründet, die die<br />

sympathisierende Intelligenz gespendet hat.<br />

Um genaue Angaben zu dieser grundlegenden und wesentlichsten Frage<br />

zu erhalten, haben wir mit den in den drei erwähnten Zeitungen veröffentlichten<br />

Angaben über die Sammlungen die folgende Berechnung<br />

angestellt. Wir haben dabei nur Sammlungen ausgewählt, bei denen vermerkt<br />

ist, daß sie von Qruppen von Arbeitern oder Angestellten durchgeführt<br />

wurden.<br />

Uns interessieren hier nur Sammlungen, die die Arbeiter selbst vorgenommen<br />

haben, und dabei nicht einzelne Arbeiter, die vielleicht zufällig<br />

diesem oder jenem Sammler begegneten, ohne mit ihm ideologisch,


Ergebnisse der Arbeit eines halben Jahres 179<br />

d. h. ihren Anschauungen, ihren Überzeugungen nach verbunden zu sein,<br />

sondern gerade Qruppen von Arbeitern, die zweifellos vorher beratschlagt<br />

haben, ob man Geld geben soll, wem man es geben soll und für<br />

welchen Zweck.<br />

Jede Mitteilung der „Swesda", der „Newskaja Swesda" und der<br />

„Prawda", in der vermerkt ist, daß es gerade eine Gruppe von Arbeitern<br />

oder Angestellten war, die Geld für eine Arbeitertageszeitung beisteuerte,<br />

werten wir als eine Qruppensammlung der Arbeiter selbst.<br />

Wieviel solcher Sammlungen von Arbeitergrnppen hat es nun in der<br />

ersten Hälfte des Jahres 1912 gegeben?<br />

Jünfbundertvier Qruppensammlungenl<br />

Mehr als ein halbes tausendmal haben Arbeitergruppen für die Gründung<br />

und Unterstützung ihrer Zeitung gespendet, indem sie hier einen<br />

Tagesverdienst abführten, dort einen einmaligen Beitrag leisteten und dort<br />

wiederum diese Beiträge von Zeit zu Zeit wiederholten. 504 Arbeitsgruppen<br />

haben neben einzelnen Arbeitern und Sympathisierenden aktivsten<br />

Anteil an der Gründung ihrer Zeitung genommen; diese Zahl deutet<br />

zweifellos darauf hin, daß unter den Arbeitermsssen ein tiefes und bewußtes<br />

Interesse für die Arbeiterzeitung erwacht ist, und dabei nicht für eine<br />

beliebige Arbeiterzeitung schlechthin, sondern gerade für eine demokratische<br />

Arbeiterzeitung. Wenn ein solches Bewußtsein und eine solche<br />

Aktivität unter den Massen zu verzeichnen sind, so brauchen wir keine<br />

Schwierigkeiten und keine Hindernisse zu fürchten. Es gibt keine Schwierigkeiten<br />

und keine Hindernisse, die das Bewußtsein, die Aktivität und<br />

die Interessiertheit der Arbeitermassen nicht so oder anders überwinden<br />

würden, und es kann sie nicht geben.<br />

Auf die einzelnen Monate verteilen sich diese 504 Gruppensammlungen<br />

wie folgt: Januar 1912 14<br />

Februar 1912 <strong>18</strong><br />

März 1912 76<br />

April 1912 227<br />

Mai 1912 135<br />

Juni 1912 34<br />

Im Halbjahr insgesamt 504<br />

Aus dieser kleinen Tabelle geht übrigens klar die ganze Bedeutung der<br />

April-Mai-Tage als der Jage des Vmsdhwungs hervor. Aus Finsternis zum


<strong>18</strong>0 W.I.Zenin<br />

Lidit, von Passivität zu Aktivität, von Aktionen einzelner zu Massenaktionen.<br />

Im Januar und Februar sind die Sammlungen von Arbeitergruppen<br />

noch ganz und gar unbedeutend. Man sieht, daß die Sadie eben erst im<br />

Keimen ist. Im März schon ein merklicher, bedeutender Anstieg. 76 Sammlungen<br />

von Arbeitergruppen in einem Monat - das zeugt auf jeden Fall<br />

von einer ernst zu nehmenden Bewegung unter den Arbeitern, von dem<br />

beharrlichen Bestreben der Massen, ihr Ziel um jeden Preis zu erreichen,<br />

ohne Opfer zu scheuen. Das zeugt von dem tiefen Vertrauen der Arbeitermassen<br />

in die eigenen Kräfte und in die Organisation der ganzen Sache, in<br />

die Richtung der geplanten Zeitung usw. Im März gab es noch keine<br />

Arbeitertageszeitung. Die Arbeitergruppen sammelten also Geld und zahlten<br />

es bei der „Swesda" eb, sozusagen als Kredit.<br />

Der April bringt mit einem Schlage einen gigantisdien Aufschwung,<br />

der die Sache entscheidet. 227 Sammlungen von Arbeitergruppen in einem<br />

Monat, mehr als sieben Sammlungen im Durchschnitt pro Tag! Der<br />

Damm ist gebrochen, die Arbeitertageszeitung gesichert. Jede Gruppensammlung<br />

bedeutet nicht nur eine Summe von Fünf- und Zehnkopekenstücken,<br />

sondern noch etwas weit Wichtigeres: eine Summe gemeinsamer,<br />

von den Massen aufgebrachter Energie, die Entschlossenheit von<br />

Qruppen, die Arbeiterzeitung zu unterstützen, zu verbreiten, zu lenken,<br />

sie durch die eigene Mitwirkung zu schaffen.<br />

Es kann die Frage auftauchen: Oberwogen nicht im April die Sammlungen<br />

nach dem 22. April, d.h. nach dem Erscheinen der „Prawda"?<br />

Nein. In der „Swesda" wurden vor dem 22. April Berichte über i88 Qruppensamnilungen<br />

veröffentlicht. Die „Prawda" brachte vom 22. April<br />

bis zum Monatsende Berichte über 39 Gruppensammlungen. Also kommen<br />

in den 21 Apriltagen vor dem Erscheinen der „Prawda" durchschnittlich<br />

neun Qruppensammlungen auf den Tag, in den letzten neun Apriltagen<br />

dagegen nur vier.<br />

Hieraus ergeben sich zwei wichtige Schlußfolgerungen:<br />

Erstens entfalteten die Arbeiter gerade vor dem Erscheinen der<br />

„Prawda" die größte Energie. Indem sie „Kredit" gaben, indem sie der<br />

„Swesda" Vertrauen schenkten, drückten sie ihre Entschlossenheit aus,<br />

ihren Willen durchzusetzen.<br />

Zweitens ist hieraus ersichtlich, daß es gerade der proletarische April-


Ergebnisse der Arbeit eines halben Jahres <strong>18</strong>1<br />

aufsdbwung war, der die Arbeiterzeitung „Prawda" geschaffen hat. Es<br />

kann kein Zweifel daran bestehen, daß zwischen dem allgemeinen Aufschwung<br />

der Arbeiterbewegung (der sich nicht auf einen Betrieb, einen<br />

Berufszweig beschränkt, sondern das ganze Volk erfaßt) und der Schaffung<br />

eines täglich erscheinenden Organs der Petersburger Arbeiterdemokratie<br />

der engste Zusammenhang besteht. Berufs- und Fachorgane genügen<br />

uns nicht, wir brauchen eine eigene politische Zeitung - das ist die<br />

Erkenntnis, die sich in den Apriltagen bei den Massen durchgesetzt hat;<br />

wir brauchen nicht irgendeine politische Arbeiterzeitung, sondern gerade<br />

die Zeitung der fortschrittlichen Arbeiterdemokratie; wir brauchen die<br />

Zeitung nicht nur, damit sie unseren Arbeiterkampf unterstützt, sondern<br />

auch, damit sie dem ganzen Volk das Beispiel gibt und ihm den Weg erhellt.<br />

Im Mai ist der Aufschwung noch sehr deutlich zu verspüren. Die Zahl<br />

der Gruppensammlungen liegt im Durchschnitt täglich über vier. Einerseits<br />

wird hier der allgemeine Aufschwung vom April und Mai sichtbar. Anderseits<br />

wissen die Arbeitermassen, daß die Lage der Tageszeitung,<br />

obwohl sie bereits zu erscheinen begonnen hat, zunächst besonders schwierig<br />

ist und sie der Unterstützung durch die Gruppen besonders bedarf.<br />

Im Juni sinkt die Zahl der Gruppensammlungen unter den Stand vom<br />

März. Natürlich muß man in Betracht ziehen, daß nadi dem Erscheinen<br />

der Arbeitertageszeitung eine andere Form der Hilfe für die Zeitung entstanden<br />

ist und entscheidende Bedeutung erlangt hat, und zwar das Abonnement<br />

und die Verbreitung der Zeitung unter Genossen, Bekannten,<br />

Landsleuten usw. Alle bewußten Freunde der „Prawda" beschränken sich<br />

nicht darauf, sie selbst zu abonnieren, sondern verteilen die Zeitung zur<br />

Probe, zur Einsicht in anderen Fabriken, in den Nachbarwohnungen und<br />

-häusern, verschicken sie auf das Land usw. Leider kann es über diese Art<br />

der Gruppenhilfe keine vollständige Statistik geben.<br />

Äußerst lehrreich ist es, zu analysieren, wie sich diese 504 Sammlungen<br />

von Arbeitergruppen auf die Städte und Fabrikorte verteilen. In welchen<br />

Gegenden Rußlands und mit welcher Energie sind die Arbeiter dem Aufruf<br />

gefolgt, eine Arbeitertageszeitung zu schaffen?


<strong>18</strong>2 W.I.Cenin<br />

Angaben darüber liegen glücklicherweise für alle Sammlungen von<br />

Arbeitergruppen vor, über die Berichte in der „Swesda", der „Newskaja<br />

Swesda" und der „Prawda" veröffentlicht wurden.<br />

Wenn wir diese Angaben zusammenfassen, müssen wir vor allem<br />

Petersburg hervorheben, das bei der Schaffung einer Petersburger<br />

Arbeiterzeitung naturgemäß an der Spitze steht; sodann folgen vierzehn<br />

Städte und Fabrikorte, aus denen Sammlungen von mehr als einer Arbeitergruppe<br />

eingingen, und schließlich alle übrigen Städte, 35 an der Zahl,<br />

aus denen während des Halbjahres nur von je einer Arbeitergruppe gesammelte<br />

Gelder eingingen. Wir erhalten folgendes Bild:<br />

insgesamt<br />

Petersburg 412<br />

14 Städte mit 2-12 Gruppensammlungen 57<br />

35 Städte mit je 1 Gruppensammlung 35<br />

Insgesamt in 50 Städten 504<br />

Hieraus ist ersichtlich, daß sich fast ganz Rußland in diesem oder jenem<br />

Maße aktiv an der Schaffung einer Arbeitertageszeitung beteiligt hat.<br />

Zieht man in Betracht, auf welche Schwierigkeiten die Verbreitung der<br />

demokratischen Arbeiterpresse in der Provinz stößt, dann muß man sich<br />

über die große Anzahl von Städten wundern, die in diesem Halbjahr dem<br />

Appell der Petersburger Arbeiter gefolgt sind.<br />

Zweiundneunzig Sammlungen von Arbeitergruppen in 49 Städten<br />

Rußlands*, außer der Hauptstadt - das ist eine sehr eindrucksvolle Zahl,<br />

zumindest für den Anfang. Hier kann von zufälligen, gleichgültigen, passiven<br />

Spendern keine <strong>Red</strong>e mehr sein,- wir haben zweifellos Vertreter der<br />

* Hier die vollständige Liste der Städte und Ortschaften. Umgebung von<br />

St. Petersburg: Kronstadt, Kolpino, Sestrorezk. Süden: Charkow - 4 Gruppensammlungen,<br />

Jekaterinoslaw - 8, Ananjew - 2, Lugansk - 3, Cherson, Rostow<br />

am Don, Pawlograd, Poltawa, Kiew - 12, Astradhan - 4, Tschernigow,<br />

Jasowka - 3, Minakowo, Schtscherbin. Rudnik, Rykowski Rudnik, Belgorod,<br />

Jelisawetgrad, Jekaterinodar, Mariupol - 2, Nishne-Dneprowsk, Nadhitsdiewan.<br />

Moskauer Bezirk: Rodniki - 2, Rjasan, Tula - 2, Beshezk - 2. Norden:<br />

Archangelsk - 5, Wologda. Westen: Dwinsk, Wilna, Gomel, Riga, Libau,<br />

Mühlgraben. Ural: Perm, Kysditym, Minjar, Orenburg. Wolgagebiet: Sormowo,<br />

Dorf Balakowo. Kaukasus: Baku - 2, Grosny, Tiflis. Sibirien: Tjnmen<br />

und Blagowesditschensk. Finnland: Helsingfors.


Ergebnisse der Arbeit eines halben Jahres <strong>18</strong>3<br />

proletarischen Massen vor uns, die zwar über ganz Rußland verteilt, aber<br />

durch ihre bewußte Sympathie für die Arbeiterdemokratie vereinigt sind.<br />

Wir wollen bemerken, daß an der Spitze der Provinzstädte Kiew mit<br />

zwölf Gruppensammlungen steht, dann folgt Jekaterinoslaw mit acht, und<br />

erst an vierter Stelle kommt Moskau mit sechs. Dieses Zurückbleiben<br />

Moskaus und des ganzen Bezirks wird aus folgenden Gesamtängaben für<br />

alle Gebiete Rußlands noch klarer ersichtlich:<br />

Zahl der Sammlungen von Arbeitergruppen für eine Arbeitertageszeitung<br />

im Halbjahr Januar bis Juni I9i2<br />

Petersburg und Umgebung 415<br />

Süden 51<br />

Moskau und Moskauer Bezirk 13<br />

Norden und Westen 12<br />

Ural und Wolgagebiet 6<br />

Kaukasus, Sibirien, Finnland 7<br />

Insgesamt in Rußland 504<br />

Diese Angaben lassen sich folgendermaßen auslegen:<br />

Vom Standpunkt der Belebung der Arbeiterdemokratie in Rußland ist<br />

das proletarische Petersburg bereits erwacht und steht auf seinem ruhmvollen<br />

Posten. Der Süden erwacht gerade. Mütterchen Moskau mit dem<br />

übrigen Rußland aber schläft noch. Es wäre auch für sie Zeit zu erwachen.<br />

Das Zurückbleiben des gesamten Moskauer Bezirks zeigt sich bei einem<br />

Vergleich mit den übrigen JVotx'nzbezirken. Der Süden ist weiter, und<br />

zwar viel weiter von Petersburg entfernt als Moskau. Und trotzdem<br />

kommt der Süden, der eine geringere Anzahl von Industriearbeitern hat<br />

als der Moskauer Bezirk, im Vergleich zu diesem auf fast viermal soviel<br />

Sammlungen von Arbeitergruppen.<br />

Moskau ist offensichtlich sogar hinter dem Ural und dem Wolgagebiet<br />

zurückgeblieben, denn die Zahl der Arbeiter in Moskau und im Moskauer<br />

Bezirk beträgt nicht nur das Doppelte, sondern ein Mehrfaches<br />

der Zahl der Arbeiter im Ural und im Wolgagebiet. Indessen entfallen<br />

auf Moskau und den Moskauer Bezirk insgesamt 13 Gruppensammlungen<br />

gegenüber 6 im Ural und im Wolgagebiet.<br />

Freilich ist das Zurückbleiben Moskaus und des Moskauer Bezirks<br />

wahrscheinlich durch zwei besondere Umstände beeinflußt. Erstens über-


<strong>18</strong>4 1/9. "i. <strong>Lenin</strong><br />

wiegt hier die Textilindustrie. Hier war die Konjunktur, d. h..die Marktverhältnisse<br />

und die Bedingungen für eine stärkere oder schwächere Belebung<br />

der Produktion, schlechter als zum Beispiel in der metallurgischen<br />

Industrie. Deshalb beteiligten sich die Textilarbeiter weniger an Streiks,<br />

zeigten sie weniger Interesse für die Politik und die Arbeiterdemokratie.<br />

Zweitens gibt es im Moskauer Bezirk mehr Fabriken, die auf entlegene<br />

Ortschaften verstreut sind, und die Zeitung kann schwerer dorthin gelangen<br />

als in die Großstadt.<br />

Aber auf jeden Fall ergibt sich für uns alle aus den angeführten Zahlen<br />

eine nicht zu bezweifelnde Lehre. Der Verbreitung der Arbeiterzeitung<br />

in Moskau muß nun die größte Aufmerksamkeit gewidmet werden. Man<br />

kann sich unmöglich mit dem Zurückbleiben Moskaus abfinden. Jeder<br />

bewußte Arbeiter begreift, daß Petersburg ohne Moskau wie eine Hand<br />

ohne die andere ist.<br />

In Moskau und im Moskauer Bezirk ist die überwiegende Masse der<br />

Fabrikarbeiter Rußlands konzentriert. Im Jahre 1905 zum Beispiel gab<br />

es hier laut Regierungsstatistik 567000 Fabrikarbeiter, d.h. über ein<br />

"Drittel aller Fabrikarbeiter Rußlands (1 660 000) und weit mehr als im<br />

Kreis Petersburg (298 000). Der Moskauer Bezirk müßte deshalb an erster<br />

Stelle stehen, was die Zahl der Leser und Freunde der Arbeiterzeitung,<br />

die Zahl der bewußten Vertreter der Arbeiterdemokratie betrifft. Moskau<br />

wird sich natürlich eine eigene Arbeitertageszeitung schaffen müssen.<br />

Vorläufig aber muß ihm Petersburg helfen. Die Leser der „Prawda"<br />

müssen sich und ihren Freunden jeden Morgen sagen: „Arbeiter, denkt an<br />

die Moskauer!"<br />

in<br />

Die angeführten Zahlen müssen unsere Aufmerksamkeit aber noch<br />

unter einem anderen, äußerst wichtigen und praktisch aktuellen Gesichtspunkt<br />

auf sich lenken. Jeder versteht, daß eine politische Zeitung für<br />

jedwede Klasse der heutigen Gesellschaft eine der Grundvoraussetzungen<br />

für ihre Beteiligung am politischen Leben des Landes überhaupt und insbesondere<br />

auch für ihre Beteiligung an einer Wahlkampagne ist.<br />

So brauchen auch die Arbeiter überhaupt und insbesondere für die<br />

Wahlen zur IV. Duma eine Zeitung. Die Arbeiter wissen sehr wohl, daß<br />

sie weder von der III. noch von der IV. Duma etwas Gutes erwarten


Ergebnisse der Arbeit eines halben Jahres <strong>18</strong>5<br />

können; aber an den Wahlen müssen wir uns beteiligen, erstens, um die<br />

Arbeitermassen während der Wahlen, wo der Parteienkampf und das<br />

ganze politische Leben einen Aufschwang nehmen, wo die Massen so<br />

oder so Politik lernen, zusammenzuschließen und politisch zu schulen, und<br />

zweitens, um unsere Arbeiterdeputierten in die Duma zu bringen. Selbst<br />

in der schwärzesten Duma, in einer reinen Gutsbesitzerduma können<br />

Arbeiterdeputierte der Arbeitersache nicht wenig Nutzen bringen - und<br />

sie haben ihn gebraäat —, wenn diese Deputierten echte Arbeiterdemokraten,<br />

wenn sie mit den Massen verbunden sind und die Massen es lernen,<br />

sie zu lenken und zu kontrollieren.<br />

Im ersten Halbjahr 1912 haben alle politischen Parteien in Rußland das<br />

begonnen, und im wesentlichen bereits beendet, was man Mobilisierung<br />

der Parteikräfte vor den Wahlen nennt. Mobilisierung ist ein militärisches<br />

Wort. Es bedeutet: die Truppen in Kampfbereitschaft versetzen. Ähnlich<br />

wie vor einem Krieg die Truppen in Kampfbereitschaft versetzt, die<br />

Reservisten einberufen, Waffen und Munition verteilt werden, so ziehen<br />

vor Wahlen auch alle Parteien eine Bilanz ihrer Arbeit, bestätigen ihre<br />

Beschlüsse über die Auffassungen und Losungen der Partei, sammeln ihre<br />

Kräfte und rüsten sich zum Kampf gegen alle übrigen Parteien.<br />

Diese Arbeit ist, wir wiederholen es, im wesentlichen bereits abgeschlossen.<br />

Bis zu den Wahlen verbleiben noch wenige Wodoen-, in dieser<br />

Zeit kann und muß man alle Kräfte anspannen, um den Einfluß auf die<br />

Wähler, auf die Massen zu verstärken, aber wenn sich die Partei (die<br />

Partei einer jeden Klasse) während des halben Jahres selbst nicht vorbereitet<br />

hat, so wird ihr nichts mehr helfen, so hat sie sich, was die Wahlen<br />

betrifft, bereits als eine 3VulJ erwiesen.<br />

Deshalb ist das Halbjahr, das unsere Statistik umfaßt, ein Halbjahr<br />

der entsdbeidenden Mobilisierung der Arbeiterkräfte vor den Wahlen zur<br />

IV. Duma. Dieses Halbjahr ist ein Halbjahr der Mobilisierung aller Kräfte<br />

der Arbeiterdemokratie - natürlich nicht nur im Hinblick auf den Dumakampf,<br />

aber wir richten unsere Aufmerksamkeit einstweilen gerade auf<br />

diesen.<br />

Hier taucht eine Frage auf, die kürzlich in der „Newskaja Swesda"<br />

Nr. 16 und in der „Prawda" Nr. 61 berührt wurde. Es ist das die Frage<br />

der sogenannten Liquidatoren, die in Petersburg seit Januar 1912 die Zeitungen<br />

„Shiwoje Delo" und „Newski Golos" herausgeben. Die Liquida-<br />

13 <strong>Lenin</strong>, Wcrire, Bd. <strong>18</strong>


<strong>18</strong>6 W.J.Cemn<br />

toren, die ihre besonderen Zeitungen besitzen, sagen, um die „Einheit" der<br />

Arbeiterdemokratie bei den Wahlen zu sichern, sei eine „Vereinbarung"<br />

mit ihnen, den Liquidatoren, notwendig, und schrecken für den anderen<br />

Fall mit dem Gespenst der „Doppelkandidaturen" 54 .<br />

Diese Einschüditerungsversuche haben offensichtlich bisher sehr -wenig<br />

Erfolg gehabt.<br />

Und das ist durchaus verständlich. Wie kann man Leute ernst nehmen,<br />

die zu Recht die Bezeichnung Liquidatoren und Verfechter einer liberalen<br />

Arbeiterpolitik verdienen?<br />

Aber vielleicht stehen trotzdem viele Arbeiter hinter den irrigen, unsozialdemokratischen<br />

Auffassungen dieser Gruppe von Intellektuellen?<br />

Muß man da nicht besonderes Augenmerk auf diese Arbeiter richten? Zur<br />

Beantwortung dieser Frage liegen uns nunmehr objektive, allgemein zugängliche<br />

und ganz exakte Angaben vor. Während des gesamten Halbjahres<br />

1912 haben die Liquidatoren bekanntlich besonders viel Energie<br />

in ihre Angriffe auf die „Prawda", die „Newskaja Swesda", die „Swesda"<br />

und überhaupt auf alle Gegner des Liquidatorentums gelegt.<br />

Welchen Erfolg hatten die Liquidatoren nun unter den Arbeitern?<br />

Davon zeugen die Sammlungen für eine Arbeitertageszeitung, von denen<br />

die Liquidatorenzeitungen „Shiwoje Delo" und „Newski Golos" berichteten.<br />

Daß eine Tageszeitung notwendig ist, haben die Liquidatoren schon<br />

lange, schon 1911, wenn nicht gar 1910 erkannt, und sie haben diese Idee<br />

mit allen Kräften unter ihren Anhängern propagiert. Seit Februar 1912<br />

veröffentlicht das „Shiwoje Delo", das zum erstenmal am 20. Januar erschien,<br />

Berichte über die bei ihm für diesen Zweck eingegangenen gesammelten<br />

Mittel.<br />

Heben wir aus diesen Sammlungen (die im ersten Halbjahr 1912<br />

139 Rbl. 27 Kop. erbrachten) die Sammlungen von Arbeitergruppen heraus<br />

- genauso, wie wir das bei den niditliquidatorischen Zeitungen gemacht<br />

haben. Ziehen wir die Bilanz aus sämtlichen 16 Nummern des „Shiwoje<br />

Delo" und den 5 Nummern des „Newski Golos" (Nr. 6 des „Newski<br />

Golos" ist erst im Juli erschienen) und nehmen wir sogar die Sammlungen<br />

zur Unterstützung des „Shiwoje Delo" selbst hinzu (obwohl wir bei den<br />

niditliquidatorischen Zeitungen Angaben über derartige Sammlungen<br />

unberücksichtigt ließen). Wir erhalten folgende Angaben über die Gesamtzahl<br />

der Sammlungen von Arbeitergruppen in diesem Halbjahr:


Ergebnisse der Arbeit eines halben Jahres <strong>18</strong>7<br />

Zahl der Sammlungen von Arbeitergruppen für eine Arbeitertageszeitung<br />

im ersten Uatbjabr 1912<br />

Januar<br />

Februar<br />

März<br />

April<br />

Mai<br />

Juni<br />

Insgesamt<br />

nidhtliqnidatorisdien Liquidatoren-<br />

Zeitungen<br />

14<br />

<strong>18</strong><br />

76<br />

227<br />

135<br />

34<br />

504<br />

zcttongcD<br />

0<br />

0<br />

7<br />

8<br />

0<br />

0<br />

Im Laufe eines halben Jahres ist es also dem Grüppdien intellektueller<br />

Liquidatoren onter verzweifelten Anstrengungen gelungen, die Unterstützung<br />

von insgesamt 15 Arbeitergruppen za erhalten!<br />

Kann man sid» eine vollständigere Niederlage der Liquidatoren seit<br />

dem Januar 1912 vorstellen? Kann man sidi einen treffenderen Beweis<br />

dafür vorstellen, daß wir eben ein Grüppdien intellektueller Liquidatoren<br />

vor uns haben, das zwar imstande ist, eine halbliberale Zeitsduift und eine<br />

Zeitung herauszugeben, das aber jeder einigermaßen ernst zu nehmenden<br />

proletarisdien Massenbasis entbehrt?<br />

Hier nodi die Angaben über die Verteilung der bei den Liquidatoren<br />

eingegangenen Sammlungen von Arbeitergruppen auf die einzelnen<br />

Gebiete.<br />

Zähl der Sammlungen von Arbeitergruppen für eine Arbeitertageszeitung<br />

im erstenflaibjabr 1912<br />

Eingegangen bei<br />

niditliqnidatorisdien Liquidatoren-<br />

Petersburg und Umgebung<br />

Süden<br />

Moskau und Moskauer Bezirk<br />

Norden und Westen<br />

Ural und Wolgagebiet<br />

Kaukasus, Sibirien und Finnland<br />

Insgesamt<br />

15<br />

Zeitungen<br />

415<br />

51<br />

13<br />

12<br />

6<br />

7<br />

504<br />

Zeitungen<br />

10<br />

I<br />

2<br />

1<br />

0<br />

1<br />

* Moskau - 2, Nadiitsdiewan, Nowonikolajewsk und Archangelsk je 1.<br />

15*


<strong>18</strong>8 TV.I.Cenin<br />

Im Süden ist also die Niederlage der Liquidatoren in diesem Halbjahr<br />

sogar noch größer als in Petersburg.<br />

Diese exakten Angaben der Arbeiterstatistik, die während des ganzen<br />

Halbjahres in den Zeitungen der entgegengesetzten Richtungen offen abgedruckt<br />

wurden, entscheiden die Frage des „liquidatorentums" endgültig.<br />

Man kann die Gegner des Liquidatorentums beschimpfen und verleumden,<br />

soviel man will, aber die exakten Angaben über die Sammlungen<br />

von Arbeitergruppen sind unwiderlegbar.<br />

Jetzt ist durchaus verständlich, warum weder die „Newskaja Swesda"<br />

noch die „Prawda" die Drohungen der Liquidatoren mit den „Doppelkandidaturen"<br />

ernst genommen haben. Es wäre lächerlich, Drohungen von<br />

Leuten ernst zu nehmen, von denen sich in einem halben Jahr offenen<br />

Kampfes herausgestellt hat, daß sie kaum mehr als eine Null sind. Alle<br />

Verteidiger des Liquidatorentums haben sich im „Shiwoje Delo" und<br />

„Newski Golos" vereinigt. Und sie alle zusammengenommen haben im<br />

Laufe eines halben Jahres fünfzehn Arbeitergruppen für sich gewonnen!<br />

Das Liquidatorentum ist in der Arbeiterbewegung ein Nichts, stark ist<br />

es nur unter der liberalen Intelligenz.<br />

IV<br />

Die in der „Prawda" veröffentlichten Angaben über Arbeitersammlungen<br />

jeder Art stellen, allgemein gesagt, ein äußerst interessantes Material<br />

dar. Hier erhalten wir zum erstenmal im höchsten Grade exakte Angaben<br />

über die verschiedensten Seiten der Arbeiterbewegung und des Lebens<br />

der russischen Arbeiterdemokraten. Auf die Auswertung dieser Angaben<br />

hoffen wir noch öfter zurückzukommen.<br />

Jetzt aber müssen wir, die Obersicht über die Zahlen der Arbeitergruppensammlungen<br />

für eine Tageszeitung abschließend, eine praktische<br />

Schlußfolgerung festhalten.<br />

Die Arbeiter haben gruppenweise 504 Beiträge für ihre Presse bei der<br />

„Swesda" und der „Prawda" eingezahlt. Sie haben dabei keinerlei anderes<br />

Ziel verfolgt, als eine eigene Arbeiterpresse zu schaffen und zu unterstützen.<br />

Gerade deshalb hat die einfache wahrheitsgetreue Zusammenstellung<br />

dieser Angaben eines halben Jahres ein ungemein wertvolles Bild<br />

aus dem Leben der Arbeiterdemokratie in Rußland ergeben. Die Fünf-


Ergebnisse der Arbeit eines halben Jahres <strong>18</strong>9<br />

und Zehnkopekenstücke, gemeinsam zusammengetragen und mit dem<br />

Vermerk versehen: „von einer Arbeitergruppe aus der und der Fabrik",<br />

haben die Möglichkeit geboten, über die Stimmung der Arbeiter wie über<br />

ihr Bewußtsein, ihre Einigkeit und ihre Aufgeschlossenheit für die Arbeitersache<br />

zu urteilen.<br />

Darum muß man diesen Brauch der Arbeitergruppensammlungen, den<br />

der Aufschwung von April und Mai hervorgebracht hat, unbedingt fortführen,<br />

entfalten und erweitern, und selbstverständlich sind weiterhin<br />

solche Berichte über die Sammlungen notwendig, wie sie die „Prawda"<br />

immer gebracht hat.<br />

Sowohl im Hinblick auf die feste Fundierung der Arbeiterpresse als<br />

audi im Hinblick auf die gemeinsamen Interessen der Arbeiterdemokratie<br />

ist dieser Brauch von größter Bedeutung.<br />

Die Arbeiterpresse muß entwickelt und gefestigt werden. Dazu braucht<br />

man Geld. Nur unter der Voraussetzung, daß unter den Arbeitermassen<br />

ständig Sammlungen durchgeführt werden, wird es in beharrlicher Arbeit<br />

möglich sein, eine befriedigende Organisation der Arbeiterzeitungen in<br />

Rußland zu erreichen. In Amerika gibt es eine Arbeiterzeitung („Appeal<br />

to Reason" 55 ), die über eine halbe Million Abonnenten hat. Es muß ein<br />

schlechter russischer Arbeiter sein - würden wir in Abwandlung einer bekannten<br />

<strong>Red</strong>ewendung sagen -, der nicht die Hoffnung hätte, seinen<br />

amerikanischen Kollegen einzuholen und zu überholen.<br />

Viel wichtiger, unvergleichlich wichtiger ist jedoch nicht die finanzielle<br />

Seite der Sache, sondern eine andere. Nehmen wir an, hundert Arbeiter<br />

der verschiedenen Abteilungen einer Fabrik zahlten am Lohntag je eine<br />

Kopeke für die Arbeiterzeitung. Das wären insgesamt zwei Rubel im<br />

Monat. Nehmen wir anderseits an, zehn gut verdienende Arbeiter, die<br />

zufällig zusammengekommen sind, hätten auf einen Schlag zehn Rubel<br />

gesammelt.<br />

Die ersten zwei Rubel sind wertvoller als der zweite Zehnrubelschein.<br />

Das ist jedem Arbeiter so klar, daß hier lange Erklärungen überflüssig sind.<br />

Es muß Brauch werden, daß jeder Arbeiter an jedem Lohntag je eine<br />

Kopeke für die Arbeiterzeitung zahlt. Mag das Zeitungsabonnement seinen<br />

Gang gehen, mag, wer es kann, mehr zahlen, wie er es bisher getan<br />

hat. Das Wichtigste aber ist, außerdem den Brauch der .Kopeke }ür die<br />

Arbeiterzeitung" einzuführen und zu verbreiten.


190 IV.I.<strong>Lenin</strong><br />

Die ganze Bedeutung dieser Sammlungen wird darin liegen, daß sie regelmäßig<br />

an jedem Lohntag, ohne Unterbrechung, durchgeführt werden, und<br />

darin, daß sich eine immer größere Anzahl von Arbeitern an diesen ständigen<br />

Sammlungen beteiligt Die veröffentlichten Berichte könnten einfach<br />

lauten: „Soundso viel Kopeken" - das hieße: Soundso viel Arbeiter der<br />

betreffenden Fabrik haben Beiträge für die Arbeiterzeitung geleistet. Und<br />

danach, wenn es größere Beiträge gibt, kann man schreiben: „Außerdem<br />

haben soundso viel Arbeiter soundso viel gespendet."<br />

Wenn sich dieser Brauch der Kopeke jür die Arbeiterzeitung einbürgert,<br />

dann werden die russischen Arbeiter ihre Zeitungen bald auf die gebührende<br />

Höhe bringen. Die Arbeiterzeitung muß mehr und vielfältigeres<br />

Material bringen, Sonntagsbeilagen und anderes, sie muß in der Duma<br />

ebenso wie in allen Städten Rußlands und in den größten Städten des Auslands<br />

ihre Korrespondenten haben. Die Arbeiterzeitung muß sich ständig<br />

entwickeln und verbessern - und das ist anmöglich, wenn nicht eine möglichst<br />

große Anzahl von Arbeitern ständig für ihre Presseorgane sammelt.<br />

Eine monatliche Zusammenstellung der Angaben über die Arbeiterkopeke<br />

wird allen und jedem zeigen, wie die Arbeiter in allen Gegenden<br />

Rußlands ihre Gleichgültigkeit abstreifen und aus ihrer Verschlafenheit<br />

zu einem vernünftigen, kulturvollen Leben - nicht im konventionellen und<br />

nicht im liberalen Sinne dieses Wortes — erwachen. Man wird deutlich<br />

sehen können, wie das Interesse für die Arbeiterdemokratie wächst, wie<br />

die Zeit heranrückt, da sich sowohl Moskau als auch alle anderen Großstädte<br />

eigene Arbeiterzeitungen schaffen.<br />

Wir haben genug von der Herrschaft der bürgerlichen „Kopejka" 56 !<br />

Lange genug hat das prinzipienlose Krämerblättchen geherrscht. Die Arbeiter<br />

von Petersburg haben in einem halben Jahr gezeigt, welch gewaltigen<br />

Erfolg gemeinsame Arbeitersammlungen zeitigen können. Möge ihr<br />

Beispiel, ihre Initiative nicht umsonst gewesen sein. Möge sich der Brauch<br />

der Arbeiterkopeke für die Arbeiterzeitung entwickeln und festigen!<br />

Qesdbrieben 12.-14. (25.-270 JuU i9l2.<br />

Veröftentli&t am 29. und 31. Juli Tiadj dem 7ext der .Prawda'.<br />

und am t. und 2. August 1912<br />

in der .Vrawda" 3Vr. 78,79,80 und 81.<br />

Vntersdnift: Ein Statistiker.


ZUR GEGENWÄRTIGEN SACHLAGE<br />

IN DER<br />

SOZIALDEMOKRATISCHEN<br />

ARBEITERPARTEI RUSSLANDS 57<br />

191<br />

Die deutschen Genossen bekommen oft Mitteilungen von einem schar-<br />

-fen Kampfe und von tiefgreifenden Spaltungen innerhalb der Sozialdemofccratischen<br />

Arbeiterpartei Rußlands zu lesen. Leider gehen derartige Miti-eilungen<br />

aus der Mitte einzelner Emigrantengruppen hervor; sie werden in<br />

den allermeisten Fällen von Leuten gegeben, die entweder mit den wirklichen<br />

russischen Verhältnissen im gegenwärtigen Zeitpunkt keineswegs ver-<br />

•\raut sind oder aber auch die deutschen Genossen durch einseitige parteipolitische<br />

Schilderung bewußt täuschen wollen. Hat doch jede solche Emigrantengruppe<br />

ihre eigene „Richtung" zu vertreten, wobei sie aber in Wirklichkeit<br />

aus Leuten zusammengesetzt wird, die jeden lebendigen Zusammenhang<br />

mit der kämpfenden russischen Arbeiterpartei verloren oder nie<br />

gehabt haben. Einer dieser „Informatoren" hatte es verstanden, leider<br />

auch das Vertrauen des „Vorwärts" zu gewinnen. In einer Reihe von Artikeln<br />

gab das Zentralorgan der deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei<br />

einer Unmenge von unerhörten Verleumdungen der russischen<br />

Partei Ausdruck, die aus der Feder jenes Informators flössen und aus angeblich<br />

„objektiven" Quellen stammen sollten.<br />

In Wirklichkeit waren jene Quellen durch und durch „subjektiv", durch<br />

und durch falsch. Als nun der „Vorwärts" unsere fäktisdie Berichtigung<br />

nicht aufgenommen hatte, sahen wir uns genötigt, eine besondere Schrift<br />

unter dem Titel: „Der Anonymus aus dem , Vorwärts' und die Sachlage in<br />

der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands"* herauszugeben, die<br />

in einer Auflage von mehreren hundert Exemplaren erschien und an alle<br />

Vorstände der in Betracht kommenden deutschen Parteiorganisationen<br />

• Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 17, S. 525-538. Die •<strong>Red</strong>.


192 W. 7. <strong>Lenin</strong><br />

sowie <strong>Red</strong>aktionen der wichtigeren Organe der Parteipresse gesandt<br />

wurde.<br />

Gegen das Tatsachenmaterial, das diese Schrift enthielt, hat der „Vorwärts"<br />

keinen Einwand zu bringen vermocht, somit hat er es stillschweigend<br />

anerkannt.<br />

Um unsere deutschen Parteigenossen in den Stand zu setzen, die Glaubwürdigkeit<br />

mancher Informationen, die ihnen zugehen, zu beurteilen, bringen<br />

wir hier den Brief, den das Zentralkomitee der Sozialdemokratischen<br />

Arbeiterpartei Rußlands an den Vorstand der deutschen sozialdemokratischen<br />

Partei gerichtet hat. Die Letten machten dem Vorstande den Vorschlag,<br />

eine Gesamtberatung der elf „Zentren" wegen der Wahlunterstützungsfrage<br />

zu veranstalten, worauf der Vorstand die letzteren um<br />

ihre Stellungnahme befragt hat. Dieser Brief ist die Antwort des Zentralkomitees<br />

und hat folgenden Wortlaut:<br />

AN DEN<br />

30. Juli 1912*<br />

PARTEIVORSTAND DER SOZIALDEMOKRATISCHEN PARTEI<br />

DEUTSCHLANDS<br />

Werte Qenossenl<br />

Wir haben vor einiger Zeit die Kopie des an Sie gerichteten Schreibens<br />

des Ausländischen Komitees der Sozialdemokratie Lettlands vom 24. Juni<br />

erhalten. Wir betrachteten es als überflüssig, Sie über den sonderbaren<br />

Plan dieser Letten aufzuklären, da wir der Meinung waren, daß kein einziger<br />

unterrichteter Mensch diesen Plan ernst nehmen wird. Aus Ihrem<br />

an uns gerichteten Schreiben vom 22. Juli ersahen wir aber mit Erstaunen,<br />

daß Sie diesen Plan zu akzeptieren beabsichtigen. Dies zwingt uns, einen<br />

entschiedenen Protest dagegen zu erheben, welchen wir an Sie richten. Das<br />

Vorhaben des Vorstandes ist objektiv nichts anderes als ein Versuch, die<br />

Spaltung in unserer Partei (der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands)<br />

und die Bildung einer neuen, gegnerischen Partei zu fördern. Dies<br />

ist in der ganzen Internationale eine bisher unerhörte Sache. Wir werden<br />

den deutschen Genossen unsere Behauptung genau beweisen.<br />

* Der Brief erscheint hier mit unwesentlichen Änderungen stilistischer Art.


Zur gegenwärtigen Sachlage in der SDAVR 193<br />

Die Lage in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands<br />

seit "Januar 1912<br />

Im Januar 1912 fand die Allrussische Konferenz der Sozialdemokratischen<br />

Arbeiterpartei Rußlands statt, bestehend aus den Delegierten der<br />

Organisationen von Petersburg, Moskau, Moskau-Bezirk, Kasan, Saratow,<br />

Tiflis, Baku, Nikolajew, Kiew, Jekaterinoslaw, Wilna und Dwinsk. - Diese<br />

Konferenz hat die Partei wiederhergestellt und ein Zentralkomitee, das<br />

von den Liquidatoren vernichtet wurde, gewählt, wobei die Konferenz<br />

diese Liquidatoren als außerhalb der Partei stehend erklären mußte.<br />

(Siehe Broschüre „Der Anonymus aus dem ,Vorwärts' und die Sachlage<br />

in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands", welche dem Vorstande<br />

gesandt wurde; in derselben wurden die Proteste der Liquidatoren,<br />

der Nationalorganisationen, der Polen, der Letten, des Bundes und der<br />

ausländischen Gruppen erwähnt)<br />

Im Januar fand auch die Beratung zwecks Schaffung des Organisationskomitees<br />

für die Berufung einer neuen Konferenz, der „allgemeinen Parteikonferenz",<br />

wie sie die Liquidatoren und ihre Freunde nannten, statt.<br />

Im Schreiben an den Vorstand vom 24. Juni behaupten die Letten, daß<br />

dieses „Organisationskomitee" folgende Organisationen und Richtungen<br />

bilden: der Bund, die Sozialdemokraten Lettlands, das Distriktskomitee<br />

des Kaukasus, die Richtung der Menschewiki „Golos Sozial-Demokrata",<br />

die Richtung der Wiener „Prawda" und die Gruppe „Wperjod".<br />

Also auf der einen Seite das Zentralkomitee der Sozialdemokratischen<br />

Arbeiterpartei Rußlands, welches von den russischen, d. h. den in Rußland<br />

wirkenden Organisationen auf der Konferenz gewählt wurde (die Gegner<br />

nennen es <strong>Lenin</strong>sche Richtung), auf der anderen Seite das sogenannte Organisationskomitee,<br />

welches die Berufung der „allgemeinen" Parteikonferenz<br />

verspricht.<br />

Jn welchen "Beziehungen stehen<br />

zu dem sogenannten Organisationskomitee<br />

die bisher neutralen russischen Sozialdemokraten!<br />

Plechanow, der bekannteste Menschewik, welcher entschieden gegen<br />

die Vernichtung der Partei durch die Liquidatoren kämpfte, erschien nicht<br />

zur Parteikonferenz im Januar, trotzdem er eingeladen wurde. Im April


194 W.1. <strong>Lenin</strong><br />

1912 veröffentlichte er seine Korrespondenz mit dem Repräsentanten des<br />

Organisationskomitees (siehe sein „Tagebuch eines Sozialdemokraten",<br />

Nr. 16).<br />

Plechanow sagte seine Teilnahme an dem sogenannten Organisationskomitee<br />

ab, indem er erklärte, daß der Bund keine Konferenz der bestehenden<br />

Parteiorganisationen einberuft, sondern eine „konstituierende",<br />

d. b. eine solche, die eine neue Partei gründen soll. - Die sogenannten Initiativgruppen,<br />

welche in Wahrheit allein das Organisationskomitee unterstützen,<br />

sind laut Behauptung Pledianows Gruppen der Liquidatoren,<br />

welche der Partei nicht angehören und eine neue Partei bilden wollen.<br />

„Die neue Konferenz wird von den Liquidatoren einberufen", schreibt<br />

Plechanow im April 1912.<br />

Es erschien nun im Juli die Nr. 3 des Flugblattes („Listok") dieses Organisationskomitees.<br />

In derselben ist kein Wort, kein Laut zur Antwort an<br />

Plechanow angeführt. Man kann danach urteilen, wie die Letten den Vorstand<br />

informieren, dieselben Letten, welche darüber Klage führen, daß das<br />

„<strong>Lenin</strong>sche" Zentralkomitee die Briefe des Organisationskomitees nicht<br />

beantwortet.<br />

Ist es denn so sonderbar, daß das Zentralkomitee der Partei, der alten<br />

Partei, denjenigen, die laut Ausspruch des bisher neutralen Plechanow<br />

eine neue Partei bilden, nicht antwortet?<br />

Das Organisationskomitee muß vor allem dem neutralen Plechanow<br />

beweisen, daß es keine neue Partei bildet und die alte Partei nicht liquidiert.<br />

Die Letten, die am Organisationskomitee teilnehmen, sollten, als sie<br />

sich am 24. Juni an den Vorstand wandten, und zwar nach einem halben<br />

Jahre des Kampfes dieses Organisationskomitees der Liquidatoren gegen<br />

die Partei, mittels Tatsachen und Dokumenten die Resultate dieses Kampfes<br />

beweisen. - Statt dessen zeigen die Letten dem Vorstande die Potjomkinschen<br />

Dörfer der Liquidatoren.<br />

Die Letten forderten den Vorstand auf, elf „Organisationszentren, Organisationen<br />

und Fraktionen" der russischen Sozialdemokratie zu berufen.<br />

Wörtlich war es so. (Siehe Seite 4 des Briefes der Letten an den Vorstand<br />

vom 24. Juni.)<br />

In der ganzen Welt wurden bis jetzt sämtliche Parteien aus lokalen<br />

Organisationen, die durch eine Zentralinstitution vereinigt werden, gebildet.<br />

Aber die russischen und lettischen Liquidatoren haben im Jahre 1912


Zur gegenwärtigen Saäilage in der ST>APR 195<br />

eine große Entdeckung gemacht. - Von nun an kann eine Partei aus „Zentren,<br />

Organisationen und Fraktionen" gebildet werden.<br />

In die Zahl der elf Organisationszentren, Organisationen and Fraktionen<br />

gehören laut der neuesten lettisch-liquidatorischen Wahlgeometrie<br />

erstens das Organisationskomitee und zweitens sechs Fraktionen oder<br />

Organisationen oder Zentren, welche dieses Organisationskomitee bilden.<br />

So steht im Schreiben der Letten: „Punkte 2 bis 7 inklusive bilden das<br />

Organisationskomitee".<br />

Auf diese Weise bekommen die Gruppen der die Partei liquidierenden<br />

Intelligenzler ein dreifaches Wahlrecht, gleich dem Adel in den faulen Ortschaften*:<br />

1. das Distriktskomitee vom Kaukasus, eine fiktive Organisation,<br />

2. dasselbe in der Person des Pariser „Golos", obwohl Golos kein<br />

ständiges Mandat vom Kaukasus hat,<br />

3. dasselbe in der Person des „Organisationskomitees".<br />

Wir konstatieren, daß die russischen Arbeiter mit Empörung und Verachtung<br />

den Gedanken einer Beratung der Frage der doppelten Kandidaturen,<br />

d. h. der Versuche der Liquidatoren, im Verein mit den ohnmächtigen<br />

ausländischen Gruppen die Spaltung hervorzurufen, ablehnen<br />

werden, zumal diese Gruppen nur Desorganisatoren aus den Reihen der<br />

Intelligenzler darstellen.<br />

Wir stellen die Tatsache fest, daß absolut keine einzige ausländische<br />

Gruppe von denjenigen, die den Kampf gegen die Partei führen, im Laufe<br />

des letzten halben Jahres ein Mandat zur Führung ihres Organes oder<br />

zur Veröffentlichung ihrer Flugblätter von irgendeiner Organisation in<br />

Rußland hatte. Die Letten wollen dem Vorstande das Gegenteil beweisen;<br />

so mögen sie in der russischen Presse wenigstens ein solches Mandat bis<br />

zum 22. Juli ausfindig machen.<br />

„Golos Sozial-Demokrata" ist kein Organ irgendeiner Organisation in<br />

Rußland.<br />

Die Wiener „Prawda" von Trotzki ist ebenfalls kein Organ irgendeiner<br />

Organisation Rußlands. Die „Prawda" war vor drei Jahren das Organ der<br />

ukrainischen Spilka 58 (Südrußland), aber die Spilka hat schon längst ihr<br />

Mandat zurückgezogen.<br />

• Die „rotten boroughs" in England vor der Wahlreform von <strong>18</strong>32. Der<br />

Tibers.


196 W. 3. <strong>Lenin</strong><br />

Weder der „Wperjod" noch Plechanow, noch die „Bolschewiki-Partizy"<br />

geben Organe heraus, welche Parteiorgane irgendeiner Organisation in<br />

Rußland wären.<br />

Es ist sehr leicht, sich auf tatsächlich nicht existierende Gruppen zu<br />

berufen. Es ist auch nicht schwer, „sympathisierende" Korrespondenzen zu<br />

drucken. - Aber um auch ein halbes Jahr ein Organ einer in Rußland<br />

wirkenden Organisation zu leiten, sind ständige Verbindungen, volles<br />

Vertrauen der lokalen Arbeiterschaft, die Übereinstimmung der taktischen<br />

Ansichten, die als Folge langer Mitarbeiterschaft erscheint, nötig. Dies<br />

alles fehlt den ausländischen Grüppchen, welche von den lettischen und<br />

bundistischen Desorganisatoren gegen die Partei mobilisiert werden.<br />

über die PPS* werden wir uns kurz fassen. Sie ist keine sozialdemokratische<br />

Organisation. Sie gehörte nie zur Sozialdemokratischen Arbeiterpartei.<br />

Es ist nur ein Grund zur Heranziehung derselben vorhanden, nämlich:<br />

sie „verspricht", sozialdemokratisch zu werden und sich den Liquidatoren<br />

anzuschließen! — Den Desorganisatoren und Spaltungslustigen genügt<br />

es selbstverständlich! Wenn man zu Beratungen die PPS heranziehen<br />

soll, so ist kein Grund vorhanden, weshalb man die Sozialisten-Revolutionäre,<br />

diejenigen, welche an den Dumawahlen teilnehmen, die Zionisten-<br />

Sozialisten, die Lettische sozialistisch-revolutionäre Vereinigung und ähnliche<br />

„Strömungen" nicht auch mit heranzieht.<br />

Die sozialdemokratisdhe Traktion der dritten Duma<br />

In die Zahl der Organisationszentren hat der Vorstand die ausländischen<br />

Grüppchen eingereiht, dagegen bat er aber die sozialdemokratische<br />

Vumafraktion nicht eingeladen. Es ist unglaublich, aber Tatsache. Es wird<br />

den russischen Arbeitern nützlich sein, zu erfahren, auf welche Weise<br />

Trotzki & Co. unsere ausländischen Genossen irreführen. Die Letten<br />

schreiben in dem Briefe vom 24. Juni an den Vorstand:<br />

„Was die sozialdemokratische Dumafraktion betrifft, kann von ihr als einer<br />

Vermittlerin in der Wahlunterstützungsfrage nicht mehr die <strong>Red</strong>e sein, da die<br />

Dumasession bereits zu Ende geht und damit sich zugleich die sozialdemokratische<br />

Fraktion auflöst." (Seite 2 des mehrfach genannten Schreibens.)<br />

* PPS - Polnische Sozialistische Partei. Die <strong>Red</strong>.


Zur gegenwärtigen Sadbhge in der ST>AJ>R 197<br />

Dies ist entweder eine bewußte Täuschung oder eine grenzenlose politische<br />

Ignoranz, welche klar genug die Kenntnisse der Brüsseler Letten<br />

über die Wahlen in Rußland charakterisiert.<br />

Der Brief ist vom 24. Juni datiert. Am 9. Juni, das ist am 22. Juni<br />

neuen Stils, wurde die dritte Duma offiziell für unbestimmte Zeit aufgelöst,<br />

indem sämtliche Deputierten ihre Vollmachten behielten, folglich<br />

in dieser Zahl auch die sozialdemokratischen Deputierten. Die letzteren<br />

sind daher bis jetzt Dumadeputierte, was jedem lesekundigen Arbeiter in<br />

Rußland bekannt ist. Dies aber ist den ausländischen Parteiverleumdern<br />

unbekannt.<br />

Die einzigen legalen Sozialdemokraten in Rußland, welche bis jetzt,<br />

wo sie sich auch im Lande befinden mögen, die einzige offizielle Organisation<br />

bilden, sind eben die Mitglieder der sozialdemokratischen Fraktion<br />

der dritten Duma.<br />

Alle Liquidatoren hassen diese Fraktion. Die Blätter der Liquidatoren<br />

(„Nascha Sarja") überschütten sie mit Beschimpfungen und Insinuationen,<br />

alle ausländischen DesOrganisatoren klatschen über sie. Warum? Weil die<br />

Mehrheit der Fraktion, in der immer die parteitreuen Menschewiki die<br />

Oberhand hatten, immer entschieden gegen die Liquidatoren kämpfte und<br />

half, dieselben in Petersburg ganz unschädlich zu machen.<br />

In der Broschüre „Der Anonymus usw." haben wir eine wesentliche<br />

Tatsache veröffentlicht. Niemand konnte ein Wort dagegen einwenden.<br />

Nur zwei Mitglieder der Fraktion sind ständige Mitarbeiter der liquidatorischen<br />

Zeitungen. Adrt Mitglieder der Fraktion sind ständige Mitarbeiter<br />

der antiliquidatorischen Zeitungen.*<br />

Und die Letten wie auch Trotzki schlagen dem Vorstand vor, dieses<br />

einzige allrussische Kollegium, das die Einheit bewahrte, von den Beratungen<br />

auszuschließen! - Wenn auch die Letten nur geirrt hätten, indem sie<br />

am 24. Juni dies nicht wußten, was allen Arbeitern in Rußland bekannt<br />

war, waren sie dann nicht in der Lage, bis zum 22. Juli, d. h. nach Ablauf<br />

eines ganzen Monats, ihren Irrtum zu korrigieren? Es gibt eben Irrtümer,<br />

die für die Irrenden sehr nützlich sind.<br />

Das Vorhaben der Letten und der Liquidatoren, die den Vorstand irregeführt<br />

haben, geht dahin, daß gegen die Mehrheit der Partei in Rußland,<br />

gegen die Mehrheit der sozialdemokratischen Dumafraktion die liquida-<br />

* Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 17, S. 537. Die <strong>Red</strong>.


198 W.J.<strong>Lenin</strong><br />

torischen Kandidaten durch die Vereinigung der ausländischen fiktiven<br />

Grüppchen aufgedrängt werden und daß man durch Betrug Geld von den<br />

deutschen Arbeitern erhält. - Dies ist der langen <strong>Red</strong>e (der Letten, der<br />

Bundisten, des Trotzki & Co.) kurzer Sinn.<br />

Aber dieser Betrug wird nicht unbestraft bleiben.<br />

öffentlich kontrollierbare 7atsadben über den Einfluß<br />

der Cicjuidatoren im Vergleidb mit demjenigen der Partei<br />

Jeder vernünftige Mensch versteht, daß leere Phrasen vom Bestehen<br />

der angeblich mit den Liquidatoren sympathisierenden geheimen „Organisationen"<br />

keinen Glauben verdienen.<br />

Wir behaupten, daß sämtliche Organisationen der Liquidatoren in Rußland<br />

fiktiv sind.<br />

Wer keine persönlichen genauen Kenntnisse der Sachlage in den sozialdemokratischen<br />

Kreisen Rußlands besitzt, dem ist es schwer, die Wahrheit<br />

festzustellen. Aber auch dieser kann die Wahrheit finden, wenn er<br />

nach Dokumenten suchen wird und den Sinn derselben prüfen wird, ohne<br />

aufs Wort zu glauben. Die erste der öffentlichen Prüfung zugängliche Tatsache<br />

haben wir angeführt, und zwar die Verteilung der Kräfte der sozialdemokratischen<br />

Dumafraktion zwischen den Liquidatoren und Antiliquidatoren.<br />

Jetzt aber, nach einem halbjährigen Kampfe der Liquidatoren mit der<br />

Partei, existieren weitere, ganz objektive und noch mehr überzeugende<br />

Tatsachen.<br />

Die Letten führen im Schreiben vom 24. Juni (Seite 5 und 6) legale<br />

marxistische Zeitungen in Petersburg an. Sie nennen das „Shiwoje Delo"<br />

und „Newski Golos", welche von der menschewistischen Richtung („Golos<br />

Sozial-Demokrata") geleitet werden, und stellen ihnen gegenüber die Zeitungen<br />

„Swesda" und Petersburger „Prawda" (nicht zu verwechseln mit<br />

der liquidatorischen Wiener „Prawda" des Trotzki), die nach Behauptung<br />

der Letten „nur im Besitz und unter £eilune) der Ceninsdhen Gruppe<br />

stehen".<br />

Mag diese Behauptung auch nicht zutreffen, so haben doch die Letten<br />

hier unwillkürlich eine stichhaltige Tatsache gegen die Liquidatoren angeführt.


Zur gegenwärtigen Sachlage in der ST>ÄPR 199<br />

Wenn die „offene Partei" nur eine leere liberale Parole der Liquidatoren<br />

ist, so ist die offene Jätigkeit in der Duma and in der Presse die<br />

Haupttätigkeit der marxistisdien Propaganda. Hier, und nur hier, kann<br />

man Tatsachen finden, die objektiv die Macht der Liquidatoren und der<br />

Antiliquidatoren beweisen.<br />

Es gibt keine anderen politischen allrussischen Organe außer den von<br />

den Letten genannten. Die Liquidatoren haben das „Shiwoje Delo" und<br />

den „Newski Golos", die Antüiquidatoren die „Swesda", später „Newskaja<br />

Swesda" und die (Petersburger) „Prawda". Es gibt keine anderen<br />

Richtungen und Fraktionen in Rußland, weder in der Presse noch auf der<br />

öffentlichen Massenarena; alle von den Letten angeführten ausländischen<br />

Gruppen sind lauter Nullen.<br />

Jetzt haben wir vor uns Resultate der halbjährigen Tätigkeit beider<br />

Richtungen. ' -<br />

In diesem Halbjahr (Januar bis Juni 1912) haben sämtliche Parteien<br />

Rußlands die Vorbereitungen zu den Wahlen begonnen und beendet. Es<br />

bleiben jetzt nur sechs bis acht Wochen bis zur Wahl. Die Wahllisten sind<br />

schon meistenteils fertiggestellt. Tatsächlich ist schon der Wahlausgang<br />

bestimmt, und zwar auf Grund dieser halbjährigen Vorbereitung.<br />

Für die Richtung der Liquidatoren erklärten sich die „Punkte 1 bis 7"<br />

in der Aufzählung der Letten (das Organisationskomitee, der Bund, die<br />

Sozialdemokratie Lettlands, „Golos", Wiener „Prawda", das Distriktskomitee<br />

vom Kaukasus, „Wperjod"), für die Richtung der Antiliquidatoren<br />

das Zentralkomitee, das die russischen Organisationen, d. h. die in<br />

Rußland wirkenden (nur die einzige „<strong>Lenin</strong>sche Richtung" behaupten die<br />

Liquidatoren), vereinigt hat.<br />

Wir wollen also betrachten, was die einen und die anderen vollbracht<br />

haben.<br />

Die Liquidatoren haben in Petersburg vom 1. Januar 1912 bis zum<br />

30. Juni 1912 alten Stils 16 Nummern der Zeitung „Shiwoje Delo" und<br />

5 Nummern der Zeitung „Newski Golos" publiziert. Zusammen 21<br />

Nummern.<br />

Die Antiliquidatoren in demselben Halbjahr 33 Nummern der Zeitung<br />

„Swesda", 14 Nummern der Zeitung „Newskaja Swesda" und 53 Nummern<br />

der Zeitung „Prawda". Zusammen 100 Nummern.<br />

21 gegen 100.


200 W. J. Centn<br />

Dies ist der Kraftvergleich zwischen den Liquidatoren und der Partei<br />

in Rußland. Die Tatsachen über die Zeitungen sind öffentlich zugängliche<br />

Tatsachen; man kann sie beweisen und prüfen vor allen.<br />

Wie steht es mit dem Zeitungsverschleiß? Die Letten behaupten, daß<br />

die Liquidatoren 30 000 Exemplare verschleißen. Nehmen wir an, daß es<br />

nicht übertrieben ist. über die Zeitungen der Antiliquidatoren wurde dem<br />

Vorstande von einer Person, die vom Genossen Haase und von anderen<br />

Mitgliedern gesehen wurde, die Zahl 60 000 Exemplare genannt. Dieses<br />

Verhältnis reduziert den Einfluß der Liquidatoren im Verhältnis 1 zu 10<br />

des Einflusses der Partei.<br />

Wenn auch die Berichte über den Verschleiß nicht veröffentlicht wurden<br />

und als übertrieben erscheinen können, so sind andere, wichtigere,<br />

überzeugendere veröffentlicht worden.<br />

Das sind die Berichte über die Verbindung der Liquidatoren und der<br />

Partei mit den Arbeitermassen in Rußland.<br />

Offene, der Prüfung zugängUdbe Daten<br />

über die Beziehungen der Liquidatoren<br />

und der Partei in Rußand mit den Arbeitermassen<br />

Die Daten über die Zahl der Zeitungsnummern und die Auflagezahl<br />

beweisen noch nicht vollständig die Überlegenheit der Partei über die<br />

Liquidatoren. Zeitungen können auch kleine Gruppen der liberalen Intelligenzler<br />

herausgeben. Eine jede „arbeiterfreundliche" oder sogar liberale<br />

Zeitung mit einer radikalen Färbung wird immer in Rußland viele Leser<br />

finden. Außer den Arbeitern werden sie sowohl die Liberalen wie auch<br />

die kleinen Bourgeoisdemokraten lesen.<br />

Es existieren aber Tatsachen, die viel einfacher und deutlicher die Beziehungen<br />

der Liquidatoren und der Partei in Rußland mit den Arbeitermassen<br />

beweisen.<br />

Dies sind die Daten über die Geldmittel, welche zur Herausgabe der<br />

Arbeiterpresse dienen.<br />

Es wird schon seit jeher in Rußland wegen Sammlung der Mittel zur<br />

Herausgabe eines Arbeitertageblattes unter den Arbeitern agitiert. Es<br />

war allen verständlich, daß ohne solch eine Zeitung die Teilnahme an den


Zur gegenwärtigen Sadblage in der SVAPR 201<br />

"Wahlen fast fiktiv ist. Ein Tageblatt ist das Hauptwerkzeug der Wahlkampagne,<br />

es ist das Hauptmittel zu einer marxistischen Massenagitation.<br />

Woher soll man nun das Geld für die Zeitung beschaffen?<br />

Man muß Sammlungen unter den Arbeitern veranstalten. Diese Sammlungen<br />

werden einen Fonds bilden und die Stärke der Verbindungen bei<br />

der einen oder der anderen Gruppe beweisen. Sie werden ihr Prestige,<br />

das Zutrauen der Arbeiter, ihren realen Einfluß auf die Proletariermassen<br />

zeigen.<br />

Und nun wurden diese Sammlungen für ein Arbeitertageblatt in Petersburg<br />

Anfang des Jahres 1912 eröffnet. Ein halbes Jahr, vom 1. Januar bis<br />

30. Juni, ist eine genügende Frist. Die Daten über die Sammlungen werden<br />

genau in sämtlichen obenangeführten, sowohl liquidatorischen wie auch<br />

antiliquidatorischen Zeitungen veröffentlicht.<br />

Das Resultat dieser Daten für das Halbjahr ist das beste Material, die<br />

öffentliche, volle, objektive, endliche Antwort auf die Frage nach den<br />

Machtverhältnissen der Liquidatoren und der Partei in Rußland. Wir<br />

haben daher in der Beilage die vollständige Übersetzung sämtlicher Geldberichte<br />

über die Sammlungen für das Arbeitertageblatt in sämtlichen<br />

fünf obengenannten Zeitungen für das Halbjahr angeführt.<br />

Hier führen wir nun das Resultat dieser Daten an.<br />

Für das halbe Jahr wurden in den antiliquidatorischen Zeitungen Berichte<br />

über 504 Geldsammlungen von Arbeitergruppen veröffentlicht, d. h. über<br />

solche Sammlungen, bei welchen der Name der Arbeitergruppe, die die<br />

Sammlungen zusammengebracht hat, direkt angeführt ist Diese Sammlungen<br />

wurden in 50 russischen Städten und Fabrikstädtdien veranstaltet<br />

Für dasselbe Halbjahr, 1. Januar bis 30. Juni 1912, wurden in den<br />

liquidatorischen Zeitungen die Berichte über fünfzehn Geldsammlungen<br />

von Arbeitergruppen veröffentlicht Diese Sammlungen wurden in fünf<br />

russischen Städten veranstaltet*<br />

* Trotz des Klatsches der Liquidatoren haben eben diese Sammlungen, die<br />

über 12 000 Mark ausmachten, sowie die frühere Hilfe der deutschen Genossen<br />

den Grundfonds nnserer sozialdemokratischen Presse in Rußland gebildet. Die<br />

im Texte erwähnte vollständige Übersetzung aller Rechenschaftsberichte über<br />

die Geldsammlungen in den verschiedenen sozialdemokratischen Zeitungen im<br />

Laufe des Halbjahres wurde an den Vorstand, an die Kontrollkommission und<br />

an Bebel gesandt.<br />

14 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>


202 "W.3. <strong>Lenin</strong><br />

Dies sind die genauen Berichte.<br />

Die Qeldsammlungen der Arbeitergruppen<br />

für das Arbeitertageblatt<br />

In den liqtridato- In den antiliquidatischen<br />

Zeitungen torisdien Zeitungen<br />

Januar 0 14<br />

Februar 0 <strong>18</strong><br />

März 7 76<br />

April 8 227<br />

Mai 0 135<br />

Juni 0 34<br />

15<br />

Dasselbe: Hauptrayons Rußlands<br />

Petersburg<br />

Südrußland<br />

Moskau<br />

Nord- und Westrußland<br />

Ural und Wolga<br />

Kaukasus, Sibirien, Finnland<br />

10<br />

1<br />

2<br />

1<br />

0<br />

1<br />

504<br />

415<br />

51<br />

13<br />

12<br />

6<br />

7<br />

15 504<br />

Nach einem halben Jahr des Kampfes gegen die Partei wurden die<br />

Liquidatoren total geschlagen.<br />

Die Liquidatoren bilden eine vollständige Null in der sozialdemokratischen<br />

Arbeiterbewegung Rußlands. Dies beweisen obige Daten, welche<br />

ein jeder prüfen kann. Das sind Tatsachen, welche in Rußland veröffentlicht<br />

wurden, ein ganzes Halbjahr umfassen, trotz der Prahlerei von<br />

Trotzki und der Liquidatoren.<br />

Man muß bemerken, daß Trotzki Mitarbeiter des „Shiwoje Delo" ist.<br />

Ferner gaben die Letten selbst im Schreiben vom 24. Juni zu, daß ganze<br />

sechs Gruppen - in dieser Zahl Trotzki, Menschewiki-Golos, die Leiter<br />

der Zeitung „Shiwoje Delo" und „Newski Golos" - das sogenannte<br />

Organisationskomitee bilden. Daher beweisen unsere Daten, daß nicht<br />

nur die Liquidatoren, sondern auch alle ihre wichtigtuenden ausländischen<br />

Freunde eine volle Null in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in<br />

Rußland bilden.


Zur gegenwärtigen Sadjlage in der SVAPR 203<br />

Auf ihrer Seite steht durchschnittlich nur eine einzige Arbeitergruppe<br />

von dreißig Arbeitergruppen Rußlands.<br />

Wir führen die Adressen und Ersdieinungstage sämtlicher sozialdemokratischen<br />

Zeitungen in Petersburg an.<br />

Liquidatoren:<br />

1. „Shiwoje Delo". Petersburg, Gr. Moskowskaja 16. Erste Nummer:<br />

20. Januar 1912; sechzehnte und letzte Nummer: 28. April 1912. (Unterdrückt.)<br />

2. „Newski Golos". Petersburg, Kolokolnaja 3. Nr. 1: 20: Mai 1912;<br />

Nr. 5: 28 Juni 1912. (Existiert bis jetzt, den 29. Juli 1912.)<br />

Antiliquidatoren:<br />

3. „Swesdä". Petersburg, Rasjesshaja 10, W. 14. Nr. 1 (37): 6. Januar<br />

1912; Nr. 33 (69): 22. April 1912. (Unterdrückt.)<br />

4. „Newskaja Swesda". Petersburg, Nikolajewskaja 33, W. 57. (Nr 1:<br />

26. Februar 1912); Nr. 2: 3. Mai 1912; Nr. 14: 24. Juni 1912. (Existiert<br />

bis jetzt.)<br />

5. „Prawda". Petersburg, Nikolajewskaja 37, W. <strong>18</strong>. Nr. 1: 22. April<br />

1912; Nr. 53: 30. Juni 1912. (Existiert bis jetzt.)<br />

Schlußfolgerungen<br />

Die Kandidaten der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands zu<br />

den bevorstehenden Dumawahlen werden von den lokalen Organisationen<br />

der Partei ohne Unterschied der Ansichten und der Richtungen benannt<br />

sein. Die Minderheit der sozialdemokratischen Arbeiter wird sich überall<br />

der Mehrheit fügen.<br />

Die berüchtigten Doppelkandidaturen sind einfach Unsinn, welcher nur<br />

zum Schrecken der ausländischen Genossen und zum Geldpumpen dient.<br />

Es fehlte nur, daß die berüchtigten zehn „Richtungen" mit zebnjadien<br />

Kandidaturen einschüchtern und für jeden Kandidaten bei den Ausländern<br />

um Geldmittel ersuchen.<br />

Es werden keine Doppelkandidaturen stattfinden. Die Liquidatoren<br />

sind so schwach, daß sie keine Doppelkandidaturen aufstellen können.<br />

Wir bahnen keine Verhandlungen mit einer Handvoll von der Partei abtrünnigen<br />

Liquidatoren an. Weder das Zentralkomitee in Rußland noch


204 IV. 1. <strong>Lenin</strong><br />

die lokalen Organisationen nehmen es mit den Liquidatoren ernst. Man<br />

beachte z. B. die letzten Vorgänge in Petersburg. Die Liquidatoren haben<br />

in der Zeitung „Newski Golos" (Nr. 6) veröffentlicht, daß in Petersburg<br />

Beratungen mit ihnen (den Liquidatoren) wegen der Leitung der Wahlkampagne<br />

stattfanden. Sowohl die „Newskaja Swesda" (Nr. 16) wie auch<br />

die „Prawda" (Nr. 61) vom 21. und 23. Juli veröffentlichten, daß sie ihre<br />

Vertreter zu den Beratungen nicht geschickt haben; außerdem hat ein Teilnehmer<br />

an den Beratungen in der „Newskaja Swesda" erklärt, daß die<br />

Arbeiter in ganz Rußland die Beschlüsse der Januarkonferenz der Sozialdemokratischen<br />

Arbeiterpartei Rußlands durchführen werden.<br />

„Die Vereinigung verschiedener Richtungen", erklärte er, indem er die<br />

Liquidatoren im Sinne hatte, „ist ganz unmöglich in der sozialdemokratischen<br />

Wahlkampagne" („Newskaja Swesda" Nr. 16 vom 8. (21.) Juli 1912).<br />

Keine Geldhilfe in der Welt wird den Liquidatoren die Sympathie der<br />

russischen Arbeiter gewinnen. Aber selbstverständlich ist es möglich, für<br />

die Gelder des Vorstandes in verschiedenen Orten fiktive Doppelkandidaturen<br />

aufzustellen. In diesem Falle wird die Verantwortung für solche<br />

Kandidaturen, die faktisch die Kandidaturen des deutschen Vorstandes<br />

sein werden, dem Vorstande auch zur Last fallen. Die Qel der,<br />

w e l c h e d e n L i q u i d a t o r e n a u s g e f o l g t w e r d e n , w e r -<br />

d e n z u r Qr u n d u n g des K o n k u r r e n z o r g ans der<br />

L i q u i d a t o r e n , die k e i n e t ä g l i c h e Z e i t u n g bes<br />

i t z e n , d i e n e n . D i e s e Q el der w e r d e n z u r V er a n -<br />

s t a t t u n g des "Bruches v o n d e n j e n i g e n v e r w e n d e t<br />

w e r d e n , w e l c h e in e i n e m m e h r j ä h r i g e n "Kampf<br />

ihre SV u l l i t ä i b e w i e s e n h ab en. D i e Qel der w e r d e n<br />

für R e i s e n usw., z u r Q r ü n d u n g e i n e r n e u e n P a r t e i<br />

verwendet werden. - Wenn der Vorstand jetzt auf die eine oder<br />

andere Weise den Liquidatoren helfen will, so wird er uns zwingen,<br />

bei aller unserer Achtung vor der deutschen Bruderpartei, an die Internationale<br />

zu appellieren. Wir werden dann dem Wiener internationalen<br />

Kongreß 59 auf Qrund der Dokumente beweisen, daß der Vorstand sich<br />

bereit erklärte, durch Geldunterstützung die Spaltung bei uns zu fördern,<br />

die Doppelkandidaturen ins Leben zu rufen und die geschlagenen<br />

Liquidatoren, diese Kadaver, zu galvanisieren. Wenn die deutschen Genossen<br />

der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands helfen wollen,


Zur gegenwärtigen Sadblage in der SDJPJl 205<br />

so müssen sie die Gelder dem Zentralkomitee der alten Partei und nicht<br />

denjenigen, die eine neue Partei bilden, ausfolgen.<br />

Das Zentralkomitee der Sozialdemokratischen<br />

Arbeiterpartei Rußlands<br />

Nachdem der Vorstand die beabsichtigte Beratung fallenließ, teilte er<br />

uns mit, daß er „nicht imstande" ist, „einer der Parteigruppen in Rußland<br />

Gelder für den Wahlkampf zuzuführen, solange nicht von allen zusammen<br />

uns (dem Vorstand) eine Stelle bezeichnet wird, die von dem Vertrauen<br />

aller getragen, das Geld in Empfang zu nehmen und zu verteilen<br />

beauftragt wird".<br />

Diese vermeintliche Neutralität des Vorstandes läuft in Wirklichkeit<br />

darauf hinaus, daß er auf die Unterstützung der Arbeiterpartei in Rußland<br />

verzichtet wegen der Verleumdungen, denen diese letzte seitens der<br />

im Auslande befindlichen Grüppdien und der „Konferenz" der Liquidatoren<br />

ausgesetzt wird.<br />

In Ergänzung der obigen Bemerkungen halten wir für pflichtgemäß,<br />

folgendes hinzuzufügen.<br />

Die legal erscheinenden, im marxistischen Geiste geführten russischen<br />

Blätter sind im gegenwärtigen Zeitpunkt das wichtigste offene Sprachrohr<br />

der russischen sozialdemokratischen Arbeiterschaft in ihrem Zusammenhange<br />

mit der Agitationsbewegung der Parter.<br />

Die im Auslande erscheinenden, für Rußland nicht legalen Blätter können<br />

sachgemäß keinen Anspruch auf dieselbe Bedeutung wie die obengenannten<br />

erheben, wenn auch ihre prinzipielle Wichtigkeit für die theoretische<br />

Klärung der Bewegung zweifellos außerordentlich groß ist. Man<br />

weiß ja, wie leicht und zuweilen leichtfertig solche Blätter von kleinen,<br />

im Auslande zerstreuten Gruppen der russischen Emigranten gegründet<br />

werden; diese Blätter führen ihr kümmerliches Dasein innerhalb solcher<br />

Gruppen und gelangen fast nie in die Hände der russischen Parteimitglieder.<br />

Es kann ihnen daher sachgemäß keine irgendwie nennenswerte<br />

Bedeutung für das Parteileben in Rußland zuerkannt werden.<br />

Nach dem ein halbes Jahr andauernden Kampfe der antiliquidatorischen<br />

Zeitungen (Januar bis Juni 1912) ist das einzige Organ der<br />

Liquidatoren der „Newski Golos" (Stimme der Newa). Diese Zeitung ist<br />

als politisches Organ fast eingegangen; im Laufe von IV2 Monaten (Juni


206 W. J. <strong>Lenin</strong><br />

bis Mitte August) sind nur zwei Nummern (6 und 7) erschienen. Es ist<br />

eben klar, daß kein solches Blatt den polizeilichen Verfolgungen, die in<br />

Rußland gegen alle Arbeiterzeitungen und auch viele recht gemäßigte<br />

liberale wüten, gewachsen sein kann, wenn es nicht seine Lebenskraft aus<br />

dem engen Zusammenhange mit der Arbeiterschaft erhält.<br />

Als solche Arbeiterzeitungen von großer politischer Tragweite und unmittelbar<br />

aktueller Bedeutung erscheinen gegenwärtig: die Wochenschrift<br />

„Newskaja Swesda" (Der Newa-Stem) und die Tageszeitung „Prawda"<br />

(Die Wahrheit). Beide Blätter erscheinen in Petersburg; sie werden von<br />

unseren politischen Qegnern aus der Mitte der lettischen Sozialdemokratie<br />

mit der geringschätzigen Bezeichnung als Organe der „<strong>Lenin</strong>schen<br />

Gruppe" abgetan. Aus den oben gebrachten objektiven Tatsachen, die<br />

man stets offen kontrollieren kann, dürfte für unsere deutschen Genossen<br />

erhellen, daß diese „<strong>Lenin</strong>sche Gruppe" in Wahrheit die erdrückende<br />

Mehrheit der russischen sozialdemokratischen Arbeiter umfaßt.<br />

Es wird daher wohl verständlich, warum alle Mitteilungen, die aus<br />

der Mitte der Liquidatoren und der ihnen befreundeten Gruppen und<br />

Grüpplein fließen, nidbt den geringsten Anspruch auf Vertrauenswürdigkeit<br />

erheben dürfen. Was alle solchen Kreise und mit ihnen die jüdischen<br />

(Bund) und lettischen Sozialdemokraten, die in keinem direkten Kontakt<br />

mit der russisdhen Bewegung stehen, an Gerüchten verbreitet haben über<br />

eine berufene oder angeblich zu berufende Gesamtkonferenz aller „Richtungen"<br />

60 , erweist sich als reinste Erfindung. Keine derartiger Konferenzen,<br />

selbst wenn sie auch stattfinden sollte, hat irgendwelche reelle "Bedeutung<br />

im Kampfe des russischen Proletariats. Es handelt sich also, um einmal<br />

das harte Wort ungern zu gebrauchen, im Grunde um einen Schwindel.<br />

Um für unsere deutschen Parteigenossen die in Frage stehenden Tatsachen<br />

von zweifellos ernster politischer Tragweite noch besser zu beleuditen,<br />

bringen wir zum Schluß einige Ausführungen aus dem Aufsatz von<br />

Axelrod, einem der Führer der Liquidatoren, der im letzten Heft der<br />

Monatsschrift „Nascha Sarja" (Unser Morgenrot) erschien.<br />

Axelrod schreibt:<br />

„Der Gedanke an die Möglichkeit eines zu keiner Fraktion gehörenden<br />

Organs erscheint noch jetzt als eine Utopie, und zwar eine Utopie, die den<br />

Interessen der parteipolitischen Entwicklung zuwiderläuft... Man kann sagen,<br />

daß wir keine in feste Organisationsform gebrachten Fraktionen besitzen. Es


Zur gegenwärtigen Sadhlage in der ST>APR 207<br />

gibt an ihrer Stelle verschiedene kleine Gruppen und Grüpplein, von denen nur<br />

wenige an ihren bestimmten politischen, taktischen und organisationsmäßigen<br />

Anschauungen festhalten, während die anderen ziellos umherirren oder<br />

zwischen den Füßen der ersteren trotteln... Der Zentralpunkt und die Hauptquelle<br />

der Streitigkeiten ergeben sich aus dem verschiedenen Verhalten verschiedener<br />

Parteikreise zur neuen, offenen sozialdemokratischen rassischen<br />

Arbeiterbewegung und aus den verschiedenen Auffassungen der nächsten politischen<br />

Aufgaben und der politischen Taktik der russischen Sozialdemokratie.<br />

Die Fragen dieser Art gewinnen gerade jetzt... eine besonders unmittelbare<br />

brennende Bedeutung. Und gerade hier ist die russische Sozialdemokratie in<br />

zwei große Lager gespalten. Es fragt sich: Wie kann das (von einigen Arbeitern<br />

in Petersburg und vielen Intelligenzlern im Auslande) projektierte Arbeiterblatt<br />

eine wirklich neutrale Stellung zwischen den beiden entgegengesetzten Lagern<br />

einnehmen? Ist auch nur im Prinzip eine solche Stellung zulässig? Offenbar<br />

nein! ...Will man bei dieser Sachlage in der Partei von einem Aufheben<br />

jeder Fraktionsspaltung als dem alleinrettenden Mittel sprechen, so betrügt man<br />

sich selbst und andere in bezug auf die wirkliche Lage der Dinge in der russischen<br />

Sozialdemokratie... Die Bildung einer festen Fraktion erscheint als<br />

direkte Pflicht und dringende Aufgabe der Freunde einer Parteireform, oder<br />

genauer, einer Parteirevolution."<br />

Mit den letzten Worten meint Axelrod also die Liquidatoren... Wir<br />

möchten unseren deutschen Parteigenossen nur empfehlen, wenn man<br />

ihnen von mancher Seite über die „Fraktionslosigkeit" tmd die fraktionslose<br />

Konferenz - mit Beteiligung der Liquidatoren — erzählen wird, zur<br />

besseren Orientierung die Übersetzung des ganzen erwähnten Artikels<br />

von Axelrod für die deutsche sozialdemokratische Presse zu verlangen.<br />

So werden manche Fabeln als solche erkannt und beurteilt werden.<br />

Die <strong>Red</strong>aktion des Zentralorgans der<br />

Sozialdemokratisdhen Arbeiterpartei Rujilands<br />

„Sozial-Demohrat"<br />

Vertraulidhl Nur an organisierte Mitglieder der sozialdemokr. Parteien!<br />

POSTSKRIPTUM<br />

zu der Schrift „Zur gegenwärtigen Sadhiage<br />

in der Soziäldemokratisdben Arbeiterpartei Rußlands"<br />

Heute, am 15. September 1912, haben wir den folgenden Brief des<br />

Vorstandes durch Paris erhalten, der den deutschen Genossen besonders


208 IV. 7. Cenin<br />

veranschaulichen muß, wie sehr wir im Recht waren, als wir gegen die<br />

privaten, unverantwortlichen „Informatoren" des Vorstandes, die vor die<br />

Öffentlichkeit zn treten Angst haben, protestierten.<br />

Der Parteivorstand schreibt am 10. d. M. folgendes:<br />

Berlin, 10. September 1912<br />

Werter Genosse Knsnezow!<br />

Wir ersuchen Sie um gefl. Mitteilung darüber, ob es richtig ist, daß zu den<br />

Wahlkreisen, in denen für die Dumawahlen eine Verständigung sämtlicher<br />

sozialdemokratischer Gruppen erzielt ist, u. a. gehören:<br />

Jekaterinoslaw, Charkow, Moskau-Stadt und -Land, das Don-Gebiet und<br />

Odessa-Stadt. Ich bitte Sie, mir diese Mitteilungen baldmöglichst zukommen<br />

zu lassen, und zwar unter der Adresse: H. Müller, zur Zeit Chemnitz.<br />

Wenn wir bis 17. September keine Nachricht erhalten, nehmen wir an, daß<br />

das oben Mitgeteilte richtig ist<br />

Mit Parteigruß "H. Müller<br />

Auf den vorstehenden Brief hin haben wir die folgende Antwort gegeben:<br />

An den Parteivorstand<br />

der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands!<br />

Werte Genossen! Es versteht sich von selbst, daß alles, was dem Vorstande<br />

mitgeteilt worden war, auf Unwahrheit beruhte, daß es eine freie Erfindung der<br />

Liquidatoren ist Wir dürfen mit Sicherheit behaupten, daß diese Fabel dem<br />

Vorstande nur seitens der Letten, der Bundisten oder auch seitens Trotzkis<br />

Anhang mitgeteilt werden konnte, die doch erst neuerdings „ihre" Konferenz<br />

geschlossen haben, die sie als „Parteikonferenz" bezeichnen möchten, die aber<br />

in Wirklichkeit die der Liquidatoren gewesen ist Um nichts Unbestätigtes zu<br />

bringen und um unseren Organisationsbriefwechsel nicht zu zitieren, beschränken<br />

wir uns hier nur darauf, auf ein in Petersburg offen erschienenes Dokument<br />

hinzuweisen.<br />

In der Petersburger marxistischen Tageszeitung „Prawda" Nr. 102, vom<br />

28. August 1912 (10. September neuen Stils), ist ein Brief erschienen, der aus<br />

einer der größten Fabriken in Charkow herrührt und der sich speziell mit der<br />

Dumawahl befaßt. In diesem Briefe wird direkt und offen gesagt, daß die<br />

„Kandidaten der Liquidatoren nidbt veröftentlidbt worden sind" und daß diese<br />

letzten .die Notwendigkeit der Arbeiterpartei leugnen" („Prawda" Nr. 102,<br />

Seite 4, Spalte 1).


Zur gegenwärtigen Sachlage in der SBAPR 209<br />

Die deutschen Genossen können schon daraus allein ersehen, wie gewissenlos<br />

sie von den Letten, Bundisten, dem Trotzki-Anhang und allen<br />

ähnlichen Privat-Informatoren betrogen werden. Die Sache läuft klar<br />

darauf hinaus, daß dieselben und wohl auch die Kaukasier Geld erlangen<br />

wollten im Namen der angeblichen „Organisationen", deren Existenz<br />

weder der Parteivorstand noch jemand anders beglaubigen und prüfen<br />

kann.<br />

Kann denn nicht die deutsche Partei mit ihren 90 sozialdemokratischen<br />

Tageszeitungen - wenn sie sich nicht in Verlegenheit versetzen will durch<br />

ihre Irrtümer in russischen Parteiangelegenheiten - die Diskussion über<br />

die Sozialdemokratische Partei in Rußland eröffnen und alle die vor dem<br />

Tageslicht sich verbergenden Informatoren öffentlich veranlassen, mit ihrer<br />

Unterschrift und mit Belegen in der Hand aufzutreten?<br />

Rußland ist immerhin noch nicht so entfernt wie Zentralafrika, und die<br />

deutsche sozialdemokratische Arbeiterschaft würde ohne große Mühe die<br />

Wahrheit entdecken und somit auch die deutschen Vorstandsmitglieder<br />

vom Anhören der privaten und der Prüfung unzugänglichen Erzählungen<br />

befreien.<br />

Im Auftrage des Zentralkomitees<br />

der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands<br />

W. Cenin<br />

Geschrieben zwischen dem i7. (30.) Juli<br />

und 20. August (2. September) i9!2,<br />

das Vostskriptum am 2. (15.) September 19 i2.<br />

Veröffentlicht i9i2 in Leipzig Tiaä) dem 7ext der Broschüre.<br />

als Broschüre in deutscher Sprache.


210<br />

URSPRÜNGLICHES POSTSKRIPTUM<br />

ZU DER SCHRIFT<br />

„ZUR GEGENWÄRTIGEN SACHLAGE IN DER<br />

SOZIALDEMOKRATISCHEN ARBEITERPARTEI<br />

RUSSLANDS" 61<br />

Nachdem die oben geschriebenen Zeilen bereits in Satz gegeben waren,<br />

erhielten wir die in Petersburg am 17. August alten Stils erschienene Nr. 7<br />

des „Newski Golos". Die Liquidatorenzeitung erscheint also wieder nach<br />

i l hmonatiger "Unterbrechung. (Die vorige Nummer dieses Wochenblatts,<br />

Nr. 6, war am 5. Juli alten Stils herausgekommen.)<br />

Die im „Newski Golos" Nr. 7 selbst veröffentlichten Meldungen bestätigen<br />

am besten die Einschätzung der tatsächlichen Bedeutung der<br />

Liquidatoren in Rußland, wie sie (die Einschätzung) in dem Schreiben<br />

unseres Zentralkomitees an den Vorstand* gegeben wurde.<br />

In der Tat, Anfang Juli wurde die Herausgabe der Zeitung eingestellt.<br />

Die Liquidatoren und ihre Freunde machten natürlich alle Anstrengungen,<br />

sie wieder erscheinen zu lassen, über das Ergebnis dieser Anstrengungen<br />

in diesen anderthalb Monaten (Juli bis Mitte August) berichtet der „Newski<br />

Golos" selbst in seiner Nummer 7 folgendes:<br />

„Im Kontor der Zeitung sind zur materiellen Unterstützung der<br />

Zeitung eingegangen:<br />

Juli, Von 14 Personen je 25 Rbl. (I. F., P., G., M. I., K., L., K. F.,<br />

L., B., Wsch., Lw., WL, W. P., aus Mosk. von B.); über R. - 50 Rbl. ,von<br />

M. - 11 Rbl.; Schch. - 11 Rbl.; von 8 Personen je 10 Rbl. (E.,<br />

I., Is., Seh., R'f., Awg., Ob., P. O.); von Ch. I. - 8 Rbl.; von S. -<br />

7 Rbl.; von Ch. - 5 Rbl., B. B. - 5 Rbl.; von F. - 6 Rbl.; M. B. -<br />

5 Rbl.; aus Libau - 5 Rbl.; Gmp. - 3 Rbl. Insgesamt 546 Rubel.<br />

August Von Wulfson (Zürich) - 10 Rbl.; von demselben - 3 Rbl.<br />

57 Kop.; Bensi (Zürich) - 15 Rbl.; G-a (Kischinjow) - 20 Rbl.;<br />

* Parteivorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Die <strong>Red</strong>.


lirsprünglidjes Postskriptum 211<br />

As-w (Astrachan) - 3 Rbl.; Sp-ago (Bogorodsk) - 15 Rbl.; W. W. -<br />

6 Rbl.; J. J. F. - 59 Rbl.; aus Dubbeln über S. - 20 Rbl.; aus Mosk.<br />

von B. - 25 Rbl.; von J. L. - 10 Rbl.; L. L. - 12 Rbl.; M. Gr. -<br />

3 Rbl.; von der Moskauer Initiativgr. - 35 Rbl.; B. B. - 5 Rbl.; B. -<br />

5 Rbl.; über L. L. von An. Konst. aus St. Petersb. - 6 Rbl.; von<br />

einer Gruppe von Freunden aus Paris - 8 Rbl. 54 Kop.; aus Pawlograd<br />

von B. - 20 Rbl. Insgesamt 281 Rbl. 11 Kop."<br />

So lautet der von den Liquidatoren selbst veröffentlichte Bericht. In den<br />

anderthalb Monaten ergibt sich folgendes Bild ihrer Arbeit und ihrer<br />

Verbindungen mit den Massen:<br />

Insgesamt wurden gesammelt -8 2 7 Rbl. i i %op.<br />

Davon<br />

Moskauer Initiativgruppe 35 Rbl. -<br />

Gruppe von Freunden aus Paris 8 Rbl. 54 Kop.<br />

Privatspenden von Einzelpersonen:<br />

35 Spenden mit insgesamt 708 Rbl.<br />

15 Spenden mit insgesamt 75 Rbl. 57 Kop.<br />

Insgesamt 827 Rbl. 11 Kop.<br />

Allen ist bekannt, und Plechano-w hat schon im April 1912 öffentlich<br />

erklärt („Dnewnik Sozialdemokrata" Nr. 16), daß die „Initiativgruppen"<br />

£i(juidatorengrappea sind.<br />

Den Liquidatoren haben also in der schwersten Zeit, als ihr Organ<br />

nicht erscheinen konnte, geholfen<br />

eine Liquidatorengruppe in Rußland<br />

eine Gruppe von Freunden in Paris<br />

35 zahlungskräftige Personen mit einer durchschnittlichen Spende von<br />

je 20 Rubeln (über 40 Mark pro Person)<br />

15 Einzelpersonen mit einer durchschnittlichen Spende von je 5 Rbl.<br />

(über 10 Mark pro Person).<br />

Hatte unser ZK nicht recht mit der Behauptung, daß die Liquidatoren<br />

in der russischen Arbeiterbewegung eine völlige Null sind?<br />

Die Liquidatoren berufen sich auf das „Kaukasische Distriktskomitee".<br />

Von keiner einzigen Arbeitergruppe im Kaukasus haben<br />

sie in den anderthalb Monaten auch nur einen einzigen Beitrag erhalten.


212 W. 1. Centn<br />

Die Liquidatoren wollen die Hilfe des „<strong>Band</strong>" und der sozialdemokratischen<br />

Organisation Lettlands in Anspruch nehmen. Von kein er<br />

einzigen Arbeitergruppe des „Bund" oder der Letten haben sie in<br />

den anderthalb Monaten auch nur einen einzigen Beitrag erhalten.<br />

Die „Prawda", die Petersburger Tageszeitung der Antiliquidatoren,<br />

veröffentlichte in denselben anderthalb Monaten (Juli bis 14. August)<br />

Berichte über 4 i Sammlungen von Arbeitergruppen aus verschiedenen<br />

Orten Rußlands, darunter von Arbeitern der Erdölindustrie (Grosny,<br />

Terekgebiet) („Prawda" Nr. 60) und von jüdischen Arbeitern in Libau<br />

(„Prawda" Nr. 67). Wir erlauben uns die Meinung, daß diese Hilfe der<br />

Arbeiter ernster zu nehmen ist als die Phrasen und Deklamationen des<br />

„Kaukasischen Distriktskomitees", der Letten und des „Bund".<br />

Keine Hilfe der Welt und keine „Konferenzen" mit den Letten, dem<br />

„Bund" u. dgl. m. werden aus der liquidatorischen "Null in der russischen<br />

Arbeiterbewegung eine Eins machen.<br />

Mögen sich die deutschen Genossen die nicht allzu große Mühe machen<br />

und die "Dokumente über die Lage der SDAPR zusammentragen und prüfen<br />

- Rußland ist immerhin nicht Zentralafrika, von dem man alle möglichen<br />

„Jagdgeschichten" erzählen kann. Die deutschen Genossen werden<br />

doch wohl Schluß machen wollen mit einem solchen gelinde gesagt* sonderbaren<br />

Zustand, wo sie über den italienischen, schwedischen und jeden<br />

beliebigen anderen Sozialismus durch offen publizierte Dokumente informiert<br />

werden, über den russischen Sozialismus aber durch privat übermittelte<br />

Märchen und Gerüchte.<br />

Qesdhrieben im August I9i2.<br />

Zum erstenmal veröftentlidht. Tiadi dem Manuskript.<br />

„gelinde gesagt" bei <strong>Lenin</strong> deutsch. Der Tibers.


KAPITALISMUS UND VOLKSKONSUM<br />

213<br />

Vor kurzem veröffentlichte die französische Zeitschrift „La Revue<br />

Scientüique" 62 Daten über die iWanfanneproduktion in den verschiedenen<br />

Ländern. Diese Daten erinnern ein übriges Mal an die schon längst festgestellte<br />

Tatsache, daß sich die Volksernährung mit der Entwicklung des<br />

Kapitalismus verschlechtert.<br />

Margarin nennt man bekanntlich besonders (durch Entzug des Stearins)<br />

bearbeiteten Talg. Aus diesem Margarin wird das Kunstspeisefett Margarine<br />

hergestellt.<br />

Die Produktion von Margarine hat in den wichtigsten europäischen<br />

Ländern sehr große Ausmaße erreicht. Deutschland produziert I2V2 Millionen<br />

Pud Margarine im Jahr, England 772 Millionen usw.<br />

Margarine ist billiger als echte Butter. Für die überwiegende Mehrheit<br />

der Bevölkerung in den kapitalistischen Ländern ist echte Butter zu teuer.<br />

Die Arbeiter verdienen so wenig, daß sie billige, künstlich hergestellte<br />

Lebensmittel von niedriger Qualität kaufen müssen. Und die Hauptverbraucher<br />

sind ja die Arbeiter. Arbeiter gibt es Millionen, Kapitalisten nur<br />

Hunderte. So wächst eben die Produktion eines billigen, künstlich hergestellten<br />

Nahrungsmittels zusehends - bei gleichzeitig zunehmendem<br />

unerhörtem Luxus einer Handvoll Millionäre.<br />

Es wächst der Reichtum der Bourgeoisie. Es wächst das Elend und die<br />

Not des Proletariats und der Masse der ihrem Ruin entgegengehenden<br />

Kleinbesitzer, der Bauern, Handwerker, Kleinhändler.<br />

Bemerkenswert ist, daß der Margarineverbrauch gerade in den Ländern<br />

am höchsten ist, die besonders dafür bekannt sind, daß sie echte Butter<br />

in großer Menge und von bester Qualität produzieren. Um festzustellen,


214 W.J.<strong>Lenin</strong><br />

wie hodi der Margarineverbraudi ist, muß man die Gesamtmenge der im<br />

Lande produzierten Margarine (zuzüglich der Einfuhr und abzüglich der<br />

Ausfuhr) durch die Einwohnerzahl dividieren.<br />

Dabei ergibt sich, daß in bezug auf die Höhe des Margarineverbrauchs<br />

an erster Stelle Dänemark mit 16,4 Kilogramm Margarine im Jahr (etwa<br />

ein Pud) pro Einwohner steht. Es folgen Norwegen mit 15 Pfund, Deutschland<br />

mit 772 Pfund usw.<br />

Dänemark ist hinsichtlich der Butterproduktion das reichste Land. Die<br />

dänische echte Bntter zählt zur besten. London, die größte und reichste<br />

Stadt der Welt (mit den Randgebieten etwa 6 Millionen Einwohner),<br />

nimmt am liebsten dänische Butter und zahlt dafür den höchsten Preis.<br />

Die dänischen wohlhabenden Bauern und vor allem die dänischen Kapitalisten<br />

machen mit dem Butterhandel gute Geschäfte. Und zugleich steht<br />

Dänemark an erster Stelle in der Welt im Verbrauch an künstlicher Butter,<br />

an Margarine!<br />

Wie ist das zu erklären?<br />

Sehr einfach. Die übergroße Mehrheit der dänischen Bevölkerung, wie<br />

auch der Bevölkerung in jedem anderen kapitalistischen Land, sind Arbeiter<br />

und arme Bauern. Für sie ist die echte Butter zu teuer. Sogar die Mittelbauern<br />

in Dänemark verkaufen aus Geldmangel die in ihrer Wirtschaft<br />

produzierte Butter ins Ausland und kaufen für sich selbst die billige Margarine.<br />

Es wächst der Reichtum der dänischen Kapitalisten, und es wächst<br />

das Elend und die Not der dänischen Arbeiter und Bauern.<br />

Bei uns in Rußland ist es dasselbe. Vor sehr langer Zeit, etwa vor vierzig<br />

Jahren, als die Errichtung von Käsereien und Käsereiarteis in den Dörfern<br />

Mode wurde, vermerkte der demokratische Publizist Engelhardt, daß die<br />

Bauern aus Geldmangel Milch und Butter verkaufen, während die Kinder<br />

hungern und dahinsterben.<br />

Seither wurde von dieser Erscheinung oft gesprochen. Die Käseproduktion<br />

nimmt zu, es steigt die Produktion von Milch für den Verkauf, wenige<br />

wohlhabende Bauern und Händler werden reich, während die Armen<br />

noch ärmer werden. Die Kinder der armen Bauern bleiben ohne Milch<br />

und sterben in großer Zahl. Die Kindersterblichkeit in Rußland ist unglaublich<br />

hoch.<br />

Oft bringen die Bauern die Milch in die Käsereien und erhalten die<br />

9/lagermildb zurück, die sie für sich zum Essen verwenden.


Kapitalismus und Volkskonsum 215<br />

Den Reichen bringt die Zunahme der Produktion und des Handels<br />

Profite, den Arbeitern und Bauern - Margarine und Magermilch. So sieht<br />

die kapitalistische Wirklichkeit aus, die die liberalen und staatstreuen Gelehrten<br />

mit so viel Eifer schminken.<br />

„Vrawda" Nr. 70, Nadi dem 7ext der „Prawda".<br />

20. Juli 1912.<br />

llntersdhrift: B. B.


216<br />

DIE LIBERALEN<br />

UND DIE KLERIKALEN<br />

Die Geistlichkeit schickt sich an, die IV. Duma zu überschwemmen.<br />

Wie soll man sich zu diesem Erscheinen der Geistlichkeit in der politischen<br />

Arena verhalten?<br />

Die Demokratie kann niemals den Standpunkt einnehmen, daß die<br />

Geistlichkeit am politischen Leben nicht teilnehmen solle. Das ist ein erzreaktionärer<br />

Standpunkt. Er führt nur zu konventioneller Heuchelei und<br />

zu weiter nichts. Im Leben sind Maßnahmen, die die eine oder andere<br />

Bevölkerungsgruppe oder -Schicht von der Politik und vom Klassenkampf<br />

ausschließen, völlig unmöglich und undurchführbar.<br />

Erinnern wir uns, daß Bebel und die anderen deutschen Sozialdemokraten<br />

für die Agitationsfreiheit der Jesuiten in Deutschland waren. Wir<br />

sind gegen die liberalen Phrasen, daß man die Agitation der Jesuiten „verbieten"<br />

müsse, sagten die Sozialdemokraten. Wir fürchten die Jesuiten<br />

nicht. Mögen die Jesuiten votte "Freiheit der Agitation haben, mag man<br />

aber auch uns Sozialdemokraten die volle Agitationsfreiheit geben. So<br />

argumentierten Bebel und die anderen deutschen Sozialdemokraten.<br />

Die Arbeiterdemokraten Rußlands kämpfen gegen die Verfälschung des<br />

Wahlrechts (und jedes anderen Rechts) zugunsten der Gutsbesitzer oder<br />

der Geistlichkeit usw., keineswegs aber gegen die Freiheit der Teilnahme<br />

der Geistlichkeit am politischen Leben. Wir stehen auf dem Standpunkt<br />

des Klassenkampfes und fordern die volle Freiheit der politischen Betätigung<br />

für jede Klasse, für jeden Stand, für beide Geschlechter, für jedes<br />

Volk, jede Bevölkerungsschicht oder -gruppe.<br />

Die Liberalen urteilen in dieser Frage falsch, undemokratisch. Fürst<br />

Trubezkoi zum Beispiel schrieb unlängst unter dem Beifall der „Retsch":


Die Liberalen und die Klerikalen 217<br />

„Die Verwandlung der Kirche in ein politisches Werkzeug wird erreicht<br />

um den Preis ihrer inneren Zersetzung." Den Plan, die Duma durch die<br />

Geistlichkeit zu überschwemmen, nannte er „antichristlich und antikirchlich".<br />

Das ist nicht wahr. Das ist Heuchelei. Das ist ein zutiefst reaktionärer<br />

Standpunkt.<br />

Trubezkoi und die anderen Liberalen stehen in ihrem Kampf gegen den<br />

Klerikalismus auf einem Mndemokratischen Standpunkt. Unter der Flagge<br />

der Nichtteilnahme der Geistlichkeit am politischen Kampf betreiben sie<br />

nur ihre mehr versteckte (und darum viel gefährlichere) Teilnahme.<br />

Die Arbeiterdemokratie ist für die Freiheit des politischen Kampfes für<br />

alle, auch für die Geistlichkeit. Wir sind nicht gegen die Teilnahme der<br />

Geistlichkeit am Wahlkampf, an der Duma u. dgl. m., sondern aussdbließ-<br />

Hdh gegen die mittelalterlichen Privilegien der Geistlichkeit. Wir fürchten<br />

den Klerikalismus nicht, wir werden - auf einer freien und für alle gleichen<br />

Tribüne — gern mit ihm streiten. Die Geistlichkeit beteiligte sich an<br />

der Politik stets verstedkt; für das Volk wird es nur von Nutzen sein, und<br />

zwar von großem Nutzen, wenn die Geistlichkeit an der Politik offen teilnimmt.<br />

„Prawda" 9Jr. 74, Tiado dem Text der „Prawda".<br />

25. Juli i9i2.<br />

Vntersdhrift: Ein Laie.<br />

15 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>


2<strong>18</strong><br />

DIE KADETTEN UND DIE DEMOKRATIE<br />

„Wir haben uns an den Gedanken gewöhnt", schreibt der Leitartikler<br />

der „Retsch", „daß die Marxisten den Kadetten die Bedeutung einer demokratischen<br />

Partei zubilligen, wenn auch mit dem beleidigenden Zusatz:<br />

bürgerlich"' (das heißt: bürgerlich-demokratisch).<br />

Man kann sich schwerlich vorstellen, daß „gebildete Menschen", die die<br />

marxistische Literatur lesen, eine noch größere politische Unwissenheit an<br />

den Tag legen könnten. Unwillkürlich erhebt sich die Frage: Ist es nicht<br />

manchmal Berechnung, die sie veranlaßt, sich unwissend zu stellen?<br />

Seit 1906 haben wir Hunderte und Tausende Male erklärt, daß die Kadetten<br />

nidht Demokraten, sondern liberal-monarchistische Bourgeois sind.<br />

Im Frühjahr 1907 haben die jedem politisch gebildeten Menschen bekannten<br />

offiziellen Beschlüsse der Marxisten aus ganz Rußland das bekräftigt und<br />

vor aller "Welt festgestellt, daß die Kadetten eine Partei der liberalmonarchistischen<br />

Bourgeoisie sind, daß ihr Demokratismus „heuchlerisch"<br />

ist, daß den Kadetten ein Teil des Kleinbürgertums „nur aus Tradition"<br />

folgt (aus der blinden Gewohnheit an das Gewöhnliche, an das Alte) „und<br />

weil er von den dberalen direkt betrogen wird" 63 .<br />

Hunderte und Tausende Male wurden diese Gedanken seither wiederholt<br />

und weiterentwickelt.<br />

Und die Kadetten beteuern, als ob nichts gewesen sei, daß sie sich „an<br />

den Gedanken gewöhnt" hätten, daß die Marxisten sie für Demokraten<br />

halten! Wahrlich, schlimmer als jeder Taube ist, wer nicht hören will.<br />

Die Liberalen unterscheiden sich von den Konservativen (den Schwarzhundertern)<br />

dadurch, daß sie die Interessen der Bourgeoisie vertreten, die<br />

den Fortschritt und eine einigermaßen geregelte Rechtsordnung, die Wah-


Die Xadetten und die Demokratie 219<br />

rung der Gesetzlichkeit, der Verfassung, die Gewährleistung einer gewissen<br />

politischen Freiheit braudht.<br />

Diese fortschrittliche Bourgeoisie aber fürchtet die Demokratie und die<br />

Bewegung der Massen noch mehr als die Reaktion. Daher die ewigen<br />

Tendenzen der Liberalen zu Konzessionen an das Alte, zum Paktieren mit<br />

ihm, zur Verteidigung vieler Grundpfeiler des Alten. Und all das bewirkt<br />

die völlige Ohnmacht des Liberalismus, seine Unentschlossenheit und<br />

Halbheit, sein ewiges Schwanken.<br />

Die Demokratie, das ist die breite Masse der Bevölkerung. Der Demokrat<br />

fürchtet nicht die Bewegung der Massen, sondern glaubt an sie. Die<br />

Demokratie in Rußland, das sind die Trudowiki und überhaupt die linken<br />

„Volkstümler". Die Marxisten bezeichnen sie als bürgerliche Demokratie,<br />

keineswegs um sie zu „beleidigen", sondern weil keinerlei Neuaufteilung<br />

des Bodens und keinerlei Demokratisierung des Staates bereits die Herrschaft<br />

des Kapitals, die Herrschaft der bürgerlichen Ordnung beseitigt.<br />

Die Politik der Arbeiterdemokraten ist klar. Wir erkennen Vereinbarungen<br />

mit den Liberalen gegen die Rechten erst im zweiten Stadium<br />

der Wahlen und nur dort an, wo man mit den Demokraten die Liberalen<br />

nicht besiegen kann. Wir kämpfen zusammen mit allen bürgerlichen Demokraten,<br />

solange sie ihrem Demokratismus die Treue bewahren.<br />

„Trawda" 5Vr. 75, TJadh dem Hext der „Trawda".<br />

26. Juli 19i2.


220<br />

DER FELDZUG DER LIBERALEN<br />

Die Liberalen sind in Bewegung geraten und bedrängen geschlossen die<br />

„Prawda". Die Leitartikler der kadettischen „Retsch", die parteilos-progressiven<br />

Herren Prokopowitsch und R. Blank haben in den „Saprossy<br />

Shisni" gegen die Arbeiterzeitung das Feuer eröffnet, weil diese beschlossen<br />

hat, in Petersburg eine selbständige Wahlkampagne durchzuführen.<br />

„Die Anstrengungen der .Newskaja Swesda' und der ,Prawda' sind völlig<br />

vergeblich", versichern die „Saprossy Shisni". „Sie können doch nicht im Ernst<br />

damit rechnen, daß der Kandidat der Arbeiterpartei in der Petersburger<br />

städtischen Kurie, in der der Anteil der Arbeiter gering ist, siegen wird!"<br />

Da haben wir ein Musterbeispiel liberaler Betrachtungsweise, da haben<br />

wir die Methoden zur Einschüchterung des Wählers, der den spießbürgerlichen<br />

Standpunkt noch nicht überwunden, sich noch nicht zu wirklich bewußtem<br />

politischem Denken durchgerungen hat.<br />

Es gab eine Zeit, da die Liberalen direkt mit einem Wahlsieg der<br />

Schwarzhunderter zu schrecken suchten. Jetzt aber „zieht" die grobe<br />

Lüge nicht mehr. Jedermann weiß, daß bei den Wahlen in Petersburg<br />

keine, aber auch nicht die geringste Schwarzhundertergefahr besteht. Und<br />

da greift man eben zu einem Einschüchterungsversuch anderer Art: Man<br />

kann doch nicht damit rechnen, daß die Arbeiter siegen werden.<br />

Nein, ihr Herren Liberale, der demokratische Wähler überhaupt - der<br />

Arbeiter im besonderen - hat in den verflossenen fünf schweren Jahren<br />

viel durchgemacht, über vieles nachgedacht und viel gelernt. Mit einem<br />

solchen Einschüchterungsversuch werdet ihr nichts erreichen.<br />

Nirgendwo in der Welt begannen die Arbeiter in den großen Städten<br />

ihre Wahlkampagne, ohne starke liberale Parteien gegen sich zu haben.


Der Teldzug der Liberalen 221<br />

Nirgendwo in der Welt gelang es der Arbeiterdemokratie ohne hartnäckigen<br />

Kampf, die Massen der kleinen Dienstleute, der Handlungsgehilfen,<br />

Handwerker, Kleinhändler usw. dem Einfluß der Liberalen zu entreißen.<br />

Wer dagegen ist, daß die Petersburger Arbeiter gerade jetzt diesen<br />

Kampf aufnehmen (vielmehr: das fortsetzen, was in den Jahren 1906,<br />

1907 und 1909 begonnen wurde), der nennt sich zu Unrecht Demokrat,<br />

der bleibt in Wirklichkeit ein Sklave der Liberalen.<br />

Tausende und aber Tausende neuer demokratischer Wähler werden<br />

jetzt an den Wahlen in Petersburg teilnehmen.<br />

Die große Tat, die die Petersburger Arbeiter mit der Schaffung ihrer<br />

Arbeitertageszeitung vollbracht haben, gibt uns allen Grund, im Wahlkampf<br />

keine geringeren Erfolge zu erwarten.<br />

Von den alten Wählern erwachen Tausende zn neuem, bewußterem<br />

politischem Leben, mit Hilfe ihrer Arbeiterzeitung lernen sie es, für die<br />

Verbesserung ihres Lebens zu kämpfen, sie gewöhnen sich an gemeinsame<br />

politische Aktionen und werden sich der großen Aufgaben des ganzen<br />

Volkes bewußt, die die Arbeiterdemokratie zu lösen hat.<br />

Ein Sieg über die Liberalen in Petersburg ist möglich. Und das demokratische<br />

Petersburg schöpft aus der Unruhe und den zänkischen Ausfällen<br />

der Liberalen, aus ihren Einschüchterungsversuchen und Ermahnungen nur<br />

aufs neue die Gewißheit, daß es auf sicherem Wege zum Siege schreitet.<br />

.Trawda" 7!T. 77, Tladb dem 7ext der „Prawda".<br />

28.7«J/


222<br />

AUFSTÄNDE IN ARMEE UND FLOTTE«<br />

In letzter Zeit drangen einige Nachrichten über eine revolutionäre<br />

Gärung in der Truppe sogar in unsere legale Presse. Halten wir die drei<br />

wichtigsten Meldungen fest.<br />

In der Schwarzmeerflotte. Das Marinegericht in Sewastopol verhandelte<br />

am 27. Juni unter Ausschluß der Öffentlichkeit gegen den Elektriker Selenin<br />

vom Panzerkreuzer „Joann Slatoust". Gemeinsam mit Karpischin und<br />

Siljakow wurde er angeklagt, eine Proklamation mit einem Aufruf zum<br />

bewaffneten Aufstand verfaßt und verbreitet zu haben. Selenin, Karpischin<br />

und Siljakow wurden zum Tode verurteilt und am 10. Juli erschossen.<br />

Am 2. Juli fand beim gleichen Gericht eine Verhandlung in Sachen der<br />

Besatzung desselben Panzerkreuzers statt. 16 Matrosen standen unter der<br />

Anklage, die Besatzung aufgewiegelt zu haben, sich des Schiffes zu bemächtigen.<br />

Zehn wurden zum Tode verurteilt, fünf zu 6 Jähren Zuchthaus.<br />

Wie aus amtlichen telegrafischen Meldungen vom 4. Juli hervorgeht,<br />

sollen die zehn zum Tode Verurteilten ein Gnadengesuch eingereicht<br />

haben.<br />

In der Baltischen Flotte. Für den 16. Juli war beim Marinegericht des<br />

Kronstädter Hafens die Verhandlung gegen 65 Matrosen des Schulschiffes<br />

„Dwina", des Kreuzers „Aurora" und des Panzerkreuzers „Slawa" anberaumt.<br />

Die Oktobristenzeitung „Golos Moskwy" erhielt am 3. Juli aus<br />

St. Petersburg die telefonische Mitteilung, daß in der Stadt viel über diesen<br />

aufsehenerregenden Prozeß gesprochen werde. Wie man sagt, werden<br />

diese 65 Matrosen der Zugehörigkeit zur Partei der Sozialrevolutionäre<br />

sowie der „Zugehörigkeit zu einem Geheimbund" beschuldigt, „der auf<br />

den offenen Aufstand und die Ermordung hoher Offiziere hingearbeitet


Aufstände in Armee und Jlotte 223<br />

hat". Der gleichen Meldung zufolge nahm die Sache ihren Anfang mit der<br />

Verhaftung eines Matrosen der „Dwina" am 22. Januar 1912.<br />

Ferner ist bekannt, daß in den Maitagen Matrosen der Baltischen Flotte<br />

in Helsingfors verhaftet wurden.<br />

Schließlich unternahmen am 1. Juli in dem Dorf Troizkoje bei Taschkent<br />

Pioniere einen Aufstandsversuch. Stabskapitän Pochwisnew wurde von<br />

den Aufständischen aufs Bajonett gespießt. Eine telegrafische Mitteilung<br />

über diesen Vorfall wurde nidbt durchgelassen. Erst am 10. Juli erschien in<br />

Petersburg ein Abdruck aus den „Turkestanskije Wedomosti" [Turkestanische<br />

Nachrichten], einem amtlichen Blatt, das zugibt, daß es mit den<br />

Aufständischen zu einem Qefedrt gekommen ist. Infanterie und Kosaken<br />

haben die aufständischen Pioniere, bei denen es sich um insgesamt 100 bis<br />

130 Mann gehandelt haben soll, zusammengeschlagen. Der Aufstand begann<br />

abends und endete nach der amtlichen Mitteilung gegen Morgen.<br />

Etwa 380 Pioniere wurden verhaftet, von denen „mehr als die Hälfte" (so<br />

behauptet das Regierungsblatt) am Aufstand „zweifellos (??) unbeteiligt<br />

war". Außer Pochwisnew wurden die beiden Leutnante Krassowski und<br />

Koschtsdienez sowie zwei untere Chargen von den Aufständischen getötet;<br />

fünf Offiziere und zwölf untere Chargen wurden verwundet. Wieviel Aufständische<br />

getötet wurden, verschweigt das amtliche Blatt.<br />

Das sind die spärlichen und offensichtlich unvollständigen, offensichtlich<br />

von der Polizei verstümmelten und bagatellisierten Nachrichten, über die<br />

wir augenblicklich verfügen.<br />

Was zeigen diese Ereignisse?<br />

Sie bestätigen voll und ganz das, was in den Beschlüssen der Gesamtrussischen<br />

Januarkonferenz der SDAPR von 1912 erklärt und vor einem<br />

Monat in Nr. 27 des Zentralorgans „Sozial-Demokrat" ausführlicher dargelegt<br />

worden ist.*<br />

In Rußland hat ein revolutionärer Aufschwung begonnen. Die Massenstreiks<br />

im April und Mai haben gezeigt, daß das Proletariat in Rußland<br />

zur Offensive übergeht: sowohl gegen das Kapital als auch gegen die<br />

Zarenmonarchie, sowohl für ein besseres Leben der durch die Verfolgungen<br />

und die Unterdrückungsmaßnahmen der Konterrevolution in den Jahren<br />

1908-1911 gequälten und gepeinigten Arbeiter als auch für die Freiheit<br />

des ganzen Volkes, für die demokratische Republik.<br />

* Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 91-99. "Die <strong>Red</strong>.


224 W. 7. <strong>Lenin</strong><br />

Die Liberalen (und nach ihnen die Liquidatoren vom „Newski Golos")<br />

verbreiten die Mär, Grundlage der Bewegung vom April und Mai sei der<br />

Kampf um die Koalitionsfreiheit gewesen. Dieses Märchen ist durch die<br />

Tatsachen widerlegt. Im Sklavenhalterstaat Rußland kann man nicht nur<br />

um eines der politischen Rechte kämpfen, unter der zaristischen Selbstherrschaft<br />

kann man nicht um konstitutionelle Reformen kämpfen. Der Kampf<br />

des Proletariats hat mit der Welle von Streiks ganz Rußland erfaßt, und<br />

das waren sowohl wirtschaftliche als audh politische Streiks. In der Vereinigung<br />

dieser beiden Formen lag und liegt die Stärke der Bewegung. Das<br />

sind keine einfachen Streiks mehr, das ist der revolutionäre Aufschwung<br />

der Massen, das ist der Anfang der Offensive der Arbeitermassen gegen<br />

die Zarenmonarchie.<br />

Die Massenstreiks mußten überall die revolutionäre Flamme entfachen.<br />

Und das Aufflammen von Aufständen in der Truppe hat gezeigt, daß<br />

diese Flamme auflodert; überall ist Zündstoff vorhanden; überall wächst<br />

die revolutionäre Stimmung in den Massen, sogar bei jenen Arbeitern und<br />

Bauern, die der Kasernenhofdrill niederhält.<br />

Die Massenstreiks in Rußland sind unlösbar mit dem bewaffneten Aufstand<br />

verbunden. Wachsen die Streiks, so wächst auch der Aufstand.<br />

Das haben die Ereignisse bewiesen, von denen wir eingangs gesprochen<br />

haben.<br />

Diese Ereignisse erteilen die Lehre, die in Nr. 27 des Zentralorgans<br />

„Sozial-Demokrat" dargelegt ist. Zum Aufstand aufzurufen ist jetzt<br />

höchst unvernünftig. Der Aufstand wäre noch vorzeitig. Nur der vereinte<br />

Ansturm der Arbeitennassen, der Bauernschaft und des besten Teils der<br />

Armee kann die Voraussetzungen für einen siegreichen, d. h. rechtzeitigen<br />

Aufstand schaffen.<br />

Und die fortgeschrittenen Arbeiter müssen alle Kraft daransetzen, die<br />

illegale Partei der Arbeiterklasse, die SDAPR, zu festigen, sie wiederherzustellen<br />

und zu entwickeln. Nur eine solche Partei, die eine revolutionäre<br />

Agitation betreibt, die sich alle Mittel der legalen Propaganda vermittels<br />

der Arbeiterpresse und der Arbeiterdeputierten in der Duma zunutze<br />

macht, wird imstande sein, einen Verschleiß der Kräfte in aussichtslosen<br />

kleinen Aufständen zu vermeiden und die Armee des Proletariats auf den<br />

großen siegreichen Aufstand vorzubereiten.<br />

Es leben die revolutionären Soldaten und Matrosen!


Aufstände in Armee und Jlotte 225<br />

Es lebe die einträchtige, beharrliche, unermüdliche revolutionäre Arbeit<br />

zur Entfaltung einer breiten revolutionären Offensive der Millionenmassen,<br />

der Arbeiterstreiks und der Bauembewegung! Nur an der Spitze des<br />

Ansturms von Millionen, nur in engstem, unlöslichem Bündnis mit ihnen<br />

kann und wird der revolutionäre Teil der russischen Truppen die Zarenmonarchie<br />

besiegen!<br />

.Xabotsäiaja Qaseta" Tit. 9, 7ia& dem 7ext der<br />

30. Juli (i2. Augusty 5 i9i2. .Rabotsdhaja Qaseta".


226<br />

AM VORABEND DER WAHLEN ZUR IV. DUMA<br />

Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands hat vor den Wahlen<br />

trotz aller Verfolgungen, trotz Massenverhaftungen ein Programm, eine<br />

Taktik und eine Plattform vorgelegt, die klarer, deutlicher, exakter sind als<br />

die jeder anderen Partei.<br />

Die Gesamtrussische Konferenz der SDAPR im Januar 1912 zog das<br />

Fazit der in den schweren Jahren der Konterrevolution geleisteten politischideologischen<br />

Arbeit. Die Beschlüsse der Konferenz gaben tunfassend Antwort<br />

auf alle aktuellen Fragen der Bewegung. Auf der Grundlage dieser<br />

Beschlüsse bildete die Wahlplattform nur das Schlußwort. Die Plattform<br />

wurde vom Zentralkomitee in Rußland herausgegeben und danach von<br />

einer ganzen Reihe Lokalorganisationen nachgedruckt. 66 Die ganze bürgerlidie<br />

Presse berichtete über die Konferenz und zitierte einige ihrer Beschlüsse.<br />

In dem halben Jahr, das seit der Konferenz verflossen ist, wurden die<br />

Beschlüsse der Konferenz in der Parteipresse und in Dutzenden von Referaten,<br />

in Hunderten von <strong>Red</strong>en in Fabrikzirkeln, auf Kundgebungen in<br />

den April- und Maitagen erläutert und verwirklicht. Die Losungen der<br />

Partei - Republik, Achtstundentag, Konfiskation der Gutsbesitzerländereien<br />

- fanden in ganz Rußland Verbreitung und wurden von den fortgeschrittenen<br />

Proletariern aufgegriffen. Der revolutionäre Aufschwung der<br />

Massen, von Streiks und Kundgebungen bis zu Aufständen unter den<br />

Truppen, hat die Richtigkeit und Aktualität dieser Losungen bewiesen.<br />

Unsere Partei hat die Wahlen bereits ausgenutzt, und das in breitem<br />

Umfang. Keinerlei „Erläuterungen" der Polizei, keinerlei Verfälschung<br />

der IV. Duma (durch die Popen oder sonstwen) werden dieses Ergebnis


Am Vorabend der Wahlen zur IV. Duma 227<br />

zunichte machen können. Die streng parteilich betriebene Agitation ist<br />

schon überallhin gedrungen, und sie bestimmte den Ion der ganzen sozialdemokratischen<br />

Wahlkampagne.<br />

Die bürgerlichen Parteien schreiben hastig, in aller Eile „Plattformen<br />

für die Wahlen", um Versprechungen zu machen, um die Wähler zu<br />

täuschen. Die Liquidatoren, im Fahrwasser der Liberalen, verfassen jetzt<br />

ebenfalls eine legale „Plattform für die Wahlen". Die Liquidatoren erheben<br />

in der legalen, zensurierten Presse ein Geschrei über Plattformen,<br />

in der Absicht, ihre völlige Zerfahrenheit, Desorganisiertheit und ideologische<br />

Haltlosigkeit hinter einer passablen, zensurierten „Plattform für<br />

die Wahlen" zu verstecken.<br />

Nicht eine Plattform „für die Wahlen", sondern Wahlen für die Propagierung<br />

einer revolutionären sozialdemokratischen Plattform! - das ist<br />

der Standpunkt der Partei der Arbeiterklasse. Wir haben die Wahlen zu<br />

diesem Zweck bereits ausgenutzt, und wir werden sie bis zu Ende ausnutzen,<br />

wir werden sogar die schwärzeste zaristische Duma ausnutzen, um<br />

die revolutionäre Plattform und Taktik, das revolutionäre Programm der<br />

Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands zu propagieren. Wertvoll<br />

sind nur Plattformen, die den Abschluß einer lange Zeit betriebenen revolutionären<br />

Agitation bilden, die bereits alle Fragen der Bewegung umfassend<br />

beantwortet hat, und nicht Plattformen (die legalen besonders!), die<br />

man in aller Eile fabriziert, um die Löcher zu stopfen, um ein auffälliges<br />

Aushängeschild zu haben, wie das bei den Liquidatoren der Fall ist.<br />

Ein halbes Jahr ist vergangen, seitdem die Partei wiederhergestellt ist,<br />

und obgleich sie unglaubliche Schwierigkeiten zu überwinden hat, wütenden<br />

Verfolgungen ausgesetzt ist und bald hier, bald dort Unterbrechungen<br />

in der Arbeit der örtlichen Zentren und des gemeinsamen Zentrums,<br />

des Zentralkomitees, hinnehmen muß, schreitet sie unaufhaltsam vorwärts<br />

und entfaltet ihre Arbeit und ihren Einfluß unter den Massen. Die Arbeit<br />

entfaltet sich auf neue Art: zu den illegalen, geheimen, eng begrenzten<br />

Zellen, die versteckter als früher arbeiten, kommt eine breitere legale<br />

marxistische Propaganda hinzu. Gerade diese Eigenart der neuen Vorbereitung<br />

der Revolution unter den neuen Bedingungen ist von der Partei<br />

schon lange festgestellt und anerkannt worden.<br />

Und wir können jetzt die vollständige Antwort auf die geräuschvollen<br />

Äußerungen der Liquidatoren geben, die mit „Doppelkandidaturen" dro-


228 W.ICenin<br />

hen. Leere Drohungen, die niemanden rühren! Die Liquidatoren sind so<br />

sehr zerschlagen und so ohnmächtig, daß keinerlei Hilfe sie wiederbeleben<br />

wird. Sie können nicht einmal daran denken, „Doppelkandidaturen" aufzustellen:<br />

täten sie es, würden sie eine klägliche, eine lächerlich geringe<br />

Stünmenzahl erhalten. Sie wissen das und werden es auf einen Versuch<br />

nicht ankommen lassen. Sie lärmen, gerade um abzulenken, um die Wahrheit<br />

zu verbergen.<br />

„Keinerlei Hilfe", sagten wir. Die Liquidatoren rechnen auf ausländische<br />

Hilfe. Ihre Freunde - besonders die Letten, der „Bund" und Trotzki<br />

- haben die Einberufung von zehn „Zentren, Organisationen und Fraktionen"<br />

angekündigt! Allen Ernstes! Das Ausland ist reich, groß und mächrig.<br />

Ganze „10 Zentren"!! Die Kniffe sind hier dieselben wie die der Regierung<br />

im Hinblick auf die IV. Duma: die Vorbereitung einer Vertretung,<br />

die Verwandlung einer Summe von Nullen in das Trugbild „großer Zahlen".<br />

Erstens Trotzki (in Rußland ist er eine Null, er ist nur Mitarbeiter<br />

des „Shiwoje DeJo", seine Agenten sind nur Beschützer der „Initiativgruppen"<br />

der Liquidatoren). Zweitens der „Golos Sozial-Demokrata",<br />

d. h. dieselben ohnmächtigen Liquidatoren. Drittens das „Kaukasische<br />

Distriktskomitee" - dieselbe Null, in dritter Aufmachung. Viertens das<br />

„Organisationskomitee" - die vierte Aufmachung derselben Liquidatoren.<br />

Fünftens und sechstens die Letten und der „Bund", der jetzt völlig liquidatorisch<br />

ist... Aber genug!<br />

Es steht außer Frage, daß unsere Partei dieses Spiel ausländischer Nullen<br />

mit Gelächter quittiert. Sie werden einen Leichnam nicht wiederbeleben,<br />

die Liquidatoren in Rußland aber sind ein Leichnam.<br />

Hier die Tatsachen.<br />

Ein halbes Jahr lang führen die Liquidatoren und alle ihre Freunde<br />

einen erbitterten Kampf gegen die Partei. Es gibt eine legale marxistisdje<br />

Presse. Sie wird teuflisch unterdrückt, sie wagt keinen Laut zu sagen über<br />

die Republik, über unsere Partei, über einen Aufstand, über die Zarenbande.<br />

Es ist lächerlich, zu glauben, man könne die Losungen der SDAPR<br />

durch diese Presse verbreiten.<br />

Aber der Arbeiter in Rußland ist nicht mehr der, der er früher war. Er<br />

ist zu einer Macht geworden. Er hat sich seinen Weg gebahnt. Er besitzt<br />

eine eigene Presse, eine unterdrückte zwar, aber eine eigene, die den<br />

Marxismus theoretisdi verteidigt.


Am Vorabend der Wahlen zur IV. "Duma 229<br />

In dieser öffentlichen Arena kann jedermann die „Erfolge" des Kampfes<br />

der Liquidatoren gegen die Antüiqoidatoren sehen. Der „Wperjod"-Mann<br />

S. W. 67 hat in der liquidatorischen Wiener „Prawda" Trotzkis diese Erfolge<br />

schon festgestellt: Die Sammlungen der Arbeiter — schrieb er - fließen<br />

fast alle den Antiliquidatoren zu. Und er tröstet sich: das geschehe<br />

nicht deshalb, weil die Arbeiter mit den „<strong>Lenin</strong>isten" sympathisierten.<br />

O nein, natürlich „nicht deshalb", liebwerter Freund der Liquidatoren!<br />

Aber man sehe sich dennoch die. Tatsachen an.<br />

Ein halbes Jahr offenen Kampfes für die Arbeitertageszeitung.<br />

Seit 1910 schreien die Liquidatoren nach ihr. Und der Erfolg? In einem<br />

halben Jahr, vom 1. Januar bis zum 1. Juli 1912, haben ihre Zeitungen<br />

„Shiwoje Delo" und „TJewski Qölos" Berichte über 15 (fünfzehn) Sammlungen<br />

von Arbeitergruppen für eine Arbeitertageszeitung gebracht!!<br />

Fünfzehn Arbeitergruppen in einem halben Jahr!<br />

Man nehme die Zeitungen der Antiliquidatoren. Man sehe sich dort die<br />

Berichte über die Sammlungen für eine Arbeitertageszeitung in demselben<br />

Halbjahr an. Man rechne die Sammlungen von Arbeitergruppen zusammen.<br />

Man kommt auf 504 "Beiträge von Arbeitergruppen.<br />

Hier die genauen Angaben nach Monaten und nach den Gebieten Rußlands.<br />

Januar<br />

Februar<br />

März<br />

April<br />

Mai<br />

Juni<br />

Insgesamt<br />

Petersburg und Umgebung<br />

Süden<br />

übriges Rußland<br />

Zahl der Sammlungen von Arbeitergrnppen für eine<br />

Arbeitertageszeitung im ersten Halbjahr 1912<br />

Eingegangen bei<br />

antiliquidatorisdien<br />

Zeitungen<br />

14<br />

<strong>18</strong><br />

76<br />

227<br />

135<br />

34<br />

504<br />

415<br />

51<br />

38<br />

Liquidatoren-<br />

Zeitungen<br />

0<br />

0<br />

7<br />

8<br />

0<br />

0<br />

15<br />

10<br />

1<br />

4<br />

Insgesamt 5Q4 15


230 W.J.Cenin<br />

Die Liquidatoren sind angesichts der Arbeitergruppen Rußlands völlig<br />

geschlagen. Die Liquidatoren sind ein Leichnam, und keine noch so drohenden<br />

(oh, wie drohenden!) ausländischen „Bündnisse von Gruppen,<br />

Zentren, Fraktionen, Strömungen, Richtungen" werden diesen Leichnam<br />

wiederbeleben.<br />

Keine marktschreierischen Manifeste im Ausland, keine vorgetäuschten<br />

Konferenzen der „Initiativgruppen" mit den Liquidatoren werden diese<br />

völlige Niederlage der Liquidatoren angesichts der 'Hunderte von Arbeitergruppen<br />

in Rußland aus der Welt schaffen oder abschwächen.<br />

Die Einheit der Wahlkampagne der sozialdemokratischen Arbeiter in<br />

Rußland ist gesidhert. Sie ist gesichert nicht durch „Vereinbarungen" mit<br />

den Liquidatoren, sondern durch den völligen Sieg über die Liquidatoren,<br />

die bereits ihre wirkliche Rolle, die Rolle liberaler Intelligenzler, zugewiesen<br />

bekommen haben. Man sehe, wie sehr der Sozialrevolutionäre Liquidator<br />

Sawin der „Nascha Sarja" zupasse kommt. Man sehe, wie sehr<br />

L. M. 68 im „Listok Golossa Sozial-Demokrata" die „Initiative" der Sozialrevolutionäre<br />

lobt, die (aus otsowistischem Katzenjammer!) immer wieder<br />

in Liquidatorentum verfallen. Man denke über die Bedeutung der Tatsache<br />

nach, daß in demselben Blatt der bekannte Sozialrevolutionäre „Funktionär"<br />

Awksentjew Plechanow als Vorbild hingestellt wird. Man erinnere<br />

sich, wie die niditsozialdemokratische PPS-„Lewica" von allen Liquidatoren<br />

abgeküßt wird. Liquidatoren aller Parteien, vereinigt euch!<br />

Alle finden schließlich ihren Platz. Die Gruppen der intellektuellen Liquidatoren,<br />

ehemalige Marxisten und ehemalige Liberale mit der Bombe,<br />

werden vom Verlauf der Ereignisse zusammengeführt.<br />

Die Partei der Arbeiterklasse aber, die SDAPR, hat, wie aus den angeführten<br />

Tatsachen ersichtlich, in dem halben Jahr nach ihrer Befreiung<br />

von den Fesseln derer, die sie liquidieren wollten, einen gewaltigen Schritt<br />

vorwärts getan.<br />

„Rabotsdbaja Qaseta" Nr. 9, Tlado dem 7ext der<br />

30. Juli (12. August) 1912. .Rabotsdhaja Qaseta".


KANN HEUTE DIE LOSUNG<br />

DER „KOALITIONSFREIHEIT" DIE GRUNDLAGE<br />

DER ARBEITERBEWEGUNG BILDEN?<br />

231<br />

Die Liquidatoren mit Trotzki an der Spitze suchen in der legalen Presse<br />

zu beweisen, daß dies möglich sei. Sie sind mit aller Kraft bemüht, den<br />

wirklichen Charakter der Arbeiterbewegung zu verfälschen. Aber diese<br />

Versuche sind zwecklos. Die ertrinkenden Liquidatoren greifen nach dem<br />

Strohhalm, um ihre unrechte Sache zu retten.<br />

Im Jahre 1910 begannen Grüppchen von Intellektuellen eine Petitionskampagne<br />

für die Koalitionsfreiheit. Das war eine ausgetüftelte Kampagne.<br />

Die Arbeitermassen blieben gleichgültig. Mit dieser leeren Idee kann man<br />

das Proletariat nicht entflammen. Den Liberalen stand es an, an politische<br />

Reformen unter der Selbstherrschaft des Zaren zu glauben. Die Arbeiter<br />

sahen sofort die Unaufrichtigkeit der Idee und blieben taub.<br />

Die Arbeiter sind nicht gegen den Kampf für Reformen, sie kämpften<br />

für das Versicherungsgesetz. Sie nutzten durch ihre Abgeordneten jede<br />

Gelegenheit in der III. Duma aus, um noch so kleine Verbesserungen<br />

durchzusetzen. Aber es geht eben darum, daß die III. Duma und das Versicherungsgesetz<br />

keine Hirngespinste sind, sondern politische Tatsachen.<br />

Die „Koalitionsfreiheit" unter der Romanow-Monarchie des 3. Juni aber<br />

ist eine leere Versprechung fauler Liberaler.<br />

Die Liberalen sind Feinde der Revolution. Sogar jetzt treten sie direkt<br />

gegen sie auf - die III. Duma der Schwarzhunderter hat es ihnen nicht abgewöhnt,<br />

die Revolution zu fürchten. Aus Angst vor der Revolution trösten<br />

sich die Liberalen mit der Hoffnung auf konstitutionelle Reformen, und<br />

für die Arbeiter predigen sie eine dieser Reformen: die Koalitionsfreiheit.<br />

Aber die Arbeiter glauben nicht an das Märchen von einer „Konstitution"<br />

angesichts der III. Duma, bei der allgemeinen Rechtlosigkeit, bei


232 W. 7. <strong>Lenin</strong><br />

dem Wüten der Willkür. Die Arbeiter fordern die Koalitionsfreiheit im<br />

Ernst und kämpfen deshalb für die Freiheit des ganzen Volkes, für den<br />

Sturz der Monarchie, für die Republik.<br />

Die Streiks vom April und Mai haben in der Praxis bewiesen, daß sich<br />

das Proletariat zum revolutionären Streik erhoben hat. Die Verschmelzung<br />

des wirtschaftlichen und des politischen Streiks, die revolutionären<br />

Kundgebungen, die Losung der Republik, die von den Petersburger Arbeitern<br />

am 1. Mai aufgestellt wurde - alle diese Tatsachen beweisen endgültig<br />

den Beginn des revolutionären Aufschwungs.<br />

Die tatsächliche, objektive Lage in Rußland ist die: Das Proletariat<br />

hat den revolutionären Massenkampf für den Sturz der Zarenmonarchie<br />

aufgenommen, im Heer gärt es immer mehr, das heißt, es schließt sich<br />

diesem Kampf an. Der beste Teil der Bauemdemokratie wendet sich von<br />

den Liberalen ab und hört auf die Arbeitervorhut.<br />

Die Liberalen aber, die Feinde der Revolution, verteidigen nur den<br />

„konstitutionellen" Weg, sie setzen der Revolution die Verheißung (die<br />

leere und verlogene Verheißung) der „Koalitionsfreiheit" unter der russischen<br />

Zarenmonarchie entgegen!<br />

So sieht die politische Lage in Wirklichkeit aus. Das sind die realen<br />

gesellschaftlichen Kräfte: 1. die Zarenmonarchie, die jegliche „Konstitution"<br />

mit Füßen tritt; 1. die liberal-monarchistischen Bourgeois, die aus<br />

Angst vor der Revolution vorgeben, an die Vereinigung der „Freiheit"<br />

mit der Zarenmacht zu glauben, und 3. die revolutionäre Demokratie; ihr<br />

Führer hat sich bereits erhoben - die Arbeitermassen, und ihrem Ruf<br />

folgen die Matrosen und Soldaten von Helsingfors bis Taschkent.<br />

Man sehe, wie hoffnungslos dumm bei dieser Lage das Gerede der<br />

Liquidatoren von der „Koalitionsfreiheit" ist! Von allen „Reformen"<br />

haben diese Weisen der liberalen Arbeiterpolitik eine unmögliche konstitutionelle<br />

Reform ausgewählt, die nichts anderes ist als ein Versprechen,<br />

und sie spielen zur Belustigung „europäischen" Konstitutionalismus.<br />

Nein! Die Arbeiter weisen die Liberalen und die liberale Arbeiterpolitik<br />

zurück. Jede Reform, die wirklich auf der Tagesordnung steht, in<br />

der III. wie in der IV. Duma, von der Versicherung bis zur Gehaltserhöhung<br />

für die Kanzleisklaven, werden die Arbeiter unterstützen, fördern,<br />

zum Gegenstand ihrer Kampagnen machen.<br />

Die leere und törichte Verheißung einer konstitutionellen politischen


Die Losung der .Koalitionsfreiheit" 233<br />

Reform unter der Selbstherrschaft quittierten die Arbeiter jedoch mit<br />

verächtlichem Lachen. Es lebe die Ausweitung und Verstärkung des begonnenen<br />

revolutionären Massenkampfes für den Sturz der Monarchie,<br />

für die Republik! Der Kampf wird zeigen, welche halbschläditigen konstitutionellen<br />

Reformen eine "Niederlage der neuen Revolution zur Folge<br />

haben wird, aber jetzt - zu Beginn des revolutionären Ansturms - den<br />

Massen vom nicfrtrevolutionären Weg, von einer friedlichen konstitutionellen<br />

Reform reden, das können nur „Menschen im Futteral"*.<br />

Der begonnene revolutionäre Ansturm erfordert revolutionäre Losungen.<br />

Nieder mit der Monarchie! Es lebe die demokratische Republik, der<br />

Achtstundentag, die Konfiskation aller Gutsbesitzerländereien!<br />

.Jlabotsdiaja Qaseta" Nr. 9, Naä) dem Jext der<br />

30. Juli (.12. August) 1912. ."Rdbotsdiaja Qaseta",<br />

* „Der Mann im Futteral" - Titel einer Erzählung von A. P. Tschechow.<br />

Tier Tibers.<br />

16 <strong>Lenin</strong>. <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>


234<br />

BRIEF AN DIE SCHWEIZER ARBEITER 69<br />

Werte Genossen!<br />

Hiermit bestätige ich, vor allen Schweizer Genossen, im Namen der<br />

Soz. Dem. Arbeiterpartei Rußlands, daß die allgemeine Parteikonferenz<br />

dieser Partei im Januar 1912 in einer speziellen Resolution jede Verantworüidhkeit<br />

für einzelne ausländische russische Gruppen abgelehnt hat.<br />

Ich bestätige weiter, daß das Zentralkomitee unserer Partei bis jelzt<br />

nur eine einzelne russische soz. dem. Organisation im Auslande bestätigt<br />

hat - nämlich das Komitee der Ausländischen Organisalionen und deren<br />

Zürcher Sektion. Beiliegend die deutsche Broschüre des Zentralorgans<br />

unserer Partei, wo das Benehmen der desorganisatorischen Grüppchen von<br />

Russen im Auslande ausführlich beschrieben ist.*<br />

Mit Parteigruß <strong>Lenin</strong> (W. VljanowJ<br />

Vertreter der Soz. Dem. Arb. Partei Rußlands im Internationalen Sozialistischen<br />

Büro.<br />

Qesdbrieben im Juli 19 i 2.<br />

Veröffentlicht im August 1912 Nada der Jlugsdirift.<br />

als hektographierte Tlugsdbrift<br />

in deutscher Sprache.<br />

Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 191-209. Die <strong>Red</strong>.


GRUNDSATZFRAGEN<br />

235<br />

Eine kleine Belebung der Wahlkampagne - und die offiziell-kadettische<br />

„Retsch" beginnt (endlich hat sie sich dazu aufgerafft!), von ihren grundsätzlichen<br />

Meinungsverschiedenheiten mit den Linken zu reden.<br />

„An eine Aussöhnung mit dem Regime des 3. Juni dachten und denken wir<br />

nicht", schreibt die „Retsch".<br />

Das stimmt nicht. Daran habt ihr gedacht, und daran denkt ihr noch, ihr<br />

Herren Kadetten. Der Beweis: Eure <strong>Red</strong>en von der „verantwortungsbewußten"<br />

Opposition und der Opposition mit dem Genetiv. Das sind<br />

nicht nur „Gedanken" an einen Frieden, das ist eine Politik des „Friedens"<br />

mit dem Regime des 3. Juni.<br />

Und die frommen <strong>Red</strong>en Karaulows in der frommen III. Duma? Und<br />

die Stimmabgabe der Kadetten für das Budget und seine größten Posten?<br />

Und die <strong>Red</strong>en von Beresowski 2* zur Agrarfrage? Und die unlängst<br />

abgegebenen Erklärungen Gredeskuls, die in der „Retsch" wiederholt<br />

wurden? Stellt alles das etwa nicht gerade eine Politik des "Friedens mit<br />

den Qrundlagen des Regimes des 3. Juni dar? Zweifellos ja.<br />

„Fünf Jahre lang haben wir nicht gesehen", schreibt die „Retsch", „daß im<br />

Hahmen der "Duma die Taktik der Sozialdemokratie eine andere gewesen wäre<br />

als die Taktik der anderen Oppositionsparteien. Und in diesem Falle handelt<br />

es sich doch um die Wahlen zur Duma."<br />

Da haben wir ein Muster an Sophismus und Entstellung der Wahrheit!<br />

In keiner einzigen Frage war die Taktik der Sozialdemokratie in der<br />

III. Duma der Taktik der Kadetten verwandt. In allen Fragen war sie<br />

grundsätzlich anders: keine Taktik des „Friedens", keine Taktik des Libe-<br />

• Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 270. Der Übers.


236 l/V. 1. <strong>Lenin</strong><br />

ralismus; stets war sie eine Taktik der Demokratie und eine Taktik des<br />

Klassenkampfes.<br />

Will die „Retsch" etwa behaupten, daß man als Übereinstimmung der<br />

Taktik allein schon das bloße „Dagegenstimmen" bezeichnen könne - und<br />

nicht die Übereinstimmung der grundsätzlichen Fragestellung in den <strong>Red</strong>en<br />

der Dumasprecher, in den Anträgen auf Übergang zur Tagesordnung?<br />

Will die „Retsch" etwa sagen, daß es zulässig sei, in der Duma das<br />

eine und außerhalb der Duma etwas anderes zu sagen? Will sie das nicht,<br />

um die Frage des undemokratischen Inhalts der kadettischen Propaganda<br />

außerhalb der Duma zu verkleistern?<br />

„Wir können nicht leugnen", schreibt die „Retsch", „daß die .Demokratie',<br />

der wir selbst dienen, das Recht auf selbständige Aufgaben und Aktionen<br />

hat."<br />

Das stimmt nicht, ihr Herren gebildete Liberale! Versucht eure grundsätzlichen<br />

Ansichten über den Unterschied zwischen Liberalismus und<br />

Demokratie darzulegen. Versucht diese Auffassungen durch Beispiele aus<br />

der englischen, französischen oder deutschen Geschichte zu erläutern,<br />

selbst wenn ihr dabei die speziell proletarische, die Arbeiterdemokratie,<br />

die marxistische Demokratie beiseite laßt. Ihr werdet nicht leugnen können,<br />

daß sich bürgerlicher Liberalismus und bürgerliche Demokratie in<br />

ihrem Verhältnis zur alten Ordnung unterscheiden. Wir werden euch stets<br />

beweisen, daß ihr eine Partei der liberal-monarchistischen Bourgeoisie<br />

seid, und keineswegs eine demokratische Partei.<br />

Die bürgerliche Demokratie in Rußland, das sind die Trudowiki und<br />

die Volkstümler aller Schattierungen.<br />

„Wer A sagt, muß auch B sagen." Habt ihr angefangen, von den<br />

Grundsätzen der Kadetten und der Linken zu reden, so laßt uns wirklich<br />

die Grundsätze erläutern. Nur so kann man es dahin bringen, daß die<br />

Wahlagitation ein wenig über die Fragen hinausgeht, wieviel Gesetzwidrigkeiten<br />

der und der Polizeioffizier, der und der Gouverneur oder<br />

die und die Verwaltungsinstanz begeht.<br />

„ Trawda" Nr. 79, Nado dem 7ext der „Vrawda".<br />

31. Juli 19/2.


DAS LETZTE VENTIL<br />

237<br />

Wir schlössen unseren vorigen Artikel über den gegenwärtigen Stand<br />

der Agrarfrage in Rußland (siehe „Newskaja Swesda" Nr. 15) mit den<br />

Worten:<br />

„Die reale Übereinstimmung zwischen dem Stolypinsdien Agrarprogramm<br />

und dem der Volkstümler besteht darin, daß beide den alten, mittelalterlichen<br />

Grundbesitz radikal beseitigen. Und das ist sehr gut. Nichts<br />

anderes ist er wert. Am reaktionärsten sind die Kadetten von der ,Retsch'<br />

und den ,Russkije Wedomosti', die Stolypin deswegen Vorwürfe machen -<br />

anstatt die Notwendigkeit eines noch konsequenteren und entschiedeneren<br />

Vorgehens zu beweisen. Wir werden in einem folgenden Artikel sehen,<br />

daß ein Vorgehen im Sinne Stolypins die Schuldknechtschaft und die<br />

Abarbeit nicht beseitigen kann, daß aber ein Vorgehen im Sinne der Volkstümler<br />

dazu imstande ist<br />

Wir wollen einstweilen bemerken, daß das einzige durchaus reale Ergebnis<br />

der Stolypinschen Methode die Hungersnot ist, die 30 Millionen<br />

betroffen hat. Und wer weiß, ob die Stolypinsche Methode dem russischen<br />

Volk nicht beibringen wird, wie man entschiedener vorgehen muß. Zweifellos<br />

wird es daraus lernen. Ob es die Lehren ziehen wird - wir werden<br />

es sehen."*<br />

Somit stehen wir jetzt vor der Frage: Warum kann die Beseitigung des<br />

mittelalterlichen Grundbesitzes nach Stolypinscher Manier die Schuldknechtschaft<br />

und die Abarbeit nidbt beseitigen, während sie nach der<br />

Manier der bäuerlichen Trudowiki oder der Volkstümler dazu imstande<br />

ist?<br />

• Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 138/139. Die <strong>Red</strong>.


238 TV. 1. <strong>Lenin</strong><br />

Wenn wir an die Untersuchung dieser Frage gehen, so wollen wir vor<br />

allem bemerken, daß eine der Hauptsünden der am weitesten verbreiteten<br />

Betrachtungen über dieses Thema - der liberalen und volkstümlerischen<br />

und teilweise der revisionistischen Betrachtungen (P. Maslow) - die abstrakte<br />

Fragestellung ist, das Vergessen der wirklich vor sich gehenden,<br />

konkreten historischen „Ablösung". In Rußland vollzieht sich jene Ablösung,<br />

die in den fortgeschrittenen Ländern des Westens schon längst<br />

vor sich gegangen ist: die Ablösung der Leibeigenenwirtschaft durch die<br />

kapitalistische.<br />

Es handelt sich und es kann sich nur handeln um die Formen und Bedingungen,<br />

um die Schnelligkeit, die Umstände dieser Ablösung: alle<br />

anderen Erwägungen, die nicht selten in den Vordergrund geschoben<br />

werden, sind nur ein unbewußtes Umgehen des Wesens der Sache, eben<br />

dieser Ablösung.<br />

Die vorherrschende Form der Leibeigenschaftsverhältnisse in der heutigen<br />

russischen Landwirtschaft ist die Schuldknechtschaft und die Abarbeit.<br />

Die verhältnismäßig stark erhaltene Naturalwirtschaft - die Existenz<br />

des kleinen Landwirts, der auf keinen grünen Zweig kommt, der<br />

ein winziges Stückchen schlechten Bodens mit alten, kümmerlich ärmlichen<br />

Geräten und Produktionsmethoden bewirtschaftet, die ökonomische Abhängigkeit<br />

dieses kleinen Landwirts von dem benachbarten Latifundienbesitzer,<br />

der ihn nicht nur als Lohnarbeiter ausbeutet (das ist schon beginnender<br />

Kapitalismus), sondern gerade als kleinen Landwirt (das ist<br />

Fortsetzung der Fronarbeit) - das sind die Bedingungen, die die Schuldknechtschaft<br />

und die Abarbeit hervorrufen, oder vielmehr: das eine wie<br />

das andere kennzeichnen.<br />

Auf die 30 000 größten Gutsbesitzer im Europäischen Rußland kommen<br />

10 000 000 arme Bauernhöfe. Im Durchschnitt ergibt das annähernd<br />

folgendes Bild: Neben einem Gutsbesitzer mit über 2000 Desjatinen existieren<br />

etwa 300 Bauernhöfe mit etwa 7 Desjatinen schlechten und ausgemergelten<br />

Bodens je Hof und unglaublich rückständigem, primitivem<br />

(vom europäischen Standpunkt, vom amerikanischen ganz zu schweigen)<br />

Inventar.<br />

Ein Teil der wohlhabenden Bauern „steigt auf", d. h. wird zum Kleinbürgertum,<br />

und bearbeitet den Boden unter Verwendung von Lohnarbeit.<br />

Zur Lohnarbeit greift auf einem bestimmten Teil seiner Ländereien und


T>as letzte Ventil 239<br />

für bestimmte landwirtschaftliche Arbeiten auch der Gutsbesitzer, der<br />

nicht selten der gestrige Fronherr oder dessen Söhnchen ist.<br />

Aber außer diesen kapitalistischen Verhältnissen, diese in allen russischen<br />

Stammgouvemements des Europäischen Rußlands in den Hinteigrund<br />

drängend, gibt es die Bearbeitung des gutsherrlichen Bodens mit<br />

bäuerlichem Inventar, d. h. die Abarbeit, die Fortsetzung der gestrigen<br />

Fronarbeit, gibt es die „Ausnutzung" des ausweglosen Elends des kleinen<br />

Landwirts (gerade weil er Landwirt, Kleinbesitzer ist) zur „Dienstleistung"<br />

in der benachbarten gutsherrlichen „Ökonomie", d. h. die Sdbuldknedhtsdhaft,<br />

Gelddarlehen gegen Arbeit, Getreidedarlehen, Verdingung im<br />

Winter, Verpachtung von Land, Gewährung der Nutzung von Wegen,<br />

Tränken, Wiesen, Weideplätzen, Wald, Verleihung von Gerätschaften<br />

usw. usf. - all das sind die unendlich vielfältigen Formen der modernen<br />

Schuldknechtschaft.<br />

Das geht mitunter so weit, daß sich der Bauer verpflichten muß, mit<br />

seinem Dung die herrschaftlichen Felder zu düngen, und die „Hausfrau",<br />

Eier zu bringen - und das nicht im achtzehnten, sondern im zwanzigsten<br />

Jahrhundert nach Christi Geburt!<br />

Es genügt, die Frage dieser Überreste des Mittelalters und der Leibeigenschaft<br />

in der heutigen russischen Landwirtschaft klar und exakt<br />

zu stellen, um die Bedeutung der Stolypinschen „Refonn" einschätzen<br />

zu können. Diese „Reform" gab natürlich der untergehenden Leibeigenschaft<br />

einen Aufschub - ebenso wie die vielgerühmte, von den Liberalen<br />

und den Volkstümlern laut gepriesene, sogenannte „Bauern"- (in Wahrheit<br />

aber Qutsbesitzer-) Refonn von <strong>18</strong>61 dem Frondienst einen Aufsdhub gab,<br />

indem sie ihn unter einer anderen Hülle bis hin zum Jahre 1905 verewigte.<br />

Der „Aufschub", den Stolypin der alten Ordnung und der alten, feudalen<br />

Landwirtschaft verschafft hat, besteht darin, daß ein weiteres und<br />

dabei das letzte Ventil geöffnet wurde, das man öffnen konnte, ohne den<br />

ganzen gutsherrlichen Grundbesitz zu enteignen. Ein Ventil wurde geöffnet<br />

und etwas Dampf abgelassen, indem einige völlig verelendete<br />

Bauern sich ihre Anteile als persönliches Eigentum „überschreiben" ließen<br />

und verkauften, womit aus Proletariern mit Anteilland reine Proletarier<br />

wurden, indem ferner einige wohlhabende Bauern, die ihre Anteile überschrieben<br />

bekamen und sich manchmal auf Sonderland einrichteten, eine<br />

noch stabilere kapitalistische Wirtschaft aufbauten als vorher.


240 l/ff. J.<strong>Lenin</strong><br />

Schließlich wurde ein Ventil geöffnet und Dampf abgelassen, indem<br />

mancherorts die besonders unerträgliche Gemengelage beseitigt und die<br />

im Kapitalismus unumgängliche Mobilisierung des Bauemlandes erleichtert<br />

wurde.<br />

Wurde aber durch diesen Aufschub die Summe der Widersprüche im<br />

Dorfe verringert oder vergrößert? Wurde das Joch der feudalen Latifundien<br />

verringert oder vergrößert? Wurde die Gesamtmenge des<br />

„Dampfes" verringert. oder vergrößert? Diese Fragen kann man nicht<br />

anders als im letzteren Sinne beantworten.<br />

Die Hungersnot von 30 Millionen hat in der Praxis bewiesen, daß heute<br />

nur diese letzte Antwort möglich ist. Es ist eine Hungersnot der Kleinbesitzer.<br />

Es ist das Bild der Krise eben dieser alten, geknechteten, elenden<br />

und von den feudalen Latifundien unterdrückten Bauernwirtschaft. Solche<br />

Hungersnöte gibt es bei den großen nt'cMfeudalen Gütern, den kapitalistischen<br />

Latifundien Westeuropas nicht und kann es dort nicht geben.<br />

Die Masse der Bauern, ausgenommen die vom Boden völlig befreiten<br />

Proletarier (die sich den Boden „überschreiben" ließen, um ihn zu verkaufen)<br />

und die geringe Minderheit der wohlhabenderen Bauern, verbleibt<br />

in der alten und in einer noch schlechteren Lage. Keinerlei Uberschreibung<br />

des Bodens als persönliches Eigentum, keinerlei Maßnahmen<br />

gegen die Gemengelage können aus den Massen der armen Bauern, die<br />

auf schlechtem, ausgemergeltem Boden sitzen, die nur über urväterliches,<br />

gänzlich abgenutztes Inventar verfügen und deren Zug- und Hornvieh<br />

hungert, einigermaßen kultivierte, einigermaßen selbständige Landwirte<br />

machen.<br />

Neben dem Gutsbesitzer (vom Typ eines Markow oder Purischkewitsch)<br />

mit 2000 Desjatinen Land werden die Besitzer von sieben Desjatinen, von<br />

kümmerlichen Landfetzen, unausbleiblich geknechtete Habenichtse bleiben,<br />

mag man sie noch so sehr auseinandersiedeln, mag man sie noch so<br />

sehr von den Bindungen an die Dorfgemeinde befreien, mag man ihnen<br />

noch so sehr ihre ärmlichen Bodenfetzen als persönliches Eigentum „überschreiben".<br />

Die Stolypinsche Reform kann weder die Schuldknechtschaft und die<br />

Abarbeit der Masse der Bauern nodb auch ihre Hungersnot beseitigen.<br />

Jahrzehnte und aber Jahrzehnte solcher periodisch wiederkehrenden Hungersnöte<br />

sind erforderlich, damit die Masse der jetzigen Wirtschaften


Das letzte Ventil 241<br />

qualvoll ausstirbt, damit die Stolypinsdie Reform „Erfolg" hat, d. h., damit<br />

in unserem Dorf der Typus der bürgerlichen Ordnung, wie er sich in<br />

ganz Europa herausgebildet hat, entsteht. Heute aber, nach sechsjähriger<br />

Erprobung der Stolypinschen „Reform" und den in sechs Jahren erzielten<br />

„glänzenden" Fortschritten hinsichtlich der Zahl derer, die sich „den<br />

Boden überschreiben ließen" usw., kann nicht der geringste Zweifel<br />

bestehen, daß diese Reform die Krise nicht beseitigt hat und nicht beseitigen<br />

kann.<br />

Im gegenwärtigen Augenblick wie für die nächste Zukunft Rußlands<br />

bleibt es völlig unbestreitbar, daß wir die alte Krise einer auf eine ganze<br />

Reihe von Überresten der Leibeigenschaft gestützten Wirtschaft vor uns<br />

haben, die alte Krise des verelendeten landwirtschaftlichen Kleinbetriebs,<br />

der von den Latifundien Markowscher und Purischkewitscher Prägung geknechtet<br />

wird.<br />

Und diese Krise, die durch die Hungersnot der 30 Millionen so anschaulich<br />

dokumentiert wird, sehen wir vor uns, obwohl Stolypin das<br />

letzte Ventil geöffnet hat, über das die Markow und Purischkewitsch<br />

überhaupt noch verfügen. Nichts anderes konnten sie (und mit ihnen der<br />

Rat des vereinigten Adels) sich ausdenken, nichts anderes mehr kann man<br />

sich ausdenken*, um den Purischkewitsch den Boden und die Macht zu<br />

erhalten, als daß eben diese Purischkewitsda eine bürgerliche Politik betreiben.<br />

Darauf läuft denn auch die Gesamtheit der Widersprüche im heutigen<br />

russischen Dorf hinaus: Die alten Fronherren betreiben eine bürgerliche<br />

Agrarpolitik bei vollständiger Erhaltung ihres Grundbesitzes und ihrer<br />

Macht. Auf agrarischem Gebiet ist auch das ein „Schritt voran auf dem<br />

Wege der Umwandlung in eine bürgerliche Monarchie"**.<br />

Dieser Schritt zum Neuen ist getan worden von dem Alten, das<br />

seine Allmacht, seinen Grund und Boden, seine äußere Gestalt und sein<br />

* Selbstverständlich muß man das Wort „sich ausdenken" „mit einem<br />

Körnchen Salz" verstehen: die „Erfindung" der tonangebenden Klasse war<br />

durch den ganzen Verlauf der kapitalistischen Entwicklung Rußlands und der<br />

ganzen Welt eingeschränkt und bestimmt. Bei dem bestehenden Klassenverhältnis<br />

in dem sich kapitalistisch entwickelnden Rußland konnte der Rat des<br />

vereinigten Adels nicht anders handeln, wenn er seine Macht erhalten wollte.<br />

** Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 15, S. 348/349. Die <strong>Red</strong>.


242 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />

Milieu erhalten hat. Es ist der letzte Schritt, den das Alte überhaupt noch<br />

tun kann. Es ist das letzte Ventil. Andere Ventile stehen den Purischkewitsch,<br />

die ein bürgerliches Land kommandieren, nicht mehr zur Verfügung<br />

und können es auch gar nicht.<br />

Und gerade weil dieser Schritt zum Neuen von dem seine Allmacht<br />

erhaltenden Alten getan wurde, konnte und wird dieser Schritt zu nichts<br />

Beständigem führen. Im Gegenteil, er führt, das zeigen uns deutlich alle<br />

Symptome der gegenwärtigen Situation, zu einem Anwachsen der alten<br />

Krise auf einer anderen, höheren Stufe der kapitalistischen Entwicklung<br />

Rußlands.<br />

Die alte Krise wächst auf neue Art heran, unter neuen Bedingungen,<br />

bei viel bestimmteren Beziehungen zwischen den Klassen, aber sie wächst<br />

heran, und ihr sozialökonomischer (und nicht nur ökonomischer) Charakter<br />

bleibt im Grunde genommen der alte.<br />

Eine winzige Anzahl guter Sonderland-Wirtschaften der Dorfbourgeoisie<br />

bei sinkender Zahl der an Anteilland gebundenen Proletarier, bei Erhaltung<br />

der Allmacht der Purischkewitsch, bei einer Riesenmasse verelendeter<br />

und verhungernder geknechteter Mittelbauern, bei zunehmender<br />

Zahl der an kein Anteilland gebundenen Proletarier - das ist das Bild des<br />

heutigen russischen Dorfes.<br />

Muß man da noch beweisen, daß das Stolypinsche Agrarprogramm<br />

die Schuldknechtschaft und die Abarbeit nicht beseitigen kann, während<br />

das der Volkstümler (in der historisch-klassenmäßigen Bedeutung dieses<br />

Wortes) dazu imstande ist? Ist die gegenwärtige Lage des Dorfes nicht<br />

dazu angetan, Gedanken der Art zu nähren, daß die guten Sonderland-<br />

Wirtschaften bei völlig freier Mobilisierung des Grund und Bodens unbedingt<br />

und sofort allen mittelalterlichen Hungersnöten, aller Schuldknechtschaft<br />

und jeglicher Abarbeit ein Ende machen würden, wenn diese<br />

Wirtschaften nach freier Wahl der Bauern alle die. siebzig Millionen<br />

Desjatinen Gutsbesitzerlandes einbeziehen würden, die einstweilen von<br />

der „Flurbereinigung" nicht berührt sind? Und wird uns die Ironie der<br />

Geschichte nicht das Eingeständnis abringen, daß die Stolypinschen Landvermesser<br />

für ein „trudowikisches" Rußland die passenden Leute waren?<br />

„Newskaja Swesda" "Nr. 20, TJadh dem Jext der<br />

5. August i9i2. „TJewskaja Swesda".<br />

Unterschrift: R. S.


KLEINE INFORMATION<br />

243<br />

Die Frage, ob unsere Kadetten Demokraten sind oder eine Partei der<br />

liberal-monarchistischen Bourgeoisie, ist von großem wissenschaftlichem<br />

Interesse.<br />

Erinnern wir uns daran, daß sogar der Trudowik (bürgerliche Demokrat)<br />

Wodowosow in dieser Frage Schwankungen gezeigt hat.<br />

Die „Prawda" berief sich im Zusammenhang mit dieser Frage auf die<br />

unlängst abgegebenen Erklärungen des Wenn Qredeskul, die in der<br />

„Retsdb" wiederholt wurden*<br />

Die „Retsch" antwortet: „Von welchen Erklärungen des Herrn Gredeskul<br />

die ,Prawda' spricht, wissen wir nicht."<br />

Nicht wahr, wie nett das ist? Die „Prawda" sagte Hipp und klar, daß sie<br />

von Erklärungen spricht, die in der „Retsch" wiederholt wurden. Wie<br />

denn nun? Weiß die „Retsch" etwa nicht, was in der „Retsch" gedruckt<br />

steht?? Oder ist es nicht natürlicher, anzunehmen, daß die Liberalen manches<br />

aus ihrer jüngsten Vergangenheit vergessen mödhten, um vor den<br />

Wahlen die Demokraten zu spielen?<br />

Auf jeden Fall will ich, zur Klärung dieser wichtigen wissenschaftlichen<br />

Frage, die Worte anführen, die Herr Gredeskul in einer Reihe öffentlicher<br />

Vorlesungen gesagt und, ohne einen einzigen Vorbehalt der <strong>Red</strong>aktion,<br />

in Nr. 117 (2071) der „Retsch" wiederholt hat:<br />

„Ganz zum Schluß meiner Vorlesung", schrieb Herr Gredeskul, „als ich<br />

gegen die Behauptung der ,Wechi' polemisierte, daß die russische Befreiungsbewegung<br />

(angeblich durch die Schuld der Intelligenz) gescheitert sei, und diese<br />

Behauptung mit der Meinung derer verglich, die viel weiter links stehen als<br />

* Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 235. Die <strong>Red</strong>.


244 W.1. <strong>Lenin</strong><br />

P. B. Struve, aber ebenfalls glauben, daß die Bewegung uns überhaupt nichts<br />

gebracht habe, verteidigte ich, im Gegensatz dazu, die These, daß umgekehrt<br />

sehr viel getan worden ist, daß das Fundament des künftigen Verfassungsgebäudes<br />

gelegt wurde, und zwar sehr tief verankert und fest, mitten in der<br />

Masse des Volkes. Um für die kritische Betrachtung dieser beiden Behauptungen<br />

ein Kriterium zu geben und zugleich einen Gedanken zu äußern, den<br />

ich für unsere Zeit gleichfalls für politisch außerordentlich wichtig halte, betrachtete<br />

ich beide Behauptungen unter dem Gesichtspunkt der Zukunft und<br />

sagte, daß man vom Standpunkt der ersten Behauptung (wenn 1905/1906<br />

nichts getan worden ist) alles von vom anfangen, d. h., mit anderen Worten,<br />

eine zweite Bewegung in Gang setzen müsse, während umgekehrt vom Standpunkt<br />

der zweiten Behauptung (daß 1905/1906 das Fundament der russischen<br />

Verfassung gelegt wurde) keine zweite Volksbewegung vonnöten ist, sondern<br />

lediglich eine ruhige, beharrliche und zielbewußte konstitutionelle Arbeit.<br />

An dieser Stelle war es, wo mich der Libauer Polizeichef (die Sache geschah<br />

in Libau) unterbrach. Somit gab es in Libau eine Demonstration der Polizei<br />

gegen die öffentliche Leugnung der Notwendigkeit einer neuen Revolution in<br />

Rußland." („Retsch" Nr. 117 [2071] von 1912.)<br />

Herr Gredeskul hat vollauf bewiesen, daß sich der Herr Libauer Polizeichef<br />

geirrt hatte. Außerdem aber hat Herr Gredeskul zwei weitere wichtige<br />

Dinge bewiesen: 1. daß die Polemik von Herrn Gredeskul und Co. gegen<br />

die „Wechi" geheuchelt, gegenstandslos ist; in Wirklichkeit ist die ganze<br />

Kadettenpartei in allem Wesentlichen „•wechistisch", and 2. daß die marxistische<br />

Charakterisierung der Kadettenpartei wissenschaftlich, ökonomisch<br />

und politisch unbedingt richtig ist<br />

.Vrawäa" Wr. 85, TJflcfc dem Jext der ,?rawda".<br />

8. August 1912.<br />

Unterschrift: 3V. B.


DIE LÖHNE DER ARBEITER UND<br />

DIE PROFITE DER KAPITALISTEN<br />

IN RUSSLAND<br />

245<br />

Im Jahre 1908 wurde eine Erhebung über die Fabriken und <strong>Werke</strong><br />

Rußlands angestellt. 70 Diese Erhebung ergab zweifellos zu hohe Zahlen<br />

über die Höhe der Löhne der Arbeiter und zu niedrige Zahlen über den<br />

Umfang der Produktion und die Höhe der Profite der Kapitalisten, denn<br />

bei uns werden alle derartigen Erhebungen auf rein bürokratischem Wege<br />

durdigeführt, wobei man lediglich die Kapitalisten befragt, die Arbeiter<br />

zu fragen aber nicht für notwendig erachtet.<br />

Sehen wir uns an, was diese für die Kapitalisten so günstige Statistik<br />

gezeigt hat.<br />

Nach vorläufigen Angaben, die bisher allein veröffentlicht sind, gab<br />

es in Rußland insgesamt fast 20 000 Fabriken und <strong>Werke</strong> (die genaue<br />

Zahl: 19 983; wir bringen in Klammem die genauen Zahlen, runden<br />

sie aber im Text etwas ab, damit sich der Leser die Hauptdaten leichter<br />

vorstellen und merken kann).<br />

Die Gesamtzahl der Arbeiter beiderlei Geschlechts betrug 2*/4 Millionen<br />

(2 253 787). Darin einbegriffen sind auch die Bergarbeiter und die<br />

Arbeiter in den mit einer Akzise belegten Produktionszweigen.<br />

Der Arbeitslohn all dieser Arbeiter betrug zusammen über eine halbe<br />

Milliarde Rubel (555,7 MiU.).<br />

Um den Durchschnittslohn eines Arbeiters zn ermitteln, muß man die<br />

Gesamtsumme des Arbeitslohnes durch die Zahl der Arbeiter dividieren.<br />

Nach dieser Division erhalten wir die Zahl von 246 Rubel.<br />

Somit verdienten 1908 in Rußland zweieinviertel ^Millionen Fabrikarbeiter<br />

im allgemeinen Durchschnitt, d. h. rund gerechnet, insgesamt je<br />

zwanzig Rubel 50 Kopeken im Monat!


246 IV. 7. £enin<br />

Zieht man in Betracht, daß mit dieser Summe eine Familie unterhalten<br />

werden muß — und das bei den jetzigen hohen Mieten und Lebensmittelpreisen<br />

-, so kann man nidit umhin, einen solchen Lohn als armselig zu<br />

bezeichnen.<br />

Sehen wir uns mm an, wie hoch die Profite der Kapitalisten waren. Zur<br />

Bestimmung der Profite muß man von der Gesamtsumme der Produktion,<br />

d. h. dem Bruttogewinn aller Fabriken und <strong>Werke</strong>, alle Ausgaben der<br />

Kapitalisten abziehen.<br />

Die Gesamtsumme der Produktion beträgt über 4V2 Milliarden Rubel<br />

(4651 Mill. Rbl.). Sämtliche Ausgaben der Kapitalisten betragen 4 Milliarden<br />

(4082 Mill. Rbl.).<br />

Die Profite der Kapitalisten machen also über eine halbe Milliarde<br />

XwfceJ aus (568,7 Mill. Rbl.).<br />

Der durchschnittliche Profit eines Unternehmens beträgt 28 500 Rubel.<br />

Jeder Arbeiter bringt dem Kapitalisten einen Profit von 252 Rubel<br />

jäbrlidh.<br />

Vergleichen wir jetzt den .Lohn der Arbeiter mit dem Profit der Kapitalisten.<br />

Jeder Arbeiter erhält im Jahr durchschnittlich (d. h. ungefähr<br />

gerechnet) einen Arbeitslohn von 246 Rubel und bringt dem Kapitalisten<br />

einen Profit von 252 Rubel.*<br />

Hieraus folgt, daß der Arbeiter die kleinere Hälfte des Tages für sich<br />

arbeitet, die größere "Hälfte des Jages aber für den Kapitalisten. Nehmen<br />

wir zum Beispiel einen durchschnittlichen Arbeitstag von 11 Stunden an,<br />

so erhält der Arbeiter einen Lohn für insgesamt nur 5V2 Stunden, ja sogar<br />

etwas weniger als für 572 Stunden. Die übrigen 572 Stunden hingegen<br />

arbeitet er umsonst, ohne dafür irgendwie entlohnt zu werden, und der<br />

gesamte vom Arbeiter an diesem halben Tag geschaffene Wert macht den<br />

Profit der Kapitalisten aus.<br />

„Vrawda" SVr. 85, Tiadb dem 7ext der „"Praioda".<br />

S. August i9i2.<br />

Untersdhrift-. 7.<br />

Insgesamt schafft der Arbeiter für 498 Rubel Neuwerte im Jahr.


STREIKKAMPF UND ARBEITSLOHN<br />

247<br />

Wie allgemein bekannt, zeitigte der berühmte Streikkampf der russischen<br />

Arbeiter im Jahre 1905 nicht nur auf politischem, sondern auch auf<br />

wirtschaftlichem Gebiet außerordentlich große Erfolge. Die Angaben aus<br />

den Berichten der Fabrikinspektoren 71 gestatten es heute, sich von der<br />

Größe dieser Erfolge eine ziemlich genaue Vorstellung zu machen.<br />

Der durchschnittliche Arbeitslohn eines russischen Fabrikarbeiters betrug<br />

nach diesen Angaben:<br />

1901<br />

1902<br />

1903<br />

1904<br />

1905<br />

im Durchschnitt<br />

von 5 Jahren<br />

201<br />

202<br />

208<br />

213<br />

205<br />

206<br />

Rubel<br />

II<br />

II<br />

n<br />

n<br />

Rubel<br />

1906<br />

1907<br />

1908<br />

1909<br />

1910<br />

im Durchschnitt<br />

von 5 Jahren<br />

231<br />

241<br />

242<br />

236<br />

242<br />

238<br />

Rubel<br />

n<br />

II<br />

n<br />

n<br />

Rubel<br />

Wir sehen hieraus, daß das Jahr 1905 eine Wendung brachte. Eben<br />

nach 1905 steigt der Lohn mit einem Schlage von 205 auf 231 Rubel im<br />

Jahr, d. h. um 26 Rubel, um mehr als 10%.<br />

Was das Jahr 1905 anbelangt, das im Vergleich zu 1904 ein Sinken<br />

des Arbeitslohnes um 8 Rubel zeigt, muß man folgendes beachten: Erstens<br />

war das Jahr 1905 ein Jahr der wirtschaftlichen Depression, d.h. des<br />

Niedergangs der Industrie; zweitens verloren die Arbeiter nach den<br />

Angaben des Handelsministeriums in diesem Jahr durch Lohnausfall<br />

während der Streiktage 17,5 Millionen Rubel, d. h. durchschnittlich pro<br />

Arbeiter über 10 Rubel im Jahr.


248 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />

Folglich kann man rechnen, daß der tatsächliche Lohn im Jahre 1905<br />

215 Rbl. betrag, wobei jedoch die Arbeiter von diesen 215 Rbl. je 10 Rbl.<br />

für den Streikkampf opferten, der sich 1905 durch eine außerordentliche,<br />

bislang in der Welt unbekannte Beharrlichkeit und Breite auszeichnete.<br />

Aus alldem ergibt sich, daß wir jetzt, wenn wir die Angaben für das<br />

ganze Jahrzehnt von 1901 bis 1910 betrachten, deutlich einen erstaunlidben<br />

Unterschied zwischen der vorrevolutionären und der nadirevolutionären<br />

Epoche feststellen können.<br />

Bis zum Jahre 1905 betrug der Durchschnittslohn eines russischen<br />

Fabrikarbeiters 206 Rbl., nach 1905 238 Rbl., d. h. jährlich 32 Rbl. mehr.<br />

Das ist eine Erhöhung um 15,5%.<br />

Innerhalb eines Jahres stieg der Lohn so ruckartig an, daß in der<br />

Folge keinerlei Bemühungen der Kapitalisten (die bekanntlich alle Errungenschaften<br />

des Jahres 1905, eine nach der anderen, zunichte machten)<br />

den Arbeiter auf das frühere niedrige Lebensniveau zurückführen konnten.<br />

Das Jahr 1905 hat das Lebensniveau des russischen Arbeiters so gehoben,<br />

wie es in normalen Zeiten nicht in einigen Jahrzehnten geschieht.<br />

Die Arbeiter verloren bei den Streiks von 1905 nach der offiziellen<br />

Statistik 17,5 Mill. Rbl. durch Lohnausfall während der Streiktage. Nach<br />

der gleichen Statistik betrug der Produktionsausfall der Kapitalisten 1905<br />

127,3 Mill. Rbl.<br />

Durch die Lohnerhöhung nach 1905 aber gewannen die Arbeiter in<br />

fünf Jahren (1906-1910) durchschnittlich 32 Rubel je Arbeiter, d. h. insgesamt,<br />

bei 1,8 Millionen Arbeitern, 57,6 Millionen Rubel im Jahr oder<br />

286 Millionen Kübel im ganzen "Jahrfünft.<br />

.Vrawda" "Mr. 86, TJadi dem 7ext der .Vrawda".<br />

9. August 1912.


DER ARBEITSTAG<br />

IN DEN FABRIKEN DES GOUVERNEMENTS<br />

MOSKAU<br />

249<br />

Der Ingenieur I. M. Kosminydi-Lanin hat ein Buch über die Länge des<br />

Arbeitstages und des Arbeitsjahres in den Fabriken und <strong>Werke</strong>n des<br />

Gouvernements Moskau herausgegeben.<br />

Das vom Verfasser gesammelte Material bezieht sich auf das Ende des<br />

Jahres 1908 und erfaßt 219 669 Arbeiter, d. h. etwas mehr als 7 /io aller<br />

Fabrikarbeiter des Gouvernements Moskau (307 773).<br />

Der Verfasser errechnet auf Grund dieser Unterlagen einen durchschnittlichen<br />

Arbeitstag von 9 l k Stunden für Erwachsene und Jugendliche<br />

und von 7Va Stunden für Minderjährige.<br />

Es muß bemerkt werden, daß diese Angaben die Überstundenarbeit<br />

völlig unberücksichtigt lassen (über diese hat der Verfasser eine besondere<br />

Schrift zum Druck vorbereitet), und zweitens, daß die Angaben des Verfassers<br />

ausschließlich auf den „für Unternehmer und Arbeiter verbindlichen<br />

Bestimmungen der Betriebsordnung" beruhen.<br />

Ob diese Bestimmungen in der Praxis eingehalten werden, ist eine<br />

Frage, die unser Ingenieur nicht einmal stellt. Nur die Arbeiterverbände<br />

könnten, wenn sie eine eigene Statistik führten, Unterlagen auch zu dieser<br />

Frage zusammentragen.<br />

In den einzelnen Unternehmen unterliegt dieser Arbeitstag von 972<br />

Stunden großen Schwankungen.<br />

Aus den Tabellen des Verfassers geht hervor, daß 33 466 Arbeiter mehr<br />

als iO Stunden täglidh arbeiten! Das sind über 15% aller hier erfaßten<br />

Arbeiter.<br />

13 <strong>18</strong>9 Arbeiter arbeiten mehr als 11 Stunden täglidh und 75 Arbeiter<br />

mehr als 12 Stunden täglich. Die Hauptmasse der Arbeiter, die die Last<br />

17 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>


250 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />

eines so unmäßig langen Arbeitstages zu tragen haben, entfällt auf die<br />

Textilindustrie.<br />

Zieht man in Betracht, daß etwa ein Drittel der Arbeiter nicht in die<br />

Untersuchungen des Verfassers einbezogen wurde, so ergibt sich die<br />

Schlußfolgerung, daß über zwanzigtausend Fabrikarbeiter des Gouvernements<br />

Moskau einen unerhört langen Arbeitstag haben.<br />

Schließlich zeigen die Angaben des Ingenieurs Kosminydi-Lanin, daß<br />

selbst das gänzlich veraltete russische Gesetz von <strong>18</strong>97, das einen Arbeitstag<br />

von 1IV2 Stunden (!!!) zuläßt, von den "Fabrikanten nidht eingehalten<br />

wird. Nach diesem Gesetz darf bei Arbeit in zwei Schichten die Arbeitszeit<br />

eines Arbeiters, berechnet für einen Zeitraum von 2 Wochen, nicht<br />

9 Stunden täglich überschreiten.<br />

In Wirklichkeit aber haben von den vom Verfasser erfaßten 83 990 in<br />

zwei Schichten tätigen Arbeitern 14376 mehr als 9 Stunden gearbeitet.<br />

Das sind 17% aller zweischichtig tätigen Arbeiter. Und von den 3733 mit<br />

Reparatur- und Hilfsarbeiten beschäftigten zweischichtig tätigen Arbeitern<br />

haben 2173, d. h. fast %, mehr als 9 Stunden täglich gearbeitet! Insgesamt<br />

also sind es 16 500 Arbeiter, die - sogar nach offiziellen Angaben - gezwungen<br />

werden, länger zu arbeiten, als gesetzlich zulässig ist!<br />

Der Achtstundentag existierte 1908 im Gouvernement Moskau nur für<br />

4398 Arbeiter - von insgesamt 219 669 erfaßten Arbeitern. Der Achtstundentag<br />

ist also auch jetzt durchaus möglich, die 215 000 Arbeiter<br />

brauchen nur diese viertausend einzuholen.<br />

„Vrawda" 5Vr. 88, TJadi dem 7ext der „Trawda".<br />

H. August \912.<br />

Unterschrift: W.


ARBEITSTAG UND ARBEITSJAHR<br />

IM GOUVERNEMENT MOSKAU<br />

25 t<br />

Die unter diesem Titel erschienene Arbeit des Ingenieurs Kosminych-<br />

Lanin (Moskau 1912, Verlag der Ständigen Kommission des Museums<br />

zur Förderung der Arbeit bei der Mosk. Abt. der Kaiserl. Russ. Techn.<br />

Ges., Preis 1 Rubel 75 Kop.) stellt eine Sammlung von Materialien dar,<br />

die sich auf das Ende des Jahres 1908 beziehen.<br />

Die Angaben erfassen 219669 Arbeiter, d.h. 71,37% aller Fabrikarbeiter<br />

des Gouvernements (307 773). Der Verfasser sagt, daß er das<br />

Material „sorgfältig, gesondert für jedes Industrieunternehmen" untersucht<br />

hat und daß „in die Zusammenfassung nur der Teil des Materials<br />

aufgenommen wurde, der keinerlei Zweifel erweckte".<br />

Eine derartige Statistik könnte — trotz der großen Verspätung - von<br />

außerordentlichem Interesse sein, wenn nur die Zusammenstellung der<br />

Unterlagen sinnvoller vorgenommen worden wäre. Leider muß man gerade<br />

dieses Wort gebraudien, denn die Tabellen des Herrn Kosminydi-<br />

Lanin sind zwar äußerst sorgfältig zusammengestellt, und er hat sehr viel<br />

Mühe auf die Errechnung aller möglichen Summen und Prozentverhältnisse<br />

verwandt, ist aber dabei sehr unrationell verfahren.<br />

Das reichhaltige Material hat den Verfasser gleichsam erdrückt. Er hat<br />

Hunderte und Tausende Rechenoperationen durchgeführt, die völlig<br />

überflüssig sind und die Arbeit nur überladen, und gleichzeitig einige<br />

Dutzend Berechnungen unterlassen, die ganz unerläßlich sind, da man<br />

ohne sie kein Gesamtbild der Erscheinungen erhält.<br />

In der Tat bringen die Haupttabellen des Verfassers, die fast das ganze<br />

Buch ausmachen, derartig detaillierte Angaben, daß zum Beispiel die Arbeiter,<br />

die 9 bis 10 Stunden täglich arbeiten, in 16 Vntergruppen unterteilt


252 TV. 1. <strong>Lenin</strong><br />

sind - je nach der Zahl der Arbeitsstunden in zwei aufeinanderfolgenden<br />

Wochen (109 bis 120 Stunden) -und für jede Untergruppe ist der Durchschnitt<br />

der täglichen Arbeitsstunden errechnet! Und das alles ist zweimal<br />

gemacht: einmal für die Produktionsarbeiter und einmal für die Hilfsarbeiter.<br />

Man wird zugeben müssen, daß eine solche Detaillisierung erstens völlig<br />

überflüssig ist, daß hier mit Begeisterung Statistik um der Statistik willen,<br />

eine Art Zahlenspielerei getrieben wird, und das auf Kosten der Klarheit<br />

des Bildes und der Brauchbarkeit des Materials für Studienzwecke. Und<br />

zweitens sind neun Zehntel dieser vom Verfasser mit einer Genauigkeit<br />

von einem Hundertstel errechneten „Durchschnittswerte'" geradezu vergeudete<br />

Arbeit, denn man kann wetten, daß von tausend Lesern des<br />

Buches (das wohl kaum tausend Leser finden wird) höchstens einer einen<br />

solchen „Durchschnittswert" benötigen wird (zudem könnte dieser eine<br />

ihn selbst ausrechnen, wenn schon ein solch außerordentliches Unglück<br />

über ihn hereinbrechen sollte!).<br />

Indessen fehlen in dem Buch völlig absolut notwendige Zusammenstellungen,<br />

die der Verfasser mit weit geringerem Arbeitsaufwand hätte'<br />

vornehmen können und ohne die nicht auszukommen ist, wenn man in<br />

den Zahlen der Untersuchung den Sinn erkennen will. Es fehlen Aufstellungen,<br />

die 1. die einschichtig, zweischichtig und dreischichtig tätigen<br />

Arbeiter nach Produktionsgruppen zusammenfassen; 2. dabei die Produktionsarbeiter<br />

und die Hilfsarbeiter voneinander abheben; 3. die durchschnittlichen<br />

Arbeitsstunden unterteilt nach Produktionsgruppen angeben;<br />

4. eine Gesamtbilanz der Arbeitszeit der Erwachsenen und der Minderjährigen<br />

vermitteln; 5. die Fabriken nach der unterschiedlichen Beschäftigtenzahl<br />

unterteilen.<br />

Verweilen wir bei diesem letzten Punkt. Der Verfasser der Arbeit ist<br />

offensichtlich so arbeitsam - nach der Liste der Arbeiten zu urteilen, die<br />

er veröffentlicht und zum Druck vorbereitet hat —, er verfügt über so reichhaltiges<br />

und interessantes Material, daß eine kritische Analyse seiner<br />

Methoden vielleicht nicht nur theoretischen, sondern auch unmittelbar<br />

praktischen Nutzen bringen kann. Wir haben bereits die Worte des Verfassers<br />

zitiert, wonach er das zusammengetragene Material „sorgfältig,<br />

gesondert für jedes Industrieunternehmen" untersucht hat.<br />

Die Zusammenfassung dieses Materials wenigstens nach denjenigen


Arbeitstag und Arbeitsjahr im Qouvernement Moskau 253<br />

Fabrikgruppen, die sogar unsere offizielle Statistik eingeführt hat (bis zu<br />

20 Arbeitern, 21-50, 51-100, 101-500, 501-1000 und über 1000),<br />

war also durchaus möglich. War sie notwendig?<br />

Unbedingt. Eine Statistik soll nicht willkürlich zusammengestellte Zahlenkolonnen<br />

liefern, sondern mit Hilfe von Zahlen die verschiedenen sozialen<br />

Typen der zu untersuchenden Erscheinung beleuchten, die das<br />

Leben hervorgebracht hat oder hervorbringt. Kann man daran zweifein,<br />

daß Betriebe mit 50 Arbeitern und Betriebe mit 500 Arbeitern zu wesentlich<br />

anderen sozialen Üypen der uns interessierenden Erscheinung ge j<br />

hören? daß die gesamte gesellschaftliche Entwickkmg aller zivilisierten<br />

Länder den "Unterschied zwischen diesen Typen verstärkt und zur Verdrängung<br />

des einen durch den anderen führt?<br />

Nehmen wir eben die Angaben über den Arbeitstag. Aus der zusammenfassenden<br />

Ergebnistabelle des Verfassers können wir - wenn wir<br />

selber eine gewisse notwendige statistische Arbeit durchführen, die wir in<br />

dem Buch nicht finden - die Schlußfolgerung ziehen, daß 33 000 Arbeiter<br />

(von 220 000 erfaßten) länger als iO Stunden täglich arbeiten. Die<br />

durchschnittliche Länge des Arbeitstages für alle 220 000 Arbeiter aber<br />

beträgt 972 Stunden. Es fragt sich nun: Sind diese Arbeiter, die die Last<br />

des übermäßig langen Arbeitstages zu tragen haben, nicht in Kleinbetrieben<br />

beschäftigt?<br />

Diese Frage ergibt sich ganz natürlich und unausbleiblich. Sie ist keineswegs<br />

willkürlich herausgegriffen. Die politische Ökonomie und die Statistik<br />

aller Länder der Welt verpflichten uns, eben diese Frage zu stellen,<br />

denn die Verlängerung des Arbeitstages durch die Kleinbetriebe ist nur<br />

allzuoft zu beobachten gewesen. Die Bedingungen der kapitalistischen<br />

Wirtschaft bringen notwendigerweise eine solche Verlängerung bei den<br />

kleinen Unternehmern mit sich.<br />

Und da stellt sich heraus, daß der Verfasser die Unterlagen für die<br />

Beantwortung dieser überaus wichtigen Frage in seinen Materialien gehabt<br />

hat, daß sie aber in seiner Zusammenstellung verlorengegangen sind! In<br />

der Zusammenstellung gibt uns der Verfasser unnütze überaus lange Kolonnen<br />

detaillierter „Durchschnittswerte", aber er gibt nicht die notwendige<br />

Unterteilung der Fabriken nach der Anzahl der beschäftigten<br />

Arbeiter.<br />

Im Gouvernement Moskau ist eine solche Unterteilung noch notwen-


254 IV. 1. <strong>Lenin</strong><br />

diger (wenn es erlaubt ist, hier den Komparativ zu gebrauchen) als sonst,<br />

denn im Gouvernement Moskau finden wir neben einer riesigen Konzentration<br />

der Produktion eine verhältnismäßig sehr große Zahl von Kleinbetrieben.<br />

Nach der Statistik von 1910 gab es hier insgesamt 1440 Betriebe<br />

mit 335 190 Arbeitern. Die Hälfte dieser Arbeiter (167199) ist in<br />

66 Fabriken konzentriert - und auf der anderen Seite haben wir 669 Betriebe<br />

mit insgesamt <strong>18</strong> 277 Arbeitern. Es ist klar, daß wir es mit völlig<br />

verschiedenen sozialen Typen zn tun haben und daß eine Statistik, die<br />

zwischen ihnen keinen Unterschied macht, rein gar nichts taugt.<br />

Der Verfasser hat sich so sehr in seine Zahlenreihen über die Zahl der<br />

Arbeiter verrannt, die 94,95 usw. bis zu 144 Stunden in zwei aufeinanderfolgenden<br />

Wochen beschäftigt sind, daß er die Angaben über die Zahl der<br />

Betriebe völlig weggelassen hat. Diese Zahl wird für den zweiten Teil seiner<br />

Arbeit angekündigt, in dem es um die Länge des Arbeitsjahres geht,<br />

aber im ersten Teil, der den Arbeitstag behandelt, werden keinerlei Angaben<br />

über die Zahl der Betriebe gemacht - obwohl dem Verfasser diese<br />

Angaben zweifellos zur Verfügung standen.<br />

Die größten Fabriken des Gouvernements Moskau sind nicht nur eigenartige<br />

Typen von Industriebetrieben, sondern auch eigenartige Typen von<br />

Menschenzusammenballungen mit besonderen Lebensverhältnissen und<br />

besonderen kulturellen (oder richtiger nnkulturellen) Bedingungen. Die<br />

Heraushebung dieser Fabriken, die eingehende Bearbeitung der Angaben,<br />

getrennt für jede Kategorie von Betrieben je nach der Anzahl der Arbeiter,<br />

ist eine notwendige Voraussetzung für eine rationelle Wirtschaftsstatistik.<br />

Führen wir die Hauptergebnisse aus der Arbeit des Herrn Kosminyrih-<br />

Lanin auf.<br />

Seine Untersuchung über die Länge des Arbeitstages umfaßt, wie wir<br />

bereits sagten, 219669 Moskauer Fabrikarbeiter, d. h. 71,37% der Gesamtzahl,<br />

wobei seine Statistik die Textilarbeiter zu einem etwas höheren<br />

Prozentsatz erfaßt als die Arbeiter der anderen Produktionszweige. Statistisch<br />

erfaßt wurden 74,6% aller Textilarbeiter und nur 49-71% der<br />

Arbeiter der übrigen Produktionszweige. Oftensidhtlidh in geringerem<br />

Maße erstreckt sich die Untersuchung auf die Kleinbetriebe: zumindest<br />

erfaßt die Statistik über die Zahl der jährlichen Arbeitstage 58% der<br />

Betriebe (811 von den 1394 im Jahre 1908 vorhandenen) und 75% der


Arbeitstag und Arbeitsjabr im Qouvernement Moskau 255<br />

Arbeiter (231130 von 307773). Es ist klar, daß hier gerade die kleineren<br />

Betriebe ausgelassen worden sind.<br />

Zusammenfassende Zahlen über die Länge des Arbeitstages gibt der<br />

Verfasser nur für alle Arbeiter insgesamt. Es ergibt sich ein Durchschnitt<br />

von 9V2 Stunden täglich für Erwachsene und von 7 l A Stunden für Minderjährige.<br />

Die Anzahl der Minderjährigen, das muß bemerkt werden, ist<br />

niedrig: 1363 gegenüber 2<strong>18</strong>306 Erwachsenen. Das legt den Gedanken<br />

nahe, ob nicht insbesondere minderjährige Arbeiter den Augen der Inspektoren<br />

„entzogen" wurden.<br />

Von den insgesamt 219669 Arbeitern arbeiteten 128628 (58,56%) in<br />

einer Schicht, 88552 (40,31%) in zwei Schichten und 2489 (1,13%) in<br />

drei Schichten. In der Textilindustrie überwiegt die zweischichtige Arbeit<br />

gegenüber der einschichtigen: 75391 Zweischichtarbeiter („Produktionsarbeiter",<br />

d. h. ohne Hilfsarbeiter) und 68 604 Einschichtarbeiter. Zählt<br />

man die Reparatur- und Hilfsarbeiter hinzu, so erhält man die Summe<br />

von 78 107 Zweischicht- und 78 321 Einschichtarbeitern. Bei den Metallarbeitern<br />

dagegen überwiegt die einschichtige Arbeit (17 821 erwachsene<br />

Arbeiter) bedeutend gegenüber der zweischichtigen (7673).<br />

Fassen wir die Gesamtzahl der Arbeiter nach der verschiedenen Länge<br />

ihrer täglichen Arbeitszeit zusammen, so erhalten wir die folgende Aufstellung:<br />

Anzahl der täglichen<br />

Arbeitsstunden Anzahl der Arbeiter<br />

Bis zu 8 Stunden<br />

8 bis 9 „<br />

9 „ 10 „<br />

10 „ 11 „<br />

11 „ 12 „<br />

12 und mehr „<br />

4 398<br />

87 402<br />

94403<br />

20 202<br />

13<strong>18</strong>9<br />

75<br />

Insgesamt 219 669<br />

33 466<br />

Hieraus ist ersichtlich, wie niedrig in Rußland noch die Anzahl der Arbeiter<br />

ist, die nicht mehr als 8 Stunden täglich arbeiten: insgesamt 4398<br />

von 219669. Demgegenüber ist die Anzahl der Arbeiter mit einem übermäßig,<br />

unerhört langen Arbeitstag sehr hoch: 33 466 von 220 000, d. h.<br />

über 15% der Arbeiter arbeiten mehr als iO Stunden täglidil Und dabei<br />

sind noch nicht die Überstunden berücksichtigt.


256 TV. 3. <strong>Lenin</strong><br />

Weiter. Die unterschiedliche Länge des Arbeitstages der Einscfaichtund<br />

der Zweischicfatarbeiter geht aus den folgenden Angaben hervor, die<br />

nur die erwachsenen „Produktionsarbeiter" umfassen, d. h. die Reparaturund<br />

Hilfsarbeiter, die 8% aller Arbeiter ausmachen, unberücksichtigt<br />

lassen.<br />

Länge des Arbeitstages<br />

Bis zu 8 Stunden<br />

8 bis 9 „<br />

9 „ 10 „<br />

10 „ 11 „<br />

11 „ 12 „<br />

12 und mehr „<br />

Insgesamt<br />

Stundenzahl beschäftigten)<br />

Einschichtarbeiter<br />

1,3<br />

13,3<br />

60,7<br />

15,2<br />

9,5<br />

—<br />

100,0<br />

Zweischiditarbeiter<br />

1,0<br />

81,9<br />

14,7<br />

1,4<br />

1,0<br />

—<br />

100,0<br />

Hieraus ist unter anderem ersichtlich, daß 17% der zweischichtig tätigen<br />

Arbeiter mehr als 9 Stunden täglich arbeiten, d. h. mehr als selbst unser<br />

Gesetz von <strong>18</strong>97 erlaubt, das Herr Lanin mit Recht als längst überholt<br />

bezeichnet. Nach diesem Gesetz darf bei zweischichtiger Arbeit die Anzahl<br />

der täglichen Arbeitsstunden, berechnet für einen Zeitraum von zwei<br />

Wochen, neun Stunden nicht überschreiten. Und Herr Lanin legt allen<br />

seinen Berechnungen und Tabellen gerade den Zeitabschnitt von „2 aufeinanderfolgenden<br />

Wochen'' zugrunde.<br />

Wenn ein so bestimmtes und exaktes Gesetz so offensichtlich übertreten<br />

wird, dann kann man sich vorstellen, was mit den meisten übrigen Bestimmungen<br />

unserer Fabrikgesetzgebung geschieht.<br />

Der Durchschnitt der täglichen Arbeitsstunden für einen einschichtig<br />

tätigen Arbeiter (nur für Erwachsene und nur für „Produktionsarbeiter")<br />

beträgt 9,89 Stunden. Es herrscht also ein Zebnstundentag ohne irgendwelche<br />

Einschränkung, sogar an Sonnabenden und ungerechnet der Oberstunden.<br />

Es erübrigt sich zu sagen, daß eine solche Arbeitszeit unbedingt<br />

zu lang ist und daß man sich damit nicht abfinden kann.<br />

Der Durchschnitt der täglichen Arbeitsstonden für einen zweischichtig<br />

tätigen Arbeiter beträgt 8,97 Stunden, d. h. in der Praxis überwiegt der<br />

vom Gesetz in diesen Fällen geforderte Neunstundentag. Ihn auf acht


Arbeitstag und Arbeitsjahr im Qouvernement Moskau 257<br />

Standen zu senken ist besonders dringend erforderlich, da bei zwei Schichten<br />

als „Nacht" die Zeit von 10 Uhr abends bis 4 (!!) Uhr morgens gilt,<br />

d. h. in Wirklichkeit ein sehr, sehr großer Teil der Nadot für den Arbeiter<br />

als „ lag" gelten soll. Ein neunstündiger Arbeitstag, wobei die Nacht zum<br />

Tag gemacht, wobei ständig Nachtarbeit geleistet wird — so sieht es im<br />

Gouvernement Moskau aus!<br />

Zum Abschluß unseres Überblicks über die Angaben des Herrn Kosminych-Lanin<br />

verweisen wir darauf, daß er die durchschnittliche Länge<br />

des Arbeitsjahres mit 270 Tagen angibt. Bei den Textilarbeitern liegt die<br />

Zahl etwas niedriger - 268,8 Tage — und bei den Metallarbeitern etwas<br />

höher - 272,3 Tage.<br />

Wie Kosminych-Lanin die Angaben über'die Länge des Arbeitsjahres<br />

verarbeitet, ist ebenfalls ganz unbefriedigend. Auf der einen Seite eine<br />

übermäßige, ganz widersinnige Detaillisierung: in der zusammenfassenden<br />

Tabelle über die Länge des Arbeitsjahres zählen wir volle 130 horizontale<br />

Spalten! Die Angaben über die Anzahl der Betriebe, der Arbeiter usw.<br />

werden hier getrennt für jede vorkommende Zahl von Arbeitstagen (im<br />

Jahr), von 22 bis 366, gegeben. Eine solche „Detaillisierung" macht eher<br />

den Eindruck, daß der Verfasser das Rohmaterial überhaupt „nicht verdaut"<br />

hat.<br />

Auf der anderen Seite fehlen auch hier die unbedingt notwendigen Zusammenstellungen<br />

sowohl über die Anzahl der Arbeiter in den Fabriken<br />

als auch über die verschiedenen Antriebssysteme (Handbetrieb und mechanische<br />

Fabriken). Ein Bild, das einem gestatten würde, die Abhängigkeit<br />

der Länge des Arbeitsjahres von den verschiedenen Bedingungen zu begreifen,<br />

kann man sich daher nicht machen. Das vom Verfasser zusammengetragene<br />

überaus reichhaltige Material geht wegen der ganz miserabel<br />

angelegten Gruppierung verloren.<br />

Die Bedeutung des Unterschieds zwischen dem Großbetrieb und dem<br />

Kleinbetrieb können wir - annähernd und bei weitem nicht exakt! - sogar<br />

an Hand der Angaben des Verfassers verfolgen, wenn wir sie etwas überarbeiten.<br />

Nehmen wir die vier Hauptgruppen der Betriebe nach der Länge<br />

des Arbeitsjahres: 1. Betriebe, die bis zu 200 Tagen im Jahr arbeiten,<br />

2. - von 200 bis 250, 3. - von 250 bis 270 und 4. - 270 Tage und<br />

länger.<br />

Stellen wir für jede dieser Kategorien die Anzahl der Fabriken und die


258 TV.1.£enm<br />

Anzahl der Arbeiter -beiderlei Geschlechts zusammen, so<br />

folgende Bild:<br />

Länge des Dmdisdinittlidie<br />

Arbeitsjahres Zahl der Arbeitstage<br />

im Jahr<br />

Bis zu 200 Tagen 96<br />

200-250 Tage 236<br />

250-270 Tage 262<br />

270 und mehr Tage 282<br />

Anzahl der<br />

Fabriken<br />

74<br />

91<br />

196<br />

450<br />

erhalten wir das<br />

Arbeiter<br />

Dunisdinittliche<br />

Anzahl der Arbeiter<br />

pro Fabrik<br />

5 676 76<br />

14400 158<br />

58 313 297<br />

152 741 339<br />

Insgesamt 270 811 231 130 285<br />

Hieraus ist klar ersichtlich: je größer die Fabriken, desto länger (im allgemeinen)<br />

das Arbeitsjahr. Folglich ist die sozialökonomische Bedeutung<br />

der kleinen Unternehmen in Wirklichkeit noch weitaus geringer, als man<br />

nach dem Anteil dieser Unternehmen zum Beispiel an der Gesamtzahl der<br />

Arbeiter schließen könnte. Das Arbeitsjahr in diesen Unternehmen ist<br />

gegenüber den großen ran so viel kürzer, daß der auf sie entfallende Produktionsanteil<br />

ganz gering sein muß. Und außerdem können diese (kleinen)<br />

Fabriken bei dem kurzen Arbeitsjahr nicht beständige Kader des<br />

Proletariats schaff en, d. h., die Arbeiter sind hier mehr „bodenverbundeh",<br />

wahrscheinlich schlechter bezahlt, weniger kultiviert usw.<br />

Die große Fabrik verstärkt die Ausbeutung, indem sie das Arbeitsjahr<br />

bis zum äußersten verlängert und so ein Proletariat erzeugt, das völlig mit<br />

dem Dorfe bricht.<br />

Ginge man den Unterschieden in der Länge des Arbeitsjahres in Abhängigkeit<br />

von der technischen Ausrüstung der Fabriken (Handbetrieb,<br />

mechanische Antriebe usw.) nach, so könnte man ohne Zweifel eine ganze<br />

Anzahl sehr interessanter Hinweise auf die Lebensbedingungen der Bevölkerung,<br />

die Lage der Arbeiter, die Entwicklung unseres Kapitalismus<br />

usw. finden. Aber der Verfasser, das kann man sagen, hat alle diese Fragen<br />

nicht einmal berührt.<br />

Er brachte nur die Zahlen für die durchschnittliche Länge des Arbeitsjahres<br />

in den Fabriken der verschiedenen Produktionsgruppen. Hinsichtlich<br />

des Gesamtdurdischmtts ergaben sich nur sehr geringe Schwankungen:<br />

von 246 Arbeitstagen im Jahr in Gruppe IX (Bearbeitung von Mineralien)<br />

bis zu 291 Arbeitstagen im Jahr in Gruppe XII (chemische<br />

Produktionszweige).


Arbeitstag und Arbeitsjabr im Qouvernement Moskau 259<br />

Diese Differenzen sind, wie der Leser sieht, viel geringer als die Unterschiede,<br />

die in der Länge des Arbeitsjahres zwischen den kleinen und den<br />

großen Fabriken überhaupt bestehen, unabhängig davon, zu welchem<br />

Produktionszweig sie gehören.<br />

Die Unterschiede in der Art der Produktion sind für die sozialökonomische<br />

Statistik weniger charakteristisch und weniger wesentlich als die<br />

Unterschiede in bezug auf den Umfang der Produktion. Das bedeutet<br />

natürlich nicht, daß man die erstgenannten Unterschiede ignorieren könnte.<br />

Das bedeutet aber, daß eine sinnvolle Statistik ohne die Berücksichtigung<br />

der letztgenannten Unterschiede absolut unmöglich ist.<br />

„TJaoskaja Swesda' 7$r. 21, Nadb dem Text der<br />

i2, August 1912. „Tfewshxja Swesda".<br />

Unterschrift: W. 1.


260<br />

IN ENGLAND<br />

Der englische Liberalismus befindet sich sechseinhalb Jahre an der<br />

Macht. Die Arbeiterbewegung in England wird immer stärker. Die Streiks<br />

werden zu Massenstreiks und sind außerdem nicht mehr rein wirtschaftlicher<br />

Natur, sie verwandeln sich in politische Streiks.<br />

Robert Smillie, der Führer der schottischen Grubenarbeiter, die vor<br />

kurzem im Massenkampf eine solche Kraft bewiesen haben, erklärt, daß<br />

die Grubenarbeiter in ihrer nächsten großen Schlacht die Verstaatlichung<br />

der Kohlengruben fordern werden. Und diese nächste große Schlacht<br />

rückt unausbleiblich näher, denn alle Grubenarbeiter in England wissen<br />

sehr gut, daß das berüchtigte Gesetz über den Minimalarbeitslohn ihre<br />

Lage nicht ernstlich verbessern kann.<br />

Und nun ersinnt der englische Liberalismus, der den Boden unter den<br />

Füßen verliert, eine neue Kampfparole, um bei den Wählermassen erneut<br />

für eine gewisse Zeit Vertrauen zu den Liberalen zu erwecken. Ohne<br />

Betrug - kein Verkauf, das ist die Losung des Kapitalismus im Handel.<br />

Ohne Betrug - keine Sitze im Parlament, das ist die Losung der kapitalistischen<br />

Politik in den freien Ländern.<br />

Die von den Liberalen zu diesem Zweck ersonnene „Mode"losung ist<br />

die Forderung nach einer „Bodenreform". Was die Liberalen und ihr<br />

Spezialist für Massenverdummung, Lloyd George, eigentlich darunter verstehen,<br />

bleibt unklar. Offenbar handelt es sich um die Erhöhung der<br />

Grundsteuer, um weiter nichts. Eintreibung neuer Millionen für Kriegsabenteuer,<br />

für die Flotte - das steckt in Wirklichkeit hinter den marktschreierischen<br />

Phrasen von der „Rückgabe des Bodens an das Volk"<br />

u. dgl. m.


In England 261<br />

In England wird der Ackerbau völlig kapitalistisch betrieben: die kapitalistischen<br />

Fanner pachten das Land in mittleren Parzellen von den Landlords<br />

(den Grundeigentümern) und bestellen es mit Hilfe von Lohnarbeitern.<br />

Keinerlei „Bodenreform" kann unter diesen Umständen etwas an der<br />

Lage der Landarbeiter ändern. Ein Loskauf der gutsherrlichen Ländereien<br />

in England könnte sich sogar in eine neue Schröpfung des Proletariats<br />

verwandeln, denn die Gutsbesitzer und Kapitalisten, die die Macht im<br />

Staate behalten, würden ihre Ländereien zum dreifachen Preis verkaufen.<br />

Und zu zahlen hätte der Steuerzahler, d. h. wiederum der Arbeiter.<br />

Der Lärm, den die Liberalen um die Agrarfrage erhoben haben, war in<br />

einer Hinsicht nützlich: er weckte das Interesse für die Landarbeiterorganisation.<br />

Wenn nun die Landarbeiter in England erwachen und sich zu Verbänden<br />

zusammenschließen, dann werden die Liberalen nicht mit hochstaplerischen<br />

„Reformversprediungen 1 ' oder Versprechungen von Bodenanteilen<br />

für die Landarbeiter und Tagelöhner davonkommen.<br />

Vor kurzem besuchte ein Mitarbeiter einer englischen Arbeiterzeitung<br />

Joseph Arch, den alten Führer der Landarbeiter, der viel getan hat, um sie<br />

zu bewußtem Leben zu erwecken. Das gelang nicht sofort — und die<br />

Losung von Arch war auch naiv: jedem Landarbeiter „drei Acres (ein Acre<br />

ist etwas mehr als V3 Desjatine) Land und eine Kuh" -, der von ihm<br />

gegründete Verband ist eingegangen, aber seine Sache ist nicht verloren,<br />

und die Organisierung der englischen Landarbeiter rückt wieder auf die<br />

Tagesordnung.<br />

Arch ist jetzt 83 Jahre alt Er lebt in demselben Dorf und in demselben<br />

Haus, in dem er geboren wurde. In der Unterredung mit seinem Gesprächspartner<br />

sagte er, daß es dem Landarbeiterverband gelungen ist, den<br />

Wochenlohn bis auf 15,16 bzw. 17 Shilling zu erhöhen (ein Shilling sind<br />

etwa 48 Kop.). Jetzt ist aber der Wochenlohn der englischen Landarbeiter<br />

wiederum gesunken - in Norfolk, dort, wo Arch lebt, bis auf 12—13<br />

Shilling.<br />

.Trawda" Nr. 89, Nach dem Jext der ,?rawda".<br />

i2. August i9i2.<br />

Unterschrift: "P.


262<br />

DIE KONZENTRATION DER PRODUKTION<br />

IN RUSSLAND<br />

In Rußland vollzieht sich ebenso wie in allen anderen kapitalistischen<br />

Ländern eine Konzentration der Produktion, d. h. ihre immer stärkere<br />

Zusammenballung in einer kleinen Anzahl von großen und größten Unternehmen.<br />

Im kapitalistischen System ist jedes einzelne Unternehmen völlig vom<br />

Markt abhängig. Und bei dieser Abhängigkeit kann ein Unternehmen<br />

seine Produkte um so billiger verkaufen, je größer es ist. Der Großkapitalist<br />

kauft die Rohstoffe billiger ein, verwendet sie wirtschaftlicher, benutzt<br />

bessere Maschinen usw. Die kleinen Unternehmer werden ruiniert und<br />

gehen zugrunde. Die Produktion ballt sich immer mehr zusammen, konzentriert<br />

sich in den Händen weniger Millionäre. Die Millionäre verstärken<br />

ihre Macht gewöhnlich noch durch die Aktiengesellschaften, die ihnen die<br />

Kapitalien der mittleren Unternehmer und der „Kleinen" in die Hände<br />

spielen.<br />

Hier zum Beispiel die Angaben über die Fabrik- und Werkindustrie in<br />

Rußland für das Jahr 1910 im Vergleich zu 1901. 72<br />

Größenklassen der Betriebe Zahl der Betriebe Zahl der Arbeiter<br />

nach der Arbeiterzahl in 1000<br />

1901<br />

1910<br />

1901 1910<br />

Bis zu 50<br />

12 740 9909 244 220<br />

51- 100 2 428 2 201 171 159<br />

101- 500 2 288 2213 492 508<br />

501-1000 403 433 269 303<br />

über 1000<br />

243 324 526 713<br />

Insgesamt <strong>18</strong>102 15 080 1702 1903


Die Xonzentration der Produktion in Rußland 263<br />

Das ist das gewöhnliche Bild in allen kapitalistischen Ländern. Die Zahl<br />

der kleinen Betriebe verringert sidb: das Kleinbürgertum, die kleinen<br />

Unternehmer werden ruiniert und gehen zugrunde, werden zu Angestellten,<br />

manchmal zu Proletariern.<br />

Die Zahl der größten Betriebe nimmt rasch zu, und noch schneller<br />

wächst ihr Anteil an der gesamten Produktion.<br />

Von 1901 bis 1910 ist die Zahl der größten Fabriken mit mehr als 1000<br />

Arbeitern anf fast das Anderthalbfache angestiegen: von 243 auf 324.<br />

In ihnen waren 1901 rund eine halbe Million (526000) Arbeiter beschäftigt,<br />

d.h. weniger als ein Drittel der Gesamtzahl, 1910 aber über<br />

700 000, also mehr als ein Drittel der Gesamtzahl.<br />

Die größten Fabriken erdrücken die kleinen und konzentrieren die<br />

Produktion immer mehr. Immer größere Arbeitermassen werden in wenigen<br />

Unternehmungen zusammengeballt, während der ganze Profit aus<br />

der Arbeit der vereinigten Millionen Arbeiter einer Handyoll von Millionären<br />

zufließt.<br />

„Vrawda" Nr. 89, Tfadb dem 7ext der „Vrawda".<br />

f2. August i9i2.<br />

Unterschrift: 7.


264<br />

KARRIERE<br />

Die Lebensgeschichte A. S. Strworins, des kürzlich verstorbenen Millionärs<br />

und Herausgebers des „Nowoje Wremja", spiegelt eine sehr interessante<br />

Periode in der Geschichte der ganzen russischen bürgerlichen Gesellschaft<br />

wider und verleiht ihr beredten Ausdruck.<br />

Ein armer Schlucker, Liberaler und sogar Demokrat am Beginn seines<br />

Lebensweges - Millionär, selbstzufriedener und schamloser Apologet der<br />

Bourgeoisie, der jede Wende in der Politik der Machthabenden kriecherisch<br />

mitmacht, am Ende dieses Weges. Ist das etwa nicht typisch für die<br />

Masse der „gebildeten" und „intellektuellen" Vertreter der sogenannten<br />

Gesellschaft? Nicht jeder natürlich, der zum Renegaten wird, hat einen so<br />

tollen Erfolg, daß er es zum Millionär bringt, aber neun Zehntel, wenn<br />

nicht neunundneunzig vom Hundert, werden eben Renegaten, beginnen<br />

als radikale Studenten und enden auf „einträglichen Pöstchen" in dieser<br />

oder jener Stellung, bei diesem oder jenem dunklen Geschäft.<br />

Ein armer Student, der aus Geldmangel nicht auf die Universität kommt;<br />

Lehrer an einer Kreislehranstalt, der außerdem als Sekretär des Adelsmarschalls<br />

fungiert oder bei reichen adligen Gutsbesitzern Privatstunden<br />

gibt; angehender liberaler und sogar demokratischer Journalist mit Sympathien<br />

für Belinski und Tschernyschewski und Gegner der Reaktion - so<br />

hat Suworin in den fünfziger, sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts<br />

begonnen.<br />

Der liberale, mit der englischen Bourgeoisie und der englischen Verfassung<br />

sympathisierende Gutsbesitzer Katkow vollzog während des<br />

ersten demokratischen Aufschwungs in Rußland (zu Beginn der sechziger<br />

Jahre des 19. Jahrhunderts) eine Wendung zum Nationalismus, zum<br />

Chauvinismus und zu einem zügellosen Schwarzhundertertum.


Karriere 265<br />

Der liberale Journalist Suworin vollzog während des zweiten demokratischen<br />

Aufschwungs in Rußland (Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts)<br />

eine Wendung zum Nationalismus, zum Chauvinismus, zu einer<br />

skrupellosen Liebedienerei vor den Machthabenden. Der Russisch-Türkische<br />

Krieg half diesem Karrieristen, „sich zu finden", seinen Weg als<br />

Lakai zu finden, der mit riesigen Einkünften aus seiner Zeitung „ Wetterfahne"<br />

belohnt wurde.<br />

Suworins „Nowoje Wremja" hat viele Jahrzehnte lang diesen Spitznamen<br />

„Weiterfahne" behalten. Diese Zeitung wurde in Rußland zum<br />

Musterbeispiel für käufliche Zeitungen. „Nowowremenstwo" wurde zu<br />

einem Ausdruck, gleichbedeutend mit den Begriffen: Abtrünnigkeit, Renegatentum,<br />

Speichelleckerei. Suworins „Nowoje Wremja" wurde zum<br />

Muster flotten Handels „in und außer dem Hause". Hier wird alles gehandelt,<br />

von politischen Überzeugungen bis zu pornographischen Inseraten.<br />

Und wie viele Liberale noch haben jetzt, nach dem dritten demokratischen<br />

Aufschwung in Rußland (zu Beginn des 20. Jahrhunderts), auf den<br />

Bahnen der „Wechi" eine Wendung zum Nationalismus, zum Chauvinismus<br />

vollzogen, spucken auf die Demokratie und kriechen vor der Reaktion!<br />

Katkow — Suworin - die „Wechi"-Leute, das sind alles historische<br />

Etappen der Wendung der russischen liberalen Bourgeoisie von der "Demokratie<br />

zur Verteidigung der Reaktion, zum Chauvinismus und Antisemitismus.<br />

Die klassenbewußten Arbeiter festigen ihre Überzeugungen, denn sie<br />

begreifen die Unvermeidlichkeit einer solchen Wendung der Bourgeoisie -<br />

wie auch der Wendung der werktätigen Massen zu den Ideen der Arbeiterdemokratie.<br />

.Vrawda" 7ir. 94, TJadb dem 7ext der „Prawda".<br />

<strong>18</strong>. August 1912.<br />

lintersöirift-.J.'W,<br />

<strong>18</strong> <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>


266<br />

AN DAS SEKRETARIAT<br />

DES INTERNATIONALEN<br />

SOZIALISTISCHEN BÜROS<br />

31. August 1912<br />

Werter Genosse!<br />

Ich habe von Ihnen das Zirkular Nr. 15 (vom Juli 1912) erhalten, in<br />

dem der Hauptvorstand der SDPnL von der Spaltung in dieser Organisation<br />

Mitteilung macht.<br />

Als Vertreter der SDAPR im Internationalen Sozialistischen Büro bin<br />

ich gezwungen, gegen diese Mitteilung aus folgenden Gründen kategorisch<br />

zu protestieren. -<br />

1. Der Hauptvorstand der SDPuL erklärt, daß das Warschauer Komitee<br />

„nicht zur SDAPR gehört, deren autonomer Bestandteil die SDPuL<br />

ist".<br />

Der Hauptvorstand der SDPuL hat jedoch keinerlei Recht zu entscheiden<br />

oder zu erklären, wer zur SDAPR gehört, die ich vertrete.<br />

Der Hauptvorstand der SDPuL gehört heute selbst nicht zu unserer<br />

Partei, denn er steht weder mit dem von mir vertretenen Zentralkomitee,<br />

das auf der Januarkonferenz 1912 gewählt worden ist, noch mit dem entgegengesetzten<br />

Zentrum der Liquidatoren (dem sogenannten „Organisationskomitee'')<br />

in organisatorischer Verbindung.<br />

2. Die Behauptung des Hauptvorstands der SDPuL, die Spaltung sei<br />

„plötzlich unmittelbar vor den Wahlen zur Reichsduma" erfolgt, entspricht<br />

nicht der Wahrheit.<br />

Mir ist persönlich bekannt, daß dieser selbe Hauptvorstand der SDPuL<br />

schon vor zwei Jahren, als sein Vorgehen einen heftigen Konflikt mit seinen<br />

ehemaligen Mitgliedern Maledci und Hanecki heraufbeschwor und er<br />

Hanecki aus dem Vorstand ausschloß - daß der Hauptvorstand die Spaltung<br />

schon damals voraussehen mußte.


An das Sekretariat des Internationalen Sozialistischen Büros 167<br />

3. Heuchelei ist die Erklärung des Hauptvorstands, daß sich erstens in<br />

die Warschauer Organisation „ebenso wie in alle anderen revolutionären<br />

Organisationen im zaristischen Rußland" Spitzel eingeschlichen<br />

hätten,<br />

daß zweitens die Spaltung unter „aktiver Mitwirkung der Ochrana"<br />

erfolgt sei, obwohl der Hauptvorstand außerstande ist, einen einzigen<br />

Namen zu nennen, es nicht wagt, irgendeinen bestimmten Verdacht zu<br />

äußern! •<br />

Wieviel Heuchelei gehört dazu, um zwecks moralischer Vernichtung<br />

politischer Gegner öffentlich die gewissenlose Beschuldigung der „Mitwirkung<br />

der Ochrana" zu erheben, obwohl es an Mut gebricht, auch nur<br />

einen einzigen Namen zu nennen, irgendeinen bestimmten Verdacht zu<br />

äußern!<br />

Ich bin überzeugt, daß jedes Mitglied der Internationale diese unerhörten<br />

Kampf methoden mit Empörung zurückweisen wird.<br />

Ich kenne die beiden ehemaligen Mitglieder des Hauptvorstands der<br />

SDPuL, Maledci und Hanecki, seit einer Reihe von Jahren, und sie gehen<br />

offen mit dem Warschauer Komitee zusammen. Das Warschauer Komitee<br />

hat mir gerade eine offizielle Mitteilung geschickt, die diese Tatsache bestätigt.<br />

J<br />

Bei dieser Lage der Dinge halte ich es für meine Pflicht, dem Internationalen<br />

Sozialistischen Büro den beiliegenden Protest des Warschauer Komitees<br />

der SDPuL zur Kenntnis zu bringen.<br />

Da die Erklärung des Hauptvorstands allen Mitgliedern des Internationalen<br />

Sozialistischen Büros zugeleitet worden ist, sehe ich mich genötigt,<br />

Sie, werter Genosse, zu bitten, den Vertretern aller zur Internationale<br />

gehörenden Parteien auch diese meine Erklärung, zusammen mit dem<br />

Protest des Warschauer Komitees, zuzuleiten.<br />

Mit Parteigruß %. <strong>Lenin</strong><br />

„ Qazeta Robotnicza" Nr. 19, Nad) dem 7 ext der<br />

2i.November 1912. .Qazeta Robotnicza".<br />

Aus dem Polnisdhen.


268<br />

DIE KADETTEN<br />

UND DIE AGRARFRAGE<br />

In der Polemik gegen die „Prawda" konnten die Kadetten, wie sie sich<br />

auch bemühten, nicht um die Frage herumkommen, ob sie eine demokratische<br />

oder eine liberal-monarchistische Partei sind.<br />

Die Frage ist äußerst wichtig. Sie ist nicht nur von allgemein-prinzipieller<br />

Bedeutung, weil sie hilft, die politischen Grundbegriffe zu klären. Die<br />

Frage nach dem Wesen der Kadettenpartei, die den Anspruch erhebt,<br />

Führerin der gesamten Opposition zu sein, ist darüber hinaus auf das<br />

engste mit allen Grundfragen der russischen Befreiungsbewegung über-<br />

1 haupt verknüpft. Deshalb muß jeder, der der Wahlkampagne nicht gleichgültig<br />

gegenübersteht, der sich ihrer Bedeutung für die politische<br />

Aufklärung der Massen bewußt ist, diesen Streit über das Wesen der<br />

Kadettenpartei mit größter Aufmerksamkeit verfolgen.<br />

Die kadettische „Retsch" sucht jetzt diesen Streit zu vertuschen, die<br />

prinzipiellen Fragen durch Ausflüchte und zänkische Ausfälle („Lüge",<br />

„Entstellung" u. dgl. m.) in den Hintergrund zu drängen, diese oder jene<br />

Beschimpfungen hervorzukramen, die die Liquidatoren gegen uns in Augenblicken<br />

höchster persönlicher Erregung, bei heftigen Konflikten in Organisationsfragen,<br />

vom Stapel ließen. Alles das sind bekannte und abgedroschene<br />

Methoden von Leuten, die fühlen, wie schwach sie in einem<br />

prinzipiellen Streit sind. Und deshalb muß unsere Antwort an die Kadetten<br />

in einer abermaligen Erläuterung der prinzipiellen Fragen bestehen.<br />

Welches sind die Unterschiede zwischen Demokratismus und Liberalismus<br />

schlechthin? Der bürgerliche Demokrat wie der Liberale (alle<br />

Liberalen sind bürgerliche Liberale, aber nicht alle Demokraten sind<br />

bürgerliche Demokraten) sind gegen die alte Ordnung, den Absolutismus,


Die Kadetten und die Agrarfrage 269<br />

die Leibeigenschaft, die Privilegien des höheren Standes usw., und für die<br />

politische Freiheit und eine konstitutionelle „<strong>Red</strong>its"ordnung. Darin gleichen<br />

sie sich.<br />

Der Unterschied zwischen ihnen: Der Demokrat vertritt die Masse der<br />

Bevölkerung. Er teilt ihre kleinbürgerlichen Vorurteile, indem er zum Beispiel<br />

von einer neuen, „ausgleichenden" Verteilung des gesamten Bodens<br />

nicht nur die Beseitigung aller Spuren der Leibeigenschaft erwartet (eine<br />

solche Erwartung wäre begründet), sondern auch die Untergrabung der<br />

Grundlagen des Kapitalismus (was völlig unbegründet ist, denn keine<br />

Neuverteilung des Bodens kann die Macht des Marktes und des Geldes,<br />

die Macht und Allmacht des Kapitals beseitigen). Aber der Demokrat<br />

glaubt an die Bewegung der Massen, an ihre Kraft, an ihre Gerechtigkeit<br />

und fürchtet diese Bewegung keineswegs. Der Demokrat tritt für die Aufhebung<br />

ausnahmslos aller mittelalterlichen Privilegien ein.<br />

Der Liberale vertritt nicht die Masse der Bevölkerung, sondern ihre<br />

Minderheit, und zwar die große und die mittlere liberale Bourgeoisie. Der<br />

Liberale fürchtet die Bewegung der Massen und die konsequente Demokratie<br />

mehr als die Reaktion. Der Liberale erstrebt nicht nur nicht die<br />

völlige Aufhebung aller mittelalterlichen Privilegien, sondern verteidigt<br />

geradezu einige, und zwar ziemlich wesentliche Privilegien, in dem Bestreben,<br />

diese Privilegien zwischen den Purischkewitsdi und den Miljukow<br />

aufzuteilen, nicht aber, sie überhaupt zu beseitigen.<br />

Der Liberale verteidigt die politische Freiheit und die Verfassung stets<br />

mit Einschränkungen (wie Zweikammersystem und vieles andere mehr),<br />

wobei jede Einschränkung die Erhaltung eines Privilegs der Fronherren<br />

bedeutet. Somit schwankt der Liberale ständig zwischen den Fronherren<br />

und der Demokratie; daher die äußerste, nahezu unglaubliche Ohnmacht<br />

des Liberalismus in allen irgendwie ernst zu nehmenden Fragen.<br />

Die russische Demokratie, das sind die Arbeiterklasse (die* proletarische<br />

Demokratie) und die Volkstümler und Trudowiki aller Schattierungen (die<br />

bürgerliche Demokratie). Der russische Liberalismus, das sind die Partei<br />

der Kadetten sowie die „Progressisten" and die Mehrzahl der nationalen<br />

Gruppen in der III. Duma.<br />

Die russische Demokratie hat ernst zu nehmende Siege errungen, der<br />

russische Liberalismus keinen einzigen. Die erste verstand zu kämpfen,<br />

und ihre Niederlagen waren stets bedeutungsvolle, historische Nieder-


270 W. J. <strong>Lenin</strong><br />

lagen ganz Rußlands, wobei selbst nach einer Niederlage stets ein Teil der<br />

Forderungen der Demokratie erfüllt wurde. Der zweite, d.h. der Liberalismus,<br />

verstand nidbt zu kämpfen, und er hat in der russischen Geschichte<br />

weiter nichts erreicht, als daß die Fronherren die Liberalen immer<br />

verächtlich behandelten - wie die Herren die Knechte.<br />

überprüfen wir diese allgemeinen Überlegungen und prinzipiellen<br />

Grundvoraussetzungen an Hand des kadettischen Agrarprogramms. Die<br />

„Prawda" erklärte den Kadetten, daß ihre undemokratische Einstellung<br />

durch die <strong>Red</strong>en des Kadetten Beresowski 2 zur Agrarfrage in der<br />

III. Duma bewiesen werde.*<br />

Die kadettische „Retsch" antwortete in Nr. 208: „Die <strong>Red</strong>e von Beresowski<br />

2 war bekanntlich eine Bestätigung des Programms der Kadetten<br />

zur Agrarfrage."<br />

Seht, wie schlau diese Antwort ist! Wir erklärten, daß die <strong>Red</strong>e von<br />

Beresowski 1** ein Musterbeispiel «ndemokratischer Fragestellung ist.<br />

Die „Retsch" weiß sehr wohl, was nach unserer Auffassung das Merkmal<br />

des Liberalismus im Gegensatz zum Demokratismus ist. Aber sie denkt<br />

gar nicht daran, die Frage ernsthaft zu untersuchen, festzustellen, welche<br />

Unterscheidungsmerkmale zwischen Liberalismus und Demokratismus sie,<br />

die „Retsch", für richtig hält, und zu prüfen, ob diese Merkmale in der<br />

<strong>Red</strong>e von Beresowski 1 erkennbar sind. Nichts davon tut die „Retsch".<br />

Sie weicht der Frage aus und zeigt dadurch prinzipielle Schwäche und ein<br />

schlechtes Gewissen.<br />

Die Verantwortlichkeit der ganzen Kadettenpartei für die <strong>Red</strong>e von<br />

Beresowski 1 aber wagte nicht einmal die „Retsch" zu leugnen. Sie gab<br />

diese Verantwortlichkeit zu, mußte sie zugeben, indem sie die <strong>Red</strong>e von<br />

Beresowski 1 als „Bestätigung des Programms der Kadetten zur Agrarfrage"<br />

bezeichnete.<br />

Ausgezeichnet. So zitieren wir denn die wichtigsten Stellen aus dieser<br />

unstreitig und offiziell kadettischen <strong>Red</strong>e des Mitglieds der III. Duma<br />

A. J. Beresowski, eines Gutsbesitzers aus Simbirsk. Wir wollen, indem wir<br />

die Äußerungen des <strong>Red</strong>ners analysieren, prüfen, ob er auf einem demo-<br />

* Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 235. Die Jled.<br />

** Sowohl die „Prawda" als auch die „Retsch" irrten, als sie von Beresowski 2<br />

sprachen. Der Kadett ist Beresowski i, Alexander Jeleasarowitsch, Gutsbesitzer<br />

aus Simbirsk.


Die Kadetten und die Agrarfrage 271<br />

kratischen oder einem liberalen Standpunkt steht. Und wir werden sehen,<br />

ob es den Herren Kadetten in ihrer umfangreichen Presse oder in Versammlungen<br />

gelingen wird, uns zu widerlegen.<br />

„Meiner tiefen Oberzeugung nach", sagte A. J. Beresowski im Oktober 1908<br />

in der III. Duma (wir zitieren nach dem stenografischen Bericht der „Rossija" 73 ),<br />

„ist dieser Entwurf" (der Agrarentwurf der Kadetten) „viel vorteilhafter auch<br />

für die Grundbesitzer" (und nicht nur für die Bauern), „und ich sage das,<br />

meine Herren, weil ich die Landwirtschaft kenne, weil ich mich mein Leben lang<br />

damit beschäftigt habe und selbst Land besitze. Für eine hochentwickelte<br />

Landwirtschaft wäre der Entwurf der Partei der Volksfreiheit zweifellos von<br />

größerem Nutzen als die jetzige Ordnung. Man darf nicht die nackte Tatsache<br />

der zwangsweisen Enteignung herausgreifen, sich darüber empören und sagen,<br />

das sei Gewalt, sondern man muß sehen und beurteilen, worauf das hinausläuft,<br />

was in unserem Entwurf vorgeschlagen wird, und wie diese zwangsweise<br />

Enteignung durdbgefübrt wird..."<br />

Wir haben diese dank ihrer seltenen Wahrhaftigkeit wirklich goldenen<br />

Worte des Herrn A. J. Beresowski hervorgehoben. Wer sich an die <strong>Red</strong>en<br />

und Artikel der bolschewistischen Marxisten gegen die Kadetten in der<br />

Zeit der I. Reichsduma erinnert oder sich die Mühe macht, diese Artikel<br />

jetzt zu lesen, der wird zugeben müssen, daß Herr A. J. Beresowski im<br />

Jahre 1908 glänzend die Bolschewild von 1906 bestätigte. Und wir nehmen<br />

es auf uns, vorauszusagen, daß jede einigermaßen objektive Geschichtsschreibung<br />

ihre Politik dreifach bestätigen wird.<br />

Wir sagten im Jahre 1906: Glaubt nicht dem Klang des Wortes<br />

„Zwangsenteignung". Die ganze Frage ist die, wer wen zwingen wird.<br />

Wenn die Gutsbesitzer die Bauern zwingen werden, für schlechten Boden<br />

den dreifachen Preis zu zahlen, nach dem Muster der berüchtigten Ablösung<br />

von <strong>18</strong>61, dann wird eine solche „Zwangsenteignung" eine Qutsherrlidbe<br />

Reform sein, vorteilhaft für die Gutsbesitzer und verheerend<br />

für die Bauern.*<br />

Die Liberalen, die Kadetten, stellten die Frage der zwangsweisen Enteignung,<br />

indem sie zwischen den Gutsbesitzern und den Bauern, zwischen<br />

den Schwarzhundertern und der Demokratie lavierten. Im Jahre f906<br />

wandten sie sich an die Demokratie in dem Bestreben, ihre „Zwangsenteignung"<br />

für etwas Demokratisches auszugeben. Im Jahre 1908 wen-<br />

• Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 10, S. 4<strong>18</strong>-421. Die %ed.


272 W. J. <strong>Lenin</strong><br />

den sie sich an die Erzreaktionäre der III. Reichsduma und erklären ihnen,<br />

daß man sehen müsse, „worauf das hinausläuft und wie diese zwangsweise<br />

Enteignung durchgeführt wird".<br />

Hören wir uns den offiziellen Sprecher der Kadettenpartei an:<br />

„Nehmen Sie den Entwurf der 42 Mitglieder der I. Reichsduma", sagte<br />

A. J. Beresowski, „er enthielt lediglich" (eben, Herr Beresowski!) „die Anerkennung<br />

der Notwendigkeit, in erster Linie jenen Boden zu enteignen, den<br />

seine Besitzer nicht selbst bestellen. Ferner unterstützte die Partei der Volksfreiheit<br />

die Bildung örtlicher Kommissionen, die binnen einer bestimmten Frist<br />

feststellen sollten, welche Ländereien zu enteignen sind und welche nicht und<br />

wieviel Boden die Bauern brauchen, um zufriedengestellt zu sein. Diese Kommissionen<br />

sollten zur Hälfte aus Bauern und zur anderen Hälfte aus Nicht-<br />

Bauern bestehen."<br />

Herr A, J. Beresowski hat eine Kleinigkeit nicht gesagt. Jeder, der in<br />

dem Agrarentwnrf Kutlers (des anerkannten Repräsentanten der Kadettenpartei<br />

in der Agrarfrage), veröffentlicht in <strong>Band</strong> II der von den Kadetten<br />

herausgegebenen „Agrarfrage", nachlesen will, wird feststellen, daß<br />

die Vorsitzenden der Kommissionen nach diesem Entwurf von der Regierung<br />

eingesetzt werden sollten, d. h. ebenfalls Vertreter der Gutsbesitzer<br />

gewesen wären.<br />

Aber nehmen wir sogar an, A. J. Beresowski habe die Anschauungen<br />

der Kadetten präziser ausgedrückt als Kutler. Nehmen wir an, A. J. Beresowski<br />

habe alles ausgesprodien, und die Kadetten wären tatsächlich für<br />

Kommissionen, die paritätisdb aus Bauern und „Nicht-Bauern" ohne Vertreter<br />

der Klassenregierung zusammengesetzt sind. Würde dann etwa<br />

irgend jemand behaupten wollen, daß ein solcher Entwurf demokratisch<br />

sei??<br />

Demokratie ist Herrschaft der Mehrheit. Als demokratisch können nur<br />

allgemeine, direkte und gleiche Wahlen bezeichnet werden. Demokratisch<br />

sind nur solche Kommissionen, die von der gesamten Bevölkerung auf der<br />

Grundlage des allgemeinen Wahlrechts gewählt worden sind. Das ergibt<br />

sich aus den allgemeinen, grundlegenden, elementaren Wahrheiten des<br />

Demokratismus so unbestreitbar, daß es sogar sonderbar anmutet, alles<br />

das den Herren Kadetten vorzukauen.<br />

Auf dem Papier erkennen die Kadetten das allgemeine Wahlrecht an.<br />

In der Praxis erkennen sie in einer der wichtigsten Fragen der russischen


Die Xadelten und die Agrarfrage 273<br />

Befreiungsbewegung, der Agrarfrage, das allgemeine Wahlrecht nidrt an!<br />

Keinerlei Ausflüchte und Vorbehalte schaffen diese Tatsache, die von erstrangiger<br />

Bedeutung ist, aus der Welt.<br />

Aber man glaube nicht, daß das nur eine Abweichung der Kadetten<br />

vom Prinzip des allgemeinen Wahlrechts, vom Prinzip der Demokratie<br />

sei. Nein. Sie legen ein anderes Prinzip zugrunde, das Prinzip der .Vereinbarung"<br />

des Alten mit dem Neuen, des Gutsbesitzers mit dem Bauern,<br />

der Schwarzhunderter mit der Demokratie. Die eine Hälfte den einen und<br />

die andere Hälfte den anderen - das ist die Parole der Kadetten.<br />

Und das eben ist ein typisches Prinzip der schwankenden liberal-monarchistischen<br />

Bourgeoisie. Sie will nicht die Aufhebung der Privilegien des<br />

Mittelalters, sondern ihre Aufteilung unter den Gutsbesitzern und der<br />

Bourgeoisie. Kann man denn wirklich bestreiten, daß es Erhaltung und<br />

Bestätigung eines mittelalterlichen Privilegs bedeutet, wenn man den<br />

„Nicht-Bauern" (d. h. den Gutsbesitzern, um es geradeheraus zu sagen)<br />

die Gjleidabeit mit den Bauern, mit 7 /io der Bevölkerung, einräumt? Worin<br />

denn sonst bestanden die mittelalterlichen Privilegien, wenn nicht darin,<br />

daß ein einziger Gutsbesitzer in der Politik ebensoviel zu sagen hatte wie<br />

Hunderte und Tausende Bauern?<br />

Die Qleidbheit der Gutsbesitzer und der Bauern ermöglicht objektiv<br />

keinen anderen Ausweg als die Aufteilung der Privilegien unter den Gutsbesitzern<br />

und der Bourgeoisie. Gerade so war es im Jahre <strong>18</strong>61: Die<br />

Gutsbesitzer gestanden Viooo ihrer Privilegien der aufkommenden Bourgeoisie<br />

zu, während die Masse der Bauern für ein halbes Jahrhundert<br />

(<strong>18</strong>61 + 50 = 1911) zum Elend, zu Rechtlosigkeit, Erniedrigung, langsamem<br />

Hungertod, zur Leistung erpreßter Abgaben u. dgl. m. verurteilt<br />

wurde. Man darf außerdem nicht vergessen, daß die Gutsbesitzer, als sie<br />

<strong>18</strong>61 der Bourgeoisie Viooo ihrer politischen Privilegien zugestanden (die<br />

Semstwo-, die Städte-, die Gerichtsreform usw.), selbst begannen, sich<br />

ökonomisch in Bourgeois zu verwandeln, indem sie Branntweinbrennereien<br />

und Zuckerfabriken aufbauten, in die Vorstände von Aktiengesellschaften<br />

gingen usw.<br />

Wir werden gleich sehen, welchen endgültigen Ausweg Herr A. J. Beresowski<br />

selber aus dieser „Gleichheit" zwischen der geringen Zahl von<br />

Gutsbesitzern und der riesigen Zahl von Bauern gewiesen hat. Zuvor aber<br />

müssen wir noch die ganze Bedeutung der Worte Beresowskis hervor-


274 W. J. <strong>Lenin</strong><br />

heben, daß diese berüchtigten Kommissionen „feststellen" sollten, „welche<br />

Ländereien zu enteignen sind und weldbe nidht und wieviel Boden die<br />

Bauern braudien, um zufriedengestellt zu sein".<br />

Alles Gerede von verschiedenen „Nonnen" der Landzuteilung an die<br />

Bauern usw. - alles das sind dieselben leeren Worte, mit denen, nebenbei<br />

bemerkt, nidit selten unsere volkstümlerischen Intellektuellen, auch<br />

die am weitesten „links" stehenden nicht ausgenommen, sich und die<br />

Bauern betäuben. Von ernster Bedeutung ist nur eine Frage:" werden alle<br />

Ländereien der Enteignung unterliegen oder nicht alle? und im letzteren<br />

Falle: wer wird bestimmen, „weldie nicht"? (Ich spreche schon gar nicht<br />

davon, wer die Höhe der Loskaufzahlung bestimmen wird, denn die<br />

Ablösung der mittelalterlichen Privilegien selbst ist eine zwar bürgerlichliberale,<br />

in ihrem Kern, in ihrer Grundlage aber absolut undemokratische,<br />

antidemokratische Sache.)<br />

All die bis ins einzelne geprüften, beamtenmäßig ausgefeilten Paragraphen<br />

der kadettischen Agrarentwürfe sind leerer Formelkram. Ernst<br />

zu nehmen ist nur eine Frage: wer wird bestimmen, weldie Ländereien<br />

unter weldien Bedingungen der Enteignung unterliegen? Ein noch so<br />

idealer Gesetzentwurf ist, wenn er diese Frage umgeht, bloße Scharlatanerie,<br />

nichts weiter.<br />

Wie löst nun Herr Beresowski diese einzige ernsthafte Frage? Es ist<br />

doch klar, daß es bei einer Gleichheit zwischen Bauern und „Nicht-Bauern"<br />

in den meisten Fällen zu keiner Vereinbarung kommen wird - und über<br />

eine gütliche Vereinbarung der Fronherren mit den gestrigen Leibeigenen<br />

braucht man keine Gesetze zu schreiben. Zu einer „güllidien Vereinbarung"<br />

mit ihnen sind die Fronherren auch ohne alle Gesetze immer bereit.<br />

Herr Beresowski hat den Erzreaktionären der III. Reichsduma auf diese<br />

brennende Frage eine klare Antwort gegeben. Hören Sie weiter seine<br />

<strong>Red</strong>e:<br />

„Dadurch hätte man natürlich in gemeinsamer konkreter Arbeit an den<br />

einzelnen Orten sowohl den Umfang des für die" Enteignung ,in JraQe kommenden'<br />

Bodens" (hört!) „als auch die Menge des für die Bauern notwendigen<br />

Bodens feststellen können" (notwendig wozu? zur Leistung der Abgaben? damit<br />

waren die Fronherren schon immer einverstanden!), „und letztlich würden<br />

sich auch die Bauern davon überzeugt haben, in welchem Maße ihren gerechten"<br />

(hm! hm! Gott bewahre uns vor der Herrschaft Liebe, der Herrschaft


Die Kadetten und die Agrarfrage 275<br />

Zorn und vor der „Gerechtigkeit der Gutsbesitzer") „Forderungen entsprochen<br />

werden kann. Dann hätte dieses ganze Material durch die Reichsduma und"<br />

(hört! hört!) „den Reichsrat seinen Weg genommen und nach Überarbeitung"<br />

(hm! hm!) „endgültige Sanktion erhalten" (d. h. Gesetzeskraft). „Das Resultat<br />

dieser planmäßigen Arbeit" (wahrlich, was könnte „planmäßiger" sein!) „wäre<br />

zweifellos eine wirkliche Befriedigung der tatsächlichen Bedürfnisse der Bevölkerung,<br />

eine damit verbundene Beruhigung und die Erhaltung der hochentwickelten<br />

Wirtschaften, deren Zerstörung ohne zwingende Notwendigkeit die Partei<br />

der Volksfreibeit niemals beabsichtigt hat."<br />

So sprach der Vertreter der „Partei der Volksfreiheit", die man von<br />

Rechts wegen Partei zur Beruhigung der Gutsbesitzer nennen sollte.<br />

Hier ist deutlich genug zu erkennen, daß die kadettische „Zwangsenteignung"<br />

Zwang der Qutsbesitzer gegen die dauern bedeutet. Wer das<br />

leugnen wollte, der müßte beweisen, daß im Reichsrat die Bauern die<br />

Gutsbesitzer überwiegen! „Gleichheit" der Gutsbesitzer mit den Bauern<br />

zu Anfang, und am Schluß - wenn eine gütliche Vereinbarung nicht erfolgt<br />

ist - „Überarbeitung" des Entwurfs durch den Reichsrat.<br />

„Eine Zerstörung der hochentwickelten Wirtschaften ohne zwingende<br />

Notwendigkeit hat die Partei der Volksfreiheit niemals beabsichtigt", erklärte<br />

der Herr Gutsbesitzer A. J. Beresowski, der sicherlich seine Wirtschaft<br />

für „hochentwickelt" hält. Wir aber fragen: Wer wird bestimmen,<br />

wessen Wirtschaft in welchen Teilen „hochentwickelt" ist und wo die<br />

„zwingende Notwendigkeit" beginnt? Die Antwort: Das werden zunächst<br />

die paritätisch aus Gutsbesitzern und Bauern zusammengesetzten Kommissionen<br />

bestimmen und dann der Reichsrat...<br />

Wie nun? Sind die Kadetten eine demokratische Partei oder eine<br />

konterrevolutionäre Partei der liberal-monarchistischen Bourgeoisie? Sind<br />

sie eine Partei der „Volksfreiheit" oder eine Partei zur Beruhigung der<br />

Gutsbesitzer?<br />

Die russische bürgerliche Demokratie, d. h. die Trudowiki und die Volkstümler<br />

aller Schattierungen, beging einen großen Fehler, als sie vom<br />

Übergang der Gutsbesitzerländereien an die Bauern die „Ausgleichung",<br />

die Verbreitung der „Arbeitsprinzipien" usw. erwartete, ein Fehler war<br />

auch, daß sie durch leeres Gerede über verschiedene „Normen" des<br />

Grundbesitzes die Frage verwischte, ob es einen mittelalterlichen Grundbesitz<br />

geben soll oder nicht, aber diese Demokratie half dem Neuen, das


276 W.I. Centn<br />

Alte zu verdrängen, und sie fabrizierte nicht Entwürfe zur Erhaltung<br />

einer Reihe von Privilegien für das Alte.<br />

Nein, zu leugnen, daß die Kadetten keine demokratische Partei, sondern<br />

eine konterrevolutionäre Partei der liberal-monarchistischen Bourgeoisie<br />

sind, heißt geradezu, allgemein bekannte Tatsachen verhöhnen.<br />

Abschließend wollen wir kurz eine Frage erörtern, die vielleicht manche<br />

naive Kadetten stellen könnten. Wenn die kadettische „Zwangsenteignung"<br />

Zwang der Gutsbesitzer gegen die Bauern bedeutete, warum hat<br />

dann die Mehrheit der Gutsbesitzer sie abgelehnt?<br />

Die Antwort auf diese Frage gab, ohne es selbst zu wollen, Herr Miljukow<br />

in seiner <strong>Red</strong>e am 31. Oktober 1908 in der III. Reichsduma, in der<br />

er als Historiker sprach. Der Historiker Miljukow mußte zugeben, daß bis<br />

Ende 1905 sowohl die Staatsmacht als auch die Qutsbesitzer die Bauernschaft<br />

für eine konservative Kraft gehalten haben. In der Peterhofer Beratung<br />

vom 19. bis 26. Juli 1905 - diese Beratung bereitete die Bulyginsche<br />

Duma vor - waren die Säulen des künftigen Rates des vereinigten Adels,<br />

A. A. Bobrinski, Naryschkin usw., dafür, in der Duma das Übergewicht<br />

den "Bauern zu geben. Witte stellte sich damals auf den Standpunkt, daß<br />

die Stütze der Selbstherrschaft nicht der Adel und nicht die Bourgeoisie<br />

sein soll (und sein kann), sondern die „bäuerliche Demokratie".*<br />

„Meine Herren", sagte Herr Miljukow, „das ist eine interessante Situation,<br />

weil nämlich in diesem Augenblick die Regierang an die Zwangsenteignung<br />

denkt (Stimmen: Kutler). Ja, Kotier, meine Herren ... Xutler hatte sidh an die<br />

Ausarbeitung eines Entwurfs über die Zwangsenteignung gemadot.<br />

...Er hat gearbeitet, meine Herren: die Arbeit dauerte, ich weiß nicht,<br />

einen oder zwei Monate - bis Ende i905. Sie wurde ungehindert fortgesetzt<br />

bis zu den bekannten Moskauer Ereignissen, nach denen sich die Stimmung<br />

spürbar änderte."<br />

Am 4. Januar 1906 trat der Kongreß der Adelsmarschälle zusammen.<br />

Er lehnte Kuders Entwurf, den er nur vom Hörensagen und auf Grund<br />

privater Mitteilungen kannte, ab. Der Kongreß nahm sein eigenes Agrar-<br />

• Siehe den „Bericht der Fraktion der Volksfreiheit" über die 2. Sitzungsperiode<br />

der III. Reichsduma (St. Petersburg 1909), S. 43. Zu unserem Bedauern,<br />

zu unserem großen Bedauern, haben die Kadetten die <strong>Red</strong>en Beresowskis<br />

nidht nachgedruckt...


Die "Kadetten und die Agrarfrage 177<br />

Programm an (das künftige „Stolypinsche"). Im Februar 1906 demissioniert<br />

Minister Kutler. Am 30. März 1906 wird das Kabinett Witte (mit<br />

dem ,,Bauern"programm) durch das Kabinett Gurko-Goremykin (mit dem<br />

„Stolypinsdien", adlig-bürgerlichen Programm) abgelöst.<br />

So sehen die Tatsachen aus, die der Historiker Miljukow zugeben<br />

mußte.<br />

Aus diesen Tatsachen ergibt sich eine klare Schlußfolgerung. Der „kadettische"<br />

Entwurf über die Zwangsenteignung war ein Entwurf des<br />

Ministers Kutler im Kabinett Witte, der von einer sich auf die Bauern<br />

stützenden Selbstherrschaft träumte! Als die Bauerndemokratie im Aufschwung<br />

begriffen war, suchte man sie, diese Demokratie, mit dem Entwurf<br />

über die „friedliche" Enteignung, die „Zwangsenteignung", die<br />

„zweite Befreiung" - mit dem Entwurf des bürokratischen „Zwangs der<br />

Gutsbesitzer gegen die Bauern" zu kaufen, zu korrumpieren, zu betrügen.<br />

Das also sagen uns die historischen Tatsachen. Der kadettische Agrarentwurf<br />

ist das Projekt eines Ministers unter Witte, in Bauerncäsarismus<br />

zu „machen".<br />

Die Bauerndemokratie hat die Hoffnungen nicht gerechtfertigt. Sie hat<br />

gezeigt - in der I. Reichsduma wohl noch klarer als im Jahre 1905 -, daß<br />

sie seit <strong>18</strong>61 Bewußtsein erlangt hat. Bei einer solchen Bauernschaft wurde<br />

der Kutlerisch-kadettisdie Entwurf unsinnig: die Bauern würden sich nicht<br />

nur nicht auf alte Weise betrügen lassen, sondern würden sogar die kadettischen<br />

örtlichen Bodenkommissionen benutzen, um einen neuen Vorstoß<br />

zu organisieren.<br />

Die Adelsmarschälle entschieden am 4. Januar 1906 richtig, daß die<br />

Vorlage der liberalen Gutsbesitzer (Kutler und Co.) eine hoffnungslose<br />

Sache ist, und verwarfen sie. Der Bürgerkrieg ist über die liberal-bürokratische<br />

Projektemadierei binausgewadhsen. Der Klassenkampf hat die<br />

Träumereien von einem „sozialen Frieden" hinweggefegt und die Frage in<br />

aller Schärfe gestellt: „Entweder nach Stolypinsdier Art - oder nach trudowikischer<br />

Art".<br />

„Newskaja Swesda" Nr. 22, Nadb dem Jext der<br />

i9. August 1912. .Newskaja Swesda".<br />

Untersdhrift-.'W.Trey.


278<br />

EINE SCHLECHTE VERTEIDIGUNG<br />

In Nummer 86 der „Prawda" vom 9. August haben wir in dem Artikel<br />

„Streikkampf und Arbeitslohn"* die Angaben unserer offiziellen Statistik<br />

über den durchschnittlichen Arbeitslohn der russischen Fabrikarbeiter im<br />

ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts angeführt.<br />

Es ergab sich, daß die Arbeiter durch den berühmten Streikkampf des<br />

Jahres 1905 eine Erhöhung ihres Arbeitslohns von 206 Rubel (im Jahresdurchschnitt<br />

pro Arbeiter) auf 238, das heißt um 32 Rubel oder um<br />

15,5%, erreichten.<br />

Unsere Schlußfolgerung gefiel der amtlichen Zeitung „Rossija" nicht.<br />

bi der Nummer vom 15. August widmet sie ihren Leitartikel der ausführlichen<br />

Wiedergabe der von uns angeführten Daten (wobei sie die<br />

Zeitung, der diese Daten entnommen wurden, aus irgendeinem Grunde<br />

nicht genau bezeichnet) und versucht, unsere Schlußfolgerungen zu widerlegen.<br />

„Daß der Arbeitslohn im Jahre 1906 einen entschiedenen Sprung nach<br />

oben gemacht hat, ist natürlich wahr", schreibt die „Rossija", „aber wahr<br />

ist auch, daß im Zusammenhang damit und zur selben Zeit auch alle<br />

Waren und Lebensmittel sofort im Preise stiegen..." Und die „Rossija"<br />

bringt weiter ihre Berechnung, wonach der Arbeitslohn um 20% stieg,<br />

während sich die Steigerung der Lebenshaltungskosten auf 24% belief.<br />

Die Berechnung der „Rossija" ist in jeder Beziehung sehr falsch. In Wirklichkeit<br />

ist das Ansteigen des Arbeitslohns weniger groß, die Steigerung<br />

der Lebenshaltungskosten aber größer.<br />

Doch wir wollen jetzt nicht die Fehler der „Rossija" korrigieren. Nehmen<br />

wir ihre Zahlen.<br />

* Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 247/248. Dse <strong>Red</strong>.


Eine sdoledite Verteidigung 279<br />

„Sie sprechen durchaus nicht dafür", schreibt die „Rossija", „daß die Arbeiter<br />

etwas gewonnen haben. Und wenn man nach ihren häufigen Klagen über die<br />

schweren Zeiten urteilt, kann man sogar eher zu der umgekehrten Schlußfolgerung<br />

kommen: nämlich, daß sie kaum etwas gewonnen haben."<br />

Sonderbare Überlegungen, die die „Rossija" da anstellt, nicht wahr?<br />

Wenn der Arbeitslohn weniger bedeutend stieg als die Preise für Lebensmittel,<br />

so ist also eine noch bedeutendere Erhöhung des Arbeitlohns<br />

notwendig! Ist dies denn nicht offensichtlich?<br />

Auf welche Weise können die Arbeiter denn eine Erhöhung des Arbeitslohns<br />

erreichen, wenn nicht durch wirtschaftlichen Kampf und durch<br />

Streiks? Hat die „Rossija" je Kapitalisten gesehen, die bei einem Ansteigen<br />

der Lebensmittelpreise von sidb aus den Arbeitern eine Erhöhung ihres<br />

Lohns angeboten hätten?<br />

Die „Rossija" erkennt an, daß der Arbeitslohn im Jahre 1906 einen<br />

entschiedenen Sprung nach oben gemacht hat, d. h. dank dem ausgedehnten,<br />

mit beispielloser Hartnäckigkeit geführten Streikkampf der Massen.<br />

Die Preise für Lebensmittel aber begannen schon vor 1905 zu steigen.<br />

Die Getreidepreise zum Beispiel sind in Rußland seit 1903 nicht gefallen,<br />

sondern nur gestiegen. Die Preise für tierische Produkte sind seit 1901<br />

nicht gefallen, sondern nur gestiegen.<br />

Demnach haben die Arbeiter ausschließlich durch den Streikkampf erreicht,<br />

daß der Arbeitslohn nach dem Ansteigen der Preise für Brot und<br />

andere Produkte ebenfalls zu steigen begann. Wenn die Erhöhung des<br />

Arbeitslohns ungenügend ist - und dies gibt sogar die „Rossija" zu -, so<br />

ist notwendig, ihn weiter zu erhöhen.<br />

„Trawda" Nr. 96, Tiadb dem Text der „Trawda".<br />

21. August 1912.<br />

Unterschrift: 'W.


280<br />

DIE LIQUIDATOREN<br />

UND DIE „EINHEIT" 74<br />

Die in diesen Tagen erschienene siebente Nummer des „Newski Golos"<br />

kann man nicht anders als hysterisch nennen. Fast zwei Seiten der Zeitung<br />

enthalten statt einer Chronik des Arbeiterlebens gemeinstes Geschimpfe<br />

über die „Prawda" und die „Newskaja Swesda". Und das Kuriose ist,<br />

daß dieses Geschimpfe unter der Losung der „Einheit" der Arbeiterklasse,<br />

der „Einheit" der Wahlkampagne steht.<br />

Meine Herren - antworten -wir den Liquidatoren -, die Einheit der<br />

Arbeiterklasse ist ein hohes Prinzip. Aber es ist wirklich lächerlich, -wenn<br />

ihr der Arbeiterklasse mit eurem Geschrei nach „Einheit" die Plattform<br />

und die Kandidaten der Gruppe liberaler liquidatorischer Intellektueller<br />

aufzwingen wollt.<br />

Die „Prawda" hat an Hand exakter Zahlen nachgewiesen: „Das Iiquidatorentum<br />

ist in der Arbeiterbewegung ein Nichts; stark ist es nur unter<br />

der liberalen Intelligenz" („Prawda" Nr. 80 vom 1. August 1912*). Jetzt<br />

schimpft der „Newski Golos" Nr. 7 vom 17. August über diese Artikel<br />

der „Prawda" und nennt sie „feuilletonistische", „Chlestakowsche"** usw.<br />

Artikel. Die einfache Tatsache jedoch, daß die „Prawda" in einem halben<br />

Jahr 504 Sammlungen von Arbeitergruppen für sich verbuchen kann, die<br />

Liquidatorenzeitungen aber nur ganze 15, versucht der „Newski Golos"<br />

gar nicht erst zu bestreiten.<br />

Welche andere Schlußfolgerung aber kann man daraus ziehen als die,<br />

daß das Geschrei, der. Lärm, das Geschimpfe und die Rufe nach Einheit,<br />

daß all das nur die absolute und endgültige Ohnmacht der Liquidatoren in<br />

der Arbeiterklasse verdecken soll?<br />

* Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. <strong>18</strong>4-<strong>18</strong>8. Die <strong>Red</strong>.<br />

** Chlestakow - Hauptgestalt in Gogols „Revisor". Der Tibers.


Die Liquidatoren und die Einheit 281<br />

Wie sehr uns der „Newski Golos" auch beschimpfen mag, wir werden<br />

' die Arbeiter ruhig auf unwiderlegbare Tatsachen verweisen. Man sehe sich<br />

die Sammlungen an, die in Nr. 7 des „Newski Golos" angeführt sind und<br />

im Juli und August „zur materiellen Unterstützung der Zeitung" aufgebracht<br />

wurden (d. h. - geradezu gesagt - für die Neuherausgabe der<br />

Liquidatorenzeitung, die infolge mangelnder Unterstützung durch die<br />

Arbeitermassen eingegangen war). Der Bericht über diese Sammlungen<br />

weist 52 Beiträge mit einer Gesamtsumme von 827 Rbl. 11 Kop. aus.<br />

Davon sind nur zwei Grnppensammlungen: die eine von einer „Moskauer<br />

Initiativgruppe" - 35 Rbl., die andere von einer „ Qruppe von freunden<br />

aus Paris" - 8 Rbl. 54 Kop. Von den übrigen 50 Einzelbeiträgen haben 35<br />

eine Summe von 708 Rbl. erbracht, das heißt, imDurdbsdbnitt kommen<br />

über 20 Rubel auf jeden "Beitrag.<br />

Soviel auch der „Newski -Golos" zürnen und schimpfen mag, Tatsachen<br />

bleiben Tatsachen. Daß die „Initiativgruppen" Liquidatorengrappen<br />

sind, die sich von der Partei der Arbeiterklasse abgespalten haben, ist<br />

allgemein bekannt. Das hat sogar Plechanow schon im April 1912 offen<br />

und unumwunden zugegeben.<br />

Die Gruppe der abgespaltenen Liquidatoren hat mit Hilfe von Spenden<br />

bürgerlich-liberaler Intellektueller ihre Zeitung für den Kampf gegen die<br />

Arbeiterpresse wieder herausgeben können!! Und diese Gruppe schreit<br />

nach „Einheit". Wie soll man da nicht lachen!<br />

„Trawda" Nr. 99, TJad) dem 7ext der „Prawda".<br />

24. August 1912.<br />

<strong>Lenin</strong>, Werte, Bd. <strong>18</strong>


282<br />

LEKTION<br />

OBER DIE „KADETTENFRESSERET<br />

Die „Prawda" und die „Newskaja Swesda" haben den Herrschaften<br />

Blank, Korobka, Kuskowa und Co. im Zusammenhang mit ihren schmutzigen<br />

liberalen Ausfällen gegen die Arbeiterpresse eine harte, aber durchaus<br />

verdiente Abfuhr erteilt.<br />

Mögen jedoch die Antworten an die „Herrschaften, die die Arbeiter<br />

boykottieren", noch so gut gewesen sein, übriggeblieben ist noch eine<br />

äußerst wichtige prinzipielle Frage, die einer Untersuchung bedarf. Die<br />

Herrschaften Blank und Kuskowa suchten sie mit ihren groben Lügen zu<br />

übergehen, zu verschleiern. Aber wir dürfen es nicht zulassen, daß prinzipielle<br />

Fragen vertuscht werden, wir müssen ihre ganze Bedeutung aufdecken<br />

und unter dem Haufen der von den Blank und Kuskowa besorgten<br />

Entstellungen, Verleumdungen und Beschimpfungen die Wurzeln der<br />

einen jeden klassenbewußten Arbeiter interessierenden Meinungsverschiedenheiten<br />

hervorholen.<br />

Eine dieser Wurzeln kann man mit dem Wort „Kadettenfresserei" ausdrücken.<br />

Man höre sich die einsamen, aber beharrlichen Stimmen der<br />

Liquidatoren an, die Bemerkungen der Öffentlichkeit, die in parteilicher<br />

Hinsicht noch nicht endgültig Stellung bezogen hat - und man wird häufig,<br />

wenn nicht einen Vorwurf gegenüber der „Prawda" und der „Newskaja<br />

Swesda", so doch ein Kopf schütteln über ihre „Kadettenfresserei" finden.<br />

Untersuchen wir also die prinzipielle Frage der „Kadettenfresserei".<br />

Zwei Umstände erklären vor allem und in erster Linie das Auftauchen<br />

eines solchen Vorwurfs gegenüber der „Prawda": 1. das mangelnde Verständnis<br />

für das Wesen der Frage der „zwei bzw. drei Lager" in der<br />

Wahlkampagne und in der gegenwärtigen Politik schlechthin und 2. das


Lektion über die „Xadettenfresserei" 283<br />

Außerachtlassen jener besonderen Bedingungen, die heute für die marxistische<br />

Presse, für die Zeitungen der Arbeiterdemokratie, bestehen.<br />

Beginnen wir bei der ersten Frage.<br />

Alle Liberalen stehen auf dem Boden der Theorie der zwei Lager, von<br />

denen das eine für die Verfassung und das andere gegen die Verfassung<br />

ist. Von JMiljukow bis Isgojew, von Prokopowitsch bis M. M. Kowalewsld<br />

stimmen alle darin überein. Und man darf nicht vergessen, daß die<br />

Theorie der zwei Lager zwangsläufig dem Klassenwesen unseres ganzen<br />

Liberalismus entspringt.<br />

Worin besteht dieses Wesen vom ökonomischen Standpunkt aus gesehen?<br />

Darin, daß der Liberalismus eine Partei der Bourgeoisie ist, die die<br />

Bewegung der bäuerlichen Massen und noch mehr die Bewegung der<br />

Arbeiter fürchtet, denn diese Bewegung ist imstande (schon jetzt, in<br />

nächster Zukunft, ohne Änderung der ganzen kapitalistischen Ordnung),<br />

den Umfang und die Formen der Ökonomisten Privilegien der Bourgeoisie<br />

einzuschränken. Ein ökonomisches Privileg der Bourgeoisie aber ist das<br />

Eigentum am Kapital, das in Rußland zwei- bis dreimal mehr Profit abwirft<br />

als in Westeuropa.<br />

Will man diesen „russischen" Extraprofit aufrechterhalten, so darf man<br />

die Selbständigkeit des dritten Lagers nicht zulassen.<br />

Die Bourgeoisie vermag zum Beispiel durchaus auch beim Achtstundentag<br />

zu herrschen. Ihre Herrschaft wäre dann sogar vollständiger, reiner,<br />

ausgedehnter, freier als beim Zehn- bzw. Elfstundentag. Aber die Dialektik<br />

des Klassenkampfes läßt die Bourgeoisie niemals ohne äußerste Notwendigkeit,<br />

ohne die letzte Notwendigkeit den ruhigen, zur Gewohnheit<br />

gewordenen, einträglichen- (in Oblomowscher* Weise einträglichen) Zehnstundentag<br />

durch den Achtstundentag ersetzen.<br />

Das vom Achtstundentag Gesagte gilt ebenso auch für die obere Kammer,<br />

für den gutsherrlichen Grundbesitz und vieles andere.<br />

Die Bourgeoisie wird auf die altrussischen ruhigen, bequemen, einträglichen<br />

Ausbeutungsformen nicht verzichten, um sie durch aussdhließlidj<br />

europäische, ausschließlich demokratische zu ersetzen (denn die Demokratie<br />

ist - die hitzigen Helden von den „Sawety" mögen es mir nicht übelnehmen<br />

- ebenfalls eine Form der bürgerlichen Herrschaft), sie wird nicht<br />

verzichten, sagen wir, ohne die äußerste, die letzte Notwendigkeit.<br />

* Oblomow - Titelheld eines Romans von I. A. Gontscharow. Der Tibers.


284 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />

Diese Notwendigkeit kann nur geschaffen werden durch die Bewegung<br />

der Massen, die ein gewisses System angenommen und eine gewisse Kraft<br />

erreicht hat. Und die Bourgeoisie, die ihre ökonomischen Interessen verteidigt,<br />

kämpft gegen diese Bewegung, das heißt gegen die Selbständigkeit<br />

des dritten Lagers.<br />

Worin besteht das Klassenwesen des Liberalismus vom politischen<br />

Standpunkt aus gesehen? In der Furcht vor der Bewegung eben dieser<br />

sozialen Elemente, denn diese Bewegung ist imstande, die von der Bourgeoisie<br />

so geschätzten politischen Privilegien zu untergraben. Der Liberalismus<br />

fürchtet die Demokratie mehr als die Reaktion. Das haben die<br />

Jahre 1905,1906 und 1907 bewiesen.<br />

Will man die politischen Privilegien in diesem oder jenem ihrer Teile<br />

aufrechterhalten, so darf man die Selbständigkeit des dritten Lagers nicht<br />

zulassen, muß man die ganze Opposition in der und nur in der Position<br />

halten, die durch die Formel für oder gegen die Verfassung ausgedrückt<br />

wird.<br />

Diese Formel drückt eine aussdhließlidb konstitutionelle Position aus. Sie<br />

sprengt nidht den Rahmen konstitutioneller Reformen. Das Wesen dieser<br />

Formel brachte Herr Gredeskul - der versehentlich ins Schwatzen geriet -<br />

ausgezeichnet und richtig in den Erklärungen zum Ausdruck, die die<br />

„Retsch" ohne jeden Vorbehalt wiedergab und die die „Prawda" vor kurzem<br />

zitiert hat.*<br />

Das Wesen dieser Formel ist ganz und gar „wechistisch", denn mehr<br />

brauchen die „Wechi" ja auch nicht, etwas anderes haben sie eigentlich<br />

auch nicht gepredigt. Die „Wechi" sind keineswegs gegen die Verfassung,<br />

gegen konstitutionelle Reformen. Sie sind „nur" gegen die Demokratie<br />

mit ihrer Kritik an konstitutionellen Illusionen jeglicher Art.<br />

Der russische Liberalismus erwies sich als genügend „gewiegter" Politikaster,<br />

um sich „demokratisch" zn nennen und so die Demokratie zu bekämpfen<br />

und ihre Selbständigkeit zu unterdrücken. Das ist die übliche<br />

und normale Handlungsweise jeder liberalen Bourgeoisie in allen kapitalistischen<br />

Ländern: mit dem Aushängeschild des Demokratismus die<br />

Massen täuschen, um ihnen die wirklich demokratische Theorie und die<br />

wirklich demokratische Praxis abzugewöhnen.<br />

Die Erfahrungen aller Länder, darunter auch Rußlands, haben unwider-<br />

• Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 243/244. Die <strong>Red</strong>.


Lektion über die „Xadettenfresserei" 285<br />

legbar gezeigt, daß nur eine solche Praxis eine wirkliche Vorwärtsbewegung<br />

zustande bringen kann, während der Liberalismus durch seine Furcht<br />

vor der Demokratie, durch seine wediistisch-Gredeskulschen Theorien<br />

unvermeidlich zur Ohnmacht verurteilt ist: zur Ohnmacht des russischen<br />

Liberalismus in den Jahren <strong>18</strong>61-1904, des deutschen Liberalismus in den<br />

Jahren <strong>18</strong>49-1912.<br />

Das dritte Lager, das Lager der Demokratie, die die Beschränktheit<br />

des Liberalismus begreift und frei ist von seiner Unentschlossenheit und<br />

Kraftlosigkeit, von seinen Schwankungen und seinem ängstlichen Zurückblicken,<br />

dieses Lager kann nicht Gestalt annehmen, kann nicht bestehen<br />

ohne systematische, unablässige, tagtägliche Kritik am Liberalismus.<br />

Schimpft man diese Kritik verächtlich oder feindselig „Kadettenfresserei",<br />

so vertritt man damit bewußt oder unbewußt gerade liberale Auffassungen.<br />

Denn in Wirklichkeit ist die ganze Kritik am Kadettismus an<br />

siö), allein schon durch die Fragestellung, Kritik an der Reaktion, Kritik an<br />

den Rechten. Unsere Polemik gegen die Liberalen, sagte die „Newskaja<br />

Swesda" (Nr. 12)* völlig richtig, „geht mehr in die 7ieje, ist inhaltsreicher<br />

als der Kampf gegen die Rechten" .*•<br />

In Wirklichkeit kommt auf hundert liberale Zeitungen in Rußland<br />

kaum eine marxistische, so daß es einfach lächerlich ist, von einer „Übertreibung"<br />

unserer Kritik an den Kadetten za sprechen. Wir tun noch<br />

nicht einmal den hundertsten Teil dessen, was nötig wäre, damit die in<br />

der Gesellschaft und im Volke herrschende „allgemein oppositionelle"<br />

Stimmung von einer antiliberalen, definitiv und bewußt demokratischen<br />

Stimmung abgelöst wird.<br />

* Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 114-116. "Die<strong>Red</strong>.<br />

** Die „Retsch" erwidert darauf: Wenn dem so ist, warum zitieren dann<br />

die Rechten wohlwollend die „Prawda" gegen die „Retsch"? Die „Retsch"<br />

begeht hier eine Fälschung: Gäben die Rechten der „Prawda" mehr Freiheit<br />

als der „Retsch", so wäre das ein ernstes Argument gegen die Sozialdemokraten.<br />

Aber jedermann weiß, daß sich die Sache gerade umgekehrt verhält. Freiheit<br />

hat unsere Presse hundertmal weniger als die „Retsch", Stabilität tausendmal<br />

weniger, „konstitutionellen" Schutz zehntausendmal weniger. Jeder, der lesen<br />

kann, begreift, daß die „Rossija" und das „Nowoje Wremja" die „Retsch"<br />

mit der „Prawda" reizen wollen, wobei sie die „Prawda" unterdrücken und die<br />

„Retsch" ankläffen und beschimpfen. Das aber sind „zwei ganz verschiedene<br />

Dinge".


286 W. 7. <strong>Lenin</strong><br />

Ohne eine solche „Ablösung" hat es in Rußland nichts Vernünftiges und<br />

Brauchbares gegeben und kann es nichts Vernünftiges und Brauchbares<br />

geben.<br />

Wenn man uns der „Kadettenfresserei" beschuldigt oder geringschätzig<br />

über „Kadettenfresserei" spottet, so ist das nichts anderes als eine facpn<br />

de parier*, eine bestimmte Art und Weise, liberale Auffassungen zu vertreten,<br />

und zwar, wenn man vor Arbeitern oder über die Arbeiter spricht,<br />

eben Auffassungen der liberalen Arbeiterpolitik.<br />

Vom Standpunkt eines einigermaßen konsequenten und durchdachten<br />

Liquidatorentums sind die Beschuldigungen der „Kadettenfresserei" begreiflich<br />

und notwendig. Sie bringen gerade das Wesen des Liquidatorentums<br />

zum Ausdruck.<br />

Man werfe einen Blick auf die Auffassungen der Liquidatoren in ihrer<br />

Gesamtheit, auf die innere Logik dieser Auffassungen, auf ihren Zusammenhang<br />

und die wechselseitige Abhängigkeit der einzelnen Thesen:<br />

„Koalitionsfreiheit", das ist eine konstitutionelle Reform; zu den wirtschaftlichen<br />

Streiks kommt die „politische Belebung" hinzu, weiter nichts;<br />

eine weitreichende Wahlplattfonn wird für „Verrücktheit" erklärt; als<br />

Aufgabe wird der Kampf für die legale Existenz der Partei - d. h. wiederum<br />

als konstitutionelle Reform - formuliert; die Macht in Rußknd<br />

wird für sdbon bürgerlich erklärt (Larin), die Handels- und Industriebourgeoisie<br />

wird zur bereits herrschenden Klasse erklärt; den Arbeitern<br />

wird gesagt, daß es „genüge", bei dem Widerspruch zwischen Absolutismus<br />

und Konstitutionalismus anzusetzen (Martow).<br />

Im ganzen ist das eben Reformismus, ist dar eben das System der Auffassungen<br />

der liberalen Arbeiterpolitik. Die Sache ändert sich keineswegs<br />

dadurch, daß Hans oder Peter, wenn sie diese Auffassungen verfechten<br />

(in diesem oder jenem ihrer Teile — denn das Liquidatorentum befindet<br />

sich im „Prozeß des Wachstums der immer größer werdenden Aufgaben"),<br />

sich selbst für Marxisten halten.<br />

Es geht nicht um ihre guten Vorsätze (wer solche hat), sondern um die<br />

objektive Bedeutung ihrer Politik, d.h. darum, was sich aus ihr ergibt,<br />

cui prodest, wem sie nützt, welche Mühle in Wirklichkeit von diesem Wasser<br />

getrieben wird.<br />

Das ist die Verteidigung der Arbeiterinteressen auf einer Qrundlage,<br />

* Ausdrucksweise. "Die "<strong>Red</strong>.


Lektion über die „Xadettenfresserei" 287<br />

die durch den „Kampf" (oder den Zank?) der Liberalen mit den Rechten<br />

entsteht, nicht aber ein Kampf um die demokratische, antiliberale Qrundlage<br />

zur Entmachtung der Rechten. Die Liquidatoren sind Anhänger der<br />

Arbeiter, das steht außer Zweifel. Aber sie verstehen die Interessen der<br />

Arbeiter so, daß sie diese Interessen im Rahmen des Rußlands vertreten,<br />

das aufzubauen die Liberalen versprechen, nicht aber des Rußlands, das<br />

die "Demokraten entgegen den Liberalen gestern bauten und morgen<br />

bauen werden (in unsichtbarer Weise auch heute bauen).<br />

Das ist der Kern der ganzen Frage. Das neue Rußland ist noch nicht da.<br />

Es ist noch nicht errichtet. Sollen sich die Arbeiter ein „Klassen"- (in<br />

Wirklichkeit zünftlerisches) Nestchen in dem Rußland, in einem solchen<br />

Rußland bauen, das die Miljukow und die Purischkewitsch errichten, oder<br />

sollen die Arbeiter selbst, auf eigene Art, ein neues Rußland ganz ohne die<br />

Purisdikewitsch und entgegen den Miljukow errichten?<br />

Dieses neue Rußland wird auf jeden Fall bürgerlich sein, aber zwischen<br />

der bürgerlichen (Agrar- und Nicht-Agrar-) Politik Stolypins und der<br />

bürgerlichen Politik Sun Yat-sens besteht ein beträchtlicher Unterschied.<br />

Das ganze Wesen der gegenwärtigen Epoche in Rußland besteht in der<br />

Bestimmung des Umfangs dieses Unterschieds.<br />

„Entgegen den Miljukow", sagten wir. Dieses „entgegen" ist eben die<br />

„Kadettenfresserei". Deshalb bleiben wir prinzipiell „Kadettenfresser",<br />

werden wir es bleiben, ohne uns vor Worten zu fürchten, ohne auch nur<br />

eine Minute lang die besonderen Aufgaben der Arbeiterklasse sowohl<br />

gegenüber Miljukow als auch gegenüber den Sun Yat-sen zu vergessen.<br />

Die Beschuldigung der „Kadettenfresserei" bringt lediglich den (ganz<br />

gleich ob bewußten oder unbewußten) Wunsch zum Ausdruck, daß die<br />

Arbeiter bei der Errichtung eines neuen Rußlands hinter den Miljukow<br />

einhertrotten, nicht aber entgegen den Miljukow an der Spitze unserer<br />

kleinen Sun Yat-sen marschieren mögen...<br />

Wir müssen noch einige Worte über den zweiten Umstand sagen, den<br />

die von „Kadettenfresserei" Sprechenden unbeachtet lassen.<br />

Man sagt: Warum seine Auffassungen nicht positiv entwickeln? Wozu<br />

die übertriebene Polemik? Wer so spricht, denkt gleichsam folgendermaßen:<br />

Wir sind nicht gegen eine besondere, von der kadettischen völlig<br />

verschiedene Linie, wir sind nicht gegen die drei Lager, wir sind nur gegen


288 IV. 3. <strong>Lenin</strong><br />

die „Ersetzung der Politik durch die Polemik", um ein treffendes Wort<br />

eines Freundes der Liquidatoren zu gebrauchen.<br />

Denen, die so reden, zu antworten ist nicht schwer: Erstens kann man<br />

neue Auffassungen nicht anders als polemisch entwickeln (die marxistischen<br />

Auffassungen aber sind im Vergleich zu den liberalen neu sowohl<br />

in bezug auf die Zeit ihrer Entstehung als auch nach dem Ausmaß ihrer<br />

Verbreitung). Zweitens ist die Arena, in der die „Newskaja Swesda" und<br />

die „Prawda" wirken, die Arena der ausschließlich theoretischen marxistischen<br />

Propaganda. Irrig wäre die Annahme, diese Arena sei irgend etwas<br />

mehr: sie ist nur das theoretische „Abc..", das Alphabet, der theoretische<br />

Anfang, der Wegweiser für die Arbeit, aber noch nicht die Arbeit<br />

selbst.<br />

Die Marxisten sind kraft „höherer Gewalt" nicht in der Lage, in der<br />

genannten Arena ihre praktischen Schlußfolgerungen in „positiver" Form<br />

darzulegen. Die Bedeutung dieser Arena zu übertreiben, wäre daher ein<br />

Ucfuidatorisdber Fehler. Das Höchste-, was hier möglich ist, das ist die Angabe<br />

der Richtung, und dabei nur in der Form der Kritik an den Kadetten.<br />

Das „Nowoje Wremja" and die „Semschtschina" 75 wollen die Kadetten<br />

reizen und stellen die Sache so dar, als würden sie, die Kadetten, gefressen,<br />

und weiter nichts. Die „Retsch" gibt sich, aus sehr begreiflichen Gründen,<br />

den Anschein, als erkenne sie eine solche „Auslegung" an. Die Korobka<br />

und Kuskowa, die einen auf Grund äußersten Stumpfsinns, die anderen<br />

auf Grund äußerster „Kadettenliebedienerei", tun ebenfalls so.<br />

Jeder politisch Kundige sieht jedoch ganz klar, daß die marxistische<br />

„Kadettenfresserei" entschieden in jedem Punkt der Kritik an den Kadetten<br />

in die Richtung einer anderen „Opposition" weist, wenn mir der<br />

Gebrauch dieses unpassenden Wortes erlaubt ist.<br />

Wenn der Marxist den Kadetten „frißt" wegen der „frommen" <strong>Red</strong>en<br />

Karaulows, dann ist der Marxist nicht imstande, seinen positiven Standpunkt<br />

zu entwickeln. Aber jeder des Lesens und Schreibens Kundige versteht:<br />

Die Demokratie kann nicht Demokratie sein, wenn sie fromm ist.<br />

Wenn der Marxist den Kadetten „frißt" wegen der <strong>Red</strong>en Gredeskuls,<br />

dann ist der Marxist nicht imstande, seinen positiven Standpunkt zu entwickeln.<br />

Aber jeder des Lesens und Schreibens Kundige versteht: Die<br />

Demokratie kann nicht Demokratie sein, wenn sie die Ansichten Gredeskuls<br />

teilt.


Lektion über die „Xadettenjresserei" 289<br />

Wenn der Marxist... aber wir würden überhaupt kein Ende finden,<br />

wenn wir auf diese Weise alle Fragen und Punkte unserer „Kadettenfresserei"<br />

durchnehmen wollten. Es genügen auch zwei Beispiele, um unsere<br />

These in bezug auf den zweiten Umstand ganz klar darzulegen: Dfe<br />

"Beschuldigung der Kadettenfresserei ist eine Ausdrucks] orm jenes spießbürgerlichen,<br />

schädlichen, schlimmen Vorurteils, die bekannte Arena sei<br />

eine hinlängliche Arena.<br />

Wir werden unter anderem gerade deshalb „Kadettenfresser" bleiben,<br />

um dieses schädliche Vorurteil zu bekämpfen.<br />

„Newskaja Swesda" Nr. 23, THadb dem 7ext der<br />

26. August i9i2. „Newskaja Swesda".<br />

Unterschrift :X.S-i.


290<br />

DIE ARBEITER UND DIE „PRAWDA"<br />

Die „Prawda" hat bereits einige Ergebnisse der Arbeit eines halben<br />

Jahres untersucht.<br />

Diese Ergebnisse haben vor allem und in erster Linie gezeigt: Nur die<br />

Anstrengungen der Arbeiter selbst, nur der gewaltige Aufsdivrang ihres<br />

Enthusiasmus, ihrer Entschlossenheit und Beharrlichkeit im Kampf konnten<br />

die Petersburger Arbeiterzeitung „Prawda" hervorbringen, und zwar<br />

nur nach der AprÜ-Mai-Bewegung.<br />

In ihrer Untersuchung hat sich die „Prawda" zunächst auf Angaben<br />

über Beiträge von Arbeitergruppen für die Arbeitertageszeitung beschränkt.<br />

Diese Angaben offenbaren uns nur einen geringen 7eü der<br />

Unterstützung durch die Arbeiter, sie lassen nicht unmittelbar die viel<br />

wertvollere und viel schwierigere Unterstützung erkennen: die moralische<br />

Unterstützung, die Unterstützung durch persönliche Mitwirkung,<br />

die Unterstützung der Richtung der Zeitung, die Unterstützung durch<br />

Materialien, durch Diskussion, durch Verbreitung usw.<br />

Aber auch die begrenzten Angaben, die der „Prawda" zur Verfügung<br />

standen, zeigten eine sehr eindrucksvolle Anzahl von Arbeitergruppen, die<br />

mit ihr direkt Verbindung aufgenommen haben. Werfen wir einen Blick<br />

auf die allgemeinen Ergebnisse:<br />

Zahl der Beiträge von Arbeitergruppen für die „Prawda"<br />

Im Januar 1912 14<br />

„ Februar 1912 <strong>18</strong><br />

„ März 1912 76<br />

„ April 1912 227<br />

„ Mai 1912 135<br />

„ Juni 1912 34<br />

„ Juli 1912 26<br />

„ August (bis zum 19. Aug.) 1912 21<br />

Insgesamt 551


Die Arbeiter und die .Prawda" 291<br />

Also haben insgesamt fünjhunderteinundjünizig Arbeitergruppen die<br />

„Prawda" durch ihre Beiträge unterstützt.<br />

Es wäre interessant, die Ergebnisse einer ganzen Reihe anderer Sammlungen<br />

und Beiträge der Arbeiter festzustellen. In der „Prawda" haben<br />

wir ständig Berichte über Spenden zur Unterstützung dieses oder jenes<br />

Streiks gelesen. Wir haben Berichte gelesen über Sammlungen für die<br />

„Verfolgten", für die „Lena-Opfer", für einzelne „Prawda"-<strong>Red</strong>akteure,<br />

über Sammlungen für die Wahlkampagne, zur Unterstützung der von<br />

der Hungersnot Betroffenen usw. usf.<br />

Angesichts der Mannigfaltigkeit dieser Sammlungen ist es hier weitaus<br />

schwieriger, die Ergebnisse festzustellen, und wir können noch nicht sagen,<br />

ob eine statistische Berechnung ein befriedigendes Bild zu vermitteln vermag.<br />

Aber auf jeden Fall ist es offensichtlich, daß diese mannigfaltigen<br />

Sammlungen einen sehr bedeutenden Teil des Arbeiterlebens ausmachen.<br />

Wenn die Leser der „Prawda" die Berichte über die Arbeitersammlungen<br />

in Verbindung mit den Briefen von Arbeitern und Angestellten aus<br />

allen Ecken und Enden Rußlands durchsehen, dann erhalten sie, die auf<br />

Grund der schweren äußeren Lebensbedingungen in Rußland größtenteils<br />

voneinander getrennt und isoliert sind, eine gewisse Vorstellung davon,<br />

wie die Proletarier dieses oder jenes Berufes, dieser oder jener Gegend<br />

kämpfen, wie sie darangehen, die Interessen der Arbeiterdemokratie zu<br />

verteidigen.<br />

Die Chronik des Arbeiterlebens in der „Prawda" beginnt sich erst zu<br />

entwickeln und festen Fuß zu fassen. Von nun an wird die Arbeiterzeitung<br />

zweifellos neben Mitteilungen über Mißstände in den Fabriken, über das<br />

Erwachen einer neuen proletarischen Schicht, über Sammlungen für diesen<br />

oder jenen Zweig der Arbeitersache auch Mitteilungen über die Ansichten<br />

und Stimmungen der Arbeiter, über die Wahlkampagne, über die<br />

Wahl von Arbeiterbevollmächtigten, über das, was die Arbeiter lesen, was<br />

sie besonders interessiert usw., erhalten.<br />

Die Arbeiterzeitung ist eine Tribüne der Arbeiter. Vor ganz Rußland<br />

muß hier Frage für Frage des Arbeiterlebens im allgemeinen und der<br />

Arbeiterdemokratie im besondern aufgeworfen werden. Die Arbeiter von<br />

Petersburg haben den Anfang gemacht. Ihrer Energie verdankt das Proletariat<br />

Rußlands die erste Arbeitertageszeitung nach den schweren, bösen<br />

Jahren. Laßt tms ihr Werk fortsetzen, indem wir die Arbeiterzeitung der


292 IV. 1. <strong>Lenin</strong><br />

Hauptstadt einträchtig unterstützen und entwickeln - diese erste Schwalbe<br />

jenes Frühlings, da sich ganz Rußland mit einem Netz von Arbeiterorganisationen,<br />

die über Arbeiterzeitungen verfügen, überziehen wird.<br />

Dieses Rußland zu errichten, stebt uns Arbeitern noch bevor! und wir<br />

werden es erridoten.<br />

.Trawda" TJr. 103, Nadb dem 7ext der „Vrawda".<br />

29. August 1912.<br />

Unterschrift: St


EINST UND JETZT<br />

293<br />

Vor achtzehn Jahren, im Jahre <strong>18</strong>94, war die Arbeiterbewegung in<br />

Petersburg in ihrer neuesten, die Massen ergreifenden und von der marxistischen<br />

Lehre erhellten Form gerade eben erst im Entstehen begriffen.<br />

Die siebziger Jahre hatten nur eine ganz winzige Oberschicht der Arbeiterklasse<br />

erfaßt. Ihre Vorkämpfer erwiesen sich schon damals als große<br />

Persönlichkeiten der Arbeiterdemokratie, aber die Masse schlief noch.<br />

Erst zu Anfang der neunziger Jahre begann ihr Erwachen und setzte zugleich<br />

eine neue und ruhmvollere Periode in der Geschichte der gesamten<br />

russischen Demokratie ein.<br />

Leider müssen wir uns hier, in unserer kleinen Parallele, auf nur eine<br />

Seite, eine der Erscheinungsformen der Arbeiterbewegung beschränken:<br />

auf den wirtschaftlichen Kampf und die wirtschaftlichen „Enthüllungen".<br />

Damals, im Jahre <strong>18</strong>94, erörterten ganz wenige Zirkel fortgeschrittener<br />

Arbeiter eifrig, wie man Enthüllungen aus dem Fabrikleben organisieren<br />

könne. Ein gewichtiges Wort, von den Arbeitern selber an ihre Kollegen<br />

gerichtet, das aufgezeigt hätte, in welch unerhörter Weise das Kapital seine<br />

Macht mißbraucht, war damals eine große Seltenheit. An die Möglichkeit,<br />

über solche Dinge offen zu sprechen, war nicht einmal zu denken.<br />

Aber ungeachtet aller Schwierigkeiten und trotz aller Hemmnisse drangen<br />

die für die Arbeiter bestimmten Enthüllungen aus dem Fabrikleben in<br />

die erwachende Arbeitennasse. Der Streikkampf nahm zu, unaufhaltsam<br />

entwickelte sich die Verbindung zwischen dem wirtschaftlichen Kampf der<br />

Arbeiterklasse und den anderen, höheren Kampfformen. Die Vorhut der<br />

Demokratie Rußlands war im Erwachen begriffen - und zehn Jahre später<br />

zeigte sie ihre ganze Größe. Nur dieser Kraft verdankt Rußland, daß die<br />

alte Hülle gesprengt wurde.


294 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />

Für den, der sich an die ersten Enthüllungen aus dem Fabrikleben erinnert,<br />

mit denen sich die fortgeschrittensten Petersburger Arbeiter im<br />

Jahre <strong>18</strong>94 an die Massen wandten, ist es höchst interessant und lehrreich,<br />

sie mit denen der „Prawda" zu vergleichen. Dieser kleine Vergleich, angestellt<br />

in bezug auf eine der Erscheinungsformen des Arbeiterkampfes,;<br />

zeigt anschaulich, wie sehr sein ganzes Ausmaß, seine Breite, Tiefe, Stärke<br />

usw. zugenommen haben.<br />

Damals - ganze fünf, sechs Enthüllungen aus dem Fabrikleben, die von<br />

den Arbeitern heimlich in einigen Dutzend Flugblättern verbreitet wurden.<br />

Heute - Zehntausende von Exemplaren der täglich erscheinenden<br />

„Prawda", die immer mehrere Enthüllungen aus den verschiedensten<br />

Berufszweigen bringt.<br />

Damals - ganze fünf, sechs sogenannte „Zirkel", die, natürlich im geheimen,<br />

unter Mitwirkung des einen oder anderen marxistischen Intellektuellen<br />

über die Zustände in der Fabrik diskutierten und festlegten, was<br />

„publiziert" werden sollte.<br />

Heute - Hunderte und Tausende spontan entstehender Arbeitergruppen,<br />

die über ihre brennenden Nöte diskutieren und ihre Briefe, ihre Enthüllungen,<br />

ihre Aufrufe zum Widerstand und zur Vereinigung selbständig<br />

der „Prawda" zuleiten.<br />

Nur achtzehn Jahre - und vom ersten Lichtschimmer, von den ersten<br />

schüchternen Anfängen haben die Arbeiter den Schritt zu einer "Massenbewegung<br />

in der exaktesten Bedeutung dieses Wortes getan.<br />

Leider müssen wir uns aussdhließiöb auf die Parallelen der Enthüllungen<br />

aus dem Fabrikleben beschränken. Aber auch sie zeigen uns, wie groß<br />

der zurückgelegte Weg ist und wohin er führt.<br />

Achtzehn Jahre sind ein kurzer Zeitraum in der Geschichte einer ganzen<br />

Klasse, die die große welthistorische Aufgabe hat, die Menschheit zu<br />

befreien.<br />

Ein großes Stück dieses Weges ist im Dunkeln zurückgelegt worden.<br />

Jetzt ist die Richtung klar. - Kühner und einmütiger vorwärts!<br />

„Trawda" Nr. 104, Nadb dem 7ext der „Vrawda".<br />

30. August i9i2.


DER INTERNATIONALE RICHTERTAG<br />

295<br />

In Wien tagt gegenwärtig der erste internationale Richtertag sowie der<br />

31. Deutsche Juristentag.<br />

In den <strong>Red</strong>en der würdevollen Delegierten herrscht ein überaus reaktionärer<br />

Geist vor. Die Herren bürgerlichen Juristen und Richter proklamierten<br />

den Feldzug gegen die Teilnahme des Volkes an der Rechtsprechung.<br />

Zwei Hauptformen einer solchen Teilnahme sind in den modernen<br />

Staaten gebräuchlich: 1. das Geschworenengericht, bei dem die Geschworenen<br />

nur die Schuldfrage entscheiden; die Kronrichter allein setzen das<br />

Urteil fest und leiten den Prozeß; 2. das Schöffengericht, bei dem die<br />

Schöffen ähnlich unseren „Ständevertretern" auf gleicher Grundlage wie<br />

die Kronrichter an der Entscheidung aller Fragen teilnehmen.<br />

Und die „aufgeklärten" Richter der konstitutionellen Staaten halten<br />

donnernde <strong>Red</strong>en gegen jegliche Teilnahme von Volksvertretern an der<br />

Rechtsprechung. Einer der Delegierten, Eisner, wetterte gegen das Geschworenen-<br />

und Schöffengericht, das angeblich zur „Gesetzesanarchie"<br />

führe, und verfocht statt dessen die tlnabsetzbarkeit der Richter.<br />

Wir bemerken dazu, daß hier eine liberale Forderung an die Stelle<br />

einer demokratischen gesetzt wird, um das völlige Abgehen vom Demokratismus<br />

zu tarnen. Die Teilnahme von Volksvertretern am Gericht ist<br />

zweifellos ein demokratisches Prinzip. Die konsequente Anwendung dieses<br />

Prinzips besteht erstens darin, daß es für die Wahl der Geschworenen<br />

keinen Zensus gibt, d. h. keine Einschränkung des Wahlrechts durch eine<br />

Bildungsklausel, Eigentumsklausel, Ansässigkeitsklausel usw.<br />

Unter den Geschworenen ist gegenwärtig, infolge des Ausschlusses der


296 ü>. 1 <strong>Lenin</strong><br />

Arbeiter, das reaktionäre Spießbürgertum ganz besonders stark vertreten.<br />

Die Arznei gegen dieses Übel muß in der Entwicklung des Demokratismus<br />

bis zu seiner konsequenten und uneingeschränkten Form bestehen, keineswegs<br />

aber in niederträchtiger Lossagung vom Demokratismus. Bekanntlich<br />

wird in allen zivilisierten Ländern als zweite Vorbedingung für einen konsequenten<br />

Demokratismus in der Gerichtsverfassung die Wählbarkeit der<br />

Richter durch das Volk angesehen.<br />

Die Unabsetzbarkeit der Richter aber, von der die liberalen Bourgeois<br />

im allgemeinen und unsere russischen im besonderen so viel Aufhebens<br />

machen, ist nur eine Aufteilung der Privilegien des Mittelalters zwischen<br />

den Purischkewitsch und den Miljukow, zwischen den Fronherren und der<br />

Bourgeoisie. In Wrfeltdbfeett kann man die Unabsetzbarkeit in vollem Umfang<br />

nicht durchführen, und es ist überhaupt unsinnig, sie in bezug auf<br />

untaugliche, unzuverlässige und schlechte Richter zu verteidigen. Im Mittelalter<br />

lag die Einsetzung der Richter ausschließlich in den Händen der Feudalherren<br />

und des Absolutismus. Die Bourgeoisie, die jetzt breiten Zugang<br />

zu den Kreisen der Richter erhalten hat, verteidigt sidh gegen die<br />

Feudalherren mit Hilfe des „Prinzips der Unabsetzbarkeit" (denn die ernannten<br />

Richter werden, da die meisten „gebildeten Richter" zur Bourgeoisie<br />

gehören, in ihrer Mehrheit unvermeidlich aus der Bourgeoisie<br />

stammen). Die Bourgeoisie, die sich so gegen die Feudalherren verteidigt,<br />

schützt sich gleichzeitig vor der "Demokratie! wenn sie die Ersetzbarkeit<br />

der Richter verteidigt.<br />

Es ist weiterhin interessant, folgende Stellen aus der <strong>Red</strong>e eines<br />

Dr. Ginsberg, eines Richters aus Dresden, zu vermerken. Er hatte es übernommen,<br />

über die Klassenjustiz zu sprechen, d. h. über die Erscheinungsformen<br />

der Klassenunterdrückung und des Klassenkampfes in der modernen<br />

Rechtsprechung.<br />

„Wer aber glaubt", ruft Dr. Ginsberg aus, „daß durch die Beteiligung der<br />

Laien die Klassenjustiz beseitigt wird, der ist in einem großen Irrtum."<br />

Ganz recht, Herr Richter! Die Demokratie beseitigt den Klassenkampf<br />

überhaupt nicht, sondern macht ihn nur bewußt, frei, offen. Aber das ist<br />

kein Argument gegen die Demokratie. Das ist ein Argument für ihre konsequente<br />

Weiterentwicklung.<br />

„Es existiert gewiß eine Klassenjustiz", fuhr der Richter aus Sachsen fort<br />

(und die sächsischen Richter haben sich in Deutschland durch brutale Urteile


Der internationale Jlidbtertag 297<br />

gegen die Arbeiter traurigen Ruhm erworben), „aber nicht in dem Sinne der<br />

Sozialdemokraten, im Sinne einer Bevorzugung der Reichen zuungunsten der<br />

Armen; vielmehr eine Klassenjustiz nach entgegengesetzter Seite. Ich hatte<br />

einen Schöffen neben mir sitzen, der ein ausgesprochener Sozialdemokrat war,<br />

und der andre war beinahe einer. Ein Streikender hatte einen Streikbrecher<br />

verprügelt" („einen Arbeitswilligen", sagte der sächsische Herr Richter wörtlich),<br />

„an der Gurgel gepackt und ihm zugerufen: .Verfluchte Kanaille, jetzt<br />

haben wir dich!'<br />

Darauf setzt es regelmäßig bei uns 4 bis 6 Wochen Gefängnis, und das ist<br />

nicht zuwenig für eine derartige Roheit. Ich hatte in diesem Fall meine große<br />

Not, eine Freisprechung des Streikenden zu hintertreiben. Der sozialdemokratische<br />

Schöffe sagte mir, ich verstünde die Leute nicht. Ich erwiderte, ich könnte<br />

mich sehr wohl in die Lage des Verprügelten hineindenken ..."<br />

Die deutschen Zeitungen, die den Wortlaut der <strong>Red</strong>e des Richters Ginsberg<br />

bringen, bemerken an dieser Stelle „Heiterkeit". Die Herren Juristen<br />

und Herren Richter haben gelacht. Zugegeben, wenn wir diesen sächsischen<br />

Richter gehört hätten, hätten wir auch aus vollem Halse gelacht<br />

Die Lehre vom Klassenkampf - das ist eine Sache, bei der man noch<br />

versteht, daß es Anstrengungen erfordert, gegen sie auf Gelehrtenart (auf<br />

angebliche Gelehrtenart) zu streiten. Aber man braucht nur die Frage<br />

praktisch zu nehmen, die alltäglichen Erscheinungen des Lebens zu betrachten<br />

und - siehe da! - der wütendste Gegner dieser Lehre kann sich<br />

als ein ebenso begabter Propagandist des Klassenkampfes erweisen wie<br />

der sächsische Herr Richter Ginsberg.<br />

„Prawda" 7Jr. iO4, SVacfc dem Jext der .Prawda".<br />

30. August 1912.<br />

Untersdhrift: 1. W.<br />

10 <strong>Lenin</strong>, Weite, Bd. <strong>18</strong>


298<br />

INDER SCHWEIZ<br />

In der „Prawda" Nr. 63 vom 12. Juli* berichteten wir unseren Lesern<br />

von dem Generalstreik in Zürich am 29. Juni (12. Juli n. St.). Erinnern<br />

wir uns, daß der Streik gegen den Willen der Führer der politischen Organisationen<br />

beschlossen worden war. Die Versammlung der 425 Vertreter<br />

aller Arbeiterorganisationen von Zürich, die sich für den Streik ausgesprochen<br />

hatte, quittierte die Erklärung der Buchdrucker, die gegen den<br />

Streik waren, mit „Pfui V -Rufen.<br />

Jetzt sind in der Presse Materialien erschienen, die diesen Opportunismus<br />

entlarven.<br />

Es stellt sich heraus, daß die politischen Führer der schweizerischen<br />

Arbeiter in ihrem Opportunismus bis zu direktem Verrat an der Partei<br />

gegangen sind. Mit eben diesen scharfen, aber zutreffenden Worten kennzeichnen<br />

die besten Organe der schweizerischen und der deutschen Arbeiterpresse<br />

das Verhalten der Sozialdemokraten im Züricher Magistrat<br />

(Stadtrat). Der Züricher Stadtrat hatte, im Interesse der JQtpitalisten,<br />

Streikposten verboten (woraufhin die Arbeiter beschlossen hatten, mit<br />

einem vierundzwanzigstündigen Generalstreik zu protestieren).<br />

Der Magistrat von Zürich besteht aus neun Mitgliedern, von ihnen sind<br />

vier Sozialdemokraten: Erismann, Pflüger, Vogelsangerund Klöti.<br />

Und jetzt wird bekannt, daß das Streikpostenverbot vom Stadtrat einstimmig<br />

angenommen worden war, daß also Erismann und seine drei<br />

sozialdemokratischen Kollegen dajür gestimmt haben!!! Der Regierungsrat<br />

des Kantons Zürich hatte vom Stadtrat das Verbot von Streikposten<br />

* Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 149-151. Die <strong>Red</strong>.


In der Sdiweiz 299<br />

Überhaupt verlangt, und die vier neunmalweisen Gründlinge*, ich meine<br />

die Züricher Sozialdemokraten, stellten den „Vermittlurujsantrag", die<br />

Streikposten nur in der Umgebung der zwei bestreikten Schlossereien zu<br />

verbieten.<br />

Natürlich war ein solches partielles Streikpostenverbot in der Praxis<br />

gerade das, was die Bourgeoisie gewollt hatte, und der Vorschlag der „Sozialdemokraten"<br />

(?!) wurde von der bürgerlichen Mehrheit des Stadtrats<br />

angenommen!<br />

Mehr noch. Vor kurzem veröffentlichte der Stadtrat von Zürich einen<br />

Bericht über die mit dem Generalstreik in Zusammenhang stehenden Ereignisse.<br />

Die Kapitalisten verfügten, um sich für den Streik zu rächen,<br />

eine dreitägige Aussperrung. Der Stadtrat von Zürich beschloß einstimmig,<br />

also auch mit den Stimmen aller seiner vier sozialdemokratischen Mitglieder,<br />

zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung die Polizeikräfte<br />

durch den Einsatz von Militär zu verstärken.<br />

Aber auch das ist noch nicht alles. Rachedürstend beschloß der bürgerliche<br />

Stadtrat von Zürich die Maßregelung einer Reihe von Angestellten<br />

und Arbeitern städtischer Unternehmungen, die am Streik teilgenommen<br />

hatten. 13 Arbeiter wurden entlassen, gegen 116 Disziplinarstrafen verhängt<br />

(Rückversetzung, Lohnabzug). Diese Beschlüsse faßte der Stadtrat<br />

ebenfalls einstimmig! mit den Stimmen Erismanns und von zwei seiner<br />

Kollegen.<br />

Anders als Verrat an der Partei kann das Verhalten von Erismann und<br />

Co. nicht genannt werden.<br />

Man braucht sich nicht zu wundem, daß die Anarchosyndikalisten in<br />

der Schweiz gewissen Erfolg haben, wenn sie vor den Arbeitern eine sozialistische<br />

Partei kritisieren müssen, die in ihren Reihen solche opportunistischen<br />

Verräter duldet. Der Verrat von Erismann und Co. ist gerade deshalb<br />

von großer internationaler Bedeutung, weil er uns veranschaulicht,<br />

wober und auf welche Weise der Arbeiterbewegung die Gefahr innerer<br />

Zersetzung droht.<br />

Erismann und Co. sind keineswegs gewöhnliche Überläufer in das Lager<br />

des Feindes, sie sind einfach friedliche Spießer, Opportunisten, die sich<br />

an den parlamentarischen „Kleinkram" gewöhnt haben und mit konstf-<br />

• „Der neunmalweise Gründling" - Titel eines Märchens des Satirikers<br />

M. J. Saltykow-Schtschedrin. Der 'übers.


300 W. 1 <strong>Lenin</strong><br />

tutionell-demokratisdien Illusionen belastet sind. Als sich der Klassenkampf<br />

jäh zuspitzte, zerstoben mit einem Schlage die Illusionen von einer<br />

konstitutionellen „Ordnung" und einer „demokratischen Republik", gerieten<br />

unsere Spießer im Amte sozialdemokratischer Magistratsmitglieder<br />

in Verwirrung und glitten in den Sumpf ab.<br />

Die klassenbewußten Arbeiter können an diesem traurigen Beispiel<br />

sehen, wohin die Verbreitung des Opportunismus in der Arbeiterpartei<br />

führen muß.<br />

„Vrawäa" 7}r. 105, Tladi dem Text der „Prawda".<br />

3i. August I9i2.<br />

Unterschrift: P. ?.


DIE GEISTLICHKEIT<br />

UND DIE POLITIK<br />

301<br />

Bekanntlich macht man gegenwärtig verzweifelte Anstrengungen mit<br />

dem Ziel, die gesamte Geistlichkeit für die Wahlen zur IV. Reichsduma zu<br />

mobilisieren und zu einer in sich geschlossenen Kraft der Sdiwarzhunderter<br />

zu organisieren.<br />

Höchst lehrreich ist es zu sehen, daß die gesamte russische Bourgeoisie,<br />

die regierungstreue, oktobristisdie wie auch die oppositionelle, kadettische,<br />

gleichermaßen eifrig und beunruhigt diese Pläne der Regierung entlarvt<br />

und sie verurteilt.<br />

Der russische Kaufmann und der russische liberale (richtiger wohl: liberalisierende)<br />

Gutsbesitzer fürchten eine Stärkung der nicht rechenschaftspflichtigen<br />

Regierung, die die Stimmen folgsamer Geistlicher „sammeln"<br />

möchte. Selbstverständlich steht die Demokratie in diesem Punkt noch viel<br />

entschiedener als der Liberalismus in Opposition (drückt man sich gelinde<br />

und ungenau aus).<br />

Wir haben schon in der „Prawda" darauf hingewiesen, daß die Liberalen<br />

in der Frage der Geistlichkeit einen undemokratischen Standpunkt<br />

einnehmen, daß sie die erzreaktionäre Theorie der „Nichteinmischung"<br />

der Geistlichkeit in die Politik entweder direkt verfechten oder aber sich<br />

mit dieser Theorie abfinden.*<br />

Der Demokrat ist unbedingt gegen die geringste Verfalsdmng des Wahlrechts<br />

und der Wahlen, aber er ist unbedingt für die direkte und offene Einbeziehung<br />

der breitesten Massen der Geistlichkeit jeder Kategorie in die<br />

Politik. Die Nichtteilnahme der Geistlichkeit am politischen Kampf ist eine<br />

äußerst schädliche Heuchelei. In Wirklichkeit hat die Geistlichkeit stets<br />

*~Sfehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 216/217. Die "<strong>Red</strong>.


302 W. 7. <strong>Lenin</strong><br />

versteckt an der Politik teilgenommen, und das Volk wird nur Nutzen davon<br />

haben, -wenn die Geistlichkeit zu einer offenen Politik übergeht.<br />

Von besonderem Interesse in dieser Frage ist der kürzlich in der<br />

„Retsch" erschienene Artikel des altgläubigen Bischofs Michail. Die Ansichten<br />

dieses Schreibers sind sehr naiv: er glaubt zum Beispiel, daß „der<br />

Klerikalismus uns (Rußland) unbekannt" ist, daß vor der Revolution ihre<br />

(der Geistlichkeit) Sache nur auf das Jenseitige gerichtet war usw.<br />

Aufschlußreich ist jedoch, wie dieser sichtlich gut informierte Mann die<br />

Geschehnisse faktisch einschätzt.<br />

„Daß ein Triumph der Wahlen nicht ein Triumph des Klerikalismus sein<br />

wird", schreibt Bischof Michail, „scheint mir unbestreitbar. Die, wenn auch<br />

künstlich, vereinigte, zugleich natürlich wegen dieses willkürlichen Umgangs<br />

mit ihren Stimmen und ihrem Gewissen beleidigte Geistlichkeit wird sich mitten<br />

zwischen zwei Kräfte gestellt sehen ... Und daher die notwendige Wende, die<br />

Krisis, die Rückkehr zu dem natürlichen Bündnis mit dem Volk. Gelänge es der<br />

klerikalen und reaktionären Strömung... zu erstarken und selbständig auszureifen,<br />

so würde es vielleicht auch anders sein. Jetzt, wo die Geistlichkeit,<br />

noch mit den Resten früherer Verwirrung belastet, aus der Ruhe gerissen ist,<br />

wird sie ihren geschichtlichen Weg fortsetzen. Und der Demokratismus der<br />

Geistlichkeit ist die notwendige und letzte Etappe dieses geschichtlichen Weges,<br />

die mit dem Kampf der Geistlichkeit für sich selbst verbunden sein wird."<br />

In Wirklichkeit kann nicht von einer „Rückkehr zu dem natürlichen<br />

Bündnis" die <strong>Red</strong>e sein, wie der Verfasser naiv glaubt, sondern nur von<br />

einer Aufteilung unter die kämpfenden Klassen. Die Klarheit, Breite und<br />

Bewußtheit einer solchen Aufteilung würde von der Einbeziehung der<br />

Geistlichkeit in die Politik sicherlich gewinnen.<br />

Der Umstand aber, daß informierte Beobachter das Vorhandensein, die<br />

Wirksamkeit und die Kraft der „Reste früherer Verwirrung" sogar in<br />

einer solchen sozialen Schicht Rußlands wie der Geistlichkeit zugeben, ist<br />

sehr beachtenswert.<br />

„Vrawda" 7^r. 106, Nadi dem Text der „Trawda".<br />

i. September 1912.<br />

~Untersdbrift:1. W.


NOCH EIN FELDZUG<br />

GEGEN DIE DEMOKRATIE<br />

303<br />

Der unrühmlich bekannte Sammelband „Wechi", der riesigen Erfolg<br />

unter der ganz und gar von Renegatentum erfüllten bürgerlich-liberalen<br />

Gesellschaft gehabt hat, ist im Lager der Demokratie auf ungenügenden<br />

Widerstand gestoßen und nicht genügend gründlich eingeschätzt worden.<br />

Teilweise erklärt sich das daraus, daß die Erfolge der „Wechi" in eine<br />

Zeit fielen, da die „legale" Presse der Demokratie fast völlig unterdrückt<br />

war.<br />

Jetzt tritt Herr Schtschepetew in der „Russkaja Mysl" 76 (August) mit<br />

einer Neuauflage der „Wechiade" an die Öffentlichkeit. Das ist ganz<br />

natürlich bei einem Organ der „Wechi"-Leute, das von dem Anführer der<br />

Renegaten, Herrn P. B. Struve, redigiert wird. Aber ebenso natürlich wird<br />

es sein, wenn die Demokratie, besonders die Arbeiterdemokratie, jetzt<br />

wenigstens etwas von dem aufholt, was sie den „Wechi"-Leuten schuldig<br />

geblieben ist.<br />

I<br />

Herr Schtschepetew wählt für sein Auftreten die Form eines bescheidenen<br />

„Briefes aus Frankreich" - über die Russen in Paris. Aber hinter dieser<br />

bescheidenen Form verbirgt sich in Wirklichkeit eine sehr bestimmte<br />

„Beurteilung" der russischen Revolution von 1905 und der russischen<br />

Demokratie.<br />

„Alle erinnern sich noch", schreibt der „Wechi"-Mann, „dieses beängstigenden"<br />

(sieh einer an! für wen beängstigend, hochverehrter Herr Liberaler?),<br />

„unruhigen und von Anfang bis zu Ende verworrenen Jahres<br />

1905..."<br />

„Unruhig und von Anfang bis zu Ende verworren"! Wieviel Schmutz


304 19.1 <strong>Lenin</strong><br />

und Morast muß in der Seele eines Menschen sein, der es fertigbringt,<br />

solche Worte zu schreiben. Die deutschen Gegner der Revolution von<br />

<strong>18</strong>48 nannten dieses Jahr das „tolle" Jahr. Den gleichen Gedanken oder<br />

richtiger, die gleiche stumpfsinnige, niederträchtige Angst bringt der russische<br />

Kadett von der „Russkaja Mysl" zum Ausdruck.<br />

Wir stellen ihm nur einige wenige, nur die objektivsten und „bescheidensten"<br />

Fakten entgegen. Die Löhne der Arbeiter stiegen in diesem Jahr<br />

wie nie zuvor. Der Pachtzins fiel. Immer mehr Arbeiter - bis zu den<br />

Dienstboten - schlössen sich in allen möglichen Formen und mit bisher<br />

nicht dagewesenem Erfolg zusammen. Millionen billiger Schriften über<br />

politische Themen wurden vom Volk, von der Masse, von der Menge,<br />

von den „unteren" Schichten so begierig gelesen, wie man noch nie zuvor<br />

in Rußland gelesen hatte.<br />

Nekrassow hatte in längst vergangenen Zeiten ausgerufen:<br />

Wann endlich kommt die Zeit,<br />

Wann? (Komme, dn erwünschte, komm!),<br />

Da unser Volk nicht Blücher mehr<br />

Und nicht den albernen Mylord,<br />

Da Gogol und Belinski es<br />

Vom Jahrmarkt heimwärts trägt? 77<br />

Die von einem der alten russischen Demokraten ersehnte „große Zeit"<br />

war gekommen. Die Kaufleute hörten auf, mit Hafer zu handeln, und begannen<br />

einen einträglicheren Handel - den mit der billigen demokratischen<br />

Broschüre. Das demokratische Buch war zu einem Produkt geworden,<br />

das man auf dem Jahrmarkt kaufen konnte. Und die Ideen Belinskis<br />

und Gogols, um derentwillen diese Schriftsteller Nekrassow - wie jedem<br />

anständigen Menschen in Rußland - teuer waren, bestimmten den Inhalt<br />

dieser neuen Jahrmarktsliteratur...<br />

... Welche „Beunruhigung"! rief das sich gebildet dünkende, in Wahrheit<br />

aber dreckige, widerliche, verfettete, selbstzufriedene liberale Schwein,<br />

als es in der Wirklichkeit dieses „Volk" erblickte, wie es ... den Brief Belinskis<br />

an Gogol vom Jahrmarkt heimwärts trägt.<br />

Im Grunde genommen übrigens ist das doch ein „intelligenzlerischer"<br />

Brief, verkündeten die „Wechi" unter dem donnernden Applaus des<br />

„Nowoje-Wremja"-Mannes Rosanow und Antonius' von Wolhynien.<br />

Welch schmähliches Schauspiel! wird der Demokrat aus den Kreisen der


ein 7eldzug gegen die Demokratie 305<br />

besten Volkstümler sagen. Welch lehrreiches Schauspiel! fügen wir hinzu.<br />

Wie ernüchtert es diejenigen, die an die Fragen der Demokratie sentimental<br />

herangingen, wie stählt es alles Lebendige und Starke innerhalb der<br />

Demokratie, indem es schonungslos die faulen, herrschaftlich-Oblomowschen<br />

Illusionen hinwegfegt!<br />

Vom Liberalismus enttäuscht sein ist außerordentlich nützlich für den,<br />

der irgendwann einmal von ihm begeistert war. Und wer sich der älteren<br />

Geschichte des russischen Liberalismus erinnern will, wird schon in der<br />

Stellnng des Liberalen Kawelin zu dem Demokraten Tschemyschewski das<br />

genaue Musterbeispiel für die Stellung der Kadettenjwte» der liberalen<br />

Bourgeois zur russischen demokratischen Massenbewegung sehen. Die<br />

liberale Bourgeoisie in Rußland „hat sich gefunden" oder, richtiger, sie hat<br />

ihren Schwanz gefunden. Sollte es da nicht an der Zeit sein, daß die<br />

Demokratie in Rußland ihren Kopf findet?<br />

Besonders widerlich ist der Anblick, wenn solche Subjekte wie Schtschepetew,<br />

Struve, Gredeskul, Isgojew und die übrige Kadettenkumpanei sich<br />

an die Rockschöße Nekrassows, Schtschedrins usw. hängen. Nekrassow<br />

schwankte aus persönlicher Schwäche zwischen Tschernyschewski und den<br />

Liberalen, aber seine ganzen Sympathien waren bei Tschemyschewski<br />

Nekrassow zeigte aus der gleichen persönlichen Schwäche heraus Anflüge<br />

von liberaler Liebedienerei, er hat seine „Sünden" jedoch bitterlich beweint<br />

und sie ö/fentliefe bereut-.<br />

Nicht Handel trieb ich mit der Leier, doch zuweilen,<br />

Wenn mich bedrohte unerbittliches Geschick,<br />

Kam es wohl vor, daß meine Hand der Leier<br />

Den falsdljen Jon entlockt...<br />

Ein .falscher Jon" - so nannte Nekrassow selbst seine liberal-liebedienerischen<br />

Sünden. Und Schtschedrin verspottete schonungslos die Liberalen,<br />

er brandmarkte sie für immer mit der Formel: „der Niedertracht<br />

angepaßt" 78 .<br />

Wie veraltet ist doch diese Formel, angewandt auf die Schtschepetew,<br />

Gredeskul. und sonstigen* „Wechi"-Leute! Jetzt geht es ganz und gar<br />

* Da wird es wohl Protest geben - Gredeskul wie auch Miljukow und Co.<br />

haben sich mit den „Wechi" gestritten. Gewiß, aber sie sind dabei „Wechi"-<br />

Leute geblieben. Siehe unter anderm Nr. 85 der „Prawda". (Siehe den vorliegenden<br />

<strong>Band</strong>, S. 243/244. Die <strong>Red</strong>)


306 W.J.<strong>Lenin</strong><br />

nicht darum, daß diese Herrschaften sich der Niedertracht anpassen. Woher<br />

auch! Sie haben selbst, auf der Grundlage des Neukantianertums und<br />

anderer modischer „europäischer" Theorien, aus eigener Initiative, auf<br />

eigene Art eine eigene Jheorie der „Niedertracht" begründet.<br />

II<br />

„Das von Anfang bis zu Ende verworrene Jahr 1905", schreibt Herr<br />

Schtschepetew. „Alles vermischte und verwirrte sich in allgemeinem Wirrwarr<br />

und sinnlosem Durcheinander."<br />

Auch zu diesem Punkt können wir nur einige wenige theoretische Einwände<br />

bringen. Wir sind der Meinung, daß man historische Ereignisse<br />

nach den Bewegungen der Massen und der Klassen in ihrer Gesamtheit<br />

beurteilen muß, nicht aber nach den Stimmungen einzelner Personen und<br />

Grüppdien.<br />

Die große Masse der Bevölkerung Rußlands bilden die Bauern und<br />

Arbeiter. Worin könnte man, was diese Masse der Bevölkerung betrifft,<br />

„völlige Verwirrung und sinnloses Durcheinander" erblicken? Ganz im<br />

Gegenteil, die objektiven Tatsachen beweisen unwiderleglich, daß gerade<br />

in den Massen der Bevölkerung eine unerhört breite und erfolgreiche<br />

Orientierung sich durchsetzte, die „Verwirrung und Durcheinander" für<br />

immer beendete.<br />

Bis dahin waren im „einfachen Volk" tatsächlich Elemente patriarchalischer<br />

Geducktheit und Elemente des Demokratismus „in dem allgemeinen<br />

Durcheinander" „verwirrt und vermischt". Davon zeugen solch objektive<br />

Tatsachen wie die, daß es zur Subatowiade und zur „Gaponiade" kommen<br />

konnte.<br />

Gerade das Jahr 1905 machte mit diesem „sinnlosen Durcheinander"<br />

ein für allemal Schluß. In der Geschichte Rußlands gab es noch keine<br />

Epoche, die mit so erschöpfender Klarheit, nicht mit Worten, sondern mit<br />

Taten, die durch jahrhundertelange Stagnation und jahrhundertealte Überreste<br />

der Leibeigenschaft verwirrten Verhältnisse entwirrte-, gab es keine<br />

Epoche, wo so deutlich und „sinnvoll" die Klassen sich voneinander abgrenzten,<br />

die Massen der Bevölkerung ihren Platz fanden, die Theorien<br />

und Programme der „Intelligenz" durch Aktionen der Millionen überprüft<br />

wurden.


Nodb ein Teldzug gegen die Demokratie 307<br />

Wie konnten nun die unbestreitbaren geschichtlichen Tatsachen im<br />

Kopfe eines gebildeten und liberalen Publizisten von der „RusskajaMysl"<br />

eine derart verzerrte Gestalt annehmen? Die Sache ist sehr einfach zu erklären:<br />

Dieser „Wechi"-Mann überträgt seine subjektiven Stimmungen<br />

auf das ganze Volk. Er persönlich und seine ganze Gruppe - die bürgerlich-liberale<br />

Intelligenz - befanden sich zu jener Zeit in einer besonders<br />

„sinnlosen", „von Anfang bis zu Ende verworrenen" Lage. Und von sich<br />

auf andere schließend, überträgt der Liberale seine eigene Unzufriedenheit,<br />

die ganz natürlich aus dieser Verworrenheit und daraus entstanden<br />

ist, daß die ganze Armseligkeit des Liberalismus von den Massen entlarvt<br />

wurde, auf die 7\iassen.<br />

Und in der Tat, war die Lage der Liberalen im Juni 1905 nicht wirklich<br />

sinnlos verworren? oder nach dem 6. August, als sie zum Eintritt in<br />

die Bulyginsche Duma aufriefen, das Volk aber in der Praxis an der Duma<br />

vorbei- und über die Duma hinausging? oder im Oktober 1905, als die<br />

Liberalen „hinterhertrippeln" und den Streik für „glorreich" erklären<br />

mußten, obwohl sie ihn gestern noch bekämpft hatten? oder im November<br />

1905, als die ganze klägliche Ohnmacht des Liberalismus, demonstriert an<br />

einer so markanten Tatsache wie dem Besuch Struves bei Witte, ans Tageslicht<br />

kam?<br />

Wenn der „Wechi"-Mann Schtschepetew einmal das Büchlein des<br />

„Wechi"-Mannes Isgojew über Stolypin lesen wollte, so könnte er feststellen,<br />

wie Isgojew diese „Verworrenheit" in der Lage der „zwischen zwei<br />

Feuern" stehenden Kadetten in der I. und II. Reichsduma zugeben mußte.<br />

Und diese „Verworrenheit" und Ohnmacht des Liberalismus war unvermeidlich,<br />

denn er hatte keine Massenbasis, weder in der Bourgeoisie oben<br />

noch in der Bauernschaft unten.<br />

Die Betrachtungen des Herrn Schtschepetew über die Geschichte der<br />

Revolution in Rußland schließen mit folgender Perle:<br />

„übrigens dauerte dieses ganze Durcheinander sehr kurze Zeit. Die führenden<br />

Kreise machten sich nach und nach von dem geradezu panischen Schrecken<br />

frei, der sie befallen hatte, und nachdem sie zu der einfachen Schlußfolgerung<br />

gekommen waren, daß eine gute Kompanie Soldaten wirkungsvoller sei als das<br />

ganze revolutionäre Gerede zusammengenommen, rüsteten sie ,Strafexpeditionen'<br />

aus und setzten die Schnelljustiz in Gang. Die Resultate übertrafen<br />

alle Erwartungen. In kaum zwei, drei Jahren war die Revolution in einem


308 IV. J. <strong>Lenin</strong><br />

Maße liquidiert and ausgemerzt, daß einige Institutionen der Ochrana stellenweise<br />

gezwungen waren, sie zu inszenieren ..."<br />

Wenn wir die vorangegangenen Betrachtungen des Verfassers wenigstens<br />

mit einigen theoretischen Kommenteren versehen konnten, so fehlt<br />

uns jetzt auch diese Möglichkeit. Wir müssen uns darauf beschränken,<br />

diese ruhmwürdigen Äußerungen fester und höher an den Schandpfahl<br />

zu nageln, auf daß sie länger und weiter sichtbar seien ...<br />

übrigens, wir können den Leser noch fragen: Ist es verwunderlich, daß<br />

der oktobristische „Golos Moskwy" wie auch das niederträchtige nationalistische<br />

„Nowoje Wremja" Sdrtsdiepetew zitierten und sich dabei vor<br />

Begeisterung geradezu überschlugen? In der Tat, wodurch unterscheidet<br />

sich die „historische" Einschätzung der „konstitutionell-demokratischen"<br />

Zeitschrift von der Einschätzung durch die zwei genannten Zeitungen?<br />

III<br />

Den meisten Raum nehmen bei Herrn Sditschepetew Skizzen über das<br />

Emigrantenleben ein. Um etwas diesen Skizzen Analoges zu finden,<br />

müßte man den „Russld Westnik" 79 aus der Zeit Katkows ausgraben und<br />

sich dort die Romane ansehen, in denen hochwohllöbliche Adelsmarschälle,<br />

gutherzige und zufriedene Bauern, unzufriedene Scheusale, Taugenichtse<br />

und Ungeheuer von Revolutionären geschildert werden.<br />

Herr Schtschepetew sah Paris (wenn er es überhaupt sah) mit den Augen<br />

des über die Demokratie erbosten Spießbürgers, der im ersten Erscheinen<br />

von demokratischer .Massenliteratur in Rußland einzig und allein „Beunruhigung"<br />

erblicken konnte.<br />

Bekanntlich sieht jeder im Ausland das, was er sehen will. Oder mit<br />

anderen Worten: Jeder sieht in den neuen Verhältnissen stcfo selbst. Der<br />

Schwarzhunderter sieht im Ausland hervorragende Gutsbesitzer, Generale<br />

und Diplomaten. Der Polizeispitzel sieht dort die edelmütigsten Polizisten.<br />

Der liberale russische Renegat sieht in Paris wohlmeinende Concierges<br />

und „tüchtige"* Krämer,die den russischen Revolutionären beibringen, daß<br />

bei ihnen „humanitäre und altruistische Gefühle schon gar zu sehr die<br />

Belange der Persönlichkeit erdrückt haben, und dies oft zum Schaden des<br />

* S. 139 des Artikels von Herrn Schtschepetew („Russkaja Mysl" 1912,<br />

Nr. 8).


!Afod) ein 7e\dzug gegen die "Demokratie 309<br />

allgemeinen Fortschritts und der kulturellen Entwicklung unseres ganzen<br />

Landes"*.<br />

Eine Lakaienseele interessiert sich natürlich vor allem für den in den<br />

Gesindestuben herrschenden Klatsch und für Skandale. Die ideologischen<br />

Fragen, die in Paris in Referaten und in den in russischer Sprache erscheinenden<br />

Zeitungen behandelt werden, bemerkt der Krämer und der<br />

liebedienernde Concierge selbstverständlich nicht. Wie sollte er auch sehen,<br />

daß in dieser Presse zum Beispiel schon 1908 die gleichen Fragen nach dem<br />

sozialen Charakter des Regimes des 3. Juni, nach den klassenmäßigen<br />

Wurzeln der neuen Strömungen im Demokratismus usw. aufgeworfen<br />

wurden**, die viel später, enger gefaßt, verzerrter (gestutzt) Eingang<br />

in die von einer verstärkten Ochrana „geschützte" Presse gefunden<br />

haben?<br />

Krämer und Lakai sind, wie sehr sich auch Leute mit einer solchen<br />

Seele ein „intellektuelles" Mäntelchen umhängen mögen, nicht imstande,<br />

diese Fragen zu sehen und zu verstehen. Wenn dieser Lakai sich „Publizist"<br />

einer liberalen Zeitschrift nennt, so übergeht dieser „Publizist" die<br />

großen ideologischen Fragen, die nirgendwo anders als in Paris offen und<br />

unumwunden gestellt worden sind, mit völligem Stillschweigen. Dafür<br />

aber wird ein solcher „Publizist" ausführlich über das berichten, worüber<br />

man in den Gesindestuben ausgezeichnet informiert ist.<br />

Er, dieser wohllöbliche Kadett von der Zeitschrift des hochwohllöblichen<br />

Herrn Struve, wird berichten, daß man aus der „Wohnung einer in Paris<br />

sehr bekannten Revolutionärin" „nicht ohne Hilfe der Polizei" eine unglückliche<br />

Prostituierte aus Emigrantenkreisen hinausbefördert hat; daß<br />

„Arbeitslose" auf einem Wohltätigkeitsball wiederum einen Skandal inszeniert<br />

haben,- daß ein Schreiber in einem Herrn Schtschepetew bekannten<br />

.Hause „eine recht beträchtliche Geldsumme im voraus eingesteckt hat<br />

und dann die Arbeit vernachlässigte" - daß die Emigranten „um 12 Uhr<br />

aufstehen, um 2-3 Uhr nachts schlafen gehen, den ganzen Tag Gäste,<br />

Lärm, Streit, Unordnung".<br />

über all dies wird die Lakaienzeitschrift des Kadetten Herrn Struve<br />

ausführlich berichten, mit Illustrationen, genießerisch, mit Würze - um<br />

nichts schlechter als Menschikow und Rosanow vom „Nowoje Wremja".<br />

* S. 153 ebenda.<br />

** Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 15, S. 264-277. Die <strong>Red</strong>.


310 W.J.Cenin<br />

„Geld her, oder ich hau dir in die Schnauze, diese unzweideutig feindselige<br />

Form haben die Beziehungen zwischen den oberen und den unteren Schichten<br />

der Emigration angenommen. Zwar hat diese Formel keine weite Verbreitung<br />

gefunden, und die .extremste Strömung unten* stellt sich dar" (so schreibt der<br />

gebildete Kadett in der Zeitschrift des Herrn Struve!) „alles in allem nur in<br />

ein, zwei Dutzend äußerst zweifelhafter Elemente, die vielleicht sogar von<br />

geschickter Hand von außen gelenkt werden ..."<br />

Verweilen Sie bei diesen Betrachtungen, lieber Leser, und denken Sie<br />

nach über den Unterschied zwischen einem gewöhnlichen Lakaien and<br />

einem als Publizist tätigen Lakaien. Der einfache Lakai ist - natürlich in<br />

der Masse, abgesehen von den bewußten Elementen, die bereits den<br />

Klassenstandpunkt bezogen haben und einen Ausweg aus ihrer Lage als<br />

Lakaien suchen - naiv, ungebildet, häufig primitiv und oft nicht des Lesens<br />

und Schreibens kundig; ihm ist die naive Sucht, alles weiterzuschwätzen,<br />

was ihm am leichtesten eingeht, was ihm am verständlichsten und vertrautesten<br />

ist, zu verzeihen. Der als Publizist tätige Lakai ist ein „gebildeter"<br />

Mensch, der in den besten Salons Aufnahme findet. Er erkennt, daß der<br />

kriminellen Hochstapler in der Emigration verschwindend wenige sind<br />

(„ein, zwei Dutzend" auf Jausende von Emigranten). Er erkennt sogar,<br />

daß diese Hochstapler „vielleicht von gesdhidkter "Hand" - aus einer Teestube<br />

des Bundes des russischen Volkes - „gelenkt werden".<br />

All das erkennt der als Publizist tätige Lakai und handelt „auf gebildete<br />

Art". Oh, er versteht es, Spuren zu verwischen und alles von der besten<br />

Seite zu zeigen! Er ist kein käuflicher Schreiberling der Schwarzhunderter,<br />

keineswegs. Er hat sogar „selbst" darauf hingewiesen, daß vielleidjt<br />

irgend jemand die ein, zwei Dutzend Hochstapler lenkt, aber gleichzeitig<br />

berichtet er über nidbls anderes als eben über diese Hochstapler, diese<br />

Skandale und das Bummeln von Schreibern!<br />

Die Schule des „Nowoje Wremja" ist für die „Publizisten" der „Russkaja<br />

Mysl" nicht umsonst gewesen. Der „Nowoje-Wremja"-Mann Suworin<br />

rühmte sich, niemals Subsidien erhalten zu haben - er habe nur „selbst<br />

vermocht", den richtigen Ton zu finden.<br />

Die „Russkaja Mysl" erhält keine Subsidien - gottbewahre! Nur „vermag<br />

sie selbst" den richtigen Ton zu finden, der den „Nowoje-Wremja"-<br />

Leuten und Gutschkows „Mordskerlen" genehm ist.


SVocfe ein Jeldzug gegen die Demokratie 311<br />

rv<br />

Ja, es gibt viel Schweres in den Emigrantenkreisen. Hier, und nur hier,<br />

wurden in den düsteren Jahren, in den Jahren der Stagnation, die wichtigsten<br />

prinzipiellen Fragen der gesamten russischen Demokratie gestellt.<br />

In diesen Kreisen gibt es mehr Elend und Not als irgendwo anders. Hier<br />

ist der Prozentsatz der Selbstmorde besonders groß, hier ist der Prozentsatz<br />

der Menschen, die nur ein einziges Bündel kranker Nerven sind, unwahrscheinlich,<br />

grauenhaft hoch. Kann es anders sein inmitten solch gepeinigter<br />

Menschen?<br />

Verschiedene Menschen interessieren sich für verschiedene Dinge, wenn<br />

sie in Emigrantenkreise geraten. Die einen interessiert die offene Behandlung<br />

der wichtigsten prinzipiellen Fragen der Politik. Andere interessieren<br />

sich für Berichte über einen Ballskandal, über einen pflichtvergessenen<br />

Schreiber, über die Unzufriedenheit der Conderges und Krämer mit der<br />

Lebensweise der Emigranten... Jedem das Seine.<br />

Und doch, wenn man die ganze Schwere des aufreibenden, verhaßten,<br />

krankhaft nervösen Emigrantenlebens durchmacht, und wenn man dann<br />

an das Leben der Herren Schtschepetew, Struve, Golowin, Isgojew und<br />

Co. denkt, dann kann man nur sagen: Welch unermeßliches Glück, daß<br />

wir nicht zu dieser Gesellschaft der „anständigen Leute" gehören, zu einer<br />

Gesellschaft, wo diese Herrschaften verkehren, wo man ihnen die Hand<br />

reicht!<br />

In dieser „anständigen Gesellschaft" gibt es sicherlich keine Skandale.<br />

Die Prostituierten geraten nicht, fast als wären sie ihresgleichen, in die<br />

Wohnungen dieser Herrschaften. Nein. Sie bleiben in anderen Wohnungen.<br />

Die Arbeitslosen inszenieren keine Skandale auf den Bällen dieser<br />

Gesellschaft. Auf ihren Bällen geht es manierlich zu. Bei ihnen ist das getrennt:<br />

die Prostituierten (aus den Reihen der Arbeitslosen) in der einen<br />

Wohnung, die Bälle in der anderen. Und wenn sie Schreiber engagieren,<br />

so lassen sie niemals eine solche Liederlichkeit zu, daß der Schreiber Geld<br />

im voraus einsteckt und es dann noch wagt, zu bummeln.<br />

Skandale um Geld sind bei ihnen unmöglich. In ihrer Umgebung befinden<br />

sich keine hungrigen, gequälten, zum Selbstmord bereiten Leute<br />

mit zerrütteten Nerven. Wenn aber „die Millionen sich verbrüdern" -


312 19.1. <strong>Lenin</strong><br />

heute mit der „Wissenschaft" in der Person der Herren Stnrve und Co.,<br />

morgen mit dem Abgeordnetenmandat in der Person der Herren Golowin<br />

und Co., übermorgen mit dem Abgeordneten- und Advokatentitel in der<br />

Person der Herren Maklakow und Co. 80 -, was ist daran schon Skandalöses??<br />

Hier ist alles purer Edelmut. Wenn die Schriften der Herren Struve,<br />

Gredeskul, Scbtschepetew und Co. gegen die Demokratie den Rjabuschinski<br />

usw. Vergnügen bereiten, was ist daran Schlimmes? Struve erhält ja<br />

keine Subsidien, er findet „selbst" den richtigen Ton! Niemand kann<br />

sagen, daß die „Russkaja Mysl" eine Mätresse der Herren Rjabuschinski<br />

ist. Niemand kommt auf den Gedanken, das Vergnügen, das den Herren<br />

Rjabuschinski gewisse „Publizisten" bereiten, mit dem Vergnügen zu vergleichen,<br />

das in alten Zeiten die Gutsherren empfanden, wenn ihnen leibeigene<br />

Mädchen die Fußsohlen kitzelten.<br />

In der Tat, was können denn die Herren Struve oder Gredeskul,<br />

Schtschepetew usw. dafür, wenn ihre Schriften und <strong>Red</strong>en, in denen sie<br />

ihre Überzeugungen darstellen, für den über die Revolution erbosten<br />

russischen Kaufmann und Gutsbesitzer eine Art Fußsohlenkitzel sind?<br />

Was ist daran skandalös, daß der frühere Abgeordnete Herr Golowin<br />

sich eine einträgliche Konzession gesichert hat? Er hat ja sein Abgeordnetenmandat<br />

niedergelegt!! Das heißt, als er Abgeordneter war, hatte er<br />

noch keine Konzession, sie wurde erst vorbereitet. Als er aber die Konzession<br />

hatte, war er kein Abgeordneter mehr. Ist es nicht klar, daß die Sache<br />

sauber ist?<br />

Ist es nicht offenkundig, daß nur Verleumder mit Fingern auf Maklakow<br />

zeigen können? Er hat Tagijew doch - wie er selbst in einem Brief in<br />

der „Retsch" erklärte - „im Einklang mit seinen Überzeugungen" verteidigt!<br />

Es steht ohne jeden Zweifel fest, daß eine Pariser Concierge oder<br />

ein Pariser Krämer rein nichts, aber auch absolut gar nichts Anstößiges,<br />

Peinliches, Skandalöses in der Lebensweise und in den Handlungen dieser<br />

ganzen ehrenwerten Kadettengesellschaft finden wird.<br />

Die allgemeinen prinzipiellen Betrachtungen des Herrn Schtschepetew<br />

verdienen vollständig wiedergegeben zu werden:


'Nodh ein JeUzug gegen die Demokratie ' 313<br />

„Bis jetzt haben, besonders in den Kreisen, die an der Revolution teilgenommen<br />

haben, humanitäre und altruistische Gefühle schon gar zu sehr die<br />

Belange der Persönlichkeit erdrückt, und dies oft zum Schaden des allgemeinen<br />

Fortschritts and der kulturellen Entwicklung unseres ganzen Landes. Das<br />

Streben nach .gesellschaftlichem Nutzen' und nach dem ,Wohlergehen des<br />

ganzen Volkes' hat die Menschen gar zu sehr sich selbst, ihre persönlichen Bedürfnisse<br />

und Belange vergessen lassen, so sehr, daß die gesellschaftlichen<br />

Gefühle und Bestrebungen als solche nicht in Gestalt positiver (!!) schöpferischer<br />

und vollauf bewußter Arbeit realisiert werden konnten, sondern verhängnisvoll<br />

zu passiven Formen der Selbstaufopferung führten. Und nicht nur<br />

speziell auf diesem Gebiet, sondern auch in der Sphäre der alltäglichsten Beziehungen<br />

wurden die Belange der Persönlichkeit ständig und auf jede nur<br />

mögliche Art erdrückt, einerseits durch das ,kranke Gewissen', das diesen Drang<br />

nach Heldentaten und Selbstaufopferung häufig zu gigantischen Ausmaßen<br />

anwachsen ließ, anderseits durch ungenügende Achtung vor dem Leben selbst,<br />

die durch unser niedriges Kulturniveau bedingt ist. Und das Ergebnis: ein<br />

ständiger Zwiespalt, das ständige Bewußtsein der Unzulänglichkeit und sogar<br />

.Sündhaftigkeit' des eigenen Lebens, das ständige Bestreben, sich zu opfern,<br />

den Besitzlosen und Elenden Hilfe zu bringen, schließlich ,ins Lager der dem<br />

Tode Geweihten' zu gehen - eine Tatsache, die in unserer Literatur so vollkommene<br />

und so deutliche Widerspiegelung gefunden hat.<br />

Nichts dergleichen findet sich in den Anschauungen und Sitten des französischen<br />

Volkes..."<br />

Das ist... der Kommentar zu den politischen and programmatischen Erklärungen<br />

des Herrn Gredeskul, die die „Retsch" ohne einen einzigen<br />

Vorbehalt abgedruckt hat und an die die „Prawda" (Nr. 85) erinnerte,<br />

als die „Retsch" sie zu vergessen wünschte.<br />

Das ist... die Fortsetzung und Wiederholung der „Wechi". Wieder<br />

und wieder kann und muß man sich am Beispiel dieser Betrachtungen<br />

davon überzeugen, daß die „Wechi" nur scheinbar gegen die „Intelligenz"<br />

kämpfen, daß sie in Wirklichkeit gegen die "Demokratie kämpfen, sich<br />

vollständig von der Demokratie lossagen.<br />

Die Einheit der „Wechi", Gredeskuls und der „Retsch" muß besonders<br />

jetzt, in den Tagen der Wahlen unterstrichen werden, wo die Kadetten<br />

durch ein falsches Spiel mit dem Demokratismus mit aller Kraft versuchen,<br />

alle wirklich wichtigen und grundlegenden prinzipiellen Fragen der<br />

Politik zu vertuschen und zu verwischen. Eine der dringendsten praktischen<br />

Aufgaben der Demokratie ist es, diese Fragen in den Wahlversammlungen<br />

21 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>


314 TV. 3. <strong>Lenin</strong><br />

auf zuwerfen, einem möglichst breiten Publikum Sinn und Bedeutung der<br />

<strong>Red</strong>en der Herren Schtschepetew und aller „Wedii"-Leute zu erklären,<br />

die Heuchelei der „Retsch" und der Miljukow aufzudecken, wenn sie versuchen,<br />

die Verantwortung für die „Russkaja Mysl" von sich abzuwälzen,<br />

obgleich in ihr Mitglieder der Partei der Kadetten schreiben.<br />

Der „Streit" mit den „Wechi"-Leuten, die „Polemik" der Herren<br />

Gredeskul, Miljukow und anderer gegen sie sind nur Täuschungsmanöver,<br />

nur heuchlerische Maskierung der tiefreichenden prinzipiellen Solidarität<br />

der ganzen Kadettenpartei mit den „Wechi". Kann man sich denn in der<br />

Tat um die grundsätzlichen Behauptungen aus dem angeführten Zitat<br />

„streiten" ? Kann man denn mit Menschen, die solche Anschauungen vertreten,<br />

in einer Partei bleiben, ohne die volle Verantwortung für diese<br />

Propaganda des entschiedenen Bruchs mit den elementarsten Prinzipien<br />

jeglicher Demokratie zu tragen?<br />

Die Frage wird von denen verdunkelt, die sich darauf einlassen, sie ä la<br />

„Wechi" zu stellen, indem sie Begriffe wie „Individualismus", „Altruismus"<br />

usw. einander entgegensetzen. Der politische Sinn dieser Phrasen ist<br />

sonnenklar: das ist die Wendung gegen die Demokratie, das ist die Wendung<br />

zum konterrevolutionären Liberalismus.<br />

Es gilt zu begreifen, daß diese Wendung kein Zufall ist, sondern Resultat<br />

der Klassenlage der Bourgeoisie. Es gilt, hieraus die notwendigen politischen<br />

Schlußfolgerungen hinsichtlich einer klaren Abgrenzung der Demokratie<br />

vom Liberalismus zu ziehen. Ohne Erkenntnis dieser Wahrheiten,<br />

ohne ihre weite Verbreitung unter der Masse der Bevölkerung kann von<br />

einem ernsthaften Schritt nach vom nicht die <strong>Red</strong>e sein.<br />

„Newskaja Swesda" JJr. 24 und 25, Naä) dem Jext der<br />

2. und 9. September i9i2. „Newskaja Swesda".<br />

VntersdbriSt:W.J.


EINTRACHT ZWISCHEN DEN KADETTEN<br />

UND DEN LEUTEN VOM „NOWOJE WREMJA"<br />

315<br />

Bei uns ist man allzu häufig geneigt, in der Wahlkampagne einen Kampf<br />

um Mandate, d. h. um Abgeordnetensitze in der Duma, zu sehen.<br />

Für die klassenbewußten Arbeiter ist diese Kampagne vor allem und in<br />

erster Linie ein Kampf um Prinzipien, d. h. um grundlegende Auffassungen,<br />

politische Überzeugungen. Ein solcher Kampf, der vor den Augen der<br />

Massen geführt wird und der die Massen in die Politik einbezieht, bildet<br />

einen der wichtigsten Vorzüge des Repräsentativsystems.<br />

Unsere Kadetten aber weichen, was die von uns aufgeworfenen prinzipiellen<br />

Fragen des Liberalismus und des Demokratismus, der Politik des<br />

„Friedens" und der Politik des Klassenkampfes angeht, einer grundsätzlichen<br />

Polemik aus und fauchen nur nach rechts und nach links wegen<br />

unserer angeblichen „Kadettenfresserei".<br />

Indessen springen die Tatsachen ins Auge, die auf eine rührende prinzipielle<br />

Eintracht zwischen den Kadetten und den Leuten vom „Nowoje<br />

Wremja" bei der Beurteilung erstrangiger Fragen des russischen Lebens<br />

schließen lassen.<br />

Erschienen ist Heft 8 der „Russkaja Mysl". Diese Zeitschrift wird von<br />

dem Kadetten Struve redigiert, und es schreiben für sie die Kadetten<br />

Isgojew, Sewerjanin, Galitsch und viele andere.<br />

Herr A. Schtschepetew bringt hier unter dem Titel „Die Russen in<br />

Paris" ein schmutziges, im Geiste der Schwarzhunderter gehaltenes Pasquill<br />

auf die Revolution und die Revolutionäre. Das „Nowoje Wremja"<br />

nimmt das von der „Russkaja Mysl" angestimmte Lied sofort auf, zitiert<br />

daraus eine ganze Reihe von „Perlen" und ruft außer sich vor Begeisterung:<br />

„Man bedenke nur, daß diese armseligen Menschheitsvertreter (d. h.


316 W.']. <strong>Lenin</strong><br />

die Revolutionäre in der Darstellung der „Russkaja Mysl") „Anspruch auf<br />

die Rolle der Erneuerer des russischen Lebens erheben."<br />

Was wird uns wohl die offiziell-kadettische „Retsdi" sagen? Das „betrifft<br />

nicht" die Wahlen, d. h. den Kampf um die Abgeordnetensitze?<br />

Oder sie sei „nicht verantwortlich" für die „Russkaja Mysl", d. h., die<br />

Partei sei nicht verantwortlich für ihre Mitglieder, die von keiner einzigen<br />

Kadettenkonferenz auch nur ein einziges Mal verurteilt worden sind?<br />

Mag sich die „Retsdi" drehen und wenden, mögen prinzipien- und<br />

charakterlose Leute über unsere „Kadettenfresserei" die Achseln zucken,<br />

wir werden nicht müde werden, den Bürgern Rußlands zu sagen: Befaßt<br />

euch mit den Prinzipien der Kadetten und bleibt nicht schimpflich gleichgültig,<br />

wenn die „konstitutionellen Demokraten" die Demokratie mit<br />

Schmutz bewerfen.<br />

Hier einige wenige, aber sehr plastische und dabei prinzipielle, sich<br />

nicht auf Klatscherei beschränkende, Stellen aus dem Artikel des Schwarzhunderter-Kadetten<br />

Herrn Schtschepetew:<br />

„Bis jetzt haben, besonders in den Kreisen, die an der Revolution teilgenommen<br />

haben, humanitäre" (d.h. menschenfreundliche) „und altruistische"<br />

(uneigennützige, nicht der Sorge ran die eigene Haut entspringende)<br />

„Gefühle schon gar zu sehr die Belange der Persönlichkeit erdrückt,<br />

und dies oft zum Schaden des allgemeinen Fortschritts und der kulturellen<br />

Entwicklung unseres ganzen Landes. Das Streben nach gesellschaftlichem<br />

Nutzen' und nach dem ,Wohlergehen des ganzen Volkes'" (die ironischen<br />

Anführungszeichen stammen von der „Russkaja Mysl") „hat die Menschen<br />

gar zu sehr sich selbst, ihre persönlichen Bedürfnisse und Belange<br />

vergessen lassen... Und das Ergebnis: ein ständiger Zwiespalt, das ständige<br />

Bewußtsein der Unzulänglichkeit und sogar ,Sündhaftigkeif des eigenen<br />

Lebens, das ständige Bestreben, sich zu opfern, den Besitzlosen und<br />

Elenden Wlje zu bringen, schließlich ,ins Lager der dem Tode Geweihten'<br />

zu gehen - eine Tatsache, die in unserer Literatur so vollkommene und so<br />

deutliche Widerspiegelung gefunden hat". („Russkaja Mysl" Nr. 8,<br />

S. 152/153.)<br />

Welche Verachtung verdient eine demokratisch sein wollende Partei,<br />

die in ihren Reihen diese Herrschaften duldet; die die grundlegendsten, elementarsten<br />

Prämissen, Überzeugungen, Prinzipien der ganzen Demokratie<br />

mit Schmutz bewerfen.


Eintradbt zwisdben den Kadetten und den Leuten vom „Nowoje Wremja" 317<br />

Die liberale Bourgeoisie haßt die Demokratie - das bewies der Sammelband<br />

„Wechi", das beweist allmonatlich die „Russkaja Mysl", das haben<br />

die Karaulow und Gredeskul bewiesen.<br />

Die Liberalen selbst errichten eine Trennwand zwischen sich und der<br />

Demokratie.<br />

.Vrawda" "Nr. 109, Tiado dem Jext der .Vrawda".<br />

5. September i912.<br />

r Untersd}rift:1.'W.


3<strong>18</strong><br />

ZU DEM BRIEF VON N. S. POLJANSKI<br />

Der in der vorliegenden Nummer der „Prawda" veröffentlichte Brief<br />

ans dem Dorfe von N. S. Poljanski wirft eine sehr interessante Frage auf.<br />

Es wäre zu wünschen, daß sich die Bauern selbst häufiger zu dieser Frage<br />

äußerten.<br />

Wir unserseits halten es für notwendig, folgendes zu bemerken.<br />

N. S. Poljanski hat durchaus recht, wenn er sagt, daß nur ein „Müßiggänger"<br />

annehmen könne, daß in der Amtsbezirksversammlung nur Narren<br />

säßen. Nur die Bauern selber können entscheiden, welche Form der<br />

Bodennutzung und des Bodenbesitzes in dieser oder jener Gegend geeigneter<br />

ist. Jegliche Einmischung des Gesetzes oder der Verwaltung in die<br />

freie Verfügung der Bauern über den Boden ist ein Oberrest der Leibeigenschaft.<br />

Etwas anderes als Schaden für die Sache, als Erniedrigung<br />

und Beleidigung des Bauern kann bei einer solchen Einmischung nicht herauskommen.<br />

Ein Landarbeiter hat in seinem Brief in Nr. 38 der „Prawda" sehr<br />

schön dargelegt, welch sinnloser Bürokratismus durch eine solche Einr<br />

mischung entsteht.<br />

Untersuchen wir nun, wie die Frage: Einzelhof oder Dorfgemeinde?<br />

von den Millionen und aber Millionen Menschen gesehen werden muß, die<br />

sich ewig mühen und die ewig ausgebeutet werden.<br />

Aufgabe dieser Menschen kann es keineswegs sein, darüber nachzudenken,<br />

was sie wählen sollen.- Einzelhof oder Dorfgemeinde. Sie müssen<br />

darüber nachdenken, wer sie ausbeutet und wie man diese Ausbeutung<br />

mildern und abschaffen kann.<br />

Im Europäischen Rußland zum Beispiel haben 30 000 Großgrund-


Zu dem "Brief von 3V. S. Poljanski 319<br />

besitzer 70 000 000 Desjatinen Land, und ebensoviel Land haben<br />

10000000 arme Bauern. Ob diese Bauern auf Einzelhöfen oder in der<br />

Dorfgemeinde sitzen, ihr elendes Dasein wird sich dadurch um keinen<br />

Deut verändern. Habe ich mit meiner Familie sieben Desjatinen schlechten<br />

Bodens und der Gutsbesitzer nebenan 2000 Desjatinen ausgezeichnete<br />

Ländereien, so wird es, gleich ob auf dem Einzelhof oder in der Dorfgemeinde,<br />

fast so sein wie unter der Leibeigenschaft.<br />

Die Hungernden täuscht man mit der Frage: Einzelhof oder Dorfgemeinde,<br />

Grützepastete oder Kohlpastete. Aber wir essen Melde, leben<br />

auf sumpfigem Boden oder auf Sandboden, und für die Tränke, die Weide<br />

und den Acker leisten wir Frondienste.<br />

Mit Hilfe der Einzelhöfe will man „kleine Gutsbesitzer" schaffen - um<br />

die großen Gutsbesitzer zu schützen. Aber Millionen und aber Millionen<br />

Bauern werden dadurch nur noch mehr Hunger leiden.<br />

In Westeuropa hat sich die Landwirtschaft wirklich rasch und erfolgreich<br />

nur dort entwickelt, wo jegliche Überreste des Leibeigenschaftsjodhs<br />

gänzlich beseitigt waren.<br />

In den wirklich freien Ländern, in denen die Landwirtschaft gute Bedingungen<br />

hat, gibt es nur noch eine Macht, die den Bauern und den<br />

Arbeiter unterdrückt - die Macht des Kapitals. Gegen diese Macht kann<br />

nur eins helfen: das freie Bündnis der Lohnarbeiter und der ruinierten<br />

Bauern. Aus solchen Bündnissen erwächst eine neue gesellschaftliche Ordnung,<br />

in der hochkultivierte Ländereien, kunstvolle Maschinen, Dampf<br />

und Elektrizität dazu dienen werden, das Leben der Werktätigen selbst<br />

zu verbessern, nicht aber eine Handvoll Millionäre zu bereichern.<br />

.Prawda" Nr. ii8, "Naä] dem 7ext der „Prawda".<br />

15. September i9i2.<br />

tlntersd>rift:7r.


320<br />

ÜBER DIE POLITISCHE LINIE<br />

Die „Newskaja Swesda" und die „Prawda" haben zweifellos eine klar<br />

ausgeprägte Physiognomie, die nicht nur den Arbeitern, sondern auch allen<br />

politischen Parteien Rußlands bekannt ist - dank den Angriffen auf die<br />

„Prawda" und die „Newskaja Swesda" von sehen sowohl der Schwarzhunderter<br />

und Oktobristen („Rossija", „Nowoje Wremja", „Golos<br />

Moskwy" usw.) als auch der Liberalen („Retsdi", „Saprossy Shisni" u. a.).<br />

Die Beurteilung der politischen Linie, die die genannten Zeitungen verfolgen,<br />

ist vom Standpunkt der Wahlkampagne von besonderem Interesse,<br />

denn eine solche Beurteilung ist unausbleiblich mit einer Überprüfung<br />

der Ansichten über die grundsätzlichen, prinzipiellen Fragen verbunden.<br />

Aus diesem Grunde wollen wir auf den Artikel von N. Nikolin im „Newski<br />

Golos" Nr. 9 über die Linie der „Prawda" und der „Newskaja<br />

Swesda" eingehen. Der Artikel enthält, wie der Leser sehen wird, nicht<br />

wenige ausnehmend böse Worte, aber darüber kann man (und muß man)<br />

hinwegsehen, weil der Verfasser versucht, auf den Kern überaus wichtiger<br />

Fragen einzugehen.<br />

„Ich muß zugeben", schreibt N. Nikolin, „daß die .Prawda' in vieler Hin J<br />

sieht ziemlich zufriedenstellend die Aufgabe löst, den Wünschen, Nöten, Bedürfnissen<br />

und Interessen des russischen Proletariats Ausdruck zu geben.<br />

Leider entwertet sie diese ihre nützliche Arbeit stark durch eine völlig törichte,<br />

von der Wahrheit weit entfernte und im Hinblick auf die sich daraus ergebenden<br />

Folgen äußerst schädliche Darstellung der politischen Wirklichkeit."<br />

Lassen wir die bösen Worte beiseite und nehmen wir die Hauptsache:<br />

die Darstellung der politischen Wirklichkeit. Für diese direkte, wirklich<br />

grundsätzliche Fragestellung wollen wir dem Verfasser gern seine Gereiztheit<br />

verzeihen. Streiten wir um das Wesentliche. In der Tat kann man in


über die politische Linie 321<br />

der praktischen Arbeit keinen Schritt tun ohne feste Ansichten darüber,<br />

wie denn unsere „politische Wirklichkeit" beschaffen ist.<br />

Nachdem N. Nikolin die Frage direkt gestellt hat, beantwortet er sie so:<br />

„Die .Prawda' bemüht sich, in diesem Falle dem Beispiel der .Newskaja<br />

Swesdä' folgend, ihren Lesern zu versichern, daß die Arbeiterklasse das neue<br />

Rußland entgegen den Liberalen errichten müsse. Das klingt natürlich stolz,<br />

enthält aber nichts weiter als Unsinn. Das neue Rußland errichtet niemand, es<br />

wird erridbtet (hervorgehoben von N. Nikolin selbst) in dem komplizierten<br />

Prozeß des Kampfes der verschiedenen Interessen, und die Aufgabe der Arbeiterklasse<br />

besteht nicht darin, trügerische Pläne zur Errichtung eines neuen<br />

Rußlands für andere und entgegen all diesen anderen zu schmieden, sondern<br />

darin, im Rahmen dieses letzteren die günstigsten Bedingungen für die eigene<br />

weitere Entwicklung zu schaffen."<br />

Audi hier verzeihen wir dem Verfasser gern seinen „Überschwang",<br />

seine äußerste Gereiztheit, weil er versucht, den Stier bei den Hörnern zu<br />

packen. N. Nikolin geht hier offener, aufrichtiger und überlegter als viele<br />

Liquidatoren an eine der tiefsten Quellen unserer grundlegenden Meinungsverschiedenheiten<br />

heran.<br />

„Das neue Rußland errichtet niemand, es wird erridbtet in dem Prozeß<br />

..." - wer erkennt in dieser vortrefflichen Betrachtung nicht das<br />

grundlegende und immer wiederkehrende Leitmotiv der ganzen liquidatorischen<br />

(ja noch breiter: der ganzen opportunistischen) Musik?<br />

Nehmen wir diese Betrachtung unter die Lupe.<br />

Wird das neue Rußland in dem Prozeß des Kampfes der verschiedenen<br />

Interessen errichtet, so heißt das, daß die Klassen, die verschiedene<br />

Interessen haben, das neue Rußland auf verschiedene Weise errichten. Das<br />

ist so klar wie der lichte Tag. Welchen Sinn hat dann N. Nikolins Qegenüberstellung:<br />

„Das neue Rußland errichtet niemand, es wird erridbtet<br />

usw."?<br />

Sie hat überhaupt keinen Sinn. Sie ist Unsinn vom Standpunkt der elementarsten<br />

Logik.<br />

Aber dieser Unsinn hat seine eigene Logik: die Logik des Opportunismus,<br />

der notwendig, nicht zufällig, in Nikolinsche Fehler verfällt, wenn er<br />

versucht, seine Position „marxistisch" zu verteidigen. Bei dieser „Logik<br />

des Opportunismus" gilt es denn auch zu verweilen.<br />

Wer sagt: das neue Rußland errichten die und die Klassen, der steht so


322 19.1. <strong>Lenin</strong><br />

fest auf dem Boden des Marxismus, daß nicht nur die bösen Worte N. Nikolins,<br />

sondern sogar... sogar die liquidatorischen „Vereinigungs"konferenzen<br />

samt ihrem noch so heftigen Wort„gedonner" außerstande sind,<br />

ihn zu erschüttern.<br />

Wer sagt: „Das neue Rußland errichtet niemand, es wird erridbtet<br />

usw.", der gleitet von der Objektivität des Klassenkampfes (d.h. vom<br />

Marxismus) zur „Objektivität" bürgerlicher Rechtfertigung der Wirklichkeit<br />

ab. Eben hier liegt die Quelle des Sündenfalls aus dem Marxismus in<br />

den Opportunismus^den Herr Nikolin (ohne es selbst zu bemerken) vollzieht.<br />

Sage ich: das neue Rußland muß man so und so, vom Standpunkt, sagen<br />

wir, der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der ausgleichenden Verteilung nach<br />

dem Arbeitsprinzip u. dgl. m. errichten, so ist das Subjektivismus, der mich<br />

in das Gebiet von Hirngespinsten führt. In Wirklichkeit werden die<br />

Kämpfe der Klassen, und nicht meine guten Wünsche, die Errichtung<br />

eines neuen Rußlands bestimmen. Meine Ideale von der Errichtung eines<br />

neuen Rußlands werden nur dann keine Hirngespinste sein, wenn sie<br />

wirklich die Interessen einer existierenden Klasse ausdrücken, deren<br />

Lebensbedingungen dazu zwingen, in einer bestimmten Richtung tätig zu<br />

sein. Stelle ich mich auf diesen Standpunkt der Objektivität des Klassenkampfes,<br />

so rechtfertige ich keineswegs die Wirklichkeit, sondern zeige im<br />

Gegenteil in dieser Wirklichkeit selbst die tiefsten (wenn auch auf den<br />

ersten Blick nicht sichtbaren) Quellen und Kräfte ihrer Umgestaltung.<br />

Sage ich aber: „Das neue Rußland errichtet niemand, es wird erridbtet<br />

im Kampf der Interessen", so werfe ich sofort einen gewissen Schleier<br />

über das klare Bild des Kampfes bestimmter Klassen, mache ich denjenigen<br />

Zugeständnisse, die nur die an der Oberfläche sichtbaren Handlungen der<br />

herrschenden Klassen, d. h. besonders der Bourgeoisie, sehen. Ich verfalle<br />

unwillkürlich in eine Rechtfertigung der Bourgeoisie, statt der Objektivität<br />

des Klassenkampfes nehme ich die auffälligste oder die zeitweilig<br />

erfolgreiche bürgerliche Richtung zum Kriterium.<br />

Erläutern wir das durch ein Beispiel aus der Geschichte. Das neue<br />

Deutschland (das Deutschland der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts)<br />

wurde „errichtet" im Prozeß des Kampfes der verschiedenen Interessen.<br />

Kein einziger gebildeter Bourgeois wird das bestreiten - und er wird auch<br />

nicht darüber hinausgehen.


Tiber die politisdhe Linie 323<br />

Hier Marx' Urteil in der „kritischsten" Periode der Errichtung des<br />

neuen Deutschlands:<br />

„Die hohe Bourgeoisie", schrieb Marx im Jahre <strong>18</strong>48, „von jeher antirevolutionär,<br />

schloß aus Furcht vor dem Volk, d. h. vor den Arbeitern und<br />

der demokratischen Bürgerschaft, ein Schutz- und Trutzbündnis mit der<br />

Reaktion." „Die französische Bourgeoisie von 1789 ließ ihre Bundesgenossen,<br />

die Bauern, keinen Augenblick im Stich. Sie wußte, die Grundlage<br />

ihrer Herrschaft war Zertrümmerung des Feudalismus auf dem Lande,<br />

Herstellung der freien, grundbesitzenden Bauernklasse. Die deutsche<br />

Bourgeoisie von <strong>18</strong>48 verrät ohne allen Anstand diese Bauern, die ihre<br />

natürlichsten Bundesgenossen, die Fleisch von ihrem Fleisch sind, und<br />

ohne die sie machtlos ist gegenüber dem Adel. Die Fortdauer... der<br />

Feudalrechte..., das ist also das Resultat der deutseben Revolution von<br />

<strong>18</strong>48. Das ist die wenige Wolle von dem vielen Geschrei!" 81<br />

Bei Marx treten sofort und lebensvoll die Nassen hervor, die das neue<br />

Deutschland erridbteten.<br />

Der bürgerliche Gelehrte, der im Namen der „Objektivität" die Wirklichkeit<br />

zu rechtfertigen sucht, sagt: Bismardc hat Marx besiegt, Bismarck<br />

hat in Rechnung gestellt, wie „das neue Deutschland in dem komplizierten<br />

Prozeß des Kampfes der verschiedenen Interessen erridrtet wurde". Marx<br />

aber schmiedete „trügerische Pläne zur Errichtung" einer großdeutschen<br />

demokratischen Republik, entgegen den Liberalen, mit den Kräften der<br />

Arbeiter und der demokratischen (kein Bündnis mit der Reaktion eingehenden)<br />

Bourgeoisie.<br />

Eben das behaupten in tausend Zungen die bürgerlichen Gelehrten. Betrachten<br />

wir diese Frage rein theoretisch, so fragen wir uns: Worin besteht<br />

ihr Fehler? In der Verschleierung und Vertuschung des Klassenkampfes.<br />

Darin, daß sie (vermittels der schembar tiefsinnigen <strong>Red</strong>eweise: Deutschland<br />

wurde in dem Prozeß usw. erriöhtet) die Wahrheit vertuschen, daß<br />

das Bismarcksche Deutschland von der Bourgeoisie errichtet wurde, die<br />

durch ihren „Verrat und Treubruch" „machtlos gegenüber dem Adel" war.<br />

Marx dagegen erlaubte die Objektivität des Klassenkampfes, die<br />

potitisdbe "Wirkiidhkeit hundertmal tiefer und genauer zu verstehen, wobei<br />

er sie keineswegs zu rechtfertigen suchte, sondern umgekehrt gerade die<br />

Klassen in ihr aufzeigte und hervorhob, die das demokratische Deutschland<br />

errichteten, die es vermochten, selbst angesichts der ausschließlich für


324 W. J. <strong>Lenin</strong><br />

Bismardc vorteilhaften Wende der Ereignisse zum Bollwerk des Demokratismus<br />

und des Sozialismus zu werden.<br />

Marx verstand die politische Wirklichkeit so richtig und so tief, daß er<br />

im Jahre <strong>18</strong>48 für ein halbes Jahrhundert im voraus das "Wesen des Bismarcksdien<br />

Deutschlands einschätzen konnte-, es ist das ein Deutschland<br />

der Bourgeoisie, die „machtlos ist gegenüber dem Adel". 64 Jahre später<br />

bei den Wahlen im Jahre 1912, erfahr diese Marxsche Einschätzung ihre<br />

völlige Bestätigung in dem Verhalten der Liberalen.<br />

In ihrem schonungslosen, unerhört scharfen und ein allgemeines Geheul<br />

der Liberalen (entschuldigen Sie die scharfe Ausdrucksweise, verehrter<br />

Nikolin!) hervorrufenden Kampf gegen die Liberalen seit <strong>18</strong>48 gaben sich<br />

Marx und die Marxisten keineswegs „Trugbildern" hin, wenn sie für den<br />

„Plan" eines großdeutschen demokratischen Staates eintraten.<br />

Im Gegenteil, indem sie für diesen „Plan" eintraten und ihn unentwegt<br />

propagierten, indem sie die Liberalen und die Demokraten geißelten, die<br />

ihn verrieten, erzogen Marx und die Marxisten eben jene Klasse, in der<br />

die lebendigen Kräfte des „neuen Deutschlands" liegen und die jetzt -<br />

dank der konsequenten, aufopferungsvollen und entschlossenen Propaganda<br />

von Marx - für ihre historische Rolle des Totengräbers nicht nur<br />

der Bismarckschen Bourgeoisie, sondern der Bourgeoisie überhaupt wohlgerüstet<br />

und geschult ist.<br />

*<br />

Das Beispiel aus der Geschichte Deutschlands zeigt uns die Cogik des<br />

Opportunismus in den Ansichten Nikolins, der uns gerade deshalb so<br />

aufgebracht wegen „ausgesprochner Kadettenfresserei" tadelt, weil er<br />

nidbt siebt, wie er selber zu den liquidatorischen Ideen der liberalen<br />

Arbeiterpolitik hinabgleitet.<br />

Je mehr sich N. Nikolin (und er ist nicht allein!) ärgert und um die<br />

Sache herumdrückt, um so nachdrücklicher und eingehender werden wir<br />

ihm in unserer Eigenschaft als Publizisten immer wieder klarmachen, daß<br />

unser Kampf gegen die Kadetten und gegen die Liquidatoren in Erwägungen<br />

wurzelt, die gründlich durchdacht und im Laufe von mehr als fünf<br />

Jahren (eigentlich vor mehr als zehn Jahren) viele Male in den offiziellen<br />

Beschlüssen aller Marxisten verankert worden sind. N. Nikolin hat ebenso<br />

wie die Liquidatoren, die er in Schutz nimmt, das Pech, daß sie diesen<br />

alten, zahlreichen, exakten, in aller Form gefaßten taktischen Beschlüssen


Tiber die politische Linie 325<br />

nidhts gegenüberstellen können, was auch nur annähernd so präzis, bestimmt<br />

und klar wäre.<br />

Daß „die Arbeiter das neue Rußland entgegen den Liberalen errichten<br />

müssen", ist keineswegs eine „stolze" Phrase. N. Nikolin weiß sehr gut,<br />

daß dieser Gedanke in einer Reihe taktischer Beschlüsse ausgesprochen<br />

wird, die von der Mehrheit der Marxisten anerkannt werden. An und für<br />

sich ist das nichts anderes als eine Zusammenfassung der in Rußland während<br />

der letzten, sagen wir, zehn Jahre gesammelten politischen Erfahrungen.<br />

Es ist eine ganz unbestreitbare historische Tatsache, daß die Arbeiterklasse<br />

Rußlands in den letzten zehn Jahren daranging, das neue Rußland<br />

„entgegen den Liberalen" zu erridhten. Ein solches „Errichten" bleibt niemals<br />

ohne Konsequenzen, mögen die zeitweiligen „Erfolge" der russischen<br />

Bismarck-Anwärter noch so groß sein.<br />

Der russische Opportunismus, der schwammig ist und schlüpfrig wie<br />

eine Natter, ist ebenso wie der Opportunismus der anderen Länder<br />

außerstande, seine Auffassungen bestimmt und klar auszudrücken, in<br />

aller Form zu sagen, daß die Arbeiterklasse das neue Rußland nicht entgegen<br />

den Liberalen errichten dürfe, sondern das und das tun müsse. Der<br />

Opportunismus wäre kein Opportunismus, wenn er imstande wäre, klare<br />

und direkte Antworten zu geben. Aber seine Unzufriedenheit mit der<br />

Politik der Arbeiter, sein Tendieren zur Bourgeoisie drückt der Opportunismus<br />

mit dem Satz aus: „Das neue Rußland errichtet niemand, es<br />

wird errichtet im Prozeß des Kampfes der Interessen."<br />

Und von dem, was errichtet wird, ist am ehesten sichtbar, springt am<br />

meisten in die Augen, hat den größten Augenblickserfolg und die Verehrung<br />

der „Menge" das, was vom Adel und von der Bourgeoisie „errichtet"<br />

und von den Liberalen korrigiert wird. „Was soll man da noch untersuchen,<br />

welche Klassen etwas und wie sie es errichten, das sind<br />

Hirngespinste; man muß das nehmen, was errichtet wird" - das ist die<br />

wirkliche Bedeutung der Betrachtungen Nikolins, das ist die wirkliche<br />

„Logik des Opportunismus".<br />

Das eben heißt den Klassenkampf vergessen. Das eben ist die prinzipielle<br />

Basis der liberalen Arbeiterpolitik. Eben eine solche „Logik" führt<br />

dazu, daß die Arbeiterklasse statt der Rolle des Hegemons, d. h. des<br />

Führers der echten, konsequenten, selbstlosen Demokratie, die Rolle eines<br />

Hilfsarbeiters der Liberalen ausübt.


326 W. 7. <strong>Lenin</strong><br />

Daher die uns Russen wohlbekannte Tatsache, daß die Opportunisten<br />

in Worten zugeben, daß audi die Partei des Proletariats eine „selbständige"<br />

Linie verfolgen müsse, was natürlich auch Nikolin anerkennt. Jn<br />

Wirklidbkeit aber verficht er eben keine selbständige Linie, sondern die<br />

Linie der liberalen Arbeiterpolitik.<br />

Nikolin macht uns klar, zeigt uns, von wie geringer Bedeutung die<br />

Verkündigung der Selbständigkeit der Arbeiterklasse ist. Auch die im<br />

„Newski Golos" Nr. 8 veröffentlichte Plattform der Liquidatoren hat sie<br />

verkündigt, auch Nikolin selbst hat sie verkündigt, aber in demselben<br />

Augenblick, wo er die „Selbständigkeit" verkündigt, predigt er eine unselbständige<br />

Politik.<br />

Mit dem Verzicht darauf, daß die Arbeiterklasse in der heutigen Politik,<br />

in allen Fragen des Demokratismus ihre eigene Linie — entgegen den<br />

Liberalen - verfolgt (oder, was dasselbe ist, „das neue Rußland errichtet"),<br />

fordert Nikolin faktisch die Arbeiterklasse auf, hinter den Liberalen einherzutrotten.<br />

Das ist der Kern der Sache. So sieht die „Logik des Opportunismus"<br />

aus. Und Argumente wie die, daß man die Arbeiterklasse nicht „isolieren"<br />

solle, daß „die Last des Kampfes für die politische Freiheit nicht auf den<br />

Schultern der Arbeiter liegen darf", daß „eine Koordinierung, und nicht<br />

eine Zersplitterung der Kräfte" nötig sei usw., all das ist doch nur leere<br />

Deklamation. In Wirklichkeit ist all das eine Umschreibung und Paraphrasierung<br />

ein und desselben: isoliert euch nicht (von den Liberalen),<br />

„koordiniert eure Kräfte" (mit der Politik der Liberalen), erblickt in der<br />

liberalen Politik den wirklichen Kampf für die politische Freiheit, nicht<br />

aber einen Kuhhandel mit den Purischkewitsch, usw. usf.<br />

Wir sind nicht auf diese Deklamationen eingegangen, weil man, will<br />

man um das Wesen der Sache streiten, die wirklichen Ausgangspunkte,<br />

die Wurzeln der Meinungsverschiedenheiten nehmen muß, nicht aber die<br />

deklamatorischen Verzierungen einer grundsätzlich falschen Linie.<br />

„Newskaja Swesda" 7$r. 26, Nach dem "Jen der<br />

16. September 1912. .Newskaja Swesda".<br />

Untersdhrift: 7A. "M.


ERFOLGE<br />

DER AMERIKANISCHEN ARBEITER<br />

327<br />

Die letzte in Europa eingetroffene Nummer der amerikanischen Arbeiterwochenzeitung<br />

„Appeal to Reason" teilt mit, daß die Auflage dieser<br />

Zeitung 984000 Exemplare erreicht hat. Briefe und Anforderungen von<br />

überallher - schreibt die <strong>Red</strong>aktion (Nr. 875 vom 7. September) - lassen<br />

keinen Zweifel daran, daß wir in den nächsten Wochen die Million überschreiten<br />

werden.<br />

Diese Ziffer - eine Million Exemplare einer sozialistischen Zeitung, die<br />

von den amerikanischen Gerichten schamlos verleumdet und verfolgt wird<br />

und die bei allen Verfolgungen wächst und stärker wird - veranschaulicht<br />

besser als lange Abhandlungen, welche Umwälzung in Amerika heranreift.<br />

Kürzlich schrieb die liebedienernde Zeitung „Nowoje Wremja", dieses<br />

Organ käuflicher Schmierfinken, über die „Macht des Geldes" in Amerika,<br />

sie berichtete schadenfroh von der außerordentlichen Bestechlichkeit Tafts,<br />

Roosevelts, Wilsons, aller Kandidaten der bürgerlichen Parteien für den<br />

Posten des Präsidenten der Republik. Hier habt ihr die freie, demokratische<br />

Republik - zischte die russische käufliche Zeitung.<br />

Die klassenbewußten Arbeiter antworten darauf ruhig und stolz: Was<br />

die Bedeutung einer breiten Demokratie anbelangt, so irren wir uns nicht<br />

im geringsten. Keinerlei Demokratie in der Welt beseitigt den Klassenkampf<br />

und die Allmacht des Geldes. Durchaus nicht darin bestehen die<br />

Bedeutung und der Nutzen der Demokratie. Ihre Bedeutung besteht darin,<br />

daß sie den Klassenkampf zu einem breiten, offenen und bewußten Kampf<br />

macht. Und das ist keine Mutmaßung, kein Wunsch, sondern eine Tatsache.<br />

Wenn in Deutschland die Zahl der Mitglieder der sozialdemokratischen


328 W.I.<strong>Lenin</strong><br />

Partei 970000 erreicht hat, wenn in Amerika eine sozialistische Wodienzeitung<br />

eine Auflage von 984000 Exemplaren erreicht hat - dann muß<br />

jeder, der Augen hat zn sehen, zugeben: Ein einzelner Proletarier ist<br />

machtlos; die proletarischen Millionen sind allmächtig.<br />

„Trawda" ?Jr. i20, TJadj dem Text der .Prawda".<br />

<strong>18</strong>. September i9i2.<br />

Unterschrift: 7A. 5V.


DAS ENDE DES KRIEGES<br />

ZWISCHEN ITALIEN UND DER TÜRKEI<br />

329<br />

Telegrafischen Meldungen zufolge haben die Bevollmächtigten Italiens<br />

und der Türkei die vorläufigen Friedensbedingungen unterzeichnet.<br />

Italien „hat gesiegt". Vor einem Jahr ist es wie ein Räuber in die türkischen<br />

Gebiete in Afrika eingefallen, und von nun an wird Tripolis zu<br />

Italien gehören. Es wird nicht unangebracht sein, diesen typischen Kolonialkrieg<br />

eines „zivilisierten" Staates des 20. Jahrhunderts einmal näher<br />

zu betrachten.<br />

Wodurch war dieser Krieg hervorgerufen worden? Durch die Habgier<br />

der italienischen Finanzmagnaten und Kapitalisten, die einen neuen Markt,<br />

die Erfolge des italienischen Imperialismus brauchen.<br />

Was war das für ein Krieg? Ein vervollkommnetes, zivilisiertes Massaker,<br />

ein Abschlachten der Araber mit „neuzeitlichsten" Waffen.<br />

Die Araber setzten sich verzweifelt zur Wehr. Als die italienischen Admirale<br />

zu Beginn des Krieges unvorsichtigerweise 1200 Matrosen landeten,<br />

haben die Araber sie überfallen und etwa 600 Mann niedergemacht. „Zur<br />

Strafe" wurden etwa 3000 Araber getötet, ganze Familien ausgerottet,<br />

Frauen und Kinder hingemetzelt. Die Italiener sind eine zivilisierte, konstitutionelle<br />

Nation.<br />

Nahezu 1000 Araber wurden gehängt.<br />

Die Verluste der Italiener beliefen sich auf mehr als 20000 Mann,- darunter<br />

17429 Kranke, 600 Vermißte und 1405 Tote.<br />

Dieser Krieg hat die Italiener über 800 Millionen Lire, d. h. über 320<br />

Millionen Rubel, gekostet. Furchtbare Arbeitslosigkeit, Stagnation der Industrie,<br />

das sind die Folgen des Krieges.<br />

Die Araber haben etwa 14800 Tote. Trotz des „Friedens" wird der<br />

22 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>


330 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />

Krieg in Wirklichkeit weiter fortdauern, denn die Araberstämme im Innern<br />

des afrikanischen Kontinents, weitab von der Küste, werden sich nicht<br />

unterwerfen. Man wird sie noch lange „zivilisieren" - mit dem Bajonett,<br />

mit der Kugel, mit dem Strick, mit Feuer, durdi die Vergewaltigung ihrer<br />

Frauen.<br />

Italien ist natürlich nicht besser und nicht schlechter als die übrigen kapitalistischen<br />

Länder. Sie alle werden gleichermaßen von der Bourgeoisie<br />

regiert, die vor keinem Gemetzel zurückschreckt, wenn es gilt, eine neue<br />

Profitquelle zu erschließen.<br />

„Vrawda" 7!r. 129, "Nado dem 7ext der „Trawda".<br />

28. September 1912.<br />

Unterschrift: 1.


EIN HASARDSPIEL<br />

331<br />

Das „Nowoje Wremja" gibt einen genauen Einblick in die Pläne der<br />

russischen Nationalisten. Liest man dieses in den genannten Kreisen und<br />

auch unter den Oktobristen „einflußreiche" Blatt, so erkennt man ganz<br />

klar ihren konsequent betriebenen Plan zur Ausplünderung der Türkei.<br />

Wie es einmal üblich ist, wird die Politik des Chauvinismus und der<br />

Eroberung fremder Gebiete vor allem betrieben, indem man die Öffentlichkeit<br />

gegen Österreich aufhetzt. „Die Balkanvölker", schreibt das „Nowoje<br />

Wremja", „haben sich zum heiligen Kampf für ihre Unabhängigkeit<br />

erhoben. Der österreichische Diplomat lauert auf den Augenblick, da man<br />

sie wird ausplündern können."<br />

Österreich hat einen Happen geschnappt (Bosnien und die Herzegowina),<br />

Italien hat einen Happen geschnappt (Tripolis), jetzt ist es an uns,<br />

unser Schäflein ins trockne zu bringen - das ist die Politik des „Nowoje<br />

Wremja". Der „heilige Kampf für die Unabhängigkeit" ist lediglich eine<br />

Phrase, durch die sich nur Dummköpfe täuschen lassen, denn niemand hat<br />

hier bei uns in Rußland die wirklich demokratischen Prinzipien einer wahren<br />

Unabhängigkeit dller Völker so mit Füßen getreten wie die Nationalisten<br />

und Oktobristen.<br />

Warum aber meinen die Nationalisten, der Zeitpunkt für eine Raubpolitik<br />

sei günstig? Auch dies ist aus dem „Nowoje Wremja" klar ersichtlich.<br />

Italien, meint man, wird nicht Krieg führen, für Österreich ist es riskant,<br />

die Balkanslawen mit Krieg zu überziehen, da es selber eine mehrere<br />

Millionen zählende ihnen verwandte Bevölkerung hat, Deutschland aber<br />

wird sich wegen der Niederwerfung der Türkei nicht in einen europäischen<br />

Krieg einlassen.


332 IV. J. <strong>Lenin</strong><br />

Die Rechnung der Nationalisten ist in höchstem Maße unverblümt und<br />

schamlos. Sie halten hochtrabende <strong>Red</strong>en über den „heiligen Unabhängigkeitskampf"<br />

der Völker und spielen selbst auf kaltblütigste Weise mit dem<br />

Leben von Millionen, führen die Völker um der Profite einiger weniger<br />

Geschäftsleute und Industrieller willen zur Schlachtbank.<br />

Der Dreibund (Deutschland, Österreich, Italien) ist augenblicklich geschwächt,<br />

denn der Krieg gegen die Türken hat Italien 800 Millionen<br />

Francs gekostet, und auf dem Balkan gehen die „Interessen" Italiens und<br />

Österreichs auseinander. Italien möchte noch einen Happen schnappen,<br />

nämlich Albanien, Österreich aber will das nicht zulassen. Dies in Rechnung<br />

stellend treiben unsere Nationalisten ein verzweifeltes Hasardspiel,<br />

sie setzen auf die Stärke und den Reichrum zweier Mächte der Triple-<br />

Entente (England und Frankreich) und darauf, daß „Europa" nicht gewillt<br />

sein wird, wegen der Meerengen oder der „Abrundung" „unserer" Gebiete<br />

auf Kosten der asiatischen Türkei einen allgemeinen Krieg auszulösen.<br />

In der Gesellschaft der Lohnsklaverei spielt jeder Geschäftsmann, jeder<br />

Eigentümer ein Hasardspiel: „Entweder ich gehe zugrunde, oder ich mache<br />

mich gesund und richte andere zugrunde." Von Jahr zu Jahr gehen Hunderte<br />

Kapitalisten bankrott, werden Millionen Bauern, Kleingewerbetreibende<br />

und Handwerker ruiniert. Das gleiche Hasardspiel treiben die kapitalistischen<br />

Staaten, ein Spiel mit dem Blut von Millionen, die bald hier,<br />

bald da um der Eroberung fremder Gebiete und der Ausplünderung<br />

schwacher Nachbarn willen zur Schlachtbank getrieben werden.<br />

„Prawda" 5Vr. 134, SVacfo dem Text der „Vrawda"'.<br />

4. Oktober 1912.


DIE GEISTLICHKEIT BEI DEN WAHLEN<br />

UND DIE WAHLEN MIT DER GEISTLICHKEIT<br />

333<br />

Pressemeldungen zufolge wurden auf den Kongressen der kleinen<br />

Grundbesitzer und der Kirchendekane in 46 Gouvernements des Europäischen<br />

Rußlands 7990 Bevollmächtigte gewählt, von denen 6516 Geistliche<br />

sind. Letztere bilden 82 Prozent.<br />

Das vollständige Ergebnis aus den 50 Gouvernements kann dieses Resultat<br />

nur wenig verändern.<br />

Betrachten wir die Bedeutung solcher Wahlen.<br />

Von den kleinen Grundbesitzern und den Kirchspielen wird laut Gesetz<br />

ein Bevollmächtigter auf der Grundlage des vollen Wahlzensus, der<br />

für die Teilnahme am Kongreß der Grundbesitzer festgelegt ist, gewählt.<br />

Die Zahl der Bevollmächtigten muß also der Menge des Grund und Bodens<br />

entsprechen, den die Wähler besitzen.<br />

Laut Statistik von 1905 stehen uns für die 50 Gouvernements des Europäischen<br />

Rußlands die folgenden Angaben zur Verfügung:<br />

Kirchenländereien 1,9 Mill. Desjatinen<br />

Ländereien in Privateigentum von Geistlichen 0,3 „ „<br />

Insgesamt im Besitz der Qeistlidhkeit 2,2 Mill. Desjatinen<br />

Ländereien in Privateigentum von Kleinbürgern 3,7 „ „<br />

„ „ „ von Bauern 13,2 „<br />

„ von übrigen 2,2 „<br />

„Weltlicher" kleiner Qrundbesitz insgesamt 19,1 Mill. Desjatinen<br />

Hierbei ist der kleine Grundbesitz •wahrscheinlich weniger vollständig<br />

erfaßt als die Ländereien der Geistlichkeit. Und trotzdem ergibt sich, daß


334 TV. J. £enin<br />

der private kleine Grundbesitz insgesamt 21,3 Mill. Desjatinen umfaßt,<br />

wovon die Geistlichkeit 2,2 Mill. Desjatinen besitzt, d. h. wenig mehr als<br />

Vio! Bevollmächtigte aber hat die Geistlichkeit über acht Zehntel gewählt!!<br />

Wie konnte das geschehen? Sehr einfach. Die kleinen Grundbesitzer<br />

fahren höchst selten zu den Wahlen: sie haben weder die Mittel dazu noch<br />

auch großes Interesse daran, und Tausende polizeilicher Behinderungen<br />

beschränken die Freiheit der Wahlen. Den Popen aber ist „nahegelegt"<br />

worden, vollzählig zu erscheinen.<br />

Die Popen werden für die der Regierung genehmen Kandidaten stimmen.<br />

Aus diesem Grunde murren sogar die §utsbesitzer, ganz zu schweigen<br />

von der Bourgeoisie. Auch die Oktobristen und die Nationalisten<br />

murren. Alle beschuldigen die Regierung, daß sie die Wahlen „mache".<br />

Die Gutsbesitzer und die Großbourgeoisie indessen möchten die Wahlen<br />

selber machen.<br />

Aneinandergeraten sind also der Absolutismus auf der einen Seite und<br />

die Gutsbesitzer und großen Bourgeois auf der andern. Die Regierung<br />

wollte sich auf die Gutsbesitzer und die Spitzen der Bourgeoisie stützen;<br />

darauf basiert bekanntlich das ganze Gesetz vom 3. Juni 1907.<br />

Es stellt sich heraus, daß die Regierung nicht einmal mit den Oktobristen<br />

auskommen kann. Es ist nicht einmal gelungen, eine feudal-bürgerliche<br />

Monarchie von einer für diese Klassen „befriedigenden" Qualität zustande<br />

zu bringen.<br />

Diesen Mißerfolg hat die Regierung zweifellos faktisch zugegeben:<br />

sie hat begonnen, in Gestalt der untergeordneten, der Obrigkeit unterstellten<br />

Geistlichkeit ihre eigenen Beamten zu organisieren!<br />

In der Geschichtswissenschaft bezeichnet man diese Methode einer Regierung,<br />

die wesentliche Merkmale des Absolutismus beibehalten hat, als<br />

Bonapartismus. Stütze sind in diesem Falle nicht bestimmte Klassen oder<br />

nicht sie allein, nicht hauptsächlich sie, sondern künstlich ausgewählte, vornehmlich<br />

aus verschiedenen abhängigen Schichten angeworbene Elemente.<br />

Wodurch erklärt sich die Möglichkeit einer solchen Erscheinung in „soziologischem"<br />

Sinne, d. h. vom Standpunkt des Klassenkampfes?<br />

- Durch die Herausbildung eines Gleichgewichts der Kräfte einander<br />

feindlicher oder miteinander konkurrierender Klassen. Konkurrieren zum<br />

Beispiel die Purischkewitsch mit den Gutschkow und den Rjabuschinski,<br />

so kann die Regierung, bei einem gewissen Ausgleich der Kräfte dieser


Die geistUdikeit bei den "Wahlen 335<br />

Konkurrenten, mehr Selbständigkeit erhalten (natürlich in einem gewissen,<br />

ziemlich engen Rahmen) als bei entschiedenem Übergewicht einer dieser<br />

Klassen. Ist aber diese Regierung historisch durch Erbfolge u. dgl. m. an<br />

besonders „klare" Formen des Absolutismus gebunden, sind im Lande die<br />

Traditionen des Militarismus und des Bürokratismus im Sinne der Nichtwählbarkeit<br />

der Richter und Beamten stark ausgeprägt, so sind die Grenzen<br />

dieser Selbständigkeit noch weiter, ihre Erscheinungsformen noch ...<br />

offener, die Methoden der „Auswahl" der Wähler und der auf Befehl abstimmenden<br />

Wahlmänner noch gröber, die Willkür noch spürbarer.<br />

Etwas Ähnliches macht auch das heutige Rußland durch. Der „Schritt<br />

voran auf dem Wege der Umwandlung in eine bürgerliche Monarchie"*<br />

wird durch die Übernahme bonapartistischer Methoden kompliziert. Wenn<br />

sich in Frankreich bürgerliche Monarchie und bonapartistisches Kaiserreich<br />

klar und scharf voneinander unterschieden, so gab in Deutschland<br />

bereits Bismarck Musterbeispiele für die „Vereinigung" des einen und des<br />

anderen Typs, bei klarem überwiegen der Züge, die Marx als „Militärdespotismus"<br />

bezeichnete 82 - schon ganz abgesehen vom Bonapartismus.<br />

Die Karausche, sagt man, läßt sich gern in saurer Sahne braten. Wir<br />

wissen nicht, ob sich der Spießbürger gem in bürgerlicher Monarchie,<br />

altem feudalem Absolutismus, in „modernem" Bonapartismus oder in<br />

Militärdespotismus oder schließlich in einer gewissen Mischung all dieser<br />

„Methoden" „braten" läßt. Erscheint aber möglicherweise der Unterschied<br />

vom Standpunkt des Spießbürgers und vom Standpunkt der sogenannten<br />

„Rechtsordnung", d.h. vom rein juristischen, formal konstitutionellen<br />

Standpunkt sehr gering, so gibt es hier vom Standpunkt des<br />

Klassenkampfes einen wesentlichen Unterschied.<br />

Der Spießbürger hat es nicht leichter, wenn er erfährt, daß er nicht nur<br />

auf alte, sondern auch auf neue Weise geprügelt wird. Aber die Testigkeit<br />

des die Spießer knechtenden Regimes, die Bedingungen der Sntwidklung<br />

und der Auflösung dieses Regimes, die Fähigkeit dieses Regimes zu schnellem<br />

... Fiasko - all das hängt in hohem Grade davon ab, ob wir mehr<br />

oder weniger ausgeprägte, offene, beständige, direkte Formen der Herrschaft<br />

bestimmter Klassen oder verschiedene mittelbare, unbeständige<br />

Jormen einer solchen Herrschaft vor uns haben.<br />

Die Herrschaft von Klassen ist schwieriger zu beseitigen als die vom<br />

* Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 15, S. 348/349. Die <strong>Red</strong>.


336 TV. 1. <strong>Lenin</strong><br />

abgelebten Geist des Alten durchdrungenen, unbeständigen, von ausgesuchten<br />

„Wählern" unterstützten Formen des Überbaus.<br />

Das Experiment Sablers und Makarows mit der „Organisierung" der<br />

Geistlichkeit bei den Wahlen zur IV. Duma ist für jeden von nicht geringem<br />

Interesse sowohl in „soziologischer" als auch in praktisch-politischer<br />

Hinsicht.<br />

„TJewskaja Swesda" Nr. 27, Tiadb dem Jext der<br />

5. Oktober 1912. .Newshaja Swesda".


DIE „POSITION" DES HERRN MILJUKOW<br />

337<br />

Der Führer der Kadettenpartei hat sidi völlig verrannt. Er sdireibt<br />

Artikel von Mensdiikowsdier Länge über die „drei Positionen", über die<br />

„eine Position", und je mehr er schreibt, desto klarer wird, daß er den<br />

Leser in die Irre führt, daß er das Wesen der Sache durch langweiliges und<br />

leeres Geschwätz vertusdit.<br />

Armer gelehrter Historiker! Er muß so tun, als verstehe er nicht den<br />

Unterschied zwischen Liberalismus und Demokratie. Das ganze Wesen<br />

der Sache liegt in diesem Unterschied, meine Herren! Sowohl in den Abstimmungen<br />

in der Duma schlechthin als auch in der Stellung zu den „Reformen",<br />

sowohl in der Stimmabgabe für das Budget als auch in der Frage<br />

der „außerparlamentarischen Taktik" zeigt sich in verschiedenen formen<br />

ein und dasselbe "Wesen der Sache, der große Unterschied zwischen der<br />

liberal-monarchistischen Bourgeoisie und der Demokratie.<br />

Zum tausendundersten Male wollen wir den „nicht verstehenden" Herren<br />

Miljukow kurz wiederholen, worin dieser Unterschied besteht.<br />

Die Liberalen verteidigen eine Anzahl feudal-absolutistischer Privilegien<br />

(die zweite Kammer usw.). Die Demokratie kämpft unversöhnlich<br />

gegen alle Privilegien.<br />

Die Liberalen paktieren mit den Kräften des Alten im gesellschaftlichen<br />

Leben, die Demokratie verfolgt eine Taktik der Beseitigung dieser<br />

Kräfte.<br />

Die Liberalen fürchten die Selbsttätigkeit der Massen, glauben nicht an<br />

sie, leugnen sie; die Demokratie sympathisiert mit dieser Selbsttätigkeit,<br />

glaubt an sie, unterstützt und entwickelt sie.<br />

Das mag vorläufig genügen.


338 19. •}. <strong>Lenin</strong><br />

Sollte Herr Miljukow diesen Unterschied, der sogar aus den Geschichtsbüchern<br />

bekannt ist, tatsächlich „nicht verstehen" ?<br />

Sollte er „nicht verstehen", daß schon das Programm der Kadetten kein<br />

Programm von Demokraten, sondern ein Programm der liberal-monarchistischen<br />

Bourgeoisie ist, daß nur die Liberalen (und zwar die schlechten<br />

Liberalen) in der III. Duma für das Budget stimmen konnten, sich als<br />

loyale Opposition bezeichnen konnten? usw.<br />

Herr Miljukow versteht das ausgezeichnet, und er macht uns „ein X für<br />

ein U" vor, wenn er so tut, als habe er den elementarsten Unterschied<br />

zwischen Liberalismus und Demokratie vergessen.<br />

Um diese erbärmlichen Ausflüchte der Kadetten schwarz auf weiß festzuhalten,<br />

wollen wir Herrn Miljukow sagen, daß wir in der gesamten<br />

offiziellen Presse der Sozialdemokraten (nicht mitgezählt natürlich die<br />

Liquidatoren, die wir gern an Herrn Miljukow abtreten), in allen Resolutionen<br />

der führenden Instanzen der Sozialdemokratie, in der gesamten<br />

Linie der Sozialdemokraten in der III. Duma stets und ständig in tausenderlei<br />

Formen ein Eintreten für die alte Taktik feststellen können, von der<br />

sich die Sozialdemokraten, nach den Worten Herrn Miljukows, angeblich<br />

abgekehrt haben.<br />

Das ist eine unbestreitbare historische Tatsache, gelehrter Herr Historiker!<br />

Wir müssen schwarz auf weiß festhalten, wie tief die Kadetten gesunken<br />

sind, wenn sie die Öffentlichkeit in so elementaren und durch die Geschichte<br />

der politischen Parteien in Rußland so eindeutig bestimmten Fragen<br />

zu täuschen suchen.<br />

Zum Schluß eine kleine Frage an Herrn Miljukow, um das Gesagte<br />

zusammenzufassen und kurz zu wiederholen: Handelten Sie, meine Herren<br />

Kadetten, als Sie zustimmten, Woiloschnikow für fünf Sitzungen<br />

auszuschließen 83 , wie Liberale oder wie Demokraten?<br />

„Vrawda" JVr. i36, Nadh dem 7ext der „Vrawda".<br />

6. Oktober 1912.<br />

•Urrterscfori/t.-'W.J.


DER ABGEORDNETE<br />

DER PETERSBURGER ARBEITER<br />

339<br />

Das Proletariat der Hauptstadt entsendet einen seiner Auserwählten in<br />

die Duma der Schwarzhunderter, der Gutsbesitzer und der Popen. Auf<br />

einem verantwortungsvollen Posten wird dieser Auserwählte stehen. Er<br />

muß im Namen von Millionen auftreten und handeln, er muß ein ruhmvolles<br />

Banner entrollen, er muß den Auffassungen Ausdruck verleihen,<br />

die Jahre hindurch von den verantwortlichen Vertretern des Marxismus<br />

und der Arbeiterdemokratie in aller Form, mit aller Bestimmtheit und<br />

Klarheit geäußert wurden.<br />

Die Wahl eines einzigen Menschen für diesen Posten ist eine Sache<br />

von so großer Bedeutung, daß es kleinlich, feige und schändlich wäre,<br />

hätte man Angst, darüber offen und ohne Umschweife zu sprechen, hätte<br />

man Angst, die eine oder andere Person, den einen oder anderen Kreis<br />

usw. zu „kränken".<br />

Die Wahl muß dem Willen der Mehrheit der klassenbewußten, marxistischen<br />

Arbeiter entsprechen. Das liegt auf der Hand, Das wird niemand<br />

offen zu leugnen wagen.<br />

Jedermann weiß, daß sich von 1908 bis 1912 in Hunderten und Tausenden<br />

von Versammlungen, Diskussionen, Gesprächen, in den Spalten verschiedener<br />

Presseorgane unter den Petersburger Arbeitern die Gegner des<br />

Liquidatorentums und die Liquidatoren bekämpften. Es ist würdelos, den<br />

Kopf in den Sand zu stecken, wie es dumme Vögel tun, und diese Tatsache<br />

„vergessen" zu wollen.<br />

Wer jetzt, da es um die Wahl eines Abgeordneten geht, nach „Einheit"<br />

schreit, verwirrt die Sache, denn er verschiebt die Fragestellung und vertusdht<br />

mit dem Geschrei das Wesen der Sache.


340 W. 3. <strong>Lenin</strong><br />

Was hat das mit „Einheit" zu tun, wenn einer zu wählen ist und alle<br />

zustimmen, daß er den Willen der Mehrheit der klassenbewußten, marxistischen<br />

Arbeiter zum Ausdruck bringen muß??<br />

Die Liquidatoren haben Angst, offen zu sagen, daß sie die Wahl eines<br />

Liquidators oder eines „Fraktionslosen" (d. h. eines Schwankenden)<br />

möchten - und aus Angst, ihre Ansichten offen zu vertreten, wollen sie<br />

sie mit Hilfe des Betrugs, des Geschreis nach „Einheit" an den Mann<br />

bringen.<br />

Wir haben die Pflicht, dieses Durcheinander aufzudecken. Wenn unter<br />

den klassenbewußten Arbeitern die Liquidatoren die Mehrheit ausmachen,<br />

wird sie niemand in der Welt daran hindern, einen Liquidator zu wählen.<br />

Man muß so exakt, ruhig, eindeutig, umsichtig, richtig wie möglich feststellen,<br />

auf wessen Seite die Mehrheit ist, ohne sich von dem Lärm der<br />

Leute verwirren zu lassen, die, um ihre Ansichten zu verbergen, die<br />

„Einheit" predigen (wenige Tage vor den Wahlen!), nachdem fünf Jähre<br />

des Kampfes hinter uns liegen.<br />

Die Arbeiter sind keine Kinder, die ein solches Märchen glauben. Möglich<br />

ist nur eine Entscheidung von dreien: 1. die Wahl eines Liquidators,-<br />

2. die Wahl eines Gegners des Liqiridatorentums; 3. die Wahl eines<br />

Schwankenden. In fünf Jahren, von 1908 bis 1912, gab es unter den<br />

Sozialdemokraten niemand anderen, und es gibt auch jetzt niemand<br />

anderen!<br />

Die Arbeiter, die erwachsene und selbständige Menschen sein wollen,<br />

dürfen keine politischen Streikbrecher unter sich dulden. Die Arbeiter<br />

müssen dafür sorgen, daß der Wille der Mehrheit der klassenbewußten<br />

Arbeiter geachtet und erfüllt wird.<br />

Die Arbeiter brauchen einen Abgeordneten, der den Willen der Mehrheit<br />

zum Ausdruck bringt und genau weiß, was für eine Arbeit er innerhalb<br />

und außerhalb' der Duma leisten wird.<br />

Die Mehrheit hat ihren Willen erklärt, und der Abgeordnete von<br />

Petersburg muß ein entschiedener Gegner des Liquidatorentums, ein Anhänger<br />

der konsequenten Arbeiterdemokratie sein.<br />

„Prawda" Nr. 144, Tiadb dem Jext der ,T>rawda".<br />

16. Oktober 1912.<br />

TAntersdhrift: J.


DIE BALKANVÖLKER UND<br />

DIE EUROPÄISCHE DIPLOMATIE<br />

341<br />

Das allgemeine Interesse ist jetzt auf den Balkan gerichtet. Und das<br />

ist verständlich. Für ganz Osteuropa schlägt jetzt vielleicht die Stunde, in<br />

der die Völker selbst frei und energisch ihr Wort sprechen werden. Für<br />

das Spiel der bürgerlichen „Mächte" und ihrer Diplomaten, die einander<br />

in der Wissenschaft der Intrigen, des Ränkeschmiedens und des eigennützigen<br />

gegenseitigen übervorteilens überbieten, ist jetzt kein Platz.<br />

Die Balkanvölker könnten jetzt sagen, was unsere Leibeigenen in alten<br />

Zeiten gesagt haben: „Mehr als den Satan maß man meiden der Herrschaft<br />

Liebe und der Herrschaft Zorn." 84 Sowohl eine feindselige als auch<br />

eine angeblich freundschaftliche Einmischung der „Mächte" Europas bedeutet<br />

für die Bauern und Arbeiter des Balkans nichts als eine Vermehr<br />

rang aller möglichen Fesseln und Hindernisse für die freie Entwicklung zu<br />

den allgemeinen Bedingungen der kapitalistischen Ausbeutung hin.<br />

Deshalb muß man, unter anderem, sowohl gegen die regierungsamtliche<br />

als auch gegen die liberale „Diplomatie" kämpfen. Durch und durch verlogen<br />

sind zum Beispiel die Betrachtungen der „Retsch", die in diesen<br />

Tagen die „russische Gesellschaft" (d. h. die Bourgeoisie) aufgerufen hat,<br />

sich der Worte des englischen Regierungsorgans zu erinnern, wonach<br />

Europa, so heißt es dort, eine „schlechte Verwaltung" auf dem Balkan<br />

nicht zulassen wird! „Möge unsere Diplomatie die Hände nicht in den<br />

Schoß legen" - ereifert sich die „Retsch".<br />

Selbst das „liberalste" bürgerliche Europa bringt dem Balkan nichts als<br />

Unterstützung der Fäulnis und der Stagnation, als bürokratische Hindernisse<br />

für die Freiheit, antworten wir. Gerade „Europa" verhindert die<br />

Errichtung einer föderativen Balkanrepublik.


342 IV. 3. <strong>Lenin</strong><br />

Die fortgeschrittenen Arbeiter auf dem Balkan und die gesamte Balkandemokratie<br />

setzen ihre Hoffnungen ausschließlich auf die Entwiddung der<br />

Bewußtheit, des Demokratismus und der Selbsttätigkeit der Massen und<br />

nicht auf die Intrigen der bürgerlichen Diplomaten, mögen sie noch so<br />

schöne liberale Phrasen im Munde führen!<br />

„Vrawda" 7Jr. 144, TJadi dem Text der „Prawda".<br />

16. Oktober 1912.<br />

Itntersäirift: W.


DER FUCHS UND DER HÜHNERSTALL<br />

343<br />

Der Balkankrieg und die Stellung „Europas" zu ihm ist heute die<br />

aktuellste politische Frage. Für die gesamte Demokratie überhaupt und für<br />

die Arbeiterklasse im besonderen ist es wichtig zu begreifen, von welchen<br />

Klasseninteressen sich dabei diese oder jene Partei leiten läßt.<br />

Die Politik der Oktobristen, der Nationalisten, der parteilosen „Patrioten",<br />

vom „Nowoje Wremja" bis zum „Russkoje Slowo", ist klar und<br />

eindeutig. Die Hetze gegen Österreich, das Anstacheln zum Krieg gegen<br />

Österreich, das Geschrei von den „slawischen Aufgaben" Rußlands - das<br />

alles ist nichts anderes als das durchsichtige Bestreben, die Aufmerksamkeit<br />

von den inneren Angelegenheiten Rußlands abzulenken und der Türkei<br />

„ein Stückchen abzuzwacken". Unterstützung der Reaktion im Innern<br />

und des imperialistischen, kolonialen Raubs nach außen - das ist der Kern<br />

dieser plumpen „patriotischen" „slawischen" Politik.<br />

Die Politik der Kadetten ist raffinierter, ist diplomatisch verbrämt -<br />

aber im Grunde genommen ist sie gleidbfafls eine reaktionäre imperialistische<br />

Qroßmadbtpoliük. Das muß man sich besonders einschärfen, denn<br />

die Liberalen verstecken ihre Ansichten geschickt hinter demokratisch klingenden<br />

Phrasen.<br />

Da ist zum Beispiel die „Retsch". Anfangs — bis zum „Rendezvous"<br />

Miljukows mit Sasonow 85 - wurde Sasonow „Nachgiebigkeit" vorgeworfen;<br />

den Nationalisten wurde vorgeworfen, sie hätten der „großen<br />

Idee" der Eroberung Konstantinopels Abbruch getan. Jetzt, nach dem<br />

Rendezvous, erklärt sich die „Retsch" mit der „Rossija" solidarisch und<br />

zieht nach Kräften über den „blinden Eifer" des „Nowoje Wremja" her.<br />

Aber welches ist jetzt die Politik der „Retsch" ?<br />

Man dürfe nicht mit weitgespannten Forderungen anfangen, sonst verlieren<br />

wir die Unterstützung (Frankreichs und Englands) und „werden<br />

schließlich, ohne es zu wollen, sogar bescheidener als not tut" (Nr. 278)!!


344 H>. 1. <strong>Lenin</strong><br />

Also die „Retsdi" ist deshalb gegen die Chauvinisten, weil sie „schließlich<br />

bescheidener werden als not tut". Das heißt, ihr, ihr Chauvinisten,<br />

prahlt nur und erreicht nichts; wir jedoch sind dafür, still und friedlich, mit<br />

Unterstützung der französischen und der englischen Bourgeoisie, unser<br />

Sdiäflein ins trockne zu bringen!<br />

Die Unterstützung (der Triple-Entente) „brauchen wir im Interesse<br />

eben unseres Proteges auf dem Balkan", schreibt die „Retsch". Man beachte:<br />

Die „Retsch" ist ebenfalls für die „Protegierung" (den Schutz) der<br />

Slawen durch Rußland, für den Schutz des Hühnerstalls durch den Fuchs,<br />

aber für einen schlaueren Schutz!<br />

„Alles, was man erreichen kann, ist nur auf diesem einen Wege zu erreichen -<br />

durch die Zusammenarbeit der europäischen Diplomatie", erklärt die „Retsch".<br />

Die Sache ist klar: Die Politik der Kadetten läuft auf den gleichen<br />

Chauvinismus und Imperialismus hinaus wie die des „Nowoje Wremja",<br />

nur ist sie schlauer und gerissener. Das „Nowoje Wremja" droht plump<br />

und grob mit Krieg im Namen Rußlands allein. Die „Retsch" droht „geschickt<br />

und diplomatisch" ebenfalls mit "Krieg - doch im Namen der<br />

Triple-Entente; denn wenn man sagt: „Man soll nicht bescheidener sein<br />

als not tut", so ist das eben eine Kriegsdrohung. Das „Nowoje Wremja"<br />

ist für die Protegierung der Slawen durdb Rußland, die „Retsch" für die<br />

Protegierung der Slawen durch die Triple-Entente, d. h., das „Nowoje<br />

Wremja" ist für den einen, für unseren Fuchs im Hühnerstall, die „Retsch"<br />

aber für eine Entente von drei Füchsen.<br />

Die Demokratie im allgemeinen und die Arbeiter im besonderen sind<br />

gegen jede „Protegierung" der Slawen durch Füchse und Wölfe, sie sind<br />

für die volle Selbstbestimmung der Völker, für volle Demokratie, für die<br />

Befreiung der Slawen von jeder Protegierung durch die „Großmächte".<br />

Die Liberalen und die Nationalisten streiten über verschiedene Methoden<br />

zur Ausplünderung und Unterwerfung der Balkanvölker durch die<br />

Bourgeoisie Europas. Allein die Arbeiter betreiben eine Politik der wahren<br />

Demokratie - für Freiheit und Demokratie überall und bis zuletzt, gegen<br />

jegliche „Protegierung", Ausplünderung und Einmischung!<br />

„Trawda" 9Jr. U6, Tiadb dem Jext der „Trawda".<br />

<strong>18</strong>. Oktober 1912.<br />

Unterschrift: TV. 7.


EINE SCHÄNDLICHE RESOLUTION<br />

345<br />

Die Resolution der Petersburger Stadtduma vom 10. Oktober hat die<br />

Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sidi gezogen.<br />

Die Resolution betrifft den Balkankrieg, das wichtigste weltpolitische<br />

Ereignis. Die Resolution geht von einer einflußreichen, in der Bourgeoisie<br />

einflußreichen, öffentlichen Institution aus. Sie ist einstimmig von erklärten<br />

Reaktionären und Liberalen angenommen worden.<br />

Falbork, ein Liberaler, ein Kadett und fast ein „Demokrat" (!?), wies<br />

in einer „flammenden <strong>Red</strong>e" nach, daß es notwendig sei, eine solche Resolution<br />

abzufassen, er wirkte in der Kommission mit, die die Resolution<br />

ausarbeitete, und gab ihr seine Stimme.<br />

Dabei ist diese Resolution ein Musterbeispiel bürgerlichen Chauvinismus,<br />

ein Musterbeispiel würdeloser Liebedienerei der Bourgeoisie vor den<br />

„Machthabem", ein Musterbeispiel dafür, wie die Bourgeoisie jene Politik<br />

unterstützt, die die Völker zu Kanonenfutter macht.<br />

„Petersburg", so heißt es in der an die Hauptstädte der kriegführenden<br />

Balkanmächte gerichteten Resolution, „hofft gemeinsam mit euch auf jene<br />

lichte Zukunft der unterdrückten Völker in Unabhängigkeit und Freiheit, für<br />

die ihr euer Blut vergießt."<br />

Da sieht man, hinter welchen Phrasen sich der Chauvinismus verbirgt!<br />

Nie und nirgends haben unterjochte Völker durch den "Krieg des einen Volkes<br />

gegen ein anderes ihre „Freiheit" errungen. Die Völkerkriege verstärken<br />

lediglich die Knechtung der Völker. Die wahre 7reiheit des slawischen<br />

Bauern auf dem Balkan wie auch des türkischen Bauern kann nur<br />

durch die völlige Freiheit innerhalb eines jeden Landes und durch die Föderation<br />

völlig und uneingeschränkt demokratischer Staaten gesichert<br />

werden.<br />

23 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>


346 TV. 3. <strong>Lenin</strong><br />

Der slawische und der türkische Bauer auf dem Balkan sind Brüder,<br />

gleichermaßen „unterdrückt" durch ihre Gutsbesitzer und ihre Regierungen.<br />

Hier ist die wirkliche Unterdrückung, das wirkliche Hindernis für „Unabhängigkeit"<br />

und „Freiheit" zu suchen.<br />

Die reaktionären und die liberalen Chauvinisten, die sich in der Petersburger<br />

Stadtduma offen vereinigt haben (wie sie in der Presse getarnt vereinigt<br />

sind, stimmt doch das Urteil der „Retsch" und des „Nowoje<br />

Wremja" in dieser Frage im Wesen überein, unterscheidet es sich doch nur<br />

im Ton und in Details), diese Chauvinisten propagieren die Verwandlung<br />

der Völker in Kanonenfutter!<br />

„Praivda" 7ir. i46, Jiad) dem Jprt der „"Prawda".<br />

i8. Oktober i9i2.<br />

Unterschrift:?.


ZWEI UTOPIEN'<br />

347<br />

Utopie ist ein griechisches Wort: „u" bedeutet griechisch nirgends, „topos"<br />

- Land. Utopie ist also Nirgendland, eine Phantasie, etwas Erdichtetes,<br />

ein Märchen.<br />

Eine Utopie in der Politik ist eine Art Wunschtraum, der auf keinen<br />

Fall, weder jetzt noch später, verwirklicht werden kann, ein Wunschtraum,<br />

der sich nicht auf die gesellschaftlichen Kräfte stützt und der nicht durch<br />

das Wachstum, die Entwicklung der politischen Kräfte, der Klassenkräfte,<br />

gestützt wird.<br />

Je geringer die Freiheit in einem Lande ist, je dürftiger die Äußerungen<br />

des offenen Kampfes der Klassen, je niedriger das Niveau der Trtassenaufklärung,<br />

desto leichter entstehen gewöhnlich politische Utopien, und<br />

desto länger halten sie sich.<br />

Im gegenwärtigen Rußland halten sich zwei Arten von politischen Utopien<br />

am zähesten und üben durch ihre Anziehungskraft einen gewissen<br />

Einfluß auf die Massen aus. Das sind die liberale und die volkstümlerische<br />

Utopie.<br />

Die liberale Utopie besteht darin, daß es angeblich möglich wäre, schiedlich<br />

und friedlich, ohne jemanden zu kränken, ohne die Purischkewitsch zu<br />

stören, ohne erbitterten und konsequent geführten Klassenkampf irgendwelche<br />

ernsten Verbesserungen in Rußland, hinsichtlich seiner politischen<br />

Freiheit, in der Lage der werktätigen Volksmassen, zu erreichen. Es ist das<br />

die Utopie des Jriedens zwischen einem freien Rußland und den Purischkewitsch.<br />

Die volkstümlerische Utopie ist das Träumen des volkstümlerischen<br />

Intellektuellen und des trudowikischen Bauern davon, daß es möglich wäre,


348 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />

durch eine neue und gerechte Verteilung des gesamten Grund und Bodens<br />

die Macht und die Herrschaft des Kapitals zu beseitigen, die Lohnsklaverei<br />

zu beseitigen, oder daß es möglich wäre, unter der Herrschaft des Kapitals,<br />

angesichts der Macht des Geldes, angesichts der Warenproduktion<br />

eine „gerechte", „ausgleichende" Verteilung des Grund und Bodens aufrechtzuerhalten.<br />

Wodurch sind diese Utopien hervorgebracht worden? warum halten sie<br />

sich so zäh im heutigen Rußland?<br />

Sie sind hervorgebracht worden durch die Interessen der Klassen, die<br />

gegen die alte Ordnung, die Leibeigenschaft, die Rechtlosigkeit, mit einem<br />

Wort „gegen die Purischkewitsch" kämpfen und die in diesem Kampf<br />

keine selbständige Position einnehmen. Die Utopie, das Träumen ist hervorgebracht<br />

worden durch diese Unselbständigkeit, durch diese Sdhwädbe.<br />

Träumerei ist das Los der Sdiwadien.<br />

Die liberale Bourgeoisie im allgemeinen und die bürgerlich-liberale Intelligenz<br />

im besonderen kann nicht anders als nach Freiheit und Gesetzlichkeit<br />

streben, denn sonst ist die Herrschaft der Bourgeoisie nicht vollständig,<br />

nicht ungeteilt, nicht gesichert. Aber die Bourgeoisie fürchtet die Bewegung<br />

der Massen mehr als die Reaktion. Daher die erstaunliche, unglaubliche<br />

Sdowädoe des Liberalismus in der Politik, seine vollständige Machtlosigkeit.<br />

Daher die unendliche Reihe von Zweideutigkeiten, Lügen, Heuchelei,<br />

feigen Ausflüchten in der ganzen Politik der Liberalen, die in<br />

Demokratismus machen müssen, um die Massen auf ihre Seite zu ziehen,<br />

und die zugleich zutiefst antidemokratisch sind, zutiefst feindlich der Bewegung<br />

der Massen gegenüberstehen, ihrem Beginnen, ihrer Initiative,<br />

ihrer Manier, „den Himmel zn stürmen", wie sich einst Marx im Hinblick<br />

auf eine der europäischen Massenbewegungen des vergangenen Jahrhunderts<br />

ausdrückte. 86<br />

Die Utopie des Liberalismus ist die Utopie der Machtlosigkeit in der<br />

Sache der politischen Befreiung Rußlands, die Utopie des selbstsüchtigen<br />

Geldsacks, der da wünscht, „friedlich" die Privilegien mit den Purischkewitsch<br />

zu teilen, und dabei diesen edlen Wunsch als Theorie des „friedlichen"<br />

Sieges der russischen Demokratie ausgibt. Die liberale Utopie ist<br />

ein Träumen davon, wie die Purischkewitsch zu besiegen wären, ohne ihnen<br />

eine Niederlage zu bereiten, wie sie zu zerschlagen wären, ohne ihnen<br />

weh zu tun. Es ist klar, daß diese Utopie nicht nur deshalb schädlich ist,


Zwei Utopien 349<br />

weil sie eine Utopie ist, sondern auch weil sie das demokratische Bewußtsein<br />

der Massen demoralisiert. Die Massen, die an diese Utopie glauben,<br />

werden niemals die Freiheit erlangen; solche Massen sind der Freiheit<br />

nicht würdig; solche Massen haben es durchaus verdient, von den Purischkewitsch<br />

verhöhnt zu werden.<br />

Die Utopie der Volkstümler und Trudowiki ist das Träumen des Kleinbesitzers,<br />

der in der Mitte zwischen dem Kapitalisten und dem Lohnarbeiter<br />

steht, von der Vernichtung der Lohnsklaverei ohne Klassenkampf.<br />

Wenn die Frage der ökonomischen Befreiung für Rußland zu einer ebenso<br />

aktuellen, unmittelbaren, brennenden Frage geworden sein wird, wie<br />

das augenblicklich die Frage der politischen Befreiung ist, dann wird die<br />

Utopie der Volkstümler nicht weniger schädlich sein als die Utopie der<br />

Liberalen.<br />

Heute aber macht Rußland erst die Epoche seiner bürgerlichen und nicht<br />

seiner proletarischen Umgestaltung durch; nicht die Frage der ökonomischen<br />

Befreiung des Proletariats ist restlos ausgereift, sondern die<br />

Frage der politischen Freiheit, das heißt (dem Wesen der Sache nach) der<br />

vollen bürgerlichen Freiheit.<br />

Und in dieser letzten Frage spielt die Utopie der Volkstümler eine<br />

eigentümliche historische Rolle. Sie, die utopisch ist: in bezug darauf, welches<br />

die ökonomischen Folgen einer Neuaufteilung des Grund und Bodens<br />

sein müssen (und werden), ist Begleiterin und Symptom des großen demokratischen<br />

Aufschwungs der Bauemmassen, d. h. der Massen, die in dem<br />

gegenwärtigen, dem bürgerlich-feudalen Rußland die Mehrheit der Bevölkerung<br />

bilden. (In einem rein bürgerlichen Rußland wird ebenso wie im<br />

rein bürgerlichen Westeuropa die Bauernschaft nicht die Mehrheit der Bevölkerung<br />

bilden.)<br />

Die Utopie der Liberalen zersetzt das demokratische Bewußtsein der<br />

Massen. Die Utopie der Volkstümler, die ihr soziälistisdhes Bewußtsein<br />

zersetzt, ist Begleiterin, Symptom, zum Teil sogar Ausdruck ihres demokratischen<br />

Aufschwungs.<br />

Die Dialektik der Geschichte ist derart, daß die Volkstümler und Trudowiki<br />

als ein antikapitalistisches Mittel eine maximal konsequente und entschiedene<br />

kapitalistische Maßnahme auf dem Gebiet der Agrarfrage in<br />

Rußland vorschlagen und durchzuführen suchen. Die „Ausgleichung"<br />

durch eine Neuaufteilung des Grund und Bodens ist eine Utopie, aber


350 W. 3. <strong>Lenin</strong><br />

der für eine INewaufteilung notwendige vollständige Bruch mit allen alten<br />

Formen des Grundbesitzes, dem gutsherrlidien Grundbesitz, dem Besitz<br />

von Anteilland, dem „fiskalischen" Grundbesitz, ist die allernotwendigste,<br />

ökonomisch fortschrittlichste, für einen solchen Staat wie Rußland dringendste<br />

Maßnahme in bürgerlich-demokratischer Richtung.<br />

Man muß sich der bemerkenswerten Worte von Engels erinnern:<br />

„Was aber ökonomisch formell falsch, kann darum doch weltgeschichtlich<br />

richtig sein." 87<br />

Engels sprach diesen tiefschürfenden Satz aus im Hinblick auf den utopischen<br />

Sozialismus: Dieser Sozialismus war „falsch" in formell ökonomischem<br />

Sinn. Dieser Sozialismus war „falsch", da er den Mehrwert als<br />

Ungeredbtigkeit vom Standpunkt der Gesetze des Warenaustauschs erklärte.<br />

Gegen diesen Sozialismus hatten die Theoretiker der bürgerlichen<br />

politischen Ökonomie in formell ökonomischem Sinn recht, denn aus den<br />

Gesetzen des Austauschs ergibt sich der Mehrwert ganz „natürlich", ganz<br />

„gerecht".<br />

Aber der utopische Sozialismus hatte redht im weltgeschichtlichen Sinn,<br />

denn er war Symptom, Dolmetsch, Herold der Klasse, die, hervorgebracht<br />

vom Kapitalismus, hente, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, zu einer Massenkraft<br />

herangewachsen ist, die befähigt ist, mit dem Kapitalismus Schluß<br />

zu machen, und die unaufhaltsam diesem Ziel entgegenschreitet.<br />

Des tiefschürfenden Satzes von Engels muß man eingedenk sein bei der<br />

Einschätzung der gegenwärtigen volkstümlerischen oder trudowikischen<br />

Utopie in Rußland (vielleicht nicht allein in Rußland, sondern in einer ganzen<br />

Reihe asiatischer Staaten, die im 20. Jahrhundert die bürgerliche Revolution<br />

durchmachen).<br />

Falsch in formell ökonomischem Sinn, ist der volkstümlerische Demokratismus<br />

eine Wahrheit im gesdhidhtlidben Sinn; falsch als sozialistische<br />

Utopie, ist dieser Demokratismus die Wahrheit jenes eigentümlichen geschichtlich<br />

bedingten demokratischen Kampfes der Bauernmassen, der ein<br />

untrennbares Element der bürgerlichen Umbildung und die Voraussetzung<br />

ihres vollen Sieges darstellt.<br />

Die liberale Utopie entwöhnt die Bauernmassen des Kämpfens. Die<br />

volkstümlerische Utopie ist Ausdruck ihres Strebens zu kämpfen, wobei<br />

sie ihnen für den Fall des Sieges Millionen Güter der Welt verspricht,<br />

während in der Tat dieser Sieg nur hundert Güter geben wird. Aber ist es


Zwei Utopien 351<br />

nicht natürlich, daß die in den Kampf ziehenden Millionen, die Jahrhunderte<br />

in unerhörter Unwissenheit, in Not, Elend, Schmutz gelebt haben,<br />

die zersplittert und verschüchtert waren, die Früchte des möglichen Sieges<br />

zehnfach übertreiben?<br />

Die liberale Utopie ist eine Bemäntelung der selbstsüchtigen Wünsche<br />

der neuen Ausbeuter, die Privilegien mit den alten Ausbeutern zu teilen.<br />

Die volkstümlerische Utopie ist Ausdruck des Bestrebens der werktätigen<br />

Millionen des Kleinbürgertums, völlig Schluß zu machen mit den alten,<br />

feudalen Ausbeutern, wie auch der trügerischen Hoffnung, „zugleich" die<br />

neuen, kapitalistischen Ausbeuter beseitigen zu können.<br />

Es ist klar, daß die Marxisten, die allen Utopien feindlich gegenüberstehen,<br />

die Selbständigkeit der Klasse verteidigen müssen, die rückhaltlos<br />

gegen den Feudalismus zu kämpfen vermag, eben weil sie auch nicht zu<br />

einem hundertsten Teil durch jene Teilhaberschaft am Eigentum gebunden<br />

ist, die aus der Bourgeoisie einen halben Gegner, oftmals aber auch einen<br />

Bundesgenossen der Feudalen macht. Die Bauern „stecken in den Fängen"<br />

der kleinen Warenproduktion; sie können bei einer günstigen Verquikkung<br />

der historischen Umstände die vollständigste Beseitigung des Feudalismus<br />

erreichen, aber sie werden nicht zufällig, sondern unvermeidlich<br />

immer ein gewisses Schwanken zwischen Bourgeoisie und Proletariat,<br />

zwischen Liberalismus und Marxismus erkennen lassen.<br />

Es ist klar, daß die Marxisten aus der Schale der volkstümlerischen<br />

Utopien sorgfältig den gesunden und wertvollen Kern des ehrlichen, entschiedenen,<br />

kämpferischen Demokratismus der Bauernmassen herauslösen<br />

müssen.<br />

In der alten marxistischen Literatur der achtziger Jahre des vergangenen<br />

Jahrhunderts kann man das systematisch verfolgte Bestreben finden,<br />

diesen wertvollen demokratischen Kern herauszuschälen. Irgendwann werden<br />

die Historiker systematisch dieses Bestreben studieren und seinen<br />

Zusammenhang mit dem verfolgen, was im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts<br />

die Bezeichnung „Bolschewismus" erhalten hat.<br />

Qesäorieben vor dem 5. (i8.) Oktober 19H.<br />

Zuerst veröffentlicht i924 in der Nado dem Manuskript.<br />

Zeitschrift „Sbisn" [T>as Leben) ?ir. i.<br />

Unterschrift: W.l


352<br />

ENGLISCHE MEINUNGSVERSCHIEDENHEITEN<br />

OBER LIBERALE ARBEITERPOLITIK<br />

Bekanntlich gibt es in England zwei Arbeiterparteien: die Sozialdemokraten,<br />

die jetzt den Namen „Britische Sozialistische Partei" tragen, und<br />

die sogenannte „Unabhängige Arbeiterpartei".<br />

Diese Spaltung in der sozialistischen Arbeiterbewegung Englands ist<br />

kein Zufall. Ihr Ursprung geht weit zurück. Sie wurde durch die Besonderheiten<br />

der Geschichte Englands hervorgebracht. In England hat sich der<br />

Kapitalismus am frühesten entwickelt, und es war für eine lange Zeit die<br />

„Werkstätte" der Welt. Diese besondere Monopolstellung schuf in England<br />

verhältnismäßig erträgliche Lebensbedingungen für die Arbeiteraristokratie,<br />

d. h. für eine Minderheit geschulter, gut bezahlter Arbeiter.<br />

Daher der kleinbürgerliche Kastengeist in dieser Arbeiteraristokratie,<br />

die sich von ihrer Klasse losgelöst hat, sich ins Schlepptau der Liberalen<br />

begeben hat und den Sozialismus spöttisch als „Utopie" betrachtet. Die<br />

„Unabhängige Arbeiterpartei" ist eben eine Partei der liberalen Arbeiterpolitik.<br />

Man sagt mit Recht, daß diese Partei „unabhängig" nur vom Sozialismus,<br />

aber vom Liberalismus sehr abhängig ist.<br />

In der letzten Zeit wurde das Monopol Englands endgültig erschüttert.<br />

Die früheren, verhältnismäßig erträglichen Lebensbedingungen wurden<br />

infolge der Verteuerung der Lebenshaltung durch bitterste Not abgelöst.<br />

Der Klassenkampf verschärft sich in gewaltigem Ausmaß, und zugleich<br />

mit dieser Verschärfung wird der Boden für den Opportunismus untergraben,<br />

gerät die frühere Grundlage für die Verbreitung der Ideen der liberalen<br />

Arbeiterpolitik in der Arbeiterklasse ins Wanken.<br />

Solange diese Ideen in einem bedeutenden Teil der Arbeiter Englands<br />

im Schwange waren, konnte von einer Beseitigung der Spaltung unter den


Englische Meinungsverschiedenheiten über liberale Arbeiterpolitik 353<br />

Arbeitern nicht die <strong>Red</strong>e sein. Mit Phrasen und Wünschen kann man keine<br />

Einheit schaffen, solange der Kampf der Sozialdemokratie gegen die liberale<br />

Arbeiterpolitik noch nicht ausgefochten ist. Aber jetzt beginnt diese<br />

Einheit tatsächlich möglich zu werden, denn in der „Unabhängigen Arbeiterpartei"<br />

selbst wächst der Protest gegen die liberale Arbeiterpolitik.<br />

Wir haben den offiziellen Bericht dieser Partei über ihren letzten Kongreß,<br />

die „20. Jahreskonferenz", die am 27. und 28. Mai 1912 in Merthyr<br />

stattfand, vorliegen, überaus interessant sind in diesem Bericht die Diskussionen<br />

zur Frage der „parlamentarischen Taktik": im Grunde genommen,<br />

waren das Diskussionen über eine wesentlichere Frage, über die sozialdemokratische<br />

und die liberale Arbeiterpolitik, obgleich die Sprecher<br />

diese Ausdrücke nicht gebrauchten.<br />

Die Diskussion auf dem Kongreß eröffnete das Parlamentsmitglied<br />

Jowett. Er brachte eine Resolution gegen die Unterstützung der Liberalen<br />

ein, über die wir gleich ausführlicher berichten werden, und einer seiner<br />

Gesinnungsgenossen, Conway, der diese Resolution unterstützte, erklärte<br />

direkt: „Der einfache Arbeiter stellt stets die Frage, ob die Arbeiterpartei<br />

im Parlament eine selbständige Linie vertritt." Unter den Arbeitern verstärkt<br />

sich der Verdacht, daß die Arbeiterpartei von den Liberalen „am<br />

Gängelband geführt" wird. „Im Lande verbreitet sich immer mehr die<br />

Ansicht, daß die Arbeiterpartei einfach ein Hügel der Liberalen Partei<br />

ist." Man muß bemerken, daß sich die „Arbeiterpartei" im Parlament<br />

nicht nur aus Abgeordneten zusammensetzt, die der „Unabhängigen Arbeiterpartei"<br />

angehören, sondern auch aus Abgeordneten, die von den<br />

Gewerkschaften aufgestellt wurden. Solche Abgeordnete nennen sich Arbeiterabgeordnete<br />

und Mitglieder der „Arbeiterpartei", obgleich sie der<br />

„Unabhängigen Arbeiterpartei" nicht angehören. Die englischen Opportunisten<br />

haben das verwirklicht, wozu die Opportunisten der anderen Länder<br />

so oft tendieren: die Vereinigung der opportunistischen „sozialistischen"<br />

Abgeordneten mit den Abgeordneten der „parteilosen" Gewerkschaftsverbände.<br />

Die berüchtigte „breite Arbeiterpartei", von der bei uns<br />

in den Jahren 1906/1907 manche Menschewiki sprachen, wurde in England<br />

und nur in England realisiert.<br />

Um seinen Anschauungen praktischen Ausdruck zu verleihen, brachte<br />

Jowett eine Resolution ein. Sie ist typisch „englisch" abgefaßt: keinerlei<br />

allgemeine Prinzipien (die Engländer rühmen sich ihres „Praktizismus"


354 W. J. <strong>Lenin</strong><br />

und ihrer Abneigung gegenüber allgemeinen Prinzipien; das ist ein Ausdrude<br />

desselben Kastengeistes in der Arbeiterbewegung). Die Resolution<br />

forderte die Arbeitergruppe im Unterhaus auf, jeglidbe "Drohungen zu<br />

ignorieren (unbeachtet zu lassen), daß sich das liberale Kabinett in der<br />

Minderheit befinden und folglich zum Rücktritt gezwungen sein könne,<br />

und zu jeder Trage standhaft (steadfastly) abzustimmen, wie es die Saöie<br />

verdient (on the merits of the questions).<br />

Jowett hat mit seiner Resolution „den Stier bei den Hörnern gepackt".<br />

Das liberale Kabinett in England, wie die ganze Liberale Partei, flößt den<br />

Arbeitern mit allen Mitteln ein: man muß die Kräfte gegen die Reaktion<br />

(d. h. gegen die Konservative Partei) vereinigen; man muß die liberale<br />

Mehrheit erhalten, die verlorengehen kann, wenn die Arbeiter nicht mit<br />

den Liberalen stimmen; die Arbeiter dürfen sich nicht isolieren, sie müssen<br />

die Liberalen unterstützen. Und Jowett stellt die Frage ganz klar: Stimmt<br />

„standhaft", beachtet nicht die Drohungen, daß das liberale Kabinett fallen<br />

könnte, stimmt nicht so, wie es das Interesse der Liberalen Partei verlangt,<br />

sondern so, wie es die Sache verdient, d. h. - in der Sprache des<br />

Marxismus - betreibt eine selbständige proletarische Klassenpolitik und<br />

nicht eine liberale Arbeiterpolitik.<br />

(Innerhalb der „Unabhängigen Arbeiterpartei" wird der Marxismus<br />

prinzipiell abgelehnt, die Sprache des Marxismus ist deshalb überhaupt<br />

nicht in Gebrauch.)<br />

über Jowett fielen sofort die in der Partei herrschenden Opportunisten<br />

her. Sie fielen über ihn her — und das ist charakteristisch! - eben wie Opportunisten,<br />

mit Schlichen und Ausflüchten. Sie wollten nicht direkt sagen,<br />

daß sie für die Unterstützung der Liberalen sind. Sie kleideten ihre Gedanken<br />

in die Form allgemeiner "Phrasen, drapierten sie mit dem obligatorischen<br />

Hinweis auf die „Selbständigkeit" der Arbeiterklasse. Sie handeln<br />

ganz ebenso wie unsere Liquidatoren, die stets gerade dann besonders<br />

laut von der „Selbständigkeit" der Arbeiterklasse schreien, wenn sie sich<br />

in Wirklidbkeit darauf vorbereiten, diese Selbständigkeit durch die liberale<br />

Arbeiterpolitik zu ersetzen.<br />

Der Vertreter der opportunistischen Mehrheit, Murray, brachte einen<br />

„Abänderungsantrag" ein, d. h. eine Gegenresolution folgenden Inhalts:<br />

„Die Konferenz stellt fest, daß die Arbeiterpartei zwecks besserer Erlangung<br />

ihrer Ziele nach wie vor alle eventuellen Ergebnisse und Folgen ihrer


Englisdoe Meinungsversdhiedenheiten über liberale Arbeiterpolilik 355<br />

Taktik, sowohl die unmittelbaren als auch die mittelbaren, in Rechnung stellen<br />

muß, wobei sie keinen Augenblick vergessen darf, daß ihre Entschlüsse ausschließlich<br />

von ihren eigenen Interessen als Partei und von dem Bestreben<br />

bestimmt sein müssen, die Gelegenheiten zur Erlangung ihrer Ziele zu vermehren."<br />

Man vergleiche beide Resolutionen. Bei Jowett die eindeutige Forderung,<br />

mit der Politik der Unterstützung der Liberalen zu brechen, bei<br />

Murray - nichtssagende Gemeinplätze, die sehr schön aussehen und auf<br />

den ersten Blick unangreifbar scheinen, aber in Wirklichkeit gerade die<br />

Politik der Unterstützung der Liberalen bemänteln. Würde Murray Marx<br />

kennen und vor Leuten sprechen, die den Marxismus schätzen, so hätte<br />

es ihm nichts ausgemacht, seinen Opportunismus in marxistische <strong>Red</strong>ewendungen<br />

zu kleiden und zu sagen, daß der Marxismus die Berücksichtigung<br />

aller konkreten Umstände eines jeden Falls fordere, daß wir uns<br />

nicht die Hände binden, daß wir, unter Wahrung unserer Selbständigkeit,<br />

„Konflikte ausnutzen", uns „an die Achillesferse der Widersprüche" eines<br />

gegebenen Regimes „klammern" usw. usf.<br />

Den Opportunismus kann man in den Termini jeder beliebigen Doktrin<br />

ausdrücken, so audb in denen des Marxismus. Die ganze Eigenart der<br />

„Schicksale des Marxismus" in Rußland besteht eben darin, daß nicht nur<br />

der Opportunismus der Arbeiterpartei, sondern auch der Opportunismus<br />

der liberalen Partei (Isgojew und Co.) sich gern in die „Termini" des<br />

Marxismus kleidet! Aber das nebenbei. Kehren wir nach Merthyr zurück.<br />

Nach Jowett sprach McLachlan.<br />

„Worin bestehen die Interessen einer politischen Partei?" fragte er. „Etwa<br />

nur darin, sich die Abgeordnetenplätze im Unterhaus zu wahren? Wenn man<br />

tatsächlich die Interessen der Partei im Auge hat, so muß man mit den Arbeitern<br />

und Arbeiterinnen außerhalb des Parlaments ebenso rechnen wie mit den<br />

Abgeordneten im Parlament. Wir sind eine sozialistische Organisation. Wir<br />

müssen in unserer politischen Tätigkeit unsere Prinzipien vertreten."<br />

McLachlan bezog sich ferner auf die Abstimmung anläßlich eines Vorfalls<br />

in der Besserungsanstalt von Haswell. Ein Junge, der dort festgesetzt<br />

war, wurde zu Tode gequält. Es erfolgte eine Interpellation im Parlament.<br />

Dem liberalen Kabinett drohte eine Niederlage: England ist nicht Preußen,<br />

und ein Kabinett, das in der Minderheit bleibt, tritt zurück. Die Ar-


356 IV. 1. <strong>Lenin</strong><br />

beiterabgeordneten aber stimmten für die Rechtfertigung des Folterknechts<br />

und retteten das Kabinett.<br />

Die Arbeiterpartei, sagte McLachlan, stellt immer in Rechnung, welche<br />

Konsequenzen ihre Stimmabgabe für das Schicksal der Regierung hat. Man<br />

sagt, fällt das Kabinett, so wird das Parlament aufgelöst und werden Neuwahlen<br />

angesetzt. Aber davor braucht man sich nicht zu fürchten. Das<br />

Ergebnis des Falls des Kabinetts und der Ansetzung von Neuwahlen wäre<br />

die Vereinigung der beiden bürgerlichen Parteien. (McLachlan sagte einfach<br />

„der beiden Parteien" ohne das Wort „bürgerlichen": Die Engländer<br />

lieben keine marxistischen Termini!) Aber je sdhneüer sidh diese beiden<br />

Parteien vereinigen würden, um so besser wäre es für unsere Bewegung.<br />

Das, was unsere Propagandisten sagen, das muß auch von unseren Abgeordneten<br />

im Parlament in die Tat umgesetzt werden. Solange das nicht der<br />

Fall ist, wird der Arbeiter-Tory (d. h. der Konservative) niemals glauben,<br />

daß es irgendeinen Unterschied zwisdien der Liberalen Partei und der<br />

Arbeiterpartei gibt. Selbst wenn wir alle Sitze im Parlament verlören -<br />

wenn wir unsere Prinzipien verteidigen, so haben wir davon mehr Nutzen<br />

als von den Bemühungen, die liberale Regierung zu umschmeicheln, um von<br />

ihr Zugeständnisse zu erhalten!<br />

Keir Hardie, Mitglied des Parlaments, Parteiführer. Er dreht und wendet<br />

sich...<br />

„Eigentlich gibt es in unserem Parlament keine ausbalancierte Stellung: die<br />

Liberalen sind zusammen mit den Iren stärker als ein Bündnis der Tones und<br />

der Arbeiterabgeordneten... In der Angelegenheit der Folterung in Haswell<br />

habe ich für die Regierung gestimmt, weil ich von der Richtigkeit eines solchen<br />

Votums der Sache nach überzeugt war und nicht, um die Regierung zu unterstützen.<br />

Eine Mißhandlung hatte es ohne Zweifel gegeben, und wir sind alle<br />

mit dem festen Entschluß ins Parlament gegangen, gegen die Regierung zu<br />

stimmen. Aber im Parlament haben wir die Gegenseite gehört, und es hat sich<br />

gezeigt, daß, obgleich sich der Anstaltsleiter Ausschreitungen hat zuschulden<br />

kommen lassen, die Anstalt doch im allgemeinen die beste im Königreich ist.<br />

Unter solchen Bedingungen wäre es falsch gewesen, gegen die Regierung zu<br />

stimmen... (Hier sieht man, wie weit die englischen Opportunisten die Arbeiterpartei<br />

gebracht haben: ihr Führer ist für eine solche <strong>Red</strong>e nicht ausgepfiffen<br />

worden, man hat ihn ruhig angehört!)<br />

Die Schuld liegt nicht bei den Mitgliedern der .Unabhängigen Arbeiterpartei'.<br />

Der Arbeiterpartei ist die Föderation der Grubenarbeiter beigetreten,


Englische Meinungsverschiedenheiten über liberale Arbeiterpolitik 357<br />

und als die Abgeordneten der Grubenarbeiter in die Arbeitergruppe eingetreten<br />

waren, erwiesen sie sidh als Überale. Sie haben auch ihre Ansichten nicht geändert.<br />

Sie haben sich der Arbeiterpartei nur nominell angeschlossen ...<br />

Die Resolution von Jowett führt das ganze System des Parlamentarismus ad<br />

absurdum. Die Konsequenzen einer jeden Abstimmung müssen in Rechnung<br />

gestellt werden.<br />

... Ich würde empfehlen, sowohl die Resolution als auch den Abänderungsantrag<br />

zurückzustellen." (!!!)<br />

Lansbury unterstützt die Resolution Jowetts:<br />

„Keir Hardie bemühte sich vergeblich, die Resolution lächerlich zu machen<br />

mit der Behauptung, sie würde vorschlagen, zu einzelnen Fragen abzustimmen,<br />

ohne alle Umstände zu erwägen. Die Resolution schlägt vor, nicht allein<br />

von der Erwägung auszugehen, wie sich das Ergebnis einer Abstimmung auf<br />

die Stabilität der Regierung auswirkt. Ich bin znm Sozialismus gekommen,<br />

nachdem ich von Widerwillen gegen die Methoden der politischen Geschäftemacher<br />

erfaßt worden war, die das Unterhaus mit Hilfe privater Versammlungen<br />

und durch die ,Lenkung 4 der Abgeordneten in ihren Händen haben.<br />

Und meine Erfahrung Jiat mir gezeigt, daß jede aufgeworfene Frage eben von<br />

dem Standpunkt erörtert wurde, welchen Einfluß diese oder jene Abstimmung<br />

auf das Schicksal der Regierung hat.<br />

Der Arbeiterpartei ist es fast unmöglich, sich von der Liberalen Partei zu<br />

differenzieren. Mir ist keine gesetzgeberische Frage bekannt, in der es der<br />

Arbeiterpartei gelungen wäre, sich von den Liberalen zu differenzieren. Als<br />

Partei waren wir in der Frage der Arbeiterversicherung ein untrennbarer Bestandteil<br />

der Regierung. Die Arbeiterpartei stimmte stets für die Regierung und<br />

für ihren Entwarf.<br />

Die Abstimmung zur Frage der Besserungsanstalt in Haswell läßt in mir ein<br />

Gefühl der Scham aufkommen. Ein Junge ist mißhandelt worden, der Junge ist<br />

an den Mißhandlungen gestorben, und wir stimmen für die Regierung und<br />

rechtfertigen damit den Büttel. Unsere ,whips' (Ordner oder Bevollmächtigte,<br />

die die Abstimmung ihrer Fraktion beaufsichtigen) liefen im ganzen Unterhaus<br />

umher, um die Arbeiterabgeordneten zu sammeln und zu verhindern, daß die<br />

Regierung eine Niederlage erleidet Wenn man die Menschen dazu anhält,<br />

gegen ihr Gewissen abzustimmen, so heißt das, daß man der Zukunft der<br />

Demokratie in diesem Lande den Todesstoß versetzt..."<br />

Philip Snowden, Mitglied des Parlaments, einer der eifrigsten Opportunisten,<br />

windet sich wie eine Schlange.


358 W. J. <strong>Lenin</strong><br />

„Mein Kampfinstinkt läßt mich geneigt sein, für die Resolution zu stimmen,<br />

aber mein gesunder Verstand, meine Vernunft, meine Erfahrung veranlassen<br />

mich, dagegen zu stimmen. Ich bin damit einverstanden, daß das gegenwärtige<br />

parlamentarische System eine demoralisierende Wirkung auf diejenigen ausübt,<br />

die voller Idealismus und politischen Enthusiasmus ins Parlament gekommen<br />

sind, aber ich bin nicht der Meinung, daß die Annahme der Resolution von<br />

Jowett eine wesentliche Änderung herbeiführen würde. Wenn man das Wesen<br />

einer Sache erörtert, darf man sich nicht allein auf die Umstände des gegebenen<br />

Falls beschränken. Es gibt Fragen, die für die Arbeiterpartei wichtiger sind als<br />

die Frage, welche eventuellen Folgen eine Abstimmung für die Regierung<br />

haben kann (so z. B. die Frage des Wahlrechts der Frauen), aber kann man<br />

diese Folgen bei der Abstimmung über irgendeine kleine Frage ignorieren?<br />

Eine solche Politik würde es notwendig machen, oft allgemeine Wahlen durchzuführen,<br />

aber für die Öffentlichkeit gibt es nichts Unangenehmeres ... Politik<br />

ist ein Kompromiß."<br />

Bei der Abstimmung wurden für die Resolution 73 Stimmen, gegen die<br />

Resolution 195 Stimmen abgegeben.<br />

Die Opportunisten haben einen Sieg errangen. Das ist nicht verwunderlich<br />

in einer solchen opportunistischen Partei, wie es die englische<br />

„Unabhängige Arbeiterpartei" ist. Aber daß der Opportunismus Opposition<br />

in den Reihen dieser Partei selbst hervorruft, das ist jetzt eine<br />

unumstößliche Tatsache.<br />

Die Gegner des Opportunismus haben viel richtiger gehandelt, als es<br />

oftmals ihre Gesinnungsgenossen in Deutschland tun, die faule Kompromisse<br />

mit den Opportunisten verteidigen. Das offene Auftreten mit einer<br />

eigenen Resolution führte zu überaus wichtigen prinzipiellen Diskussionen,<br />

und auf die Arbeiterklasse Englands werden diese Diskussionen eine<br />

tiefe Wirkung ausüben. Die liberale Arbeiterpolitik hält sich durch die<br />

Tradition, die Routine und die Geschicklichkeit der opportunistischen Führer,<br />

aber ihr Fiasko in der Masse des Proletariats ist unausbleiblich.<br />

(geschrieben vor dem 5. fisj Oktober i9i2.<br />

Zuerst veröffentlicht im April I9i3 in der Nach dem Text der Zeitschrift.<br />

Zeitschrift „Proswesdbtsdhenije" 5Vr. 4.<br />

Unterschrift: W.


DER KADETTENPROFESSOR<br />

359<br />

Herr Professor Tugan-Baranowski, ein Kandidat der Kadettenpartei,<br />

zählt zu den Ökonomen Rußlands, die in ihrer Jugend Beinahe-Marxisten<br />

waren, dann aber rasch „gescheiter wurden", Marx durch Bruchstücke<br />

bürgerlicher Theorien „verbesserten" und sich durch große Renegatenverdienste<br />

Lehrstühle an den Universitäten erwarben zur gelehrten Ver-<br />

Jummung der Studenten.<br />

Kürzlich servierte Herr Tugan, der sich vom Marxisten zum Liberalen<br />

entwickelt hat, in der „Retsch" zu der aktuellen Frage der steigenden<br />

Lebenshaltungskosten folgende Betrachtung:.<br />

„Von meinem (?) Standpunkt aus ist die wichtigste (so, so!) Ursache der<br />

Verteuerung der Lebenshaltung völlig klar. Es ist das ungeheure Anwachsen<br />

der Bevölkerung, und zwar vor allem der städtischen. Der Bevölkerungszuwachs<br />

bewirkt den Obergang zu intensiveren Methoden der Bodenbearbeitung, was<br />

nadb dem bekannten Qesetz der sinkenden Produktivität der landwirtschaftlichen<br />

Arbeit ein Ansteigen des Arbeitswerts der Einheit des erzeugten Produkts<br />

nach sich zieht."<br />

Herr Tugan liebt es auszurufen: „ich", „mein". In Wirklichkeit wiederholt<br />

er Bruchstücke der von Marx längst widerlegten bürgerlichen Lehren.<br />

Das „bekannte Gesetz der sinkenden Produktivität" ist ein alter bürgerlicher<br />

Plunder, der Unwissenden und gedungenen Gelehrten der Bourgeoisie<br />

dazu dienen soll, den Kapitalismus zu rechtfertigen. Marx hat<br />

dieses „Gesetz", das die Schuld auf die 'Natur abwälzt (wenn die Arbeitsproduktivität<br />

sinkt, kann man eben nichts machen!), während in Wirklichkeit<br />

die kapitalistische Gesellschaftsordnung die Schuld trägt, längst<br />

widerlegt.


360 IV. 7. <strong>Lenin</strong><br />

Das „Gesetz der sinkenden Produktivität der landwirtschaftlichen Arbeit"<br />

ist eine bürgerliche Lüge. Das Gesetz der wachsenden Rente, das<br />

heißt des Gewinns der Eigentümer des Grund und Bodens, im Kapitalismus<br />

ist die Wahrheit.<br />

Eine der Ursachen für die Verteuerung der Lebenshaltung ist das Monopol<br />

am Grund und Boden, d. h. die Tatsache, daß er sich in Privateigentum<br />

befindet. Die Grundbesitzer nehmen daher einen immer größeren<br />

Tribut von der steigenden Arbeitsproduktivität. Nur die Organisierung<br />

der Arbeiter zur Wahrnehmung ihrer Interessen, nur die Beseitigung der<br />

kapitalistischen Produktionsweise werden der Teuerung ein Ende setzen.<br />

Nur Diener der Bourgeoisie, wie der Kadett Herr Tugan, können noch<br />

das Märchen vom „Gesetz" der sinkenden Produktivität der landwirtschaftlichen<br />

Arbeit nachplappern.<br />

„Vrawda" 3Vr. 147, Nadb dem Jext der „Vrawda".<br />

19. Oktober 1912.<br />

Untersdhrift-.W.l


EIN NEUES KAPITEL<br />

DER WELTGESCHICHTE<br />

36t<br />

Selbst die bürgerliche Presse von ganz Europa, die aus reaktionären<br />

und eigennützigen Beweggründen heraus für den berüchtigten Status quo<br />

(den früheren, unveränderten Zustand) auf dem Balkan eintrat, gibt jetzt<br />

einhellig zn, daß ein neaes Kapitel der Weltgeschichte begonnen hat.<br />

Die Niederlage der Türkei steht außer Zweifel. Die Siege der im Viererbund<br />

vereinigten Balkanstaaten (Serbien, Bulgarien, Montenegro nnd<br />

Griechenland) sind gewaltig. Das Bündnis dieser vier Staaten ist Tatsache<br />

geworden. „Der Balkan den Balkanvölkem": das ist sdhon erreicht.<br />

Was für eine Bedeutung aber hat das neue Kapitel der Weltgeschichte?<br />

In Osteuropa (Österreich, Balkan und Rußland) sind bis heute die starken<br />

Überreste des Mittelalters, die die gesellschaftliche Entwicklung nnd<br />

das Anwachsen des Proletariats so sehr aufhalten, noch nicht beseitigt.<br />

Diese Überreste sind: Absolutismus (unumschränkte selbstherrliche<br />

Macht), Feudalismus (Grundbesitz und Privilegien der feudalen Gutsbesitzer)<br />

und Unterdrückung der Nationalitäten.<br />

Die klassenbewußten Arbeiter der Balkanländer haben als erste die<br />

Losung der konsequenten demokratischen Lösung der nationalen Frage<br />

auf dem Balkan aufgestellt Diese Losung lautet: föderative Balkanrepublik.<br />

Die Schwäche der demokratischen Klassen in den heutigen Balkanstaaten<br />

(das Proletariat ist zahlenmäßig schwach, die Bauern sind unterdrückt,<br />

zersplittert und ungebildet) führte dazu, daß das ökonomisch und politisch<br />

notwendige Bündnis zu einem Bündnis der Balkanmonarchien wurde.<br />

Die nationale Frage auf dem Balkan ist ihrer Lösung um einen großen<br />

Schritt näher gekommen. Von ganz Osteuropa bleibt jetzt einzig und allein<br />

Rußland ein ganz und gar rückständiger Staat.<br />

24 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>


362 IV. 1. <strong>Lenin</strong><br />

Obwohl auf dem Balkan ein Bündnis der Monarchien und nicht ein<br />

Bündnis der Republiken entstanden ist, obwohl dieses Bündnis durch den<br />

Krieg und nicht durch die Revolution hergestellt wurde, ist dennoch ein<br />

großer Schritt vorwärts zur Vernichtung der Überreste des Mittelalters<br />

in ganz Osteuropa getan. Und ihr frohlockt zu früh, ihr Herren Nationalisten!<br />

Dieser Schritt ist gegen euch gerichtet, denn in Rußland gibt es<br />

die meisten Überreste des Mittelalters!<br />

In Westeuropa aber verkündet das Proletariat noch nachdrücklicher die<br />

Losung: Keinerlei Einmischung! Der Balkan den Balkanvölkern!<br />

„Prawda" 3Vr. 149, Tiad] dem 7ext der ,?rawda".<br />

21. Oktober 1912.


DIE KADETTEN<br />

UND DIE NATIONALISTEN<br />

363<br />

Als wir darauf verwiesen, daß die Kadetten im Grunde ihrer Seele<br />

Nationalliberale sind, daß sie die nationale Frage keineswegs in demokratischer<br />

Weise stellen, antwortete ans die „Retsch" aufgebracht und hochmütig,<br />

uns der Unkenntnis und der Entstellung bezichtigend.<br />

Hier ein Dokument, eines von vielen. Mögen die Leser und Wähler urteilen.<br />

Am <strong>18</strong>. Oktober tagte bei Herrn M. M. Kowalewski die zweite Versammlung<br />

des „Kreises von Personen, die sich für die slawische Frage<br />

interessieren". Es wurde eine Adresse an die Öffentlichkeit verlesen, unterzeichnet<br />

von J. Anitschkow, Karejew, L. Pantelejew (er war Kandidat<br />

der Kadetten), G. Falbork, femer natürlich von Herrn M. M. Kowalewski<br />

u. a.<br />

Wird sich wohl die „Retsch" der Verantwortung für Karejew, Pantelejew<br />

und Co. entziehen wollen?<br />

Die Adresse der Liberalen an die Öffentlichkeit läuft darauf hinaus, daß<br />

„das russische Herz im allgemeinen Hochflug der Gefühle... voller<br />

Sympathie für die Slawen und in der Hoffnung schlägt, daß das russische<br />

nationale Selbstbewußtsein dazu beitragen wird, ihnen die Früchte ihrer<br />

Siege zn sichern".<br />

Wodurch unterscheidet sich das vom Nationalismus und Chauvinismus<br />

des „Nowoje Wremja" und Co? Nur durch die weißen Handschuhe und<br />

die diplomatisch vorsichtigeren Wendungen. Aber der Chauvinismus ist<br />

auch in weißen Handschuhen und trotz der gewähltesten <strong>Red</strong>ewendungen<br />

abscheulich.


364 19. 3. <strong>Lenin</strong><br />

Die Demokratie wird niemals von „allgemeinem Hochflug der Gefühle"<br />

sprechen, wenn daneben (und obenan!) die russischen Nationalisten stehen,<br />

die eine Reihe von Völkern auf jede Weise unterdrücken.<br />

Die Demokratie wird es niemals dulden, daß einfach der Slawe dem<br />

Türken entgegengestellt wird, wenn man den slawischen und den türkischen<br />

Bauern gemeinsam den slawischen und den türkischen Gutsbesitzern<br />

und Halsabschneidern entgegenstellen muß.<br />

Die Demokratie wird es niemals zulassen, daß das Selbstbewußtsein<br />

der Freunde der Freiheit und der Feinde der Unterdrückung in allen Nationalitäten<br />

durch das „russische nationale Selbstbewußtsein" vertauscht<br />

wird - bei gleichzeitiger Unterdrückung und Verfolgung der Polen, der<br />

Juden, der „Fremdstämmigen" überhaupt.<br />

Kein einziger ehrlicher Demokrat, kein einziger aufrichtiger Freund<br />

der unterdrückten Nationalitäten darf für die Kadetten stimmen!<br />

„Prawda" 7ir. i5i, SVacfo dem Text der „Prawda".<br />

24. Oktober i9i2.<br />

Untersdbrijt-.W.l.


DIE SCHRECKEN DES KRIEGES<br />

365<br />

Die kriegführenden Parteien verbergen vor „Außenstehenden", d. h.<br />

vor der ganzen Welt, nach Kräften, was auf dem Balkan vor sich geht.<br />

Die Korrespondenten werden getäuscht, hingehalten, und erst lange Zeit<br />

nach Beendigung der jeweiligen Kampfhandlungen dürfen sie das Schlachtfeld<br />

betreten.<br />

Nur außergewöhnliche Umstände ermöglichen es daher, ab und zu die<br />

Wahrheit über den Krieg zu erfahren. Solche außergewöhnlichen Umstände<br />

waren es offenbar, die Herrn Donohoe, einem Korrespondenten<br />

der englischen Zeitung „The Daily Chronicle", zu Hilfe kamen. Ihm ist<br />

es gelungen, auf türkischer Seite die Schlacht bei Lüle-Burgas mitzuerleben,<br />

danach fuhr er in einem Automobil bis Konstantinopel und von dort<br />

per Schiff nach Konstanza (Rumänien). Aus Konstanza konnte er frei nach<br />

London telegrafieren.<br />

Die Niederlage der Türken war schrecklich. Auf ihrer Seite fielen nahezu<br />

40000 (!) Mann. Die Katastrophe ist nicht geringer als die bei Mukden,<br />

schreibt der Engländer. Drei Viertel der türkischen Geschütze fielen<br />

den Bulgaren in die Hände. Die Bulgaren ließen die Türken ganz nahe<br />

herankommen und den Nahkampf eröffnen, zogen sich dann rasch zurück<br />

und... Maschinengewehre mähten die Türken zu Hunderten, zu<br />

Tausenden nieder.<br />

Der Rückzug der Türken verwandelte sich in eine ungeordnete Flucht<br />

kopfloser, hungriger, erschöpfter, wahnsinnig gewordener Haufen. Das<br />

Automobil des Korrespondenten blieb in einem Haufen Fliehender stekken.<br />

Die hungrigen Türken baten ihn um Brot. Er mußte selbst Verbände<br />

anlegen. Ärzte sind rar. Verbandstoff fehlt. Proviant fehlt. Ich war Zeuge<br />

vieler Feldzüge, schreibt der Engländer, aber so fürchterliches Elend, solche<br />

Massenvernichtung hungriger, erschöpfter, abgekämpfter, hilfloser Bauern<br />

aus Anatolien (Kleinasien) habe ich mir niemals auch nur vorgestellt.<br />

„Trawda" TJr. i55,28. Oktober i9l2. Tlaäs dem 7ext der „Vravoda".<br />

Unterschrift: "W.ir.


366<br />

DIE KADETTEN<br />

UND DIE GROSSBOURGEOISIE<br />

Die Siege der Kadetten in der ersten städtischen Kurie von Moskau und<br />

Petersburg, dann bei der Wahl der Industrievertreter im Reichsrat, schließlich<br />

die eindeutig erwiesene Tatsache, daß die Reaktionäre die Kadetten<br />

gegen die Sozialdemokraten unterstützt haben - alles das sind Anzeichen<br />

einer sehr interessanten politischen Entwicklung aller Klassen unserer Gesellschaft.<br />

Erinnern wir uns an den wichtigen Beschluß der Sozialdemokraten über<br />

das Wesen der Kadettenpartei vom Jahre 1907: „Die Parteien der liberalmonarchistischen<br />

Bourgeoisie und die wichtigste dieser Parteien, die Kadetten,<br />

haben sich schon jetzt entschieden von der Revolution abgewandt<br />

und verfolgen das Ziel, der Revolution durch einen Kompromiß mit der<br />

Konterrevolution ein Ende zu machen; die soziale Grundlage solcher Parteien<br />

bilden die ökonomisch fortgeschritteneren Schichten der Bourgeoisie,<br />

besonders aber die bürgerliche Intelligenz, während ein Teil des städtischen<br />

und ländlichen Kleinbürgertums diesen Parteien nur noch aus Tradition<br />

(aus blinder Gewohnheit) folgt und weil er von den Liberalen direkt betrogen<br />

wird." 88<br />

Die Ereignisse haben die Richtigkeit dieser Charakteristik vollauf bestätigt.<br />

Aus der zweiten städtischen Kurie (wo es viele demokratische<br />

Wähler gibt) werden die Kadetten von der Demokratie verdrängt. Aus<br />

der ersten städtischen Kurie verdrängen die Kadetten ihrerseits die Oktobristen.<br />

Je stärker die Reaktion wütet, je offener die Wahlen verfälscht werden,<br />

um so mehr geht das Großkapital auf die Seite des Liberalismus über. Das<br />

Klassenwesen der Kadettenpartei, wie es von den Marxisten in den Jahren


Die Kadetten und die Qroßbourgeoisie 367<br />

1906 und 1907 gekennzeichnet wurde, enthüllt sidb jetzt anschaulich vor<br />

den Massen.<br />

Deutlich wird der Irrtum derer, die die Kadetten für eine Partei der<br />

städtischen Demokratie hielten. Das Bündnis der Kadetten mit den Reaktionären<br />

verwandelt sich nach und nach aus einem geheimen in ein offenes<br />

Bündnis: die Reaktionäre bringen den Kadetten Mansyrew gegen den<br />

Sozialdemokraten Predkaln, den Kadetten Nikolajew gegen den Sozialdemokraten<br />

PokrowsM durch.<br />

Die sozialdemokratische Politik ist gerade deshalb so stark und so unbesiegbar,<br />

weil ihre Richtigkeit durch die ganze Entwicklung der kapitalistischen<br />

Gesellschaft immer mehr bestätigt wird. Die Kadetten schließen<br />

sich mit der Großbourgeoisie zusammen, die, bei all ihrem konterrevolutionären<br />

Charakter, nidht zufrieden sein kann. Die Demokratie rückt<br />

von den Kadetten nadb links ab.<br />

„Vrawda" Nr. 157, Nadb dem 7ext der .Trawda".<br />

i.November 1912.


368<br />

ECHT RUSSISCHE SITTEN<br />

Die Zeitung „Semsditsdiina" brachte kürzlich, neben Versen von Purischkewitsch,<br />

einen Artikel über den „berühmten" (von nun an auch<br />

ohne Anführungszeichen berühmten) offiziösen Publizisten Gurjew von<br />

der „Rossija". Die „Semschtschina" versichert, er sei „ein Publizist mit<br />

jüdisch-liberalem Einschlag". Sonderbar! Sollte auch die offizielle „Rossija"<br />

ein jüdisch-liberales Organ sein?<br />

Aber worum geht es? Darum, daß die Generalversammlung der Aktionäre<br />

der Petersburger Zwirnmanufaktur Gurjew einstimmig seines Postens<br />

als Vorstandsmitglied enthoben hat. Außerdem hat man beschlossen,<br />

sich an den Staatsanwalt zu wenden mit dem Ersuchen, Gurjew wegen<br />

unrechtmäßiger Handlungen vor Gericht zu stellen.<br />

Es stellt sich heraus, daß Gurjew 1000 Rubel eingebracht hat und das<br />

Recht auf ein "Drittel der Profite erwarb, obwohl die beiden Fabrikanten<br />

und Kompagnons 100 000 Rubel eingebracht haben! Wofür legen die<br />

Kapitalisten gegenüber Gurjew eine solche Freigebigkeit an den Tag?<br />

Dafür, daß dieser Mann Wirklicher Staatsrat, Mitarbeiter der offiziellen<br />

Zeitung „Rossija" usw. usf. ist. Er war persönlicher Sekretär Wittes.<br />

Er hat „außergewöhnliche Beziehungen". Er versprach ... staatliche Subventionen!<br />

Die Herren Kapitalisten „bewerteten" also die „Beziehungen" zur<br />

Regierung ziemlich hoch: mit genau 49000 Rubeln. Ihre Ware gegen unser<br />

Geld. Sie haben „Beziehungen zur Regierung", die Möglichkeit, Subventionen<br />

zu beschaffen, und wir das liebe Geld. Es ist Kauf und Verkauf.<br />

Für soundso viel Tausende „Beziehungen zur Regierung", für soundso<br />

viel — Subventionsversprechungen, für soundso viel - Mitarbeit an der offiziellen<br />

„Rossija". Bitte, Herr Gurjew!


Edht russisdoe Sitten 369<br />

Gurjew hat genommen - und betrogen. Er hat die Versprechungen<br />

nicht erfüllt, dafür aber angefangen, mehr als ein Drittel der Profite zu<br />

fordern, ja sogar Erpressungsversuche zu machen, d. h. Gelder herauszupressen,<br />

indem er drohte, den Kredit des Unternehmens zu untergraben.<br />

Eine charakteristische Angelegenheit. Eine typische Angelegenheit. Eine<br />

alltägliche Erscheinung. Eine Illustration zu dem Thema: Die Beziehungen<br />

zur Regierung und die Subventionen in ihrem Verhältnis zum Kapital.<br />

Nur, was hat das mit „jüdisch-liberalem Einschlag" zu tun, meine<br />

Herren von der „Semschtschina" ? Das ist ein echt russischer, ein echt<br />

konservativer Einschlag! Seien Sie nicht so bescheiden, verehrte Freunde<br />

Purischkewitschs!<br />

.Trawda" Nr. 160, Nadh dem 7ext der „Prawda".<br />

4. November 1912.<br />

Untersdhrift:7.


370<br />

DIE PLATTFORM DER REFORMISTEN<br />

UND DIE PLATTFORM DER<br />

REVOLUTIONÄREN SOZIALDEMOKRATEN<br />

Der revolutionäre Aufschwung in Rußland trat in der ersten Hälfte<br />

des Jahres 1912 unverkennbar zutage. Die Zahl der Teilnehmer an politischen<br />

Streiks erreichte nach den Berechnungen der Fabrikanten in fünf<br />

Monaten 515000. Welches die Losungen dieser Streikenden, welches ihre<br />

Forderungen waren, welchen politischen Inhalt ihre Demonstrationen,<br />

Meetings usw. hatten, davon zeugt ein besonders wichtiges Dokument,<br />

das in Nr. 27 des Zentralorgans in vollem Wortlaut abgedruckt wurde,<br />

der Maiaufruf der Petersburger Arbeiter.<br />

Nicht mit reformistischen Losungen traten die Petersburger Arbeiter in<br />

diesen denkwürdigen Tagen auf, sondern mit den Losungen der revolutionären<br />

Sozialdemokratie: Konstituierende Versammlung, Achtstundentag,<br />

Konfiskation der Gutsbesitzerländereien, Sturz der zaristischen Regierung,<br />

demokratische Republik.<br />

Die Aufstände und Aufstandsversuche der Soldaten und Matrosen in<br />

Turkestan, in der Baltischen Flotte und am Schwarzen Meer erbrachten<br />

erneut die objektive Bestätigung dafür, daß in Rußland nach langen Jahren<br />

des Wütens der Konterrevolution und des Stillstands in der Arbeiterbewegung<br />

ein neuer revolutionärer Aufschwung eingesetzt hat.<br />

Dieser Aufschwung fiel in die Zeit der Wahlen zur IV. Reichsduma, als<br />

alle Parteien, alle politischen Richtungen in der einen oder anderen Weise<br />

mit einer allgemeinen Einschätzung der politischen Lage hervortreten<br />

mußten. Wenn wir also unsere politischen Aufgaben als Aufgaben der<br />

Arbeiterklasse, und nicht als fromme Wünsche von Gruppen, ernsthaft<br />

analysieren wollen, wenn wir die Programme und Plattformen in marxistischer<br />

Weise prüfen wollen, indem wir sie den Tatsachen des Massenkampfes<br />

und den Aktionen sämtlidber Klassen der gegebenen Gesellschaft<br />

gegenüberstellen, so müssen wir eben an dem Prüfstein dieses revolutionä-


Die Plattform der Reformisten 371<br />

ren Jufsdhwungs der Massen auch die verschiedenen Wahlplattformen<br />

erproben. Denn für die Sozialdemokratie sind die Wahlen nicht eine besondere<br />

politische Operation, eine Jagd nach Mandaten vermittels irgendwelcher<br />

Versprechungen oder Erklärungen, sondern lediglich eine besondere<br />

Gelegenheit zur Agitation für die Hauptforderungen und für die<br />

Grundlagen der politischen Weltanschauung des klassenbewußten Proletariats.<br />

Die Programme und Plattformen aller Regierungsparteien, von den<br />

Schwarzhundertern bis zu Gutschkow, erwecken keinerlei Zweifel. Ihr<br />

konterrevolutionärer Charakter springt in die Augen, tritt offen zutage.<br />

Das Fehlen jedweden irgendwie ernsthaften Rückhalts dieser Parteien<br />

nicht nur in der Arbeiterklasse und in der Bauernschaft, sondern sogar in<br />

breiten Schichten der Bourgeoisie ist allgemein bekannt. Den Oktobristen<br />

haben diese Schichten fast gänzlich den Rücken gekehrt.<br />

Die Programme und Plattformen der bürgerlich-liberalen Parteien sind<br />

zum Teil beinahe offiziell veröffentlicht worden (die Plattform der mohammedanischen<br />

Gruppe), zum Teil sind sie aus der „großen" politischen<br />

Presse genauestens bekannt (die Plattformen der „Progressisten", der Kadetten).<br />

Das "Wesen aller dieser Programme und Plattformen hat der<br />

geschwätzige Kadett Gredeskul in Erklärungen, die in der „Retsch" nachgedruckt<br />

wurden und von da aus in die marxistische Presse gelangt sind,<br />

ganz vorzüglich zum Ausdruck gebracht.<br />

„Die öffentliche Leugnung der Notwendigkeit einer neuen Revolution<br />

in Rußland", so hat Herr Gredeskul selbst seine Anschauungen formuliert<br />

(vgl. „Sozial-Demokrat" Nr. 27, S. 3), und er hat auch den Revolutionären<br />

die wirkliche Plattform des Liberalismus (mit den Kadetten an der<br />

Spitze) entgegengehalten: „Vonnöten ist lediglidh eine ruhige, beharrliche<br />

und zielbewußte konstitutionelle Arbeit."<br />

Wir betonen die Worte: wirkliche Plattform, da sowohl in Rußland wie<br />

in allen bürgerlichen Ländern die meisten Plattformen nur zur Sdbau gestellte<br />

Plattformen sind.<br />

Das Wesen der Sache besteht nun gerade in dem, was Herr Gredeskul<br />

(in einem seltenen Anfall von Wahrheitsliebe) gestanden hat. Die liberalmonarchistische<br />

Bourgeoisie ist gegen eine neue Revolution, sie tritt ledig-<br />

Hdb für konstitutionelle Reformen ein.<br />

Die Sozialdemokratie tritt konsequent, die bürgerliche Demokratie (die


372 Ti>. J. <strong>Lenin</strong><br />

Volkstümler) mit Schwankungen für die „Notwendigkeit" einer neuen<br />

Revolution ein und propagiert sie. Der Aufschwung des 2Wassenkampfes<br />

hat eingesetzt. Die revolutionären Sozialdemokraten sind bestrebt, ihn zu<br />

erweitern und zu konsolidieren, indem sie mithelfen, ihn weiter, bis zum<br />

Stadium der "Revolution, voranzutreiben. Die Reformisten dagegen betrachten<br />

den Aufschwung lediglich „als Belebung", ihre Politik ist auf die<br />

Erringung konstitutioneller Zugeständnisse, konstitutioneller Reformen<br />

gerichtet. Bourgeoisie und Proletariat sind infolgedessen auch in dieser<br />

„Etappe" der russischen Geschichte in den Kampf um den Einfluß auf<br />

das „Volk", auf die Massen eingetreten. Niemand vermag den Ausgang<br />

des Kampfes vorauszusagen, aber niemand auch vermag Zweifel daran zu<br />

hegen, welchen Platz die SDAPR in diesem Kampf einnehmen muß.<br />

So und nur so kann man an die Beurteilung der Wahlplattform der<br />

Partei und auch jener Wahlplattform herangehen, die dieser Tage durch<br />

das von der Liquidatorenkonferenz gewählte „Organisationskomitee"<br />

herausgegeben wurde.<br />

Die vom Zentralkomitee nach der Januarkonferenz veröffentlichte<br />

Wahlplattform der Partei ist noch vor den Ereignissen vom April und Mai<br />

verfaßt worden. Diese Ereignisse haben ihre Richtigkeit bestätigt. Durch<br />

die ganze Plattform zieht sich ein Gedanke hindurch: die Kritik an der<br />

Aussichtslosigkeit, an der utopischen Natur konstitutioneller Reformen<br />

im heutigen Rußland und die Propagierung der Revolution. Die Losungen<br />

der Plattform sind eben mit der Zielsetzung gewählt, mit vollster Klarheit<br />

die revolutionären Aufgaben-zum Ausdruck zu bringen und ihre Vermengung<br />

mit Versprechungen von konstitutionellen Reformen ganz unmöglich<br />

zu machen. Die Plattform der Partei ist so beschaffen, daß sie einen direkten<br />

Aufruf der revolutionären Sozialdemokraten an die Hunderttausende<br />

Teilnehmer der politischen Streiks, an die fortgeschrittensten Elemente der<br />

Millionen Bauern im Waffenrock darstellt, denen die Aufgaben des Aufstandes<br />

erläutert werden. Die revolutionäre Partei kann sich einen besseren<br />

Prüfstein für ihre Plattform, eine bessere Bestätigung dieser Plattform<br />

durch das Leben selbst nicht einmal träumen lassen, als dieses unmittelbare<br />

Echo auf ihre Erläuterungen in Gestalt der Maistreiks und der militärischen<br />

Aufstandsversuche vom Juni und Juli.<br />

Man werfe einen Blick auf die Plattform der Liquidatoren. Ihr liquidatorischer<br />

Charakter wird durch die revolutionären Phrasen Trotzkis


Die Plattform der Reformisten 373<br />

geschickt verschleiert. Naive und gänzlich unerfahrene Leute kann diese<br />

Verschleierung manchmal täuschen, ja, sie kann ihnen als „Versöhnung"<br />

der Liquidatoren mit der Partei erscheinen. Aber schon die geringste Aufmerksamkeit<br />

wird diesen Selbstbetrug rasch zerstreuen.<br />

Die Plattform der Liquidatoren ist nado den Maistreiks und den Aufstandsversuchen<br />

vom Sommer geschrieben worden. Und wenn wir eine<br />

sachliche, reale Antwort auf die Frage nach dem Wesen dieser Plattform<br />

suchen, fragen wir vor allen Dingen: Wie hat sie diese Streiks und diese<br />

Aufstandsversuche beurteilt?<br />

„Wirtschaftlicher Aufschwung..." „Durch das Anwachsen seiner<br />

Streikbewegung hat das Proletariat den herannahenden Eintritt eines<br />

neuen gesellschaftlichen Aufschwungs angezeigt " „Die machtvolle<br />

Aprilbewegung des Proletariats mit der Forderung nach Koalitionsfreiheit"<br />

— das ist alles, was die Liquidatoren in der Plattform über die Streiks<br />

vom April und Mai zu sagen haben.<br />

Aber das ist ja doch eine Unwahrheit! Das ist eine schreiende Verzerrung<br />

der Dinge! Hier ist die Hauptsache übergangen: der revolutionäre<br />

Charakter des politischen Streiks, der eben nidot auf die Durchsetzung<br />

irgendeiner konstitutionellen Reform, sondern auf den Sturz der Regierung,<br />

d. h. auf die Revolution gerichtet ist.<br />

Wie konnte es geschehen, daß in einer illegalen, revolutionären Proklamation<br />

voller „schöner" Phrasen eine derartige Unwahrheit gesagt wurde?<br />

Das mußte so sein, denn so betrachten die Liberalen und die Liquidatoren<br />

die Dinge. Sie sehen in den Streiks das, was sie in ihnen sehen wollen:<br />

einen Kampf für konstitutionelle Reformen. Sie sehen nicht, was sie nicht<br />

sehen wollen: den revolutionären Aufschwung. Für Reformen wollen wir<br />

Liberalen kämpfen, für die Revolution dagegen nicht - das ist die "Wahrheit<br />

über ihre Klassenstellung, die ihren Ausdruck in der Unwahrheit der<br />

Liquidatoren gefunden hat.<br />

über die Aufstandsversuche lesen wir: „Die Soldaten in der Kaserne<br />

werden durch Gewalt, Erniedrigungen und Hunger zu verzweifelten Protestausbrüdben<br />

getrieben, dann aber werden sie mit der Kugel, mit dem<br />

Strick usw. wieder zur Ruhe gebracht "<br />

Das ist die Einschätzung der Liberalen. Wir revolutionären Sozialdemokraten<br />

erblicken in den Aufstandsversuchen den Beginn des Aujstands der<br />

Massen, einen mißglückten, verfrühten, unrichtigen Beginn, aber wir wis-


374 19. J. £enin<br />

sen, daß die "Massen den erfolgreichen Aufstand nur an Hand der Erfahrung<br />

mißglückter Aufstände erlernen, wie die russischen Arbeiter durch<br />

eine Reihe mißglückter und manchmal sogar besonders unglücklicher politischer<br />

Streiks in den Jahren 1901-1904 den erfolgreichen Streik des Oktobers<br />

1905 erlernt haben. Die durch die Kaserne am ärgsten eingeschüchterten<br />

Arbeiter und Bauern haben begonnen, sich zu erheben - so sagen<br />

wir. Daraus ergibt sich die klare und direkte Schlußfolgerung: man muß<br />

ihnen erläutern, um welcher Ziele willen und wie der erfolgreiche Aufstand<br />

vorzubereiten ist.<br />

Die Liberalen urteilen anders: Die Soldaten werden zu „verzweifelten<br />

Protestausbrüchen" „getrieben", sagen sie. Für die Liberalen ist der aufständische<br />

Soldat nicht Subjekt der Revolution, nicht der erste Vorbote der<br />

sich erhebenden Massen, sondern ein Objekt der Regierungswillkür („man<br />

treibt ihn zur Verzweiflung"), das zur Demonstrierung dieser Willkür<br />

dient.<br />

Seht, wie schlecht unsere Regierung ist, daß sie die Soldaten zur Verzweiflung<br />

treibt und sie dann mit der Kugel zur Ruhe bringt - sagt der<br />

Liberale. (Schlußfolgerung: Seht ihr, wenn wir Liberalen an der Macht<br />

wären, so gäbe es bei uns keine Soldatenaufstände.)<br />

Seht, wie die revolutionäre Energie im Schöße der breiten Massen heranreift<br />

- sagt der Sozialdemokrat -, wenn sogar die durch den Kasernenhofdrill<br />

niedergedrückten Soldaten und Matrosen sich zu erheben beginnen<br />

und dadurch,, daß sie ihren Aufstand schlecht machen, lernen, wie<br />

man einen erfolgreichen Aufstand macht.<br />

Seht: die Liquidatoren haben den im Frühjahr und Sommer eingetretenen<br />

revolutionären Aufschwung in Rußland „erläutert" (in der Bedeutung,<br />

die dieses Wort im Senat besitzt).<br />

Sie „erläutern" im Anschluß'daran das Programm unserer Partei.<br />

Im Programm der SDAPR heißt es:<br />

„Die SDAPR... stellt sich als nädbste politische Aufgabe den Sturz der<br />

zaristischen Selbstherrschaft und ihre Ersetzung durch die demokratische Republik,<br />

deren Verfassung gewahrleisten würde: 1. die Selbstherrschaft des Volkes<br />

..." usw. - folgt die Aufzählung der „Freiheiten" und „Rechte".<br />

Man möchte glauben, daß das nicht mißzuverstehen ist. Die „nächste"<br />

Aufgabe ist der Sturz der Selbstherrschaft und ihre Ersetzung durch die<br />

Republik, die die Freiheiten gewährleistet.


Die Plattform der 'Reformisten 375<br />

Die Liquidatoren haben das alles umgemodelt:<br />

„Die Sozialdemokratie", lesen wir in ihrer Plattform, „ruft das Volk zum<br />

Kampfe für die demokratische Republik auf...<br />

Im Streben nach diesem Ziel, das das Volk lediglidh im Qefolge der Revolution<br />

zu erreichen vermag, ruft die Sozialdemokratie in der gegenwärtigen<br />

"Wahlkampagne" (Hört!) „die werktätigen Massen auf, sich auf der Basis der<br />

folgenden Ja^esforderungen zusammenzuschließen: 1. allgemeines usw. Stimmrecht<br />

... bei den Wahlen zur Reidbsduma" usw.<br />

Der Sozialrevolutionäre Liquidator Herr Peschechonow schrieb im<br />

Herbst 1906, als er an der Gründung der „legalen Partei" arbeitete (die<br />

er um ein Haar gegründet hätte ... nur die Polizei hat ihn gestört und ins<br />

Kittchen gesteckt!), daß die Republik eine „weit in die Zukunft reichende<br />

Perspektive" sei, daß „die Frage der Republik äußerste Vorsicht erfordert",<br />

daß auf der Tagesordnung als Forderung jetzt - Reformen stehen.<br />

Aber der Sozialrevolutionäre Liquidator war naiv, simpel, plump und<br />

sprach ohne Umschweife. Handeln etwa die „europäischen" Opportunisten<br />

so? Nein, sie sind schlauer, gerissener, diplomatischer...<br />

Sie geben die Losung der Republik nicht preis - welch eine Verleumdung!<br />

Sie „erläutern" sie lediglich in gebührender Weise, wobei sie sich<br />

von Erwägungen leiten lassen, wie sie für jeden Spießbürger auf der Hand<br />

liegen. Ob es zur Revolution kommen wird oder nicht, das ist noch eine<br />

Frage - sagt der Spießbürger in seiner simplen Art und wiederholt Trotzki<br />

in gelehrter Art in der „Nascha Sarja" (Nr. 5, S. 21). Die Republik<br />

„lediglich im Gefolge der Revolution", „in der gegenwärtigen Wahlkampagne"<br />

aber sind die „ Jages'forderungen konstitutionelle Reformen!<br />

Alles ging so schön glatt: die Republik war sowohl anerkannt - als auch<br />

in die Ferne gerückt. An rrrevolutionären Worten hat man nicht gespart -<br />

in Wirklichkeit aber sind „in der gegenwärtigen Wahlkampagne" (die<br />

ganze Plattform wird nur für diese gegenwärtige Kampagne geschrieben!)<br />

als „Tages"forderungen Reformforderungen aufgestellt worden.<br />

Ja, ja, große „Meister der diplomatischen Kunst" saßen in der Liquidatorenkonferenz<br />

... Und wie erbärmlich sind doch diese Meister! Aber<br />

wenn sie auch die Winkeldiplomaten in Entzücken zu versetzen, wenn sie<br />

auch einen simplen „Versöhnler" irre zu machen vermögen - ein Marxist<br />

wird ihnen anders begegnen.


376 TV. 3. <strong>Lenin</strong><br />

Der Spießbürger begnügt sich mit der unbestreitbaren, unanfechtbaren<br />

and nidhtssagenden Wahrheit, daß man nicht vorher wissen kann, ob es<br />

zur Revolution kommen wird oder nicht. Der Marxist begnügt sich nicht<br />

damit; er sagt: Unsere Propaganda und die Propaganda aller sozialdemokratischen<br />

Arbeiter ist einer der 7äktoren, die bestimmen, ob es zur<br />

Revolution kommen wird oder nicht. Hunderttausende Teilnehmer an<br />

politischen Streiks, die fortgeschrittensten Elemente der verschiedenen<br />

Truppenteile fragen uns, unsere Partei, welchen Weg sie einschlagen, im<br />

Namen welcher Sache sie sich erheben, was sie anstreben sollen, ob der<br />

beginnende Aufschwung bis zur Revolution vorangetrieben oder ob er auf<br />

den Kampf für Reformen hingelenkt werden soll.<br />

Die revolutionäre Sozialdemokratie hat Antwort auf diese Fragen gegeben,<br />

die um einiges interessanter und wichtiger sind als das spießbürgerlich-trotzldstische<br />

„Nasenbohren": Wird es zur Revolution kommen oder<br />

nicht, wer kann das wissen?<br />

Unsere Antwort ist die: Kritik an der utopischen Natur konstitutioneller<br />

Reformen, Aufklärung über die Aussichtslosigkeit der auf sie gesetzten<br />

Hoffnungen, allseitige und größtmögliche Förderung des revolutionären<br />

Aufschwungs, hierzu Ausnützung der Wahlkampagne. Ob es<br />

zur Revolution kommt oder nicht, das hängt nidbt nur von uns ab. Wir<br />

aber werden das "Unsere tun, und das wird niemals mehr ungeschehen<br />

gemacht werden können. Das wird dazu beitragen, tief in die Massen<br />

hinein die Saat des Demokratismus und der proletarischen Selbständigkeit<br />

zu streuen, und diese Saat wird unbedingt aufgehen, ob nun morgen in der<br />

demokratischen oder übermorgen in der sozialistischen Revolution.<br />

"Jene dagegen, die den Massen ihren abgeschmackten, intellektuellen,<br />

bundistisch-trotzkistischen Skeptizismus predigen: „ob es zur Revolution<br />

kommt oder nicht, weiß man nicht, auf der Tagesordnung' stehen Reformen"<br />

- diese Leute demoralisieren sdhon beute die Massen, predigen den<br />

Massen liberale Utopien.<br />

Anstatt die Wahlkampagne mit dem Geiste der gegebenen, realen<br />

„gegenwärtigen" politischen Situation zu erfüllen, wo eine halbe Million<br />

Arbeiter in revolutionäre Streiks tritt, wo die fortgeschrittensten Elemente<br />

der im Waffenrock steckenden Bauern auf die adligen Offiziere schießen<br />

- statt dessen streichen sie aus ihren angeblich „europäischen" (sie sind ja<br />

doch solche Europäer, ach, so gute Europäer, diese Liquidatoren!) „par-


Die Plattform der Reformisten 377<br />

Iamentarischen" Erwägungen diese reale Situation (in der es sehr wenig<br />

„Europäisches" und sehr viel „Chinesisches", das beißt Revolutionär-<br />

Demokratisches gibt). Und während sie sich über diese Situation mit<br />

einigen zu nichts verpflichtenden Phrasen hinwegsetzen, erklären sie die<br />

reformistische zur einzig wirklichen Wahlkampagne!<br />

Die sozialdemokratische Partei braucht die Wahlplattform zur<br />

IV. Duma, um noch einmal sowohl aus Anlaß als auch gelegentlich der<br />

Wahlen, als auch im Meinungsstreit über die Wahlen die Massen über die<br />

Notwendigkeit, die Dringlichkeit und die Vnvermeidlidbkeit der Revolution<br />

aufzuklären.<br />

Sie, die Liquidatoren, brauchen die Plattform „für" die Wahlen, d. h.,<br />

um Erwägungen über eine Revolution als unbestimmte Möglichkeit höflich<br />

beiseite zu schieben, eine Wahlkampagne zwecks Aufführung konstitutioneller<br />

Reformen aber zur einzig „wirklichen" zu erklären.<br />

Die sozialdemokratische Partei will die Wahlen dazu ausnützen, um<br />

die Massen immer und immer wieder auf den Gedanken der Notwendigkeit<br />

der Revolution, des bereits beginnenden, eben revolutionären Aufschwungs<br />

hinzulenken. Darum sagt die sozialdemokratische Partei mit<br />

ihrer Plattform den Wählern zur IV. Duma klipp und klar: Nicht konstitutionelle<br />

Reformen, sondern die Republik, nicht Reformismus, sondern<br />

die Revolution.<br />

Die Liquidatoren benutzen die Wahlen zur IV. Duma zur Propagierung<br />

konstiturioneller Reformen und zur Abschwächung des Gedankens der<br />

Revolution. Zu diesem Zweck, deshalb, werden die Soldatenaufstände als<br />

„verzweifelte Protestausbrüche" hingestellt, zu denen man die Soldaten<br />

„getrieben" habe, und nicht als der Beginn des Massenaufstands, der<br />

anwachsen oder abebben wird, unter anderem auch in Abhängigkeit davon,<br />

ob alle sozialdemokratischen Arbeiter Rußlands sofort darangehen werden,<br />

ihn mit allen Kräften, mit aller Energie, mit allem Enthusiasmus zu<br />

unterstützen.<br />

Zu diesem Zweck hat man die Maistreiks nicht als revolutionäre, sondern<br />

als reformistische „erläutert".<br />

Zu diesem Zweck hat man das Parteiprogramm „erläutert", hat man<br />

vorgeschrieben, an Stelle der „nächsten" Aufgabe, der Schaffung der<br />

Republik, die die Freiheit gewährleistet, „in der gegenwärtigen Wählkampagne"<br />

- und zwar für die IV. Reichsduma, Spaß beiseite! - die<br />

25 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Ed. <strong>18</strong>


378 "W. l <strong>Lenin</strong><br />

Forderung nach verschiedenen Freiheiten als auj der Jagesordnung stehend<br />

zu betrachten.<br />

Wieviel Altchinesisches weist doch das russische Leben auf! Wieviel<br />

Altchinesisches weist doch unser Zarismus und wieviel davon weisen<br />

unsere Liquidatoren auf, die die „Zeremonie" des parlamentarischen<br />

Kampfes und des Reformismus angesichts der Purischkewitsch und Treschtschenkow<br />

oben und der revolutionären Versuche der Massen unten<br />

aufführen möchten! Wieviel Altchinesisches weisen dodi die Anstrengungen<br />

der Intellektuellen auf, sich vor den Chwostow und Makarow<br />

durch die Vorweisung eines Empfehlungsbriefes von MacDonald und<br />

Jaures, von ßissolati und Bernstein, von Kolb und Frank zu schützen!...<br />

Die diplomatische „Aussöhnung" der liquidatorischen Anschauungen<br />

mit denjenigen der Partei, die Trotzki auf der Liquidatorenkonferenz<br />

vorgeführt hat, „versöhnt" in Wirklichkeit absolut nichts. Sie wird jene<br />

entscheidende politische Tatsache nicht aus der Welt schaffen, die die<br />

ganze soziale und politische Situation des heutigen Rußlands bestimmt.<br />

Diese Tatsache ist der Kampf zwischen der reformistischen und der revolutionär-sozialdemokratischen<br />

Plattform, ist das Auftreten der Bourgeosie<br />

in der Person ihrer liberalen Parteiführer gegen die Notwendigkeit<br />

einer neuen Revolution in Rußland und für den Weg der ausschließlich<br />

konstitutionellen „Arbeit" - als Gegengewicht gegen das Auftreten der<br />

Hunderttausende von Proletariern im revolutionären Streik, der die Massen<br />

zum wirklichen Kampf für die Freiheit ruft.<br />

Wenn man einen Kratzfuß vor den Reformisten und einen zweiten vor<br />

der revolutionären Sozialdemokratie macht, so wird damit diese objektive<br />

politische Tatsache nicht aus der Welt geschafft, wird dadurch ihre Kraftund<br />

ihr Gewicht in keiner Weise abgeschwächt. Die guten Absichten, die auf<br />

dieser Tatsache beruhenden Meinungsverschiedenheiten zu glätten, vermögen<br />

nicht - selbst wenn sie wirklich absolut „gut gemeint" und aufrichtig<br />

sind —, die durch die ganzen Verhältnisse der Konterrevolution bedingten<br />

und einander unversöhnlich feindlichen politischen Tendenzen zu<br />

ändern.<br />

Das Proletariat hat sich unter seinem revolutionär-sozialdemokratischen<br />

Banner erhoben, und es wird dieses Banner am Vorabend der IV. Duma,<br />

der Schwarzhunderterduma, nicht vor den Liberalen einrollen, wird es<br />

nicht den Reformisten zuliebe einrollen; es wird sich nicht bereit finden, seine


Die Plattform der Reformisten 379<br />

Plattform den Erwägungen der Winkeldiplomatie zuliebe abzuschwächen<br />

oder zu vertuschen.<br />

Die Plattform der revolutionären Sozialdemokratie gegen die Plattform<br />

des Reformismus - in diesem Zeichen sind die Maistreiks verlaufen, in<br />

diesem Zeichen geht die SDAPR auch in die Wahlen zur Duma der Gutsbesitzer<br />

und Pfaffen, in diesem Zeichen wird die ganze Arbeit der Partei<br />

in dieser Duma und unter den breiten Volksmassen stehen.<br />

,Sozu\\-T>emohral" TJf. 28/29, Nadb dem 7 ext des<br />

5. (i8.) November 1912. . Sozial-Demokrat".


380<br />

ILLEGALE PARTEI<br />

UND LEGALE ARBEIT<br />

Die Frage der illegalen Partei und der legalen Arbeit der Sozialdemokraten<br />

in Rußland ist eine der Hauptfragen, vor denen die Partei steht;<br />

sie beschäftigt die SDAPR in der ganzen Periode nach der Revolution, sie<br />

hat den heftigsten inneren Kampf in ihren Reihen ausgelöst.<br />

Um diese Frage ging vor allem der Kampf der Liquidatoren gegen die<br />

Antiliquidatoren, und die Heftigkeit dieses Kampfes erklärt sich ganz und<br />

gar dadurch, daß er auf die Frage binausliej, ob es unsere alte, illegale<br />

Partei geben soll oder nicht. Die Konferenz der SDAPR im Dezember<br />

1908 verurteilte entschieden das Liquidatorentum und legte in einer besonderen<br />

Resolution klar den Standpunkt der Partei in der Organisationsfrage<br />

fest: Die Partei setzt sich aus illegalen sozialdemokratischen Zellen<br />

zusammen, die sich „Stützpunkte für die Massenarbeit" in Gestalt eines<br />

möglichst breiten und weitverzweigten Netzes verschiedenartiger legaler<br />

Arbeitervereinigungen schaffen müssen.<br />

Die Beschlüsse des Plenums des ZK vom Januar 1910 wie auch die<br />

Gesamtrussische Konferenz vom Januar 1912 haben diese Auffassung der<br />

Partei in vollem Maße bestätigt. Die völlige Bestimmtheit und Beständigkeit<br />

dieser Auffassung wird wohl am anschaulichsten durch den letzten<br />

„Dnewnik" des Gen. Plechanow (Nr. 16, April 1912) charakterisiert. Wir<br />

sagen: am anschaulichsten, weil gerade Plechanow damals eine neutrale<br />

Stellung (hinsichtlich der Bedeutung der Januarkonferenz) einnahm. Und<br />

von seinem neutralen Standpunkt aus bestätigt er vollauf diesen fest<br />

umrissenen Standpunkt der Partei, wenn er sagt, daß man die sog.<br />

„Initiativgruppen" - die sich von der Parteiorganisation abgespalten<br />

haben, sie verlassen haben oder neben ihr entstanden sind - ohne beson-


Illegale Partei und legale Arbeit 381<br />

deren Beschluß eines Parteitags oder einer Konferenz der illegalen Zellen<br />

nicht als zur Partei gehörig betrachten dürfe. Es wäre Anarchismus in<br />

prinzipieller Hinsicht, Unterstützung und Legalisierung des Liquir!atorentums<br />

in praktischer Hinsicht, schreibt Gen. Plechanow, wenn es den<br />

„Initiativgruppen" überlassen bliebe, über ihre Zugehörigkeit zur Partei<br />

selbst zu bestimmen.<br />

Es scheint, durch diese letzte Erläuterung des neutralen Plechanow<br />

müßte die Frage, die von der Partei so viele Male mit aller Bestimmtheit<br />

entschieden worden ist, als erledigt gelten. Aber die Resolution der letzten<br />

Liquidatorenkonferenz zwingt uns, noch einmal darauf zurückzukommen,<br />

da es neue Versuche gibt, Entwirrtes zu verwirren und Klares zu verschleiern.<br />

Der „Newski Golos" (Nr. 9) hat mit zügellosen Beschimpfungen<br />

an die Adresse der Antiliquidatoren erklärt, die neue Konferenz sei keine<br />

Liquidatorenkonferenz. Indessen beweist ihre Resolution zu einer der<br />

wichtigsten Fragen, der Frage der illegalen Partei und der legalen Arbeit,<br />

ganz eindeutig, daß die Konferenz durch und durch liquidatorisch ist.<br />

Wir müssen also diese Resolution eingehend untersuchen und zu diesem<br />

Zweck in vollem Wortlaut zitieren.<br />

I<br />

Die Resolution der Liquidatorenkonferenz trlgt die Überschrift: „über<br />

die Organisationsformen des Parteiau/fraus", in Wirklichkeit aber zeigt<br />

schon ihr erster Punkt, daß es nicht um die „Formen" des Aufbaus geht,<br />

sondern darum, weldbe Partei man hier „aufbauen" will, die alte oder eine<br />

neue. Hier der erste Punkt:<br />

„Die Konferenz erörterte die Frage nach den Formen und Methoden des<br />

Parteiaufbaus und kam zu folgendem Schluß:<br />

1. Die Umwandlung der Sozialdemokratie in eine sich selbst verwaltende<br />

Organisation des sozialdemokratischen Proletariats kann nur insofern erfolgen,<br />

als die sozialdemokratische Organisation im Prozeß der Einbeziehung der<br />

Arbeitennassen in das offene gesellschaftlich-politische Leben in all seinen<br />

Erscheinungsformen entsteht."<br />

Das erste Wort der Resolution über den Aufbau der Partei ist also die<br />

kategorische Anerkennung der Notwendigkeit einer 'Umwandlung der<br />

Sozialdemokratie. Das ist zumindest sonderbar. Natürlich hat jedes Mit-


382 -W. 7. £enin<br />

glied der Partei das Recht, ihre „Umwandlung" anzustreben, es ist doch<br />

aber offenkundig schon vier Jahre lang die <strong>Red</strong>e von der Anerkennung<br />

oder Nichtanerkennung der alten Partei! Wer wüßte das nicht?<br />

Die Resolution der Partei (vom Dezember 1908) spricht eindeutig<br />

genug die Verurteilung der Liquidatoren aus, die die alte Partei durch<br />

eine neue „ersetzen" wollen. Plechanow fragt im April 1912 die<br />

Verteidiger der „Initiativgruppen", die eine Liquidatorenkonferenz einberufen<br />

wollten (und auch einberufen haben), Plechanow fragt sie geradeheraus:<br />

„Existiert unsere alte Partei oder nicht?" („Dnewnik Sozialdemokrata"<br />

Nr. 16, April 1912, S. 8.)<br />

Dieser Frage kann man nicht ausweichen. Der vier Jahre währende<br />

Kampf hat sie gestellt. In ihr liegt die ganze Zuspitzung der sog. Partei-<br />

„krise" beschlossen.<br />

Antwortet man uns auf eine solche Frage: „Die Umwandlung der<br />

Sozialdemokratie... kann nur insofern erfolgen...", so sehen wir sofort,<br />

daß das keine Antwort, sondern eine leere Ausflucht ist.<br />

Von einer Umwandlung der Partei können die Mitglieder der alten<br />

Partei reden. Wenn ihr, meine Herren, der Frage, ob es die alte Partei<br />

gibt, ausweicht und schlankweg (mit Beteiligung der nidit zur Partei gehörigen<br />

„Initiativgruppen") ihre „Umwandlung" dekretiert, so bestätigt<br />

ihr dadurch nur vollends, daß ihr auf dem Standpunkt des Liquidatorentums<br />

steht! Noch offenkundiger wird dieser Umstand, wenn die Resolution<br />

- nach völlig inhaltslosen, deklamatorischen Phrasen über eine „sich<br />

selbst verwaltende Organisation des sozialdemokratischen Proletariats" -<br />

darauf hinausläuft, daß die „Umwandlung" „nur insofern erfolgen kann,<br />

als die sozialdemokratische Organisation" (wir halten uns nicht mehr bei<br />

der lächerlichen, aufgebauschten und dummen Phraseologie auf) „im Prozeß<br />

der Einbeziehung der Arbeitermassen in das offene gesellsdiajtlidbpolitische<br />

Leben entsteht"!!<br />

Was heißt das? Nennen die Verfasser dieser erstaunlichen Resolution<br />

einen Streik und eine Demonstration „Einbeziehung der Massen in das<br />

offene" usw. Leben? Nach den Gesetzen der Logik, ja! In diesem Falle<br />

ist die Resolution völliger Unsinn, denn jedermann weiß sehr wohl, daß<br />

die „Organisation" auch ohne Streiks und Demonstrationen „entsteht".<br />

Eine Organisation, meine neunmalweisen Herren, existiert ständig, während<br />

die Massen nur von Zeit zu Zeit offen auftreten.


Illegale Partei und legale Arbeit 383<br />

Die Herren Liquidatoren verstehen unter „offenem gesellschaftlich-politischem<br />

Leben" (was wählen doch diese Leute für einen offiziös-liberalen<br />

Stil - wie in den „Russkije Wedomosti" vor 30 Jahren!) die legalen Formen<br />

der Arbeiterbewegung, keineswegs aber Streiks, Demonstrationen<br />

u. dgl. m. Vortrefflich. Auch in diesem Fall ist die Resolution Unsinn, denn<br />

unsere Organisation „entsteht" und ist entstanden keineswegs „nur" im<br />

Prozeß der Einbeziehung der Massen in die legale Bewegung. Wir haben<br />

eine Organisation an vielen Orten, wo keinerlei Formen legaler Bewegung<br />

geduldet werden.<br />

Der Hauptpunkt der Resolution (die Organisation entstehe „nur insofern<br />

...") taugt also überhaupt nichts. Das ist ein völliges Durcheinander.<br />

Aber in diesem Durcheinander ist deutlich der liquidatorische Inhalt<br />

zu erkennen. Die Umwandlung sei nur im Prozeß der Einbeziehung der<br />

Massen in die legale Bewegung möglich - darauf läuft in Wirklichkeit das<br />

Kauderwelsch des 1. Punktes hinaus. Und das eben ist reinstes Liquidatorentum.<br />

Die Partei sagt seit vier Jahren: Unsere Organisation besteht aus illegalen<br />

Zellen, die von einem möglichst weitverzweigten Netz legaler Vereinigungen<br />

umgeben sind.<br />

Die Liquidatoren leugnen seit vier Jahren, daß sie Liquidatoren sind,<br />

und wiederholen seit vier Jahren: Die Umwandlung ist nur möglid) im<br />

Prozeß der Einbeziehung der Massen in die legale Bewegung. Die Frage,<br />

woraus unsere Partei besteht, wie diese alte Partei beschaffen ist, umgeht<br />

man, und zwar gerade so, wie es den Legalisten paßt. Das ganze Gerede<br />

steht unter dem Motto: Und wenn man nicht mehr weiter kann, dann<br />

fängt man wieder von vorne an. Plechanow fragt im April 1912: Existiert<br />

unsere alte Partei oder nicht? Die Liqtridatorenkonferenz antwortet: „Die<br />

Umwandlung ist nur insofern möglich, als die Massen in die legale Bewegung<br />

einbezogen werden!"<br />

Das ist die Antwort von Legalisten, die sich von der Partei abgespalten<br />

haben, die gestern stark waren und die Partei reizten, heute aber (nach<br />

erlittener Niederlage) schüchtern geworden sind und sich durch schöne<br />

<strong>Red</strong>en verteidigen.


384 IV. 1. <strong>Lenin</strong><br />

Punkt 2 der Resolution besagt:<br />

II<br />

„2. Angesichts der Veränderung der gesellschaftlich-politischen Verhältnisse<br />

im Vergleich zur vorrevolutionären Epoche müssen sich die bestehenden und die<br />

neu entstehenden illegalen Parteiorganisationen den neuen Formen und Methoden<br />

der legalen Arbeiterbewegung anpassen."<br />

Wiederum eine herrliche Logik. Ans einer Veränderung der gesellschaftlichen<br />

Verhältnisse folgt nur eine Veränderung der Organisationsform,<br />

aber die Richtung dieser Veränderung wird in der Resolution durch<br />

nichts begründet.<br />

Wozu beruft sich die Resolution auf die „Veränderung der gesellschaftlich-politischen<br />

Verhältnisse"? Offenbar, um ihren praktischen Schluß zu<br />

beweisen, zu begründen, zu ziehen: die illegale Organisation müsse sich<br />

der legalen Bewegung anpassen. Aber aus der Prämisse folgt keineswegs<br />

ein solcher Schluß. „Angesichts der Veränderung der Verhältnisse" muß<br />

sich das Legale dem Illegalen anpassen — ein solcher Schluß wäre ebenso<br />

berechtigt!<br />

Woher dieses Durcheinander bei den Liquidatoren?<br />

Daher, daß sie Angst haben, die Wahrheit zu sagen, und sich die größte<br />

Mühe geben, zwischen zwei Stühlen zu sitzen.<br />

Die Wahrheit ist die, daß die Liquidatoren auf dem Standpunkt der<br />

licjuidatorisdben (von LewizH, Latin, Jeshow und anderen gegebenen)<br />

Einschätzung der „gegenwärtigen Lage" stehen, denn die Erklärung, wie<br />

sich „die gesellschaftlich-politischen Verhältnisse verändert" haben, ist<br />

eben eine Einschätzung der Lage.<br />

Sie fürchten sich jedoch, diese Einschätzung unumwunden darzulegen.<br />

Ihre Konferenz wagte es nicht einmal, diese Frage auf zuwerfen. Stillschweigend<br />

und insgeheim schmuggelt sie die Auffassung durch, daß<br />

(irgendwelche) Veränderungen vor sich gegangen seien, die eine „Anpassung"<br />

des Illegalen an das Legale erfordern.<br />

Das ist eine Auffassung, die sich durch nichts von der der Kadetten<br />

unterscheidet, wie die sozialdemokratische Parteipresse bereits wiederholt<br />

nachgewiesen hat. Die Kadetten erkennen durchaus an, daß ihre Partei<br />

„insgesamt gezwungen ist, illegal zu bleiben" (siehe Punkt 3 der Resolution<br />

der Liquidatoren), und daß, angesichts der veränderten Verhältnisse,<br />

die illegale Partei sich der legalen Bewegung anpassen müsse. Für


Illegale Partei und legale Arbeit 385<br />

die Kadetten genügt das. Für sie ist das Verbot ihrer Partei, ihr Übergang<br />

in die Illegalität ein Zufall, eine „Abnormität", ein Überbleibsel, und die<br />

Hauptsache, das Wesentliche, Grundlegende - ihre legale Arbeit. Diese<br />

ihre Auffassung ergibt sich logisdh aus der „Einschätzung der Lage", wie<br />

sie Herr Gredeskul mit den Worten zum Ausdruck brachte: vonnöten sei<br />

keine neue Revolution, sondern lediglich eine „konstitutionelle Arbeit".<br />

Die Illegalität der Kadettenpartei ist ein Zufall, ist eine Ausnahme in<br />

dem Gesamtsystem der „konstitutionellen Arbeit". Hieraus folgt logischerweise,<br />

daß sich die illegale Organisation „der legalen Bewegung anpassen"<br />

muß. So eben steht es um die Kadetten.<br />

Die sozialdemokratische Partei aber hat einen anderen Standpunkt. Die<br />

grundlegende Schlußfolgerung aus unserer, aus der von der Partei gegebenen<br />

Einschätzung der Lage besteht darin, daß die Revolution nötig ist<br />

und kommen wird. Verändert haben sich die formen der zur Revolution<br />

hinführenden Entwicklung, geblieben sind die alten Aufgaben der Revolution.<br />

Daher die Schlußfolgerung: Die Organisationsformen müssen sich<br />

ändern, die Formen der „Zellen" müssen elastisch sein, ihre Erweiterung<br />

wird häufig dadurch erfolgen, daß nicht die Zellen selbst erweitert werden,<br />

sondern ihre legale „Peripherie" usw. Alles das ist in den Resolutionen<br />

der Partei viele Male gesagt worden.<br />

Aber diese Veränderung der 7ormen der illegalen Organisation deckt<br />

sich keineswegs mit der Formel: „Anpassung" an die legale Bewegung. Das<br />

ist etwas ganz anderes! Die legalen Organisationen sind Stützpunkte für<br />

die Verbreitung der Ideen der illegalen Zellen unter den Massen. Wir verändern<br />

also die Form der Beeinflussung, um der bisherigen Beeinflussung<br />

eine illegale Richtung zu geben.<br />

Der Jortn der Organisationen nach erfolgt eine „Anpassung" des Illegalen<br />

an das Legale. Dem Inhalt der Arbeit unserer Partei nach erfolgt<br />

eine „Anpassung" der legalen Tätigkeit an die illegalen Ideen. (Daher<br />

rührt, in Parenthese gesagt, der ganze Krieg des „revolutionären<br />

Menschewismus" gegen die Liquidatoren.)<br />

Man bedenke, wie tiefsinnig unsere Liquidatoren sind, wenn sie die<br />

erste Prämisse (über die Form der Arbeit) annehmen, die zweite aber (über<br />

den Inhalt der Arbeit) vergessen!! Und sie betitelten ihre kadettische Weisheit<br />

als Betrachtung über die Organisationsformen des Parteiaw/fojus, so<br />

daß eine solche Betrachtung herauskam:


386 "W. 7. <strong>Lenin</strong><br />

„Man muß die Partei aufbauen, indem man sich die Aufgabe stellt, (sie)<br />

durch die Einbeziehung der Massen in die legale Bewegung umzuwandeln und<br />

die illegale Organisation dieser Bewegung anzupassen."<br />

Es fragt sich, sieht das der Antwort der Partei ähnlich? - (die Partei<br />

aufbauen heißt die illegalen Zellen festigen und vermehren und mit einem<br />

Netz legaler Stützpunkte umgeben).<br />

- Oder gleicht das nicht, als Wiederholung der Gedanken der Kadetten<br />

und der Volkssozialisten, der Legalisierung eines Hintertürchens für die<br />

Liquidatoren? - Der Volkssozialist Herr Peschechonow vertrat im August<br />

1906, als er die „legale Partei" begründen wollte, eben diese Gedanken;<br />

siehe „Russkoje Bogatstwo" 1906, Nr. 8, und den Artikel „Sozialrevolutionäre<br />

Menschewiki"* im „Proletari" Nr. 4.<br />

III<br />

Punkt 3 der Resolution lautet:<br />

„3. Die sozialdemokratische Partei muß schon heute, wo ihre Organisation<br />

insgesamt gezwungen ist, illegal zu bleiben, danach streben, einzelne Bereiche<br />

ihrer Parteiarbeit offen zu betreiben und dafür die entsprechenden Einrichtungen<br />

zu schaffen."<br />

Wir zeigten schon, daß dies ein völlig exaktes, vom ersten bis zum<br />

letzten Wort richtiges Konterfei der Xadettenpartei ist. Das Wort „sozialdemokratische"<br />

aber ist hier fehl am Platze.<br />

Die Partei der Kadetten ist tatsächlich „insgesamt" „gezwungen", illegal<br />

zu bleiben - ihr Streben richtet sich tatsächlich „schon" heute (wo wir,<br />

Gott sei Dank, eine Verfassung haben ...) darauf, einen Teil ihrer Parteiarbeit<br />

offen zu betreiben.<br />

Die stillschweigende Prämisse, die in jeder Zeile dieser liquidatorischen<br />

Resolution steckt, besteht gerade in der Anerkennung der „konstitutionellen<br />

Arbeit" als ausschließliche, zumindest als wichtigste, beständige,<br />

grundlegende Arbeit.<br />

Das ist grundfalsch. Das sind eben die Ansichten der liberalen Arbeiterpolitik.<br />

Die sozialdemokratische Partei ist illegal sowohl „insgesamt" als auch in<br />

jeder Zelle und - was das Wesentlichste ist - im ganzen Inhalt ihrer Arbeit,<br />

* Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 11, S. <strong>18</strong>4-194. Die <strong>Red</strong>.


Illegale Partei und legale Arbeit . 387<br />

die die Revolution propagiert und vorbereitet. Deshalb kann eine noch so<br />

offene Arbeit einer noch so offenen Zelle der sozialdemokratischen Partei<br />

nicht als „offen betriebene Parteiarbeit" bezeichnet werden.<br />

In den Jahren 1907-1912 zum Beispiel war die am weitesten „offene"<br />

Zelle der SDAPR die sozialdemokratische Dumafraktion. Sie konnte am<br />

„offensten" sprechen. Sie allein war legal und konnte legal über sehr vieles<br />

sprechen.<br />

Aber nicht über alles! Und zwar nicht nur schlechthin „nicht über alles",<br />

sondern sogar im besonderen in bezug auf die eigene Partei, die eigene<br />

Parteiarbeit „nicht über alles" und nicht über das Wichtigste. Deshalb<br />

können wir nicht einmal in bezug auf die sozialdemokratische<br />

Dumafraktion den Punkt 3 der liquidatorischen Resolution annehmen,<br />

ganz zu schweigen von den übrigen „einzelnen Bereichen" der Partei.<br />

Die Liquidatoren sind Anhänger einer „offenen", einer legalen Partei.<br />

Sie haben jetzt Angst (Angst flößten ihnen die Arbeiter ein, Angst zu<br />

haben rät ihnen Trotzki), das direkt zu sagen. Sie sagen jetzt dasselbe, nur<br />

sind sie bemüht, das ein wenig zu bemänteln. Sie schweigen von der<br />

Legalisierung der Partei. Sie propagieren die ratenweise Legalisierung<br />

der Partei!<br />

Die „Initiativgruppen" der abgespaltenen Legalisten sind parteiwidrig,<br />

sagte der neutrale Plechanow den Liquidatoren im April 1912. - Die<br />

„Initiativgruppen" der abgespaltenen Legalisten - das heißt eben, die<br />

„Parteiarbeit" in einzelnen Bereichen offen betreiben, antwortet die Liquidatorenkonferenz;<br />

das ist eben jene „legale Bewegung", der sich die illegale<br />

Partei „anpassen" muß; das ist eben jenes „offene Leben", in das<br />

„einbezogen" zu werden Kriterium und Unterpfand für die notwendige<br />

„Umwandlung" der Partei ist.<br />

Welche Tröpfe müssen die Liquidatoren gefunden haben, wenn ihre<br />

Erzählungen stimmen, daß diese Ansichten von den von Trotzki mitgebrachten<br />

„Antiliquidatoren" gebilligt worden seien!<br />

IV<br />

Der letzte Punkt der Resolution lautet:<br />

„4. Da die sozialdemokratische Organisation infolge ihrer Illegalität nicht<br />

die Möglichkeit hat, die breiten Kreise der Arbeiter, auf die sich ihr Einfluß


388 IV. 7. <strong>Lenin</strong><br />

erstredet, organisatorisch zu erfassen, muß sie sich mit den politisch aktiven<br />

Schichten des Proletariats und durch diese auch mit den Massen verbinden,<br />

indem sie verschiedenartige in mehr oder minder feste Formen gebrachte legale<br />

bzw. illegale politische Organisationen und verschiedenartige legale Tarnorgane<br />

(Wahlkomitees, politische Vereinigungen, gegründet auf der Basis des<br />

Gesetzes vom 4. März, kommunale Gesellschaften, Vereinigungen zum Kampf<br />

gegen die Teuerung u. dgl. m.) bildet und zugleich ihre Aktionen mit den unpolitischen<br />

Arbeiterorganisationen koordiniert."<br />

Auch hier verbergen 'unangreifbare Betrachtungen über legale Tarnorgane<br />

nicht nur Strittiges, sondern auch direkt Liquidatorisches.<br />

Die Bildung legaler politischer Organisationen - das eben ist es, was<br />

Lewizki und N. R-kow predigten, das eben ist die ratenweise Legalisierung<br />

der Partei.<br />

Wir sagen den Liquidatoren schon über ein Jahr lang: Genug der<br />

Worte, gründet doch eure „legalen politischen Vereinigungen" wie die<br />

„Vereinigung zur Verteidigung der Interessen der Arbeiterklasse" u. dgl. m.<br />

Genug der Phrasen, macht euch an die Arbeit!<br />

Aber sie können sich nicht an die Arbeit machen, denn im heutigen<br />

Rußland kann man keine liberale Utopie verwirklichen. Sie können auf<br />

diese versteckte Weise nur ihre „Initiativgruppen" verteidigen, die mit<br />

nützlichen Gesprächen und wechselseitigen Ermunterungen, Vorschlägen<br />

und Betrachtungen über „legale politische Organisationen" beschäftigt sind.<br />

Sie verteidigen ihre „Initiativgruppen", indem sie in der Resolution<br />

offiziell erklären, die illegalen Organisationen müßten „sich mit den f>olttisdb<br />

aktiven Schichten des Proletariats und durch diese auch mit den Massen<br />

verbinden"!!! Die „politisch aktiven" stehen also gerade außerhalb<br />

der Zellen! - ist das nicht eine bloße Wiederholung der bekannten Phrasen<br />

und Deklamationen, daß aus der „abgestorbenen Partei" alles Aktive in<br />

die „Initiativgruppen" geflüchtet sei?<br />

Das, was die „Nascha Sarja" und das „Delo Shisni" [Sache des Lebens]<br />

direkt sagten, wenn sie die illegale Partei beschimpften, das sagen Trotzki<br />

und die aus der Partei ausgeschlossenen Liquidatoren „konzilianter":<br />

gerade außerhalb der engen illegalen Partei stehe das angeblich am meisten<br />

„ Aktive", mit ihm eben müsse man „sich verbinden". Wir, die abgespaltenen<br />

Liquidatoren, sind das aktive Element; durch uns muß sich die „Partei"<br />

mit den Massen verbinden.


Wegeile Partei und legale Arbeit 389<br />

Die Partei sagte es mit aller Klarheit: Bei der Leitung des wirtschaftlichen<br />

Kampfes bedarf es der Zusammenarbeit der sozialdemokratischen<br />

Parteizellen mit den Gewerkschaften, mit den sozialdemokratischen Zellen<br />

in ihnen, mit den einzelnen Funktionären der Gewerkschaftsbewegung.<br />

Oder: In der Wahlkampagne zu den Dumawahlen müssen die Gewerkschaften<br />

mit der Partei zusammengehen. Das ist klar, exakt und verständlich.<br />

Statt dessen predigen die Liquidatoren eine nebelhafte „Koordinierung"<br />

der Arbeit der Partei schlechthin mit „unpolitischen", d. h.<br />

parteilosen Verbänden.<br />

P. B. Axelrod gab Trotzki die Ideen des Liquidatorentums. Trotzki riet<br />

Axelrod, nach dessen bitteren Mißerfolgen in der „Nasdia Sarja", diese<br />

Ideen durch Phrasen, die sie verwirren, zu tarnen.<br />

Diese Gesellschaft wird niemanden täuschen. Die Liquidatorenkonferenz<br />

wird die Arbeiter lehren, den Sinn ausweichender Phrasen besser zu<br />

erkennen. Außer dieser bitteren, wenig interessanten, aber in der bürgerlichen<br />

Gesellschaft nicht unnützen „Lehre" wird diese Konferenz den<br />

Arbeitern nichts bringen.<br />

Die Ideen der liberalen Arbeiterpolitik haben wir in Lewizlds Hausanzng<br />

studiert, sie sind auch in dem eleganten und bunten Gewand<br />

Trotzkis unschwer zu erkennen.<br />

Die Ideen der Partei von der illegalen Organisation und ihrer legalen<br />

Arbeit treten gegenüber all diesen heuchlerischen Maskeraden immer eindringlicher<br />

hervor.<br />

„Sozialdemokrat" 'Nr. 28/29, TJadi dem Text des<br />

5. (<strong>18</strong>.) November 1912. .SoziaWDemokrat".


390<br />

DIE SOZIALE BEDEUTUNG<br />

DER SERBISCH-BULGARISCHEN SIEGE<br />

„Die Eroberung Mazedoniens durch Bulgarien und Serbien bedeutet für<br />

dieses Land die bürgerliche Revolution - sein 1789 oder <strong>18</strong>48" — diese<br />

Worte des österreichischen Marxisten Otto Bauer lassen sofort das eigentliche<br />

Wesen der jetzigen Ereignisse auf dem Balkan erkennen.<br />

Die Revolutionen von 1789 in Frankreich, von <strong>18</strong>48 in Deutschland<br />

und in anderen Ländern waren bürgerliche Revolutionen, weil die Befreiung<br />

der Länder vom Absolutismus und von den Privilegien der Feudalherren<br />

tatsächlich freie Bahn für die Entwicklung des Kapitals schuf. Aber<br />

selbstverständlich entsprachen diese Revolutionen ganz und gar den Interessen<br />

der Arbeiterklasse, und sogar die „parteilosen", nicht als Klasse<br />

organisierten Arbeiter waren 1789 und <strong>18</strong>48 Vorkämpfer der französischen<br />

und der deutschen Revolution.<br />

Wie alle Balkanländer ist Mazedonien ökonomisch sehr rückständig.<br />

Dort sind noch außerordentlich starke Überreste der Leibeigenschaft, der<br />

mittelalterlichen Abhängigkeit der Bauern von den feudalen Grundherren<br />

erhalten geblieben. Zu diesen Überresten gehört der bäuerliche Fronzins<br />

an den Grundherrn (in Geld- oder Naturalform), femer die Teilpacht<br />

(gewöhnlich führt der Bauer in Mazedonien bei Teilpacht ein Drittel der<br />

Ernte, d. h. weniger als in Rußland, an den Grundherrn ab) usw.<br />

Die Grundherren in Mazedonien (die sogenannten Späbi) sind Türken<br />

und Mohammedaner, die Bauern jedoch Slawen und Christen. Die Klassengegensätze<br />

werden deshalb noch durch religiöse und nationale Gegensätze<br />

verschärft.<br />

Somit bedeuten die Siege der Serben und Bulgaren, daß der Feudalismus<br />

in Mazedonien untergraben und eine mehr oder minder freie Klasse


Die soziale Bedeutung der serbisdb-bulgarisdben Siege 391<br />

bäuerlicher Grundbesitzer geschaffen wird; sie sichern die gesamte gesellschaftliche<br />

Entwicklung der Balkanländer, die durch Absolutismus und<br />

Feudalverhältnisse gehemmt war.<br />

Die bürgerlichen Zeitungen vom „Nowoje Wremja" bis zur „Retsch"<br />

reden von der nationalen Befreiung auf dem Balkan und lassen die ökonomische<br />

Befreiung im Hintergrund. In Wirklichkeit aber ist eben diese<br />

die Hauptsache.<br />

Eine völlige Befreiung von den Grundherren und vom Absolutismus<br />

würde unausbleiblich zur nationalen Befreiung und zum vollen Selbst-<br />

# bestimmungsrecht der Völker führen. Und umgekehrt, bleibt die Unterdrückung<br />

der Völker durch die Grundherren und die Balkanmonarchien<br />

bestehen, so bleibt unbedingt auch in diesem oder jenem Maße die nationale<br />

Unterdrückung bestehen.<br />

Würde sich die Befreiung Mazedoniens auf dem Wege der Revolution<br />

vollziehen, d. h. durch den Kampf sowohl der serbischen und bulgarischen<br />

als auch der türkisdben Bauern gegen die Grundherren aller Nationalitäten<br />

(und gegen die Grundherrenregierungen des Balkans), so würde die Befreiung<br />

die Balkanvölker sicherlich hundertmal weniger Menschenleben<br />

kosten als der jetzige Kiieg. Die Befreiung würde um einen unvergleichlich<br />

niedrigeren Preis erreicht werden und wäre unvergleichlich vollkommener.<br />

Es fragt sich, welche historischen Ursachen dazu geführt haben, daß<br />

diese Frage durch einen Krieg und nicht durch eine Revolution gelöst<br />

wird. Die wichtigste historische Ursache dafür, ist die Schwäche, die Zersplitterung,<br />

die Rückständigkeit, die Unwissenheit der Bauernmassen in<br />

allen Balkanländem sowie die geringe Zahl der Arbeiter, die die Lage<br />

richtig einschätzten und die Forderung nach einer föderativen Balkanrepublik<br />

(einer Bundesrepublik) erhoben.<br />

Das erklärt den wesentlichen Unterschied in der Haltung der europäischen<br />

Bourgeoisie und der europäischen Arbeiter zur Balkanfrage. Die<br />

Bourgeoisie, sogar die liberale Bourgeoisie vom Typ unserer Kadetten,<br />

erhebt ein Geschrei über die „nationale" Befreiung der „Slawen". Damit<br />

werden der Sinn und die historische Bedeutung der gegenwärtigen Ereignisse<br />

auf dem Balkan geradezu verfälscht, damit wird die wirkliche Befreiung<br />

der Balkanvölker erschwert. Damit wird die Aufrechterhaltung<br />

der Privilegien der Grundherren, der politischen Entrechtung und der<br />

nationalen Unterdrückung in dem einen oder anderen Maße gefördert.


392 "W. 1. <strong>Lenin</strong><br />

Umgekehrt tritt allein die Arbeiterdemokratie für eine -wirkliche und<br />

vollständige Befreiung der Balkanvölker ein. Allein die bis zu Ende geführte<br />

ökonomische und politische Befreiung der Bauern aller Balkanvölkerschaften<br />

vermag jede Möglichkeit einer wie immer gearteten nationalen<br />

Unterdrückung auszuschließen.<br />

„ Trawda" 3tfr. i 62, Nadb dem 7ext der „Trawda "<br />

7. November i9i2.<br />

lAntersdbrift: 7.


DAS ERNEUERTE CHINA<br />

393<br />

Das fortgeschrittene nnd zivilisierte Europa interessiert sich nicht für<br />

die Erneuerung Chinas. Vierhundert Millionen zurückgebliebener Asiaten<br />

haben sich die Freiheit errungen, sind zum politischen Leben erwacht. Der<br />

vierte Teil der Bevölkerung des Erdballs ist sozusagen vom schläfrigen<br />

Dasein zum Licht, zur Bewegung, zum Kampf übergegangen.<br />

Dem zivilisierten Europa liegt nichts daran. Bis jetzt hat sogar die französische<br />

Republik die Republik China noch nicht offiziell anerkannt! Hierüber<br />

wird demnächst eine Interpellation in der französischen Deputiertenkammer<br />

eingebracht werden.<br />

Wodurch nun erklärt sich diese Gleichgültigkeit Europas? Dadurch, daß<br />

überall im Westen die imperialistische Bourgeoisie herrscht, die zu drei<br />

Vierteln schon verfault ist, die bereit ist, jedem beliebigen Abenteurer<br />

ihre ganze „Zivilisation" gegen „strenge" Maßnahmen gegen die Arbeiter<br />

oder gegen fünf Prozent mehr Profit zu verkaufen. China interessiert diese<br />

Bourgeoisie nur als ein Beutestück, aus dem sich jetzt - nach der „zärtlichen<br />

Umarmung" der Mongolei durch Rußland - die Japaner, Engländer,<br />

Deutschen usw. wohl die besten Bissen herausreißen werden.<br />

Aber die Erneuerung Chinas geht dennoch voran. Gegenwärtig beginnen<br />

die Wahlen zum Parlament - dem ersten Parlament der ehemaligen<br />

Despotie. Das Unterhaus wird aus 600 Mitgliedern, der „Senat" aus 274<br />

bestehen.<br />

Das Wahlrecht ist nidbt allgemein und nicht direkt. Das Wahlrecht<br />

haben nur über 21 Jahre alte Personen, wenn sie mindestens 2 Jahre im<br />

Wahlbezirk ansässig sind, wenn sie direkte Steuern in Höhe von etwa<br />

2 Rubel zahlen oder Vermögen im Wert von etwa 500 Rubel besitzen.<br />

Gewählt werden zunächst Wahlmänner, die ihrerseits die Abgeordneten<br />

wählen.<br />

Schon ein solches Wahlrecht weist auf ein Bündnis der wohlhabenden<br />

Bauernschaft mit der Bourgeoisie hin, bei einem Fehlen oder bei völliger<br />

Ohnmacht des Proletariats.<br />

26 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>


394 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />

Auf denselben Umstand weist auch der Charakter der politischen Parteien<br />

Chinas hin. Es gibt drei Hauptparteien:<br />

1. Die „radikalsozialistische" - in der es in Wirklichkeit genau wie bei<br />

unseren „Volkssozialisten" (und bei neun Zehnteln der „Sozialrevolutionäre")<br />

absolut gar keinen Sozialismus gibt. Es ist das eine Partei der kleinbürgerlichen<br />

Demokratie. Ihre Hauptforderungen sind: politische Einheit<br />

Chinas, Entwicklung des Handels und der Industrie „im sozialen Sinne"<br />

(eine ebenso nebelhafte Phrase wie das „Prinzip der Arbeit" und die „Ausgleichung"<br />

bei unseren Volkstümlern und Sozialrevolutionären), Erhaltung<br />

des Friedens.<br />

2. Die zweite Partei sind die Liberalen. Sie sind im Bunde mit der<br />

„radikalsozialistischen" Partei und bilden mit ihr zusammen die „'Nationalpartei".<br />

Aller Wahrscheinlichkeit nach wird diese Partei die Mehrheit im<br />

ersten chinesischen Parlament haben. Der Führer dieser Partei ist der<br />

bekannte Dr. Sun Yat-sen. Jetzt ist er besonders beschäftigt mit der Ausarbeitung<br />

des Planes eines ausgedehnten Eisenbahnnetzes (den russischen<br />

Volkstümlern zur Kenntnis: Sun Yat-sen tut das deshalb, damit China<br />

dem Schicksal des Kapitalismus „entgehe"!).<br />

3. Die dritte Partei nennt sich „Bund der Republikaner" - ein Musterbeispiel<br />

dafür, wie trügerisch Aushängeschilder in der Politik sind! In<br />

Wirklichkeit ist das die konservative Partei, die sich hauptsächlich auf die<br />

Beamten, die Gutsbesitzer und die Bourgeois INordchinas, d. h. des rückständigsten<br />

Landesteils, stützt. Die „National"partei ist vorwiegend die<br />

Partei des mehr industriellen, fortgeschritteneren, entwickelteren Südens<br />

von China.<br />

Die Hauptstütze der „Nationalpartei" ist die breite Bauernmasse. Ihre<br />

Führer sind im Ausland erzogene Intellektuelle.<br />

Die chinesische Freiheit ist erobert worden durch das Bündnis der bäuerlichen<br />

Demokratie und der liberalen Bourgeoisie. Ob die Bauern, die nicht<br />

von einer Partei des Proletariats geführt werden, imstande sein werden,<br />

ihre demokratische Position gegen die Liberalen zu behaupten, die nur<br />

auf den geeigneten Moment warten, um nach rechts umzufallen - das wird<br />

die nahe Zukunft zeigen.<br />

„Vrawäa"?ir.i63, T^adb dem 7ext der „T>rawäa°.<br />

8. November i9i2.<br />

Vntersdbrift: 7.


ERGEBNIS UND BEDEUTUNG<br />

DER PRÄSIDENTSCHAFTSWAHLEN IN AMERIKA<br />

395<br />

Zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Nordamerika wurde der<br />

„Demokrat" Wilson gewählt. Er erhielt über 6 Millionen Stimmen, Roosevelt<br />

(neue „Nationale Progressive Partei") über vier Millionen, Taft („Republikanische<br />

Partei") über drei Millionen. Der Sozialist Eugene Debs erhielt<br />

800000 Stimmen.<br />

Die internationale Bedeutung der Wahlen in Amerika besteht nicht so<br />

sehr in der starken Zunahme der sozialistischen Stimmen; die Bedeutung<br />

der amerikanischen Wahlen besteht in der tiefen Krise der bürgerlidien<br />

Parteien, in der erstaunlichen Klarheit, mit der ihre Zersetzung zutage<br />

trat. Schließlich liegt die Bedeutung der Wahlen in dem ungewöhnlich<br />

klaren und deutlichen Hervortreten des bür^eriidben Rejormertums als<br />

eines Mittels zur Bekämpfung des Sozialismus.<br />

In allen bürgerlichen Ländern haben sich die auf dem Standpunkt des<br />

Kapitalismus stehenden, d. h. bürgerlichen Parteien vor sehr langer Zeit<br />

herausgebildet, und sie waren um so stabiler, je größer die politische Freiheit<br />

war.<br />

In Amerika herrscht die größte Freiheit. Die zwei bürgerlichen Parteien<br />

zeichneten sich hier ganze fünf Jahrzehnte lang - nach dem <strong>18</strong>60-<strong>18</strong>65<br />

wegen der Sklaverei geführten Bürgerkrieg-durch bemerkenswerte Festigkeit<br />

und Stärke aus. Die Partei der ehemaligen Sklavenhalter ist die sogenannte<br />

„Demokratische Partei". Die Partei der Kapitalisten, die für die<br />

Befreiung der Neger eingetreten war, entwickelte sich zur „Republikanischen<br />

Partei".<br />

Nach der Befreiung der Neger wurde der Unterschied zwischen den<br />

beiden Parteien immer geringer. Der Kampf dieser Parteien ging vor-


396 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />

nehmlidi um die Frage höherer oder niedrigerer Zölle. Für die Masse des<br />

Volkes hatte dieser Kampf keinerlei ernst zu nehmende Bedeutung. Das<br />

Volk wurde hintergangen und von seinen wesentlichsten Interessen durch<br />

effekthaschende und inhaltsleere Duelle zwischen den beiden bürgerlichen<br />

Parteien abgelenkt.<br />

Dieses sogenannte „Zweiparteiensystem", das in Amerika und England<br />

herrschte, war eines der wirksamsten Mittel, um das Entstehen einer<br />

selbständigen Arbeiterpartei, d.h. einer wirklich sozialistischen Partei,<br />

zu verhindern.<br />

Und nun hat in Amerika, dem Land des fortgeschrittensten Kapitalismus,<br />

das Zweiparteiensystem ein Fiasko erlitten! Was war die Ursache<br />

dieses Fiaskos?<br />

Die Stärke der Arbeiterbewegung, das Anwachsen des Sozialismus.<br />

Die alten bürgerlichen Parteien (die „Demokratische" und die „Republikanische")<br />

waren der Vergangenheit, der Zeit der Negerbefreiung, zugewandt.<br />

Die neue bürgerliche Partei, die „Nationale Progressive Partei",<br />

ist der Zukunft zugewandt. Ihr ganzes Programm dreht sich um die Frage<br />

des Seins oder Nichtseins des Kapitalismus, nämlich um den Arbeiterschutz<br />

und um die „Trusts", wie in Amerika die Kapitalistenverbände<br />

heißen.<br />

Die alten Parteien waren das Produkt einer Zeit, die die schnellste Entwicklung<br />

des Kapitalismus zur Aufgabe hatte. Der Kampf der Parteien<br />

lief darauf hinaus, wie man diese Entwicklung am besten beschleunigen<br />

und fördern konnte.<br />

Die neue Partei ist ein Produkt der Gegenwart, die die Frage der Existenz<br />

des Kapitalismus überhaupt aufwirft. In Amerika, dem freiesten<br />

und fortgeschrittensten Land, rückt diese Frage immer klarer, in immer<br />

größerem Ausmaß auf die Tagesordnung.<br />

Das ganze Programm, die ganze Agitation Roosevelts und der „Progressisten"<br />

geht darum, wie man den "Kapitalismus retten könne vermittels<br />

bürgerlicher Reformen.<br />

Das bürgerliche Reformertum, das sich im alten Europa als Geschwätz<br />

liberaler Professoren äußert - dieses bürgerliche Reformertum trat in der<br />

freien amerikanischen Republik mit einem Schlage als eine Vier-Millionen-<br />

Partei in Erscheinung. Das ist echt amerikanisch.<br />

Diese Partei sagt: Wir werden den Kapitalismus durch Reformen ret-


Ergebnis und Bedeutung der Präsidentsöhaftswahlen in Amerika 397<br />

ten. Wir werden die fortschrittlichsten Fabrikgesetze erlassen. Wir werden<br />

die staatliche Kontrolle über alle Trusts (in Amerika heißt das: über<br />

die gesamte Industrie!) einführen. Wir werden die staatliche Kontrolle<br />

über sie einführen, damit es kein Hend gebe, damit alle einen „anständigen"<br />

Lohn erhalten. Wir werden die „soziale und industrielle Gerechtigkeit"<br />

herstellen. Wir geloben und schwören bei allen Reformen ... wir<br />

wollen nur eine „Reform" nicht: die Enteignung der Kapitalisten!<br />

Der gesamte Nationalreichtum Amerikas beläuft sich jetzt auf 120<br />

Milliarden Dollar, d. h. etwa 240 Milliarden Rubel. Davon gehört ungefähr<br />

ein Drittel, etwa 80 Milliarden Rubel, zwei Trusts, Rockefeiler und<br />

Morgan, oder wird von ihnen kontrolliert! Nicht mehr als 40 000 Familien,<br />

die diese zwei Trusts bilden, sind die Herren von 80 Millionen Lohnsklaven.<br />

Angesichts dieser modernen Sklavenhalter sind alle „Reformen" naturgemäß<br />

bloßer Betrug. Roosevelt ist von den gerissenen Milliardären wissentlich<br />

gedungen, um diesen Betrug zu propagieren. Die „staatliche Kontrolle",<br />

die er verspricht, wird sich, wenn die Kapitalisten das Kapital<br />

behalten, in ein Mittel zur Bekämpfung und Abwürgung von Streiks verwandeln.<br />

Aber der amerikanische Proletarier ist bereits erwacht und steht auf<br />

seinem Posten. Mit frischer Ironie quittiert er Roosevelts Erfolge.- Sie<br />

haben mit ihren Reformversprechungen 4 Millionen Menschen mit sich<br />

fortgerissen, verehrter Scharlatan Roosevelt? Vortrefflich! Morgen werden<br />

diese vier Millionen erkennen, daß Ihre Versprechungen Betrug sind,<br />

folgen doch diese Millionen Ihnen nur deshalb, weil sie fühlen: auf die<br />

alte Weise zu leben ist unmöglich.<br />

„Prawda" !Nr. 164, Nadh dem 7ext der „Vrawda".<br />

9. November 19i2.<br />

Unterschrift-. W. 1.


398<br />

„BRENNENDE FRAGEN" UNSERER PARTEI<br />

Die Frage der „Liquidatoren"<br />

und die „nationale" Frage<br />

Im August 1912 berief der Hauptvorstand der SDPuL eine „Landeskonferenz"<br />

der Polnischen Sozialdemokratie ein. Bekanntlich ist dieser<br />

Hauptvorstand der Polnischen Sozialdemokratie gegenwärtig ein Vorstand<br />

ohne Partei. In Warschau, der Hauptstadt Polens, verurteilte die örtliche<br />

sozialdemokratische Organisation entschieden die desorganisierende Politik<br />

des Hauptvorstands, der als Antwort darauf zu gemeinen anonymen<br />

Anschuldigungen der Provokation griff, sich eine fiktive Warschauer Organisation<br />

schuf und schleunigst „seine", entsprechend zusammengeschobene,<br />

Landeskonferenz einberief.<br />

In der Folgezeit haben die Wahlen in der Warschauer Arbeiterkurie<br />

zur Reichsduma endgültig bewiesen, welch fiktive Größe die Anhänger<br />

des Hauptvorstands sind: von den 66 Bevollmächtigten waren 34 Sozialdemokraten,<br />

unter ihnen nur 3 (und die zweifelhafte) Anhänger des<br />

Hauptvorstands.<br />

Diese Vorbemerkung war nötig, damit der Leser die Resolution der<br />

Landeskonferenz der SDPuL, von der wir sprechen wollen, nur als Resolution<br />

des Jyszkasdben Hauptvorstands betrachtet, keineswegs aber als<br />

Beschluß der polnischen sozialdemokratischen Arbeiter.<br />

I<br />

Die Frage der Stellung der Polnischen Sozialdemokratie zur SDAPR<br />

ist außerordentlich wichtig und aktuell. Daher verdient der Beschluß der<br />

Tyszkaschen Konferenz zu dieser Frage, wie schwer es auch fallen mag,<br />

ihn ernst zu nehmen, ein aufmerksameres Studium.


.Brennende fragen" unserer "Partei 399<br />

Wenn es schwerfällt, die von Geschimpfe strotzende Tyszkasdie Resolution<br />

emst zu nehmen, so allein schon wegen ihrer Einstellung zu der<br />

grundlegenden Frage des Liquidatorentums.<br />

Es ist das die Grundfrage der SDAPR in den Jahren 1908-1912. Die<br />

Partei ist durch die Konterrevolution böse zerschlagen. Sie spannt alle<br />

Kräfte an, um ihre Organisation wiederherzustellen. Und während der<br />

ganzen vier Jahre der Konterrevolution führt die Partei einen ununterbrochenen<br />

Kampf gegen jene Grüppchen unter den Sozialdemokraten, die<br />

die Partei liquidieren wollen.<br />

Folgt hieraus nicht klar, daß sich zu TAnredot Mitglied der Partei nennt,<br />

wer die Frage des Liquidatorentums nicht eindeutig entschieden hat?<br />

Auch die Tyszkasche Konferenz räumt in ihrer Resolution über die<br />

Stellung zur SDAPR den meisten Platz dem Liquidatorenram ein. Wie<br />

die Konferenz zugibt, ist das Liquidatorentum „ein großes Hindernis für<br />

die Entwicklung der SDAPR und eine ernste Gefahr für ihre Existenz<br />

überhaupt".<br />

„Offenes und konsequentes Liquidatorentum und revolutionäre Sozialdemokratie<br />

schließen einander aus", heißt es in der Resolution.<br />

Wie man sieht, packen Tyszka und Co. das Problem kühn und mit sicherer<br />

Hand an - und weichen einer Antwort aus!<br />

Wer ist denn ein „offener und konsequenter" Liquidator? Und zu<br />

welcher praktischen Schlußfolgerung haben die Erfahrungen des vierjährigen<br />

Kampfes gegen das Liquidatorentum geführt?<br />

Diese natürlichen und notwendig auftauchenden Fragen beantwortete<br />

die Januarkonferenz der SDAPR von 1912 klar, exakt und überzeugend:<br />

Die Liquidatoren, das ist die Gruppe der Organe „Nascha Sarja" und<br />

„Shiwoje Delo". Diese Gruppe hat sich außerhalb der Partei gestellt.<br />

Man kann diese Antwort für richtig oder für falsch halten, aber man<br />

kann ihr nicht die Klarheit absprechen, man kann nicht einer klaren Bestimmung<br />

der eigenen Position ausweichen!<br />

Die Tyszkasche Konferenz sucht eben dem auszuweichen, sie dreht und<br />

wendet sich wie ein kleiner Dieb. Wenn es nicht stimmt, daß die Anhänger<br />

der „Nascha Sarja" offene und konsequente Liquidatoren sind, wie wir im<br />

Januar 1912 deutlich erklärt haben, warum haben dann Tyszka und Co.<br />

im August 1912 vor den polnischen sozialdemokratischen Arbeitern unseren<br />

Irrtum nicht aufgedeckt? Wenn es nicht stimmt, daß sich die „Nascha


400 W. 7. <strong>Lenin</strong><br />

Sarja" außerhalb der Partei gestellt hat, wenn ihr, meine Herrschaften<br />

Tyszka, Rosa Luxemburg, Warski, der Meinung seid, daß sie sido in der<br />

Partei befinde, warum habt ihr das dann nicht offen gesagt? Das war eure<br />

direkte Schuldigkeit gegenüber den polnischen sozialdemokratischen Arbeitern!<br />

Und mag man noch so viel über die „<strong>Lenin</strong>sche" Januarkonferenz von<br />

1912 schimpfen, fluchen, lärmen, es wird nicht gelingen, mit diesem Lärm<br />

irgend jemanden zu betrügen außer denen, die betrogen sein wollen. Denn<br />

nach der Januarkonferenz kann man kein bewußter und ehrlicher Sozialdemokrat<br />

sein, kann man nicht von der Lage der Dinge in der SDAPR<br />

sprechen, ohne klipp und klar die Frage zu beantworten, ob die „Nascha<br />

Sarja" liquidatorisch ist und wo diese Gruppe steht-innerhalb oder außerhalb<br />

der Partei.<br />

II<br />

Das maßlose, mannigfache, wortreiche Gekeif, mit dem die Tyszkasche<br />

Konferenz die „<strong>Lenin</strong>isten" überschüttet, läuft auf eins hinaus - auf die<br />

Beschuldigung der Spaltung.<br />

Die Januarkonferenz der SDAPR hat nur im Hinblick auf die Gruppe<br />

der „Nascha Sarja" erklärt, daß sie außerhalb der Partei steht. Das ist eine<br />

allbekannte Tatsache. Daraus könnten sogar Tyszka und seine Freunde<br />

den einfachen und offenkundigen Schluß ziehen, daß die Beschuldigung<br />

der Spaltung gleichbedeutend ist mit der Anerkennung der Parteizugehörigkeit<br />

der Gruppe der „Nascha Sarja".<br />

Selbst ein Kind würde die Zwangsläufigkeit dieser Schlußfolgerung<br />

begreifen. Und Tyszka und Co. sind längst den Kinderschuhen entwachsen<br />

Wer uns der Spaltung beschuldigt, muß wenigstens so viel elementaren<br />

Mut, elementare Ehrlichkeit besitzen, um offen zu erklären: „Die Gruppe<br />

der ^asdba Sarja' ist keine Liquidatorengruppe", „sie darf nidht außerhalb<br />

der Partei stehen, ihr Platz ist innerhalb der Partei", „sie ist eine<br />

legitime Schattierung in der Partei" usw.<br />

Das ist gerade der Kern der Sache, daß die Herrschaften vom Schlage<br />

Tyszkas, die uns der Spaltung beschuldigen, das heimlido, verschämt,<br />

durch die Blume sagen (denn das steckt natürlich in dem Geheul über die<br />

Spaltung), aus Angst, es offen auszusprechen!


.Brennende "fragen" unserer Partei 401<br />

Zu sagen tmd zu beweisen, daß die „Nascha Sarja" der Partei angehören<br />

müsse, ist nidht leidbt. Wer das sagt, der nimmt eine bestimmte Verantwortung<br />

anf sich, der entscheidet eine bestimmte prinzipielle Frage, der<br />

verteidigt direkt die Anführer des Liquidatorentums. Man kann (und<br />

muß) einen solchen Menschen für einen Anhänger der Liquidatoren halten,<br />

aber man muß zugeben, daß er Überzeugungen hat, man kann ihm nicht<br />

politische Ehrlichkeit absprechen, und sei es in der engen Frage der Parteizugehörigkeit<br />

oder Nichtparteizugehörigkeit einer bestimmten Liquidatorengruppe.<br />

Tritt aber eine ganze, mit Verlaub zu sagen, Organisation oder eine<br />

Summe von Organisationen eines ganzen Landes mit allen möglichen Ausflüchten,<br />

heimlich, verschämt und ohne alles auszusprechen für die Liquidatoren<br />

ein, wobei sie diejenigen, die die Liquidatoren aus der Partei ausgeschlossen<br />

haben, der Spaltung beschuldigt, es aber nicht wagt, direkt zu<br />

sagen: „diese Liquidatorengruppe muß der Partei angehören", so drängt<br />

sich unausbleiblich die Schlußfolgerung auf: Wir haben keine Organisation<br />

von Sozialdemokraten vor uns, die die und die Auffassungen teilen,<br />

sondern eine Qruppe von Intriganten, die aus der „Ausnutzung" des<br />

Kampfes der Liquidatoren gegen die Antiliqnidatoren politisches Kapital<br />

zu schlagen suchen.<br />

Und für den, der die innere Lage in der SDAPR seit 1907 kennt, ist<br />

es schon längst kein Geheimnis mehr, daß Tyszka und Co. ebenso wie die<br />

Bundisten Musterbeispiele solcher Intriganten, „Marxisten nach Gewicht",<br />

„Tuschinoer Überläufer" sind, wie man solche Leute unter den Sozialdemokraten<br />

nennt. Tyszka gründet, wie auch manche Bundisten, seine<br />

ganze „Position" in der Partei auf das Spiel zwischen den Liquidatoren<br />

und den Antiliquidatoren, auf Vermittlerschaft, auf die Ausnutzung der<br />

Vorteile aus der Lage des „Züngleins an der Waage", ohne das weder die<br />

Liquidatoren noch die Antiliqnidatoren die Mehrheit haben!<br />

Im Herbst 1911, als dieses alte und allen überdrüssig gewordene „Spiel"<br />

Tyszkas ihn durchfallen ließ, nannten ihn die Organe beider entgegengesetzter<br />

Strömungen - die Liquidatoren wie die Antiliquidatoren - offen in<br />

der Presse einen Intriganten.<br />

In der Tat, man stelle sich auf den Standpunkt des „Züngleins an der<br />

Waage", und sofort werden die unlogischen, kindlich naiven, lächerlich<br />

ohnmächtigen und hilflosen Resolutionen der Tyszkaschen Konferenz


402 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />

völlig begreiflich. So, genau so muß ein Intrigant sprechen: Ich verurteile<br />

das Liquidatorentum ... aber ich sage nicht direkt, wer ein offener und<br />

konsequenter Liquidator ist! Ich gebe zu, daß das Liquidatorentum eine<br />

Gefahr für die Existenz der Partei überhaupt darstellt..., aber ich sage<br />

nicht offen, ob eine solche Gruppe der Partei angehören soll oder nicht!<br />

Aus einer solchen „Position" kann ich immer, unter allen Umständen, für<br />

mich einen Vorteil ziehen, für midi „politisches Kapital" schlagen, da ohne<br />

mid) der Antiliquidator den Liquidator nicht besiegen wird, ohne mid> der<br />

Liquidator keinen gesicherten Platz in der Partei haben wird!!<br />

Die „Tyszkasche" Politik ist keine zufällige, keine individuelle Erscheinung.<br />

Bei einer Spaltung und überhaupt in einem erbitterten Kampf<br />

der Richtungen ist das Aufkommen solcher Gruppen, die ihre Existenz auf<br />

dem unaufhörlichen überlaufen von der einen Seite auf die andere, auf<br />

kleinliche Intrigen gründen, unvermeidlidb. Das ist ein unschöner, unangenehmer<br />

Zug im Leben unserer Partei, der durch die Bedingungen der<br />

revolutionären Arbeit in der Emigration besonders verschärft wird. Intrigantengruppen,<br />

Züge des Intrigantentums in der Politik mancher Gruppen,<br />

besonders solcher mit schwach entwickelten Beziehungen zu Rußland, sind<br />

eine Erscheinung, die man kennen muß, ran sich nicht täuschen zu lassen,<br />

um nicht Opfer verschiedener „Mißverständnisse" zu werden.<br />

III<br />

Die Losung der „Einheit" ist natürlich in breiten Schichten der Arbeiter<br />

„populär", die nicht wissen, mit wem man diese Einheit herstellen soll,<br />

welche Zugeständnisse an eine bestimmte Gruppe diese Einheit bedeutet,<br />

auf weldben Prinzipien die Politik der Einbeziehung der Liquidatoren in<br />

die Partei oder ihres Ausschlusses aus der Partei beruht.<br />

Nichts ist natürlich leichter, als dieses WdhtDerstehen des Wesens der<br />

Sache demagogisch auszunutzen, um ein Geheul über die „Spaltung" anzustimmen.<br />

Nichts ist leichter, als die Winkeldiplomatie dadurch zu tarnen,<br />

daß man die „Einheit" von Richtungen fordert, die sich unwiderruflich<br />

voneinander getrennt haben.<br />

Mag aber die Losung der „Einheit" bei wenig klassenbewußten Leuten<br />

noch so „populär" sein, mag es gegenwärtig für verschiedene Demagogen,<br />

Intriganten, Winkeldiplomaten noch so bequem sein, sich hinter dieser


„Brennende Tragen" unserer "Partei 403<br />

Losung zu verstecken, wir werden trotzdem nicht aufhören, von jedem bewußten<br />

Sozialdemokraten eine klare und eindeutige Antwort auf die von<br />

der Konferenz derSDAPR imjanuar 1912 entschiedene Frage zuverlangen.<br />

Die im August 1912 einberufene Liquidatorenkonferenz hat klar gezeigt,<br />

daß der Brennpunkt aller Streitigkeiten gerade die Frage des Liquidatorentums,<br />

die Frage der Parteilichkeit oder Nichtparteilichkeit (ja sogar<br />

Parteifeindlichkeit) der Liquidatorengruppen ist. Wer diesen Kern der<br />

Sache umgeht, der täuscht sich und andere.<br />

Aber das Geschwätz vom „Fraktionscharakter" der Januarkonferenz<br />

u. dgl. m. ist gerade eine solche Umgehung des Kerns der Sache. Nun gut,<br />

meine Herren, kann man den Schwätzern antworten: Nehmen wir an, die<br />

Januarkonferenz sei erzfraktionär, spalterisch, inkompetent u. dgl. m. gewesen.<br />

Aber mit diesen „furchtbaren Worten" wollt ihr euch doch nur<br />

vor eudh selbst herausreden. Ein Teil der Sozialdemokraten - ganz gleich<br />

welcher - erklärte im Januar, daß die Leute von der „Nascha Sarja" parteifeindliche,<br />

außerhalb der Partei stehende Liquidatoren sind. Diese Meinung<br />

wird in einer Resolution begründet, einer ausführlichen, gründlich<br />

motivierten Resolution, die auf vierjähriger Parteigeschichte basiert.<br />

Wer den Irrtum dieser, sagen wir, „Januar"-Sozialdemokraten aufrichtig<br />

erläutern und widerlegen will, der muß diese Resolution untersuchen<br />

und widerlegen, der muß sagen und beweisen, daß die „Nascha Sarja"<br />

der Partei zugehören müsse, daß ihre Ideen für die Partei nicht verderblich<br />

seien, daß man dieser Gruppe die und die Zugeständnisse machen<br />

müsse, daß man von ihr die und die Verpflichtungen fordern müsse, daß<br />

die Garantien für die Erfüllung dieser Verpflichtungen in dem und dem<br />

bestellen sollen, daß das Maß des Einflusses dieser Gruppe in der Partei<br />

so und so bestimmt werden soll.<br />

Die Frage so stellen heißt die Überzeugung der Januar-Sozialdemokraten<br />

aufrichtig und ehrlich widerlegen wollen, heißt den Arbeitern das erläutern,<br />

was man für falsch hält. Aber der springende Punkt ist ja eben,<br />

daß kein einziger derjenigen, die heute ein billiges Geschrei über die Spaltung<br />

erheben, auch nur einen Schritt zu einer solchen Fragestellung hin<br />

getan hat!!<br />

Und deshalb gehen wir verächtlich über die Demagogen und Intriganten<br />

hinweg und wiederholen ruhig: Unsere Resolution über den Ausschluß<br />

der Liquidatoren ist nicht widerlegt worden und nicht widerlegbar.


404 W. J. <strong>Lenin</strong><br />

Die neuen Tatsachen - wie der Austritt des liquidatorisdien „Lutsch" 89 ,<br />

der sich mit der trotzkistischen Phrasendrescherei verschwägert hat -<br />

verhundertfachen nur noch die Beweiskraft unserer Resolution. Die Tatsachen<br />

- die Maiaktion, der Zusammenschluß von Hunderten von Arbeitergruppen<br />

um die antiHquidatorische Zeitung, die Wahlen zur IV. Reichsduma<br />

in der Arbeiterkurie - beweisen endgültig die Richtigkeit unserer<br />

Einstellung gegen die Liquidatoren.<br />

Das Geheul über die „Spaltimg" wird diese Überzeugung nicht erschüttern,<br />

denn dieses Geheul ist eine feige, versteckte, heuchlerische Verteidigung<br />

der Liquidatoren.<br />

IV<br />

Die Januarkonferenz der SDAPR von 1912 warf noch eine weitere<br />

ernste prinzipielle Frage auf - die Frage nach dem Aufbau unserer Partei<br />

in nationaler Beziehung. Wegen Platzmangels werde ich diese Frage nur<br />

kurz streifen.<br />

Vollständige oder unvollständige Föderation, eine „Föderation schlimmsten<br />

Typs" oder völlige Einheit? So lautet die Fragestellung.<br />

Die Tyszkasche Konferenz beantwortet auch dieses Problem nur mit<br />

Gekeif und Geschrei: „Fälschungen", „Entstellung der Tatsachen" usw.<br />

Welch hohle Schreihälse - dieser Tyszka und sein Gefolge!<br />

Die völlige Isoliertheit der lettischen, pohlischen, jüdischen („Bund")<br />

Sozialdemokraten ist eine Tatsache. Jeder polnische Sozialdemokrat weiß,<br />

daß es in Polen etwas, was einer Einheit mit dem „Bund" gleichkäme,<br />

weder gab nod) gibt. Ebenso ist es auch bei den Russen im Hinblidc auf<br />

den „Bund" usw. Die „Nationalen" haben ihre besonderen Organisationen,<br />

ihre zentralen Instanzen, Kongresse usw. Die Russen haben das nicht,<br />

und ihr ZK kann die russischen Fragen nicht lösen ohne die Teilnahme der<br />

einander bekämpfenden und mit den russischen Angelegenheiten nicht vertrauten<br />

Bundisten, Polen und Letten.<br />

Das ist eine Tatsache. Kern Gekeif kann sie überschreien. Seit 1907<br />

sehen das alle in unserer Partei. Alle fühlen das Unaufrichtige daran.<br />

Unsere Konferenz taufte es deshalb auch Föderation schlimmsten 7yps"*.<br />

Auf diese Fragestellung müssen die ehrlichen und aufrichtigen Sozialdemokraten<br />

antworten, indem sie auf das Wesen der Sache eingehen.<br />

• Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 17, S. 455/456. D»eRei.


„Brennende Tragen" unserer "Partei 40i<br />

Die Richtigkeit dieser Fragestellung bestätigte aufs überzeugendste die<br />

Augustkonferenz, die, wie sogar Pledianow zugab, mit ihrer berüchtigten<br />

Resolution über die „national-kulturelle" Autonomie „den Sozialismus<br />

dem Nationalismus angepaßt" hat.<br />

Der „Bund" wie der Tyszkasdie Hauptvorstand schwören in gleicher<br />

Weise bei allen Heiligen, daß sie für die Einheit seien, aber in Warschau,<br />

Lodz usw. sind ihre Beziehungen durch die vollständige Spaltung bestimmt!!<br />

Der Zusammenhang der '„Liquidatorenfrage" mit der „nationalen<br />

Frage" ist nicht von uns erdacht, sondern vom Leben selbst aufgedeckt<br />

worden.<br />

Mögen alle ernsthaft überlegenden Sozialdemokraten zugleich auch die<br />

„nationale Frage" stellen und erörtern. Föderation oder Einheit? Föderation<br />

für die „Nationalitäten" mit besonderen Zentren ohne besonderes<br />

Zentrum für die Russen oder völlige Einheit? Nominelle Einheit mit faktischer<br />

Spaltung (oder Abspaltung) des „Bund" allerorts oder faktische<br />

Einheit von unten bis oben?<br />

Wer da meint, daß man diesen Fragen ausweichen könne, der irrt sich<br />

gewaltig. Wer auf die einfache Wiederherstellung der „Föderation<br />

schlimmsten Typs" aus der Zeit von 1907 bis 1911 rechnet, der täusdbt<br />

sicfe und andere. Diese Föderation kann man schon nidbt mehr wiederherstellen.<br />

Dieser Bastard wird nicht mehr auferstehen. Die Partei hat ihn für<br />

immer hinter sich gelassen.<br />

Wohin sie sich begeben hat? Zur „österreichischen" Föderation? 90<br />

Oder zur völligen Aufgabe der Föderation, zur faktischen Einheit? Wir<br />

sind für das zweite. Wir sind gegen die „Anpassung des Sozialismus an<br />

den Nationalismus".<br />

Mögen alle über diese Frage gründlich nachdenken und sie endgültig<br />

entscheiden.<br />

Qesdbrieben imTJovember 1912.<br />

Zuerst veröfientlidbt im August 1913 5Vdd> dem 7ext der Zeitschrift.<br />

in der Zeitsdirift .Pismo "Dyskusyjne' -4MS dem "Polnischen.<br />

CDiskussionsblatt)?lr. 1.<br />

lintersdirift: W. £.enin.


406<br />

ÜBER EINIGE REDEN<br />

DER ARBEITERDEPUTIERTEN 91<br />

Welche Hauptgedanken müßten der ersten <strong>Red</strong>e eines Arbeitersprechers<br />

in der Duma zugrunde gelegt werden?<br />

Natürlich werden die Arbeiter der ersten <strong>Red</strong>e mit besonderer Ungeduld<br />

und Aufmerksamkeit entgegensehen. Natürlich erwarten sie gerade<br />

von der ersten <strong>Red</strong>e das Hauptsächliche und Grundlegende, eine konzentrierte<br />

Darlegung der Auffassungen in den Fragen, die alle besonders bewegen<br />

und die in der Politik des Landes überhaupt und speziell in der<br />

Praxis der Arbeiterbewegung (der politischen wie der Ökonomisten)<br />

besonders in den Vordergrund rücken.<br />

Zu solchen Fragen zählen die folgenden:<br />

1. Die Kontinuität der Tätigkeit der sozialdemokratischen Fraktion der<br />

IV. Duma. Unter Kontinuität ist die Wahrung des unlösbaren Zusammenhangs<br />

mit der Tätigkeit der früheren sozialdemokratischen Fraktionen<br />

aller vorangegangenen Dumas zu verstehen, wobei insbesondere die sozialdemokratische<br />

Fraktion der zweiten Duma hervorzuheben ist, die den<br />

bekannten Angriffen der Konterrevolution ausgesetzt war.<br />

Die Kontinuität hervorzuheben ist wichtig, denn die Arbeiterdemokratie<br />

erblickt, zum Unterschied von den bürgerlichen Parteien, in ihrer Arbeit<br />

in der I., II., III. und IV. Duma etwas Einheitliches und ganzes und läßt<br />

sich durch keinerlei Wendungen der Ereignisse (und durch keinerlei Umwälzungen<br />

wie den Staatsstreich vom 3. Juni) von ihren Aufgaben, von<br />

der Verfolgung ihrer unabänderlichen Ziele ablenken.<br />

2. Die zweite für die erste <strong>Red</strong>e eines Arbeiterdeputierten notwendige<br />

These ist der Sozialismus. Hier geht es im Grunde genommen um zwei<br />

Themen. Das eine besagt, daß die Sozialdemokratie Rußlands eine


Erste Seite von W. I. <strong>Lenin</strong>s Manuskript<br />

„über einige <strong>Red</strong>en der Arbeiterdeputierten"<br />

November 1912<br />

"Verkleinert<br />

y—s*


Tiber einige Heden der Arbeiterdeputierten 409<br />

Abteilung der internationalen Armee des sozialistischen Proletariats ist.<br />

Wörtlich so sagte es auch Pokrowski in der III. Duma. (Siehe seine Erklärung<br />

in den stenografischen Berichten, S. 328 der offiziellen Ausgabe<br />

7. Sitzung, 16. November 1907.) Dieser Hinweis ist natürlich absolut<br />

notwendig.<br />

Es gibt aber noch einen anderen, in unseren Tagen höchst wichtigen<br />

Hinweis. Das ist der Hinweis auf die gegenwärtige Lage und die Aufgaben<br />

des Sozialismus in der ganzen Welt. Wodurch ist diese Lage gekennzeichnet?<br />

a) Durch die äußerste Verschärfung des Kampfes der Arbeiterklasse<br />

gegen die Bourgeoisie (steigende Lebenshaltungskosten -<br />

Massenstreiks - der Imperialismus der Großmächte, ihre scharfe Konkurrenz<br />

um die Märkte, ihre Kriegslüsternheit) und b) durch die näher' gerückte<br />

Verwirklichung des Sozialismus. Die Arbeiterklasse der ganzen<br />

Welt kämpft nicht um die Anerkennung ihrer Rechte auf eine sozialistische<br />

Partei, sondern um die !Macbtt für eine neue Gesellschaftsordnung.<br />

Es ist höchst wichtig, das von der Dumatribüne herab zu sagen, den<br />

Arbeitern Rußlands vom Beginn der großen Schlachten für den Sozialismus<br />

in Europa und Amerika, von der Nähe des Triumphes (des unausbleiblichen<br />

Triumphes) des Sozialismus in der zivilisierten Welt zu künden.<br />

3. Die dritte These - der Balkankrieg, die internationale Lage und die<br />

Außenpolitik Rußlands.<br />

Dieses, das aktuellste Thema kann keinesfalls übergangen werden. Es<br />

gliedert sich in folgende Fragen:<br />

a) Der Balkankrieg. Auch der russische Arbeiterdeputierte muß die<br />

Losung proklamieren: Föderative Balkanrepublik. Gegen die slawischtürkische<br />

Feindschaft. 7ür Freiheit und Gleichberechtigung aller Balkanvölker.<br />

b) Gegen die Einmischung anderer Mächte in den Balkankrieg. Es ist<br />

unbedingt erforderlich, sich der Friedensdemonstration auf dem Internationalen<br />

Sozialistenkongreß in Basel anzuschließen. 92 Krieg dem Kriege!<br />

Gegen jede Einmischung! Für den Frieden! Das sind die Losungen der<br />

Arbeiter.<br />

c) Gegen die Außenpolitik der russischen Regierung überhaupt - unter<br />

besonderer Erwähnung der Eroberungs„gelüste" (und der bereits begonnenen<br />

Eroberungen): Bosporus, Türkisch-Armenien, Persien, Mongolei.<br />

27 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>


410 IV. J. <strong>Lenin</strong><br />

d) Gegen den Nationalismus der Regierungskreise, unter Hinweis auf die<br />

unterdrückten Völkerschaften: Finnland, Polen, Ukraine, die Juden usw.<br />

Es ist äußerst wichtig, die Losung der politischen Selbstbestimmung aller<br />

Nationalitäten exakt zu formulieren, entgegen allen möglichen Gemeinplätzen<br />

(wie z. B. alkin „Gleichberechtigung").<br />

e) Gegen den liberalen Nationalismus, der nicht so plump ist, aber schädlich<br />

besonders wegen seiner Heuchelei, wegen des „raffinierteren" Volksbetrugs.<br />

Worin zeigt sich dieser liberale (progressistisch-kddettisdje) Nationalismus?<br />

In den chauvinistischen <strong>Red</strong>en über die Aufgaben der „Slawen"<br />

; in den <strong>Red</strong>en über die Aufgaben der „Großmacht" Rußland; in den<br />

<strong>Red</strong>en über die Allianz zwischen Rußland, England und Frankreich zur<br />

Ausplünderung anderer Länder.<br />

4. Die vierte These - die politische Lage Rußlands. Der Kern des<br />

Themas ist hier die Darstellung der Rechtlosigkeit und Willkür, die Klarstellung<br />

der unbedingten Notwendigkeit politischer Freiheit.<br />

Besonders hervorzuheben ist hier:<br />

(a) Die unbedingte Erwähnung der Zuchthäuser: Kutomara, Algatschi<br />

usw. 93<br />

(b) Der Hinweis auf die Verfälschung der Wahlen — die bonapartistischen<br />

Methoden, darauf, daß die Regierung sogar das Vertrauen derjenigen<br />

Klassen (der Gutsbesitzer und der Bourgeoisie) verloren hat, auf die<br />

der Umsturz vom 3. Juni gesetzt hatte.<br />

Die Geistlichen wurden gezwungen, wider ihr Gewissen abzustimmen.<br />

Die Duma rückte nadi rechts, das Land nach links.<br />

(c) Insbesondere ist es wichtig, die Wechselbeziehung zwischen der berüchtigten<br />

liquidatorischen Losung der „Koalitionsfreiheit" und den Aufgaben<br />

der politischen Freiheit überhaupt richtig herauszuarbeiten. Höchst<br />

wichtig ist der Hinweis, daß die Arbeiter die Presse-, Vereins-, Versammlungs-<br />

und Streikfreiheit unbedingt brauchen, aber gerade zu ihrer<br />

Verwirklichung muß man ihren unlösbaren Zusammenhang mit<br />

den allgemeinen Grundpfeilern der politischen Freiheit, mit der radikalen<br />

Änderung des ganzen politischen Systems begreifen. Nicht die liberale<br />

Utopie der Koalitionsfreiheit unter dem Regime des 3. Juni, sondern<br />

Kampf im Namen der Freiheit im allgemeinen und der Koalitionsfreiheit<br />

im besonderen gegen dieses Regime auf der ganzen Linie, gegen die<br />

Qrundlagen dieses Regimes.


"Über einige Heden der Arbeiterdeputierten 411<br />

5. Die fünfte These: die unerträgliche Lage der Bauernschaft. Die<br />

Hungersnot von 30 Millionen im Jahre 1911. Die Ruinierung und Verelendung<br />

des Dorfes. Die „Flurbereinigung" der Regierung versdjlimmert<br />

die Sache nur. Die finanzielle Wohlfahrt ist Talmi, vorgetäuschte Wohlfahrt,<br />

begründet auf der Erpressung von Abgaben, auf der Verdummung<br />

des Volkes. Sogar der bescheidene Agrarentwurf der rechten Bauern (der<br />

„43 Bauern") der III. Duma 94 ist zu den Akten gelegt worden. Die Bauern<br />

bedürfen der Befreiung vom Joch der Gutsbesitzer und des gutsherrlichen<br />

Grundeigentums.<br />

6. Die sechste These: die drei Lager bei den Wahlen zur IV. Duma und<br />

die drei Lager im Lande:<br />

(a) Das Lager der Regierung. Ist ohnmächtig. Verfälschung der Wahlen.<br />

(b) Das Lager des Liberalismus. Hier ist es höchst wichtig, wenn auch<br />

nur in zwei Worten den konterrevolutionären Charakter der Liberalen zu<br />

erwähnen: sie sind gegen eine neue Revolution. Man kann wörtlich die<br />

Worte Gredeskuls anführen, die in Nr. 85 der „Prawda" (vom 8. August)<br />

abgedruckt wurden*: „Vonnöten ist keine zweite Volksbewegung (nämlich<br />

die zweite Revolution), sondern lediglich eine ruhige, beharrliche und<br />

zielbewußte konstitutionelle Arbeit." Wörtlich so sagte es Gredeskul, und<br />

die „Retsch" druckte das ab.<br />

Die Hoffnungen der Liberalen auf konstitutionelle Reformen b e i<br />

Erhaltung der Qrundlagen des jetzigen Systems, ohne eine breite<br />

Volksbewegung sind utopisd). .<br />

(c) Das dritte Lager ist die Demokratie. An ihrer Spitze steht die<br />

Arbeiterklasse. In der dritten Person, von der Vergangenheit, kann man<br />

sagen, was sogar der „Golos Moskwy" erklärt hat, nämlich daß die<br />

Arbeiterklasse unter drei Losungen zu den Wahlen gegangen ist: (1.) Demokratische<br />

Republik; (2.) Achtstundentag; (3.) Konfiskation aller Gutsbesitzerländereien<br />

zugunsten der Bauern.<br />

7. Die siebente These: Hinweis auf die politische Bewegung und die<br />

Streiks von 1912.<br />

(a) Höchst wichtig ist zu vermerken, daß die Zahl der Teilnehmer an<br />

politischen Streiks eine Million erreicht hat. Belebung der gesamten Befreiungsbewegung.<br />

(b) Sehr wichtig ist es, darauf hinzuweisen, daß die Arbeiter sich mit<br />

• Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 243/244. Die "<strong>Red</strong>.


412 W. 3. <strong>Lenin</strong><br />

ihren politischen Streiks Ziele gesteckt haben, die für das ganze<br />

V o 1 k. lebenswichtig sind, daß sie nicht spezifische, sondern für das ganze<br />

Volk gültige Aufgaben gestellt haben.<br />

(c) Notwendig ist zu erwähnen, daß gerade die T^e rb in düng der<br />

politischen und der wirtschaftlichen Streiks der Bewegung Stärke und<br />

Lebenskraft verleiht.<br />

(d) Zu erwähnen ist der Protest der Arbeiter gegen die Hinrichtung<br />

der Matrosen.<br />

8. Die achte und wesentlichste These, eine These, die sich aus allem<br />

Vorhergehenden ergibt und eng damit verknüpft ist, ist die Hegemonie<br />

des Proletariats. Seine führende Rolle. Seine Rolle als Führer. Es steht an<br />

der Spitze des ganzen Volkes, der gesamten Demokratie. Es fordert die<br />

Freiheit und führt in den Kampf für die Freiheit. Es gibt das Beispiel, das<br />

Vorbild. Es spornt an. Es schafft eine neue Stimmung.<br />

9. Die neunte und letzte These: kurze Wiederholung und Zusammenfassung.<br />

In der dritten Person muß man von den klassenbewußten Arbeitern<br />

sagen, daß sie drei Prinzipien „unerschütterlich treu" sind: erstens<br />

dem Sozialismus; zweitens den „Prinzipien der alten, kampferprobten<br />

Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands" - die Arbeiter sind ihr<br />

treu, diese 7atsadbe muß man vermitteln; drittens sind die Arbeiter „ihren<br />

republikanischen Überzeugungen" treu. Es handelt sich nicht um einen<br />

Appell, nicht um. eine Losung, sondern um die Treue zu den Überzeugungen.<br />

(In einer Reihe monarchistischer Länder, in England, Schweden,<br />

Italien, Belgien u. a., existieren legale republikanische Parteien.)<br />

PS. Es kann sich noch die Frage erheben, ob es notwendig sei, die<br />

„Koalitionsfreiheit" besonders hervorzuheben. Man muß in Betracht ziehen,<br />

daß die Liquidatoren unter dieser Flagge die liberale Forderung einer<br />

konstitutionellen Reform bei Unantastbarkeit der Qrundlagen<br />

des Dritten-Juni -*<br />

Qesdbrieben im November 1912,<br />

naä>demli.(24.).<br />

Zuerst veröffentlicht 1930 Nad] dem Manuskript,<br />

in der 2.-3. Ausgabe der<br />

'<strong>Werke</strong> IV. 7. Unins, Bi. XVI.<br />

* Hier bricht das Manuskript ab. Die <strong>Red</strong>.


ZUR FRAGE DER ARBEITERDEPUTIERTEN<br />

INDER DUMA<br />

UND IHRER DEKLARATION 95<br />

413<br />

Von der Tribüne der IV. Reichsduma herab erklärt die sozialdemokratische<br />

Fraktion, daß ein unlösbarer kontinuierlicher Zusammenhang<br />

besteht zwischen ihrer Tätigkeit und der Tätigkeit der früheren sozialdemokratischen<br />

Fraktionen in den einzelnen Reichsdumas, insbesondere<br />

der sozialdemokratischen Fraktion in der II. Duma, gegen die von Seiten<br />

der Konterrevolution ein unerhörter politischer Racheakt vollführt wurde.<br />

Die Sozialdemokratie Rußlands ist eine Abteilung der großen internationalen<br />

Befreiungsarmee des sozialistischen Proletariats. In der ganzen Welt<br />

wächst diese Armee jetzt besonders schnell; die allgemein steigenden<br />

Lebenshaltungskosten, der Druck des in Verbänden, Kartellen, Trusts und<br />

Syndikaten vereinigten Kapitals und die imperialistische Politik der Großmächte<br />

machen die Lage der Arbeitermassen unerträglich, verschärfen den<br />

Kampf des Kapitals gegen die Arbeit; rasch naht die Zeit, da dem Kapitalismus<br />

ein Ende bereitet wird, da die Millionen der vereinigten Proletarier<br />

eine Gesellschaftsordnung errichten werden, in der es kein Elend der<br />

Massen, keine Ausbeutung des Mensehen durch den Menschen geben<br />

wird.<br />

Die sozialdemokratische Fraktion stimmt ein in die Forderung der<br />

Arbeiter aller Länder, die auf dem Internationalen Kongreß in Basel entschiedenen<br />

Protest gegen den Krieg erhoben haben. Die Arbeiter fordern<br />

den Frieden. Die Arbeiter protestieren gegen jede Einmischung in die<br />

Balkanangelegenheiten. Nur die völlige Freiheit und Selbständigkeit der<br />

Balkanvölker, nur die Föderative Balkanrepublik vermag den besten Ausweg<br />

aus der gegenwärtigen Krise zu weisen and die wirkliche Lösung der<br />

nationalen Frage durch die Anerkennung der völligen Gleichberechtigung


414 W.l <strong>Lenin</strong><br />

und des unbedingten Rechts auf politische Selbstbestimmung für ausnahmslos<br />

alle Nationalitäten herbeizuführen.<br />

Die sozialdemokratische Fraktion der IV. Reichsduma protestiert insbesondere<br />

gegen die Außenpolitik der russischen Regierung. Sie brandmarkt<br />

die Versuche, das Territorium unseres Staates durch die Eroberung<br />

fremder Gebiete am Bosporus, in Türkisch-Armenien, in Persien, in China<br />

zu erweitern, sie brandmarkt die Eroberung der Mongolei, durch die die<br />

guten Beziehungen zur großen chinesischen Bruderrepublik gestört werden.<br />

Jeder Chauvinismus und Nationalismus wird in der sozialdemokratischen<br />

Fraktion einen unerbittlichen Feind finden, sei es nun der plumpe,<br />

bestialische Nationalismus der Regierungskreise, der Finnland, Polen, die<br />

Ukraine, die Juden und alle Nationalitäten, die nicht zur großrussischen<br />

Nationalität gehören, unterdrückt und knechtet, oder sei es der heuchlerisch<br />

getarnte, raffiniertere Nationalismus der Liberalen und Kadetten,<br />

die gern von den Aufgaben der Großmacht Rußland und seiner Allianz<br />

mit den anderen Mächten zur Ausplünderung fremder Gebiete reden.<br />

Mit dem Lärm nationalistischer <strong>Red</strong>en versuchen die herrschenden Klassen<br />

vergeblich, die Aufmerksamkeit des Volkes von der unerträglichen<br />

inneren Lage Rußlands abzulenken. Die unerhörte Verfälschung der Wahlen<br />

zur IV. Duma, die an die bonapartistisdien Methoden des Abenteurers<br />

Napoleon III. erinnert, hat zum hundertsten und tausendsten Male gezeigt,<br />

daß sich die Regierung auf keine einzige Klasse der Bevölkerung<br />

stützen kann. Sie kann nicht einmal das Bündnis mit den Gutsbesitzern<br />

und der Großbourgeoisie aufrechterhalten, um dessentwillen der Staatsstreich<br />

vom 3. Juni 1907 vollzogen wurde. Die Duma rückte nach rechts,<br />

während das ganze Land nach links rückte.<br />

Ganz Rußland erstickt unter dem Joch der Rechtlosigkeit und der Willkür.<br />

Die ganze zivilisierte Welt erfährt bebend vor Empörung von den<br />

Folterungen und Quälereien an den politischen Häftlingen in Kutomara,<br />

Algatschi und den anderen Kerkern, wo die Besten unseres Landes gepeinigt<br />

werden. Rußland braucht die politische Freiheit wie der Mensch die<br />

Luft zum Atmen. Rußland kann nicht leben und sich entfalten ohne die<br />

Presse-, Versammlungs-, Vereins- und Streikfreiheit, und vor allem, am<br />

meisten, bedarf dieser Freiheiten das Proletariat, das in dem Kampf, den<br />

es für die Erhöhung des Arbeitslohns, für die Verkürzung des Arbeitstages,<br />

für ein besseres Leben führen muß, durch die Rechtlosigkeit des


Zur Jrage der Arbeiterdeputierten in der T)uma 415<br />

russischen Lebens an Händen und Füßen gefesselt ist. Das Joch des Kapitals,<br />

die steigenden Lebenshaltungskosten, die Arbeitslosigkeit in den<br />

Städten und die Verelendung des Dorfes erfordern insbesondere die Vereinigung<br />

der Arbeiter zu Verbänden und ihren Kampf um das Recht auf<br />

Leben, das Fehlen der politischen Freiheit aber zwingt den Arbeiter,<br />

Sklave oder Leibeigener zu bleiben. Die Arbeiter werden im Kampf für<br />

die Freiheit keine Opfer scheuen, denn sie wissen gut, daß nur eine radikale<br />

Änderung aller politischen Verhältnisse des russischen Lebens, nur<br />

die völlige Sicherung der Prinzipien und der Grundpfeiler der politischen<br />

Freiheit imstande ist, die Freiheit des Kampfes der Arbeiter gegen das<br />

Kapital zu garantieren.<br />

Die Wahlen zur IV. Duma und die politischen Massenstreiks der<br />

Arbeiter von 1912, an denen sich fast eine Million Arbeiter beteiligten,<br />

haben gezeigt, daß die Zeit naht, da die Arbeiter emeut an der Spitze der<br />

ganzen Demokratie in Aktion treten werden, um die Freiheit zu erkämpfen.<br />

Drei Lager haben im Wahlkampf ihre Kräfte gemessen. Das Lager<br />

der von der Regierung; geführten Konterrevolution erwies sich als so<br />

schwach, daß man selbst die nach dem Gesetz vom 3. Juni durchgeführten<br />

Wahlen verfälschen mußte, indem man die eingeschüchterten Landgeistlichen<br />

zwang, gegen ihr Gewissen, gegen ihre Überzeugung abzustimmen.<br />

Das Lager des Liberalismus ging immer mehr von der Demokratie zur<br />

Großbourgeoisie über. Die Kadetten bewiesen ihre konterrevolutionäre<br />

Haltung durch ihr Bündnis mit den Schwarzhundertern gegen die Sozialdemokraten<br />

in Riga und Jekaterinodar, in Kostroma und in der ersten<br />

Kurie von Petersburg. Die liberale Utopie konstitutioneller Reformen<br />

unter Beibehaltung der Grundlagen des jetzigen politischen Systems, ohne<br />

machtvolle Volksbewegung - diese Utopie verliert unter der Demokratie<br />

immer mehr an Boden. Die Liberalen verkünden die Losung: Vonnöten<br />

ist keine zweite Revolution, sondern lediglich eine konstitutionelle Arbeit.<br />

Und in der Erkenntnis, daß diese Losung eine Lüge ist, führte die Arbeiterklasse<br />

ihren Wahlkampf, wobei sie die Kräfte der ganzen Demokratie um<br />

sich vereinigte.<br />

Jedermann weiß, und sogar die Regierungspresse hat erklärt, daß die<br />

Arbeiterklasse mit drei Losungen in die Wahlkampagne ging: Demokratische<br />

Republik, Achtstundentag und Konfiskation aller Gutsbesitzerländereien<br />

zugunsten der Bauern.


416 TV. 3. <strong>Lenin</strong><br />

Diese drei Forderungen sind nach der Oberzeugung des sozialdemokratischen<br />

Proletariats der notwendige Abschluß solcher von jedem Demokraten<br />

geteilten Forderungen wie allgemeines Wahlrecht, Presse-, Versammlungs-,<br />

Vereins- und Streikfreiheit, Wählbarkeit der Richter und<br />

Beamten durch das Volk, Abschaffung des stehenden Heeres und Einfährung<br />

der Volksmiliz, Trennung von Kirche und Staat, von Schule und<br />

Kirche und so weiter.<br />

Die Lage der Bauernmassen in Rußland wird immer unerträglicher. Die<br />

sog. „Flurbereinigung" der Regierung verschlimmert nur die Lage der<br />

Mehrheit: sie ruiniert das Dorf und hat im vergangenen Jahr 30 Millionen<br />

Menschen eine Hungersnot gebracht, ohne irgendwelche dauerhafte Verbesserung<br />

in der Landwirtschaft im allgemeinen zu bewirken. Die vorgetäuschte<br />

finanzielle Wohlfahrt beruht auf der Erpressung von Abgaben<br />

und der Verdummung der Bevölkerung, während die Regierung ihren<br />

Bankrott durch die Ausschreibung immer neuer Anleihen hinausschiebt.<br />

Sogar der bescheidene Agrarentwurf der 43 rechten Bauern in der<br />

III. Duma ist zu den Akten gelegt worden. Kein Wunder, daß der beste<br />

Teil der Bauernschaft seine Blicke immer mehr auf die Arbeiterklasse als<br />

den einzigen Führer des Volkes im Kampf für die Freiheit richtet. Kein<br />

Wunder, daß die ganze Demokratie in den mit der ökonomischen Bewegung<br />

der Arbeiterklasse unlösbar verbundenen politischen Streiks von<br />

1912 die Morgenröte eines neuen Lebens, die Morgenröte einer neuen,<br />

mächtigeren Befreiungsbewegung erblickt.<br />

Die sozialdemokratische Fraktion der IV. Duma wird sich für die Interessen<br />

und Erfordernisse dieser Bewegung einsetzen. Sie hält sich nicht<br />

für berechtigt, vor der Mehrheit der IV. Duma zu verheimlichen, was alle<br />

klassenbewußten Arbeiter Rußlands denken und fühlen. Die klassenbewußten<br />

Arbeiter bleiben dem Sozialismus unerschütterlich treu. Sie<br />

bleiben unerschütterlich den Prinzipien der alten, kampferprobten Sozialdemokratischen<br />

Arbeiterpartei Rußlands treu. Sie bleiben im Namen dieser<br />

Prinzipien unerschütterlich ihren republikanischen Überzeugungen<br />

treu.<br />

Qesätrieben im November i9l2,<br />

iii'drt später ah am i3. (26.).<br />

Zum erstenmal veröftentlidit. "Nach einer von 91. X. Xrupskaja<br />

angefertigten Absöirijt.


ZU DEM EREIGNIS VOM 15. NOVEMBER<br />

(Eine nichtgehaltene <strong>Red</strong>e)<br />

417<br />

Am 15. November wurde die IV. Duma eröffnet. Am 15. November<br />

fand eine Demonstration der Petersburger Arbeiter statt. 96 In Verbindung<br />

mit den vorangegangenen politischen Streiks, auf dem Boden dieser Streiks,<br />

stellt diese Demonstration ein bedeutsames historisches Ereignis dar. Die<br />

Streiks sind in Demonstrationen übergegangen. Die Bewegung der Massen<br />

hat eine höhere Stufe erklommen: von den Streiks politischen Charakters<br />

zu Straßendemonstrationen. Das ist ein großer Schritt vorwärts, den alle<br />

klassenbewußten Führer des Proletariats gebührend hervorheben, vermerken<br />

und bewerten müssen.<br />

Dieser Schritt vorwärts erlangt eine um so größere Bedeutung, als er<br />

mit der Eröffnung der IV. Duma, der Duma der Gutsbesitzer und Schwarzhunderter,<br />

der Duma des 3. Juni, zusammenfiel. Ein ausgezeichnet gewählter<br />

Zeitpunkt für eine Demonstration! Ein vortrefflicher proletarischer<br />

Instinkt, der es verstanden hat, die Eröffnung des Schwarzhunderter -<br />

„parlaments" den roten Fahnen auf den Straßen der Hauptstadt gegenüberzustellen,<br />

mit ihnen zu konfrontieren!<br />

Ein vortrefflicher proletarischer Instinkt, der es verstanden hat, der<br />

liebedienerischen, sklavischen, kadettisch-oktobristischen „Demonstration"<br />

(anläßlich der erbärmlichen Phrasen Rodsjankos über die „Konstitution"<br />

97 ) im Palast eine Demonstration echten Typs, eine wirklich vom<br />

Volke getragene, wirklich demokratische, rein proletarische Demonstration<br />

gegenüberzustellen (die Intelligenz fehlte leider, wenn man den Zeitungen<br />

glauben darf).<br />

Das liebedienerische Geschwätz von der „Konstitution" (oder von Stör<br />

mit Meerrettich ä la Rodsjanko) in der Schwarzhunderterduma - und das<br />

Beispiel des beginnenden Kampfes für die Freiheit und die Volksvertretung


4<strong>18</strong> IV. 1. <strong>Lenin</strong><br />

(ohne Anführungszeichen), für die Republik außerhalb der Duma: in dieser<br />

Gegenüberstellung zeigt sich der tiefe, der richtige Instinkt der revolutionären<br />

Massen.<br />

Daß der „Lutsch" der Liberalen und Liquidatoren vor einer solchen<br />

Demonstration „gewarnt" hat, ist Verrätern an der Sache der Arbeiter<br />

würdig.<br />

Aber wie konnte die sozialdemokratische Fraktion „warnen"? Wie<br />

konnte sie auf das Niveau der Kadetten herabsinken? - auf das Niveau<br />

von Sklaven? Wie konnten sich da ihre einzelnen Mitglieder unterordnen?<br />

- sich auf eine solche Schande einlassen??<br />

Es erhebt sich die ab raid zu „privat" geäußerte Vermutung: gab es nicht<br />

Befürchtungen, es handle sich um eine Provokation in irgendeiner der<br />

„aufrufenden" Gruppen?<br />

Nehmen wir für einen Augenblick an, eine solche Vermutung habe bestanden.<br />

Rechtfertigt sie die sozialdemokratische Fraktion? Nein. Oder<br />

genauer gesagt: Sie rechtfertigt ihren Schritt persönlich, aber sie rechtfertigt<br />

ihren Schritt nicht politisch. Sie spricht die sozialdemokratische<br />

Dumafraktion von dem Verdacht frei, Verrat an der Sache der Arbeiter<br />

zu üben, sie spricht sie aber nicht frei von dem Vorwurf, einen politischen<br />

Fehler begangen zu haben.<br />

In der Tat, wie hätte ein ^rbeiterdeputierter, ein wirklicher Arbeiterdeputierter<br />

gehandelt, wenn er drei Tage lang Nachrichten über die Vorbereitung<br />

einer solchen Demonstration erhalten und am letzten Tag das<br />

„Gerücht" (vielleicht auch ein provokatorisches?): „Ist das nicht vielleicht<br />

eine Provokation?" zu Ohren bekommen hätte?<br />

Der Arbeiterdeputierte hätte den Weg zu einigen einflußreichen Arbeitern<br />

gefunden. Der Arbeiterdeputierte hätte begriffen, daß in solchen<br />

Augenblicken sein Platz an der Seite der führenden Arbeiter ist, daß es<br />

hundertmal wichtiger ist, hier bei den Arbeitern zu sein, als an den Sitzungen<br />

der Dumafraktion teilzunehmen. Der Arbeiterdeputierte hätte von<br />

den führenden Arbeitern, von zwei, drei (wenn nicht 4—5) einflußreichen<br />

Arbeitern der Hauptstadt erfahren, wie es um die Sadbe steht, wie die<br />

Arbeiter denken, welöie Stimmung unter den Massen herrscht.<br />

Der Arbeiterdeputierte hätte sich davon unterrichtet, hätte es verstanden,<br />

sich davon zu unterrichten, hätte es verstanden, in Erfahrung zu bringen,<br />

daß der Streik (von Fünfzehn- bis Fünfzig tausend 11 nach den


7M dem Ereignis vom 15. November 419<br />

Meldungen der bürgerlichen Presse) stattfinden wird, daß die Demonstration<br />

stattfinden wird, daß die Arbeiter nicht an Gewaltakte und Unruhen<br />

denken, daß folglich die Gerüchte, es handle sich um eine Provokation,<br />

unsinnige Gerüchte sind.<br />

Der Arbeiterdeputierte hätte das in Erfahrung gebracht und sich nicht<br />

täuschen lassen von den eingeschüchterten liberalen Intelligenzlern der<br />

niederträchtigen „Initiativgruppe".<br />

Gerüchte, es handle sich um eine Provokation. Nehmen wir an, daß es<br />

sie gab. Aber gab es solche Gerüchte etwa nicht bei der Gaponiade? Das<br />

wäre ein schöner Arbeiter oder Arbeiterführer, der nicht unterscheiden<br />

würde zwischen dem begonnenen eigenartigen Erwachen der Massen bei<br />

der Gaponiade und dem Provokateur Gapon, den Lockspitzeln der Polizei,<br />

die Gapon angespornt hatten!!<br />

Nehmen wir an, daß auch bei der Vorbereitung der Demonstration vom<br />

15. November die Polizei und Lockspitzel die Hand im Spiele hatten.<br />

Nehmen wir das an (obwohl es nicht bewiesen und unwahrscheinlich ist;<br />

wahrscheinlicher ist, daß die Qerüdite über eine Provokation provökaiorisdh<br />

waren).<br />

Aber nehmen wir es an. Was folgt daraus? Man braucht sich nicht auf<br />

Gewaltakte einzulassen, wenn von ihnen gar keine <strong>Red</strong>e war. Man muß<br />

vor Gewaltakten warnen. Aber soll man vor einem friedlichen Streik<br />

warnen, wenn es in den Massen brodelt? Vor einer "Demonstration warnen??<br />

Einen traurigen, einen sehr traurigen Fehler hat die sozialdemokratische<br />

Dumafraktion als Ganzes begangen. Und es wäre angenehm zu erfahren,<br />

daß nicht alle diesen Fehler gemacht haben, daß viele, die ihn gemacht<br />

haben, ihn erkennen und nicht wiederholen werden.<br />

Die Bewegung des Proletariats in Rußland hat (welches die Machenschaften<br />

der Polizei wo immer auch sein mögen) eine höhere Stufe erklommen.<br />

Qesdbrieben in der zweiten<br />

Novemberhälfte 1912.<br />

Zuerst veröftentlidit 1930 Nadh dem Manuskript.<br />

in der 2.-3. Ausgabe der<br />

VJerke W. J. <strong>Lenin</strong>s, <strong>Band</strong> XVI.<br />

lintersdbrift: Ein "Nicht-Deputierter.


420<br />

AN J. W. STALIN 98<br />

Lieber Freund! In polnischen Lokalzeitungen wird berichtet, daß<br />

Jagiello in die Fraktion aufgenommen worden sei, jedoch mit beratender<br />

Stimme. 99 Wenn das wahr ist, so ist das ein entscheidender Sieg des Parteiprinzips.<br />

Angesichts der Agitation des „Lutsch" muß man: 1. einen<br />

Artikel im „Den" 100 bringen (einen Entwurf schicke ich heute)... im<br />

Kollegium 101 (man muß ihnen unbedingt beibringen, daß sie bei allen<br />

wichtigen Ereignissen Resolutionen abfassen und Abschriften davon unverzüglich<br />

hierherschicken müssen). Eine solche Resolution müßte etwa<br />

so lauten: „Nach Erörterung aller-mit der Aufnahme Jagiellos in die<br />

sozialdemokratische Fraktion verbundenen Umstände, nach dem Studium<br />

der Artikel, die zu dieser Frage in dem marxistischen Organ ,Prawda c<br />

und in dem Liquidatorenblatt ,Lutsdi' erschienen sind, und unter Berücksichtigung<br />

des Berichts von dem und dem über die in der sozialdemokratischen<br />

Dumafraktion hierüber geführten Debatten und über<br />

die Meinungen der verschiedenen sozialdemokratischen Organisationen<br />

in Rußland - beschließt das Kollegium: Die Ablehnung, Jagiello mit<br />

beschließender Stimme aufzunehmen, ist als der einzig richtige Ausweg<br />

vom Standpunkt des Parteiprinzips anzusehen, denn Jagiello ist Mitglied<br />

einer nichtsozialdemokratischen Partei und ist in die IV. Duma gegen den<br />

Willen der Mehrheit der Wahlmänner der Arbeiterkurie von Warschau<br />

gelangt. Das Kollegium verurteilt die gegen die Partei gerichtete Agitation<br />

des ,B un< i' und der Liquidatoren für die Aufnahme Jagiellos in die Fraktion<br />

und gibt der Hoffnung Ausdruck, daß die Gewährung der beratenden<br />

Stimme für den Abgeordneten Jagiello dazu beitragen wird, daß sich alle<br />

klassenbewußten polnischen Arbeiter um die Polnische Sozialdemokratie<br />

scharen und sich vollends mit den Arbeitern aller Nationalitäten zu einheitlichen<br />

Organisationen der SDAPR zusammenschließen."<br />

Sollten, wider Erwarten, die Liquidatoren gesiegt haben, und Jagiello<br />

ist aufgenommen, so ist dennoch eine Resolution obigen Charakters mit


An J. W. Stalin 421<br />

dem Ausdruck des Bedauerns und mit einem Appell an die ganze Partei<br />

notwendig, ja doppelt notwendig,<br />

Ferner ist es von größter Wichtigkeit, daß sich das Kollegium in bezug<br />

auf die bekannte Resolution vom 13. November „berichtigt" und eine<br />

neue annimmt. Etwa so: „Mach Erörterung aller mit dem Streik vom<br />

15. November zusammenhängenden Umstände stellt das Kollegium fest,<br />

daß die Warnungen vor einem Streik sowohl seitens der sozialdemokratischen<br />

Fraktion als auch seitens des Petersburger Komitees ausschließlich<br />

darauf beruhten, daß ein Teil der Organisation auf eine Aktion an diesem<br />

Tage nicht vorbereitet war. Die Erfahrungen haben jedoch gezeigt, daß die<br />

Bewegung des revolutionären Proletariats dennoch weit um sich gegriffen<br />

hat und zu Straßendemonstrationen für die Republik, den Achtstundentag<br />

und die Konfiskation der Gutsbesitzerländereien übergegangen ist, womit<br />

die ganze Arbeiterbewegung Rußlands eine höhere Stufe erreichte. Das<br />

Kollegium verurteilt daher entschieden die von den Liquidatoren, ihrer...<br />

Gruppe und dem ,Lutsch' gegen die revolutionären Streiks betriebene<br />

Propaganda und empfiehlt den Arbeitern, alle Anstrengungen auf die umfassendere<br />

und solidere, einmütige Vorbereitung von Straßendemonstrationen<br />

und von politischen Proteststreiks zu richten, wobei letztere möglichst<br />

kurz (eintägig) und einheitlich sein sollten. Das Kollegium wird sich<br />

bemühen, die Agitation in Gang zu bringen für einen Streik und eine<br />

Demonstration am 9. Januar 1913, verbunden mit einem besonderen Protest<br />

anläßlich der dreihundertjährigen Regierung des Hauses der Romanows,<br />

die Rußland versklaven und mit Blut überschwemmen."<br />

Sodann ist es äußerst wichtig und notwendig, daß die fünf Abgeordneten<br />

(von der Kurie) eine begründete Resolution in der Angelegenheit<br />

Badajew aufsetzen. Etwa so: „In Anbetracht der Hetze der Liquidatoren<br />

im ,Lutsdi' und unter den Petersburger Arbeitern gegen den Gen.<br />

Badajew haben die fünf Abgeordneten der Arbeiterkurie beschlossen:<br />

1. diese Frage nicht der Dumafraktion vorzulegen, denn diese hat Badajew<br />

aufgenommen, und innerhalb der Fraktion hat es keinen einzigen Protest<br />

gegen die Aufnahme Badajews gegeben; 2. die Umstände bei der Wahl<br />

Badajews zu untersuchen, wobei vorausgesetzt wird, daß er sich in dieser<br />

Frage der Stimme enthält; 3. angesichts der von den fünf Abgeordneten<br />

festgestellten und überprüften Tatsachen - a) der Wählerauftrag antiliquidatorischen<br />

Inhalts war vorher veröffentlicht und in der Versammlung


422 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />

der Bevolhnäditigten einstimmig angenommen worden, alle Wahlmänner<br />

und Bevolhnäditigten, die für Badajew eintraten, haben einmütig, einhellig<br />

und als überzeugte Gesinnungsgenossen entsprediend dem Ersudien des<br />

Petersburger Komitees der SDAPR gehandelt; b) in der Versammlung<br />

der sozialdemokratisdien Bevollmäditigten waren 15 für die Liste des<br />

Petersburger Komitees und 9 für die Liquidatoren, unter den Bevollmäditigten<br />

und Wahlmännem des ,Lutsdi' haben nidit alle als Gesinnungsgenossen<br />

der Liquidatoren gehandelt, sondern ein Teil sdiwankte (Sudakow<br />

usw.); c) als 3 und 3 Wahlmänner durdikamen, taten die Anhänger<br />

Badajews ihre Pflidit, wenn sie vorsdilugen, die Frage durdi das Los<br />

zu entsdieiden, um den Streit nidit vor der Bourgeoisie auszutragen; d) die<br />

Tatsadie, daß die Anhänger Badajews diesen Vorsdilag einbraditen, und<br />

die Tatsadie, daß die Liquidatoren ihn ablehnten, ... die Frage von P.<br />

und M. (Liquidator) 102 - angesidits all dessen haben sie besdilossen:<br />

zu erklären, daß Badajew zweifellos von der Mehrheit der sozialdemokratisdien<br />

Arbeiter von St. Petersburg gewählt und Kandidat tatsädilidi<br />

auf Ersudien des Petersburger Komitees ist und daß die ganze Sdiuld für<br />

die Desorganisierung der Wahlen der sozialdemokratisdien Partei in der<br />

Arbeiterkurie von St. Petersburg die Liquidatoren trifft, die in dem Bewußtsein,<br />

in der Minderheit zu sein, den Willen der Mehrheit hintertrieben.<br />

Sie stellen fest, daß die Weigerung der Liquidatoren, einer Entsdieidung<br />

durdi das Los zuzustimmen, eine empörende und in der<br />

Arbeiterbewegung unerhörte Verletzung der Pflidit eines jeden Sozialdemokraten<br />

ist. 103 Sie haben besdilossen, diese Resolution in der Presse<br />

zu veröffentlidien und unter den Arbeitern einhellig für Badajew und<br />

gegen die liquidatorisdie Agitation aufzutreten."<br />

Diese Resolution ist notwendig. Die Frage Badajew ist bereits in die<br />

internationale Presse gedrungen. Steklow hat in,der „Neuen Zeit" unbestimmte,<br />

aber hinterhältige Phrasen veröffentlidrt. In einer deutsdien<br />

Brosdiüre, die die Liquidatoren zum Internationalen Kongreß in deutsdier<br />

Spradie herausgegeben haben, steht das tollste Zeug gesdirieben.<br />

Man darf nidit sdiweigen. Gerade die Abgeordneten der Kurie müssen<br />

die Tatsachen prüfen und eine <strong>Red</strong>itfertigung besdiließen, natürlidi bei<br />

Stimmenthaltung Badajews.<br />

Qesätrieben am i i. Dezember 1912. "Kado einer im Ardbiv des Volizeidepar-<br />

Zum erstenmal veröffentlicht. tements aufgefundenen Abschrift.


AN J.W.STALIN 104<br />

Für Wassiljew<br />

423<br />

6. XII.<br />

Lieber Freund, was den 9. Januar betrifft, so ist es sehr wichtig, daß<br />

man sich beizeiten Gedanken macht und Vorkehrungen trifft. Beizeiten<br />

fertig sein muß insbesondere ein Flugblatt mit dem Aufruf zu Kundgebungen,<br />

zu einem eintägigen Streik und zu Demonstrationen (das muß<br />

an Ort und Stelle entschieden werden, dort kann man es besser überblicken).<br />

105 Der Fehler vom 15. November muß „korrigiert" werden,<br />

korrigiert gegen die Opportunisten natürlich. Die Losungen des Flugblatts<br />

müssen die drei revolutionären Hauptlosungen sein (Republik,<br />

Achtstundentag und Konfiskation der Gutsbesitzerländereien), wobei besonders<br />

zu betonen ist, daß die Schmach der Romanowdynastie nun<br />

300 Jahre andauert. Falls nicht die völlige und restlose Gewißheit besteht,<br />

daß es möglich ist, das Flugblatt in Petersburg herzustellen, so<br />

muß es beizeiten, rechtzeitig hier hergestellt und hinbefördert werden.<br />

Die Frechheit der Liquidatoren im Falle Jagiello ist beispiellos. Wenn<br />

alle sechs der Arbeiterkurie unser sind, dürfen wir uns nicht stillschweigend<br />

irgendwelchen Sibiriern unterordnen. Die sechs müssen unbedingt<br />

schärfsten Protest erheben; wenn man sie majprisiert, müssen sie den<br />

Protest im „Den" veröffentlichen und erklären, daß sie an die unteren<br />

Organisationen, an die Arbeiterorganisationen appellieren. Die Liquidatoren<br />

wollen ihre Mehrheit aufbauschen und die Trennung von der<br />

Polnischen Sozialdemokratie durchsetzen. Wollen sich die Arbeitervertreter<br />

der sechs Arbeitergouvernements etwa den Skobelew und Co. oder<br />

dem ersten besten Sibirier 106 unterordnen? Schreiben Sie häufiger und<br />

mehr, ausführlicher.


424 W. 7. <strong>Lenin</strong><br />

Die Artikel des „Lutsch" gegen die Streiks sind der Gipfel der Niedertracht.<br />

Man muß ihnen in illegalen Publikationen scharf entgegentreten.<br />

Schreiben Sie möglichst rasch, für welchen der von Ihnen hierfür<br />

vorgesehenen Pläne Sie sich entscheiden.<br />

Mit Gruß.<br />

PS. Geben Sie den Paß zurück - es ist nicht ratsam, ihn zu benutzen,<br />

der Eigentümer könnte in Petersburg sein.<br />

Qesdbrieben am 6. Dezember 1912.<br />

Zuerst veröffentlicht 1923 "Nadi einer von SV. X. Xrupskaja<br />

in dem Buch „Aus der Epoche angefertigten Abschrift.<br />

der ,Swesda' und der ,"Prawdä<br />

i9ii-i9i4", Lieferung III.


DIE KRANKHEIT DES REFORMISMUS<br />

425<br />

„Woran kranken wir?" fragte kürzlich im „Lutsch" der Verfasser<br />

eines aufschlußreichen, unter dem Eindruck des Streiks vom 15. November<br />

geschriebenen Feuilletons mit diesem Titel.<br />

Die Antwort ergibt sich klar aus den beiden folgenden Zitaten:<br />

„Denen, die auf die Führerrolle Ansprach erheben, müßte wohl klar sein,<br />

daß die Forderung nach Aufhebung der Ausnahmezustände und nach Koalitionsfreiheit<br />

eines, Sache des Kampfes in der heutigen Zeit und in der nächsten<br />

Zukunft ist, die Änderung des bestehenden Systems aber, von dem in dem<br />

Aufruf die <strong>Red</strong>e ist, etwas anderes. Sie kann erreicht werden nicht durch die<br />

Streikspielerei, wie wir sie heute sehen, sondern nur durch beharrliche planmäßige<br />

Arbeit, durch die Eroberung einer Position nach der andern, durdi die<br />

Anspannung aller Kräfte, durch ausgezeichnete Organisiertheit und die Einbeziehung<br />

nicht allein der Arbeiterklasse, sondern der breiten Massen des<br />

Volkes in diesen Kampf...<br />

Wenn wir bewußt an unsere Aufgaben herangehen, planmäßig unsere Interessen<br />

wahrnehmen, ohne heute Feuer zu fangen, um morgen wieder abzukühlen,<br />

werden wir sowohl starke Gewerkschaftsorganisationen als auch eine<br />

legale politische Partei schaffen, an die niemand Hand anzulegen wagen wird."<br />

Diese Zitate genügen, um dem Verfasser zu sagen: Verehrtester, fragen<br />

Sie lieber, woran Sie selbst „kranken". Und wir antworten Ihnen: Sie<br />

kranken an Reformismus, das ist offenkundig. Sie leiden an einer „fixen<br />

Idee", der Idee der Stolypinschen Arbeiterpartei. Die Krankheit ist gefährlich.<br />

Die Doktoren vom „Lutsch" werden Sie vollends zu Tode<br />

kurieren.<br />

Der Verfasser propagiert ganz bestimmt und bewußt, entgegen den allgemeinen<br />

Forderungen nach politischer Freiheit, die „legale politische Par-<br />

28 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>


426<br />

r W. 1. <strong>Lenin</strong><br />

tei". Eine Gegenüberstellung der beiden angeführten Zitate läßt darüber<br />

keinen Zweifel. Ausflüchte wären hier vergeblich.<br />

Wir fragen den Verfasser: Weshalb erwies sich denn die „legale Partei"<br />

der Opportunisten der kleinbürgerlichen Demokratie (die „Volkssozialisten"<br />

von 1906) und des großbürgerlichen Liberalismus (die Kadetten<br />

von 1906/1907 und der folgenden Jahre) als Utopie, während Ihre<br />

„legale" Arbeiterpartei nicht utopisch sein soll?<br />

Sie geben zu (oder zumindest hat das „offene" Auftreten bei den Wahlen<br />

Sie gezwungen, zuzugeben), daß die Kadetten konterrevolutionär, daß<br />

sie überhaupt keine Demokraten, keine Partei der Massen sind, sondern<br />

eine Partei der wohlhabenden Bourgeoisie, eine Partei der „ersten Kurie".<br />

Und nun erheben Sie, ein „nüchterner Realpolitiker", ein Feind des<br />

„Feuerfangens" und des „Drohens mit den Fäusten", angeblich im Namen<br />

der Arbeiter eine „nächstliegende" Forderung, die sich als utopisch, als für<br />

die Kadetten unerreichbar erwiesen hat!! Als Utopist sind Sie groß, aber<br />

Ihre Utopie ist klein, nichtig, erbärmlich.<br />

Ohne es selbst zu wissen, haben Sie sich mit der Modekrankheit - es<br />

herrscht jetzt eine solche Epidemie! - der Niedergeschlagenheit, des Kleinmuts,<br />

der Verzweiflung und des Unglaubens infiziert. Und diese Krankheit<br />

treibt Sie in den Abgrund des Opportunismus, der bereits den Volkssozialisten<br />

wie auch den Kadetten das allgemeine Gelächter eingebracht<br />

hat.<br />

Sie halten die Forderung nach Aufhebung der Ausnahmezustände und<br />

nach Koalitionsfreiheit für zeitgemäß und sachlich, für „planmäßig" und<br />

„bewußt". Sie unterscheiden sich grundsätzlich von der Sozialdemokratie,<br />

denn sie begreift die allgemeinen Bedingungen für die Verwirklichung (und<br />

die Ernsthaftigkeit) solcher Reformen. Sie stimmen im wesentlichen mit<br />

den Progressiven und Oktobristen überein, denn eben diese Leute betrügen<br />

sich und andere mit dem Geschwätz ... von Reformen und „Freiheiten"<br />

auf der Basis der gegebenen Sachlage. Der italienische Reformist<br />

Bissolati verriet die Arbeiterklasse für Reformen, die der liberale Minister<br />

Giolitti bei „legaler" Existenz der Parteien aller Klassen versprochen<br />

hatte. Sie aber verraten die Arbeiterklasse für Reformen, die nicht einmal<br />

die Isgojew und Bulgakow von Makarow erwarten!<br />

Sie sprechen verächtlich von „Streikspielerei". Ich habe nicht die Möglichkeit,<br />

Ihnen hier, was diesen Punkt anbelangt, so zu antworten, wie es


Die Xrankheit des Reformismus 427<br />

nötig wäre. Ich will nur kurz darauf hinweisen, daß es einfach unklug ist,<br />

eine tiefgreifende historische Bewegung „Spielerei" zu nennen. Sie ärgern<br />

sidh über die Streiks, wie sich das „Nowoje Wremja" (siehe die Nummer<br />

vom 17. November, den Artikel von Nesnamow), die Isgojew und<br />

Bulgakow ärgern. Und Sie ärgern sich deshalb, weil das Leben Ihre liberalen<br />

Illnsionen erbarmungslos zerschlägt. Die Arbeitermassen erkennen<br />

durchaus die Notwendigkeit der Organisation, eines Systems, der Vorbereitung,<br />

der Planmäßigkeit, aber Ihren <strong>Red</strong>en begegnen sie mit Verachtung<br />

und werden sie mit Verachtung begegnen.<br />

Die schwere Krankheit, die Sie vergiftet hat, ist durch einen sehr verbreiteten<br />

Bazillus hervorgerufen worden. Es ist das der Bazillus der liberalen<br />

Arbeiterpolitik oder, anders ausgedrückt, des Liquidatorentums. Es<br />

liegt in der Luft. Wie sehr Sie sich aber auch über den Verlauf der Ereignisse<br />

überhaupt und über den 15. November im besonderen ärgern<br />

mögen, dieser Verlauf ist für einen solchen Bazillus tödlich.<br />

.Travoda" "Nr. iSO Ttadb demJextder .Trawda".<br />

29. November I9i2.<br />

Vvtersdbrift: W.Jljin.


428<br />

DIE VERELENDUNG IN DER<br />

KAPITALISTISCHEN GESELLSCHAFT<br />

Die bürgerlichen Reformisten und in ihrem Gefolge manche Opportunisten<br />

ans den Reihen der Sozialdemokratie behaupten, daß es eine Verelendung<br />

der Massen in der kapitalistischen Gesellschaft nicht gebe. Die<br />

„Verelendungstheorie" stimme nicht, der Wohlstand der Massen wachse,<br />

wenn auch langsam, die Kluft zwischen Besitzenden und Besitzlosen werde<br />

nicht größer, sondern kleiner.<br />

In letzter Zeit wird die ganze Heuchelei derartiger Behauptungen den<br />

Massen immer deutlicher klar. Die Lebenshaltungskosten steigen. Die<br />

Löhne der Arbeiter wachsen selbst bei hartnäckigsten und für die Arbeiter<br />

maximal erfolgreichen Streikkämpfen viel langsamer, als die für die Erhaltung<br />

der Arbeitskraft notwendigen Ausgaben steigen. Gleichzeitig aber<br />

wächst der Reichtum der Kapitalisten in schwindelerregendem Tempo.<br />

Hier einige Angaben über Deutschland, wo die Lage der Arbeiter infolge<br />

des höheren Kulturniveaus, dank der Streikfreibeit und Koalitionsfreiheit,<br />

dank der politischen Freiheit, den Millionen Gewerkschaftsmitgliedern<br />

und den Millionen Lesern der Arbeiterzeitungen unvergleichlich<br />

besser ist als in Rußland.<br />

Nach Angaben bürgerlicher Sozialpolitiker, die sich auf amtliche Quellen<br />

stützen, ist der Durchschnittslohn der Arbeiter in Deutschland in den<br />

letzten 30 Jahren um 25% gestiegen. Im gleichen Zeitabschnitt haben sich<br />

die Lebenshaltungskosten mindestens um 40% erhöht!!<br />

Sowohl Nahrungsmittel als auch Kleidung, Heizmaterial und Wohnungen<br />

— alles ist im Preis gestiegen. Der Arbeiter verelendet absolut, das<br />

heißt, er wird geradezu ärmer als früher, er ist gezwungen, schlechter zu<br />

leben, sich kärglicher zu ernähren, sich immer weniger satt zu essen, in<br />

Kellerräumen und in Dachstuben zu hausen.


Die Verelendung in der kapitaUstisäen Qeselhdbaft 429<br />

Noch offensichtlicher ist jedodi die relative Verelendung der Arbeiter,<br />

d. h. die Verringerung ihres Anteils am gesellschaftlichen Einkommen. Der<br />

verhältnismäßige Anteil der Arbeiter an dem rasch wachsenden Reichtum<br />

der kapitalistischen Gesellschaft wird immer geringer, denn die Millionäre<br />

werden immer schneller reich.<br />

In Rußland gibt es keine Einkommensteuer, keine Angaben über das<br />

Anwachsen des Reichtums bei den wohlhabenden Klassen der Gesellschaft.<br />

Unsere noch traurigere Wirklichkeit ist hinter einem Vorhang verborgen -<br />

hinter einem Vorhang von Unwissenheit und Schweigen.<br />

In Deutschland gibt es genaue Angaben über den Reichtum der besitzenden<br />

Klassen. In Preußen beispielsweise gehörten die ersten 10 Milliarden<br />

Mark (5 Milliarden Rubel) steuerpflichtigen Vermögens im Jahre 1902<br />

<strong>18</strong>53 Personen, im Jahre 1908 hingegen 1108 Personen.<br />

Die Anzahl der größten Krösusse hat sich verringert. Ihr Reichtum hat<br />

zugenommen: jeder von ihnen besaß im Jahre 1902 ein Vermögen von<br />

durchschnittlich 5 Millionen Mark (2,5 Millionen Rubel), im Jahre 1908<br />

aber ein Vermögen von 9 Millionen Mark (4,5 Millionen Rubel)!<br />

Man spricht von den „oberen 10 000". In Preußen hatten die „oberen<br />

21 000" ein Vermögen von 13,5 Milliarden Mark, während die übrigen<br />

1 300 000 Besitzer steuerpflichtiger Vermögen über ein Vermögen von<br />

3 Milliarden Mark verfügten.<br />

Die vier größten Millionäre Preußens (ein Fürst, ein Herzog und zwei<br />

Grafen) hatten 1907 ein Vermögen von 149 Millionen Mark, 1908 aber<br />

von 481 Millionen Mark.<br />

Der Reichtum wächst in der kapitalistischen Gesellschaft mit unwahrscheinlicher<br />

Geschwindigkeit - zugleich mit der Verelendung der Arbeitermassen.<br />

.Vrawda" 7ir. i8i, Tiadi dem 7ext der „Vrawda".<br />

3O.7Jovember 1912.


430<br />

DIE ARBEITERKLASSE UND<br />

IHRE „PARLAMENTARISCHE" VERTRETUNG<br />

Die klassenbewußten Arbeiter in Rußland haben es nicht zum erstenmal<br />

mit einer kollektiven Vertretung der Arbeiterklasse in der Reichsduma<br />

zu tun. Und jedesmal, wenn eine solche Vertretung in der II., III.<br />

und IV. Duma gebildet wurde (wir reden nicht von der I. Duma, die von<br />

der Mehrheit der Sozialdemokratie boykottiert wurde), jedesmal war<br />

eine Nichtübereinstimmung zu beobachten zwischen den Ansichten und<br />

Auffassungen, der Richtung der Mehrheit der Sozialdemokratie und ihrer<br />

Dumavertretung.<br />

Genaues Material, das diese Nichtübereinstimmung zeigt, gibt es für<br />

die zweite Reichsduma. Im Frühjahr 1907 wurde offiziell und unbestritten<br />

festgestellt, welche Auffassungen, Richtungen, Strömungen oder Fraktionen<br />

in der Sozialdemokratie überwogen und welche - in der sozialdemokratischen<br />

Dumafraktion.<br />

Es ergab sich, daß bei je einem Delegierten von jeweils 500 sozialdemokratischen<br />

Arbeitern die Bolschewiki damals 105 Delegierte hatten, die<br />

Menschewiki 97, Fraktionslose gab es 4. 1OT<br />

Ein deutliches Übergewicht auf Seiten des Bolschewismus.<br />

Von den „nationalen" Sozialdemokraten hatten die Polen 44 Delegierte,<br />

die Bundisten 57 und die Letten 29. Da unter den Letten damals<br />

die Gegner des Opportunismus, der Menschewiki und des „Bund", ein<br />

starkes Übergewicht besaßen, entsprach auch unter den „Nationalisten"<br />

im ganzen das Verhältnis der „Strömungen" ihrem Verhältnis im „russischen"<br />

Teil der Sozialdemokratie.<br />

Indessen gab es damals in der sozialdemokratischen Dumafraktion 36<br />

Menschewiki und <strong>18</strong> Bolschewiki und unter den Abgeordneten der Ar-


Die Arbeiterklasse und ihre „parlamentarische" Vertretung 431<br />

beiterkurie 12 Menschewiki und 11 Bolschewiki. 108 Es ist also klar, daß die<br />

Menschewiki das Übergewicht hatten.<br />

In der Sozialdemokratie und in der Dumafraktion waren demnach die<br />

Kräfte der „Strömungen" nicht gleichartig verteilt, sondern geradezu entgegengesetzt.<br />

Ist das ein Zufall?<br />

Nein. In allen Ländern der Welt beobachtet man in der Regel, daß die<br />

Zusammensetzung der parlamentarischen Vertretungen der Arbeiterparteien<br />

im Vergleich zur Zusammensetzung der Arbeiterparteien selbst<br />

opportunistischer ist. Die Ursache dieser Erscheinung ist nicht schwer zu<br />

erkennen: Erstens beschränken in Wirklichkeit alle Wahlsysteme der bürgerlichen<br />

Länder, selbst die demokratischsten, die Wahlrechte der Arbeiter<br />

durch Bestimmungen entweder in bezug auf das Alter (in Rußland sind<br />

25 Jahre erforderlich) oder auf die Dauer der Ansässigkeit, die Stetigkeit<br />

des Arbeitsplatzes (in Rußland ein halbes Jahr) usw. Solche Beschränkungen<br />

treffen gewöhnlich am schwersten gerade die jungen, die bewußteren<br />

und entschlosseneren Schichten des Proletariats.<br />

Zweitens haben es die nichtproletarischen Elemente der Arbeiterparteien<br />

- die Beamten der Arbeiterverbände, die kleinen Eigentümer, die<br />

Angestellten und insbesondere die „Intelligenz" - in der bürgerlichen<br />

Gesellschaft bei jedem Wahlrecht leichter, sich auf den „parlamentarischen"<br />

Beruf zu spezialisieren (kraft ihrer Berufe, ihrer Stellung in der<br />

„Gesellschaft", ihrer Vorbildung usw.).<br />

Welche Schlüsse aus dieser Tatsache zu ziehen sind und wie die Lage,<br />

im Vergleich zur II. Duma, in der dritten und vierten war - diesen Fragen<br />

werden wir den nächsten Artikel widmen.<br />

J>rawda° 7lr. 191, Na


432<br />

DIE „VERSÖHNUNG" DER NATIONALISTEN<br />

MIT DEN KADETTEN<br />

Das wichtigste politische Ergebnis der Dumadebatten über die Regierungserklärung<br />

ist -die rührende Vereinigung der Nationalisten, Oktobristen<br />

und Kadetten. Unsere russische sogenannte „Gesellschaft" erliegt so<br />

sehr der lauten und billigen Phrase, daß man besonderen Nadidrudc legen<br />

muß auf dieses wirkliche Ergebnis der Kritik aller Parteien an den prinzipiellen<br />

Fragen der Politik.<br />

„Die Parteien sind verschwunden", schrieb das nationalistische „Nowoje<br />

Wremja" (Nr. 13 199). „Die ausgezeichnete <strong>Red</strong>e des Abgeordneten Maklakow<br />

(in der Sitzung vom 7. Dezember) vereinigte die ganze Reichsduma, die<br />

ihm, alle parteilichen Rüdesichten und Meinungsverschiedenheiten vergessend,<br />

Beifall zollte."<br />

Dieses Echo einer nationalistischen Zeitung, des Hauptorgans jeglicher<br />

Liebedienerei und der Hetze gegen die Juden und „Fremdstämmigen",<br />

muß jeder im Gedächtnis behalten und gründlich durchdenken, der sich<br />

ernsthaft für die Politik interessiert.<br />

Die Oktobristen und Nationalisten, die Gutschkowleute und die Leute<br />

vom „Nowoje Wremja" zollten Maklakow nicht deshalb Beifall, weil sie<br />

die parteilidien Meinungsverschiedenheiten „vergessen" hatten, sondern<br />

weil sie die tiefe Meenharmonie zwischen der liberalen Bourgeoisie und<br />

den nationalistischen Gutsbesitzern richtig erfaßt hatten.<br />

Maklakow bewies diese Ideenharmonie in den Grundfragen der Innenund<br />

Außenpolitik. „Will Rußland keinen Krieg, so fürchtet es ihn doch<br />

nicht", rief dieser Kadett unter dem lang anhaltenden Beifall der Nationalisten<br />

aus. Wie sollten sie nidit Beifall spenden? Für jeden politisch<br />

geschulten Menschen ist klar, daß die Kadetten mit diesen Worten ihre


Die .Versöhnung" der Nationalisten mit den Kadetten 433<br />

Zustimmung zur Politik der Kriegsdrohung, zur Politik des Militarismus,<br />

der Aufrüstung zu Lande und zur See, die die Volksmassen versklavt und<br />

ruiniert, zum Ausdruck brachten.<br />

Die Liberalen, die den Militarismus unterstützen, sind für die Reaktion<br />

keine Gefahr, denn die Reaktionäre urteilen völlig richtig: Die Unterstützung<br />

des Militarismus ist eine Tat, liberale Ausrufe aber sind leere<br />

"Worte, die man unter der Herrschaft der Reaktion ohnehin nicht verwirklichen<br />

kann. „Gib uns Millionen für die Aufrüstung - und wir werden dir<br />

Beifall spenden für liberale Phrasen", das sagt und muß jeder gescheite<br />

feudale Gutsbesitzer den Balalaikins* in der Duma sagen.<br />

Und Maklakows Standpunkt in der Innenpolitik? Ist es ein Zufall,<br />

daß der rechte Geistliche, wie die „Retsch" selbst bezeugt, „vollauf zufrieden"<br />

ist - oder daß das „Nowoje Wremja" begeistert Maklakows<br />

„Leitmotiv" abdruckt: „Möge Rußland nicht in zwei Lager gespalten sein<br />

- in das Land und die Regierung" ?<br />

Nein, das ist kein Zufall, denn mit seinem Geschrei von der wünschenswerten<br />

„Versöhnung" eifert Maklakow in der 7a\ Kokowzow nach. Kokowzow<br />

wünscht ebenfalls eine „Versöhnung"!<br />

Kokowzow wünscht keine Änderung im Verhältnis der gesellschaftlichen<br />

Kräfte. Maklakow zeigte niäot im geringsten, daß er versteht, weldbe<br />

Änderung nötig ist und wodurdh sie erreicht werden kann. „Versöhnung"<br />

ist gerade das Wort, das die einzig ernsthafte Frage, die Frage nach den<br />

Bedingungen und Mitteln einer solchen Änderung, verwisdbt, verwischt<br />

durch eine faule Phrase, die nichts aussagt, das staatsbürgerliche Bewußtsein<br />

der Massen abstumpft, sie einschläfert<br />

Verachtung verdient die „Gesellschaft" die den „Versöhnungs"reden<br />

der Maklakow Beifall spenden kann.<br />

In der <strong>Red</strong>e des Arbeitervertreters Malinowski zur Minis.tererklärung<br />

aber übersahen die Nationalisten wie die Kadetten geflissentlich, wie die<br />

Demokratie die Fragen stellt. Doch hielt ja Malinowski seine <strong>Red</strong>e durdhaus<br />

nicbt für dieses Publikum.<br />

„Vrawda" 9tfr. 194, TJadh dem 7exl der .Vrawda".<br />

i5. "Dezember 1912.<br />

* Balalaikin - Gestalt aus M. J. Saltykow-Sditschedrins Werk „Eine zeitgenössische<br />

Idylle". Der Tibers.


434<br />

DIE NATIONALLIBERALEN<br />

In den letzten Jahren ist im russischen Liberalismus deutlich eine gewisse<br />

Differenzierung zu beobachten. Aus dem gesamtliberalen Lager<br />

beginnt sich die „echte" Bourgeoisie herauszulösen. Das liberale Kapital<br />

bildet seine besondere Partei, in die sich viele früher mit den Oktobristen<br />

liierte Elemente der Bourgeoisie begeben sollen (und begeben) und zu der<br />

anderseits die gemäßigtsten, großbürgerlichen, „soliden" Elemente der<br />

Kadettenpartei kommen.<br />

Die Gruppe der „Progressisten" in der III. und IV. Duma sowie die<br />

„progressive" Gruppe im Reichsrat sind sehr nahe daran, die offizielle<br />

Parteivertretung dieser nationalliberalen Bourgeoisie in der Parlamentsarena<br />

zu werden. Der kürzlich durchgeführte Kongreß der „Progressisten"<br />

umriß im Grunde eben das nationalliberale Programm, das jetzt die „Russkaja<br />

Molwa" vertritt. 109<br />

Was wollen die sogenannten „Progressisten"? Weshalb nennen wir sie<br />

Nationalliberale?<br />

Sie wollen nidbt die völlige und ungeteilte Herrschaft der Gutsbesitzer<br />

und Bürokraten. Sie erstreben - und sagen das offen - eine gemäßigte<br />

enge Zensusverfassung, mit einem Zweikammersystem, mit einem antidemokratischen<br />

Wahlrecht. Sie wollen eine „starke Macht", deren „patriotische"<br />

Politik darauf ausgeht, der „vaterländischen Industrie" mit Feuer<br />

und Schwert neue Märkte zu erobern. Sie wollen, daß die Bürokraten mit<br />

ihnen ebenso rechnen wie mit den Purischkewitsch. Und dann sind sie<br />

bereit, die Begleichung der „alten Rechnungen" mit den Reaktionären zu<br />

vergessen und mit ihnen Hand in Hand an der Errichtung eines kapitalistischen<br />

„Groß"rußlands zu arbeiten.


D


436 W. 1. Centn<br />

mieren, vielleicht wird ihre Zeitung eingehen, wie vor etwa drei Jahren<br />

die Zeitung „Slowo" 110 einging, die sich im großen und ganzen dieselben<br />

Ziele gesteckt hatte. (In der Duma jedoch sind die „Progressisten" gegenüber<br />

den Kadetten relativ stärker geworden.) Das offene Auftreten der<br />

nationalliberalen Bourgeoisie zeigt aber auf jeden Fall, daß die Klassenwidersprüche<br />

in Rußland bedeutend reifer geworden sind.<br />

Der Selbstbestimmung der kapitalistischen Bourgeoisie müssen die Arbeiter<br />

die verzehnfachte Energie bei ihrer Organisierung und ihrer klassenmäßigen<br />

Selbstbestimmung entgegenstellen.<br />

„Vrawda" Nr. 200, TJadi dem 7ext der .Prawda".<br />

22. "Dezember 1912.


ÜBER DIE STELLUNG ZUM LIQUIDATORENTUM<br />

UND ÜBER DIE EINHEIT<br />

Thesen<br />

437<br />

1. Vier Jahre Kampf gegen das Liqnidatorentttm.<br />

Definition des Liquidatorentums durch die Partei im Dezember<br />

1908. Verurteilung des Liquidatorentums, nicht weil es die legale<br />

Arbeit propagiert, sondern weil es die Partei zerstört. Sieg des Antiliquidatorentums<br />

auf legaler Ebene 1912 (die „Prawda" und die<br />

Wahlen).<br />

2. Vollzug der Spaltung durch die Liquidatoren. Die Liquidatoren<br />

haben sich von der Partei abgespalten. Ihre Initiativgruppen sind Produkt<br />

und Erscheinungsform der Spaltung.<br />

3. Die Augustkonferenz 1912 ist ihrer Zusammensetzung nach parteifeindlich,<br />

wie das sogar die Versöhnler zugeben mußten.<br />

Ausländische Grüppchen, die keine direkte Vollmacht von irgendeiner<br />

sozialdemokratischen Organisation in Rußland haben und nicht<br />

im Einverständnis mit einer solchen handeln, dürfen nicht im Namen der<br />

sozialdemokratischen Partei auftreten.<br />

4. Die Resolutionen der Augustkonferenz über die Grundfragen der Bewegung<br />

und vor allem über die grundlegende Frage der Anerkennung,<br />

der völligen und aufrichtigen Anerkennung der illegalen Partei zeichnen<br />

sich, sehr milde ausgedrückt, durch „Diplomatie" aus, d. h. durch<br />

das Ausweichen vor einer direkten Beantwortung der Frage. In Wirklichkeit<br />

sind sie liquidatorische Resolutionen.<br />

5. Das politische Verhalten der Liquidatorengruppe in der „Nascha Sarja"<br />

und im „Lutsch" nach der Konferenz (vom August) hat die unbedingte<br />

Parteifeindlichkeit dieser Gruppe gezeigt, was zum Ausdruck kam<br />

(a) in der Propagierung einer legalen Partei; (b) in der Verhöhnung


438 W. 3. <strong>Lenin</strong><br />

der „Illegalität" in der legalen Presse; (c) im Kampf gegen die revolutionären<br />

Streiks und gegen den revolutionären Massenkampf überhaupt.<br />

Die Notwendigkeit des entschlossenen Kampfes gegen diese Gruppe<br />

als eine parteifeindliche Gruppe.<br />

6. Die Propagierung der Einheit in der legalen Presse, die den Kern der<br />

Sache umgeht und verdunkelt, nämlich die Frage der tatsädbUdien Anerkennung<br />

der illegalen Partei, ist Betrug an den Arbeitern.<br />

7. Absolute Notwendigkeit der Einheit aller Strömungen und Schattierungen<br />

in der illegalen Organisation. Aufruf zu dieser Einheit.<br />

Qesdbrieben im Dezember 1912.<br />

Zuerst veröftentlidht 1939 in der "Naäj dem Manuskript.<br />

Zeitsärijt .Bohüewik" Nr. l.


MITTEILUNG UND RESOLUTIONEN<br />

EINER BERATUNG<br />

DES ZENTRALKOMITEES DER SDAPR<br />

MIT PARTEIFUNKTIONÄREN 111<br />

Veröftentlidbt im 7ebruar 1913 Nadb dem Text der "Brosdbüre,<br />

ah Broschüre im vertjlidoen-. die .Mitteilung"<br />

Verlag des ZK der STfAPR. mit dem Manuskript, die .Resolutionen"<br />

mit einer hektograpbierten<br />

Ausgabe.


MITTEILUNG<br />

441<br />

Im Februar dieses Jahres fand eine Beratung des ZK der SDAPR mit<br />

Parteifunktionären statt. Zur Beratung konnten Mitglieder der illegalen<br />

Parteiorganisationen von Petersburg (fünf), des Moskauer Gebiets (zwei),<br />

des Südens (zwei), des Urals und des Kaukasus hinzugezogen werden.<br />

Da es nicht möglich gewesen war, Wahlen in den Lokalorganisationen<br />

durchzuführen, konstituierte sich die Beratung nicht als Konferenz. Einige<br />

Mitglieder des ZK konnten wegen polizeilicher Verfolgung nicht anwesend<br />

sein.<br />

Fast alle Teilnehmer der Beratung haben führend an legalen Arbeitervereinigungen<br />

verschiedener Art und an sogenannten „legalen Möglichkeiten"<br />

teilgenommen. Dergestalt vermittelte die Zusammensetzung der<br />

Beratung ein zutreffendes Bild der gesamten Parteiarbeit in allen Hauptbezirken<br />

Rußlands.<br />

Die Beratung führte 11 Sitzungen durch und arbeitete Resolutionen zu<br />

folgenden Punkten der Tagesordnung aus: 1. Der revolutionäre Aufschwung,<br />

die Streiks und die Aufgaben der Partei. 2. Der Aufbau der illegalen<br />

Organisation. 3. Die sozialdemokratische Dumafraktion. 4. Die<br />

Parteipresse. 5. Die Versicherungskampagne. 6. Das Verhältais zum Liquidatorentum.<br />

Die Frage der Einheit. 7. über die „nationalen" sozialdemokratischen<br />

Organisationen.<br />

Die Resolutionen wurden einstimmig angenommen; eine Ausnahme bildete<br />

nur die Stimmenthaltung eines Genossen zu zwei Punkten der „Versichenmgs"resolntion<br />

und eines anderen zu Einzelheiten der „nationalen"<br />

Resolution.<br />

Die vom ZK bestätigten Resolutionen der Beratung fassen die Partei-<br />

29 <strong>Lenin</strong>, Werte, Bd. <strong>18</strong>


442 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />

erfahrnngen zusammen und geben die Richtlinie in allen wichtigen Fragen<br />

der sozialdemokratischen Arbeit im heutigen Rußland.<br />

Die systematische Auswertung der Erfahrungen des Jahres 1912 ist<br />

eine überaus wichtige Aufgabe der Sozialdemokratie, weil dieses Jahr das<br />

Jahr eines großen, historischen Umschwungs in der Arbeiterbewegung<br />

Rußlands war. Nicht nur daß der Niedergang und der Zerfall von einer<br />

Belebung abgelöst wurden. Die Arbeiterklasse ging zur Massenoffensive<br />

gegen die Kapitalisten und gegen die Zarenmonarchie über. Die Woge der<br />

wirtschaftlichen und politischen Streiks stieg so hoch, daß Rußland in diesem<br />

Hinsicht wiederum weiter vorn steht als alle, selbst die entwickeltsten<br />

Länder der Welt.<br />

Diese Tatsache wird natürlich keinen einzigen klassenbewußten Arbeiter<br />

vergessen lassen, wie weit uns die Proletarier der freien Länder in der<br />

Organisierung und klassenmäßigen Erziehung der Massen voraus sind.<br />

Aber diese Tatsache hat bewiesen, daß Rußland in die Periode des Heranreifens<br />

einer neuen Revolution eingetreten ist.<br />

Der Arbeiterklasse fällt die große Aufgabe zu, alle demokratischen<br />

Massen zur Revolution aufzurütteln und im Kampf zu erziehen^ sie anzuleiten<br />

für den machtvollen Ansturm, der die Romanowmonarchie stürzen<br />

und Rußland die Freiheit und die Republik bringen muß. Allseitige Unterstützung<br />

des offenen revolutionären Kampfes der Massen, seine Organisierung,<br />

seine Erweiterung, Vertiefung und Verstärkung — so lautet die<br />

grundlegende Aufgabe des gegenwärtigen Augenblicks. Wer diese Aufgabe<br />

nicht erkannt hat, wer nicht in dieser oder jener illegalen Organisation,<br />

Gruppe oder Zelle arbeitet, die der Entfaltung der Revolution dient,<br />

der ist kein Sozialdemokrat.<br />

*<br />

Der revolutionäre Aufschwung des Proletariats im Jahre 1912 war die<br />

Haupttriebkraft für die von allen zugegebene Wandlung in den Stimmungen<br />

der Demokratie. Sowohl bei den Wahlen zur IV. Duma als auch<br />

beim Aufbau einer legalen, wenigstens die elementaren Grundlagen der<br />

Theorie des Marxismus propagierenden Arbeiterpresse errang die Sozialdemokratie<br />

große Siege. Die Zarenregierung konnte diese Erfolge nur<br />

deshalb nicht verhindern, weil der offene revolutionäre Kampf der Massen


Erste Seite von W. I. <strong>Lenin</strong>s Manuskript der „Mitteilung"<br />

über eine Beratung des ZK der SDAPR mit Parteifunktionären<br />

Januar 1913<br />

Verkleinert


Mitteilung und Resolutionen einer Beratung des ZX der SDÄPR 445<br />

die ganze gesellschaftliche und politische Situation verändert hat. Während<br />

die SDAPR ihre unentwegte, beharrliche, systematische Arbeit zur Ausnutzung<br />

absolut aller und jeglicher „legalen Möglichkeiten", von der Tribüne<br />

der Schwarzhunderterduma bis zu jedem beliebigen Abstinenzlerverein,<br />

fortsetzt, vergißt sie keinen Augenblick, daß des Ehrentitels eines<br />

Parteimitglieds nur der würdig ist, der die gesamte Arbeit unter den Massen<br />

wirklich im Geiste der Parteibeschlüsse betreibt, die vom Standpunkt<br />

der heranreifenden Revolution und nicht vom Standpunkt der „Legalität"<br />

des 3. Juni erörtert und angenommen worden sind. Nicht jener Zerfahrenheit<br />

und Auflösung zu erliegen, die aus der Periode von 1908 bis 1911<br />

zurückgeblieben ist, sondern sie zu bekämpfen, ist unsere Aufgabe. Nicht<br />

mit dem Strom des chaotischen und prinzipienlosen Legalismus zu schwimmen,<br />

sondern alles Legale für die allmähliche Gruppierung aller aktiven<br />

Elemente um die illegale Partei auszunutzen, ist unser Ziel. Kein Frieden<br />

mit denen, die den Legalismus dazu mißbrauchen, Skeptizismus und<br />

Gleichgültigkeit gegenüber dem revolutionären Kampf der Massen zu<br />

säen oder ihn gar direkt zu behindern, das ist unsere Losung.<br />

Nicht in der Herabsetzung unserer Forderungen liegt das Unterpfand<br />

ihrer Durchführbarkeit, nicht in der Schmälerung unseres Programms,<br />

nicht in der Taktik der Gewinnung politisch wenig entwickelter Menschen<br />

mit der trügerischen Losung, daß diese oder jene konstitutionelle Reform<br />

unter dem russischen Zarismus leicht zu verwirklichen sei. Nein. Dieses<br />

Unterpfand ist die Erziehung der Massen im Geiste des konsequenten<br />

Demokratismus und der Erkenntnis der Verlogenheit der konstitutionellen<br />

Illusionen. Dieses Unterpfand sind die revolutionäre Organisation der<br />

fortgeschrittensten Klasse, des Proletariats, und der große revolutionäre<br />

Enthusiasmus der Massen.<br />

Die Epoche des Wütens der Konterrevolution hinterließ uns das Erbe<br />

der ideologischen Zerfahrenheit und Auflösung, des organisatorischen Zerfalls<br />

in vielen Zentren der Arbeiterbewegung, der Handwerklerei und der<br />

erzwungenen Isolierung von der Partei bei den einen und der geringschätzigen<br />

oder gar bösartigen Einstellung zu den das Vermächtnis der<br />

Revolution bewahrenden und die revolutionäre Taktik ausarbeitenden<br />

„Illegalen" bei den anderen. Die Abspaltung der Liquidatoren von der<br />

sozialdemokratischen Partei, die faktische Absonderung und mancherorts<br />

das Vergessen der Prinzipien der Sozialdemokratie und der Zerfall der


446 Ti>. J. <strong>Lenin</strong><br />

„nationalen" sozialdemokratischen Organisationen - all das macht die<br />

Forderung nach Einheit bis zum äußersten dringlich.<br />

Die Enheit des sozialdemokratischen Proletariats ist die notwendige<br />

Vorbedingung seiner Siege.<br />

Die Einheit des sozialdemokratischen Proletariats ist unmöglich ohne<br />

die Einheit seiner Partei, der SDAPR.<br />

Und hier sehen wir sofort, daß man die Frage dieser Einheit nicht lösen<br />

kann, ohne nicht nur in Worten, sondern auch in der Tat die Frage der<br />

Notwendigkeit einer illegalen Partei entschieden zu haben. Wer von Einheit<br />

redet und gleichzeitig die „legale Arbeiterpartei" propagiert, der betrügt<br />

sich und die Arbeiter. Wer von Einheit redet und dabei so tut, als<br />

könnte man diese Frage im Rahmen der Legalität lösen, klären, zumindest<br />

stellen, der betrügt sich und die Arbeiter.<br />

Nein. Keine leeren „Einheits"phrasen in der legalen Presse, keine Vereinbarungen<br />

mit den verschiedenen „getrennt marschierenden" Intellektuellengrüppchen,<br />

keine Diplomatie ausländischer Verhandlungen, sondern<br />

einzig und allein die Vereinigung an Ort und Stelle, die tatsächliche Verschmelzung<br />

aller zur SDAPR gehörigen Arbeiter zu einer einheitlichen<br />

illegalen Organisation — nur das allein entscheidet die Frage der Einheit.<br />

Die Arbeiter haben sich schon selbst, von unten her, an diese einzig<br />

ernsthafte, einzig sachliche Lösung der Frage der Einheit gemacht. Die<br />

Beratung ruft alle Sozialdemokraten auf, diesen Weg zu beschreiten.<br />

Die sozialdemokratischen Arbeiter stellen überall einheitliche illegale<br />

Organisationen der SDAPR in Gestalt von Betriebszellen, Betriebskomitees,<br />

Bezirksgruppen, Stadtzentren, von sozialdemokratischen Gruppen in<br />

allen möglichen legalen Institutionen usw. wieder her. Wer sich nicht selbst<br />

dazu verurteilen will, ohnmächtiger Einzelgänger zu sein, der trete diesen<br />

Organisationen bei. Die Anerkennung der illegalen Partei und die Unterstützung<br />

des revolutionären Kampfes der Massen realisieren sich hier<br />

unter der Kontrolle der Arbeiter selbst.<br />

Die Periode des Zerfalls geht zu Ende. Angebrochen ist die Zeit der<br />

Sammlung der Kräfte. Schließen wir uns zu illegalen Organisationen der<br />

SDAPR zusammen. Sie weisen keinen einzigen Sozialdemokraten zurück,<br />

der in ihnen arbeiten will, der helfen will bei der Organisierung des Pro-


Mitteilung und Resolutionen einer Beratung des ZK der SDAPJl 447<br />

letariats, bei seinem Kampf gegen das Kapital, bei seinem begonnenen<br />

revolutionären Ansturm auf die Zarenmonarchie.<br />

Die gesamtnationale politische Krise reift in Rußland langsam, aber unaufhaltsam<br />

heran. Das System des 3. Juni war der letzte Versuch, die<br />

Schwarzhundertermonarchie des Zaren zu retten, der Versuch, sie durch<br />

ein Bündnis mit den Spitzen der Bourgeoisie zu erneuern, und dieser Versuch<br />

ist gescheitert. Neue Kräfte der Demokratie wachsen und erstarken<br />

zusehends unter der Bauernschaft und der städtischen Bourgeoisie in Rußland.<br />

Rascher als früher wächst in Stadt und Land die Zahl der Proletarier,<br />

wächst ihre Organisiertheit, ihre Geschlossenheit, ihre durch die Erfahrungen<br />

der Massenstreiks gefestigte Gewißheit, daß sie unbesiegbar sind.<br />

Die SDAPR, die die fortgeschrittensten Abteilungen dieses Proletariats<br />

zu einem einheitlichen Ganzen organisiert, muß es in die revolutionären<br />

Schlachten für unsere alten revolutionären Forderungen führen.<br />

Februar 1913<br />

Zentralkomitee der SDJPH.


448 IV. 3. <strong>Lenin</strong><br />

RESOLUTIONEN<br />

Der revolutionäre Aufschwung, die Streiks und die Aufgaben<br />

der Partei<br />

1. Das wichtigste Ereignis in der Geschichte der Arbeiterbewegung und<br />

der russischen Revolution des Jahres 1912 ist die enorme Entwicklung sowohl<br />

des wirtschaftlichen als auch des politischen Streikkampfes des Proletariats.<br />

Die Zahl der an politischen Streiks Beteiligten erreichte die Million.<br />

2. Besondere Beachtung verdient dabei der Charakter des Streikkampfes<br />

von 1912. Die Arbeiter erheben in einer Reihe von Fällen gleichzeitig<br />

wirtschaftliche und politische Forderungen, eine Welle wirtschaftlicher<br />

Streiks wird von einer Welle politischer Streiks abgelöst und umgekehrt.<br />

Der Kampf gegen die Kapitalisten um die von der Konterrevolution wieder<br />

rüdegängig gemachten Errungenschaften des Jahres 1905 sowie die immer<br />

mehr steigenden Lebenshaltungskosten rütteln immer wieder neue Arbeiterschichten<br />

auf, stellen sie vor die politischen Fragen in ihrer schärfsten<br />

Form. Diese ganze verschiedenartige Vereinigung und Verflechtung des<br />

wirtschaftlichen und des politischen Kampfes ist Bedingung und Unterpfand<br />

für die Kraft der Bewegung, sie ruft den revolutionären Massenstreik<br />

hervor.<br />

3. Die Ausbrüche von Unzufriedenheit und die Aufstände in Flotte und<br />

Heer, deren Beginn das Jahr 1912 kennzeichnet, stehen zweifellos in<br />

Zusammenhang mit den revolutionären Massenstreiks der Arbeiter, sie<br />

weisen auf die zunehmende Gärung und Empörung in breiten Kreisen der<br />

Demokratie und besonders unter der Bauernschaft hin, die das Hauptkontingent<br />

der Armee stellt.


Mitteilung und Resolutionen einer Beratung des ZK. der SDÄPR 449<br />

4. Alle diese Tatsachen haben zusammen mit der allgemeinen Linksschwenkung<br />

des Landes, die auf die Wahlen zur IV. Duma, trotz der<br />

schamlosen Verfälschung dieser Wahlen durch die zaristische Sdiwarzhunderterregierung,<br />

ihre Auswirkungen zeitigte, endgültig bewiesen, daß<br />

Rußland erneut in eine Periode des offenen revolutionären Massenkampfes<br />

eingetreten ist. Die neue Revolution, deren Beginn wir erleben, ist das unvermeidliche<br />

Ergebnis des Bankrotts der zaristischen Politik des 3. Juni.<br />

Diese Politik konnte nicht einmal die besonders diensteifrige Großbourgeoisie<br />

befriedigen. Die Volksmassen aber sind noch mehr entrechtet worden,<br />

besonders die unterdrückten Nationalitäten; Millionen und aber Millionen<br />

von Bauern sind erneut einer Hungersnot preisgegeben.<br />

5. Unter solchen Bedingungen sind die revolutionären Massenstreiks<br />

auch noch deshalb außerordentlich wichtig, weil sie eines der wirksamsten<br />

Mittel darstellen, um die Apathie, Verzweiflung und Zersplitterung des<br />

Landproletariats und der Bauernschaft zu überwinden, ihre politische<br />

Aktivität zu wecken und sie in möglichst einhellige, gleichzeitige und ausgedehnte<br />

revolutionäre Aktionen einzubeziehen.<br />

6. Die Parteiorganisationen müssen bei Erweiterung und Verstärkung<br />

der Agitation für die unmittelbaren Forderungen der SDAPR - demokratische<br />

Republik, Achtstundentag und Konfiskation aller Gutsbesitzerländereien<br />

zugunsten der Bauernschaft — in ihrer Tätigkeit die allseitige<br />

Unterstützung der revolutionären Massenstreiks sowie die Entwicklung<br />

und Organisierung von revolutionären Massenaktionen aller Art mit an<br />

erste Stelle rücken. Insbesondere ist es notwendig, als nächste Aufgabe die<br />

Organisierung von revolutionären Straßendemonstrationen sowohl im<br />

Zusammenhang mit politischen Streiks als auch als selbständige Aktionen<br />

in den Vordergrund zu stellen.<br />

7. Die Anwendung von Lockouts (Massenentlassungen) seitens einiger<br />

Kapitalisten gegen die streikenden Arbeiter stellt die Arbeiterklasse<br />

vor neue Aufgaben. Die ökonomischen Bedingungen für einen Streik müssen<br />

in jedem Bezirk, in jedem Industriezweig, in jedem einzelnen Fall aufmerksam<br />

berücksichtigt werden, es gilt, neue Kampfformen zur Abwehr<br />

der Aussperrungen zu suchen (z. B. italienischer Streik) und eventuell politische<br />

Streiks durch revolutionäre Kundgebungen und revolutionäre<br />

Straßendemonstrationen zu ersetzen.<br />

8. Einige Organe der legalen Presse betreiben völlig unabhängig davon,


450 TV. J. <strong>Lenin</strong><br />

wie sie diesen oder jenen Sh-eik einschätzen, eine allgemeine Agitation<br />

gegen die revolutionären Massenstreiks. Eine solche Agitation wird außer<br />

von der liberalen Presse beispielsweise von einer Liquidatorengruppe in<br />

der Zeitung „Lutsch" betrieben, und zwar entgegen dem Willen eines bedeutenden<br />

Teils derjenigen Arbeiter, die diese Zeitung auf diese oder jene<br />

Weise unterstützen. Aufgabe aller parteitreuen sozialdemokratischen Arbeiter<br />

ist es angesichts dessen: 1. einen entschiedenen Kampf gegen diese<br />

Gruppe zu führen; 2. allen Arbeitern, ganz gleich welcher Richtung sie<br />

angehören, systematisch und beharrlich die ganze Schädlichkeit dieser<br />

Propaganda zu erklären und 3. alle proletarischen Kräfte für die weitere<br />

Entwicklung der revolutionären Agitation und der revolutionären Massenaktionen<br />

zusammenzuschließen.<br />

Der Aufbau der illegalen Organisation<br />

1. Die Ergebnisse der Arbeiterbewegung und der Arbeit der Partei im<br />

Jahre 1912 zusammenfassend, stellt die Beratung fest:<br />

Die einsetzende neue Welle revolutionärer Massenaktionen hat voll und<br />

ganz die Richtigkeit der früheren Beschlüsse der SDAPR (und insbesondere<br />

der Januarkonferenz 1912) in der Frage des Parteiaufbaus bestätigt.<br />

Der Verlauf des Streikkampfes im Jahre 1912, die sozialdemokratische<br />

Wahlkampagne bei den Wahlen zur IV. Duma, der Verlauf der Versichenmgskampagne<br />

usw. haben unzweifelhaft gezeigt, daß in der gegenwärtigen<br />

Epoche die illegale Partei als Summe von Parteizellen, die von<br />

einem Netz legaler und halblegaler Arbeitervereinigungen umgeben sind,<br />

der einzig richtige Typ des Organisationsaufbaus ist.<br />

2. Unbedingt erforderlich ist die Anpassung der Organisationsformen<br />

des illegalen Aufbaus an die örtlichen Bedingungen. Vielfältige Formen<br />

zur Tarnung der iljegalen Zellen und ein möglichst elastisches Vorgehen<br />

bei der Anpassung der Arbeitsformen an die örtlichen Bedingungen und<br />

Lebensverhältnisse sind das Unterpfand für die Lebensfähigkeit einer<br />

illegalen Organisation.<br />

3. Die wichtigste unmittelbare Aufgabe auf dem Gebiet des Organisationsaufbaus<br />

besteht gegenwärtig darin, in allen Fabriken und <strong>Werke</strong>n<br />

nur auf Parteibasis gebildete illegale Betriebskomitees zu schaffen, die sich


Mitteilung und Resolutionen einer Beratung des ZK der ST>APR 451<br />

aus den aktivsten Arbeitern zusammensetzen. Der gewaltige Aufschwung<br />

der Arbeiterbewegung schafft die Bedingungen, unter denen es an den<br />

weitaus meisten Orten: möglich wird, wieder Betriebsparteikomitees zu<br />

schaffen und die bestehenden Komitees auszubauen.<br />

4. Die Beratung weist darauf hin, daß jetzt durchaus die Notwendigkeit<br />

herangereift ist, aus den verstreuten örtlichen Gruppen in jedem<br />

Zentrum eine leitende Organisation zu schaffen.<br />

Als Typ einer Stadtorganisation hat sich zum Beispiel in Petersburg<br />

das leitende Stadtkomitee herausgebildet, das mittels einer Kombination des<br />

Prinzips der Wählbarkeit durch die Bezirkszellen und des Prinzips der<br />

Kooptation gebildet wurde.<br />

Ein solcher Organisationstyp ermöglicht es, zwischen dem leitenden<br />

Organ und den unteren Zellen die engste und unmittelbarste Verbindung<br />

herzustellen und gestattet es zugleich, ein zahlenmäßig begrenztes, bewegliches<br />

und höchst konspiratives Exekutivorgan zu schaffen, das berechtigt<br />

ist, jederzeit im Namen der ganzen Organisation aufzutreten. Die Beratung<br />

empfiehlt diesen Typ, angepaßt an die örtlichen Bedingungen und<br />

Lebensverhältnisse, auch für die anderen Zentren'der Arbeiterbewegung.<br />

5. Um eine enge Verbindung zwischen den Lokalorganisationen und<br />

dem ZK herzustellen und um die Parteiarbeit anzuleiten und zu vereinigen,<br />

erachtet es die Beratung für dringend erforderlich, in den Hauptbezirken<br />

der Arbeiterbewegung regionale Zentren zu schaffen.<br />

6. Als eine der wichtigsten praktischen Aufgaben zur Herstellung einer<br />

ständigen lebendigen Verbindung zwischen dem ZK und den lokalen<br />

sozialdemokratischen Gruppen sowie zur Schaffung elastischer Formen der<br />

Anleitung der örtlichen Arbeit in den großen Zentren der Arbeiterbewegung<br />

wird empfohlen, das System der Vertrauensleute einzuführen. Die<br />

Vertrauensleute sollen sich aus den örtlichen Arbeiterführern rekrutieren.<br />

Nur die fortgeschrittenen Arbeiter können mit ihren eigenen Kräften den<br />

zentralen Apparat der Partei in den einzelnen Orten wie auch in ganz<br />

Rußland festigen und stärken.<br />

7. Die Beratung spricht den Wunsch aus, daß das ZK möglichst oft<br />

Beratungen mit den örtlichen Parteifunktionären organisiert, die auf den<br />

verschiedenen Gebieten der sozialdemokratischen Arbeit tätig sind.<br />

8. Die Beratung erinnert an die wiederholten Beschlüsse der Partei, die<br />

darauf hinweisen daß eine Arbeiterpartei nur durch regelmäßige Mit-


452 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />

gliedsbeiträge und Sammlungen der Arbeiter existieren kann. Ohne solche<br />

Sammlungen ist besonders unter den gegenwärtigen Bedingungen die Existenz<br />

auch nur der bescheidensten zentralen (örtlichen und gesamtrussischen)<br />

Parteiinstitution absolut unmöglich.<br />

9. (Wird nicht veröffentlicht.)<br />

Die sozialdemokratisdbe Dumafrdktion<br />

1. Die Beratung stellt fest, daß die SDAPR trotz der unerhörten Verfolgungen<br />

und der Verfälschung der Wahlen seitens der Regierung und<br />

trotz des vielerorts ganz klar hervorgetretenen Blocks der Schwarzhunderter<br />

und Liberalen gegen die Sozialdemokraten bei den Wahlen zur<br />

IV. Duma große Siege errungen hat. Fast überall ist in der zweiten städtischen<br />

Kurie, die die Sozialdemokratie immer mehr den Händen der<br />

Liberalen entreißt, die Zahl der für die Sozialdemokraten abgegebenen<br />

Stimmen angestiegen. Und in der Arbeiterkurie, der wichtigsten fürunsere<br />

Partei, hat die SDAPR die ungeteilte Herrschaft behalten, wobei die<br />

Arbeiterklasse durch die Wahl aller bolschewistischen Abgeordneten der<br />

Kurie ihre unerschütterliche Treue zur alten SDAPR und ihrem revolutionären<br />

Vermächtnis besonders einmütig unterstrich.<br />

2. Die Beratung begrüßt die energische Tätigkeit der sozialdemokratischen<br />

Abgeordneten der IV. Duma, die in einer Reihe von <strong>Red</strong>en in der<br />

Duma, in der Einbringung von Anfragen und in der Verlesung einer Deklaration,<br />

die im ganzen die wichtigsten Grundsätze der Sozialdemokratie<br />

richtig wiedergab, zum Ausdruck gekommen ist.<br />

3. Die Beratung erkennt die in unserer Partei entstandene Tradition,<br />

wonach die sozialdemokratische Dumafraktion ein der Partei als Ganzes<br />

in Gestalt ihrer zentralen Körperschaften untergeordnetes Organ ist, als<br />

einzig, richtig an und ist der Ansicht, daß die Partei im Interesse der<br />

politischen Erziehung der Arbeiterklasse und der richtigen Durchführung<br />

der Dumaarbeit jeden Schritt der sozialdemokratischen Fraktion aufmerksam<br />

verfolgen und so die Kontrolle der Partei über die Fraktion ausüben<br />

muß.<br />

4. Die Beratung kann nicht umhin, in der Resolution über Jagiello eine<br />

direkte Verletzung der Parteipflicht seitens der sozialdemokratischen Frak-


Mitteilung und Resolutionen einer Beratung des ZK der SVAPR 453<br />

tion zu sehen. Diese Resolution unterstützt den der Spaltung dienenden<br />

Schritt des „Bund", der mit einer nichtsozialdemokratischen Partei (PPS)<br />

einen Pakt gegen die polnischen Sozialdemokraten einging und den Nichtsozialdemokraten<br />

Jagiello gegen alle sozialdemokratischen Wahlmänner<br />

nominierte, die im Kollegium der Arbeiterwahlmänner die Mehrheit bildeten.<br />

Die Fraktion vertiefte somit die Spaltung zwischen den Arbeitern<br />

in Polen und behinderte die Sache der Einheit in der ganzen Partei.<br />

5. Die Tatsache, daß Genosse Tsdichenkeli im Namen der Fraktion die<br />

national-kulturelle Autonomie unter dem Vorwand verteidigt, daß „die<br />

notwendigen Einrichtungen für die freie Entwicklung jeder Nationalität<br />

geschaffen werden müssen", ist schon an sich eine direkte Verletzung des<br />

Parteiprogramms. 112 Eine in ihrem Wesen völlig gleichartige Formulierung<br />

war durch eine spezielle Abstimmung auf dem II. Parteitag, der das<br />

Parteiprogramm bestätigte, abgelehnt worden." 3 Ein Zugeständnis an<br />

nationalistische Stimmungen ist selbst in dieser getarnten Form für eine<br />

proletarische Partei unzulässig.<br />

6. Daß die sozialdemokratische Fraktion für den progressistischen (in<br />

Wirklichkeit aber oktobristisdien) Antrag zur Regierungserklärung gestimmt<br />

und keinen selbständigen sozialdemokratischen Antrag eingebracht<br />

hat, ist ein Versäumnis, auf das die Partei angesichts der bösartigen Kommentare<br />

der liberalen Presse hinweisen muß. 114<br />

7., 8. und 9. (Werden nicht veröffentlicht) 115<br />

Wer die illegale Literatur<br />

Nachdem die Beratung die Notwendigkeit einer allseitigen Entwicklung<br />

der illegalen Publikationstätigkeit erörtert und zu dieser Frage eine Reihe<br />

konkreter Anweisungen ausgearbeitet hat, ruft sie nachdrücklich alle örtlichen<br />

Parteiorganisationen, alle Arbeiterzellen und die einzelnen Arbeiter<br />

auf, hinsichtlich des Transports und der Verbindungen mit dem Büro des<br />

ZK größere Selbständigkeit und Initiative zur Verbreitung der illegalen<br />

Literatur zu entwickeln.


454 l/V. 3. <strong>Lenin</strong><br />

Tiber die Versicherungskampagne<br />

Die Beratung stellt fest, daß die Arbeiterklasse und ihre Partei, trotz<br />

aller Verfolgungen, bei der Vertretung der proletarischen Interessen im<br />

Zusammenhang mit der Einführung des Versicherungsgesetzes eine große<br />

Energie entwickelt haben und ist der Ansicht:<br />

1. Die Versuche der Regierung und der Kapitalisten, die Arbeiter zu<br />

veranlassen, aufs Geratewohl, ohne Arbeiterversammlungen durchführen<br />

zu dürfen, ihre Bevollmächtigten für die Krankenkassen zu wählen, müssen<br />

aufs entschiedenste und in aller Einmütigkeit bekämpft werden.<br />

2. Die Arbeiter müssen überall anstreben, auf eigene Faust Versammlungen<br />

zu organisieren, um die von ihnen gewünschten Kandidaten vorher<br />

zu bestimmen.<br />

3. Die Arbeiter müssen gegen die Gewaltmaßnahmen und die Schikanen,<br />

von denen die Einführung der Versicherungsgesetze begleitet ist,<br />

revolutionäre Protestkundgebungen organisieren.<br />

4. Auf jeden Fall muß im voraus eine Liste von Arbeiterkandidaten<br />

für die Funktion der Bevollmächtigten aufgestellt werden; in diese Liste<br />

müssen die einflußreichsten sozialdemokratischen Arbeiter aufgenommen<br />

werden, und sie muß auch dort, wc es nicht gelingt, Versammlungen zu<br />

organisieren, einmütig vertreten werden.<br />

5. Einen Boykott der Bevollmächtigtenwahlen hält die Beratung für unzweckmäßig<br />

und schädlich. Die Hauptanstrengungen der Kapitalisten sind<br />

gegenwärtig darauf gerichtet, zu verhindern, daß sich die Arbeiter gewisser<br />

bestimmter proletarischer Betriebszellen bemächtigen, zu denen<br />

die Krankenkassen der Arbeiter werden müssen. Ein Boykott, der im<br />

jetzigen Augenblick die Arbeiter spaltet, würde diesem Bestreben der Kapitalisten<br />

nur entgegenkommen.<br />

6. Der Kampf um die ordnungsgemäße Wahl der Krankenkassendelegierten<br />

darf keinen Augenblick ruhen. Es gilt, den Kampf der Arbeiter mit<br />

allen Mitteln, mit allen Kräften, unter Ausnutzung jeder sich bietenden<br />

Gelegenheit, ohne die Unternehmer auch nur für einen Augenblick in dem<br />

Glauben zu lassen, daß der normale Ablauf der Produktion gesichert sei,<br />

auszuweiten und zu entwickeln; zugleich aber darf man trotz aller Hindernisse<br />

nicht auf die Durchsetzung der sozialdemokratischen Liste verzichten.<br />

Die Wahlen schließen nicht die weitere Entwicklung des Kampfes


Mitteilung und Resolutionen einer Beratung des ZK der SDÄPR 455<br />

aus. Im Gegenteil - durch die Wahl prinzipienfester sozialdemokratischer<br />

Arbeiter zu Delegierten erleichtem wir den weiteren Kampf um ordnungsgemäße<br />

Wahlen, in dem die Delegierten den Arbeitern in jeder Weise<br />

helfen werden.<br />

7. überall, wo die Wahlen ohne Versammlungen durchgeführt werden,<br />

muß mit allen den Arbeitern zur Verfügung stehenden Mitteln für die Neuwahl<br />

der Bevollmächtigten auf der Grundlage wirklich freier Wahlen bei<br />

Abhaltung von Versammlungen agitiert werden.<br />

8. Die sozialdemokratische Dumafraktion muß sofort eine neue Anfrage<br />

einbringen, warum den Arbeitern die Abhaltung von Wahlversammlungen<br />

verweigert wird.<br />

9. Die gesamte Agitation anläßlich der Einführung der Versicherung<br />

muß in engem Zusammenhang mit der Beleuchtung der ganzen Lage der<br />

Dinge im zaristischen Rußland, bei gleichzeitiger Erläuterung unserer<br />

sozialistischen Prinzipien und revolutionären Forderungen betrieben werden.<br />

"über das Verhältnis zum Btfuidatorentutn<br />

und über die Einheit<br />

1. Der vier Jahre währende Kampf der Partei gegen das Liquidatorentum<br />

hat gezeigt, wie unbedingt richtig die Definition war, die die Parteikonferenz<br />

der SDAPR im Dezember 1908 mit den Worten gegeben hat:<br />

„ ... der Versuch eines gewissen Teils der Parteiintellektuellen, die bestehende<br />

Organisation der SDAPR zu liquidieren und sie durch eine<br />

formlose Vereinigung im Rahmen einer Legalität um jeden Preis zu ersetzen,<br />

selbst um den Preis einer offenkundigen Absage an das Programm,<br />

die Taktik und die Traditionen der Partei."<br />

Die Liquidatoren werden also durchaus nicht verurteilt, weil sie sich für<br />

die Notwendigkeit der legalen Arbeit einsetzen, sondern wefl sie sich von<br />

der illegalen Partei lossagen und sie zerstören.<br />

Die Herausgabe der ersten marxistischen Arbeitertageszeitung in Rußland<br />

und die Wahl aller bolschewistischen Abgeordneten in der Arbeiterkurie<br />

haben endgültig bewiesen, daß die Partei es verstanden hat, die<br />

Liquidatoren zurückzudrängen und zugleich die legale Tätigkeit zu meistern.


456 W. 1 Lettin<br />

1. Durch ihr Ausscheiden aus der illegalen Partei und ihre Gruppierung<br />

außerhalb der örtlichen Organisationen fährten die Liquidatoren eine<br />

Spaltung herbei, die sie organisatorisch untermauerten, indem sie an verschiedenen<br />

Orten, insbesondere in Petersburg, sogenannte Initiativgruppen<br />

bildeten. Die Januarkonferenz der SDAPR von 1912, die feststellte,<br />

daß die Liquidatorengruppe der Publizisten von der „Nascha Sarja" und<br />

vom „Delo Shisni" als Kern der Initiativgruppen „sich endgültig außerhalb<br />

der Partei gestellt hat"*, bestätigte damit nur die von den Liquidatoren<br />

vollzogene Spaltung.<br />

3. Die Augustkonferenz von 1912, die sich „Konferenz der Organisationen<br />

der SDAPR" nannte, erwies sich in Wirklichkeit als Liquidatorenkonferenz,<br />

da ihren größten und führenden Teil die von der Partei abgespaltene<br />

und von den russischen Arbeitermassen losgelöste Publizistengruppe<br />

der Liquidatoren bildete.<br />

4. Die Treue der überwiegenden Mehrheit der fortgeschrittensten<br />

Arbeiter zur illegalen Partei zwang die Augustkonferenz, scheinbare Zugeständnisse<br />

an das Parteiprinzip zu machen und die illegale Partei angeblich<br />

anzuerkennen. In Wirklichkeit sind alle Resolutionen dieser Konferenz<br />

durch und durch vom Liquidatorentum geprägt, und die „Nascha<br />

Sarja" und der „Lutsch", der erklärte, daß er sich den Augustbeschlüssen<br />

anschließe, führten sofort nach der Konferenz die liquidatorische Propaganda<br />

noch stärker fort<br />

a) für eine legale Partei;<br />

b) gegen die Illegalität;<br />

c) gegen das Parteiprogramm (Verteidigung der national-kulturellen<br />

Autonomie, Revision der Agrargesetze der III. Duma, Zurückstellung<br />

der Losung „Republik" usw.);<br />

d) gegen die revolutionären Massenstreiks;<br />

e) für eine reformistische, ausschließlich legalistische Taktik.<br />

Daher sind der entschiedene Kampf gegen die Gruppe der Liquidatoren<br />

von der „Nascha Sarja" und vom „Lutsch" und die Aufklärung der<br />

Arbeitermassen über die große Schädlichkeit der Propaganda dieser<br />

Gruppe nach wie vor eine der Aufgaben der Partei.<br />

5. Die von den Liquidatoren in der legalen Presse entfaltete Kampagne<br />

für die „Einheit" umgeht und verschleiert die Hauptfrage, die Frage<br />

* Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 17, S. 473. Die JLeä. .


Mitteilung und Resolutionen einer Beratung des ZK der SBJPR 457<br />

der Zugehörigkeit zur illegalen Partei und der Arbeit in ihr, und verwirrt<br />

somit die Arbeiter, denn in der legalen Presse kann man diese Frage nicht<br />

einmal stellen. In Wirklichkeit führen sich die Liquidatoren weiterhin wie<br />

Spalter auf, was besonders anschaulich die Wahlen in Petersburg gezeigt<br />

haben: als die Wahlmänner in zwei gleiche Gruppen zerfielen, lehnten<br />

eben die Liquidatoren den Vorschlag ab, durch Auslosung zu entscheiden,<br />

obwohl nur so die Spaltung der Arbeiter angesichts der bürgerlichen Parteien<br />

überwunden werden konnte.<br />

6. Unter Voraussetzung der Anerkennung der illegalen Organisation<br />

der SDAPR und der Zugehörigkeit zu dieser Organisation ist die Einheit<br />

der sozialdemokratischen Arbeiter aller Strömungen und Schattierungen<br />

eine unbedingte Notwendigkeit und wird gebieterisch von allen Interessen<br />

der Arbeiterbewegung diktiert.<br />

Eine Vereinigung eben auf dieser Grundlage ist bereits in der Narwaer<br />

Stadtbezirksorganisation in Petersburg und in einer Reihe von Provinzorganisationen<br />

vollzogen worden.<br />

7. Die Beratung unterstützt eine solche Vereinigung aufs energischste<br />

und empfiehlt, überall unverzüglich, mit eben dieser Vereinigung von unten,<br />

von den Betriebskomitees, den Bezirksgruppen usw. her zu beginnen,<br />

wobei die Genossen in der Praxis überprüfen müssen, ob die Bedingung<br />

der Anerkennung der illegalen Organisation eingehalten wird und die<br />

Bereitschaft vorhanden ist, den revolutionären Massenkampf und die revolutionäre<br />

Taktik zu unterstützen. Nur in dem Maße, wie diese Einheit<br />

von unten her tatsächlich geschaffen wird, wird sich der endgültige Zusammenschluß<br />

der Partei und die völlige Stabilisierung der Einheit im gesamtrussischen<br />

Maßstab vollziehen.<br />

Tiber die „nationalen" Sozialdemokratien Organisationen<br />

1. Die Erfahrungen des Jahres 1912 haben vollauf die Richtigkeit des<br />

Beschlusses der Januarkonferenz der SDAPR (1912) zu dieser Frage bestätigt.*<br />

Die Unterstützung der Kandidatur des NichtSozialdemokraten<br />

Jagiello gegen die pohlischen Sozialdemokraten durch den „Bund" und<br />

die Verletzung des Parteiprogramms im nationalistischen Sinne durch die<br />

* Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 17, S. 455/456. Die <strong>Red</strong>.<br />

30 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>


458 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />

Augustkonferenz (1912) der Liquidatoren, des „Bund" und der lettischen<br />

Sozialdemokraten zeigten besonders augenfällig den völligen Bankrott der<br />

föderalistischen Prinzipien im Aufbau der sozialdemokratischen Partei<br />

und den schweren Schaden, den die Isoliertheit der „nationalen" sozialdemokratischen<br />

Organisationen der Sache des Proletariats zufügt.<br />

2. Die Beratung richtet daher an die Arbeiter aller Nationalitäten Rußlands<br />

den nachdrücklichen Appell, dem aggressiven Nationalismus der<br />

Reaktion entschiedensten Widerstand zu leisten, alle und jegliche Erscheinungen<br />

des Nationalismus unter den werktätigen Massen zu bekämpfen,<br />

und fordert die sozialdemokratischen Arbeiter in den einzelnen Orten<br />

auf, sich aufs engste zu einheitlichen Organisationen der SDAPR zusammenzuschließen<br />

und zu vereinen, die sich in ihrer Arbeit jeder der Sprachen<br />

des örtlichen Proletariats bedienen und in der Praxis, wie das im Kaukasus<br />

seit langem der Fall ist, die Einheit von unten her verwirklichen.<br />

3. Die Beratung gibt ihrem tiefen Bedauern über die Spaltung in den<br />

Reihen der Polnischen Sozialdemokratie Ausdruck, die den Kampf der<br />

sozialdemokratischen Arbeiter Polens außerordentlich schwächt. Die Beratung<br />

sieht sich zu der Feststellung gezwungen, daß der Hauptvorstand<br />

der Polnischen Sozialdemokratie, der gegenwärtig nicht die Mehrheit der<br />

polnischen sozialdemokratischen Organisationen des polnischen Proletariats<br />

vertritt, sich im Kampf gegen diese Mehrheit unzulässiger M ttel<br />

bedient (z. B. die unmotivierte Verdächtigung der gesamten Warschauer<br />

Organisation, sie hätte eine Provokation beabsichtigt). Die Beratung<br />

appelliert an alle Parteiorganisationen, die mit den polnischen sozialdemokratischen<br />

Arbeitern in Berührung kommen, zur Herstellung einer wirklichen<br />

Einheit der Polnischen Sozialdemokratie beizutragen.<br />

4. Die Beratung verweist insbesondere auf den extremen Opportunismus<br />

und das Liquidatorentum in den Beschlüssen der letzten (der IX.)<br />

Konferenz des „Bund", die die Losung der Republik gestrichen, die illegale<br />

Arbeit in den Hintergrund gedrängt und gezeigt hat, daß sie die revolutionären<br />

Aufgaben des Proletariats vergessen hat. Ebenso muß der Widerstand<br />

des „Bund" gegen eine Vereinigung aller sozialdemokratischen<br />

Arbeiter in den einzelnen Orten (in Warschau, Lodz, Wilna usw.)<br />

verurteilt werden - eine Vereinigung, für die sich seit 1906 die SDAPR<br />

in Gestalt ihrer Parteitage und Konferenzen immer wieder eingesetzt<br />

hat.


Mitteilung und Resolutionen einer Beratung des ZK der SDAPR 459<br />

5. Die Beratung grüßt die revolutionären sozialdemokratischen Arbeiter<br />

der lettischen Organisation, die eine energische Propaganda in antiliquidatorischem<br />

Geiste betreiben, und drückt ihr Bedauern darüber aus,<br />

daß das ZK der lettischen Sozialdemokratie dazu neigt, die parteifeindlichen<br />

Schritte der Liquidatoren zu unterstützen. .<br />

6. Die Beratung gibt der festen Überzeugung Ausdrude, daß der begonnene<br />

revolutionäre Aufschwung, die wirtschaftlichen und politischen<br />

Massenstreiks, die Straßendemonstrationen und die anderen Formen des<br />

offenen revolutionären Kampfes der Massen zur völligen Vereinigung und<br />

Verschmelzung der sozialdemokratischen Arbeiter in den einzelnen Orten,<br />

ohne Unterschied der Nationalität, beitragen und damit den Druck gegen<br />

den alle Völker Rußlands knechtenden Zarismus und gegen die sich vereinigende<br />

Bourgeoisie aller Nationen Rußlands verstärken werden.


460<br />

DIE ENGLISCHE ARBEITERBEWEGUNG<br />

IM JAHRE 1912<br />

Das hervorstechendste Ereignis des vergangenen Jahres war der Streik<br />

der Bergarbeiter. Zeigte schon der Streik der Eisenbahnarbeiter im Jahre<br />

1911 den „neuen Geist" der britischen Arbeiter, so stellte der Streik der<br />

Bergarbeiter wirklich den Beginn einer neuen Etappe dar.<br />

Wie sehr auch die herrschenden Klassen zum „Krieg" gerüstet hatten,<br />

wie eifrig die Bourgeoisie auch bemüht war, den Widerstand der aufsässigen<br />

Sklaven des Kapitals zu brechen, der Streik gelang dennoch. Die Bergarbeiter<br />

waren mustergültig organisiert. Von Streikbrechern gab es keine<br />

Spur. Von einer Kohlefördenmg mit Hilfe von Soldaten oder unerfahrenen<br />

Hilfsarbeitern konnte keine <strong>Red</strong>e sein. Und nach sechswöchigem<br />

Kampf sah Englands bürgerliche Regierung, daß das ganze industrielle<br />

Leben des Landes zum Stillstand kommt, daß wahr werden die Worte des<br />

Arbeiterliedes: „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es<br />

will.. ." 116<br />

Die Regierung ließ sich zu Zugeständnissen herbei.<br />

„Der Premierminister des mächtigsten Weltreichs, das jemals existiert<br />

hat, erschien in einer Delegiertenversammlung der streikenden Sklaven<br />

der Kohlenbarone und beschwor sie, einen Kompromiß zu schließen." So<br />

stellt ein informierter Marxist das Ergebnis des Kampfes dar.<br />

Die englische, Regierung, die die Arbeiter gewöhnlich jahrelang mit<br />

ihren Reformversprechungen „abspeist", hatte es jetzt wirklich eilig. In<br />

fünf Jagen wurde im Parlament ein neues Gesetz durchgebracht! Dieses<br />

Gesetz führt den iWmimalarbeitslohn ein, d. h., es setzt Richtlinien fest<br />

für die Bestimmung der Höhe, unter die der Lohn nicht sinken darf.<br />

Wie alle bürgerlichen Reformen ist zwar auch dieses Gesetz eine er-


"Die englisdhe Arbeiterbewegung im Jahre 1912 461<br />

bärmlidhe halbe Maßnahme und zum Teil einfach ein Betrug an den<br />

Arbeitern, denn bei der Festsetzung des Mindestlohnes setzen die Unternehmer<br />

nichtsdestoweniger ihre Lohnsklaven unter Druck. Aber trotzdem<br />

bestätigen alle, die die englische Arbeiterbewegung kennen, daß das englische<br />

Proletariat nach dem Streik der Bergarbeiter nicht mehr das alte ist.<br />

Die Arbeiter haben gelernt zu kämpfen. Sie haben den Weg erkannt, der<br />

sie zum Siege führt. Sie haben die eigene Kraft verspürt. Sie sind nicht<br />

mehr jene folgsamen Schafe, die sie so lange zum Wohlgefallen all derer<br />

zu sein schienen, die die Lohnsklaverei verteidigen und loben.<br />

Im Verhältnis der gesellschaftlichen Kräfte in England hat es eine Verschiebung<br />

gegeben, die nicht in Ziffern auszudrücken ist, die aber alle<br />

empfinden.<br />

Leider ist in Parteiangelegenheiten der Fortschritt in England nicht groß.<br />

Die Spaltung zwischen der „Britischen Sozialistischen Partei" (vormals<br />

Sozialdemokratische Föderation) und der „Unabhängigen" (vom Sozialismus)<br />

„Arbeiterpartei" besteht weiter. Die opportunistische Haltung der<br />

Parlamentsmitglieder dieser zweiten Partei löst bei den Arbeitern, wie<br />

immer, syndikalistische Tendenzen aus. Zum Glück sind sie nicht stark.<br />

Die Gewerkschaften Englands schwenken langsam, aber anaufhaltsam<br />

zum Sozialismus ein - entgegen vielen proletarischen Parlamentsmitgliedern,<br />

die hartnäckig die alte liberale Arbeiterpolitik vertreten. Aber diese<br />

letzten Mohikaner werden das Alte nicht am Leben erhalten können!<br />

„Vrawda" Wr. i, Nadi dem Text der „Vrawda".<br />

i. Januar 1913.<br />

Unterschrift: W.


462<br />

BESSER SPÄT ALS NIE<br />

Das zu widerlegen, was L. Martow im „Lutsch" (Nr. 37 vom 28. Oktober<br />

1912) geschrieben hat, finde ich erst sehr spät Gelegenheit. Was<br />

aber tun? Die Unwahrheit zu sagen ist leicht. Aber um die Wahrheit<br />

herauszufinden, braucht man manchmal viel Zeit.<br />

L. Martow ließ über mich in Nr. 37 des „Lutsch" die kräftigsten<br />

Schimpfwörter mit den bei diesem Autor gewöhnlichen „dunklen" Anspielungen<br />

vom Stapel. In zehn Jahren an diese Kampfmethoden L. Martows<br />

gewöhnt, las ich seinen Artikel nicht einmal zu Ende. Aber Kollegen<br />

wiesen mich darauf hin, daß L. Martow dem Genossen Haase, einem<br />

Mitglied des deutschen sozialdemokratischen Parteivorstands, die Worte<br />

zuschreibt, <strong>Lenin</strong> würde die Internationale „irreführen".<br />

Um die Wahrheit herauszufinden, mußte die Quelle der Worte Martows<br />

gesucht werden. Er berief sich auf irgendeine „Bergarbeiterzeitung"<br />

Nr. 225. Diese fand ich nicht. Im „Vorwärts" (dem Zentralorgan der<br />

Sozialdemokratischen Partei Deutschlands) stehen solche Worte nicht.<br />

Ich fand sie lediglich in der „Bremer Bürger-Zeitung" (dem sozialdemokratischen<br />

Organ von Bremen).<br />

Man mußte Haase selbst fragen, wollte man nicht den Leichtsinn<br />

L. Martows nachahmen.<br />

Es wurde eine schriftliche Anfrage an den Parteivorstand der deutschen<br />

Sozialdemokraten gerichtet.<br />

Hier die Antwort Haases*-.<br />

Vorstand<br />

der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands<br />

Berlin, den 31. Dezember 1912<br />

Werte Genossen! In Beantwortung Ihres Schreibens teile ich Ihnen mit, daß<br />

die Darstellung, die, nach Ihren Worten, der „Lutsch" über mein Auftreten im<br />

* Rückübersetzung aus dem Russischen. Der Tibers.


Besser spät als nie 463<br />

Internationalen Sozialistischen Büro gegeben hat, nicht der Wahrheit entspricht.<br />

In der Sitzung wurde die Frage erörtert, ob das Organisationskomitee auf Vertretung<br />

im Internationalen Sozialistischen Büro Anspruch erheben könne. Ich<br />

erklärte, das sei unzulässig, denn das Organisationskomitee ist, sogar nach<br />

seiner eigenen Erklärung, nicht eine Organisation, sondern will nur ein Verband<br />

von Gruppen zwecks Wiederherstellung der Einheit der Organisation<br />

sein. In diesem Zusammenhang warf ich die Frage auf, wer denn eigentlich das<br />

Recht habe, die russische Partei bei ihrem jetzigen Zustand zu vertreten, und<br />

bemerkte, wenn die Behauptung richtig sei, daß das Zentralkomitee in seinem<br />

Verkehr mit dem Internationalen Büro als „SDAPR" auftritt, könne diese Bezeichnung<br />

Mißverständnisse hervorrufen.<br />

Hier war also keine <strong>Red</strong>e von einem Angriff auf <strong>Lenin</strong>, und überhaupt trug<br />

die Bemerkung keineswegs herabsetzenden Charakter. Ich wollte lediglich die<br />

Sachlage in Verbindung mit der obenerwähnten Behauptung klären und vor<br />

allem die Frage aufwerfen, ob nicht die Zeit gekommen sei, Schritte zur Vereinigung<br />

aller russisch-polnischen Gruppen zu unternehmen. Ich bedauerte<br />

sehr, daß <strong>Lenin</strong> nicht anwesend war.<br />

Nur der Vollständigkeit halber erwähne ich, daß das Wort „Irreführung"<br />

nicht aus meinem Munde kam.<br />

Mit Parteigruß "Haase<br />

Um also zum tausendsten Male Schimpfwörter über mich vom Stapel<br />

zu lassen, wiederholte L. Martow (irgend jemandem folgend) eine Unwahrheit<br />

über Haase.<br />

Haase war gegen das Vertretungsrecht für das OK, er bestritt nidbt das<br />

Vertretungsrecht des ZK.<br />

Haase hält das ZK nicht für den Vertreter der gesamten SDAPR, einschließlich<br />

der „Nationalen" und der Liquidatoren, aber auch das ZK<br />

selbst hat, soweit mir bekannt, niemals Anspruch darauf erhoben, die<br />

einen oder die anderen zu vertreten.<br />

Die „Nationalen" (die Polen, der „Bund", die Letten) haben ihre besonderen<br />

Vertreter.<br />

Ich beschränke mich auf diese Widerlegung an Hand der Tatsachen ...<br />

19. Januar (n. St.) 1913 "N.Cenin<br />

„Vravoda" 'Nr. 8, Nadh dem 7ext der ,T>rawda\<br />

H. Januar i9i3.


464<br />

DIE ENTWICKLUNG<br />

DES REVOLUTIONÄREN STREIKS<br />

UND DER STRASSENDEMONSTRATIONEN<br />

Es wurde schon seit langem darauf hingewiesen und ist allgemein anerkannt,<br />

daß das Jahr 1912 in der Entwicklung des Streikkampfes eine<br />

hervorragende Stellung einnimmt. Aber nicht alle haben diese Erscheinung<br />

verstanden und richtig bewertet.<br />

Nehmen wir die Angaben über die politischen Streiks in den ersten<br />

11 Monaten des Jahres. Es ergibt sich folgendes:<br />

im Jahre 1905 1 052 000<br />

„ „ 1906 642 000<br />

„ „ 1907 540 000<br />

im Jahre 1912 etwa 900 000<br />

Die Zahl der an den politischen Streiks Beteiligten wurde für die ersten<br />

9 Monate nach vorsichtigsten Berechnungen auf 700 000 geschätzt. Die<br />

Streiks anläßlich der Bevolhnächtigtenbestimmungen in Petersburg erfaßten<br />

etwa 50 000 Arbeiter, der Proteststreik gegen die Sewastopoler<br />

Hinrichtungen und der Streik vom 15. November, dem Eröffnungstag der<br />

Duma, erfaßten nach Angaben des Moskauer TAntei'nehmerverbandes<br />

<strong>18</strong>8 000 Arbeiter. Das sind die Daten bis zum 20. November. Es ist klar,<br />

daß 900 000 eine Mindestzahl ist. Selbst unter Abrechnung von 100 000<br />

Streikenden, bei denen ein Vergleich mit der Zeit von 1905-1907 kaum<br />

möglich ist (Betriebe außerhalb der Kompetenz der Fabrikinspektion),<br />

kommen 800 000 heraus.<br />

Auf jeden Fall ist die Bewegung unbedingt stärker als 1906 und 1907<br />

und bleibt nur wenig hinter 1905 zurüdkl<br />

Was bedeutet das?<br />

Natürlich ist im gegenwärtigen Zeitpunkt die Beteiligung der Gesamt-


Die Entwicklung des rev. Streiks und der Straßendemonstrationen 465<br />

bevölkerung an der Bewegung weit schwächer als 1905. Folglich liegt der<br />

Ausgangspunkt des revolutionären Aufschwungs jetzt unvergleichlich höher,<br />

als es vor der ersten Revolution der Fall war. Folglich offenbart die<br />

kommende zweite Revolution schon jetzt einen viel größeren Vorrat an<br />

revolutionärer Energie im Proletariat. Das Proletariat ist zahlenmäßig gewachsen,<br />

um mindestens 20 Prozent. Die Konzentration des Proletariats<br />

ist gestiegen. Die rein proletarische Hauptstütze der Bewegung ist durch<br />

die beschleunigte Befreiung von der Bindung an den Boden stärker geworden.<br />

Die Masse der proletarischen und halbproletarischen Bevölkerung in<br />

der „Kustar"industrie, im Handwerk und in der Landwirtschaft ist in gewaltigem,<br />

nicht zu kontrollierendem Maße gewachsen.<br />

Schließlich sind das Bewußtsein, die Erfahrung und die Entschlossenheit<br />

der führenden demokratischen Klasse größer geworden. Darin stimmen<br />

alle überein, aber nicht alle bringen es fertig, zu Ende zu denken, was sich<br />

hieraus ergibt. Nicht alle bringen es fertig, der Wahrheit ins Gesicht zu<br />

sehen und zuzugeben, daß wir es mit revolutionären Massenstreiks, mit<br />

dem Beginn des revolutionären Aufschwungs zu tun haben.<br />

Darauf weist vor allem die wichtigste und objektivste Tatsache hin, eine<br />

Tatsache, die am wenigsten subjektive Auslegungen zuläßt: das Ausmaß<br />

der Bewegung. In keinem Land der Welt könnte man — außer beim Vorhandensein<br />

einer revolutionären gesellschaftlichen Situation - Hunderttausende<br />

von Arbeitern mehrmals im Jahr aus den verschiedensten Anlässen<br />

zu politischen Aktionen mobilisieren. Bei uns aber vollzieht sich eine<br />

solche Erhebung spontan, und zwar deshalb, weil die Millionen und aber<br />

Millionen der halbproletarischen und bauerlichen Bevölkerung auf ihren<br />

Vortrupp eine Stimmung konzentrierter Empörung, wenn man sich so ausdrücken<br />

darf, übertragen, die machtvoll anschwillt und über die Ufer tritt.<br />

Der revolutionäre Streik der russischen Arbeiter im Jahre 1912 ist im<br />

vollen Sinne des Wortes eine Volksbewegung. Denn unter einer Volksbewegung<br />

ist keineswegs eine Bewegung zu verstehen, mit der - unter den<br />

Bedingungen der bürgerlich-demokratischen Revolution - die gesamte<br />

Bourgeoisie oder wenigstens die liberale Bourgeoisie solidarisch ist. So<br />

sehen es nur die Opportunisten an. Nein. Eine Volksbewegung ist eine<br />

Bewegung, die die objektiven Nöte des ganzen Landes zum Ausdruck<br />

bringt und ihre schweren Schläge gegen die zentralen Kräfte des Feindes<br />

richtet, der die Entwicklung des Landes behindert. Eine Volksbewegung


466 W. J. <strong>Lenin</strong><br />

ist eine Bewegung, die von der Sympathie der großen Mehrheit der Bevölkerung<br />

getragen ist.<br />

Eben solch eine Bewegung ist die politische Bewegung der Arbeiterschaft<br />

in diesem Jahr, die von der Sympathie aller Werktätigen und<br />

Ausgebeuteten, der ganzen Demokratie, so schwach und unterdrückt, zersplittert<br />

und hilflos sie auch immer sein mag, unterstützt wird. Die präzisere<br />

Abgrenzung zwischen Liberalismus und Demokratie (die nicht ohne<br />

Kampf gegen diejenigen erreicht wurde, die davon träumten, „die Duma<br />

den Händen der Reaktion zu entreißen") ist ein gewaltiges Plus der neuen<br />

Bewegung. Um Erfolg zu haben, muß eine Revolution möglichst genau<br />

wissen, mit wem man in den Kampf ziehen kann, wer ein unzuverlässiger<br />

Bundesgenosse ist und wo der wirkliche Feind steht.<br />

Daher haben die direkten Aktionen der Liberalen (der Kadetten) gegen<br />

die neue Revolution so große Bedeutung. Daher ist gerade jetzt die Losung<br />

der Republik in Rußland (im Vergleich zu Europa) so außerordentlich<br />

wichtig; sie läutert das Bewußtsein der kampfbereiten Demokratie<br />

von den monarchistischen (und „konstitutionellen") Illusionen, die den<br />

Anstunn von 1905 so sehr beeinträchtigt haben. Im Wachstumsprozeß der<br />

neuen Revolution in Rußland sind zwei Momente von historischer Bedeutung:<br />

erstens die Streiks im April und Mai, bei denen die Petersburger<br />

Arbeiter - sogar trotz der Verhaftung ihres leitenden Organs, des Petersburger<br />

Komitees - die Losung der Republik, des Achtstundentags und<br />

der Konfiskation des Grund und Bodens aufstellten. Zweitens die Streiks<br />

und Demonstrationen im November (siehe die Briefe aus Riga und<br />

Moskau 117 ; in Petersburg war es dasselbe, aber die Verhaftungen haben<br />

uns unsere Korrespondenten genommen). Die Losung dieser Demonstrationen<br />

war nicht nur „Fort mit der Todesstrafe! Nieder mit dem Krieg!",<br />

sonddm auch „Es lebe die revolutionäre Arbeiterklasse und die revolutionäre<br />

Armee!".<br />

Auf den Straßen von Petersburg, Riga und Moskau hat das Proletariat<br />

den Besten des Bauernheeres, die sich heldenhaft gegen die Monarchie erhoben,<br />

die Hand entgegengestreckt.<br />

Die liberale Bourgeoisie ist gegen eine neue Revolution, gegen den<br />

revolutionären Massenstreik. Aber die Liberalen sind keinesfalls über-


Die Entwiddung des rev. Streiks und der Straßendemonstrationen 467<br />

haupt gegen politische Streiks, wenn sie lediglich von einer „Belebung"<br />

zeugen und allein die liberale Losung konstitutioneller Reformen unterstützen.<br />

Und objektiv, unabhängig von ihren „frommen" Wünschen, sind<br />

unsere Liquidatoren, die die beiden historischen Momente des Aufschwungs<br />

als „Manifestationen" - gegen die revolutionären Streiks bezeichneten<br />

(!!), einfache Lakaien der konterrevolutionären Bourgeoisie.<br />

In Nr. 1 des „Newsld Golos" vom 20. Mai 1912 wandte sich der unvergeßliche<br />

und unvergleichliche W. Jeshow gegen die „Komplizierung" der<br />

wirtsdiaftlidien Streiks durch politische und umgekehrt, gegen ihre<br />

„schädliche Vermischung" (vgl. „Sozial-Demokrat" Nr. 27, S. 4*).<br />

Im November 1912 zog der liquidatorische „Lutsch" ebenfalls gegen die<br />

Streiks zu Felde. Unachtsame Leser versuchte er dann „auf die falsche<br />

Fährte" zu bringen, indem er sich darauf berief, daß die sozialdemokratische<br />

Fraktion ebenfalls gegen den Streik vom 15. November war. Wer<br />

aber ein wenig in den Sinn der Ereignisse eindringt, wird leicht die Fälschung<br />

des „Lutsch" erkennen.<br />

Jawohl, die sozialdemokratische Fraktion wie auch das Petersburger<br />

Komitee hielten den Streik am 15. November für unzeitgemäß. Vor besagtem<br />

Streik am besagten Tage hatten sie gewarnt. Pflicht der Arbeiterpresse<br />

war es, dies bekanntzugeben. Sowohl der „Lutsch" als auch die<br />

„Prawda" haben das getan.<br />

Aber der „Lutsch" hat nicht nur das getan.<br />

Nach den Ereignissen vom 15. November (als derselbe Wiborger Stadtbezirk,<br />

der bisher am stärksten mit den Menschewiki verbunden war, beherzter<br />

als die anderen streikte), nachdem sich die Bewegung zu einer<br />

Demonstration ausgewachsen hatte, erhob der überschlaue „Lutsch" in<br />

seinen Artikeln (einem Leitartikel und nach dem Leitartikel vom 17. November<br />

in einem Feuilleton vom 21. November) ein Geschrei gegen die<br />

„gefährliche Kraftvergeudung", er versicherte, daß man „wegen der häufigen<br />

Anwendung der Streiks aufhören werde, mit ihnen zu sympathisieren",<br />

er gab die Losung aus „Suchen wir nach einem anderen Weg", „Mit<br />

Feuerwerksgeprassel (!?!) läßt sich nichts erreichen" und wetterte gegen<br />

die „Streikspielerei".<br />

Diese eure „Philosophie", ihr Herren Liquidatoren, die den Petersburger<br />

Arbeitern schon längst aus dem „Newski Golos" und aus den Re-<br />

• Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 106/107. Die Rei. .


468 W. 3. <strong>Lenin</strong><br />

den der Mitglieder eurer „Initiativgruppe" bekannt ist, hat bewirkt, daß<br />

die Petersburger Arbeiter euch mit berechtigtem Haß und Verachtung<br />

begegnen. Ein einzelner Streik kann unpassend sein oder zu einem unpassenden<br />

Augenblick ausgelöst werden. Aber angesichts einer der größten<br />

Bewegungen der Welt, die fast eine Million Proletarier auf die Beine<br />

gebracht hat, von „Streikspielerei" reden, das können nur Liberale und<br />

Konterrevolutionäre!<br />

Häufige Streiks können die Arbeiter entkräften. Es ist durchaus möglich,<br />

daß man dann zu kürzeren Streiks, zu besser vorbereiteten Demonstrationen<br />

aufrufen muß. Aber die Ereignisse vom 15. November sind<br />

doch gerade darum so bemerkenswert, weil sie einen neuen Fortschritt in<br />

der Demonstrationsbewegung bedeuten!<br />

Anstatt ehrlich euren Fehler zu bekennen (denn ihr habt euch in bezug<br />

auf die Bedeutung des 15. November offensichtlich geirrt), habt ihr Liquidatoren<br />

in der Art unverfrorenster Liberaler angefangen, vom „politischen<br />

Analphabetentum" des revolutionären Aufrufs zu reden, ihr, die<br />

ihr die Anfangsgründe der liberalen Politik wiederkäut!<br />

Mögen die Arbeiter darüber urteilen, was die schmeichlerischen <strong>Red</strong>en<br />

der Liquidatoren über ihre „Einheit" mit der Partei wert sind, wenn sie<br />

in einer Zeit, in der die revolutionären Streiks und Demonstrationen beginnen<br />

und sich entwickeln, den Kampf gegen sie aufnehmen, wenn sie in<br />

der legalen Presse auf die illegalen Aufrufe schimpfen!!<br />

Es gibt übrigens einen tieferen Grund für den Feldzug der Liquidatoren<br />

gegen die Streiks. Die Liquidatoren sind Sklaven der Liberalen. Den Liberalen<br />

aber geht die Hartnäckigkeit der revolutionären Streiks tatsächlich<br />

wider den Strich. Der „progressistische" Fabrikant hat angefangen zu<br />

knurren, ja, er gerät sogar in Rage. Den Miljukow wurde es Angst um die<br />

Ungestörtheit ihres „Blödes" mit Rodsjanko.<br />

Die Politik der Liquidatoren dient der Unterordnung der Arbeiter unter<br />

die Liberalen. Die marxistische Politik erhebt die Arbeiter zu Führern<br />

der Bauernschaft. Darüber kann man nicht legal sprechen, ihr Herren<br />

Liquidatoren, aber darüber nachdenken und davon sprechen muß, wer<br />

revolutionärer Sozialdemokrat sein will.<br />

Im freien, konstitutionellen Europa dient der politische Streik bislang


Die Enttvicklung des rev. Streiks und der Straßendemonstrationen 469<br />

(solange die sozialistische Revolution noch nicht begonnen hat) dem Kampf<br />

um einzelne Reformen. Im versklavten, asiatischen, zaristischen Rußland,<br />

das der nächsten bürgerlich-demokratisdben Revolution entgegengeht, ist<br />

der politische Streik das einzige ernsthafte Mittel, die Bauernschaft und<br />

den besten Teil der bäuerlichen Armee in Bewegung zu bringen, aufzurütteln,<br />

in Aufruhr zu bringen und zum revolutionären Kampf zu mobilisieren!<br />

Zum Glück für Rußland ist die Zeit schon vorbei, da es außer heldenhaften<br />

Einzelgängern, Volkstümlern, niemanden gab, der „ins Volk<br />

ging". Es vergeht die Zeit, da auf sich gestellte Terroristen sagen konnten,<br />

sie würden das Volk durch den Terror „erwecken". Rußland ist schon aus<br />

diesen traurigen Zeiten heraus. Das revolutionäre Proletariat hat 1905<br />

einen anderen „Weg ins Volk", ein anderes Mittel gefunden, die Massen<br />

in die Bewegung einzubeziehen.<br />

Dieses Mittel ist der revolutionäre Streik, der beharrliche Streik, der<br />

von Ort zu Ort, von einem Ende des Landes aufs andere übergreift, der<br />

wiederholte Streik, der Streik, der die Zurückgebliebenen durch den<br />

Kampf um wirtschaftliche Verbesserungen zu neuem Leben emporhebt,<br />

der Streik, der jeden herausragenden Gewalt- und Willkürakt und jedes<br />

Verbrechen des Zarismus brandmarkt und geißelt, die Streikdemonstration,<br />

die in den Straßen der Hauptstadt das rote Banner entfaltet, die die<br />

revolutionären <strong>Red</strong>en und die revolutionären Losungen in die "Menge t in<br />

die Volksmassen trägt.<br />

Einen solchen Streik kann man nicht künstlich hervorrufen, aber man<br />

kann ihn auch nicht aufhalten, wenn er Hunderttausende erfaßt hat.<br />

Mag der Liberale, dadurch gerührt, daß man ihn auf einen Sessel neben<br />

Rodsjanko „persönlich" gesetzt hat, den Arbeitern sagen: „Brüder! Nur<br />

keine revolutionären Ausbrüche, sucht einen anderen Weg, widmet euch<br />

der friedlichen Gewerkschaftsbewegung, bereitet euch ernsthaft auf eine<br />

legale europäische Partei vor, wiegelt nicht die Bauern auf, vergeudet<br />

nicht eure Energie auf Streiks, sonst werden ,wir' aufhören, mit euch zu<br />

sympathisieren!"<br />

Die Arbeiter werden solche <strong>Red</strong>en einzuschätzen und sie selbst im Gewand<br />

„beinahe marxistischer" Formulierungen eines beliebigen Skribenten<br />

vom „Lutsch" zu erkennen wissen.<br />

Die Arbeiter werden ihr ganzes Augenmerk darauf richten, den spontan<br />

wachsenden revolutionären Streik zu unterstützen, zu verstärken, zu


470 19.1. <strong>Lenin</strong><br />

entwickeln, ihn bewußt voranzutreiben, um die Bauern und die Truppen<br />

auf den Aufstand vorzubereiten. Wenn die Streiks die Arbeiter entkräften,<br />

muß man sie abwechselnd durchführen, indem man die einen ausruhen<br />

läßt und die, die sich erholt haben, oder „frische" Kräfte in den<br />

Kampf führt. Man muß kürzere Streiks organisieren. Manchmal muß man<br />

Streiks durch Demonstrationen ersetzen. Aber das wichtigste ist, daß die<br />

Streiks, die Kundgebungen, die Demonstrationen nicht abreißen, daß die<br />

ganze Bauernschaft und die ganze Armee von dem beharrlichen Kampf<br />

der Arbeiter erfahren, daß das Dorf, selbst das entlegenste, sieht, daß in<br />

den Städten Unruhe herrscht, daß sich „ihre Heute" erhoben haben, daß<br />

sie auf Leben und Tod kämpfen, daß sie für ein besseres Leben kämpfen,<br />

für höheren Lohn, für die Beendigung der Ausschreitungen und der Willkür<br />

der Behörden, für die Übergabe der Gutsbesitzerländereien an die<br />

Bauern, für den Sturz der Gutsherrenmonarchie des Zaren und für die<br />

Republik. Die dumpfe Erbitterung und das verhaltene Murren des Dorfes<br />

zusammen mit der Empörung der Kaserne müssen im revolutionären<br />

Streik der Arbeiter ein Anziehungszentrum finden. Daran muß unermüdlich<br />

gearbeitet werden, und wir werden den Tag erleben, an dem das Proletariat<br />

gemeinsam mit der Bauernschaft und den Truppen die Gutsbesitzer<br />

zu Boden wirft und die Zarenmonarchie durch den Volksaufstand<br />

stürzt.<br />

PS. Der „Lutsch" macht Fortschritte: nach dem freimütigen W. A. (Nr.<br />

56) der Diplomat Th. D." 8 (Nr. 65). Aber trotz aller „Diplomatie" ist der<br />

Sinn der <strong>Red</strong>en Th. D.s derselbe: gegen den revolutionären Streik! Wir<br />

haben es mit einem reinrassigen Liberalen zu tun, dem nicht einmal der<br />

Qedanke kommt, daß die Streiks die Bauern aufrütteln, sie zum Aufstand<br />

führen, die revolutionäre Agitation unter den Massen entwickeln und die<br />

Armee aufrütteln, daß man von den Streiks (insofern sie entkräften) zu<br />

Straßendemonstrationen usw. übergehen muß.<br />

Die platten liberalen Phrasen Th. D.s vom „Kampf um das Organisationsrecht"<br />

als „nächste Aufgabe" - eine konstitutionelle Reform „auf<br />

der Tagesordnung" unter Treschtschenkow! - das ist die einzige Tarnung<br />

des Kampfes des „Lutsch" gegen die revolutionären Streiks. Das ist wenig,<br />

ihr Herren Liquidatoren!<br />

„Sozial-Ttemokrat" Nr. 30, "Na


471<br />

URSPRÜNGLICHES POSTSKRIPTUM<br />

ZU DEM ARTIKEL<br />

„DIE ENTWICKLUNG DES REVOLUTIONÄREN STREIKS<br />

UND DER STRASSENDEMONSTRATIONEN" 119<br />

Wir lenken die besondere Aufmerksamkeit der Sozialdemokraten auf<br />

die „Taktischen Notizen" von Th. D. im „Lutsch". Wie rasch hat sich<br />

der Anflug des zur Schau getragenen Versöhnlertums und der „Vereinigungs"phrasen<br />

im Geiste Trotzkis verflüchtigt! Wie deutlich zeigt sich die<br />

reale Richtung des „Lutsch" - das nackte Liquidatorentum!<br />

In dem legalen Organ bekämpft Th. D. systematisch nicht nur die revolutionären<br />

Massenstreiks (von einem Aufstand ganz zu schweigen), sondern<br />

auch jede revolutionäre Agitation unter den Massen. Im Grunde genommen<br />

geht Th. D. viel weiter als W. A. (im „Lutsch" Nr. 56), wobei eiserne<br />

nahe ideologische Verwandtschaft mit dem bundistischen „Streichen"<br />

der Revolution verrät. Dahin also führt der liquidatorische Verzicht auf<br />

die direkte, klare, förmliche „Einschätzung der Lage": in der Tat hält sich<br />

Th. D. gerade an die Larinsche Einschätzung, wenn er die objektiven Bedingungen<br />

leugnet, die von den Arbeitern die Organisation für die Revolution,<br />

für die Einbeziehung der Massen im allgemeinen und der Bauernschaft<br />

im besonderen in die revolutionäre Bewegung verlangen.<br />

Auf die Artikel von Th. D. werden wir noch zurückkommen.<br />

Qesdhrieben im Januar 1913,<br />

vor dem 12. (25.).<br />

Zum erstenmal veröfientlidbt. Tiaän dem Manuskript.


472<br />

DIE SPALTUNG IN DER<br />

POLNISCHEN SOZIALDEMOKRATIE<br />

Die gegenwärtige Spaltung in der Polnischen Sozialdemokratie ist die<br />

Frucht eines Konflikts, der schon einige Jahre herrührt. Schon auf dem<br />

VI. Parteitag im Jahre 1908 zeigte sich zwischen dem Hauptvorstand einerseits<br />

und den Organisationen von Warschau und des Bezirks Dombrowa<br />

anderseits ein so schroffer Gegensatz, daß der Parteitag den Antrag ablehnte,<br />

dem Hauptvorstand das Vertrauen auszusprechen. Der Konflikt<br />

war organisatorischer Natur, hatte aber große politische Bedeutung. Die<br />

Peripherie forderte, auf die politische Position der Partei einwirken zu<br />

können, erstrebte die breite Erörterung aller ihrer Schritte durch die Organisationen.<br />

Der Hauptvorstand blieb dennoch in den Händen derselben Leute.<br />

Und seine Mehrheit mit dem nicht unbekannten Tyszka an der Spitze,<br />

änderte nicht ihre Taktik, wobei sie sich die Schwächung der Partei, die<br />

Verhaftungen und die Bedingungen der Konterrevolution zunutze machte.<br />

In der SDAPR wirtschaftete und intrigierte Tyszka im Namen der SDPuL,<br />

ohne nach deren Willen auch nur zu fragen. In der Politik der Partei begann<br />

eine Ära der Prinzipienlosigkeit und der Schwankungen, zum Beispiel<br />

in der Frage der Gewerkschaften, der Stellung zur PPS, der Taktik der<br />

PSD innerhalb der SDAPR. Die Genossen, die die Widersprüche in der<br />

Politik des Hauptvorstands aufdeckten und eine konsequente prinzipielle<br />

Linie forderten, brachte der Hauptvorstand zum Schweigen, wobei er eine<br />

Diskussion in der Presse nicht zuließ und, was noch schlimmer ist, ständig<br />

versprach, die Diskussion „in nächster Zeit" zu eröffnen und dann auch<br />

gleichzeitig die Proteste der Genossen gegen diese Taktik zu veröffentlichen.<br />

Die Gegner Tyszkas im Hauptvorstand selbst, alles alte, der ganzen<br />

Partei gut bekannte Funktionäre, wurden einer nach dem andern<br />

hinausgedrängt. Der eine erklärte eine Zusammenarbeit mit Tyszka für


Df'e Spaltung in der Polnischen Sozialdemokratie 473<br />

unmöglich und verzichtete daher auf seine Wiederwahl schon auf dem<br />

VI. Parteitag, der andere wurde 1909 hinausgedrängt, der dritte verzichtete<br />

auf die Mitarbeit im Hauptvorstand im Jahre 1911.<br />

Aber mit dem Aufschwung der Bewegung und der Belebung seit Anfang<br />

1911 begann sich die Unzufriedenheit auch in den unteren Organisationen<br />

bemerkbar zu machen. An die Spitze der „Revolte" trat die<br />

Warschauer Organisation, die wichtigste und stärkste und, was die Hauptsache<br />

ist, die in revolutionärer Hinsicht standhafteste Organisation, die<br />

von 1905 bis heute den linken Flügel der Polnischen Sozialdemokratie<br />

einnimmt.<br />

Der Hauptvorstand wurde natürlich unruhig und traf Vorbereitungen,<br />

um eine Opposition zu „unterbinden". Das Signal zur Attacke bildete die<br />

Konferenz der Warschauer Bezirke im Dezember 1911. Sie wagte es, für<br />

die bevorstehende Parteikonferenz eine stärkere Vertretung des „Landes"<br />

zu fordern, d. h. also - welch frevelhafter Gedanke! - die Schwächung des<br />

Einflusses des Hauptvorstands auf der Konferenz. Aber das wäre noch<br />

wenig: eine solche Resolution hatte auch die Konferenz von Lodz angenommen.<br />

Die Warschauer Konferenz handelte frevelhafter: sie zeigte,<br />

daß sie das nicht von ungefähr forderte, sondern dabei einen polilisdoen<br />

Zwedk verfolgte. Sie nahm einige Tyszka nicht genehme politische Resolutionen<br />

an: sie brachte unter anderem ihre Unzufriedenheit darüber zum<br />

Ausdruck, daß der Hauptvorstand ihr keinen Rechenschaftsbericht über<br />

seine Tätigkeit erstattet hatte, forderte, daß der Hauptvorstand die Partei<br />

über seine Tätigkeit innerhalb der SDAPR unterrichte, daß er seine<br />

„russische" Politik nicht vor den polnischen Arbeitern verheimliche, usw.<br />

Ein offener Kampf brach aus. Tyszka ließ eine Reihe von „Zirkularen"<br />

und „Erklärungen" vom Stapel. Er „erklärte", daß 1. die Warschauer<br />

Organisation das Parteistatut mit Füßen trete und die Spaltung anstrebe,<br />

2. daß ihre Resolutionen Zeugnis seien von Boykottismus, Otsowismus<br />

und Anarchismus, 3. daß sie keinerlei ideologische Meinungsverschiedenheiten<br />

mit dem Hauptvorstand habe, die Spaltung also jeglicher politischen<br />

Grundlage entbehre, 4. daß eine Warschauer Organisation nicht existiere,<br />

die Konferenz fiktiv gewesen sei, es also eine Spaltung weder gebe noch<br />

gegeben habe, 5. daß die Warschauer Organisation es nicht fertiggebracht<br />

habe, auch nur ein einziges Flugblatt selbständig herauszugeben, und die<br />

ganze publizistische Arbeit dem Hauptvorstand überlasse; daß sie sich<br />

31 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>


474<br />

illegitim einen eigenen spalterisdien technischen Apparat geschaffen habe<br />

und eigene Flugblätter herausgebe. Tyszka charakterisierte auch persönlich,<br />

mit familiären Details, ein paar Warschauer „intellektuelle Intriganten"<br />

und erklärte, daß sie die Spaltung bewirkt hätten, in der Organisation<br />

aber weder arbeiteten noch arbeiten.<br />

Als Tyszka schließlich sah, daß die Warschauer Organisation nicht nachgibt,<br />

beschloß er, „heroische" Mittel ins Spiel zu bringen. Er beschloß,<br />

eine fiktive Konferenz einzuberufen und auf ihr die Opposition nicht zuzulassen<br />

- d. h. die große Mehrzahl der im Lande arbeitenden Genossen.<br />

Zu diesem Zweck erklärte Tyszka die stärkste, die Warschauer Organisation<br />

für... „aufgelöst", und mit Hilfe von zwei, drei Agenten Tyszkas<br />

wurde eine gesonderte spalterische „Warschauer Organisation" gebildet.<br />

Aber das Empörendste ist die „Motivierung", mit der Tyszka die Warschauer<br />

Organisation „aufgelöst" hat. Tyszka erklärte, diese ihm nicht<br />

willfährige Organisation sei nichts anderes als das Werkzeug einer Polizeiprovokation.<br />

Nicht eine, auch nicht die geringste, ernst zu nehmende Tatsache,<br />

die das bestätigen würde, hat Tyszka bisher anführen können.<br />

"Nicht einen einzigen "Namen auch nur einer verdächtigen Person hat er<br />

veröffentlicht. Mehr noch: um sich den Weg für einen Rückzug frei zu halten,<br />

schrieb Tyszka feige in einer Erklärung an das Internationale Büro,<br />

es sei sehr leicht möglich, daß sich in Warschau, wie audb in jeder anderen,<br />

unter den jetzigen Bedingungen arbeitenden Organisation, die Provokation<br />

eingenistet habe.<br />

Aber Tyszka erachtete es für richtig, die Warschauer Organisation<br />

„aufzulösen" und sogar zu erklären, sie stehe außerhalb der SD APR. Wie<br />

der Leser sieht, ist das schon kein Eraktionskampf mehr, sondern geradezu<br />

kriminell.<br />

Begreiflich, daß der außer Rand und <strong>Band</strong> geratene Tyszka mit diesem<br />

Schritt eine noch zehnmal größere Empörung auslöste. Die von Tyszka<br />

selbst eingesetzte Kommission, die untersuchen sollte, ob es sich um eine<br />

Provokation handle, wandte sich gegen ihn. Tyszka antwortete mit dem<br />

Ausschluß dreier ihrer Mitglieder, langjähriger und allgemeines Vertrauen<br />

genießender Funktionäre der PSD, aus der Partei. 44 alte Funktionäre<br />

veröffentlichten einen flammenden Protest gegen die jeden Revolutionär<br />

beleidigenden Handlungen des „Hauptvorstands". Im Inland wie im Ausland<br />

fordert man überall, daß sich der „Hauptvorstand" verantworten


Die Spaltung in der Polnischen Sozialdemokratie 475<br />

solle. Die Warschauer Organisation hat sich natürlich nicht Tyszka zuliebe<br />

aufgelöst, sondern setzt ihre unter den jetzigen Bedingungen so schwierige<br />

Arbeit fort. Die Wahlen in der Arbeiterkurie von Warschau wurden gerade<br />

von der „Opposition" glänzend durchgeführt. Die Wahlen brachten<br />

der Sozialdemokratie die absolute Mehrheit über alle übrigen Parteien.<br />

Von den 34 sozialdemokratischen Bevollmächtigten sind 31 Anhänger der<br />

Opposition, 2 Schwankende, und nur einer ist Tyszka-Anhänger. Dafür<br />

wurde in der Provinz, wo der Hauptvorstand und seine Anhänger „arbeiten",<br />

die Wahlkampagne allenthalben verloren.<br />

Es ist zu hoffen, daß das kleinliche, unwürdige Gezänk, das Tyszka mit<br />

seiner Haltung ausgelöst hat, bald der Vergangenheit angehören wird und<br />

die prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten klarer hervortreten werden.<br />

Konkreteren Ausdruck finden wird auch der Wunsch der polnischen sozialdemokratischen<br />

Arbeiter, engere organisatorische Verbindungen mit<br />

den russischen Genossen herzustellen. Tyszkas Haltung in der SDAPR<br />

hat dazu geführt, daß der Hauptvorstand sich vom Leben der Gesamtpartei<br />

völlig isoliert hat, daß er keinen einzigen Bundesgenossen in der<br />

SDAPR hat, wobei beide Seiten (die Liquidatoren wie die Antiliquidatoren)<br />

gleichermaßen die Achseln zucken über die sonderbare undpnnzipien-<br />

Iose „Taktik" Tyszkas und seines „Hauptvorstands".<br />

Die Polnische Sozialdemokratie macht eine schwere Zeit durch. Aber<br />

der Ausgang zeichnet sich bereits ab. Alle gesunden Elemente der PSD<br />

schließen sich zusammen. Und nicht mehr fern ist die Zeit, da die PSD<br />

eine Organisation von parteitreuen sozialdemokratischen Arbeitern sein<br />

wird, die ihre eigenen Prinzipien und ihre eigene Taktik haben, nicht aber<br />

ein Spielzeug in den Händen eines prinzipienlosen Intriganten.<br />

Wir halten es für notwendig, die Mitteilung über die Spaltung in der<br />

PSD durch einige Meldungen über die weitere Geschichte der „Provokations"beschuldigung<br />

zu ergänzen. Darüber teilt man uns folgendes mit:<br />

Rosa Luxemburg (Mitglied des Internationalen Sozialistischen Büros,<br />

Vertreterin der PSD) richtete an das ISB ein Schreiben, wonach das Warschauer<br />

Komitee aus Spaltern bestehe und sich in den Händen der Oöirana<br />

befinde, mit der Mitteilung, daß das nicht zu veröffentlichen sei!<br />

Zugleich aber veröffentlichte Tyszka selbst diese Niedertracht in der<br />

polnischen sozialdemokratischen Literatur!!


476 W. 1. Centn<br />

<strong>Lenin</strong>, der vom Sekretär des ISB, Huysmans, eine Abschrift des Schreibens<br />

Tyszkas erhielt, schickte natürlich einen Brief an Huysmans, in dem<br />

er erklärte, daß dies ein „wortbrüchiger" Racheakt sei, daß Malecki und<br />

Hanecki, ehemalige Mitglieder des ZK, allen in der Partei bekannt seien,<br />

daß die von Tyszka selbst eingesetzte Untersuchungskommission keine<br />

Provokation festgestellt habe, daß es die schmutzigste und gemeinste<br />

Sache sei, von einer Provokation im Kreise politischer Gegner zu schreiben,<br />

ohne Namen zu nennen.*<br />

Der Hauptvorstand antwortete mit bloßem Gesehimpfe.<br />

Es kam der Basler Kongreß. Die Delegation des Warschauer Komitees<br />

wurde einstimmig von allen Delegierten der SDAPR anerkannt, von den<br />

Liquidatoren, den Letten, den „Wperjod"-Leuten, den Bundisten und den<br />

Trotzkisten!<br />

Die Wahlen in Warschau haben ergeben, daß beide Arbeiterwahlmänner<br />

sozialdemokratische Anhänger des Warschauer "Komitees, Gegner<br />

Tyszkas und Co., sind.<br />

Der fiktive Charakter der Parallelorganisation Tyszkas ist vor aller<br />

A«gen erwiesen. Der ehrliche Weg - die Provokationsbeschuldigung zurückzunehmen<br />

- ist nicht Tyszkas und seines Hauptvorstands Sache.<br />

Aber am besten sind unsere Liquidatoren und ihr OK, die die „Einheit"<br />

lieben. Der „Lutsch", der sich offiziell der Augustkonferenz anschließt,<br />

hat Tyszkas niederträchtige Lüge zweimal abgedruckt!!<br />

Das erstemal tat es ein Herr, der sich hinter Initialen versteckte. Das<br />

zweitemal - Herr Aagustowski m .<br />

Schöne Helden! Sie verbreiten eine Niedertracht und - verstecken sich<br />

hinter dem Rücken des Hauptvorstands. Wir haben damit nichts zu tun,<br />

wir tragen keine Verantwortung, wir verbreiten keine Niedertracht, wir<br />

berichten „nur" über die Tatsache der Veröftentlidbung (der Niedertracht)<br />

im Namen des Hauptvorstands!!<br />

Martow, Trotzki, Liber, die Letten und Co. verbreiten die Tyszkasche<br />

Niedertracht anonym und verstecken sich hinter dem Rücken Tyszkas -<br />

in der legalen Presse, wo man keine Dokumente zitieren darf!!<br />

„Sozial-Vemokrat" SVr. 30, 5V«d> dem 7ext des<br />

12. (25J Januar 1913. „Sozial-Demohrat"<br />

* Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 266/267. Die ~R.ed.


ÜBER DEN BOLSCHEWISMUS 121<br />

477<br />

Die Entstehung des Bolschewismus hängt untrennbar mit dem Kampf<br />

des sogenannten „Ökonomismus" (Opportunismus, der. den politischen<br />

Kampf der Arbeiterklasse und ihre führende Rolle negierte) gegen die<br />

revolutionäre Sozialdemokratie in den Jahren <strong>18</strong>97-1902 zusammen. Der<br />

Ökonomismus, den der „Bund" unterstützte, wurde besiegt und verdrängt<br />

durch die bekannte Kampagne der alten „Iskra" (München, London<br />

und Genf, 1900-1903), die auf den Grundlagen des Marxismus und<br />

der revolutionären sozialdemokratischen Prinzipien die sozialdemokratische<br />

Partei (gegründet <strong>18</strong>98, dann aber durch Verhaftungen zerschlagen)<br />

wiederherstellte. Auf dem II. Parteitag der SDAPR (August 1903) spalteten<br />

sich die Iskristen: ihre Mehrheit stand zu den Prinzipien und der<br />

Taktik der alten „Iskra", die Minderheit jedoch schwenkte zum Opportunismus<br />

ein, wobei sie von den früheren Feinden der „Iskra", den Ökonomisten<br />

und Bundisten, unterstützt wurde. Daher die Bezeichnungen: Bolschewismus<br />

und Menschewismus (Bolschewiki und Menschewiki)*. In den<br />

Jahren 1903 und 1904 war der Opportunismus der Menschewiki in Organisationsfragen<br />

Hauptgegenstand des Kampfes. Von Ende 1904 an<br />

wurden die Differenzen in der Taktik zur Hauptfrage. Der „Plan derSemstwokampagne"<br />

(Herbst 1904) der neuen, an die Menschewiki übergegangenen<br />

„Iskra" vertrat die Taktik, „die Liberalen nicht einzuschüchtern".<br />

Das Jahr 1905 ließ die taktischen Meinungsverschiedenheiten sich<br />

endgültig herausbilden (der Parteitag der Bolschewiki, der III. Parteitag<br />

der SD APR im Mai 1905 in London, und zu gleicher Zeit die „Konferenz"<br />

der Menschewiki in Genf). Die Menschewiki paßten die Taktik der Arbeiterklasse<br />

dem Liberalismus an. Die Bolschewiki bezeichneten als Ziel<br />

der Arbeiterklasse in der bürgerlich-demokratischen Revolution: sie zu<br />

* Abgeleitet von russ. bolschinstwo - die Mehrheit, mensdünstwo - die<br />

Minderheit. Der Vbers.


478 W. 1 <strong>Lenin</strong><br />

Ende zu führen, die demokratische Bauernschaft mit sich zu reißen, entgegen<br />

den Verrätereien des Liberalismus. Die Hauptdifferenzen beider<br />

Strömungen in der Praxis im Herbst 1905: die Bolschewiki sind für den<br />

Boykott der Bulyginschen Duma, die Menschewiki für die Beteiligung. Im<br />

Frühjahr 1906 - dasselbe hinsichtlich der "Witteschen Duma. In der Zeit<br />

der I.Duma: die Menschewiki sind für die Unterstützung der Losung:<br />

Duma-(Kadetten-)Kabinett, die Bolschewiki für die Losung: Exekutivkomitee<br />

der Linken (Sozialdemokraten und Trudowiki) zur Organisierung<br />

des unmittelbaren Kampfes der Massen usw. Eine ausführlichere Darlegung<br />

ist nur in der ausländischen Presse möglich. Auf dem Stockholmer<br />

Parteitag (1906) siegten die Menschewiki, auf dem Londoner (1907) die<br />

Bolschewiki. 1908/1909 spalteten sich von den Bolschewiki die „Wperjod"-<br />

Leute ab (Machismus in der Philosophie und „Otsowismus" oder Boykott<br />

der III. Duma in der Politik: Bogdanow, Alexinski, Lunatscharski u. a.).<br />

In den Jahren 1909-1911, im Kampf gegen sie (vergleiche W. Iljin,<br />

„Materialismus und Empiriokritizismus", Moskau 1909*), und auch gegen<br />

die Liquidatoren (die illegale Partei negierende Menschewiki) näherten<br />

sich der Bolschewismus und die parteitreuen Mensdbewiki (Plechanow<br />

u. a.), die dem Liquidatorentum entschlossenen Kampf angesagt hatten,<br />

einander an. Die Organe der Bolschewiki: „Wperjod" und „Proletari"<br />

(Genf 1905), „Nowaja Shisn" (St. Petersburg 1905), „Wolna", „Echo"<br />

u. a. (St. Petersburg 1906), „Proletari" in Finnland (1906/1907), in Genf<br />

(1908) und Paris (1909), „Sozial-Demokrat" in Paris (1909-1912).<br />

Eine Zusammenstellung einiger Hauptwerke des Bolschewismus findet<br />

sich bei W. Iljin „12 Jahre", St. Petersburg 1908; ebenda detailliertere<br />

Literaturangaben. Die wichtigsten Publizisten der Bolschewiki: G. Sinowjew,<br />

W. Iljin, J. Kamenew, P. Orlowski u. a. In den letzten Jahren<br />

waren Bolschewiki die Hauptmitarbeiter der Zeitungen: „Swesda"<br />

(1910-1912), „Prawda" (1912) in St. Petersburg und der Zeitschriften<br />

„Mysl" (1910) in Moskau, „Prosweschtschenije" (1911-1913) in St. Petersburg.<br />

Qesdirieben im Januar 1913, vor dem 12. (25J.<br />

Zuerst veröffentlidit 1913 in dem 71aä> dem Text des Buäies.<br />

Bucfc: 5V. A. Rubakin, .'Unter Büdiern",<br />

Bd. II, 2. Auflage, Moskau.<br />

* Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 14. Die <strong>Red</strong>.


DIE BEDEUTUNG DER WAHL POINCARES<br />

479<br />

Der neue Präsident der französischen Republik wird eifrig beglückwünscht.<br />

Man blicke nur in das pogromistisdie Schwarzhunderterblatt<br />

„Nowoje Wremja" und in die liberale „Retsch", was für eine rührende<br />

Einmütigkeit in den Glückwünschen für den Präsidenten Poincare,<br />

in den Ausdrücken ihrer Befriedigung!<br />

Die Einschätzung der Fragen der Außenpolitik und der Lage der Dinge<br />

in den westlichen Ländern zeigt besonders anschaulich die tiefe innere<br />

Verwandtschaft unserer Sdrwarzhunderter und unserer Liberalen. Wenn<br />

die einen wie die anderen den „nationalen" Präsidenten Poincare begrüßen,<br />

der durch den Bund der Großbourgeoisie und der klerikal-feudalen<br />

Reaktion in Frankreich gewählt worden ist, so wird jedem klar, daß<br />

die Schwarzhunderter und die Liberalen nur in den Auffassungen über die<br />

Methoden des Kampfes gegen den Sozialismus auseinandergehen.<br />

Aber die Wahl Poincares ist von erheblich größerem Interesse als die<br />

eifrigen „Gratulanten" annehmen. Die klassenbewußten Arbeiter, die<br />

über die Bedeutung dieser Wahl nachdenken, stellen drei Umstände fest.<br />

Erstens bedeutet die Wahl Poincares noch einen Schritt vorwärts in der<br />

Verschärfung des Klassenkampfes, der Frankreich bevorsteht. Poincare'<br />

war Premierminister in einer Kammer, die eine radikale Mehrheit hatte.<br />

Aber zum Präsidenten wurde er gegen den radikalen Kandidaten Pams<br />

gewählt, wurde er mit Hilfe der klerikal-feudalen Reaktion gewählt,<br />

wurde er vom rechten Block gewählt.<br />

Was bedeutet das? In Frankreich ist die letzte bürgerliche Partei, die<br />

Radikalen, an der Macht Sie unterscheidet sich immer weniger von der<br />

„Reaktion". Gegen das sozialistische Proletariat schließt sich die gesamte


480 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />

Bourgeoisie, von der radikalen bis zur reaktionären, immer enger zusammen,<br />

und die Grenzen zwischen der einen und der anderen verwischen<br />

sich immer mehr. Besonders deutlich zeigte sich das bei der Wahl Poincares.<br />

Dieser Zusammenschluß aber ist ein untrügliches Merkmal für die<br />

äußerste Verschärfung der Klassenwidersprüche.<br />

Bezeichnend ist zweitens die Karriere Poincares - die typische Karriere<br />

eines bürgerlichen Geschäftsmannes, der sich der Reihe nach in der Politik<br />

an alle Parteien und „außerhalb" der Politik an alle Reichen verkauft. Von<br />

Beruf war Poincare mit 20 Jahren Advokat. Mit 26 Jahren war er Kabinettchef,<br />

mit 33 Jahren Minister. Die Reichen und Finanzmagnaten in<br />

allen Ländern schätzen die politischen Verbindungen solch geriebener<br />

Karrieristen sehr hoch. „Glänzender" Advokat und Abgeordneter - geriebener<br />

Politiker, das sind in den „zivilisierten" Ländern Synonyme.<br />

Bezeichnend ist drittens die Demonstration der französischen Sozialisten<br />

bei der Wahl Poincares. Die Stimmabgabe für Vaülant war eine<br />

Demonstration zu Ehren der Kommune. Vaillant ist die Verkörperung des<br />

Andenkens an sie. Man braucht nur einmal zu sehen, wie die Pariser<br />

Arbeiter den weißhaarigen Vaillant begrüßen, wenn er auf der Tribüne erscheint,<br />

um das zu verstehen.<br />

Und in dem gleichen Versailles, wo im Jahre <strong>18</strong>71 das bürgerliche<br />

Frankreich das Vaterland an Bismardc verkauft hat, um den Aufstand des<br />

Proletariats zu unterdrücken - in demselben Saal, in dem vor 42 Jahren<br />

die Schwarzhunderter-Gutsbesitzer Frankreichs laut nach dem König<br />

schrien, stimmten die Deputierten der Arbeiterklasse für den alten Kommunarden.<br />

„Trawda" SMV. i i, TJadb dem 7ext der „Trawda".<br />

15. Januar i9i3.<br />

'Untersdhrifi: W. 7.


OFFEN GESAGT<br />

481<br />

Unsere Zeitung berichtete bereits, daß der Reichsrat die Gesetzesvorlage<br />

der Duma über die Einführung des Semstwos im Gouvernement<br />

Archangelsk zu Fall brachte. Aber auf die Bedeutung dieser Tatsache, die<br />

bei all ihrer Geringfügigkeit dennoch außergewöhnlich charakteristisch<br />

ist, muß man noch näher eingehen.<br />

Fast dn halbes Jahrhundert existiert das vom Adel beherrschte Semstwo,<br />

das unbedingt dem Gutsbesitzer feudalen (fronherrlichen) Typs die Vorherrschaft<br />

sichert. Und mir in einigen Gouvernements, z. B. im Gouvernement<br />

Wjatka, wo es fast keinen Grundbesitz des Adels gibt, trägt das<br />

Semstwo einen mehr bäuerlichen Charakter; dafür ist es hier aber noch<br />

stärker als sonst in ein Netz aller möglichen bürokratischen Verbote, Behinderungen,<br />

Beschränkungen und Erläuterungen verstrickt. Ein solches,'<br />

wie es scheint unschädliches und beschnittenes Semstwo wird schon über<br />

ein halbes Jahrhundert lang auch im Gouvernement Archangelsk angestrebt.<br />

Und nun wurde der Beschluß der III. Duma, der Duma der Schwarzhunderter,<br />

der Gutsbesitzer und der Bourgeoisie über die Einführung des<br />

Archangelsker Semstwos vom Reichsrat zurückgewiesen. Welch überaus<br />

grelles Licht wirft diese „Kleinigkeit" auf das Wesen unseres „erneuerten"<br />

Systems! Welch ausgezeichnete Lektion über die Klassenwurzeln der<br />

Politik!<br />

Die Semstwogegner im Reichsrat argumentieren offen: Sehen Sie, dort<br />

gibt es keine Adligen. Im ganzen Gouvernement sind nur 2660 Desjatinen<br />

„privater" Grundbesitz - rief Herr Stisdiinsld, der Referent im Reichsrat,<br />

aus.


482 , "W. J. <strong>Lenin</strong><br />

Wenn es also keine adligen Gutsbesitzer gibt, so ist das „Volk" noch<br />

nicht einmal reif für die Ausbesserung der Straßen und die Errichtung von<br />

Krankenhäusern. Sind aber keine Gutsbesitzer da, so muß man sie auf<br />

direktem oder indirektem Wege ansiedeln.<br />

Ansiedeln - woher? Aus dem Zentrnm Rußlands, wo es ihrer zur<br />

Genüge gibt. Die Gutsbesitzer des zentralen Schwarzerdegebiets, wo die<br />

Spuren der Leibeigenschaft am frischesten sind, wo noch am stärksten die<br />

„Fron" (das auf der Abarbeit basierende Wirtschaftssystem) erhalten ist,<br />

wo Erzreaktionäre vom Schlage der Kursker ungeteilt herrschen, regieren<br />

und lenken - sie sind es, auf die man sich in staatlichen und öffentlichen<br />

Dingen stützen kann. In diesem Sinne ist die Stellung des Reichsrats zur<br />

Frage des Archangelsker Semstwos eine sehr aufschlußreiche und anschauliche<br />

Lektion über unser Staatswesen.<br />

.Vrawda" JVr. i3, Tiaäß dem 7ext der .Vrawda".<br />

i7.Januar i9i3.<br />

Unterschrift: W.


DAS KABINETT BRIAND<br />

483<br />

Der bekannte Renegat Briand, einstmals Ultrarevolutionär und Herold<br />

des „Generalstreiks", steht wiederum an der Spitze eines Ministeriums in<br />

Frankreich. Wie John Burns in England verriet er die Arbeiterklasse und<br />

verkaufte sich an die Bourgeoisie.<br />

Interessant ist die Zusammensetzung seines neuen Kabinetts. In ihm<br />

herrschen drei Mann: Jonnart - Etienne - Baudin. Was sind das für<br />

Figuren?<br />

Man werfe einen Blick in die liberalen Zeitungen, z. B. in die „Retsch"<br />

Nr. 11. Man wird einen höchst ausführlichen Bericht darüber finden, wo<br />

die Minister studiert haben and tätig gewesen sind. Man wird schamlose<br />

Reklame finden und das Bestreben zu schmeicheln: Jonnart - der Freund<br />

von König Eduard! Baudin - der Neffe eines Kommunarden!<br />

„Viel Gerede und Geschrei, aber kein Wort vom Wodka." 121 über das<br />

Wesen der Sache schweigt die „Retsch". Aber dieses Wesen ist sehr einfach:<br />

Alle drei sind eine ganz und gar durchtriebene und schamlose Gesellschaft<br />

von Finanzleuten und Abenteurern, fitienne war an allen schmutzigen<br />

Millionenskandalen beteiligt, angefangen mit "Panama. Er ist Fachmann<br />

in Finanzoperationen in den Kolonien - in der Art unserer baschkirischen<br />

Gebiete ... Jonnart beteiligte sich an dem nicht weniger „sauberen"<br />

Erwerb von Konzession für die überaus reichen Eisenerze in Ouenza<br />

(Afrika). Seine Sippschaft sitzt in den Aufsichtsräten der größten Aktiengesellschaften.<br />

Baudin ist Helfershelfer der Kapitalisten, der Unternehmer<br />

und Werftbesitzer. Er paßt gerade ins Marineministerium..., möglichst<br />

nahe den Aufträgen und Lieferungen für die Flotte!<br />

Nirgends bestätigen sich so deutlich wie in Frankreich die Worte von


484 IV. 1. <strong>Lenin</strong><br />

Marx: Die bürgerlichen Regierungen sind die Kommis der Kapitalisten-<br />

Hasse 123 . Und der große Fortschritt Frankreichs besteht darin, daß die<br />

Arbeiterklasse alle Lügenschleier weggerissen hat, daß sie das Unklare<br />

geklärt hat, daß sie „die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt hat,<br />

nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern<br />

damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche" 124 .<br />

.Vrawda" Nr. ii, Nado dem Text der „Vrawda".<br />

<strong>18</strong>. Januar i9i3.<br />

Unters&rift: J.


DIE ERGEBNISSE DER WAHLEN<br />

485<br />

Die Wahlkampagne zur IV. Duma hat die Einschätzung der historischen<br />

Situation bestätigt, die die Marxisten seit 1911 gegeben haben. Diese Einschätzung<br />

lief darauf hinaus, daß die erste Etappe in der Geschichte der<br />

russischen Konterrevolution beendet war. Angefangen hatte die zweite<br />

Etappe, die gekennzeichnet ist durch das Erwachen der „leichten Abteilungen"<br />

der bürgerlichen Demokratie (Studentenbewegung), durch eine<br />

offensive ökonomische und mehr noch nichtökonomische Arbeiterbewegung<br />

usw.<br />

ökonomische Depression, entschiedener Vorstoß der Konterrevolution,<br />

Zurückweichen und Zerfall der Kräfte der Demokratie, Entfesselung<br />

renegatenhafter, „wechistischer", liquidatorischer Ideen im „progressiven<br />

Lager" - das kennzeichnet die erste Etappe (1907-1911). Die zweite<br />

Etappe (1911-1912) hingegen ist in ökonomischer, politischer wie ideologischer<br />

Hinsicht durch entgegengesetzte Merkmale gekennzeichnet: Aufschwung<br />

der Industrie, Unfähigkeit der Konterrevolution zu weiterem<br />

Vorstoß mit der früheren Kraft oder Energie usw., Erwachen der Demokratie,<br />

das die Stimmungen des Wechismus, des Renegatentums, des Liquidatorentums<br />

sidb zu verstedken zwang.<br />

So sieht der allgemeine Hintergrund des Bildes aus, den man im Auge<br />

behalten muß, wenn man die Wahlkampagne des Jahres 1912 richtig einschätzen<br />

will.<br />

I. DIE WAHL„MACHEREI"<br />

Das am meisten in die Augen springende Merkmal der Wahlen zur<br />

IV. Duma ist die systematische Verfälschung dieser Wahlen durch die


486 l/V. 3. <strong>Lenin</strong><br />

Regierung. Wir verfolgen hier nicht das Ziel, eine Bilanz dieser „Wahlmacherei"<br />

zu ziehen; das hat völlig zur Genüge die gesamte liberale und<br />

demokratische Presse getan; davon spricht auch die ausführliche Anfrage<br />

der Kadetten in der IV. Duma; dieser Frage werden wir wahrscheinlich<br />

einen besonderen Artikel widmen können, sobald die umfangreichen und<br />

immer zahlreicher werdenden Belegmaterialien zusammengefaßt sein werden.<br />

Heute wollen wir lediglich die wichtigsten Ergebnisse der Wahl-<br />

„macherei" und ihre hauptsächliche politische Bedeutung festhalten.<br />

Mobilisierung der Geistlichkeit gegen die liberalen und oktobristischen<br />

Gutsbesitzer; Verzehnfadiung der Repressalien und skrupelloseste Gesetzesverletzung,<br />

gerichtet gegen die bürgerliche Demokratie in Stadt und<br />

Land; Versuche, der Sozialdemokratie mit denselben Mitteln die Arbeiterkurie<br />

zu entreißen - das sind die Hauptmethoden der Wahlmacherei im<br />

Jahre 1912. Das Ziel dieser ganzen Politik, die an die Politik des Bonapartismus<br />

erinnert, war die Bildung einer rechts-nationalistischen Mehrheit<br />

in der Duma, und dieses Ziel wurde bekanntlich nicht erreicht. Wir werden<br />

aber weiter unten sehen, daß es der Regierung gelungen ist, die alte<br />

Lage, wie sie in der III. Duma bestand, in unserem, man verzeihe den<br />

Ausdruck, Parlament zu „behaupten": in der IV. Duma gibt es weiterhin<br />

zwei Mehrheiten, die rechts-oktobristische und die oktobristisch-kadettische.<br />

Das Wahlgesetz vom 3. Juni 1907 „errichtete" das staatliche System<br />

der Verwaltung - und nicht nur der Verwaltung - auf dem Block der feudalen<br />

Gutsbesitzer mit den Spitzen der Bourgeoisie, wobei das erste<br />

soziale Element in diesem Block sein großes Übergewicht behielt, während<br />

über beiden Elementen die faktisch ungeschmälerte alte Macht stand. Darüber<br />

zu sprechen, welcherart die von der jahrhundertealten Geschichte der<br />

Leibeigenschaft usw. hervorgebrachte spezifische Natur dieser Macht war<br />

und bleibt, ist jetzt nicht die Gelegenheit. Jedenfalls zwangen die Umwälzung<br />

von 1905, das Fiasko des Alten und die offenen und machtvollen<br />

Aktionen der Massen und Klassen dazu, ein Bündnis mit diesen oder jenen<br />

sozialen Kräften zu suchen.<br />

Die Hoffnungen auf die „kleinen Leute", den Bauern, in den Jahren<br />

1905 und 1906 (Bulyginsches und Wittesches Wahlgesetz) waren zerstört.<br />

Das System des 3. Juni „setzte auf die Starken", auf die Gutsbesitzer und


Die Ergebnisse der Wahlen 487<br />

die Großen der Bourgeoisie. Und schon nach ganzen fünf Jahren haben<br />

die Erfahrungen der III. Duma auch diesen „Einsatz" erschüttert! Man<br />

kann sich keine größere Liebedienerei vorstellen als die der Oktobristen<br />

in den Jahren 1907-1912, und trotzdem konnten es auch die Oktobristen<br />

„nicht recht tun". Nicht einmal mit ihnen konnte die ihrer Natur nach<br />

ihnen so nahverwandte alte Macht (die sog. „Bürokratie") auskommen.<br />

Die bürgerliche Politik auf dem Lande (das Gesetz vom 9. November)<br />

und jede Förderung des Kapitalismus - alles das wurde von eben denselben<br />

Purisdikewitsch gelenkt, und die Ergebnisse waren kläglich. Das Purischkewitschregime,<br />

erneuert, repariert, aufgefrischt durch eine neue Agrarpolitik,<br />

durch ein neues System von Vertretungskörperschaften, fuhr fort,<br />

alle und jeden zu unterdrücken und die Entwicklung zu hemmen.<br />

Im System des 3. Juni hat sich ein Riß gezeigt. Die Wahl„macherei"<br />

wurde unvermeidlich, wie die Methoden des Bonapartismus historisch<br />

unvermeidlich sind, wenn eine feste, stabile, erprobte einheitliche soziale<br />

Stütze fehlt, wenn man zwischen ungleichartigen Elementen lavieren muß.<br />

Sind die demokratischen Klassen ohnmächtig oder durch zeitweilige Ursachen<br />

besonders geschwächt, so können solche Methoden einige Jahre<br />

lang von „Erfolgen" begleitet sein. Aber selbst das „klassische" Beispiel<br />

Bismarcks in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts oder Napoleons<br />

III. zeugt davon, daß es ohne die schroffsten Umwälzungen (in<br />

Preußen waren es die „Revolution von oben" und einige ausnehmend erfolgreiche<br />

Kriege) nicht abgeht.<br />

II. DIE NEUE DUMA<br />

Um die Ergebnisse der Wahlen festzustellen, wollen wir die offiziellen<br />

Angaben über die parteimäßige Zusammensetzung der IV. Duma nehmen<br />

und sie mit der III. Duma nicht nur am Ende ihres Bestehens (1912), sondern<br />

auch zu ihrem Beginn (1908) vergleichen. Wir erhalten das folgende<br />

aufschlußreiche Bild*:<br />

• Die Angaben sind folgenden Dumapublikationen entnommen: „Register"<br />

für das Jahr 1908, „Handbuch" für das Jahr 1912 und „Mitteilungsblatt der<br />

(TV.) Reichsduma", 1912, Nr. 14, vom 2. Dezember 1912, berichtigte Daten bis<br />

zum 1. Dezember 1912. - Die drei nationalen Gruppen sind: Polen, Belorussen<br />

und Mohammedaner.


488 W.1. <strong>Lenin</strong><br />

Rechte<br />

Nationalisten und gemäßigte Rechte<br />

Oktobristen<br />

Progressisten<br />

Kadetten<br />

Drei nationale Gruppen<br />

Trudowiki<br />

Sozialdemokraten<br />

Parteilose<br />

Insgesamt<br />

1908<br />

49<br />

95<br />

148<br />

25<br />

53<br />

26<br />

14<br />

19<br />

-<br />

429<br />

Dritte<br />

Duma<br />

1912<br />

46<br />

102<br />

120<br />

36<br />

52<br />

27<br />

14<br />

13<br />

27<br />

437<br />

Vierte<br />

JDmna<br />

65<br />

120<br />

98<br />

48<br />

59<br />

21<br />

10<br />

14<br />

7<br />

Die erste Schlußfolgerung aus diesen Angaben ist die, daß in der IV.<br />

Duma die früheren zwei Mehrheiten geblieben sind: die rechts-oktobristische<br />

mit 283 Stimmen (65 + 120 + 98) und die oktobristisdi-kadettische<br />

mit 226 Stimmen (98 + 48 + 59 + 21).<br />

Für die autokratische Regierung ist „ihre" Mehrheit in der Duma praktisch<br />

das Wichtigste. Der Unterschied zwischen der III. und der IV. Duma<br />

ist in dieser Hinsicht geringfügig. In der III. Duma bestand die rechtsoktobristische<br />

Mehrheit aus 292 Stimmen zu Beginn und aus 268 Stimmen<br />

am Ende. Jetzt liegt die Zahl in der Mitte zwischen beiden: 283.<br />

Doch ist der Rückgang der rechten Mehrheit vom Beginn bis zum Ende<br />

der III. Duma so bedeutend, daß die Regierung, wollte sie eine antokratische<br />

Regierung bleiben, zu den außerordentlichen Maßnahmen der<br />

Wahlmacherei greifen mußte. Diese Wahlmacherei ist kein Zufall und kein<br />

Abweichen vom System, wie es die Meiendorf, Maklakow und Co. gern<br />

darstellen, sondern eine Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung des<br />

„Systems".<br />

Ihr Herren Liberalen mit Maklakow an der Spitze, ihr redet von „Versöhnung<br />

der Macht mit dem Lande" (d. h. mit der Bourgeoisie)? Aber<br />

wenn das so ist, dann eins von beiden. Entweder sind eure Versöbnuncjsreden<br />

keine leeren Worte - dann müßt ihr auch die „Wahlmacherei" hinnehmen,<br />

denn das ist die reale Bedingung für eine Versöhnung mit der<br />

realen Macht. Ihr seid doch so große Liebhaber einer „Realpolitik"! Oder<br />

eure Proteste gegen die „Wahlmacherei" sind keine leeren Worte - dann<br />

442


Die Ergebnisse der Wahlen 489<br />

solltet ihr nicht von Versöhnung reden, sondern von etwas ganz, ganz<br />

anderem...<br />

Die zweite Mehrheit des Systems des 3. Juni, die oktobristisch-liberale,<br />

bestand aus 252 Stimmen zu Beginn und aus 235 am Ende der III. Duma<br />

und ist auf 226 in der IV. Duma gesunken. Im Grunde genommen ist also<br />

die „Wahlkampagne" der Regierung gelungen; die Regierung hat ihr Ziel<br />

erreicht, sie hat ihre Selbstherrschaft in der Praxis abermals bekräftigt.<br />

Denn das Geschrei über die rechts-nationalistische Mehrheit war nur Ausdruck<br />

des vor sich gehenden Schachers. In Wirklichkeit aber braucht die<br />

Regierung beide Mehrheiten, die beide auf konterrevolutionärem Boden<br />

stehen.<br />

Man kann nicht genügend Nachdrude legen auf diesen letzten Umstand,<br />

den die Liberalen vertuschen, um die Demokratie zu nasführen, und die<br />

liberalen Arbeiterpolitiker (Liquidatoren), weil sie nicht begreifen, was<br />

sie tun. Der Block der Kadetten mit den Oktobristen, der sich so deutlich<br />

bei der Wahl Rodsjankos abgezeichnet hat (und wohl noch deutlicher zutage<br />

getreten ist in den einfach unanständigen, sklavischen Phrasen der<br />

„Retsch" aus Anlaß der <strong>Red</strong>e Rodsjankos) - dieser Block ist keineswegs<br />

nur eine „technische" Angelegenheit. Er ist der Ausdruck der Einheit der<br />

konterrevolutionären Stimmungen der Bourgeoisie schlechthin, von Gutschkow<br />

bis Miljukow; er ist nur möglich kraft dieser Stimmungen.<br />

Anderseits braucht auch die Regierung die liberal-oktobristische Mehrheit<br />

vom Standpunkt des ganzen Systems des Regimes des 3. Juni. Denn<br />

die III. (und IV.) Duma ist keineswegs eine „Operettenduma", wie nicht<br />

selten die „linken" Volkstümler schwatzen, die hoffnungslos im Sumpf<br />

Ropschinscher Emotionen 125 und „otsowistischer" Phrasen stecken. Nein.<br />

Die III. und die IV. Duma, eine Etappe in der Entwicklung der Selbstherrschaft<br />

und in der Entwicklung der Bourgeoisie, ist ein nach den Siegen<br />

und Niederlagen von 1905 notwendiger Versuch der praktischen Annäherung<br />

beider. Und das Hasko .dieses Versuchs wird ein Fiasko nicht nur<br />

Stolypins und Makarows, nicht nur Markows 2 und Purischkewitschs sein,<br />

sondern aud) der „Versöhner" !Mdklakow und Co. 1<br />

Die Regierung braucht die liberal-oktobristische Mehrheit, um zu versuchen,<br />

Rußland bei Aufrechterhaltung der Allmacht der Purischkewitsch<br />

vorwärts zu führen. Und Mittel zur. Zügelung und Zähmung des ungewöhnlich<br />

raschen, allzu feurigen liberal-oktobristischen „Progressismus"<br />

32 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>


490 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />

hat die Regierung zur Genüge: sowohl den Reichsrat als auch vieles<br />

andere mehr...<br />

III. DIE VERÄNDERUNGEN<br />

INNERHALB DES SYSTEMS DES 3. JUNI<br />

Die oben angeführten Daten bieten interessantes Material zur Frage<br />

der Evolution der politischen Parteien, Gruppierungen und Strömungen<br />

unter den Gutsbesitzern und der Bourgeoisie in der Epoche der Konterrevolution.<br />

Über die Demokratie, die bürgerliche (bäuerliche) wie die proletarische,<br />

besagt die Zusammensetzung der III. und IV. Duma fast nichts<br />

aus dem einfachen Grunde, weil das System des 3. Juni vorsätzlich mit<br />

dem Ziel geschaffen wurde, die Demokratie auszuschließen. Gleichermaßen<br />

werden auch die „nationalen", d. h. nicht zur „herrschenden" Nationalität<br />

gehörigen Parteien durch das System des 3. Juni besonders<br />

unterdrückt und geknebelt.<br />

Deshalb wollen wir nur die Rechten, die Oktobristen und die russischen<br />

Liberalen herausheben - Parteien, die sich innerhalb des Systems des 3.<br />

Juni fest etabliert haben und durch dieses System vor der Demokratie<br />

geschützt werden - und einen Blick auf die Veränderungen innerhalb dieser<br />

Parteien werfen.<br />

Rechte<br />

Oktobristen<br />

Liberale (Progr.<br />

und Kadetten)<br />

Dritte Duma<br />

1908 1912<br />

144<br />

148<br />

78<br />

148<br />

120<br />

88<br />

Vierte<br />

Drana<br />

<strong>18</strong>5<br />

98<br />

107<br />

Vergleich der vierten<br />

Duma mit dem Beginn<br />

der dritten<br />

+ 41, d.h.+ 28%<br />

-50 „ -34%<br />

+ 29 „ +37%<br />

Hieraus ist deutlich ersichtlich, wie das sog. „Zentrum" unter den privilegierten<br />

Schichten zusammenschmilzt und sich ihr rechter und ihr liberaler<br />

Flügel verstärken. Interessant ist, daß die Liberalen unter den Gutsbesitzern<br />

und der Bourgeoisie rasdher an Boden gewinnen als die Rechten,<br />

trotz der umfangreichen Sondermaßnahmen der Regierung zur Verfälschung<br />

der Wahlen zugunsten der Rechten.<br />

Manche Leute verlieren angesichts dieser Tatsachen gern hochtrabende<br />

Worte über eine Verschärfung der Gegensätze im System des 3. Juni,


Die Ergebnisse der 'Wahlen 491<br />

über einen künftigen Trimnpli des gemäßigt-bürgerlichen Progressismus<br />

u. dgl.m. Diese Leute vergessen erstens: wenn unter den Gutsbesitzern<br />

und besonders unter der Bourgeoisie die Zahl der Liberalen wächst, so<br />

wächst am schnellsten der rechte Flügel der Liberalen, der seine ganze<br />

Politik vollständig auf der „Versöhnung" mit den Rechten aufbaut. Darauf<br />

werden wir gleich näher zu sprechen kommen. Zweitens vergessen<br />

diese Leute, daß die berüchtigte „Linksschwenkung der Bourgeoisie" nur<br />

eine Begleiterscheinung der tatsächlichen Linksschwenkung der Demokratie<br />

ist, die allein die Triebkräfte für eine ernsthafte Veränderung des<br />

Regimes zu liefern vermag. Drittens vergessen diese Leute, daß das System<br />

des 3. Juni besonders abgestimmt ist auf die Ausnutzung — und zwar<br />

in sehr weiten Grenzen - des Antagonismus zwischen der liberalen Bourgeoisie<br />

und dem reaktionären Charakter der Gutsbesitzer bei ihrem weit<br />

tieferen gemeinsamen Antagonismus zur gesamten Demokratie und insbesondere<br />

zur Arbeiterklasse.<br />

Weiter. Unsere Liberalen stellen die Sache gern dar, als sei die Zerschlagung<br />

der Oktobristen hervorgerufen durch die „Wahlmacherei"r die<br />

dieser „Partei der letzten Regierungsverordnung" die Stütze geraubt habe<br />

usw. Die Liberalen selber spielen hierbei natürlich die Rolle der ehrlichen<br />

Opposition, die Rolle unabhängiger Leute, sogar von „Demokraten",<br />

während in Wirklichkeit der Unterschied zwischen einem Maklakow und<br />

den Oktobristen etwas ganz und gar Illusorisches ist.<br />

Man betrachte die Veränderungen zwischen der III. und der IV. Duma<br />

und vergleiche sie mit den Veränderungen zwischen dem Beginn und dem<br />

Ende der III. Duma. Man wird feststellen, daß die Partei der Oktobristen<br />

in der III. Duma mehr Mitglieder verloren hat (28) als bei den Wahlen<br />

zur IV. Duma (22). Das heißt natürlich nicht, daß es keine „Wahlmacherei"<br />

gegeben habe; die gab es in den größten Ausmaßen, besonders gegenüber<br />

der Demokratie. Das heißt vielmehr, es vollzieht sich neben der verschiedensten<br />

Wahlmacherei, sogar neben der Einwirkung der Regierung<br />

und der „Politik" überhaupt ein Prozeß der parteimäßigen Differenzierung<br />

unter den besitzenden Klassen Rußlands, ein Prozeß der Abgrenzung<br />

des rechten, fronherrlich-reaktionären Flügels der Konterrevolution von<br />

dem bürgerlich-Jiberalen Flügel derselben Konterrevolution.<br />

Die Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen und Fraktionen<br />

der rechts-oktobristischen Dumamehrheit (Rechte, Nationalisten, ge-


492 1V.1. <strong>Lenin</strong><br />

mäßigte Rechte, „Zentrum", rechte Oktobristen usw.) sind ebenso unbeständig,<br />

unbestimmt, zufällig, nicht selten künstlich fabriziert wie auch die<br />

Unterschiede innerhalb der oktobristisch-liberalen Mehrheit (linke Oktobristen,<br />

Progressisten, Kadetten). Kennzeichnend für unsere heutige Zeit<br />

ist keineswegs, daß der „unabhängige" (MaklakowH) konstitutionelle Demokrat<br />

die von der Regierung abhängigen Oktobristen verdrängt. Das ist<br />

ein dummes liberales Märchen.<br />

Charakteristisch ist, daß sich ein Prozeß der Bildung wirklicher Klassenparteien<br />

vollzieht und insbesondere, getarnt durch krasses oppositionelles<br />

Geschrei und honigsüßes Gerede von der „Versöhnung der Macht mit<br />

dem Lande", der Zusammenschluß der Partei des konterrevolutionären<br />

Liberalismus.<br />

Die liberale, in Rußland am meisten verbreitete Presse macht alle Anstrengungen,<br />

um diesen Prozeß zu vertuschen. Deshalb wollen wir uns<br />

noch einmal den exakten Angaben der Dumastatistik zuwenden. Denken<br />

wir daran, daß man Parteien ebenso wie einzelne Personen nicht nach<br />

ihren Worten, sondern nach ihren Taten beurteilen muß. In der lat gehen<br />

Kadetten und Progressisten in allem Wichtigen zusammen, und die einen<br />

wie die anderen sind in der III. und in der IV. Duma wie bei den kürzlich<br />

beendeten Wahlen (Gouvernement Jekaterinoslaw: der Block Rodsjankos<br />

mit den Kadetten!) in einer ganzen Reihe von Fragen mit den Oktobristen<br />

zusammengegangen.<br />

Sehen wir uns die Angaben über diese drei Parteien an:<br />

Oktobristen<br />

Progressisten<br />

Kadetten<br />

Dritte Duma<br />

1908 1912<br />

148<br />

25<br />

53<br />

120<br />

36<br />

52<br />

Vierte<br />

Duma<br />

98<br />

48<br />

59<br />

Vergleich der vierten<br />

Duma mit dem Beginn<br />

der dritten<br />

— 50, d. h. — 34°/<br />

+ 23 „ + 92%<br />

+ 6 „ +11%<br />

Wir sehen einen starken und stetigen Rückgang bei den Oktobristen,<br />

einen geringfügigen Rückgang mit anschließendem kleinem Anstieg bei<br />

den Kadetten und einen starken und stetigen Anstieg bei den Progressisten,<br />

deren Zahl sich in fünf Jahren fast verdoppelt hat.<br />

Nähmen wir für 1908 die Daten, die Herr Miljnkow im „Jeshegodnik<br />

Retschi" [Jahrbuch der „Retsch"], 1912, S. 77, mitteilt, so ergäbe das ein<br />

noch viel plastischeres Bild. Herr Miljukow meint, daß es 1908 in der


Die Ergebnisse der Wahlen 493<br />

III. Duma 154 Oktobristen, 23 Progressisten und 56 Kadetten gegeben<br />

habe. Im Vergleich zur IV. Duma ergäbe das eine ganz geringfügige Erhöhung<br />

der Zahl der Kadetten und mehr als eine Verdoppelung der Zahl<br />

der Progressisten.<br />

Die Zahl der Progressisten betrug 1908 weniger als die Hälfte der Kadetten.<br />

Heute erreicht die Zahl der Progressisten mehr als 80 Prozent der<br />

Zahl der Kadetten.<br />

Es ergibt sich also die unbestreitbare Tatsache, daß im russischen Liberalismus<br />

in der Periode der Konterrevolution (1908-1912) das Tlauptdbarakteristikum<br />

das starke Anwachsen des Progressismus ist.<br />

Was aber sind die Progressisten?<br />

Ihrer Zusammensetzung wie ihrer Ideologie nach sind sie ein Qemisdb<br />

von Oktobristen und "Kadetten.<br />

Die Progressisten in der III. Duma nannten sich noch friedliche Erneuerer,<br />

und einer ihrer Führer, der konterrevolutionäre Kleinadlige<br />

Lwow, war in der I. Duma Kadett. In der III. Duma stieg die Zahl der<br />

Progressisten, wie wir gesehen haben, von 25 auf 36, d. h. um 11; von<br />

diesen 11 Abgeordneten kamen zu den Progressisten 9 von anderen Parteien,<br />

und zwar: einer von den Kadetten, zwei von den gemäßigten Rechten,<br />

einer von den Nationalisten und fünf von den Oktobristen.<br />

Das rasche Anwachsen der Progressisten unter den politischen Vertretern<br />

des russischen Liberalismus und der Erfolg der „Wechi" in der<br />

„Gesellschaft", das sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Die Progressisten<br />

verwirklichten in der praktischen Politik das, was die „Wechi"<br />

in der Theorie gepredigt hatten, als sie die Revolution besudelten, sich<br />

von der Demokratie lossagten, die schmutzige Bereicherung der Bourgeoisie<br />

als Gottes Sache auf Erden priesen usw. usf.<br />

Wenn sich der Kadett Maklakow über eine Versöhnung der Macht mit<br />

dem Lande verbreitet, so besingt er nur das, was die Progressisten tun.<br />

Je weiter wir uns von den Jahren 1905 und 1906 entfernen, um so<br />

klarer wird, wie recht die Bolsdhewiki damals hatten, als sie die Kadetten<br />

während ihres größten „Siegesrausches entlarvten, als sie das wirkliche<br />

Wesen dieser Partei enthüllten*, das der ganze Gang der Ereignisse jetzt<br />

immer deutlicher werden läßt.<br />

Die russische Demokratie wird keinen einzigen Sieg erringen können,<br />

• Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 10, S. 193-276. Die <strong>Red</strong>.


494 W. 1. Centn<br />

wenn sie nicht entschieden das „Prestige" der Kadetten unter den Massen<br />

erschüttert. Und umgekehrt, die faktische Verschmelzung der Kadetten<br />

mit den „Wechi"-Leuten und Progressisten ist eine der Bedingungen und<br />

eines der Symptome für den Zusammenschluß und die Festigung der<br />

Demokratie unter der Führung des Proletariats.<br />

IV. WORUM GING DER KAMPF<br />

BEI DEN WAHLEN?<br />

Diese Frage vor allem wird in den meisten Betrachtungen und Artikeln<br />

über die Wahlen in den Hintergrund gedrängt oder sogar völlig vertuscht.<br />

Indessen ist das die Frage nach dem ideologisch-politischen Inhalt der<br />

Wahlkampagne, die wichtigste Frage, ohne deren Klärung alle übrigen<br />

Fragen, alle die üblichen Angaben über die „Prozente der Opposition"<br />

usw. jede Bedeutung verlieren.<br />

Die verbreitetste Antwort auf diese Frage besteht darin, daß der Kampf<br />

darum ging, ob es eine Verfassung geben solle oder nicht. Diese Auffassung<br />

vertreten die Rechten. Diese Auffassung vertreten die Liberalen.<br />

Die ganze rechte und die ganze liberale Presse ist von der Auffassung<br />

durchdrungen, daß im Grunde genommen zwei Lager gekämpft haben,<br />

das eine für die Verfassung, das andere dagegen. Herr Miljukow, der<br />

Führer der Kadettenpartei, und die „Retsch", das offizielle Organ dieser<br />

Partei, stellten unverblümt diese Theorie der zwei Lager auf, und zwar<br />

im Namen der Konferenz der Kadettenpartei.<br />

Man betrachte jedoch diese „Theorie" vom Standpunkt des Wahlergebnisses.<br />

Wie hat sie die Prüfung durch die Wirklichkeit bestanden?<br />

Der erste Schritt der neuen Duma war gekennzeichnet durch den Block<br />

der Kadetten mit den Oktobristen (und sogar mit einem Teil der Rechten)<br />

bei der „konstitutionellen" Kandidatur Rodsjankos, dessen <strong>Red</strong>e mit einem<br />

angeblich konstitutionellen Programm die Kadetten begeistert begrüßten.*<br />

* Siehe außer den damaligen Artikeln der „Retsch" die Erklärung Herrn<br />

Miljnkows in der Duma am 13. Dezember 1912: „Der Präsident (Rodsjanko)<br />

hielt eine <strong>Red</strong>e... gab seine Deklaration ab, der wir uns vollauf ansdblossen"<br />

(„Retsch" Nr. 343 vom 14. Dezember)!! So sieht die konstitutionelle (Scherz<br />

beiseite!) Deklaration der Kadetten aus!


Die Ergebnisse der "Wahlen 495<br />

Der Führer der Oktobristen, Rodsjanko, der bekanntlich zu den rechten<br />

Oktobristen gezählt wird, hält sich für einen Konstitutionalisten, wie auch<br />

Krupenski, der Führer der „Zentrumsfraktion" oder der konservativen<br />

Konstitutionalisten.<br />

Zu sagen, daß der Kampf um die Verfassung ging, heißt gar nichts zu<br />

sagen, denn sofort erhebt sich die Frage: Um was für eine Verfassung<br />

geht es? um eine Verfassung im Geiste Krupenskis? oder Rodsjankos?<br />

oder Jefremow-Lwows? oder Maklakow-Miljukows? Und dann kommt<br />

eine noch wichtigere Frage, die Frage nicht nach den Wünschen, Erklärungen,<br />

Programmen - die auf dem Papier bleiben -, sondern nach den wirklichen<br />

Mitteln, um das Gewünschte zu erreichen.<br />

In diesem zentralen (und einzig ernst zu nehmenden) Punkt bleibt<br />

unwiderlegt und unwiderlegbar die 1912 in der „Retsch" (Nr. 117)<br />

abgedruckte Erklärung des Herrn Gredeskul, wonach es keiner neuen<br />

Revolution bedürfe, wonach „lediglich eine konstitutionelle Arbeit" vonnöten<br />

sei. Diese Erklärung vereinigt die Kadetten mit den Oktobristen<br />

ideofogisdb-politisdh viel fester und dauerhafter, als die tausendfachen Beteuerungen<br />

der Ergebenheit für die Verfassung oder gar -.. für die Demokratie<br />

sie angeblich trennen.<br />

Von allen in Rußland gelesenen Zeitungen sind wohl etwa 90 Prozent<br />

oktobristische und liberale Organe. Diese ganze Presse suggeriert den Lesern<br />

die Idee der zwei Lager, von denen das eine für die Verfassung sei,<br />

und demoralisiert dergestalt weitgehend das politische Bewußtsein der Massen.<br />

Man denke nur daran, daß am Ende dieser ganzen Kampagne Rodsjankos<br />

„konstitutionelle" Deklaration steht, der Miljukow beipflichtet!<br />

Angesichts einer solchen Sachlage kann man nicht genügend Nachdruck<br />

legen auf die Wiederholung der alten - und von vielen vergessenen -<br />

Wahrheiten der politischen Wissenschaft. Was ist eine Verfassung? - so<br />

lautet die aktuelle Frage in Rußland.<br />

Eine Verfassung ist eine Abmachung zwischen den historischen Kräften<br />

der alten (adligen, fronherrlichen, feudalen, absolutistischen) Gesellschaft<br />

und der liberalen Bourgeoisie. Die realen Bedingungen dieser Abmachung,<br />

der Umfang der Zugeständnisse des Alten oder der Siege der liberalen<br />

Bourgeoisie, werden bestimmt durch die Erfolge und Siege der Demokratie,<br />

der breiten Volksmassen (und der Arbeiter in erster Linie) über<br />

die Kräfte des Alten.


496 IV. 3. <strong>Lenin</strong><br />

Unsere Wahlkampagne konnte nur deshalb darin gipfeln, daß Miljukow<br />

Rodsjankos „Deklaration" beipflichtete, weil der Liberalismus in der<br />

Praxis nicht die Beseitigung der (ökonomischen, politischen usw.) Privilegien<br />

des Alten, sondern ihre Aufteilung unter die (kurz gesagt) Gutsbesitzer<br />

und die Bourgeoisie anstrebt. Der Liberalismus fürchtet die Volksbewegung,<br />

die Massenbewegung der Demokratie mehr als die Reaktion:<br />

daher die vom Standpunkt der ökonomischen Stärke des Kapitals überraschende<br />

Obnmaöht des Liberalismus in der Politik.<br />

Im System des 3. Juni hat^der Liberalismus das Monopol einer geduldeten,<br />

halblegalen Opposition, und der Beginn einer neuen politischen Belebung<br />

(wir verwenden ein allzu schwaches und ungenaues Wort) unterwirft<br />

breite Schichten der neuen, der heranwachsenden Demokratie dem<br />

Einfluß dieser Monopolisten. Deshalb reduziert sich jetzt der ganze "Kern<br />

der Frage nach der politischen Freiheit in Rußland gerade auf die Klarstellung,<br />

daß nicht zwei Lager im Kampfe stehen, sondern drei, denn nur<br />

dieses letzte Lager, das von den Liberalen verschwiegen wird, bat tatsächlich<br />

die "Kraft, die politische Freiheit zu verwirklichen.<br />

Bei den Wahlen von 1912 ging der Kampf keineswegs „um die Verfassung",<br />

denn die Kadetten, die führende liberale Partei, die hauptsächlich<br />

die Oktobristen angriff und ihre Schläge gegen sie richtete, stellten sich<br />

hinter Rodsjankos Deklaration. Der Kampf ging, unter dem Druck der<br />

polizeilichen Repressalien des Systems des 3. Juni, um die Erweckung, die<br />

Festigung, den Zusammenschluß einer selbständigen, von den Schwankungen<br />

und „oktobristischen Sympathien" des Liberalismus unabhängigen<br />

Demokratie.<br />

Deshalb ist es grundfalsch, den gegenwärtigen ideologisch-politischen<br />

Inhalt der Wahlkampagne von einem aussdhließlidb „parlamentarischen"<br />

Standpunkt aus zu betrachten. Hundertmal realer als alle „konstitutionellen"<br />

Programme und Plattformen ist die Frage, welche Stellung die verschiedenen<br />

Parteien und Gruppen zu der politischen Streikbewegung einnahmen,<br />

die das Jahr 1912 kennzeichnete.<br />

Für die Unterscheidung der bürgerlichen Parteien eines beliebigen Landes<br />

von den proletarischen ist einer der besten Prüfsteine die Stellung zu<br />

den wirtschaftlichen Streiks. Kämpft eine bestimmte Partei in ihrer Presse,<br />

in ihren Organisationen, in ihren Parlamentsreden bei wirtschaftlichen<br />

Streiks niöht zusammen mit den Arbeitern, so ist sie eine bürgerliche Par-


Die Ergebnisse der 'Wahlen 497<br />

tei, mag sie ihre „Volksverbundenheit", ihren „radikalen Sozialismus"<br />

usw. noch so sehr beteuern. In Rußland muß man mutatis mutandis (mit<br />

entsprechenden Änderungen) dasselbe sagen in bezug auf Parteien, die<br />

als demokratisch gelten möchten: Schwöre nicht, daß du die Verfassung,<br />

das allgemeine Wahlrecht, die Koalitionsfreiheit, die Gleichberechtigung<br />

der Nationalitäten usw. auf irgendeinem Papier niedergelegt hast, diese<br />

Worte sind keinen Pfifferling wert, sondern zeige.mir deine "Jäten in bezug<br />

auf die politische Streikbewegung von 1912! Auch dieses Kriterium ist<br />

noäo nidbt erschöpfend, es ist aber immerhin ein sachliches Kriterium und<br />

nicht eine leere Versprechung.<br />

V. DIE ÜBERPRÜFUNG DER WAHLLOSUNGEN<br />

DURCH DAS LEBEN<br />

Die Wahlkampagne ist deshalb von hervorragendem Interesse für jeden<br />

bewußten Politiker, weil sie objektives Material über die Auffassungen,<br />

Stimmungen und also auch über die Interessen der verschiedenen JQassen<br />

der Gesellschaft liefert. Man kann die Wahlen zu einer Vertretungskörperschaft<br />

in dieser Hinsicht mit einer Volkszählung vergleichen: die Wahlen<br />

bieten eine politische Statistik. Natürlich kann diese Statistik gut sein<br />

(bei allgemeinem usw. Wahlrecht) und schlecht sein (die Wahlen zu unserem,<br />

man verzeihe den Ausdruck, Parlament); natürlich muß man es lernen,<br />

diese Statistik - wie jede andere - zu kritisieren und kritisch zu verwenden.<br />

Natürlich muß man schließlich diese Statistik in Verbindung mit<br />

der gesamten sozialen Statistik schlechthin sehen, und für denjenigen, der<br />

nicht von der Krankheit des parlamentarischen Kretinismus befallen ist,<br />

wird zum Beispiel eine Streikstatistik oftmals hundertfach ernster und interessanter<br />

sein als eine Wahlstatistik.<br />

Doch trotr~äll dieser Vorbehalte bleibt außer Zweifel, daß die Wahlen<br />

objektives Material liefern. Die Überprüfung der subjektiven Wünsche,<br />

Stimmungen und Auffassungen durch die Auswertung einer Abstimmung<br />

der Bevölkerungsmassen, die verschiedenen Klassen angehören, muß ein<br />

Politiker, der einigermaßen ernsthaft als solcher gelten will, immer zu<br />

schätzen wissen. Der Kampf der Parteien in der Praxis, vor den Wählern,<br />

mit zählbaren Ergebnissen liefert stets Material, das unsere Auffassung


498 TV. J. <strong>Lenin</strong><br />

vom Verhältnis der gesellschaftlichen Kräfte im Lande sowie von der Bedeutung<br />

dieser oder jener „Losungen" Überprüft.<br />

Von diesem Standpunkt aus wollen wir den Versuch machen, einen<br />

Blick auf die Ergebnisse der Wahlen zu werfen.<br />

Was die politische Statistik betrifft, ist das Wichtigste, was hier gesagt<br />

werden muß, daß sie infolge schamlosester Anwendung administrativer<br />

„Maßnahmen" („Erläuterungen", Druck, Verhaftungen, Verbannungen<br />

usw. usf. ohne Ende) zum größten Teil offensichtlich unbrauchbar ist. Herr<br />

Tsdierewanin zum Beispiel, der in der „Nascha Sarja" Nr. 9/10 auf Grund<br />

der Angaben über einige hundert Wahlmänner verschiedener Kurien eine<br />

Bilanz zieht, muß zugeben, daß „es läcberUdb wäre", wenn man in dem<br />

sinkenden Prozentsatz der oppositionellen Wahlmänner (verglichen mit<br />

den Wahlen zur III. Duma) in der zweiten städtischen Kurie und in der<br />

bäuerlichen Kurie den Beweis für eine Rechtsschwenkung sehen wollte.<br />

Die einzige Kurie, bei der die Mymrezow, Chwostow, Tolmatschow, Muratow<br />

und Co. keine Fälschung vornehmen konnten, ist die erste städtische<br />

Kurie. Und diese zeigte ein Anwachsen der Zahl der „oppositionellen"<br />

Wahlmänner von 56% auf 67%, bei gleichzeitigem Rückgang der Oktobristen<br />

von 20% auf 12% und der Rechten von 24% auf 21%.<br />

Machten aber die „Erläuterungen" die Bedeutung der Wahlstatistik<br />

hinsichtlich der Wahhnänner zunichte, bekamen auch die demokratischen<br />

Klassen, die aus dem Kreis der Privilegierten des 3. Juni überhaupt ausgeschlossen<br />

sind, die ganze Pracht dieser Erläuterungen zu spüren, so<br />

zeigte sich bei den Wahlen dennoch die Stellung des Liberalismus zur<br />

Demokratie. In diesem Punkt ist dennoch objektives Material zusammengekommen,<br />

das es erlaubt, auf Grund der praktischen Erfahrungen das zu<br />

überprüfen, was die verschiedenen „Strömungen" vor den Wahlen dachten<br />

und sagten.<br />

Die Frage der Stellung des Liberalismus zur Demokratie ist keineswegs<br />

eine „nur die Parteien betreffende" Frage, d. h. eine Frage, die nur vom<br />

Standpunkt einer streng parteilichen Linie von Belang ist. Nein. Diese<br />

Frage ist die wesentlichste Frage für jeden, der die politische Freiheit in<br />

Rußland erstrebt. Es ist namentlich die Frage, wie das zu erreichen ist,<br />

was alle anständigen und ehrlichen Menschen in Rußland gemeinsam erstreben.<br />

Bei Eröffnung der Wahlkampagne im Jahre 1912 stellten die Marxisten


Die Ergebnisse der Wahlen 499<br />

gerade die Losungen des konsequenten Demokratismus im Gegensatz zur<br />

liberalen Arbeiterpolitik in den Vordergrund. Eine Überprüfung dieser<br />

Losungen ist in doppelter Hinsicht möglich: erstens auf Grund des Urteils<br />

und der Erfahrungen anderer Länder, zweitens auf Grund der Erfahrungen<br />

aus der Kampagne von 1912. Ob die Losungen der Marxisten richtig<br />

waren oder nicht, das muß jetzt daraus ersichtlich sein, welches Verhältnis<br />

in der 7at zwischen den Liberalen und den Demokraten entstanden ist.<br />

Der objektive Charakter dieser Überprüfung der Losungen besteht eben<br />

darin, daß nicht wir selber sie geprüft haben, sondern die Massen, und<br />

nicht nur die Massen schlechthin, sondern insbesondere unsere Qegner.<br />

Haben sich die Beziehungen zwischen den Liberalen und der Demokratie<br />

bei den Wahlen und im Ergebnis der Wahlen so gestaltet, wie' es<br />

die Marxisten erwartet hatten? oder so, wie es die Liberalen erwartet hatten?<br />

oder so, wie es die Liquidatoren erwartet hatten?<br />

Um über diese Frage Klarheit zu gewinnen, wollen wir uns zunächst<br />

dieser „Erwartungen" erinnern. Ganz zu Beginn des Jahres 1912, als die<br />

Frage der Wahlen eben erst aufgeworfen worden war und die Kadetten<br />

(auf ihrer Konferenz) das Banner der einheitlichen Opposition (d. h. der<br />

zwei Lager) und der Zalässigkeit von Blocks mit den linken Oktobristen<br />

entfalteten, stellte die Arbeiterpresse die Frage der Losungen in den Artikeln<br />

Martows und Dans im „Shiwoje Delo", F. L-kos 126 und anderer in<br />

der „Swesda" (Nr. 11 [47] und 24 [60] und „Shiwoje Delo" Nr. 2, 3<br />

und 8).<br />

Martow stellte die Losung auf: „Verdrängt die Reaktion aus ihren Positionen<br />

in der Duma"; Dan: „Entreißt die Duma den Händen der Reaktion."<br />

Martow und Dan warfen der „Swesda" vor, sie bedrohe die Liberalen<br />

und suche ihnen Dumasitze abzunötigen.<br />

Drei Positionen zeichneten sich deutlich ab:<br />

1. Die Kadetten sind für eine einheitliche Opposition (d. h. für die 2<br />

Lager) und für die Zulassung von Blocks mit den linken Oktobristen.<br />

2. Die Liquidatoren sind für die Losung: „Entreißt die Duma den Händen<br />

der Reaktion", erleichtert den Kadetten und Progressisten das „ An-die-<br />

Macht-Gelangen" (Martow in Nr. 2 des „Shiwoje Delo"). Den Liberalen<br />

sind keine Sitze für die Demokraten abzunötigen.<br />

3. Die Marxisten sind gegen die Losung „Entreißt die Duma den Händen<br />

der Reaktion", denn das heißt den Qutsbesitzer den Händen der


500 1/9.1. <strong>Lenin</strong><br />

Reaktion zu entreißen. „Die praktische Aufgabe bei den Wahlen besteht<br />

für uns durchaus nicht darin, ,die Reaktion aus ihren Positionen in der<br />

Duma zu verdrängen', sondern vielmehr darin, die Demokratie im allgemeinen<br />

und die Arbeiterdemokratie im besonderen zu stärken." (F. L-ko<br />

in Nr. 11 [47] der „Swesda".)* Den Liberalen muß man drohen, ihnen<br />

die Sitze abnötigen, den Kampf gegen sie aufnehmen, ohne sich durch<br />

das Geschrei von einer Schwarzhundertergefahr einschüchtern zu lassen<br />

(derselbe in Nr. 24 [60]**). Die Liberalen „gelangen zur Macht" nur<br />

dann, wenn die Demokratie trotz der Schwankungen des Liberalismus<br />

siegt.<br />

Die Divergenz zwischen den Marxisten und den Liquidatoren ist überaus<br />

tief und unüberbrückbar, mag manch einem gutmütigen Menschen<br />

eine Versöhnung des Unversöhnlichen in Worten noch so leicht erscheinen.<br />

„Entreißt die Duma den Händen der Reaktion" - das ist ein ganzer<br />

Ideenkreis, ein ganzes politisches System, das objektiv die Obergabe der<br />

Hegemonie an die Liberalen bedeutet. „Entreißt die Demokratie den Händen<br />

der Liberalen" ist das entgegengesetzte politische System, das darauf<br />

basiert, daß nur die Demokratie, die sich von den Liberalen unabhängig<br />

gemacht hat, fähig ist, die Reaktion tatsächlich zu erschüttern.<br />

Man sehe nur, was in der Tat bei der Schlacht herausgekommen ist,<br />

über die vor ihrem Beginn so viel gerätselt wurde.<br />

Nehmen wir als Zeugen für die Ergebnisse der Schlacht Herrn W. Lewizki<br />

aus der „Nascha Sarja" (Nr. 9/10) - diesen Zeugen wird wohl<br />

niemand der Parteinahme für die Linie der „Swesda" und der „Prawda"<br />

verdächtigen.<br />

Hören wir, was dieser Zeuge über die Ergebnisse der Schlacht in der<br />

zweiten städtischen Kurie aussagt - bekanndidi der einzigen Kurie, in<br />

der es eine wenn auch nur entfernte Ähnlichkeit mit „europäischen" Wahlen<br />

gab.und die es, wenn auch nur in ganz geringem Maße, ermöglicht, ein<br />

Fazit hinsichtlich der „Begegnungen" zwischen Liberalismus und Demokratie<br />

zu ziehen.<br />

Der Zeuge zählte 63 sozialdemokratische Kandidaturen, bei denen es<br />

in 5 Fällen einen erzwungenen Verzicht auf die Kandidatur gab, in 5 Fällen<br />

eine Vereinbarung mit anderen Parteien, während 53 Kandidaturen<br />

• Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 17, S. 482. Die <strong>Red</strong>.<br />

** Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 17, S. 553. Die <strong>Red</strong>.


Die Ergebnisse der Wahlen 501<br />

selbständig waren. Von diesen 53 Fällen kommen 4 auf 4 Großstädte,<br />

49 betreffen die Wahl der Wahlmänner.<br />

Von diesen 49 Fällen war in 9 nicht klar, gegen wen die Sozialdemokraten<br />

kämpften; in 3 Fällen gegen die Rechten (in allen drei Fällen Sieg<br />

der Sozialdemokraten); in einem Fall gegen die Trudowiki (Sieg der Sozialdemokraten);<br />

in den übrigen 36 Tällen - gegen die Liberalen (21 Siege<br />

der Sozialdemokraten; 15 Niederlagen).<br />

Greifen wir die russischen Liberalen heraus, so erhalten wir 21 Fälle<br />

des Kampfes der Sozialdemokraten gegen sie. Hier die Ergebnisse:<br />

Es siegten Summe<br />

Sozial- Qegner der der<br />

demokr. Sozialdem. Tätte<br />

Sozialdem. gegen Kadetten 7 8 15<br />

„ „ andere Liberale* 4 2 6<br />

Insgesamt 11 10 21<br />

Der Hauptgegner der Sozialdemokraten waren also die Liberalen (36<br />

Fälle gegenüber 3); die Waupfniederlagen braditen den Sozialdemokraten<br />

die Kadetten bei.<br />

Femer gab es von 5 Fällen der Vereinbarung in zwei Fällen eine allgemeine<br />

Verständigung der Opposition gegen die Rechten; in drei Fällen<br />

„kann man von einem linken Block gegen die Kadetten sprechen" (hervorgehoben<br />

von mir; „Nasdia Sarja" Nr. 9/10, S. 98). Die Vereinbarungen<br />

machen also weniger als Vio der Kandidaturen überhaupt aus. Von den<br />

Vereinbarungen waren 60% gegen die Kadetten gerichtet.<br />

Schließlich die Ergebnisse in den 4 Großstädten:<br />

Abgegebene Stimmen (Hödistzahlen)<br />

Riga<br />

St. Petersburg Moskau l.Wahl 2. WabJgang<br />

Für die Kadetten 19 376 20 310 3754 5517<br />

„ „ Sozialdemokraten 7686 9 035 4583 4570<br />

„ „ Oktobristen 4 547 2 030 3674 —<br />

„ „ Rechten 1990 1073 272<br />

„ „ Trodowild 1075 — — —<br />

In allen vier Großstädten kämpfen also die Sozialdemokraten gegen die<br />

"Kadetten, wobei in einem Fall die Kadetten im zweiten Wahlgang mit<br />

* Progressisten und Kadetten zusammen mit Progressisten oder Trudowild.


502 ' W. J. <strong>Lenin</strong><br />

Wje der Oktobristen siegen (indem sie den Kandidaten der „Baltischen<br />

Konstitutionellen Partei" zu den Oktobristen rechnen).<br />

Die Schlußfolgerungen des Zeugen selbst:<br />

„Das Monopol der Kadetten auf die Vertretung der städtischen Demokratie<br />

geht zu Ende. Die nächste Aufgabe der Sozialdemokraten auf diesem Gebiet ist<br />

es, dem Liberalismus die Vertretung in allen 5 Städten mit selbständiger Vertretung<br />

abzunehmen. Die psychologischen" (??) „und historischen" (und die<br />

ökonomischen?) „Voraussetzungen hierzu - die Linksschwenkung' des demokratischen<br />

Wählers, die Schwäche der Kadettenpolitik und das neue Erwachen<br />

der proletarischen Selbsttätigkeit - sind bereits vorhanden." („Nascha Sarja",<br />

zit. Heft, S. 97.)<br />

VI. DAS „ENDE" DER ILLUSIONEN<br />

OBER DIE KADETTENPARTEI<br />

1. Die Tatsachen haben bewiesen, daß die wirkliche Bedeutung aer kadettischen<br />

Losung von der „einheitlichen Opposition" oder den „zwei<br />

Lagern" in der Hintergehung der Demokratie bestand, darin, daß die Liberalen<br />

sich die Früchte des demokratischen Erwachens betrügerisch aneignen,<br />

daß sie dieses Erwachen der einzigen Kraft, die Rußland voranzubringen<br />

vermag, einengen, abstumpfen, schwächen.<br />

1. Die Tatsachen haben bewiesen, daß der einzige Wahlkampf, der<br />

einigermaßen einem „offenen", einem „europäischen" glich, gerade darin<br />

bestand, die Demokratie den Händen der Liberalen zu entreißen. Diese<br />

Losung war lebendiges Leben, diese Losung war der reale Ausdruck des<br />

vor sich gehenden Erwachens der neuen Demokratie zu einer neuen Bewegung.<br />

Die Losung der Liquidatoren „Entreißt die Duma den Händen der<br />

Reaktion" aber war eine faule Erfindung eines liberalen Intellektuellenzirkels.<br />

3. Die Tatsachen haben bewiesen, daß nur der „wütende" Kampf<br />

gegen die Kadetten, nur die „Kadettenfresserei", die uns die charakterlosen<br />

Diener der Liberalen, die Liquidatoren, zum Vorwurf machten, das<br />

wirkliche Erfordernis einer echten Massenkampagne ausdrückte, denn die<br />

Kadetten erwiesen sich in Wirklichkeit als noch schlechter, als wir sie dargestellt<br />

haben. Die Kadetten erwiesen sich als direkte Verbündete der


Die Ergebnisse der Wahlen 503<br />

Sdiwarzhtmderter gegen den Sozialdemokraten Predkaln, gegen den Sozialdemokraten<br />

Pokrowski! 127<br />

Das aber ist eine historische Wende in Rußland: die Schwarzhunderter,<br />

die in ihrem Kadettenhaß bis zur Verblendung gingen, den Hauptfeind in<br />

den Kadetten sahen, wurden durch den Verlauf der Ereignisse dazu gebracht,<br />

Kadetten gegen die Sozialdemokraten zu wählen. In dieser scheinbar<br />

geringfügigen Tatsache tritt eine große Verschiebung im System der<br />

Parteien zutage, die davon zeugt, wie oberflächlich im Grunde genommen<br />

die Angriffe der Schwarzhunderter auf die Kadetten waren und umgekebrtl<br />

wie leicht eigentlich Purischkewitsch und Miljukow sidb fanden,<br />

sich einig sahen gegen die Sozialdemokraten.<br />

Das Leben hat gezeigt, daß wir Bolschewiki die Möglichkeit von Blocks<br />

mit den Kadetten (im zweiten Stadium der Wahlen usw.) nicht nur nicht<br />

unterschätzten, sondern eher immer noch übersdhätztenl denn in der 7at<br />

gingen die Kadetten in einigen Fällen Blocks mit den Oktobristen gegen<br />

uns ein! Das heißt natürlich nicht, daß wir darauf verzichten sollten (wie<br />

einige unvernünftig eifrige gestrige Otsowisten und ihre Freunde es wolten),<br />

in einer Reihe von Fällen, in den Gouvernements-Wahlversammlungen<br />

zum Beispiel, unsere Blocks mit den Kadetten gegen die Rechten auszunutzen.<br />

Das bedeutet, daß unsere allgemeine Linie (3 Lager; die<br />

Demokratie gegen die Kadetten) vom Leben bestätigt und noch mehr<br />

bekräftigt worden ist.<br />

übrigens, die Herren Lewizki, Tscherewanin und andere Mitarbeiter<br />

der „Nasdha Sarja" haben mit lobenswertem Eifer und Fleiß wertvolles<br />

Material für unsere Wahlstatistik zusammengetragen. Schade, daß sie die<br />

Materialien - über die sie offenbar verfügten - über die Zahl der Fälle,<br />

in denen die Kadetten gegen die Sozialdemokraten direkte und indirekte<br />

Blocks mit den Oktobristen und den Rechten eingingen, nicht zusammengefaßt<br />

haben.<br />

Predkaln und Pokrowski stehen nicht allein da; in den Gouvernements-<br />

Wahlversammlungen gab es noch viele analoge Fälle. Man darf sie nicht<br />

vergessen. Ihnen muß man mehr Aufmerksamkeit widmen.<br />

Weiter. Unser „Zeuge", der die oben angeführten Schlußfolgerungen<br />

über die Kadetten ziehen mußte, hat überhaupt nicht bedacht, welche Einschätzung<br />

der Kadettenpartei denn durch diese Schlußfolgerungen bestätigt<br />

wird. Wer nannte die Kadetten eine Partei der städtischen Demo-


504 W. J. £eron<br />

kratie? Und wer wies seit März 1906 oder noch früher nach, daß sich diese<br />

liberale Partei durch Hintergehung des demokratischen Wählers hält?<br />

Jetzt singen die Liquidatoren wie Hans Weißnichtmehr: „Das Monopol<br />

der Kadetten geht zu Ende" ... Also gab es ein „Monopol"? Was heißt<br />

das? Monopol heißt Aufhebung der Konkurrenz. War die Konkurrenz der<br />

Sozialdemokraten gegen die Kadetten in den Jahren 1906 und 1907 in<br />

stärkerem Maße aufgehoben als im Jahre 1912??<br />

Herr W. Lewizki wiederholt eine vulgäre Phrase, ohne über den Sinn<br />

dessen nachzudenken, was er sagt. Unter Monopol versteht er „einfach",<br />

daß die Kadetten vorgeherrscht haben und daß das jetzt vorbei sei. Aber<br />

wenn ihr, ihr Herren, Marxisten sein wollt, dann müßt ihr doch wenigstens<br />

ein bißchen über die Frage des Klassencharakters der Parteien nachdenken,<br />

dann dürft ihr nicht so sorglos mit euren gestrigen Erklärungen umgehen.<br />

Sind die Kadetten eine Partei der städtischen Demokratie, dann ist ihr<br />

Vorherrschen kein „Monopol", sondern das Ergebnis der Klassenmteresseti<br />

der städtischen Demokratie! Hat sich aber ihr Vorherrschen — in einigen<br />

Jahren - als „Monopol" erwiesen, d. h. als irgend etwas vom Standpunkt<br />

der allgemeinen und grundlegenden Gesetze des Kapitalismus und<br />

des Wechselverhältnisses der Klassen in der kapitalistischen Gesellschaft<br />

Zufälliges und Anormales, dann waren also diejenigen, die die Kadetten<br />

für eine Partei der städtischen Demokratie hielten, Opportunisten, erlagen<br />

sie einem Augenblickserfolg, beugten sie sich vor dem modischen<br />

Glanz des Kadettismus, wechselten sie von der marxistischen Kritik an den<br />

Kadetten zur liberalen Liebedienerei hinüber.<br />

Die Schlußfolgerung des Herrn W. Lewizki bestätigt völlig, Wort ]ür<br />

Wort, den 1907 gefaßten Londoner Beschluß der Bolsdiewiki über die<br />

Klassennatur der Kadettenpartei, den die Menschewiki fanatisch bestritten.<br />

Wenn die städtische Demokratie den Kadetten gefolgt ist „aus 7radition<br />

und weil sie von den Liberalen direkt betrogen wird", wie es in diesem<br />

Beschluß heißt, dann ist völlig begreiflich, daß die schweren Lehren der<br />

Jahre 1908-1911 die „konstitutionellen Illusionen" zerstreut, die „Tradition"<br />

erschüttert, den „Betrug" enthüllt und dadurch das „Monopol" gebrochen<br />

haben.<br />

Heutzutage vergißt man allzuoft gewollt und ungewollt die Vergangenheit,<br />

ist man im höchsten Grade leichtfertig gegenüber den exakten, direk-


Die Ergebnisse der Wahlen 505<br />

ten, klaren Antworten auf alle wichtigen Fragen der Politik und gegenüber<br />

der Überprüfung dieser Antworten durch die reichen Erfahrungen der<br />

Jahre 1905-1907 und 1908-1912. Nichts ist für die erwachende Demokratie<br />

so verderblich wie ein solches Vergessen und eine solche Leichtfertigkeit.<br />

VII. ÜBER DIE „RIESIGE GEFAHR<br />

FÜR DEN GRUNDBESITZ DES ADELS"<br />

Das Fazit des Wahlkampfes ziehend, errechnet Herr Tscherewanin, daß<br />

die Opposition „rein künstlich, nur durch ganz und gar außerordentliche<br />

Maßnahmen um 49 Sitze gebracht worden ist". Fügt man diese Sitze den<br />

tatsächlich eroberten hinzu, so ergibt das, nach seiner Meinung, die Zahl<br />

207, d. h. insgesamt 15 weniger als die absolute Mehrheit. Die Schlußfolgerung<br />

des Autors: „Auf der Basis des Systems des 3. Juni, ohne künstliche<br />

außerordentliche Maßnahmen, hätte die adlig-fronherrliche Reaktion<br />

bei den Wahlen eine vollständige und entscheidende (??!) Niederlage<br />

erlitten."<br />

„Angesichts dieser riesigen Gefahr für den Grundbesitz des Adels", fährt der<br />

Autor fort, seien die Zusammenstöße der Popen mit den Gutsbesitzern belanglos<br />

(S. 85. des zit Hefts).<br />

Da haben wir die Folgen der Losung: „Entreißt die Duma den Händen<br />

der Reaktion"! Tscherewanin hat Martow empfindlich gestraft, indem er<br />

dessen Losung ad absurdum führt und sozusagen zusammen mit den „Ergebnissen<br />

des Wahlkampfes" die Ergebnisse der liquidatorischen Illusionen<br />

fixiert.<br />

Eine progressistisch-kadettische Mehrheit in der IV. Duma würde eine<br />

„riesige Qefabr für den Qrundbesitz des Adels" darstellen! Das ist geradezu<br />

eine Perle!<br />

Aber das ist kein Schnitzer, sondern das unausbleibliche Ergebnis des<br />

ganzen ideologischen Inhalts, den die Liberalen und die Liquidatoren der<br />

Wahlkampagne geben wollten.<br />

Gewaltige Erhöhung der Rolle der Progressisten im Vergleich zu den<br />

Kadetten, Verkörperung des ganzen Renegatentums (Wechismus) der Kadetten<br />

in der Politik durch diese Progressisten, faktischer Übergang der<br />

Kadetten selber, in aller Stille, auf die Positionen des Progressismus -<br />

33 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>


506 W. 3. <strong>Lenin</strong><br />

alles das wollten die Liquidatoren nicht sehen, und alles das brachte sie zu<br />

der „Tsdierewaninsdien" Perle. „Man soll nicht zuviel von dem konterrevolutionären<br />

Charakter der Kadetten sprechen", so öder annähernd so<br />

schrieb einst der Trudowik (Volkstümler und Liquidator) Herr Wodowosow.<br />

Ganz dieselbe Auffassung vertraten auch unsere Liquidatoren.<br />

Sie haben sogar die Lehre der III. Duma vergessen, wo der Kadett<br />

Beresowski in einer offiziellen <strong>Red</strong>e das Agrarprogramm der Kadetten<br />

„erläuterte" und nachwies, daß es für die adligen Gutsbesitzer vorteilhaft<br />

sei. Und jetzt, im Jahre 1912, von der „oppositionellen" Gutsbesitzerduma,<br />

von den Progressisten, diesen lediglich etwas verkleideten Oktobristen,<br />

eine „riesige Gefahr für den Grundbesitz des Adels" zu erwarten...<br />

Hören Sie, Herr Tscherewanin... phantasieren Sie, aber halten Sie Maß!<br />

Es gibt eine vortreffliche Illustration der Wahlergebnisse in Verbindung<br />

mit dem Tscherewaninschen Ergebnis der Liquidatorentaktik. Die IV.<br />

Duma hat mit 132 Stimmen bei 78 Gegenstimmen den von den Progressisten<br />

eingebrachten Antrag auf Übergang zur Tagesordnung angenommen.<br />

Kein anderer als der Oktobrist Antonow äußerte offiziell seine völlige<br />

Befriedigung über die höchst banale, leere Formulierung dieses Antrags,<br />

den die Oktobristen nicht anders hätten formulieren können! Natürlich<br />

hat Herr Antonow recht. Die Progressisten brachten einen rein oktobristischen<br />

Antrag ein. Die Progressisten spielten wiederum die Rolle der Versöhner<br />

zwischen Oktobristen und Kadetten.<br />

Der Oktobrismus ist zerschlagen, es lebe der Oktobrismus! „Zerschlagen"<br />

ist der Oktobrismus Gutschkows, es lebe der Oktobrismus<br />

Je^fremows und Lwows*.<br />

VIII. DIE TARNUNG DER NIEDERLAGE<br />

Uns ist noch die Aufgabe verblieben, die Ergebnisse der Wahlen in der<br />

wichtigsten Kurie, der Arbeiterkurie, zu untersuchen.<br />

• Die „Retsdi" vom 16. Dezember versichert, daß auch die Sozialdemokraten<br />

für die niederträchtige Formulierung der Progressisten gestimmt haben.<br />

Das ist kaum glaublich. Die „Prawda" bringt nichts darüber. Möglicherweise<br />

hat man die sitzengebliebenen (oder zum Weggehen auf gestandenen?) Sozialdemokraten<br />

als Ja-Stimmen „gezahlt".


Die Ergebnisse der Wahlen 507<br />

Daß diese Kurie auf Seiten der Sozialdemokraten steht, daran zweifelte<br />

und zweifelt niemand. Hier wurde schon nicht mehr gegen die Volkstümler<br />

gekämpft: sie leisteten dem volkstümlerischen Liquidatorentum (dem<br />

„Potschin" 128 in Paris und den Volkssozialisten in Petersburg) und dem<br />

volkstümlerischen Otsowismus keinen Widerstand, und dieser mangelnde<br />

Widerstand gegenüber den Zerfallstendenzen machte die linken Volkstümler<br />

zu einer W«H.<br />

Der Kampf in der Arbeiterkurie spielte sich ausschließlich zwischen den<br />

Marxisten und den liberalen Arbeiterpolitikern, den Liquidatoren, ab. Die<br />

Marxisten proklamierten im Januar 1912 klar und deutlich, offen und<br />

ohne schmähliche Ausflüchte die Unzulässigkeit von Abkommen in der<br />

Arbeiterkane (und nur in ihr) mit den Zerstörern der Arbeiterpartei.*<br />

Das ist eine allbekannte Tatsache. Allbekannt ist auch, daß sogar der<br />

Versöhner Plechanow die Augustkonferenz der Liquidatoren als „jämmerlich",<br />

als liquidatorisch (entgegen den Beteuerungen der „Nascha Sarja")<br />

und ihre Resolutionen als „Diplomatie", d. h. offener gesagt, als Betrug bezeichnet<br />

hat.<br />

Was zeigten nun die Ergebnisse der Wahlen?<br />

Haben sie objektives Material zu der Frage, in welchem Verhältnis zur<br />

Wirklichkeit die Januar- und die Augusterklärungen standen, geliefert<br />

oder nicht? Auf wessen Seite standen die Gewählten der Arbeiterklasse?<br />

Darüber liegt ganz exaktes statistisches Material vor, das die Liquidatoren<br />

(vergebens!) zu vertuschen, zu verdecken, hinter Geschrei und Geschimpfe<br />

zu verbergen suchen.<br />

Beginnend mit der zweiten Duma (die erste wurde von der Mehrheit<br />

der Sozialdemokraten boykottiert), gibt es eine genaue Aufstellung der<br />

auf die verschiedenen „Strömungen" in der sozialdemokratischen Partei<br />

verteilten Dumaabgeordneten aus der Arbeiterkurie. Hier die entsprechenden<br />

Daten:<br />

Abgeordnete der Reichsduma, hervorgegangen aus der Arbeiterkurie:<br />

II.<br />

III.<br />

rv.<br />

Duma (1907)<br />

„ (1908-1912)<br />

. (1912)<br />

Menschewiki<br />

12<br />

4<br />

3<br />

Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 17, S. 460. Die <strong>Red</strong>.<br />

BolsdiewäH<br />

11<br />

4<br />

6<br />

Prozentsatz<br />

der letzteren<br />

47<br />

50<br />

67


508 'W.I.Lettin<br />

Diese Zahlen sprechen für sich selbst!<br />

1907 hatten, nach offizieller Zählung, die Bolschewiki die Mehrheit in<br />

der Partei (105 bolschewistische Delegierte und 97 menschewistische Delegierte).<br />

Also, 47% in der Arbeiterkurie (die ganze Fraktion bestand<br />

aus <strong>18</strong> Bolschewiki + 36 Menschewiki = 54) entsprachen etwa 52% in<br />

der Arbeiterpartei.<br />

Im Jahre 1912 sind zum erstenmal alle sechs Abgeordneten der Xurien<br />

Bolschewiki. Bekanntlich sind diese 6 Gouvernements die wichtigsten Industriegouvernements.<br />

Bekanntlich ist in ihnen ein ungleich größerer Teil<br />

des Proletariats konzentriert als in den anderen Gouvernements. Daher<br />

ist zu verstehen - und durch einen Vergleich mit 1907 völlig erwiesen -,<br />

daß 67% in der Arbeiterkurie mehr als 70% in der Arbeiterpartei bedeuten.<br />

In der Zeit der dritten Duma, als die Intelligenz der Arbeiterpartei den<br />

Rücken kehrte und die Liquidatoren das rechtfertigten, wandten sich die<br />

Arbeiter von den Liquidatoren ab. Das Ausscheiden des Liquidators<br />

Beloussow aus der sozialdemokratischen Fraktion der III. Duma und das<br />

Einschwenken dieser ganzen (zu 3 /4menschewistischen) Fraktion vom Menschewismus<br />

zum Antiliqnidatorentum* waren Symptome und sichere Merkmale<br />

dafür, daß sich derselbe Prozeß in der Arbeiterschaft vollzieht. Und<br />

die Wahlen zur IV. Duma haben das bewiesen.<br />

In der „Nascha Sarja" ärgern sich deshalb Oskarow, Martow, Tscherewanin,<br />

Lewizki usw. unglaublich, und sie geben Hunderte von „Komplimenten"<br />

a la Purisdikewitsch an die Adresse des „sektiererischen", „<strong>Lenin</strong>schen"<br />

„Zirkels" von sich.<br />

Ein schöner Zirkel und ein schönes Sektierertum, deren Anteil an der<br />

Arbeiterkurie in den Jahren 1908-1912 unentwegt wächst^bis zu 67%<br />

dieser Kurie in der IV. Duma! Ungeschickte Polemiker, diese Liquidato-<br />

* Der Liquidator Oskarow gibt diese unbestreitbare Tatsache in einer erheiternden<br />

Form zu: die Bolschewiki „haben erreidbt, was sie wollten: im verantwortungsvollsten<br />

Augenblick spalteten sie faktisch, wenn nicht formell, die<br />

Fraktion" („Nascha Sarja", zit. Heft, S. 3) - die Fraktion in der III. Duma. Als<br />

„Spaltung" wird hier entweder das Ausscheiden des Liquidators Beloussow bezeichnet<br />

oder die Tatsache, daß von den Mitgliedern der Fraktion 2 in einer<br />

Liquidatorenzeitung, 8 in einer antiliquidatorischen Zeitung und die übrigen<br />

neutral waren.


Die Ergebnisse der Wahlen 509<br />

ren. Sie beschimpfen* uns, was das Zeug hält, heraus aber kommt das<br />

beste Kompliment für uns.<br />

Strittige Fragen durch vieles Geschrei, Geschimpfe und durch leere Beteuerungen<br />

lösen zu wollen ist die gewöhnliche Manier eben von Intellektuellenzirkeln.<br />

Die Arbeiter ziehen etwas anderes vor: objektioe Daten.<br />

In Rußland aber, bei seiner jetzigen politischen Lage, gibt es keinen anderen<br />

objektiven Maßstab für die Stärke und den Einfluß der einen oder der<br />

anderen Strömung in den Arbeitermassen als die Arbeiterpresse und die<br />

Arbeiterkurie der Duma, kann es keinen anderen geben.<br />

Deshalb, ihr Herren Liquidatoren, je mehr ihr in der „Nascha Sarja"<br />

und im „Lutsch" lärmen und schimpfen werdet, um so ruhiger werden<br />

wir den Arbeitern die Frage stellen: Nennt ein anderes objektives Kriterium<br />

für die Verbindung mit den Massen als die Arbeiterpresse und die<br />

Arbeiterkurie in der Duma.<br />

Mögen die Leser, die man mit Geschrei über den „sektiererischen"<br />

„Zirkel <strong>Lenin</strong>s" u. dgl. m. betäuben will, in aller Ruhe über diese objektiven<br />

Daten über die Arbeiterpresse und die Arbeiterkurie in der Duma<br />

nachdenken. Diese objektiven Daten zeigen, daß die Liquidatoren lännen,<br />

um ihre völlige Niederlage zu verbergen.<br />

Besonders lehrreich aber ist es, die Entstehung des „Lutsch", der auf<br />

Grund privater Initiative erstmals am Jage der "Wahlen erschien, und die<br />

Entstehung der „Prawda" miteinander zu vergleichen. Die Aprilwelle der<br />

Arbeiterbewegung zählt zu den größten, den historischen Wellen der proletarischen<br />

Massenbewegung in Rußland. Hunderttausende von Arbeitern<br />

haben sich, nach Berechnungen sogar der Fabrikanten, an dieser Bewegung<br />

beteiligt. Und diese Bewegung selbst bat, als ihr Nebenprodukt, die<br />

* Die Liquidatoren umgehen die Wahlergebnisse in der Arbeiterkurie und<br />

machen lieber Lärm um Petersburg: es sei eine Schande! Natürlich ist es eine<br />

Schande, ihr Herren! Schande über die, gegen die der vorher veröffentlichte,<br />

d.h. von der Organisation vertretene "Wählerauftrag angenommen wurde.<br />

Eine Person entgegen dem Wählerauftrag durchzubringen ist schändlich. Noch<br />

schändlicher war es, die Entscheidung durch das Los abzulehnen, als das Ergebnis<br />

drei zu drei stand. Der in Petersburg bekannte „Prawdist" P. forderte den<br />

Liquidator M. direkt auf, das Los entscheiden zu lassen, jener aber lehnte ab!!<br />

Schande über die Liquidatoren wegen ihres Verhaltens bei den Petersburger<br />

Wahlen!


510 IV. 1. <strong>Lenin</strong><br />

„Vrawda" geschaffen: sie stärkte zunächst die „Swesda" und machte aus<br />

dieser Wochenzeitung eine alle zwei Tage erscheinende Zeitung, dann<br />

steigerte sie die Zahl der Arbeitersammlungen für die „Prawda" auf 76<br />

im März und 227 im April (wobei nur die Sammlungen von Arbeitergruppen<br />

gerechnet sind).<br />

Wir haben ein klassisches Beispiel dafür vor uns, wie eine Bewegung,<br />

der ein reformistischer Charakter völlig fremd ist, als Nebenprodukt<br />

Reformen oder Zugeständnisse oder eine Erweiterung des Rahmens usw.<br />

ergibt.<br />

Die Reformisten begehen Verrat an der Arbeiterbewegung, wenn sie<br />

den großen Aufschwung unter reformistische Losungen stellen (wie es<br />

unsere Liquidatoren tun). Die Gegner des Reformismus aber sind nicht<br />

nur den uneingeschränkten Losungen des Proletariats treu, sie erweisen<br />

sich auch als die besten „Praktiker": gerade der allgemeine Aufschwung,<br />

gerade die uneingeschränkten Losungen gewährleisten jene Kraft, die als<br />

Nebenprodukt ein Zugeständnis, eine Reform, eine Erweiterung des Rahmens<br />

ergibt, die die oberen Schichten wenigstens zeitweilig zwingt, die unangenehme<br />

Belebung der unteren Schichten zu dulden.<br />

Als die Liquidatoren in den Jahren 1908-1912 die „Illegalität" beschimpften,<br />

die „Abkehr" von ihr zu rechtfertigen suchten, von einer<br />

„legalen Partei" faselten, kehrte ihnen die ganze Arbeiterkurie den Rükken,<br />

und sie konnten das erste und große Anschwellen der April- und Maiwelle<br />

nicht-nutzen!<br />

Herr Martow gibt in der „Nascha Sarja" diesen für ihn traurigen Umstand<br />

zu, wobei er dieses Eingeständnis in eine besonders spaßige Form<br />

kleidet. Er beschimpft die Gruppen der Plechanow- und „Wperjod"-<br />

Leute, bezeichnet sie als Nullen, diese Gruppen, die noch gestern von den<br />

Liquidatoren selbst entgegen unserer Forderung, nur mit den russischen<br />

Organisationen zu rechnen, „Zentren" und Strömungen genannt wurden.<br />

Und Martow gibt mit Bitterkeit, mit Ingrimm, mit einer Fülle giftiger (auf<br />

Bureninsche Art giftiger) Worte zu, daß der „<strong>Lenin</strong>sche" „sektiererische<br />

Zirkel" „standgehalten" habe, „sogar zum Angriff übergeht", „auf<br />

Schauplätzen erstarkt ist, die mit Illegalität nichts zu tun haben" („Nascha<br />

Sarja", zit. Heft, S. 74).<br />

Aber dieses ganze Eingeständnis Martows zwingt uns ein Lächeln ab.<br />

Die menschliche Natur ist so beschaffen, daß wir schadenfroh lachen, wenn


Die Ergebnisse der Wahlen 511<br />

der Feind einen Fehler macht, wir uns aber manchmal wie Kinder ärgern,<br />

wenn er einen richtigen Schritt tut.<br />

Wir danken für das Kompliment, das Sie, ein liberaler Liquidator, uns<br />

machen mußten! Seit Ende 1908 bestehen wir auf der Ausnutzung der<br />

legalen Formen der Bewegung, im Frühjahr 1909 haben wir deshalb mit<br />

einer Reihe von Freunden gebrochen. 129 Und wenn wir auf diesen „Schauplätzen"<br />

stark waren, so nur deshalb, weil wir nicht der Form halber den<br />

Geist opferten. Um die Form rechtzeitig auszunutzen, um den Aufschwung<br />

vom April zu erfassen, um die für einen Marxisten wichtige Sympathie<br />

der Arbeiterkurie zu gewinnen, durfte man das Alte nicht zurückweisen,<br />

durfte man nicht zum Renegaten gegenüber dem Alten werden, mußte<br />

man seine Traditionen, seine materiellen Substrate unerschütterlich verteidigen.<br />

Gerade diese Ideen durchdrangen den Aufschwung vom April,<br />

gerade sie herrschten in der Arbeiterkurie von 1912 vor, und nur wer<br />

ihnen auf allen Schauplätzen und in allen Formen treu war, konnte mit<br />

diesem Aufschwung und mit dieser Kurie Schritt halten.<br />

.Proswesdotsdhenije" Nr. l, Tiadh dem 7ext der Zeitschrift.<br />

Januar 1913.<br />

Unterschrift: TV.lljin.


512<br />

DAS LEBEN LEHRT<br />

Wer sidi ernsthaft für die Geschicke der Befreiungsbewegung in unserem<br />

Land interessiert, muß sich in erster Linie für unsere Arbeiterbewegung<br />

interessieren. Die Jahre des Aufschwungs wie auch die Jahre der<br />

Konterrevolution haben mit aller Deutlichkeit gezeigt, daß die Arbeiterklasse<br />

an der Spitze aller Kräfte der Befreiungsbewegung marschiert und<br />

daß deshalb das Schicksal der Arbeiterbewegung aufs engste mit dem<br />

Schicksal der russischen gesellschaftlichen Bewegung überhaupt verflochten<br />

ist.<br />

Man nehme die Kurve der Streikbewegung der Arbeiter während der<br />

letzten acht Jahre! Und man versuche, eine ebensolche Kurve zu zeichnen,<br />

die das Ansteigen und den Rückgang der gesamten russischen Befreiungsbewegung<br />

überhaupt in diesen Jahren darstellt. Beide Kurven werden<br />

völlig übereinstimmen. Die Befreiungsbewegung in ihrer Gesamtheit einerseits<br />

und die Arbeiterbewegung anderseits stehen in engstem, unlösbarem<br />

Zusammenhang.<br />

Schauen wir uns die Angaben über die Streikbewegung in Rußland,<br />

beginnend mit dem Jahre 1905, näher an:<br />

Jahr<br />

1905<br />

1906<br />

1907<br />

1908<br />

1909<br />

1910<br />

1911<br />

1912<br />

Anzahl der Streiks Zahl der Teilnehmer<br />

(in 1000)<br />

13 995<br />

2 863<br />

6114<br />

1108<br />

3 573<br />

740<br />

892<br />

176<br />

340<br />

64<br />

222<br />

47<br />

466<br />

105<br />

annähernd 1.5 Millionen Teilnehmei<br />

und politische Streiks).


Das Leben lehrt 513<br />

Zeigen diese Zahlen nicht auf das anschaulichste, daß die Streikbewegung<br />

der russischen Arbeiter das beste Barometer für den Befreiungskampf<br />

des ganzen Volkes in Rußland ist?<br />

Der höchste Aufschwung (1905) weist nahezu 3 Millionen Streikende<br />

auf. 1906 und 1907 geht die Bewegung zurück, bleibt aber noch auf einem<br />

sehr hohen Stand mit durchschnittlich 1 Million Streikender. Dann beginnt<br />

die Bewegung schnell abzusinken, und sie geht zurüde bis 1910 einschließlich.<br />

Das Jahr 1911 ist das Jahr des Umschwungs. Die Kurve beginnt<br />

- wenn auch noch zaghaft - zu steigen. 1912 ist das Jahr eines neuen gewaltigen<br />

Aufschwungs. Die Kurve steigt unentwegt bis zum Stand von<br />

1906 und hält offensichtlich Kurs auf jenes Jahr, da die Zahl von 3 Millionen<br />

den Weltrekord brach.<br />

Eine neue Epoche ist angebrochen. Daran kann jetzt keinerlei Zweifel<br />

bestehen. Der Beginn des Jahres 1913 ist die beste Bürgschaft hierfür. Von<br />

einzelnen Jeilfragen geht die !Masse der Arbeiter dazu über, die allgemeine<br />

Frage zu stellen. Die Aufmerksamkeit der breitesten Massen<br />

konzentriert sich schon nicht mehr nur auf einzelne Mißstände unseres<br />

russischen Lebens. Es wird die Frage nach der Qesamtbeit dieser Mißstände<br />

gestellt, es geht nicht um Reformen, sondern um die Reform.<br />

Das Leben lehrt. Der lebendige Kampf löst am besten jene Fragen,<br />

die noch vor kurzem so umstritten waren. Man betrachte jetzt, nach<br />

1912, beispielsweise unsere Streitigkeiten über die „Petitionskampagne"<br />

und über die Losung „Koalitionsfreiheit". Was hat die Erfahrung gezeigt?<br />

Auch nur einige zehntausend Unterschriften der Arbeiter für eine sehr<br />

gemäßigte Petition zu sammeln erwies sich als unmöglich. Aber eine<br />

Million Teilnehmer allein an politischen Streiks wurde zur Tatsache. Das<br />

Gerede, man dürfe nicht über die Losung „Koalitionsfreiheit" hinausgehen,<br />

weil uns die Massen sonst nicht verstünden, sie nicht zu mobilisieren<br />

seien, erwies sich als leeres und müßiges Gerede vom Leben losgelöster<br />

Menschen. Die lebendigen, wirklichen Millionenmassen ließen sich<br />

gerade unter den umfassendsten, den alten, uneingeschränkten Losungen<br />

mobilisieren. Allein diese Losungen entzündeten den Enthusiasmus der<br />

Massen. Wer tatsächlich mit den Massen zusammenging und wer ohne sie<br />

und gegen sie ging, das ist jetzt zur Genüge überzeugend bewiesen worden.


514 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />

Die lebensvolle, energische, mächtige Bewegung der Massen selbst fegt<br />

die am Schreibtisch ausgeheckten künstlichen Rezepte als untauglichen<br />

Plunder hinweg und schreitet vorwärts, immer vorwärts.<br />

Darin liegt der historische Sinn der sich vor unseren Augen abspielenden<br />

grandiosen Bewegung.<br />

.Trawäa" SVr. 15, Tfaä) dem Text der „Trawda".<br />

19. Januar 1913.


EINE NEUE DEMOKRATIE<br />

515<br />

In den „Bunten Betrachtungen" der Neujahrsnummer der „Retsch" berührte<br />

Herr Tan eine wichtige Frage, der die Arbeiter ernste Aufmerksamkeit<br />

schenken sollten. Es ist die Frage des Heranwachsens einer neuen<br />

Demokratie.<br />

„.Seit etwa einem Jahr schon oder wohl noch länger", schreibt Herr Tan,<br />

„beginnt das Flußbett des Lebens sich wieder zu wandeln und aufzutauen. Statt<br />

zu sinken, steigt das Wasser, weiß Gott woher, aus unterirdischen Adern und<br />

fernen Quellen. Drei Jahre lang war alles ruhig und leer. Jetzt tauchen Leute<br />

auf, kriechen einer nach dem anderen aus verschiedenen Spalten und Krähwinkeln<br />

hervor...<br />

Am interessantesten sind die Leute bäuerlichen Standes, die von unten her<br />

gekommen sind. Ihre Zahl ist Legion. Sie haben die mittleren Bereiche des<br />

Lebens erobert und greifen sogar nach den höheren, besonders in der Provinz.<br />

Techniker, Rechnungsführer, Agronomen, Lehrer, allerlei Semstwoangestellte.<br />

Alle gleichen einander. Grau im Gesicht, von breitem Knochenbau, ungeschlachtem<br />

Äußeren; zu Reflexionen nicht geneigt, im Gegenteil, zählebig wie<br />

Katzen ... Das Leben hat offenbar eine neue Stufe erklommen, denn wir<br />

Rasnotschinzen nehmen zu ihnen eine Stellung ein wie einstmals die Adligen<br />

zu uns."<br />

Treffend und richtig gesagt, obwohl man nicht vergessen sollte, daß die<br />

alten Rasnotschinzen wie die neuen, die Rasnotschinzen „bäuerlichen Standes",<br />

die demokratische Intelligenz und Halbintelligenz, der Bourgeoisie<br />

zugehören zum Unterschied von den adligen Fronherren.<br />

Die Bourgeoisie besteht aber aus verschiedenen Schichten, für die verschiedene<br />

historische Möglichkeiten charakteristisch sind. Die Spitzen der<br />

Bourgeoisie und die reiche bürgerliche Intelligenz, Advokaten, Professoren,


516 TV. 1. <strong>Lenin</strong><br />

Journalisten, Abgeordnete usw., tendieren fast immer zu einem Bündnis<br />

mit den Purischkewitsch. Mit ihnen ist diese Bourgeoisie durch tausend<br />

ökonomische Fäden verbunden.<br />

Umgekehrt sind die bäuerliche Bourgeoisie und die neue Intelligenz,<br />

die Intelligenz „bäuerlichen Standes", durch tausend Fäden mit den Massen<br />

der rechtlosen, unterdrückten, unwissenden, Hunger leidenden Bauernschaft<br />

verbunden und auf Grund aller ihrer Lebensbedingungen gegen<br />

jeglidies Purischkewitsdiregime, gegen jegliches Bündnis mit ihm.<br />

Diese neue, zahlreichere, dem Leben der Millionen näherstehende Demokratie<br />

lernt, erstarkt und wächst rasch. Sie ist meistenteils von unbestimmten<br />

oppositionellen Stimmungen erfüllt, nährt sich von liberalem<br />

Plunder. Den klassenbewußten Arbeitern fällt die große und verantwortungsvolle<br />

Aufgabe zu, dieser Demokratie behilflich zu sein, sich von<br />

dem Einfluß der liberalen Vorurteile zu befreien. Nur in dem Maße, wie<br />

sie diese Vorurteile überwinden, die jämmerlichen liberalen Illusionen abwerfen,<br />

mit den Liberalen brechen und die Hand den Arbeitern reichen<br />

wird, ist es ihr, der neuen Demokratie in Rußland, bescbieden, für die<br />

Sache der Freiheit etwas Ernstes zu tun.<br />

„Trawda" 9Vr. 15, Tdadj dem 7ext der .Prawda'.<br />

i9.Januar I9i3.<br />

Untersdnift: 7.


OBER DIE VOLKSTÜMLERIDEOLOGIE<br />

517<br />

Herr A. W. P. 130 hat in Nr. 12 des „Russkoje Bogatstwo" einen „Leitartikel<br />

über ein „aktuelles" Thema unter der Überschrift „Volkssozialismus<br />

oder proletarischer Sozialismus?" geschrieben.<br />

Dieser Artikel ist an sich äußerst unseriös und inhaltslos. Solch leeres<br />

Gerede, ein solches Schwelgen in ausweichenden, hohlen Phrasen, einen<br />

solchen Mischmasch von Ansichten (Eklektizismus) haben wir schon lange<br />

nicht mehr in den „Leitartikeln der als seriös geltenden Volkstümlerzeitschrift<br />

gesehen.<br />

Der Artikel ist jedoch dadurch charakteristisch, daß er die überaus ernste<br />

und aktuelle Frage des Zerfalls der Volkstümlerrichtung berührt. Die<br />

Volkstümlerideologie ist die Ideologie (das System der Anschauungen)<br />

der bäuerlichen Demokratie in Rußland. Deshalb muß jeder klassenbewußte<br />

Arbeiter aufmerksam verfolgen, wie sich diese Ideologie verändert.<br />

I<br />

Die Volkstümlerideologie ist sehr alt. Als ihre Stammväter gelten Herzen<br />

und Tschernyschewski. Ihre Blütezeit hatte die aktive Volkstümlerrichtung,<br />

als die Revolutionäre der siebziger Jahre „ins Volk" (in die<br />

Bauernschaft) gingen. Die ökonomische Theorie der Volkstümler entwickelten<br />

am geschlossensten W. W. (Woronzow) und Nikolai-on m in<br />

den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Anfang des 20. Jahrhunderts<br />

wurden die Anschauungen der linken Volkstümler am eindeutigsten<br />

von den Sozialrevolutionären zum Ausdruck gebracht.<br />

Die Revolution von 1905, die alle gesellschaftlichen Kräfte Rußlands


5<strong>18</strong> TV. J. <strong>Lenin</strong><br />

in der offenen, von den Massen getragenen Aktion der Klassen zeigte, ergab<br />

eine generelle Oberprüfung der Volkstümlerideologie und bestimmte<br />

ihren Platz. Die bäuerliche Demokratie - das ist der einzige reale Inhalt<br />

und die einzige gesellschaftliche Bedeutung der Volkstümlerrichtung.<br />

Die russische liberale Bourgeoisie ist ihrer ökonomischen Lage nach gezwungen,<br />

nicht die "Beseitigung der Privilegien von Purischkewitsch und<br />

Co., sondern deren Aufteilung unter die Fronherren und die Kapitalisten<br />

anzustreben. Umgekehrt muß die bürgerliche Demokratie in Rußland — die<br />

Bauernschaft - die "Beseitigung aller dieser Privilegien erstreben.<br />

Phrasen über „Sozialismus" im Munde der Volkstümler, über „Sozialisierung<br />

des Grund und Bodens", Ausgleichung u. dgl. m. sind bloße Worte,<br />

die die reale Tatsache verhüllen, daß die Bauern die völlige Gleichheit in<br />

der Politik und die völlige Beseitigung des fronherrlichen Grundbesitzes<br />

erstreben.<br />

Die Revolution von 1905 enthüllte vollends diesen sozialen Kern der<br />

Volkstümlerrichtung, diese ihre Klassennatur. Die Bewegung der Massen -<br />

in der Form der Bauernverbände von 1905, in der Form des Kampfes der<br />

Bauern in den Dörfern in den Jahren 1905 und 1906, in der Form der<br />

Wahlen zu den beiden ersten Dumas (Bildung der ,,Trudowiki"gruppen)<br />

- alle diese großen sozialen Tatsachen, die uns Millionen Bauern in Aktion<br />

zeigten, fegten die volkstümlerische, scheinsozialistische Phrase wie Staub<br />

hinweg und enthüllten den Kern: die bäuerliche (bürgerliche) Demokratie<br />

mit einer ungeheuren, noch nicht ausgeschöpften Kräftereserve.<br />

Wen die Erfahrungen der großen Epoche in dem neuen, modernen<br />

Rußland nicht gelehrt haben, den realen Inhalt der Volkstümlerideologie<br />

von ihrer Worthülle zu unterscheiden, dem ist nicht zu helfen, den kann<br />

man nicht ernst nehmen, der kann ein mit Worten spielender Publizist<br />

sein (wie A. W. P. vom „Russkoje Bogatstwo"), aber kein Politiker.<br />

Im nächsten Artikel werden wir den Zerfall der Volkstümlerrichtung<br />

und diesen Publizisten näher betrachten.<br />

n<br />

Die Erfahrungen des Jahres 1905 sind gerade deshalb von so großer Bedeutung,<br />

weil sie zu einer Überprüfung der Theorie der Volkstümler an<br />

Hand der "Bewegung der Massen gezwungen haben. Und diese Uberprü-


Tiber die Volkstümlerideohgie 519<br />

fung leitete sofort den Zerfall der Volkstümlerrichtung, das Fiasko ihrer<br />

Theorien ein.<br />

Schon auf dem ersten Parteitag der Sozialrevolutionäre, im Dezember<br />

1905, begannen sich von ihnen die „Volkssozialisten" abzuspalten, die sich<br />

etwa im Herbst 1906 endgültig absonderten.<br />

Diese „Volkssozialisten" waren eine Vorwegnahme unserer Liquidatoren.<br />

Ganz ebenso besangen sie die „legale Partei", ganz ebenso liquidierten<br />

sie die Losungen der konsequenten Demokratie, hielten sie renegatenhafte<br />

<strong>Red</strong>en (siehe zum Beispiel die Artikel des Herrn Pesdiechonow<br />

in Nr. 8 des „Russkoje Bogatstwo" von 1906). Es waren das bäuerliche<br />

Kadetten, und die zweite Duma (die die Volkstümler nidbt boykottierten,<br />

ja nicht einmal die Sozialrevolutionäre) bewies, daß die Mehrheit der<br />

Bauerndeputierten den Opportunisten vom „Russkoje Bogatstwo" folgte,<br />

die Minderheit aber den Sozialrevolutionären. Die zweite Duma bestätigte<br />

endgültig, was schon aus den Volkstümlerzeitungen der „Tage der Freiheit"<br />

(Herbst 1905 und Frühjahr 1906) zu erkennen war, nämlich: die<br />

Sozialrevolutionäre können nichts anderes sein als der linke Flügel der<br />

bäuerlichen Demokratie in Rußland, anders sind sie ein Nichts.<br />

Der Zerfall der Volkstümlerrichtung bestätigt das immer deutlicher. Zur<br />

Zeit des Wütens der Konterrevolution ging dieser Zerfall rasch vonstatten:<br />

die linken Volkstümler haben sich selber aus dem Kreis der trudowikischen<br />

Dumaabgeordneten „abberufen". Die alte Partei wurde faktisch liquidiert,<br />

eine neue nicht geschaffen. Das Renegatentum (bis hin zu den Ropschinschen<br />

schändlichen <strong>Werke</strong>n „Das fahle Roß" und „Was es nicht gab")<br />

fand sogar bei den „linken" Volkstümlern leichten Zugang. Einige von<br />

ihnen (die „Potschin"-Leute) verkünden den Boykott. Andere tendieren<br />

zum Marxismus (N. Suchanow, obwohl in seinem Kopf noch ein ungeheures<br />

Durcheinander herrscht). Wieder andere zum Anarchismus. Der<br />

Zerfall ist überhaupt ungleich stärker als bei den Sozialdemokraten, denn<br />

es gibt zwar offizielle Zentren, aber keine klare, konsequente, prinzipielle<br />

Linie, die die Zerfallstendenzen zu bekämpfen imstande wäre.<br />

Und nun gibt uns Herr A. W. P. ein Musterbeispiel dieses ideologischen<br />

Zerfalls. Die Volkstümler hatten einst eine Theorie. Geblieben sind jetzt<br />

nur da und dort aufgeschnappte „Vorbehalte" gegenüber dem Marxismus.<br />

Jeder prinzipienlose Feuilletonist eines findigen Bourgeoisblättdiens wird,<br />

ohne irgend etwas zu riskieren, ohne sich irgendwie zu binden, ohne sich zu


520 TV. 1. <strong>Lenin</strong><br />

irgend etwas zu bekennen, den Artikel des Herrn A. W. P. zur Verteidigung<br />

des „Volks"sozialismus unterschreiben können. Ist doch der „Volks"sozialismus<br />

eine hohle Phrase, die dazu dient, die Frage zu umgehen,<br />

weldbe Klasse oder soziale Schicht überall in der Welt für den Sozialismus<br />

kämpft.<br />

Zwei Beispiele für das Geschwätz des Herrn A. W. P. genügen.<br />

„Wie sich zeigt", schreibt er, „ist die Partei, die sich die Doktrin des proletarischen<br />

Sozialismus zu eigen gemacht hat, in Wirklichkeit bereit, ihre Kräfte<br />

auch mit Hilfe anderer, .halbproletarischer' und sogar .bürgerlicher* Schichten<br />

zu entfalten."<br />

Nicht wahr, ein Einwand, würdig eines Gymnasiasten der vierten<br />

Klasse! In den sozialistischen Parteien der ganzen Welt gibt es sowohl<br />

Halbproletarier als auch Bourgeois... also? Also, folgert Herr A. W. P.,<br />

kann man die Tatsache umgehen, daß nur das Proletariat in der ganzen<br />

Welt 1. einen systematischen Kampf gegen die Klasse der Kapitalisten<br />

führt und 2. die iWassenbasis der sozialdemokratischen Parteien ist<br />

Das zweite Beispiel:<br />

„Man nehme auch nur die Studentenschaft", schreibt der findige Herr<br />

A.W.P., „sie ist doch echteste Bourgeoisie, und die Sozialisten unter den<br />

Studenten, ich weiß nicht, wie es jetzt steht, aber noch kürzlich bildeten sie<br />

fast die Mehrheit."<br />

Nun, ist das nicht einzigartig? Ist dieses Argument nicht einer naiven<br />

Sozialrevolutionären Gymnasiastin würdig? Nach den Jahren 1905-1907<br />

nicht zu bemerken, wie auf dem Schauplatz aller politischen Aktionen eine<br />

Differenzierung von Dutzenden Millionen Bauern und Millionen von<br />

Arbeitern vor sich gegangen ist, und Bedeutung (als Argument gegen den<br />

„proletarischen Sozialismus"!) der Tatsache beizumessen, daß die liberale<br />

und die demokratische studierende Jugend in Rußland mit den Sozialrevolutionären<br />

und den Sozialdemokraten sympathisiert! Hören Sie-, Herr<br />

A. W. P., halten Sie Maß...<br />

Die klassenbewußten Arbeiter müssen in bezug auf die Volkstümler<br />

eine unverhüllte und klare Politik betreiben. Sie müssen die scheinsozialistisdien<br />

Phrasen rücksichtslos verspotten und dürfen nicht zulassen, daß<br />

die einzig ernste Frage, die Frage des konsequenten Demokratismus, in<br />

ihnen untergebt.<br />

„Volks"sozialismus, Ausgleichung, Sozialisierung des Grund und


Tiber die Volkstümlerideohgie 521<br />

Bodens, Genossenschaften, Arbeitsprinzip? Es lohnt nicht einmal, das zu<br />

widerlegen. Das Leben und die Revolution haben das schon längst aus<br />

dem Bereich ernster politischer Fragen gestridjen. Mit diesem Geschwätz<br />

umgehen Sie nur die ernste Frage des "Demokratismus. Sie müssen klipp<br />

und klar sagen, ob Sie den Losnngen der konsequenten Demokratie tren<br />

sind. Wollen Sie und können Sie diese Losungen in eine systemätisdje<br />

Arbeit unter den Massen einer fest mnrissenen sozialen Schicht umwandeln?<br />

Wenn jar dann ist der Arbeiterdemokrat Ihr Verbündeter und<br />

Freund gegen alle Feinde der Demokratie. Wenn nicht, dann treten Sie ab,<br />

dann sind Sie nichts anderes als ein Schwätzer.<br />

.Vrawda"71r. i6und 17, Tiadbdem Jextder „Vrawda'.<br />

20. und 22. 'Januar i9l3.<br />

"Untersdhrijt: W. J.<br />

34 Larin, Werte, Bd. <strong>18</strong>


522<br />

AN DIE SOZIALDEMOKRATEN 132<br />

Hier die vollständige Wiedergabe des Leitartikels der letzten Nummer<br />

der Petersburger Zeitung „Lutsch" (vom 19. Januar 1913, Nr. 15-101):<br />

DIE ARBEITERMASSEN UND DIE ILLEGALITÄT<br />

„Der Antrag der Metallarbeiter auf Registrierung ihres Verbandes ist wiederum<br />

abgelehnt worden. Trotz aller Zugeständnisse, zu denen die Arbeiter bereit<br />

waren, fand die Fabrikkammer entsdiieden alle Paragraphen unannehmbar.<br />

Ob hier die Gesellschaft der Fabrikanten und Werkbesitzer die Hand im<br />

Spiele hatte, die, wie die Zeitungen eine Zeitlang meldeten, darauf bestand,<br />

den Metallarbeitern keinen neuen Gewerkschaftsverband zu erlauben, oder die<br />

Fabrikkammer von sich aus beschlossen hatte, die Existenz eines solchen Verbandes<br />

nicht zu gestatten, ändert nichts am Wesen der Sache. Der fortgeschrittenste<br />

und kulturvollste Teil der Petersburger Arbeiter ist sogar des armseligen<br />

Rechts beraubt, das ihnen auf Grund der provisorischen Richtlinien über die<br />

Verbände und Gesellschaften zusteht! Wieviel Kräfte wurden verausgabt, wieviel<br />

Leben hingegeben im Kampf für dieses Stückchen Recht, das jetzt mit<br />

einer Handbewegung hinweggewischt wird!<br />

Und was am sonderbarsten ist - die breiten Arbeitermassen antworten überhaupt<br />

nicht auf diesen Rechtsraub. Unter dem Einfluß der Verfolgungen der<br />

legalen Organisationen in letzter Zeit werden sogar hier und da unter der<br />

Arbeiterschaft die Sympathien für die Legalität' wieder lebendiger und stärker.<br />

Wir verschließen keineswegs die Augen vor dieser unseres Erachtens betrüblichen<br />

Tatsache. Da wir aber nicht gewohnt sind, der Spontaneität zu huldigen,<br />

suchen wir uns über die Bedeutung dieser Tatsache Rechenschaft zu<br />

geben.<br />

Das jetzige Gerede über die .Illegalität' erinnert in hohem Maße an den


An die Sozialdemokraten 523<br />

alten, jetzt wohl gründlich in Vergessenheit geratenen Streit um den Terror.<br />

Dem Terror ,huldigten' ebenfalls viele, um ihre eigene Untauglichkeit zu verbergen.<br />

Es ist schön und gut, daß es Helden gibt, wir aber werden schon irgendwie<br />

hinterhertraben. So auch jetzt. Wir sind zu faul, zu denken und neue Wege<br />

zu suchen, wir warten darauf, daß die Illegalität an unserer Statt entscheide,<br />

und dann werden wir handeln, ohne verantwortlich zu sein. Gelingt die Sache -<br />

schön und gut, gelingt sie nicht, so haben wir etwas, worauf wir die Schuld<br />

schieben können.<br />

Diese Einstellung, die, wir leugnen es nicht, in unserer heutigen politischen<br />

Situation wurzelt und sich hinreichend durch die schweren Opfer erklärt, die<br />

auf dem Altar der offenen Bewegung bereits gebracht worden sind - dieses<br />

Nicht-verantwortlich-sein-WolIen, der unbewußte Wunsch, ,nicht dabei gewesen<br />

zu sein' im Falle eines Mißerfolgs, das eben ist es, was einigen Schichten<br />

der Arbeitermasse die wiedererwachende Hochachtang vor der Illegalität diktiert.<br />

Wir sagen Hochachtung vor der Illegalität, nicht Flucht in die Illegalität,<br />

weil es faktisch in der Illegalität immer nur einzelne gab - die Masse kann in<br />

der Illegalität nichts ausrichten -, diese niemandem verantwortlichen einzelnen<br />

aber die Massenaktionen befehligten.<br />

Die ,legalen Möglichkeiten' jedoch, sagt man, seien alle erschöpft, so daß<br />

wir jetzt vor einer fast vollständigen Vernichtung der legalen Organisationen<br />

stehen. Gerade das stimmt nicht,, daß alle Möglichkeiten erschöpft seien. In<br />

Wirklichkeit ist die grundlegende Möglichkeit, ohne die kein einziger Sieg der<br />

Arbeiterklasse denkbar ist, nur sehr wenig genutzt. Wir sprachen von der planmäßigen<br />

Mitwirkung der Massen an der Verteidigung ihrer Organisationen.<br />

Alles, was bisher getan wurde, geschah sowohl nicht genügend planmäßig als<br />

auch ohne genügende Mitwirkung der Massen. Tausende von Unterschriften<br />

unter einer Petition für die Koalitionsfreiheit sind nichts im Vergleich zu den<br />

Hunderttausenden Fabrikarbeitern. Die Dutzende und selten Hunderte zählenden<br />

Mitglieder unserer Gewerkschafts-, Bildungs- und aller möglichen<br />

anderen Vereinigungen sind ein kleiner Tropfen, verglichen mit der riesigen<br />

Zahl der Arbeiter, die in dem betreffenden Benrfszweig beschäftigt sind, in dem<br />

betreffenden Viertel wohnen usw. Und dabei sind faktisch Leute, die sich für<br />

die Verbände wirklich interessieren und in ihnen arbeiten, noch seltener.<br />

Die Masse, die die gefährlichsten Posten in den legalen Organisationen mit<br />

den Besten aus der Arbeiterintelligenz besetzt, läßt leicht den Mut sinken und<br />

ist bereit, die Sache selbst aufzugeben, wenn diese Vorkämpfer aus ihren Reihen<br />

gerissen werden. Gerade hierin wurzelt die Schwäche der zeitgenössischen Arbeiterbewegung,<br />

und gerade hier liegt ein noch unberührtes Feld beharrlicher<br />

und zielstrebiger sozialdemokratischer Arbeit."


524 IV. 1. <strong>Lenin</strong><br />

Man kann sich schwerlich ein vollständigeres, exakteres und beredteres<br />

Dokument zur Beleuchtung der brennenden Fragen unserer sozialdemokratischen<br />

Partei vorstellen als diesen Artikel. Der Leitartikel des „Lutsch"<br />

Nr. 101 zieht ein bemerkenswert richtiges Fazit aus allen hundert Nummern<br />

des „Lutsch" und aus der ganzen fünfjährigen Propaganda der Liquidatoren,<br />

P. B. Axelrods, Th. Dans, W. Jeshows, Lewizkis, Potressows,<br />

Martows, Martynows usw.<br />

Um diesen Leitartikel ausführlich zu kommentieren, müßte man einen<br />

<strong>Band</strong> schreiben und wiederholen, was die Marxisten aller Strömungen<br />

fn der Presse der Jahre 1909-1912 gegen die Liquidatoren gesagt<br />

haben.<br />

Wir wollen nur auf einiges eingehen. In der Arbeitermasse werden die<br />

Sympathien für die Illegalität wieder lebendiger und stärker, erwacht von<br />

neuem die Hochachtung vor ihr. Diese Tatsache als betrüblich anzusehen<br />

heißt ein Liberaler zu sein und kein Sozialdemokrat, ein Konterrevolutionär<br />

und kein Demokrat. Die Illegalität mit dem Terror zu vergleichen ist<br />

eine unerhörte Verhöhnung der revolutionären Arbeit unter den Massen.<br />

Nur die Illegalität stellt und löst die Fragen der heranreifenden Revolution,<br />

bestimmt die Richtung der revolutionären sozialdemokratischen Arbeit,<br />

gewinnt die Arbeitennassen eben durch diese Arbeit.<br />

In die Illegalität gingen und gehen immer die bewußtesten, die besten,<br />

die bei der Masse beliebtesten Arbeiterkämpfer. Die Verbindung zwischen<br />

der Illegalität und den Massen kann jetzt noch umfassender und<br />

enger sein als früher und ist es gewöhnlich auch, hauptsächlich infolge der<br />

größeren Bewußtheit der Massen, zum Teil aber auch gerade dank der<br />

„legalen Möglichkeiten". Dumm und niederträchtig ist das Gerede von<br />

einer legalen Partei, aber für unsere sozialdemokratischen Parteizellen, für<br />

ibre Arbeit unter den Massen sind die „legalen Möglichkeiten" keineswegs<br />

erschöpft, können sie nicfct „erschöpft" sein.<br />

Wird der Leitartikel der Nr. 101 des „Lutsch" nicht alle Sozialdemokraten<br />

aufrütteln? Wird sich auch nur eine „Strömung" unter den Sozialdemokraten<br />

finden, die eine solche Propaganda hinnimmt?<br />

Wird dieser resümierende Leitartikel nicht zur Lösung der brennenden<br />

Frage der Einheit der sozialdemokratischen Partei bettragen?<br />

Die Diplomaten des Liquidatorentums sind in Nr. 101 des „Lutsch"<br />

vollends entlarvt. Ihnen ist die Maske vom Gesicht gerissen. Von einer


An die Sozialdemokraten 525<br />

Einheit mit der Liqmdatorengruppe des „Lutsch" und der „Nasdia Sarja"<br />

können jetzt nur noch Heuchler reden.<br />

Es ist an der Zeit für diejenigen Sozialdemokraten, die bisher aus verschiedenen<br />

Gründen schwankten, auf eine Frage keine bestimmte Antwort<br />

gaben, in ausweichender Form eine „Vereinbarung" mit dem „Lutsch" zuließen,<br />

mit Worten über die „Einheit" die Vereinigung mit dem „Lutsch"<br />

tarnten — es ist für sie an der Zeit, endlich aufzuhören zu schwanken und<br />

offen Stellung zu beziehen.<br />

Unmöglich ist eine Einheit mit dem „Lutsch", durchaus möglich und<br />

dringend notwendig ist die Einheit gegen den „Lutsch". Denn es geht um<br />

die Einheit der .Illegalität", um die Einheit der illegalen sozialdemokratischen<br />

Partei, der SDAPR, und um die Einheit ihrer revolutionären<br />

Arbeit unter den Massen.<br />

Qesdbrieben am 22. Januar<br />

(4.7ebruar) i9i3.<br />

AlsTlugs&riftbektograpbisd) NadidemJextderWugsdjrift.<br />

vervielfältigt.


526<br />

IN DER WELT DER ASEF<br />

Die nationalistische Presse macht einen schrecklichen Lärm um den<br />

„Fall" Aljodiin. Man bedenke nur! Die Österreicher haben Rußland beleidigt,<br />

sie haben einen russischen Ingenieur wegen Spionageverdachts<br />

schuldlos verhaftet, haben den Gefangenen verhöhnt! Die „patriotischen"<br />

Ausfälle gegen Österreich fanden kein Ende.<br />

Und nun zeigt sich der ganze Mechanismus, der einfache, alte, längst<br />

bekannte Mechanismus dieser Angelegenheit. Herr Aljochin wurde das<br />

Opfer des österreichischen Polizei„mitarbeiters" Weisman, der für 2000<br />

Kronen (800 Rubel) im Monat russische Spione in Österreich aufspürte.<br />

Der russische Ingenieur, der kein Deutsch versteht und zudem offenbar<br />

noch wenig gewitzt ist, ging dem Lockspitzel, der ihn zur Besichtigung von<br />

Arsenalen mitnahm, naiv auf den Leim.<br />

Das „Nowoje Wremja" und unsere anderen Zeitungen von der Richtung<br />

der Schwarzhunderter und der Regierung stehen für die russisdien<br />

Asef mit Leib und Seele ein. Als sich aber herausstellte, daß dieser Asef<br />

in Österreichs Diensten steht, entflammten die loyalen Russen in „ehrlicher"<br />

Entrüstung.<br />

Es stellte sich aber außerdem heraus, daß Weisman einst russisdoer<br />

Spion und Lockspitzel war. Die Karriere dieses Weisman ist sehr aufschlußreich.<br />

Sein Vater unterhielt ein Bordell. Das Söhnchen wurde nach dieser Vorbildung<br />

russischer Spion in Österreich, in Wien, wobei er außerdem die<br />

russischen politischen Emigranten bespitzelte. Von 1901 bis 1905 diente<br />

Weisman also der russischen Polizei, trieb er gleichzeitig militärische und<br />

politische Spionage.


In der Welt der Asef 527<br />

Dann entzweite er sich mit der russischen Polizei und trat in den Dienst<br />

der österreichischen Polizei über.<br />

Sehr einfach.<br />

Der arme Aljochin fiel einem ehemaligen russischen Spion zum Opfer.<br />

Wie sollten sich da die russischen Lakaienzeitungen nicht über diese<br />

„Heimtücke" Österreichs entrüsten?<br />

.Trawda" 3Vr. 20, Tiadb dem 7ext der .Prawda".<br />

25.Januar 1913.<br />

VittersOirift: IV.


528<br />

BOURGEOISIE UND REFORMERTUM<br />

Die Betrachtungen der „Retsch" über die aktuelle Frage der Streiks<br />

verdienen die besondere Beachtung der Arbeiter.<br />

Die liberale Zeitung führt die offiziellen Daten über die Streikbewegung<br />

an:<br />

Jahr<br />

1905<br />

1906<br />

1907<br />

1908<br />

1909<br />

1910<br />

1911<br />

1912<br />

Streiks<br />

13 995<br />

6114<br />

3 573<br />

892<br />

340<br />

222<br />

466<br />

19<strong>18</strong><br />

Arbeiter<br />

(in 1000)<br />

2 863<br />

1108<br />

740<br />

176<br />

64<br />

47<br />

105<br />

683<br />

Wir bemerken nebenbei, daß die Zahlen für 1912 eindeutig zu niedrig<br />

angegeben sind: Teilnehmer an politischen Streiks werden insgesamt<br />

511 000 gezählt. Ihre Anzahl belief sich auf etwa das Doppelte. Erinnern<br />

wir auch daran, daß die „Retsch" noch im Mai 1912 den politischen Charakter<br />

unserer Arbeiterbewegung leugnete und beteuerte, die ganze Bewegung<br />

trage ausschließlich ökonomischen Charakter. Doch wollen wir uns<br />

jetzt mit einer anderen Seite der Sache befassen.<br />

Wie bewertet unsere liberale Bourgeoisie diese Erscheinung?<br />

„Nicht erfüllt sind die Grnndfordernngen des politischen Bewußtseins" (warum<br />

nur des Bewußtseins??) „der russischen Bürger", schreibt die „Retsch".<br />

„Die Arbeiterklasse ist überall die beweglichste und empfänglichste Schicht<br />

der städtischen Demokratie die aktivste Schicht des Volkes ... Unter konstitutionellen<br />

Bedingungen bei normalen politischen Verhältnissen<br />

wären nicht (durch den Putilow-Streik) Zehntausende Arbeitstage in einem<br />

Produktionszweig verlorengegangen, der jetzt, angesichts der außenpolitischen<br />

Komplikationen, so große Bedeutung erlangt." (Nr. 19.)


Bourgeoisie und Reformertum 529<br />

Der Standpunkt der Bourgeoisie ist klar. „Wir" wollen eine Politik des<br />

Imperialismus, der Eroberung fremder Gebiete. „Uns" behindern die<br />

Streiks. „Wir" verlieren Mehrwert infolge der „verlorengegangenen"<br />

Arbeitstage. „Wir" wollen eine ebensolche „normale" Ausbeutung der<br />

Arbeiter wie in Europa.<br />

Vortrefflich, ihr Herren Liberale! Euer Wunsch ist berechtigt, euer Bestreben<br />

wollen wir unterstützen... wenn... wenn es nicht etwas Totes,<br />

etwas Leeres ist!<br />

Die „Retsch" fährt fort: „Die preußischen Staatsmänner" (man hätte<br />

sagen müssen: die preußischen Gutsbesitzer) „haben nicht aus Sympathie<br />

für die Freiheiten die ,Cegalisierung der sozidldemokratisdhen Partei' eingeräumt.<br />

Reformen bringen entsprechende Früchte, wenn sie zur rechten<br />

Zeit gewährt werden."<br />

So sieht das vollendete Reformertum unserer Bourgeoisie aus. Sie beschränkt<br />

sich auf Seufzer, sie möchte die Purischkewitsch überzeugen, ohne<br />

sie zu verletzen, sich mit ihnen versöhnen, ohne sie zu beseitigen. Jedem<br />

denkenden Menschen muß klar sein, daß die Losung der „Legalisierung<br />

der sozialdemokratischen Partei" ihrer objektiven Bedeutung nach (d. h.<br />

unabhängig von den guten Absichten einzelner Grüppchen) ein untrennbarer<br />

Bestandteil dieses jämmerlichen und ohnmächtigen bürgerlichen<br />

Reformertums ist.<br />

Wir wollen nur eins bemerken. Bismarck konnte Reformen nur deshalb<br />

erfolgreich durchführen, weil er über den Rahmen des Reformertums<br />

hinausging: er vollzog bekanntlich eine Reihe von „Revolutionen von<br />

oben", er raubte einem der reichsten Länder der Welt fünf Milliarden<br />

Francs, er konnte dem durch den Goldstrom und die unerhörten militärischen<br />

Erfolge berauschten Volk das allgemeine Wahlrecht und eine<br />

wirkliche Gesetzlichkeit geben.<br />

Glaubt ihr nicht, ihr Herren Liberale, daß etwas Ahnliches in Rußland<br />

möglich ist?? Weshalb habt ihr sogar bei der Frage des Archangelsker<br />

Semstwos (das wäre doch eine „Reform"!) erklärt, daß Reformen in Rußland<br />

aussichtslos seien??<br />

.Vrawda'TJr.23, "Madb dem 7extder .Vravoda".<br />

29. Januar {913.<br />

Vntersdirift: 7.


530<br />

ÜBER DIE LEGALE PARTEI<br />

Die Zeitung „Lutsch", die in intellektuellen Kreisen um so mehr „Lärm"<br />

ztr machen versteht, je weniger sie von den Arbeitern gelesen wird, setzt<br />

ihre Propaganda für eine legale Arbeiterpartei mit einem Eifer fort, der<br />

einer besseren Sache wert wäre.<br />

Im Neujahrsleitartikel dieser Zeitung lesen wir die alte Unwahrheit,<br />

das Jahr 1912 habe „als aktuelle Losung und Banner des proletarischen<br />

Rußlands den Kampf für die Koalitionsfreiheit und den Kampf für die<br />

legale Existenz der sozialdemokratischen Arbeiterpartei auf die Tagesordnung<br />

gesetzt".<br />

Jeder, der mit der Massenbewegung der Arbeiter im Jahre 1912 wirklich<br />

Fühlung gehabt und ihr politisches Gesicht aufmerksam beobachtet<br />

hat, weiß sehr wohl, daß die Liquidatoren vom „Lutsch" hier die Unwahrheit<br />

sagen. Als aktuelle Losung und Banner des Kampfes proklamierten<br />

die Arbeiter etwas anderes. Das veranschaulichten besonders deutlich<br />

z. B. die Maitage, wo die fortgeschrittensten Arbeiter verschiedener<br />

Strömungen (und sogar unter Beteiligung einer Minderheit von Volkstümlern<br />

inmitten der Mehrheit von Sozialdemokraten) selbst eine andere<br />

Losung aufstellten, ein anderes „Banner" entfalteten.<br />

Die Intellektuellen vom „Lutsch" wissen das, aber sie wollen ihre<br />

Kleingläubigkeit, ihre Begriffsstutzigkeit, ihren Opportunismus den Arbeitern<br />

aufzwingen. Ein bekanntes und nicht neues Bild! In Rußland aber<br />

fällt den Autoren eine solche Verzerrung um so leichter, als sie das Monopol<br />

haben, auf bestimmten Schauplätzen „legal" in Erscheinung zu treten.<br />

Doch bleibt die Unwahrheit des „Lutsch" eine Unwahrheit. Und sie<br />

wird noch schlimmer, wenn der „Lutsch" fortfährt:


Tiber die legale Partei 531<br />

„Im Mittelpunkt der politischen Mobilisierung der Arbeitermassen des<br />

Jahres 1913 wird eben diese Losung stehen..."<br />

Mit anderen Worten: Entgegen dem Willen der Arbeitermassen, die<br />

bereits eine andere Losung ausgegeben haben, werden die Intellektuellen<br />

vom „Lutsch" sie stutzen und beschneiden! Des Menschen Wille... nur<br />

daß ihr, ihr Herren, keineswegs eine sozialdemokratische, sondern eine<br />

liberale Sache betreibt.<br />

Möge sich der Leser den kürzlichen Streit des „Lutsch" mit der „Prawda"<br />

über die legale Partei ins Gedächtnis rufen. Weshalb gelang es nicht<br />

einmal den Kadetten, die legale Partei zu schaffen? fragte die „Prawda"*.<br />

Und im „Lutsch" antwortete Th. D.:<br />

„Die Kadetten gaben zu, daß ihr Wunsch utopisch ist", als ihr Statut nicht<br />

bestätigt wurde, die Liquidatoren aber betrieben „eine beharrliche planmäßige<br />

Arbeit, die Eroberung einer Position nach der andern" (siehe Nr. 73 des<br />

„Lutsch").<br />

Man sieht: Th. D. hat sich um die Antwort gedrückt! Auch die Kadetten<br />

leisteten eine beharrliche Arbeit, auch sie „eroberten Positionen" in der<br />

legalen Literatur und in den legalen Verbänden. Aber selbst die Kadetten<br />

haben keine legale Partei.<br />

Weshalb hören denn die Kadetten nicht auf, von einer legalen Partei<br />

zu träumen und zu reden? Weil sie eine Partei der konterrevolutionären<br />

liberalen Bourgeoisie sind, die für gewisse kleine Zugeständnisse an die<br />

Liberalen, für ein kleines Zugeständnis an die „friedfertige" legale Kadettenpartei<br />

bereit ist, sich mit den Purischkewitsch auszusöhnen.<br />

Das ist die objektive, d. h. von frommen Wünschen und schönen Worten<br />

unabhängige, Bedeutung des Geredes über eine legale Partei in der<br />

Epoche des Regimes des 3. Juni. Diese <strong>Red</strong>en sind der Ausdruck für die<br />

Abkehr von der konsequenten Demokratie, für die Propagierung des<br />

7riedens mit den Purischkewitsch.<br />

Wichtig ist nicht, welche Ziele die Liquidatoren mit ihrer Propaganda<br />

für eine legale Partei verfolgen, welches ihre Vorsätze und Absichten<br />

sind. Das ist eine subjektive Frage; bekanntlich ist der Weg zur Hölle mit<br />

„guten" Vorsätzen gepflastert. Wichtig ist, was die Propagierung einer<br />

legalen Arbeiterpartei unter dem Regime des 3. Juni, angesichts der nicht<br />

legalen liberalen Partei usw. objektiv bedeutet.<br />

• Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 425-427. Die <strong>Red</strong>.


532 "W. 1. <strong>Lenin</strong><br />

Diese objektive Bedeutung des liquidatorischen Geredes über eine legale<br />

Partei besteht in der Abkehr von den gesamtnationalen und grundlegenden<br />

Bedingungen und Forderungen der Demokratie.<br />

Daher eben lehnt jeder klassenbewußte Arbeiter die Propaganda der<br />

Liquidatoren ab, denn die Frage der „legalen Partei" ist eine Kernfrage,<br />

ist eine Frage der Existenz der Partei der Arbeiterklasse überhaupt. Die<br />

liquidatorische Propaganda untergräbt von Grund auf gerade die Existenz<br />

einer wirklichen Arbeiterpartei.<br />

.Vrawda" "Nr. 24, Tlad) dem 7ext der „Vrawda".<br />

30. "Januar 1913.<br />

Untersdbrift: 7.


DIE MOBILISIERUNG<br />

DER BÄUERLICHEN LÄNDEREIEN<br />

533<br />

Mobilisierung des Bodens nennt man die Übereignung von Grundeigentum.<br />

Was unsere Bauern betrifft, so herrscht bisher im Gesetz wie<br />

in der „öffentlichen'" Meinung (selbst der liberalen, unter den Kadetten)<br />

die fronberrlidje Auffassung, daß die Mobilisierung der bäuerlichen Ländereien<br />

schädlich sei und daß man sie verbieten oder beschränken müsse.<br />

Vom Standpunkt der Demokratie ist allein schon der Gedanke, daß<br />

man den Bauern - erwachsenen Menschen und vollberechtigten Bürgern -<br />

den Verkauf ihres Grund und Bodens verbieten oder erschweren dürfe,<br />

die schamloseste Verhöhnung der Bauernschaft. Nur in einem Land wie<br />

Rußland, wo die Beamten und die Masse der Liberalen in alter Fronherrenart<br />

noch heute im Bauern nur den bevormundeten, begriffsstutzigen,<br />

nicht vollberechtigten „Mushik" sehen, kann eine solche Einstellung zur<br />

Mobilisierung fortbestehen.<br />

Vom wirtschaftlichen Standpunkt ist der Schaden, den jedes Verbot und<br />

jede Beschränkung der Mobilisierung anrichtet, ungeheuer groß. Bei<br />

einigermaßen erträglichen Lebensbedingungen wird der Bauer niemals<br />

seinen Boden verkaufen. Zwingen aber Not oder andere Umstände (Umsiedlung,<br />

Tod einer Arbeitskraft usw.) zum Verkauf, so wird das kein<br />

Qesetz verhindern können. Das Gesetz wird man immer umgehen, und<br />

Verbote werden die Bedingungen des Bodenverkaufs nur verschlechtern.<br />

Im Januarheft der „Russkaja Mysl", des Organs der am weitesten<br />

rechts stehenden Kadetten, eines Gemischs von Liberalen und Schwarzhundertern,<br />

mußte ein gewisser Fürst W. Obolenski, der offenbar die<br />

übliche Auffassung der Sdiwarzhunderter und der Liberalen über die<br />

Mobilisierung teilt, 7atsadhen anführen, die die Unsinnigkeit und Sdiäd-


534 W. 7. <strong>Lenin</strong><br />

lichkeit ihrer Beschränkung beweisen. Man verbietet Nicht-Bauern den<br />

Kauf von Anteilland. Der Käufer läßt sich als Bauer registrieren! Man<br />

verbietet dem einzelnen, mehr als sechs persönliche Bodenanteile zu<br />

kaufen. Der Käufer trifft fiktive, vorgetäuschte Abmachungen auf den<br />

Namen von Verwandten usw.! Man verbietet die Verpfändung von Anteilländereien.<br />

Das erleichtert gerade die Machenschaften der Bodenspekulanten<br />

und erschwert den Bodenerwerb für die Mittelbauern!<br />

Nur Anhänger der Fronherrschaft und Heuchler können von einer Beschränkung<br />

der Mobilisierung eine „Hilfe" für die Bauern erwarten. Die<br />

Bauern, die Bewußtsein haben, suchen den Ausweg ganz woanders.<br />

„Pratoda" Wr. 26, 5Vad> dem Jext der „Vrawda".<br />

i.JebTuar I9i3.<br />

1lntersdirift:7.


EINIGES ÜBER STREIKS<br />

535<br />

Die Zeitung „Lutsch" wandte sich in einer Reihe von Artikeln gegen<br />

die Massenstreiks.<br />

Natürlich können wir dem „Lutsch" hier nicht so antworten, wie er es<br />

verdiente.<br />

Wir beschränken uns daher auf einige wenige rein theoretische Bemerkungen<br />

über den Charakter der Propaganda des „Lutsch". Die Schreiber<br />

vom „Lutsch", die fleißig Beispiele aus westlichen Ländern bringen und<br />

auf tausenderlei Weise Wörtchen wie „Anarchosyndikalismus* usw.<br />

wiederholen, dokumentieren damit, daß sie von der historischen Eigenart<br />

der Streiks in Rußland im Jahre 1912 absolut nichts begriffen haben.<br />

Nirgends in Europa hatten und haben die Streiks des 20. Jahrhunderts<br />

eine solche Bedeutung wie im Rußland unserer Tage, nirgends können<br />

sie eine solche Bedeutung haben. Warum?<br />

Weil eben in ganz Europa die Periode der tiefgreifenden demokratischen<br />

Umgestaltungen längst völlig abgeschlossen ist, in Rußland aber<br />

gerade solche Umgestaltungen auf der Tagesordnung stehen - in der<br />

historischen Bedeutung dieses Wortes.<br />

Daher der gesamtnationale Charakter der wirtschaftlichen und noch<br />

mehr der nichtwirtschaftlichen Streiks in Rußland. Einen solchen gesamtnationalen<br />

Charakter (vom Standpunkt der demokratischen Umgestaltungen<br />

des Landes) haben die europäischen Streiks, die Vorboten ganz<br />

anderer Umwälzungen sind, nidit. Zudem ist das Verhältnis zwischen den<br />

Streiks in Rußland und der Lage der landwirtschaftlichen Kleinproduzenten<br />

(der Bauern) wiederum ein ganz anderes als in den westlichen Ländern.


536 - "W. J. <strong>Lenin</strong><br />

Fassen wir das alles zusammen, so verstehen wir, daß die Propaganda<br />

des „Latsch" gerade die gesamtnationale, die demokratische Bedeutung<br />

der wirtschaftlichen und der nichtwirtschaftlichen Streiks im Rußland des<br />

Jahres 1912 im dunkeln läßt. Das Auftreten des Proletariats als des<br />

Hegemons (Führers) entgegen den antidemokratischen Stimmungen der<br />

Liberalen - das ist das Wichtigste und historisch Besondere an unseren<br />

Streiks. Und gerade das begreifen die Schreiber vom „Lutsch" nicht, und<br />

sie können es von ihrem liquidatorischen Standpunkt aus auch nicht begreifen.<br />

Es geht natürlich keineswegs um die Beurteilung der Zweckmäßigkeit<br />

dieses oder jenes einzelnen Streiks. Es geht keineswegs darum, daß eine<br />

möglichst planmäßige Vorbereitung und manchmal sogar die Ersetzung<br />

eines Streiks durch eine gleiöjartige Aktion nötig ist. Es geht um das allgemeine<br />

Unverständnis der Liquidatoren für jene Bedeutung der Streiks<br />

überhaupt, die die Losung der „Koalitionsfreiheit" oder der „legalen<br />

Partei" zu einer untauglichen, der gegebenen Sachlage nicht entsprechenden<br />

Losung macht.<br />

Nicht im Hinblick auf Einzelfälle, sondern im Hinblick auf den ganzen<br />

Charakter der Bewegung setzen die Liquidatoren dort ein Minus, wo die<br />

Marxisten und klassenbewußten Arbeiter ein Plus setzen. Aus diesem<br />

Grunde eben empörten und empören sich die Arbeiter mit Recht über die<br />

Propagandades „Lutsch".<br />

„Prawda" 3Vr. 27, 7ia6j dem Text der .Prawda".<br />

2.7ebruar 1913.<br />

Vntersdjrift: 1.


RUSSEN UND NEGER<br />

537<br />

Welch sonderbare Gegenüberstellung! - wird der Leser denken. - Wie<br />

kann man eine bestimmte Rasse einer bestimmten Nation gegenüberstellen?<br />

Eine solche Gegenüberstellung ist möglich. Die Neger haben sich am<br />

spätesten von der Sklaverei befreit, und noch heute lasten die Spuren der<br />

Sklaverei auf ihnen am schwersten - selbst in den fortgeschrittenen Ländern,<br />

denn der Kapitalismus kann keine andere Befreiung „einräumen"<br />

als die rechtliche, und auch diese engt er in jeder Weise ein.<br />

Von den Russen sagt die Geschichte, daß sie sich von der Sklaverei der<br />

Leibeigensdhaft im Jahre <strong>18</strong>61 „fast" befreit haben. Annähernd zur<br />

gleichen Zeit, nach dem Bürgerkrieg gegen die amerikanischen Sklavenhalter,<br />

befreiten sich die Neger in Nordamerika von der Sklaverei.<br />

Die Befreiung der amerikanischen Sklaven.vollzog sich auf weniger<br />

„reformatorischem" Wege als die Befreiung der russischen Sklaven.<br />

"Deshalb sind jetzt, nach einem halben Jahrhundert, die Spuren der<br />

Sklaverei bei den Russen weit stärker erhalten als bei den Negern. Und<br />

es wäre sogar exakter, sprächen wir nicht nur von Spuren der Sklaverei,<br />

sondern auch von Institutionen ... Doch wollen wir uns in dem vorliegenden<br />

kurzen Artikel auf eine kleine Illustration des Gesagten beschränken<br />

- auf die Frage der Elementarbildung. Eine der von der Sklaverei hinterlassenen<br />

Spuren ist bekanntlich das Analphabetentum. In einem Lande,<br />

das von Paschas, den Purischkewitsch und anderen unterdrückt wird, kann<br />

die Mehrheit der Bevölkerung nicht lese- und schreibkundig sein.<br />

- In Rußland gibt es 73% Analphabeten, nicht mitgerechnet die Kinder<br />

bis zum Alter von 9 Jahren.<br />

35 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>


538 TV. 1 <strong>Lenin</strong><br />

Bei den Negern in den Vereinigten Staaten von Nordamerika machen<br />

die Analphabeten (1900) - 44 1 /2% aus.<br />

Ein so unerhört hoher Prozentsatz an Analphabeten ist eine Schande<br />

für ein zivilisiertes, fortgeschrittenes Land, für die nordamerikanisdie<br />

Republik. Und dabei weiß jedermann, daß die Lage der Neger in Amerika<br />

überhaupt eines zivilisierten Landes unwürdig ist: der Kapitalismus kann<br />

weder die völlige Befreiung noch gar völlige Gleichheit bringen.<br />

Aufschlußreich ist, daß der Prozentsatz der Analphabeten bei den<br />

Weißen in Amerika bei nur 6% liegt. Unterteilen wir jedoch Amerika in<br />

ehemalige Sklavenhaltergebiete (das amerikanische „Rußland") und in<br />

Nicht-Sklavenhaltergebiete (das amerikanische Nicht-Rußland), so erhalten<br />

wir bei den Weißen einen Prozentsatz an Analphabeten von 11 bis<br />

12% in den ersten Gebieten und von 4-6% in den zweiten!<br />

In den ehemaligen Sklavenhaltergebieten ist der Prozentsatz an Analphabeten<br />

bei den Weißen doppelt so hod>. Die Spuren der Sklaverei<br />

lasten nicht nur auf den Negern!<br />

Eine Schande für Amerika ist die Lage der Neger!<br />

Qesdbrieben Ende Januar-Anfang Jebruar i9l3.<br />

Zuerst veröffentlicht 1925 7ia


ÜBER EINE ENTDECKUNG<br />

539<br />

Die bürgerliche Gesellschaft lebt und erhält sich ausschließlich durch<br />

die Lohnarbeit von Millionen. Ohne sie wären die Einnahmen der Gutsbesitzer,<br />

die Profite der Kapitalisten, die verschiedenen „abgeleiteten"<br />

Quellen für ein üppiges Leben wie Honorare, Gehälter usw. unmöglich.<br />

Die Macht aber, die die Millionen in die Reihen der Tagelöhner preßt, ist<br />

der Hunger.<br />

Eine alte, allbekannte, abgedroschene Tatsache. Das bürgerliche Publikum<br />

gewöhnt sich daran und „bemerkt es nicht". Von Zeit zu Zeit jedoch<br />

- besonders wenn Gesundheit und Wohlergehen der Herren Bourgeois<br />

bedroht sind! - geben himmelschreiende Fälle von Not und Elend<br />

neben gleichzeitigem Luxus Veranlassung, „Entdeckungen" zu machen. In<br />

jeder großen Stadt und in jedem beliebigen dörflichen Krähwinkel „entdeckt"<br />

man ab und an schreckliche, abscheuliche, menschenunwürdige Unsauberkeit,<br />

Armut, Verwahrlosung. Man „entdeckt" das, setzt durch die<br />

„großen" Zeitungen die Leserschaft davon in Kenntnis, spricht darüber<br />

ein, zwei Tage und vergißt es wieder. Der Satte weiß nicht, wie dem Hungrigen<br />

zumute ist...<br />

Die Petersburger Leserschaft erfuhr kürzlich von einer solchen „Entdeckung"<br />

durch einen gewissen Dr. Koslowski, der 251 Nachtasyle des<br />

Roshdestwenski-Stadtteils besichtigt hatte.<br />

„Dunkle, feuchte Räume, stickige Luft, Schmutz, Schlafstätten auf Kisten,<br />

auf dem Fußboden, schreckliche Enge (3578 Mieter in 251 Wohnungen), an den<br />

Wänden zerdrückte Wanzen, ein entsetzliches Bild." („Nowoje Wremja"<br />

Nr. 13 236.)<br />

Die Gesellschaft für Volksgesundheit beschloß nach Entgegennahme


540 IV. 1. <strong>Lenin</strong><br />

dieses Berichts, sich mit dieser Frage zu befassen... die Behörden zu<br />

bemühen ... eine Untersuchung zu erwirken ... unternahm also alles,<br />

was in ihren Kräften stand.<br />

Hier einige Angaben aus der Statistik der Stadt St. Petersburg für das<br />

Jahr 1911. Der „Sonderbehörde zur Kontrolle und Unterbringung der<br />

Bettler" wurden 16 960 Bettler vorgeführt. Von ihnen wurden 1761 dem<br />

Gericht übergeben - belästige nicht die sauberen Herrschaften! -,1371 in<br />

ihre Heimatorte zurückgeschafft (das Dorf ist es „gewohnt", sich mit den<br />

Armen herumzuschlagen), <strong>18</strong>92 in Einrichtungen der Behörde untergebracht<br />

und 9694 - freigelassen.<br />

In der Behörde ist immerhin gearbeitet worden, eine „Kontrolle" wurde<br />

gemacht, die Gehälter sind nicht umsonst gezahlt worden.<br />

Im gleichen Jahr (1911) wandten sich an die städtische Arbeitsbörse<br />

(hinter der Moskauer Sastawa) 43 156 arbeitsuchende ungelernte Arbeiter.<br />

Arbeit erhalten haben 6076 Personen.<br />

Die „Freigelassenen" (die Bettler von der „Unterbringung" und die ungelernten<br />

Arbeiter von der Arbeit) übernachten auf der Straße, in Nachtasylen,<br />

in Herbergen ... Hier sind Entdeckungen zu machen.<br />

„"Prawda" "Nr. 29, Tiadb dem Hext der „Trawda".<br />

5.7ebruar I9i3.<br />

Untersdbrift: W. J.


DER PARTEITAG<br />

DER ENGLISCHEN ARBEITERPARTEI<br />

541<br />

Vom 29. bis 31. Januar tagte in London der XIII. Parteitag der britischen<br />

Arbeiterpartei. Anwesend waren 500 Delegierte.<br />

Der Parteitag nahm eine Resolution gegen den Krieg an und, mit großer<br />

Mehrheit, eine Resolution, die den Parlamentsvertretern der Partei empfiehlt,<br />

gegen jede Vorlage einer Wahlreform zu stimmen, die das Wahlrecht<br />

nicht auch auf die Frauen ausdehnt.<br />

Die englische „Arbeiterpartei", die neben der opportunistischen „Unabhängigen<br />

Arbeiterpartei" und der sozialdemokratischen „Britischen<br />

Sozialistischen Partei" existiert, ist so etwas wie eine breite Arbeiterpartei.<br />

Es ist das ein Kompromiß zwischen einer sozialistischen Partei und<br />

nichtsozialistischen Gewerkschaften.<br />

Die Ursachen dieses Kompromisses liegen in den Besonderheiten der<br />

englischen Geschichte, der Absonderung der Aristokratie der Arbeiterklasse<br />

in nichtsozialistischen, liberalen Gewerkschaftsverbänden. Die begonnene<br />

Wendung dieser Verbände zum Sozialismus hin hat eine Menge<br />

verworrener Zwischenstadien zur Folge.<br />

In der Frage der Parteidisziplin z. B. wurde eine Resolution angenommen,<br />

die den Parteiausschluß für Verletzung der Beschlüsse der Partei<br />

und der Parlamentsfraktion androht.<br />

Es kam zu Debatten, wie sie in keinem anderen Lande möglich sind:<br />

Gegen wen richtet sich diese Resolution, gegen die Liberalen oder gegen<br />

die Sozialisten?<br />

Die Sache ist die, daß von den 40 Arbeiterabgeordneten im Parlament<br />

27 "NidotsoziaMsten sind!! Die dreizehn Sozialisten, sagte Will Thorne,<br />

Sozialist, in seiner Stellungnahme gegen die Resolution, wolle man binden


542 IV. 7. <strong>Lenin</strong><br />

dardi eine Unterordnung unter die TJidhtsozialisten. Sogar Bruce Glasier,<br />

Mitglied der Unabhängigen Arbeiterpartei, der für die Resolution eintrat,<br />

gab zu, daß es etwa ein halbes Dutzend von Arbeiterabgeordneten<br />

gibt, die man zu den Konservativen zählen kann.<br />

Die Resolution wurde angenommen.<br />

Eine Resolution, wonach in Parteiräumen nicht allein Plakate der opportunistischen<br />

Tageszeitung „The Daily Herald" ausgehängt werden<br />

sollten, wurde mit einer Mehrheit von 643 000 Stimmen bei 398 000<br />

Gegenstimmen abgelehnt. Bei Abstimmungen zählt man hier die durch die<br />

Delegierten vertretenen Mitglieder.<br />

Die Mehrheit auf dem Parteitag hatten NichtSozialisten und äußerst<br />

schlechte Sozialisten. Doch waren bestimmte Stimmen zu hören, daß die<br />

Masse der Arbeiter mit einer solchen Partei unzufrieden ist, daß sie von<br />

den Abgeordneten weniger legislatorische Spielereien und mehr sozialistische<br />

Propaganda fordert.<br />

.Prawda" 5Vr. 30, Tiaäo dem Text der ,Vrawda".<br />

6.7ebruar 19 i3.


DER ZUSAMMENBRUCH DER<br />

KONSTITUTIONELLEN ILLUSIONEN<br />

543<br />

„Gott sei Dank, wir haben eine Verfassung", rief nach dem 3. Juni 1907<br />

Herr Miljukow aus. Mit solchen ergötzlichen Beteuerungen tröstete sich<br />

der Führer der liberalen Bourgeoisie, und dahinter verbarg er ihren Unglauben<br />

an das Volk, ihre Unlust, ihre Furcht, vom „konstitutionellen"<br />

Weg abzuweichen.<br />

Es ist höchst charakteristisch, daß gerade jetzt, wo derselbe Herr Miljukow<br />

oder seine prüde, offiziös-liberale „Retsch" den „Beginn eines gesellschaftlichen<br />

Aufschwungs" zugeben (Nr. 26), das Fiasko dieser konstitutionellen<br />

Illusionen deutlich wird. Der Wunsch, die unangenehme Wirklichkeit<br />

(und die unangenehme Notwendigkeit eines Weges, der wenig<br />

dem „konstitutionellen" gleicht) wegzudiskutieren, der Wunsch, sich und<br />

andere mit „konstitutionellen" Wörtchen einzuschläfern, das liegt diesen<br />

Illusionen zugrunde.<br />

Man schaue sich die Äußerungen der Liberalen über die gegenwärtige<br />

Lage an!<br />

„In der Duma ist es langweilig, weil es keinen Kampf gibt." (Nr. 25.)<br />

Niemand hat euch gezwungen, ihr Herren, zu erklären, daß wir eine<br />

Verfassung haben!<br />

„Alle Worte sind gesagt. Jetzt sind Taten nötig, dodb der Qlaube an sie<br />

febh. Daher auch die Apathie." (Ebenda.)<br />

Ihr habt euch mit dem Glauben an Worte getröstet, die vornehmlich<br />

den Oktobristen galten. Ihr gebt jetzt zu, daß ihr mit diesen Worten den<br />

fehlenden Qlauben an Taten verbergen wolltet.<br />

Ihr. selbst, ihr Herren Liberale, habt euch euer Urteil gesprochen.<br />

Die Demokratie im allgemeinen - die Arbeiter im besonderen - hatten<br />

den Glauben an Worte (über die Verfassung) nicht*<br />

Qesdhrieben Ende Januar-Anfang 7ebruar 1913.<br />

Zum erstenmal veröftentlidjt. 7ia


544<br />

WIR DANKEN FÜR DIE OFFENHEIT<br />

Wir danken der Schwarzhunderterzeitung „Nowoje Wremja" für den<br />

Abdruck der offenen Worte Kobylinskis, des Führers der Rechten im<br />

Reichsrat. Wir danken auch dem „Führer" selbst.<br />

„Immer wieder zeigt sich", rief Herr Kobylinski aus, „die Unkenntnis und<br />

das Unvermögen der Mitglieder der Reichsduma in der Gesetzgebung... So<br />

verfassen nur Xrämer Qesetze.<br />

Wir werden angegriffen, weil wir die Gesetzesvorlage über die Einführung<br />

des Semstwos im Gouvernement Archangelsk abgelehnt haben ... Die Reichsduma<br />

hat überhaupt nicht daran gedacht, daß wegen des Fehlens kulturell entwickelter<br />

Elemente und der schwachen Besiedlung des Gouvernements Archangelsk<br />

in die dortigen Semstwoverwaltungen, wie man bei uns scherzte, jeweils<br />

ein !Mushik, ein Renntier und ein Bär gewählt werden müßten.<br />

Auf jeden Fall werden wir die Bildung eines Semstwos der !Mushiks, wie es<br />

die III. Reichsduma plante, nicht zulassen."<br />

Wie sollte man dem Führer der Rechten im Reichsrat, d. h. dem Führer<br />

des Reichsrats, für eine solche Offenheit nicht dankbar sein?<br />

Statt abgedroschener, nichtssagender, liberaler Phrasen gegen den<br />

Reichsrat empfehlen wir den Lesern wärmstens diese klare, wahrheitsgetreue<br />

Stellungnahme für den Reichsrat.<br />

Krämer in der Reichsduma... Mushiks und Bären im Semstwo ...<br />

Krämer und Mushiks werden wir nicht zulassen. Das ist die offene Sprache<br />

eines Fronherrn und Gutsbesitzers.<br />

Und man beachte: Er hat recht, dieser Fronherr, wenn er sagt, daß es<br />

in der Reichsduma keine Mehrheit ohne „Krämer" gibt, d.h., in der<br />

Sprache eines klassenbewußten Arbeiters (und nicht eines ungeschlach-


Wir danken für die Offenheit 545<br />

ten Gutsbesitzers) ausgedrückt, ohne die "Bourgeoisie. Er hat recht, dieser<br />

Gutsbesitzer: eine Selbstverwaltung wäre in der Tat eine bäuerliche<br />

Selbstverwaltung (die klassenbewußten Arbeiter ziehen den Ausdruck<br />

„bäuerlich" dem bei den ungeschlachten Gutsbesitzern üblichen „der<br />

Mushiks" vor). Die Bauern bilden die Mehrheit.<br />

Der Reichsrat ist keineswegs eine zufällige politische Einrichtung, er<br />

ist das Organ einer JCasse - das eben besagt die wahrheitsgetreue <strong>Red</strong>e<br />

Kobylinskis. Diese Klasse sind die Großgrundbesitzer. Sie werden die<br />

„Krämer und Mushiks" nidbt zulassen.<br />

Lernt doch, ihr Herren russische liberale „Krämer", ihr Herren Oktobristen<br />

und Kadetten, bei Kobylinski, wie man politische Fragen ernsthaft<br />

stellt!<br />

.Trawda" Nr. 35, NadidemJextder.Trawda".<br />

\2. Jebruar I9i3.


546<br />

DIE FRAGE DER EINHEIT<br />

Der Brief des Deputierten der Arbeiter von Kostroma, Schagow, an die<br />

„Prawda" (Nr. 22/226) hat sehr deutlich gezeigt, unter welchen Bedingungen<br />

die Arbeiter die Einheit der Sozialdemokratie für realisierbar halten.<br />

Die Briefe einer ganzen Reihe anderer Abgeordneter der Arbeiterkurie<br />

(„Prawda" Nr. 21-28) haben diese Auffassung bestätigt. Die<br />

Arbeiter selber müssen die Einheit „von unten" herstellen. Die Liquidatoren<br />

sollten nicht gegen die Illegalität auftreten, sondern selber illegal<br />

arbeiten.<br />

Man kann sich nach einer so klaren und direkten Fragestellung nur<br />

wundern, im „Lutsch" Nr. 27 (113) wieder die alten, hochtrabenden, aber<br />

völlig inhaltslosen Phrasen Trotzkis vorzufinden. Kein Wort zum Kern<br />

der Frage! Nicht der geringste Versuch, exakte Takten anzuführen und sie<br />

allseitig zu untersuchen! Keine Andeutung der realen Bedingungen der<br />

Einheit! Bloße Deklamationen, hochtrabende Worte, überhebliche Ausfälle<br />

an die Adresse von Gegnern, die der Verfasser nicht nennt, imposant-wichtige<br />

Beteuerungen - das ist Trotzkis ganzes Gepäck.<br />

Das taugt zu nichts, Herrschaften. Ihr redet „mit den Arbeitern" wie<br />

mit Kindern, bald sucht ihr sie mit schrecklichen Worten einzuschüchtern<br />

(„die Fesseln des Zirkelwesens", „ungeheuerliche Polemik", „feudalfronherrliche<br />

Periode unserer Parteigeschichte"), bald wollt ihr sie „überreden",<br />

wie man kleine Kinder überredet, ohne zu überzeugen und die<br />

Sache zu erklären.<br />

Die Arbeiter werden sich weder einschüchtern noch überreden lassen.<br />

Sie werden selber den „Lutsch" mit der „Prawda" vergleichen, werden<br />

z. B. den Leitartikel in Nr. 101 des „Lutsch" („Die Arbeitermassen und<br />

die Illegalität") lesen - und bei Trotzkis Deklamationen einfach abwinken.


Die 7rage der Einheit 547<br />

„In der Praxis wird die nur scheinbar prinzipielle Frage der Illegalität<br />

von allen Teilen der Sozialdemokratie in völlig gleicher Weise gelöst...",<br />

schreibt Trotzki kursiv. Die Arbeiter von Petersburg wissen aus Erfahrung,<br />

daß das nicht stimmt. Die Arbeiter in jeder beliebigen Ecke Rußlands<br />

werden, wenn sie den genannten Leitartikel des „Lutsch" lesen,<br />

sofort erkennen, daß Trotzki der Wahrheit ausweicht.<br />

„Es ist lächerlich und töricht zu behaupten", lesen wir bei ihm, „daß<br />

zwischen den politischen Tendenzen des ,Lutsch' und der ,Prawda' ein<br />

unversöhnlicher Gegensatz bestehe." Glauben Sie mir, verehrter Autor,<br />

die Arbeiter werden sich weder durch das Wort „töricht" noch durch das<br />

Wort „lächerlich" einschüchtern lassen, sondern Sie bitten, mit ihnen wie<br />

mit Erwadbsenen sadhlidb zu reden: Legen Sie doch diese Tendenzen dar!<br />

Beweisen Sie doch die „Versöhnbarkeit" des Leitartikels in Nr. 101 des<br />

„Lutsch" mit der Sozialdemokratie!<br />

Nein. Mit Phrasen, mögen sie noch so „versöhnlerisch", noch so honigsüß<br />

sein, werden Sie die Arbeiter nicht abspeisen.<br />

„Unsere historischen Fraktionen, der Bolschewismus und der Menschewismus",<br />

schreibt Trotzki, „sind ihrem Ursprung nach rein intelligenzlerische<br />

Gebilde."<br />

Das ist die Wiederholung eines liberalen Märchens. In der Tat aber<br />

hat die ganze russische Wirklichkeit die Arbeiter vor die Frage der<br />

Stellung zu den Liberalen und zur Bauernschaft gestellt. Gäbe es gar<br />

keine Intelligeriz, so könnten die Arbeiter nidht die Frage umgehen, ob sie<br />

die Führung der Bauern im Qefolge der Liberalen oder gegen die Liberalen<br />

übernehmen sollen.<br />

Für die Liberalen ist es von Vorteil, diese Grundlage der Meinungsverschiedenheiten<br />

so darzustellen, als sei sie von den „Intellektuellen"<br />

hereingetragen worden. Doch blamiert sich Trotzki nur selbst, wenn er<br />

ein liberales Märchen nacherzählt.<br />

JPrawäa" Nr. 39, Ttaöh dem Text der „Trawda".<br />

I6.7ebruar 1913.


548<br />

WAS TUT SICH<br />

IN DER VOLKSTÜMLERRICHTUNG,<br />

UND WAS TUT SICH<br />

AUF DEM LANDE?<br />

Die Zeitschrift „Russkoje Bogatstwo" zeigt uns eben jene beiden Tendenzen<br />

in der Volkstümler- oder Trudowiki-Strömung bzw. -Richtung<br />

des rassischen Lebens, die man auch an Hand anderer, direkterer, unmittelbarerer<br />

Quellen des politischen Wissens verfolgen kann.<br />

Erinnern wir uns zum Beispiel der Debatten in der I. und II. Duma.<br />

Leider sind die stenografischen Berichte der einen wie der anderen jetzt<br />

aus dem Handel gezogen worden. Aber wie dem auch sei, mit dem m<br />

diesen Berichten enthaltenen umfangreichen politischen Material zum<br />

Studium der Auffassungen und Bestrebungen der russischen Bauern und<br />

der russischen Trudowiki ist entweder schon jetzt jeder gebildete Mensch<br />

vertraut, oder er wird es in Zukunft sein. Die wichtigste Schlußfolgerung<br />

aus diesem Material besteht darin, daß die intellektuellen Trudowiki<br />

(einschließlich der intellektuellen Sozialrevolutionäre) und die bäuerlichen<br />

Trudowiki zwei wesentlich verschiedene politische Strömungen darstellen.<br />

Die intellektuellen Volkstümler tendieren zur versöhnenden oder „allgemein-menschlichen"<br />

Phrase. In ihnen ist immer der Liberale zu spüren.<br />

Der Standpunkt des Klassenkampfes ist ihnen organisch fremd. Sie räsonieren<br />

nur. Sie zerren die demokratische Bauernschaft zurück, vom lebendigen<br />

und unmittelbaren Kampf gegen ihren Klassenfeind zur nebelhaften,<br />

gequälten, ohnmächtigen scheinsozialistischen Phrase.<br />

Die bäuerlichen Volkstümler in den ersten beiden Dumas sind Feuer<br />

und Flamme. Sie sind erfüllt von dem Streben nach unmittelbarem und<br />

entschlossenem Handeln. Sie sind unwissend, ungebildet, naiv, erheben<br />

sich aber gegen ihren Klassenfeind mit einer solchen Offenheit, Unver-


Was tut sidb in der Volkstümlerridjtung, und was tut sidb auf dem Lande! 549<br />

söhnlichkeit, einem solchen Haß, daß man in ihnen eine sehr ernst zu<br />

nehmende gesellschaftliche Kraft spürt.<br />

Anders ausgedrückt: Die intellektuellen Volkstümler sind ganz miserable<br />

Sozialisten und unsichere Demokraten. Die bäuerlichen Trudowiki<br />

spielen keineswegs Sozialismus, der ihnen absolut fremd ist, aber sie sind<br />

„innerliche", aufrichtige, glühende und starke Demokraten. Ob die bäuerliche<br />

Demokratie in Rußland siegen wird, das kann niemand vorhersagen,<br />

denn das hängt von allzu komplizierten objektiven Bedingungen ab. Doch<br />

steht völlig außer Zweifel, daß die trudowikische Bauernschaft nur entgegen<br />

den Tendenzen siegen kann, die die volkstümlerische Intelligenz in<br />

ihre Bewegung hineinträgt. Die lebensprühende, frische, aufrichtige Demokratie<br />

ist bei günstigen historischen Umständen imstande zu siegen, wohingegen<br />

die „sozialistische" Phrase, das volkstümlerische Räsonieren<br />

niemals siegen kann.<br />

Diese Schlußfolgerung erscheint mir als eine der wichtigsten Lehren aus<br />

der russischen Revolution, und ich gebe nicht die Hoffnung auf, sie irgendwann<br />

einmal durch eine ausführliche Analyse der <strong>Red</strong>en der Volkstümler<br />

in den ersten beiden Dumas und durch anderes politisches Material aus<br />

den Jahren 1905-1907 begründen zu können. Heute jedoch möchte ich<br />

hinweisen auf die großartige Bestätigung dieser Schlußfolgerung durch<br />

das letzte Heft (1912, Nr. 12) des „Russkoje Bogatstwo", des wichtigsten<br />

und solidesten Organs der Volkstümler.<br />

Zwei Artikel in diesem Heft vermitteln einen zweifellos typischen<br />

Eindruck. Der Artikel des Herrn A. W. P. („Volkssozialismus oder proletarischer<br />

Sozialismus?") ist ein Musterbeispiel für das intellektuelle Räsonieren<br />

der „Volkssozialisten" und Sozialrevolutionäre.<br />

Wäre es unvermeidlich, daß die Massenkraft der russischen Bauernschaft<br />

eine Richtung einschlüge, wie sie sich aus den Erwägungen der<br />

Herren A. W. P. und Co. „ergibt", so wäre die Sache der russischen bürgerlichen<br />

Demokratie hoffnungslos verloren. Denn aus Phrasen und Räsonieren<br />

kann keine historische Aktion hervorgehen. Die Impotenz einer<br />

soldhen Volkstümlerei steht fest.<br />

In Herrn Krjukows Artikel „Ohne Feuer" erzählt irgendein liebreiches<br />

Pfäfflein von der Bauernschaft, dem bäuerlichen Leben und der bäuerlichen<br />

Psyche, wobei es die Bauern eben so darstellt, wie sie selbst aufgetreten<br />

sind und auftreten. Wenn diese Darstellung stimmt, so ist der


550 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />

russischen bürgerlichen Demokratie - in Gestalt eben der Bauernschaft -<br />

eine große historische Aktion beschieden, die bei einigermaßen günstigen<br />

Begleitumständen alle Aussichten hat zu siegen.<br />

Um das zu erläutern, wollen wir kurz die „Ideen" des Herrn A. W. P.<br />

charakterisieren und einige Stellen aus der Beschreibung der russischen<br />

Bauernschaft durch das liebreiche Pfäfflein zitieren.<br />

Herr A. W. P. verteidigt die Grundlagen der Volkstümlerrichtung vor<br />

Suchanow, einem Mitarbeiter der „Sawety", der dem Marxismus eine<br />

ganze Reihe wichtiger theoretischer Prämissen der Volkstümlerideologie<br />

opfert und dabei so etwas wie eine Vereinigung der Marxisten mit den<br />

Volkstümlern propagiert.<br />

Herr A. W. P. ist einer Vereinigung nicht abgeneigt, will aber die Prinzipien<br />

der Volkstümlerideologie nicht „aufgeben". Und gerade diese<br />

Verteidigung der prinzipiellen Reinheit und Festigkeit der Volkstümlerideologie<br />

durch einen so zweifellos kompetenten und namhaften Volkstümler<br />

wie Herrn A. W. P. zeigt in aller Klarheit die völlige 'Hoffnungslosigkeit<br />

seiner Position, die absolute Cebensfremdbeit einer soldhen<br />

Volkstümlerideologie.<br />

Herr Suchanow kommt sogar zu der Feststellung, daß eine ihrer Natur<br />

nach sozialistische Klasse allein das Proletariat ist. Natürlich bedeutet das,<br />

wenn man nur einigermaßen konsequent weiterdenkt, den Marxismus<br />

anzuerkennen und den volkstümlerischen Sozialismus ganz zu begraben.<br />

Herr A. W. P. opponiert gegen Herrn Suchanow, doch sind seine Argumente<br />

ein Jammer ohnegleichen. Lauter Vorbehalte, unbedeutende Korrekturen,<br />

Fragezeichen, eklektische Bemerkungen darüber, daß der Revisionismus<br />

die Korrekturen des Lebens an der Theorie „übermäßig breittritt",<br />

während die Orthodoxie sie vergebens bestreite. Der von Herrn<br />

A. W. P. dargebotene Brei gleicht, wie ein Wassertropfen dem anderen,<br />

den in allen europäischen Ländern üblichen Einwänden der „humanitären"<br />

Bourgeois gegen den Klassenkampf und den Klassensozialismus.<br />

Die grundlegende und allbekannte Tatsache, daß in der ganzen Welt<br />

nur das Proletariat tagtäglich einen systematischen Kampf gegen das<br />

Kapital führt, daß gerade das Proletariat die Massenbasis der sozialistischen<br />

Parteien darstellt, wagt Herr A. W. P. nicht zu leugnen. Daß die<br />

Bauernschaft um so weniger sozialistische Züge, wenn auch nur schwach<br />

ausgeprägte, aufweist, je freier das Land politisch ist - das muß auch


"Was tut sidj in der Volkstümlerriditung, und was tut sidb auf dem Cande? 551<br />

Herr A. W. P. wissen. Und er spielt einfach mit Gedankensplittern<br />

europäischer bürgerlicher Professoren und Opportunisten, um die Sache<br />

zu verwirren, ohne auch nur den Versuch zu machen, gegen den Marxismus<br />

irgend etwas ins Feld zu führen, was einer geschlossenen, zielstrebigen,<br />

klaren sozialen Theorie auch nur ähnlich sähe.<br />

Deswegen ist nichts langweiliger als der Artikel des Herrn A. W. P.<br />

Nichts ist bezeichnender für den völligen ideologischen Tod des volkstümlerischen<br />

Sozialismus in Rußland. Er ist tot. Die „Ideen" des Herrn<br />

A. W. P. findet man in jeder beliebigen bürgerlichen sozialreformistischen<br />

Publikation im Westen vollständig wieder. Es ist uninteressant, sie widerlegen<br />

zu wollen.<br />

Ist aber der volkstümlerische Sozialismus in Rußland tot, ist er von der<br />

Revolution des Jahres 1905 getötet und von den Herren A. W. P. beerdigt<br />

worden, ist von ihm nur die faule Phrase übriggeblieben, so ist die bäuerliche<br />

Demokratie in Rußland, die keineswegs sozialistisch, sondern ebenso<br />

bürgerlich ist, wie es die Demokratie Amerikas in den sechziger Jahren,<br />

Frankreichs im ausgehenden <strong>18</strong>. Jahrhundert, Deutschlands in der ersten<br />

Hälfte des 19. Jahrhunderts usw. usf. war, ist diese Demokratie am<br />

Leben.<br />

Die von Herrn Krjukow wiedergegebene Erzählung des liebreichen<br />

Pfäffleins über das Dorf bestätigt das vollauf. Und dasselbe, was Krjukow<br />

mitteilt, ergibt sich — nebenbei bemerkt - wohl noch plastischer und<br />

exakter aus den Beobachtungen des Erzfeindes der Demokratie, des<br />

„Wechi"-Mannes Bulgakow in der „Russkaja Mysl" (1912, Nr. 11: „Bei<br />

den Wahlen").<br />

„Liebedienerei und Feigheit", sagt das Pfäfflein bei Krjukow über die rassische<br />

Geistlichkeit, „hat es immer gegeben!... Der Unterschied ist jedoch<br />

der, daß es niemals einen solch erschütternd stillen, schweigenden Abfall von<br />

der Kirche gegeben hat wie jetzt. Als sei der Geist des Lebens in der Kirche<br />

erstorben. Ich wiederhole: Nicht allein die Intelligenz ist abgefallen - das Volk<br />

ist abgefallen das muß man zugeben - war ich doch zwei Jahre lang Dorfgeistlicher."<br />

Das liebreiche Pfäfflein erinnert sich des Jahres i905. Das Pfäfflein<br />

erläuterte damals den Bauern das Manifest.<br />

„Ich erwartete", klagt er, „Erkenntnis, enges Bündnis, £iebe, Nüchternheit,<br />

gesundes Bewußtsein, Erwachen, Energie... Die Erkenntnis schien auch zu


552 W. 1. Cenin<br />

kommen, aber statt Einigkeit und Bündnis gab es nur Gehässigkeit und<br />

inneren Zwist. Und zuallererst versetzte das Dorf gerade auch mir einen Schlag,<br />

und zwar einen kräftigen. Ich war wohl ganz, mit Leib und Seele, für das<br />

Dorf... Ich erklärte eben diese Freiheiten und alles übrige. Und wie sie zuhörten!<br />

Ich dachte doch, daß man es ausführlicher, als ich es tat, nicht erklären<br />

könne, aber nein... ins Dorf drangen auch andere <strong>Red</strong>en. Und die<br />

neuen Aufklärer machten einen viel dickeren Brei zurecht: von wegen des<br />

Landstückchens, des Ausgleichs und der Herrschaften. TJatürUd) haben die<br />

Hauern das momentan begriffen und sich zu eigen gemadßt. Und schnurstracks<br />

kamen sie zu mir gelaufen und erklärten, daß sie mir an Kirchensteuern nicht<br />

zweihundert, sondern hundert zahlen würden...<br />

... Aber was mich besonders betrübte, war nicht die9e Tatsache, waren nicht<br />

die hundert Rubel, sondern die Gesamtheit all dessen, was so rasch das neue<br />

Gesicht des Dorfes ausmachte. Wirklich von allen Seiten her war man bemüht,<br />

dem Dorf die Augen zu öffnen, es sehend zu machen, seine Dunkelheit zu erhellen<br />

! Und, um die Wahrheit zu sagen, man schaffte es. Der Blinde hat ein<br />

bißchen Licht zu sehen bekommen, und seit diesem Augenblick ist er nicht mehr<br />

blind... wenn er auch noch nicht sehend geworden ist. Aber mit diesem halben<br />

Sehendwerden kam ihm eine nur sehr traurige Erkenntnis, wuchs in ihm eine<br />

Gehässigkeit, die ihm fast den Atem benimmt... Und manchmal seufzt er<br />

wohl über seine große Unwissenheit. Eine solche Gehässigkeit hat sich im Dorfe<br />

breitgemacht, eine solche Gehässigkeit, daß jetzt die ganze Luft mit ihr gesättigt<br />

zu sein scheint... Messer, Knüppel, roter Hahn. Augenfällige Ohnmacht,<br />

ätzende, nicht gerächte Beleidigungen, Zank untereinander, Haß ohne<br />

Unterschied, Neid auf alles Glücklichere, Behaglichere, Vermögendere. Auch<br />

früher gab es natürlich Neid und Gehässigkeit und Kummer und widerwärtige<br />

Sünde, doch glaubten die Menschen an den Willen Gottes und die Eitelkeit<br />

irdischer Güter, sie glaubten und fanden die Xraft zu dulden in der Hoffnung<br />

auf eine Belohnung im Jenseits. Heute gibt es diesen Glauben schon nicht mehr.<br />

Heute sieht der Glaube so aus: Wir sind die Unterdrücker, sie die Unterdrückten.<br />

Aus allem Freiheitsgerede sind auf dörflichem Boden Unkraut und<br />

Tollkirschen aufgegangen ... Und nun dieses neue Bodengesetz - der Bruder<br />

hat die Hand gegen den Bruder erhoben, der Sohn gegen den Vater, der Nachbar<br />

gegen den Nachbarn! Eine solche Gehässigkeit, ein solcher Zwist ist im<br />

Dorf eingekehrt, daß es daran ersticken wird, ganz sicher ersticken wird."<br />

Wir haben in dieser charakteristischen Beschreibung des Dorfes durch<br />

das schönrednerische Pf äfflein (das ein intellektueller Volkstümler reinsten<br />

Wassers ist!) einige besonders charakteristische Wörtchen hervorgehoben.


Was tut sid? in der Volkstümlemdbtutu), und was tut sidb auf dem Lande? 553<br />

Das Pf äfflein ist ein Anhänger der „Liebe" und ein Feind des „Hasses".<br />

In dieser Hinsicht teilt es ganz den tolstoianisdien (man kann auch sagen:<br />

christlichen) zutiefst reaktionären Standpunkt, den ständig unsere Kadetten<br />

und ihresgleichen vertreten. Von irgendeiner „Sozialisierung des<br />

Grund und Bodens" zu träumen, von der ^sozialistischen" Bedeutung der<br />

Genossenschaften und von „Normen des Bodenbesitzes" zu schwatzen ist<br />

ein solches Pfäfflein sicherlich nicht abgeneigt, sowie aber der Haß an die<br />

Stelle der „Liebe" tritt, streicht es gleich die Segel, macht schlapp und<br />

flennt.<br />

Einen „Sozialismus" in Worten, in Phrasen („Volkssozialismus, aber<br />

nicht proletarischer Sozialismus") - bitte schön, den wird auch in Westeuropa<br />

jeder einigermaßen gebildete Spießer billigen. Tritt aber der<br />

„Haß" an die Stelle-der „Liebe", so ist es aus. Geht es um einen Sozialismus<br />

der humanen Phrase, so sind wir dafür,- geht es aber um die revolutionäre<br />

Demokratie, so sind wir dagegen.<br />

Was das liebreiche Pfäfflein über das abgedroschene Thema des<br />

„Rowdytums" im Dorf sagt, ist vom Standpunkt der Tatsachen absolut<br />

nichts Neues. Doch ist aus seiner eigenen Erzählung klar ersichtlich, daß<br />

das „Rowdytum" ein von den 7ronherren eingeführter Begriff ist.<br />

„Ätzende, nicht gerächte Beleidigungen" - das konstatiert das liebreiche<br />

Pfäfflein. Aber das ist zweifellos vom „Rowdytum" sehr, sehr weit entfernt.<br />

Im Kampf gegen die Volkstümlerideologie hielten es die Marxisten<br />

seit eh und je für ihre Aufgabe, die Manilowerei, die süßlichen Phrasen,<br />

den sentimentalen, sich über die Klassen erhebenden Standpunkt, den<br />

banalen „Volks"sozialismus, würdig irgendeines in Geschäftsdingen und<br />

Schwindelgeschäften mit allen Wassern gewaschenen französischen „Radikalsozialisten",<br />

zu zerstören. Zugleich betrachteten es aber die Marxisten<br />

seit eh und je als ihre ebenso verbindliche Aufgabe, den demokratischen<br />

Kern der volkstümlerischen Ansichten herauszuschälen. Der volkstümlerische<br />

Sozialismus ist ein fauler und stinkender Leichnam. Die bäuerliche<br />

Demokratie in Rußland ist, wenn das liebreiche Pfäfflein bei Krjukow sie<br />

richtig darstellt, eine lebendige Kraft. Ja, sie muß eine lebendige Kraft<br />

sein, solange die Purischkewitsdi wirtschaften, solange dreißig Millionen<br />

Hunger leiden.<br />

36 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>


554<br />

r W. l <strong>Lenin</strong><br />

„Haß ohne Unterschied" sagt man uns. Erstens ist das nicht ganz die<br />

Wahrheit. Den „Unterschied" sehen nicht die Purischkewitsch, sehen nicht<br />

die Beamten, sehen nicht die intellektuellen Schöngeister. Zweitens gab es<br />

doch sogar zu Beginn der Arbeiterbewegung in Rußland ein gewisses Element<br />

des „Hasses ohne Unterschied" beispielsweise in der Form der<br />

Maschinenstürmerei bei den Streiks der sechziger bis achtziger Jahre des<br />

vorigen Jahrhunderts. Das war bald vorbei. Nicht das ist wesentlich. Abgeschmackt<br />

wäre es, forderte man von denen, die in der gegebenen Lage<br />

die Geduld verlieren, „Glacehandschuhe".<br />

Wesentlich ist die gründliche Abkehr von der alten, hoffnungslos reaktionären<br />

Weltanschauung, die gründliche Aneignung gerade jener Lehre<br />

von den „Unterdrückten", die das Unterpfand nicht toten Schlafs, sondern<br />

lebendigen Lebens ist.<br />

Verfault ist der volkstümlerische Sozialismus bis hin zu dem am weitesten<br />

links stehenden. Lebendig und aktuell ist die Aufgabe der Säuberung,<br />

Aufklärung, Erweckung und Festigung der Demokratie auf dem<br />

Boden der bewußten Abkehr von den Lehren der „Liebe", der „Geduld"<br />

usw. Das liebreiche Pfäfflein ist traurig. Wir aber haben allen Grund zur<br />

Freude über das reiche Betätigungsfeld für eine lebensvolle Arbeit.<br />

„J>roswesä>tsdhenije" 5Vr. 2, Tiadb dem 7ext der Zeitschrift<br />

Februar 1913. „Proswesdbtsdjenije".<br />

'Untersdirift-.'W.J.


WACHSENDES MISSVERHÄLTNIS<br />

Notizen eines Publizisten<br />

I<br />

555<br />

Kürzlich fand die fällige Beratung der Abgeordneten der Kadetten mit<br />

den örtlichen Funktionären dieser Partei statt.<br />

Wie zu erwarten war, wurden die Besonderheiten der gegenwärtigen<br />

politischen Lage erörtert. Die liberale Einschätzung dieser Lage sieht folgendermaßen<br />

aus:<br />

„Besondere Aufmerksamkeit galt dem wachsenden Mißverhältnis zwischen<br />

den Bedürfnissen des Landes in der Grundgesetzgebung und der Unmöglichkeit<br />

ihrer Befriedigung bei der gegenwärtigen Struktur der gesetzgebenden<br />

Körperschaften und bei der jetzigen Einstellung der Staatsmacht zur Volksvertretung."<br />

Die Sprache ist so verwirrt wie ein Knäuel, mit dem ein Kätzchen lange<br />

gespielt hat. Unsere armen Liberalen, nirgends können sie ihre Gedanken<br />

klar ausdrücken!<br />

Man sehe aber näher hin: Schlimm ist nicht so sehr, daß die Liberalen<br />

nirgends etwas sagen können, als vielmehr, daß sie nidois zu sagen haben.<br />

Es wächst nicht nur das Mißverhältnis zwischen den Bedürfnissen des<br />

Landes und der Unbrauchbarkeit der „gegenwärtigen Struktur" usw.,<br />

sondern auch zwischen den Bedürfnissen des Landes und der "Hilflosigkeit<br />

des Liberalismus.<br />

Weshalb kann man die Bedürfnisse des Landes nicht befriedigen, ihr<br />

Herren liberale Politiker? Die Antwort der Kadetten: Die gegenwärtige<br />

Struktur der gesetzgebenden Körperschaften und die jetzige Einstellung<br />

der Staatsmacht zur Volksvertretung stören.


556 IV. 1 <strong>Lenin</strong><br />

Schlußfolgerang: Nötig ist eine andere Struktur und eine andere Einstellung<br />

der Staatsmacht. Welche im einzelnen, werden wir sehen, wenn<br />

wir in den folgenden Artikeln die „vier Thesen" der Kadettenberatung<br />

untersuchen.<br />

Zuvor müssen wir jedoch die Hauptfrage stellen: Wodurch ist denn<br />

die „gegenwärtige" „Struktur und Einstellung" zu erklären? Woher kann<br />

man eine andere nehmen? Darüber haben die Kadetten nicht einmal nachgedacht!<br />

Ihr Schweigen in dieser grundlegenden Frage läuft auf das verknöcherte,<br />

asiatische Spießertum etwa von der Art hinaus: Die Ratgeber<br />

waren schlecht, und es kann gute Ratgeber geben ...<br />

Besteht denn kein Zusammenhang, ihr Herren Kadetten, zwischen der<br />

„Gegenwart" und den Interessen irgendeiner Klasse, zum Beispiel der<br />

Klasse der Großgrundbesitzer? Oder der reichen Bourgeois? Besteht keine<br />

völlige Übereinstimmung zwischen der „Gegenwart" und den Interessen<br />

bestimmter "Klassen? Ist es nicht klar, daß die Erörterung der politischen<br />

Lage ohne Berücksichtigung des Wechselverhältnisses zwischen allen Klassen<br />

leeres Geschwätz bedeutet?<br />

O weh! Die Kadetten haben nichts außer Geschwätz, um das „wachsende<br />

Mißverhältnis" zwischen ihrer Politik und den Bedürfnissen des<br />

Landes zu verbergen.<br />

II<br />

Unsere Liberalen überhaupt - und ihnen folgend auch die liberalen<br />

Arbeiterpolitiker (Liquidatoren) - reden gern und immer wieder von der<br />

„Europäisierung" Rußlands. Eine winzig kleine Wahrheit dient hier zur<br />

Tarnung einer großen Unwahrheit.<br />

Zweifelsohne wird Rußland, allgemein gesprochen, europäisiert, d. h.<br />

nach dem Vor- und Ebenbild Europas umgestaltet (wobei man zu „Europa",<br />

entgegen der Geographie, jetzt auch Japan und China rechnen<br />

muß). Diese Europäisierung jedoch vollzieht sich im allgemeinen seit<br />

Alexander II., wenn nicht seit Peter dem Großen, sie vollzieht sich sowohl<br />

in der Zeit des Aufschwungs (1905) als auch in der Zeit der Reaktion<br />

(1908-1911), sie vollzieht sich in der Polizei wie bei den Gutsbesitzern<br />

vom Schlage Markows, die ihre Methoden im Kampf gegen die Demokratie<br />

„eurooäisieren".


TPadisendes Mißverhältnis 557<br />

Das Wörtchen „Europäisierung" ist so allgemein, daß es zur Verwirrung<br />

der Sache, zur Verdunkelung der aktuellen Fragen der Politik<br />

dient.<br />

Die Liberalen wollen die Europäisierung Rußlands. Aber auch der Rat<br />

des vereinigten Adels erstrebt mit seinem Gesetz vom 9. November 1906<br />

(14. Juni 1910) die Europäisierung.<br />

Die Liberalen wollen eine europäische Verfassung. Die Verfassungen<br />

in den verschiedenen Ländern Europas jedoch waren das Ergebnis eines<br />

langen und schweren Klassenkampfes zwischen Feudalismus und Absolutismus<br />

einerseits und der Bourgeoisie, den Bauern und den Arbeitern<br />

anderseits. Die geschriebenen und die ungeschriebenen Verfassungen, mit<br />

denen die Liberalen unsere Reaktionäre „beschämen", sind lediglich die<br />

Fixierung der Ergebnisse des Kampfes nach einer Reihe schwer errongener<br />

Siege des Neuen über das Alte und einer Reihe von Niederlagen, die das<br />

Alte dem Neuen beigebracht hat.<br />

Die Liberalen wollen, daß wir die Ergebnisse erhalten ohne all die Plus<br />

und Minus, die sie erst ausmachen! Das liberale Programm und die liberale<br />

Taktik laufen auf folgendes hinaus: Möge die europäische Gesellschaftsordnung<br />

bei uns Eingang finden ohne den schweren Kampf, der<br />

sie in Europa hervorgebracht hat!<br />

Begreiflicherweise quittieren unsere Kobylinski die Wünsche und Argumente<br />

der Liberalen mit verächtlichen Ausfällen gegen die „Krämer" und<br />

„Mushiks". „Sie, meine Herren Liberale", sagen die Kobylinski, „wollen<br />

auf dem Papier die Siege festhalten, die Sie im Leben noch nicht errungen<br />

haben."<br />

III<br />

Die Kadettenberatung hat zur Frage der Taktik vier Thesen angenommen.<br />

Die erste lautet:<br />

„Die Taktik der vereinigten Tätigkeit der Opposition an der ganzen Front,<br />

die eine notwendige Voraussetzung für die Ausübung der laufenden sachlichen<br />

Tätigkeit der Reichsduma darstellt, garantiert jedoch weder die Erzielung einer<br />

stabilen und dauerhaften Mehrheit der Reichsduma für die Gesetzesvorlagen<br />

der Opposition noch eine wirkliche Realisierung derjenigen Gesetzesvorlagen,<br />

die die Opposition mit Hilfe des Dumazentrums in der Reichsduma durchbringen<br />

könnte."


558 Ti>. J. Cenin<br />

Dieses Kauderwelsch bedeutet in eine verständliche Sprache übersetzt<br />

folgendes:<br />

Die Liberalen können nur mit den Oktobristen eine Mehrheit in der<br />

Reichsduma bilden. Eine solche Mehrheit ist nicht beständig, und ihre Beschlüsse<br />

werden nicht realisiert.<br />

Richtig. Doch hieraus folgt, daß man sich selbst und das Volk betrügt,<br />

wenn man diese Beschlüsse als „notwendige", „laufende" und „sachliche"<br />

(!??) Tätigkeit bezeichnet.<br />

Wenn wir die Rechten durchfallen lassen durch eine Abstimmung mit<br />

den Oktobristen, so werden wir uns dennoch nicht auf den Standpunkt<br />

der Gesetzgebung im Rahmen der IV. Duma stellen, keine konstitutionellen<br />

Illusionen säen - das müßten die Kadetten dem Volk sagen, wenn<br />

sie nicht nur in Worten Demokraten sein wollten.<br />

Die erste „These" der Kadettenberatung überrascht durch ihre Unlogik.<br />

Die Annahme in Wirklichkeit unrealisierbarer Gesetzesvorlagen durch<br />

eine unbeständige und labile Mehrheit der IV. Duma wird als „sachliche"<br />

Tätigkeit bezeichnet!! Die Kadetten selber nannten das Hunderte Male -<br />

und mit Recht - Kleinkram und Langeweile.<br />

Doch wird die vom Standpunkt der Logik unerhört törichte Taktik der<br />

Kadetten begreiflich vom Standpunkt der Klasseninteressen. Erinnern wir<br />

uns, was die Sozialdemokraten seit 1907 über die III. und die IV. Duma<br />

sagten. - In der Duma gibt es zwei Mehrheiten, sagten sie: eine rechtsoktobristische<br />

und eine oktobristisch-kadettische. Beide stehen auf<br />

konterrevolutionärem Boden (vgl. „Prosweschtschenije", 1913, Nr. 1,<br />

S. 13).*<br />

Die Beratung der Kadetten vom Februar 1913 hat bestätigt, was wir in<br />

unseren offiziellen Beschlüssen seit 1907 gesagt haben.<br />

Die „Taktik der vereinigten Tätigkeit der Opposition an der ganzen<br />

Front... mit Hilfe des Dumazentrums" braudben die Kadetten eben deshalb,<br />

weil sie ebenso wie die Oktobristen auf konterrevolutionärem Boden<br />

stehen. Bei der inneren Verwandtschaft zwischen beiden ist begreiflich,<br />

daß sie zu gemeinsamer „sachlicher" Tätigkeit tendieren, ungeachtet ihrer<br />

gegenwärtigen Unzuverlässigkeit.<br />

Die Oktobristen jammern ewig in ihrer Presse, schimpfen auf die Revolution,<br />

schimpfen auf die Regierung, die Rechten, den Reichsrat - in der<br />

* Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 487-489. Die TLed.


Wadbsendes Mißverhältnis 559<br />

Duma aber beschränken sie sich auf den Wunsch nach Reformen, folgen<br />

sie der Regierung.<br />

Die Kadetten jammern in ihrer Presse noch mehr, schimpfen auf die<br />

Revolution, schimpfen auf die Regierung, die Rechten, den Reichsrat und<br />

die Oktobristen - in der Duma aber beschränken sie sich auf den Wunsch<br />

nach Reformen, sind sie bemüht, ihre oppositionelle Einstellung den Wünschen<br />

der Oktobristen anzupassen.<br />

IV<br />

Die zweite These der Kadettenberatung lautet:<br />

„Eine wesentliche Stärkung der Reichsduma als eines gesetzgeberischen und<br />

politischen Faktors kann nur über die Verwirklichung von drei Grundbedingungen<br />

erreicht werden: Demokratisierung des Wahlgesetzes (allgemeines<br />

Wahlrecht), radikale Reform des Reichsrats und Verantwortlichkeit des Kabinetts."<br />

Das Wesen der hier dargelegten Taktik kann man in einem Wort zusammenfassen:<br />

Reformertum.<br />

Die Geschichtswissenschaft sagt uns, daß sich die reformerische Veränderung<br />

einer gegebenen politischen Ordnung von der nichtreformerischen,<br />

allgemein gesprochen, dadurch unterscheidet, daß die Macht bei<br />

der ersten in den Händen der bis dahin herrschenden Klasse verbleibt, bei<br />

der zweiten aber aus den Händen der alten Klasse in die Hände einer<br />

neuen übergeht. Die Kadetten begreifen nicht die Klassengrundlage historischer<br />

Umwälzungen. Darin liegt der Hauptfehler der Kadetten vom<br />

Standpunkt der Theorie.<br />

Vom Standpunkt der Praxis läuft der genannte theoretische Unterschied<br />

darauf hinaus, ob sich das Besondere verändert bei gleichbleibendem<br />

Allgemeinen und Grundlegenden oder ob sich dieses letztere ändert.<br />

In den verschiedenen Ländern zu verschiedenen Zeitpunkten der Geschichte<br />

war die Bourgeoisie teils reformerisch, teils aber beschränkte sie<br />

sich nicht auf Reformertum. Anderseits lehnt es die Arbeiterklasse, die<br />

niemals anerkennen wird, daß Reformen wesentliche Veränderungen bringen<br />

können, unter gewissen Umständen keineswegs ab, nächstliegende<br />

Forderungen in Gestalt von Reformen zu vertreten.<br />

Es geht also darum, daß nach Ansicht der Kadetten gegen die Aufrecht-


560 IV. 1. <strong>Lenin</strong><br />

erhaltnng der Herrschaft der jetzt herrschenden Klasse, d. h. der Großgrundbesitzer<br />

feudalen Typs, nichts zu sagen ist. Die Kadetten verharren<br />

weiterhin auf dem Standpunkt der Opposition mit dem Genitiv, vertreten<br />

weiterhin die Meinung: „Rußland hat, Gott sei Dank, eine Verfassung."<br />

Anders ausgedrückt, die „drei Grundbedingungen" der Kadetten, das<br />

sind die von der liberalen Bourgeoisie vorgeschlagenen Bedingungen der<br />

gütiidben Aufteilung der ökonomischen und politischen Privilegien zwischen<br />

dem feudalen Grundbesitz und dem Kapital.<br />

Die Oktobristen stehen auf demselben Standpunkt („Versöhnung der<br />

Macht mit dem Lande" - wie es in der Sprache Maklakows heißt, der halb<br />

Oktobrist, halb Kadett ist), wobei die Oktobristen Bedingungen für die<br />

Teilung stellen, die dem Grundeigentum mehr .entgegenkommen".<br />

Die große Dienstfertigkeit der Oktobristen hat Schiffbruch erlitten.<br />

Welchen Grund hat man, von der kleinen Dienstfertigkeit der Kadetten<br />

ein anderes Ergebnis zu erwarten? Vom Standpunkt des Reformertums<br />

sind die Oktobristen viel konsequenter, denn wer diesen Standpunkt bezieht,<br />

muß die Annehmbarkeit der Reformen in Rechnung stellen, und die<br />

oktobristischen „Reformen" sind weit „annehmbarer".<br />

Die einzige Schlußfolgerung ist:Es wächst das Mißverhältnis zwischen<br />

dem liberalen Reformertum und den Bedürfnissen des Landes.<br />

Die dritte These der Kadettenberatung lautet:<br />

„Die Vorbereitung dieser Bedingungen muß zur Hauptaufgabe der Taktik<br />

der Kadetten gemacht werden, wobei die laufende gesetzgeberische Tätigkeit,<br />

zusammen mit den übrigen Gruppen der Opposition und mit dem Zentrum,<br />

ausgenutzt werden muß, sofern sie sich als durchführbar erweist, aber nicht in<br />

Widerspruch geraten darf zur Verwirklichung dieser Hauptaufgaben."<br />

(„Retsch" Nr. 34, 4. Februar.)<br />

Die vorhergehende „These" war ein Zugeständnis an die linken Kadetten<br />

oder, richtiger, ein Köder für die Demokratie: Unterstützt uns Kadetten,<br />

denn wir sind „Demokraten", wir sind für das allgemeine Wahlrecht!<br />

Nach einer Verbeugung nach links eine ernsthafte Schwenkung nach<br />

rechts: Die dritte These lautet, übersetzt aus dem Kauderwelsch in eine


Wachsendes Mißverhältnis 561<br />

verständliche Spradie: Einer laufenden gesetzgeberischen Tätigkeit gemeinsam<br />

mit den Progressisten und Oktobristen stimmen wir Kadetten<br />

zu! Aber diese „laufende" Gesetzgebung liefert doch unrealisierbare Gesetzesvorlagen,<br />

wie in der ersten These zugegeben wird? Die Kadetten<br />

machen den kleinen Vorbehalt: „sofern durchführbar". Das heißt, direkter<br />

gesagt, mit Kleinkram werden wir uns befassen, die Verantwortung<br />

dafür aber mag den Oktobristen zufallen! Spaßvögel sind unsere Kadetten,<br />

wirklich...<br />

Weiter. Weder die Progressisten noch die Oktobristen, die konsequenter<br />

als die Kadetten auf dem Standpunkt des Reformertums stehen, stimmen<br />

solchen „übermäßig" liberalen Forderungen wie allgemeines Wahlrecht,<br />

radikale Reform des Reichsrats usw. zu. Wie nur können die Kadetten,<br />

die weiterhin auf den Demokratismus Anspruch erheben, eine<br />

gemeinsame laufende gesetzgeberische Tätigkeit mit diesen notorischen<br />

Qegnern der Demokratie proklamieren?<br />

Auch hierfür haben die Kadetten einen kleinen Vorbehalt bei der Hand:<br />

Wir Kadetten sind mit der Vorbereitung des allgemeinen Wahlrechts beschäftigt,<br />

mit der Vorbereitung in einer mit den Oktobristen gemeinsamen<br />

Tätigkeit, und diese „darf nicht in Widerspruch geraten zur Verwirklichung"<br />

des allgemeinen Wahlrechts!<br />

Ein einfaches Hintertürchen: Wir erklären die <strong>Red</strong>e Rodsjankos für<br />

„konstitutionell", wir stimmen (nicht irrtümlich wie die Sozialdemokraten,<br />

sondern aus Überzeugung) für die oktobristische Formulierung des Antrags<br />

auf Übergang zur Tagesordnung nach der Regierungserklärung,<br />

denn alles das widerspridüt nidht der „Vorbereitung" des allgemeinen<br />

Wahlrechts!!<br />

Hier kann man schon nicht mehr sagen, daß die Kadetten Spaßvögel<br />

sind. Hier wäre ein anderes Wort am Platz<br />

In allen Ländern Europas beteuert die konterrevolutionäre liberale<br />

Bourgeoisie, die sich von der Demokratie abgewandt hat, immer noch,<br />

daß sie mit der Vorbereitung (in Preußen - zusammen mit den Nationalliberalen,<br />

in Frankreich - zusammen mit allen Fortschrittlern) der „wichtigsten"<br />

demokratischen Reformen beschäftigt sei.<br />

Die Bourgeoisie, die endgültig den Weg des Reformertums betreten<br />

hat, ist eine faulende Bourgeoisie, ohnmächtig in ihrem Liberalismus,


562 W. 7. <strong>Lenin</strong><br />

unzuverlässig in bezug auf demokratische Veränderungen, den Arbeitern<br />

f eind, sie ist vom Volke zu den Rechten übergegangen.<br />

VI<br />

Die letzte, die vierte These der Kadettenberatung lautet:<br />

„Die Beratung erachtet es für zeitgemäß, neben der Aufstellung der erwähnten<br />

drei Losungen die Frage der Anwendung aktiverer taktischer Maßnahmen<br />

des parlamentarischen Kampfes aufzuwerfen."<br />

Nur des parlamentarischen? Und nur die Frage aufzuwerfen?<br />

Was „aktivere taktische Maßnahmen des parlamentarischen Kampfes"<br />

bedeuten soll, weiß Allah. Es ist, als hätte die Kadettenberatung ihre<br />

Thesen vorsätzlich in der unverständlichsten Sprache abgefaßt.<br />

Wenn die Kadetten von aktiveren Maßnahmen sprechen, so wollen sie<br />

offenbar ihre Linksschwenkung demonstrieren. Doch ist das eben nur eine<br />

Demonstration, denn etwas Konkretes läßt sich daraus nicht ableiten.<br />

Welche „Maßnahmen" des parlamentarischen Kampfes können, allgemein<br />

gesprochen, als aktivere Maßnahmen bezeichnet werden?<br />

Nicht für die oktobristischen und progressistischen Anträge auf Obergang<br />

zur Tagesordnung zu stimmen.<br />

Keine <strong>Red</strong>en über die „Versöhnung der Macht mit dem Lande" zu<br />

halten.<br />

Niemals zu schweigen, wenn die rechts-oktobristische Mehrheit antidemokratische<br />

Maßnahmen durchführt.<br />

Der Schließung und Einengung allgemeiner, prinzipieller Debatten nicht<br />

zuzustimmen.<br />

Wir raten allen und jedem, der mit Kadetten zusammentrifft, nicht zu<br />

vergessen, sie zu fragen, ob sie die Frage der aktiveren Maßnahmen „aufgeworfen"<br />

haben, wie sie sie gelöst haben, wenn sie darangegangen sind,<br />

sie aufzuwerten, wie sie die „aktiveren Maßnahmen" in der Tat anwenden.<br />

Das Land rückt nach links. Eine neue Demokratie erwacht zum Leben.<br />

Die zur Schau getragene kaum merkliche Linksschwenkung der Kadetten<br />

hat ein ganz bestimmtes politisches Ziel: diese neue Demokratie zu täuschen,<br />

sie für sich zu gewinnen, sich als ihr Vertreter auszugeben.<br />

Eine dringliche Aufgabe der Demokratie ist es, diesen Betrug zu ver-


Wachsendes Mißverhältnis 563<br />

hindern. Wer aus den ernsten Lehren der Vergangenheit nicht die Schlußfolgerung<br />

gezogen hat, daß unausbleiblich Schwankungen, Verrat, unrühmliche<br />

kampflose Niederlagen die Folgen sind, wenn die Kadetten<br />

auch nur teilweise die Führung der demokratischen Elemente übernehmen,<br />

der hat nichts gelernt. Den muß man als Feind der Demokratie ansehen.<br />

VII<br />

Insgesamt genommen stellt die Kadettenberatung ein interessantes<br />

Dokument über das politische Leben unseres „Zentrums" dar. Gewöhnlich<br />

werden solche Dokumente, exakte und förmliche Beschlüsse organisierter<br />

Parteien, bei uns von der Presse wenig beachtet. Gegen „Resolutionen"<br />

hat man eine Abneigung. Interviews und Gerüchte zieht man vor.<br />

Ein ernstes Herangehen an die Fragen der Politik jedoch erfordert die<br />

sorgfältigste Analyse der Parteibeschlüsse, und die Marxisten werden alles<br />

tun, was von ihnen abhängt, um eine solche Analyse zu fördern.<br />

Wir nannten die Kadetten das „Zentrum". 'Ublidh ist, so die Oktobristen<br />

zu nennen, die zwischen den Rechten und der Opposition stehen.<br />

Jedoch darf man sich - sowohl vom Standpunkt der Klassenwurzeln der<br />

politischen Parteien wie auch vom Standpunkt des Wesens der beutigen<br />

Politik überhaupt - bei der Analyse der Parteien nicht auf die Duma beschränken,<br />

darf man nicht nur die Oktobristen für das „Zentrum" halten.<br />

Man betrachte die Klassenwurzeln unserer Parteien: Die Rechten und<br />

die Nationalisten sind, im allgemeinen, feudale Gutsbesitzer. Sie sind für<br />

die Aufrechterhaltung und „Vertiefung" des jetzigen Regimes.<br />

Bei den Oktobristen, Progressisten und Kadetten sehen wir den Gutsbesitzer<br />

von einem zweifellos mehr bürgerlichen Typus, dann aber auch<br />

eine Menge Großbourgeoisie. Alle diese Parteien wollen Reformen. Sie<br />

alle bilden das wirkliche Zentrum zwischen den feudalen Gutsbesitzern<br />

und der Demokratie (der bäuerlichen und der proletarischen).<br />

Die Bourgeoisie fürchtet die Demokratie mehr als die Reaktion; das<br />

gilt für die Progressisten ebenso wie für die Kadetten. Die oppositionelle<br />

Einstellung der beiden letztgenannten Parteien muß man bei den praktischen<br />

Aufgaben der Tagespolitik natürlich in Rechnung stellen, doch darf<br />

uns diese oppositionelle Einstellung nicht die Klassenverwandtschait dieser<br />

Parteien mit den Oktobristen vergessen lassen.


564 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />

Die feudalen Gutsbesitzer herrschen sowohl allein als auch im Block<br />

mit den Spitzen der Bourgeoisie. Die Fronherren sind gegen Reformen.<br />

Die Bourgeoisie ist, allgemein gesprochen, für Reformen, wobei sie sich<br />

auf die Position des Reformertums beschränkt, was man weder von der<br />

bäuerlichen noch auch - insbesondere - von der proletarischen Demokratie<br />

sagen kann.<br />

Die Kadettenberatung zeigt uns deutlich das Reformertum der Kadetten<br />

als ihre ausschließliche Taktik. Wichtig ist vor allem, sich den Z«sammenbang<br />

dieser Taktik mit den Klasseninteressen der Bourgeoisie und<br />

die Ilnzulänglidhkeit dieser Taktik, ihr „wachsendes Mißverhältnis" zu<br />

den Bedürfnissen des Landes vor Augen zu halten. Wichtig ist vor allem,<br />

die grundsätzliche Verwandtschaft der Kadetten mit den Oktobristen und<br />

die völlige Unmöglichkeit irgendwelcher Erfolge der Demokratie unter der<br />

Leitung der Kadetten klarzumachen.<br />

VIII<br />

Mein Artikel war bereits fertig, als ich die Nr. 30 der Zeitung „Golos<br />

Moskwy" mit dem der Kadettenberatung gewidmeten redaktionellen Artikel<br />

„Wie nun weiter?" erhielt.<br />

Dieser Artikel ist, im Zusammenhang mit den Dumaabstimmungen<br />

vom 6. Februar (Annahme des Antrags auf Übergang zur Tagesordnung<br />

nach den Erklärungen von Kasso) 133 , so wichtig und wirft ein so grelles<br />

Licht auf die Frage der Stellung der Kadetten zu den Oktobristen, daß<br />

man dazu unbedingt etwas sagen muß.<br />

„Golos Moskwy", das offizielle Organ der Oktobristen, stellt die Kadettenberatung<br />

(die Zeitung nennt sie aus irgendeinem Grunde Konferenz)<br />

als einen Sieg der linken Kadetten mit Miljukow an der Spitze über<br />

die rechten Kadetten dar.<br />

„Die gesetzgeberische Tätigkeit", so legt „Golos Moskwy" die Resolution<br />

ler Kadetten dar, „kann nur insofern genutzt werden, als sie diesen Hauptaufgaben<br />

nicht widerspricht" (d. h. dem allgemeinen Wahlrecht, der Reform<br />

des Reichsrats und der Verantwortlichkeit des Kabinetts).<br />

„Einfacher gesagt, die Annahme 'einer solchen Formel ist gleichbedeutend mit<br />

der Ablehnung jeglicher gesetzgeberischen Tätigkeit in den Grenzen der realen<br />

Möglichkeiten, und die kadettische Opposition nimmt nunmehr offen den<br />

Charakter einer nicht verantwortlichen Opposition an."


Wachsendes Mißverhältnis 565<br />

„Golos Moskwy" zieht hieraus den Schluß, daß lediglich die Auflösung<br />

der Duma übrigbleibe, da sich die Oktobristen niemals einer so<br />

„unversöhnlichen" (Scherz beiseite!) „Position" der Kadetten anschließen<br />

•werden, da es in der Duma keinerlei Mehrheit gebe, „absolute Ünzuverlässigkeit"<br />

herrsche ...<br />

So wird Geschichte geschrieben!<br />

Hier zeigt sich vortrefflich die überaus nahe Verwandtschaft der Kadetten<br />

mit den Oktobristen und der wirkliche Charakter ihrer „Zwiste":<br />

Pack schlägt sich, Pack verträgt sich ...<br />

Am 6. Februar verkündet in Moskau, wie wir sahen, das offizielle<br />

Organ der Oktobristen die völlige Auflösung des oktobristisch-kadettischen<br />

Blocks nach der Kadettenberatnng, die vor dem 4. 7ebruar stattgefunden<br />

hatte (am 4. Februar berichtete die „Retsch" über die Beratung).<br />

An demselben 6. Februar nehmen in St. Petersburg, in der IV. Reichsduma,<br />

die Oktobristen und die Kadetten zusammen mit 173 Stimmen bei<br />

153 Gegenstimmen den oktobristisdh-kadettisdhen Antrag zu den Erklärungen<br />

Kassos an - einen Antrag, der dann bei der Kontrollabstimmung<br />

zufällig abgelehnt wird!!<br />

Hübsdi, nicht wahr?<br />

Wir haben ein direkt klassisches Beispiel vor uns, wie die Oktobristen<br />

und die 'Kadetten ihre politischen „Geschäftchen" abwickeln. Sie bilden<br />

keinerlei „Block", gottbewahre! Aber sie verteilen untereinander die<br />

Rollen zur Nasführung der Öffentlichkeit so „geschickt", daß kein formeller<br />

Block ihnen solche „Bequemlichkeiten" bieten würde. Die Kadetten<br />

sehen, daß das Land nach links rückt, daß eine neue Demokratie im Entstehen<br />

ist, und deshalb machen sie in Linksradikalismus, indem sie mit<br />

Hilfe ihrer Beratung einige absolnt nichtssagende, völlig inhaltslose, aber<br />

linksklinijende Phrasen in Umlauf bringen. Die Oktobristen unterstützen<br />

in der Öffentlichkeit diese Empfindung oder diesen Eindruck, daß die<br />

Kadetten nach links gerückt seien, dadurch, daß sie offiziell, in einem<br />

redaktionellen Artikel des „Golos Moskwy", die Position der Kadetten<br />

als unversöhnlich hinstellen, die Bildung einer Dumamehrheit durch die<br />

Vereinigung der Oktobristen mit den Kadetten für unmöglich erklären,<br />

gegen die Kadetten wegen ihres Linksradikalismus wettern, Geschrei erheben<br />

um eine Auflösung der Duma usw. usf.<br />

In Wirklichkeit aber verhandeln sie insgeheim mit den Kadetten und


566 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />

einigen sich mit ihnen auf einen gemeinsamen Antrag gerade während<br />

ihres schärfsten Ausfalls gegen den Linksradikalismus der Kadetten!!<br />

„Die Wölfe sind satt, und die Schafe sind unversehrt." Die Demokratie<br />

ist genasführt, hintergangen, in die kadettisdie Herde gelockt (sind doch<br />

die Kadetten solche Linken ... seht nur, wie die Oktobristen sie wegen<br />

ihres Linksradikalismus beschimpfen!), und der oktobristisch-kadettische<br />

Block in der Schwarzhunderterduma ist unversehrt, hat sich gefestigt, entwickelt.<br />

Da möchte man ausrufen: O Himmel! Wann endlich wird Rußlands<br />

Demokratie diesen einfachen Mechanismus der liberalen kadettischen<br />

Prellerei begreifen? Spielen doch in allen Ländern Europas die liberalen<br />

bürgerlichen Politiker, auf diese oder jene Weise, gerade dieses selbe<br />

Spiel: Vor dem Volk, für die Wahlen, in offiziellen Äußerungen schreien<br />

und schwören sie, sie seien Demokraten, Radikale (die deutschen „Freidenker",<br />

Lloyd George und Co. in England), ja sogar Sozialisten (die<br />

Radikalsozialisten in Frankreich). Und in 'Wirklichkeit, in ihrer praktischen<br />

Politik, gehen sie zusammen mit den unbedingt antidemokratischen<br />

Regierungen und Parteien, mit den Oktobristen der verschiedenen Schattierungen<br />

und verschiedenen Nationalitäten.<br />

Wie alt ist doch diese Geschichte und wie endlos häufig wird sie von<br />

den Kadetten wiederholt!<br />

IX<br />

„Golos Moskwy" beteuert, die Kadetten hätten vor den Wahlen<br />

„eine heftige Polemik gegen die Linken betrieben und dabei die Notwendigkeit<br />

der gesetzgeberischen Tätigkeit in den Grenzen der realen Bedingungen<br />

nachzuweisen gesucht. Das berechtigte auch zu der Hoffnung, daß eine Verständigung<br />

des Dumazentrums mit der Opposition möglich sein würde. Nach<br />

den Wahlen jedoch vollzog sich in den Ansichten der Führer der Kadettenpartei<br />

ein wesentlicher Wandel. Die von Miljukow vorgeschlagene und von der<br />

Konferenz angenommene Resolution zur Frage der Dumataktik unterscheidet<br />

sich grundlegend von allem, was während der Wahlen offenbar zur Gewinnung<br />

der Stimmen des städtischen Großbürgertums gesagt wurde. Das letztere wäre<br />

wohl kaum bereit gewesen, die Kadetten auf der Grundlage der jetzt von der<br />

Konferenz aufgestellten Plattform zu unterstützen."<br />

Ein Musterbeispiel von Urteilen, bei denen man nicht weiß, worüber


"Wamsendes Mißverhältnis 567<br />

man sich mehr wundern soll: über die naive Schlauheit oder über die<br />

naive Ignoranz.<br />

Keinerlei Wandel hat sich in den Auffassungen der Kadetten vollzogen.<br />

Sie waren immer und bleiben eine liberale Partei, die die Demokratie<br />

durch Betrug für sich gewinnt. Auch bei den Wahlen von 1912 stellten<br />

die Kadetten gegenüber der Großbourgeoisie ihr „wirkliches" Gesicht,<br />

ihre „Solidarität" von Geschäftsleuten, ihre „Nüchternheit" als Diener<br />

der Kapitalistenklasse in den Vordergrund. Und dem demokratischen<br />

Wähler waren dieselben Kadetten gleichzeitig eifrig bemüht zu beweisen,<br />

daß sie - Demokraten seien, daß ihre Taktik in der Duma sich in nichts<br />

Wesentlichem von der Taktik der Sozialdemokratie unterscheide.<br />

Diese beiden Seiten der Kadettenpolitik sind das notwendige „Beiwerk"<br />

jeder liberalen Partei in allen zivilisierten Ländern. Natürlich wählen nicht<br />

selten einzelne Mitglieder der Partei ihre Spezialität, die einen machen in<br />

Demokratismus, die anderen in Ernüchterung der „Begeisterten" und in<br />

„seriöser" bürgerlicher Politik. Aber das geschieht doch in allen Ländern.<br />

Englands bekannter liberaler Scharlatan Lloyd George zum Beispiel stellt<br />

sich in Volksreden geradezu als Revolutionär und beinah als Sozialisten<br />

hin, in Wirklichkeit aber folgt dieser Minister in der Politik seinem Führer<br />

Asquith, der einem Konservativen in nichts nachstellt.<br />

Wenn der Artikel im „Golos Moskwy" Herrn Miljukow als Vertreter<br />

der linken Kadetten hinstellt, so können wir nur lächeln. Herr Miljukow<br />

vertritt in Wirklichkeit die offizielle kadettische Diplomatie, die das undemokratische<br />

Wesen der Partei mit der demokratischen Phrase vereinbaren<br />

wilL<br />

„Golos Moskwy" schreibt:<br />

„Diese neue Position des Herrn Miljukow ,nach den Wahlen' wurde von der<br />

Konferenz bei weitem nicht einstimmig gebilligt. Ein großer Teil ihrer Mitglieder<br />

bestand auf der Taktik der Verständigung mit dem Dumazentrum<br />

zwecks Durchbringung einzelner Vorlagen und Kulturreformen. Die Anhänger<br />

dieses Standpunkts suchten zu beweisen, daß bei der Erörterung verschiedener<br />

Gesetzesvorlagen die Fraktion auf Kompromisse eingehen müsse, um diese<br />

Vorlagen in liberalem Geiste durchzubringen und sie auf keinen Fall unannehmbar<br />

zu machen." Es folgt ein Ausfall gegen die „berühmte kadettische<br />

Disziplin" und die „unbedingte Unterordnung" der Kadetten „unter den autokratischen<br />

Willen" des Herrn Miljukow.


568 W. 3. <strong>Lenin</strong><br />

Ein deutliches Spiel. Eine durchsichtige Sache. Die Oktobristen „reizen"<br />

die rechten Kadetten, suchen sie als besiegt hinzustellen und zu einem entschlosseneren<br />

Kampf gegen die linken Kadetten herauszufordern. Dieses<br />

Spiel der Oktobristen (das unmöglich wäre, wären die Kadetten und die<br />

Oktobristen nicht Mitglieder ein und derselben Familie) schafft jedoch<br />

nicht die unbestrittene Tatsache aus der Welt, daß sich die linken und<br />

die rechten Kadetten, die Lloyd George und die Asquith unseres Liberalismus,<br />

in den Schattierungen unterscheiden.<br />

Man werfe einen Blick auf die „Russkaja Molwa". Dieses Organ der<br />

Progressisten, das einen Kompromiß zwischen den Oktobristen und den<br />

Kadetten predigt, schart immer mehr offizielle Mitglieder der Kadettenpartei<br />

um sich. Nicht auf einmal, aber allmählich, erschienen dort, dem<br />

„wechistischen" Führer Struve folgend, Mansyrew, Maklakow, Obolenski,<br />

Gredeskul, Alexandrow. Daß eine solche Kumpanei zu einer stärkeren<br />

Annäherung an die Oktobristen tendierte, steht außer Zweifel. Das<br />

konnte nicht anders sein. Aber ebenso steht außer Zweifel, daß Miljukow<br />

sie auf einer Plattform mit demokratischem Aushängeschild und oktobristisdiem<br />

Wesen mit den „linken Kadetten" versöhnen will.<br />

X<br />

Die von den verschiedenen Parteien in der Duma zu den Erklärungen<br />

Kassos gestellten Anträge auf Übergang zur Tagesordnung sind von<br />

großem Interesse. Sie geben uns exaktes, von den Abgeordneten der verschiedenen<br />

Parteien offiziell bestätigtes Material für die politische Analyse.<br />

Gerade der Analyse bedarf dieses Material gewöhnlich am meisten.<br />

Es verliert sich in den Notizen der Tagespresse oder in der Unmenge stenografischer<br />

Berichte der Duma. Doch ist es äußerst lohnend, zur Aufhellung<br />

der wahren Natur der verschiedenen Parteien bei ihm zu verweilen.<br />

Im redaktionellen Artikel der „Retsch" am Tage nach der Annahme des<br />

Mißtrauensvotums heißt es: „Somit hat die russische Gesellschaft von der<br />

Reichsduma erhalten, was sie zu erwarten ein Recht hatte" (Nr. 37,<br />

7. Februar). Das heißt also, die „Gesellschaft" brauchte nur zu wissen:<br />

Vertraut die Duma Herrn Kasso oder nicht? Mehr ist nicht vonnöten!<br />

Das ist nicht wahr. Das Volk und die Demokratie müssen die Motive<br />

des Mißtrauens kennen, um die Ursachen einer Erscheinung zu verstehen,


Wachsendes Mißverhältnis 569<br />

die in der Politik für anomal erklärt wird, und um in der Lage zu sein,<br />

den Ausweg zum Normalen zu finden. Die Einigung der Kadetten, der<br />

Oktobristen und der Sozialdemokraten allein auf die Formel „wir vertrauen<br />

nicht" gibt in diesen überaus ernsten Fragen allzowenig.<br />

Hier die Formulierung des Antrags auf Übergang zur Tagesordnung<br />

bei den Oktobristen:<br />

„Die Reichsduma... ist der Meinung: 1. daß jede Hereinziehung der<br />

Schüler der Mittelschulen in den politischen Kampf verderblich ist für die<br />

geistige Entwicklung der jungen Kräfte Rußlands und schädlich für den normalen<br />

Ablauf des gesellschaftlichen Lebens; 2. daß es notwendig ist, in Fällen<br />

rechtzeitiger Informierung der Behörden über unerwünschte Erscheinungen in<br />

der Mittelschule vorbeugende Maßnahmen zu treffen und nicht zu warten, bis<br />

die Erscheinungen einen anomalen Charakter annehmen*; 3. sie spricht sich<br />

entschieden gegen die Polizeimaßnahmen aus, die am 10. XII. 1912 ohne Kenntnis<br />

der Schulbehörde gegen die Schüler ergriffen wurden, anstatt sich auf die<br />

natürliche pädagogische Einwirkung zu beschränken; 4. sie konstatiert die den<br />

pädagogischen Prinzipien zuwiderlaufende Langsamkeit, mit der über das<br />

Schicksal der aus den Lehranstalten entfernten Schüler entschieden wird, und in<br />

der Erwartung der unverzüglichen Liquidierung dieses Falles in einem für die<br />

Schüler wohlwollenden Sinne geht sie zur Tagesordnung über."<br />

Welche politischen Ideen liegen diesem Votum zugrunde?<br />

Die Politik in der Schule ist schädlich. Die Schüler sind schuldig. Strafen<br />

aber sollen sie die Pädagogen nnd nicht die Polizisten. Mit der Regierung<br />

sind wir unzufrieden wegen des Mangels an „Wohlwollen" und wegen<br />

der Langsamkeit.<br />

Das sind antidemokratische Ideen. Das ist eine liberale Opposition:<br />

Mag das System der alten Macht bleiben, nur soll man es milder anwenden.<br />

Prügle, aber mit Maß, und ohne daß es einen Skandal gibt.<br />

Nehmen wir die Formulierung des Antrags auf Übergang zur Tagesordnung<br />

bei den Progressisten.<br />

* Dieser Text wurde in der Sitzung vom 25. Januar eingebracht. In der<br />

Sitzung vom 1. Februar wurde Punkt 2 wie folgt geändert: „Sie vermerkt<br />

anläßlich des gegebenen Einzelfalls das in der Mittelschule herrschende formale<br />

und teilnahmslose Verhalten zu den Schülern und die Entfremdung des<br />

pädagogischen Personals von der Familie und erachtet für notwendig, daß auf<br />

die heranwachsende Generation die allgemeine wohlwollende Aufmerksamkeit<br />

gerichtet werde."<br />

37 <strong>Lenin</strong>, Weile, Bd. <strong>18</strong>


570 Ti>. J. £enin<br />

„Die Duma ... stellt fest: 1. Das über die Vorgänge, die sich in letzter Zeit<br />

in den mittleren Lehranstalten in St. Petersburg abgespielt haben, unterrichtete<br />

Ministerium für Volksbildung hat seine Pflichten vernachlässigt und die Mittelschule<br />

nicht vor dem Eindringen der Polizei geschützt; 2. die von den Polizeibeamten<br />

angewandten und vom Ministerium für Volksbildung ohne Protest<br />

hingenommenen Methoden, die Durchsuchung von Schulen, die Verhaftung<br />

und Festhaltung von Kindern in den Polizeirevieren, die unzulässigen Untersuchungsverfahren,<br />

sind in keiner Weise zu rechtfertigen, um so mehr, als es<br />

sich im gegebenen Fall nicht um den Schutz der Staatssicherheit handelte,<br />

sondern um die Wiederherstellung der Ordnung in der Mittelschule; 3. das<br />

ganze auf die Entfremdung zwischen Schule und Familie gerichtete System<br />

von Maßnahmen des Ministeriums für Volksbildung schafft durch den seelenlosen,<br />

die sittliche und geistige Entwicklung der jungen Generation unterdrückenden<br />

Formalismus Bedingungen, die der Herausbildung anomaler Erscheinungen<br />

im Leben der Schule günstig sind. Die Erklärungen des Ministeriums<br />

für Volksbildung für unbefriedigend erachtend, geht die Duma zur<br />

Tagesordnung über."<br />

Dieser Antrag war am 30. Januar eingebracht worden, und die Progressisten<br />

erklärten schon damals, daß sie für die Oktobristen stimmen<br />

würden, falls diese das Mißtrauensvotum hinzufügten. Die Resultate<br />

dieses Kuhhandels haben wir weiter oben gesehen.<br />

Auf welchem Boden war dieser Kuhhandel möglidh? Auf dem Boden<br />

der Übereinstimmung im Grundlegenden.<br />

Audi die Progressisten erachten die Politik in der Schule für anomal,<br />

auch sie fordern die „Wiederherstellung der Ordnung" (der Leibeigenschaftsordnung).<br />

Auch bei ihnen sehen wir die Opposition mit dem Genitiv,<br />

die Opposition nicht gegen das System der alten Macht, sondern<br />

gegen seine - „teilnahmslose, seelenlose" usw. - Anwendung. Pirogow<br />

war in den sechziger Jahren damit einverstanden, daß das Prügeln nötig<br />

sei, aber er forderte, daß nicht teilnahmslos, nidbt seelenlos geprügelt<br />

werde. Die Progressisten sind nicht dagegen, daß die gegenwärtigen<br />

sozialen Elemente „die Ordnung wiederherstellen", nur finden sie es ratsamer,<br />

dies „mit mehr Teilnahme" zu tun. Welcher Fortschritt bei uns in<br />

einem halben Jahrhundert!<br />

Die Formulierung des Antrags auf Übergang zur Tagesordnung bei den<br />

Kadetten:<br />

„Nach Kenntnisnahme der Erklärungen des Ministers für Volksbildung stellt


Wamsendes Mißverhältnis 571<br />

die Duma fest: 1. daß in ihnen der pädagogische Standpunkt völlig mit dem<br />

polizeilichen Standpunkt vermengt wird; 2. daß diese Erklärungen absolut die<br />

normalen Grundlagen negieren, die die Herstellung freundsdiaftlidier Beziehungen<br />

der Zusammenarbeit zwischen Schule und Familie ermöglichen; 3. daß<br />

die Politik des Ministeriums, die eine tiefgehende Unzufriedenheit unter den<br />

Schülern und eine berechtigte Gereiztheit in der Gesellschaft zur Folge hat,<br />

selbst zur Herausbildung jener Atmosphäre beiträgt, die die verfrühte Hereinziehung<br />

der lernenden Jugend in die Beschäftigung mit der Politik begünstigt<br />

und damit selbst die Bedingungen schafft, deren Entstehen verhindert werden<br />

sollte; 4. daß die Behandlung der Schüler, als wären es Staatsverbrecher, das<br />

Leben der Begabtesten unter der heranwachsenden Generation zerstört, aus<br />

ihren Reihen zahlreiche Opfer fordert und eine Gefahr für die Zukunft Rußlands<br />

darstellt - sie erachtet daher die Erklärung des Ministers für unbefriedigend<br />

und geht zur Tagesordnung über."<br />

In viel milderer und mit Phrasen umhüllter Form wird hier gleidbfatts<br />

die „verfrühte" Hereinziehung der Jugend in die Politik verurteilt. Das<br />

ist ein antidemokratischer Standpunkt. Sowohl die Oktobristen als auch<br />

die Kadetten verurteilen die Polizeimaßnahmen nur deshalb, weil sie statt<br />

ihrer vorbeugende Maßnahmen fordern. Das System soll die Versammlungen<br />

nicht auseinandertreiben, es soll ihnen vorbeugen. Es ist klar, daß<br />

das System selbst durch eine solche Reform nur überschminkt, nicht aber<br />

geändert wird. Wir sind unzufrieden mit der Politik des Ministeriums,<br />

sagen die Kadetten, und sie folgern ganz wie die Oktobristen, daß es<br />

möglidb sei, eine Änderung dieser Politik zu wünsdien, ohne sehr viel<br />

tiefer zu greifen.<br />

Die Kadetten sprechen sich gegen die Regierung viel schärfer aus als die<br />

Oktobristen, und unentwickelte politische Elemente übersehen über dieser<br />

Schärfe der Worte die absolute Identität der liberalen, antidemokratischen<br />

Jragesteüung bei den Kadetten wie bei den Oktobristen.<br />

Die Duma soll das Volk Politik ernsthaft lehren. Wer bei den Kadetten<br />

Politik lernen will, der verdirbt sein Bewußtsein, anstatt es zu entwickeln.<br />

Daß die Oktobristen, Progressisten und Kadetten miteinander feilschten<br />

und sich auf einen gemeinsamen Antrag einigten, ist kein Zufall, sondern<br />

das Resultat ihrer ideologisch-politischen Solidarität im Grundlegenden.<br />

Es gibt nichts Jämmerlicheres als die Politik der Kadetten: um die<br />

Anerkennung der Erklärungen als unbefriedigend zu erreichen, gehen sie<br />

auf die direkte Verurteilung der Politik in den Schulen ein! Doch die


572 W.!J.£enin<br />

Kadetten gingen darauf ein, weil sie selbst die „verfrühte" Hereinziehung<br />

der Jugend verurteilen.<br />

Der Antrag der Trudowikigruppe:<br />

„In Anbetracht dessen: 1. daß die am 9. XII. 1912 gegen die lernende Jagend<br />

einer Mittelschule ergriffenen groben Gewaltmaßnahmen, die infolge der<br />

schmachvollen Heranziehung einer Ochranaabteilung zur pädagogischen Beaufsichtigung<br />

der Schüler der Mittelschule in der Gesellschaft Bestürzung hervorriefen,<br />

in der Erklärung des Ministers für Volksbildung, Herrn Kassos, nur<br />

volle Billigung, begleitet von schadenfroher Verhöhnung der öffendichen Meinung,<br />

gefunden haben; 2. daß das System der Durchsuchungen und der<br />

Ochrana, dieses Resultat der ganzen Politik des vereinigten Ministeriums und<br />

insbesondere des Ministers für Volksbildung Kasso, zum endgültigen Zusammenbruch<br />

führt und die heranwachsende Generation in der Zukunft<br />

schweren Erschütterungen auszusetzen droht - fordert die Reichsduma die unverzügliche<br />

Wiederaufnahme aller am 9. XII. Ausgeschlossenen; die Erklärungen<br />

des Ministers für Volksbildung Kasso für unbefriedigend erachtend,<br />

fordert sie seinen sofortigen Rücktritt und geht zur Tagesordnung über."<br />

Diese Formulierung ist, strenggenommen, eine scharfe liberale Formulierung,<br />

doch das, was ein Demokrat sagen müßte, zum Unterschied vom<br />

Liberalen, ist in ihr nicht enthalten. Auch der Liberale kann die Heranziehung<br />

der Ochrana zur pädagogischen Aufsicht als schmachvoll bezeichnen,<br />

der Demokrat aber muß sagen (und er muß das dem Volk klarmachen),<br />

daß keinerlei „Aufsicht" berechtigt ist, die freie Organisierung<br />

von Zirkeln und von Gesprächen über politische Fragen zu verbieten.<br />

Auch der Liberale kann die „ganze Politik des vereinigten Ministeriums"<br />

verurteilen, der Demokrat in Rußland aber muß klarlegen, daß es gewisse<br />

allgemeine Bedingungen gibt, die auch jedes andere Ministerium zwingen<br />

würden, im wesentlichen dieselbe Politik zu betreiben.<br />

Der Demokratismus der Trudowikiformulienmg kommt nur in ihrem<br />

Ton, in der Stimmung der Verfasser zum Ausdruck. Die Stimmung ist ein<br />

politisches Symptom, das ist klar. Doch von einem Antrag auf Übergang<br />

zur Tagesordnung sollte man einen durchdachten Gedanken erwarten<br />

können und nicht nur eine „den Geist erhebende" Stimmung.<br />

Die Formulierung des Antrags auf Übergang zur Tagesordnung bei den<br />

Sozialdemokraten:<br />

„Die Reichsduma, die die Erklärungen des Ministers für Volksbildung zur<br />

Kenntnis genommen hat, erblickt in ihnen: 1. die Entschlossenheit, den Kampf


Wachsendes Mißverhältnis 573<br />

zu fahren gegen das natürliche und erfreuliche Streben der lernenden Jugend,<br />

ihren Gesichtskreis auf dem Wege der Selbstbildung zu erweitern und kameradschaftlichen<br />

Verkehr zu pflegen; 2. die Rechtfertigung des in den Hoch-,<br />

Mittel- und Grundschulen verbreiteten Systems des bürokratischen Formalismus,<br />

des Spitzelwesens und der polizeilichen Durchsuchungen, das zur geistigen<br />

und moralischen Verkrüppelung der Jugend führt, die geringste Andeutung<br />

selbständigen Denkens und unabhängiger Charakterbildung brutal unterdrückt<br />

und eine Selbstmordepidemie unter der lernenden Jugend nach sich zieht. Sie<br />

erachtet daher diese Erklärungen für unbefriedigend. Die Reichsduma stellt<br />

zugleich fest, daß 1. die Herrschaft des polizeilichen Standpunkts auf dem Gebiet<br />

der Volksbildung untrennbar verbunden ist mit der Herrschaft der Ochrana<br />

über das ganze Leben in Rußland, mit der Unterdrückung aller Arten organisierter<br />

Selbsttätigkeit der Bürger und mit ihrer Rechtlosigkeit, daß 2. nur die<br />

radikale Umgestaltung der Staatsordnung und des Systems der Staatsverwaltung<br />

die Bürger und auch die Schule von den polizeilichen Fesseln zu befreien<br />

vermag - und geht zur Tagesordnung über."<br />

Wir können auch diese Formulierung kaum als einwandfrei anerkennen.<br />

Wir würden sie uns populärer und ausführlicher wünschen. Wir bedauern<br />

es, daß in ihr ein Hinweis fehlt auf die Berechtigung der Beschäftigung mit<br />

der Politik usw. usf.<br />

Doch bezieht sich unsere Kritik an allen Anträgen durchaus nicht auf<br />

Einzelheiten der redaktionellen Fassung, sondern ausschließlich auf die<br />

grundlegenden politischen Ideen der Verfasser. Der Demokrat mußte die<br />

Hauptsache sagen: Die Zirkel nnd Gespräche sind natürlich und erfreulich.<br />

Hierin liegt das Wesentliche. Jede Verurteilung einer wenn auch „verfrühten"<br />

Hereinziehung in die Politik ist Heuchelei und Obskurantismus.<br />

Der Demokrat mußte die Frage vom „vereinigten Ministerium" emporheben<br />

zur Frage der Staatsordnung. Der Demokrat mußte die „untrennbare<br />

Verbindung" vermerken 1. mit der „Herrschaft der Ochrana", 2. mit<br />

der Herrschaft der Klasse der Großgrundbesitzer von feudalem Typus im<br />

ökonomischen Leben.<br />

geschrieben 6.-9. (19.-22.) lebruar i913.<br />

Veröffentlich; im Tdärz-April i913 in der "Nach dem Jext der Zeitschrift.<br />

Zeitschrift „Troswesdhtsdhenije" 7ir. 3 und 4.<br />

Unterschrift: W.Ujin.


574<br />

EINIGE ERGEBNISSE<br />

DER „FLURBEREINIGUNG'<br />

Wie sehen die Ergebnisse der neuen Agrarpolitik aas? Diese Frage<br />

interessiert - und völlig zu Recht - alle Arbeiter. Die regierungsamtliche<br />

Statistik wird so schlecht und so einseitig geführt, daß man ihr nicht<br />

trauen kann. Zweifelsohne ist die neue Agrarpolitik eine bürgerliche Politik,<br />

doch sie steht ganz und gar unter der Leitung der Herren Purischkewitsch,<br />

Markow und Co., d. h. der Fronherren alten Schlages. Von einer<br />

solchen „Leitung" kann man schwerlich etwas anderes erwarten als ein<br />

Fiasko.<br />

Erwähnen wir die Schlußfolgerungen des Herrn W. Obolenski im letzten<br />

Heft der „Russkaja Mysl" (1913, Nr. 2). Diese Zeitschrift ist eine<br />

kadettische Schwarzhunderter-Zeitschrift. Der Verfasser des Artikels ist<br />

ebenfalls konterrevolutionär, also ein Zeuge, der eher für die Gutsbesitzer<br />

Partei ergreift. Dieser Herr fand nun im Gouvernement Samara einen<br />

Kreis (Nowousensk) mit „gewaltigen" Erfolgen der „Flurbereinigung":<br />

mehr als die Hälfte der Hofbesitzer habe zusammenhängendes Land<br />

erhalten.<br />

Und dennoch sieht die Schlußfolgerung, zu der der Verfasser gelangen<br />

mußte, so aus:<br />

„Was die nächstliegenden Ergebnisse der neuen Agrarreform betrifft, so ...<br />

kann man sie wohl kaum als einigermaßen erfreulich bezeichnen Eine beträchtliche<br />

Menge von Anteilländereien ist für einen Spottpreis von den bäuerlichen<br />

Halbproletariem an die wohlhabenden Bauern und spekulierenden Aufkäufer<br />

übergegangen... Gestiegen sind die Pachtzinsen ... Der Unterschied<br />

in der Ertragsfähigkeit zwischen dem Parzellenbesitz und dem gemeindlichen<br />

Gentengelagebesitz ist ganz geringfügig... Das neue Gesetz... begünstigte


Einige Ergebnisse der „Flurbereinigung" 575<br />

die Verschärfung der Gegensätze zwischen den Bedingungen des Wirtschaftslebens<br />

und seinem inneren Gehalt... Vielleicht arbeitet das bäuerliche Denken<br />

jetzt energischer als während des Höhepunkts der vergangenen Revolution."<br />

Danach, worauf sich das tätige Denken der Bauern richtet, braucht man<br />

den Liberalen von der „Russkaja Mysl" nicht erst zu fragen. Nicht umsonst<br />

hat er die Frage der fronherrlichen Wirtschaft auf den Gutsbesitzerländereien<br />

völlig im dunkeln gelassen.<br />

Doch lohnt es sich, über die Schlußfolgerungen des liberalen Gutsbesitzers<br />

nachzudenken. Alle Gegensätze haben sich verschärft, die Ausbeutung<br />

ist gewachsen, gestiegen sind die Pachtzinsen, ganz geringfügig ist<br />

der Fortschritt der Wirtschaft. Nicht „vielleicht", sondern gewiß arbeitet<br />

das bäuerlicheDenken.<br />

„Trawda" 7ir. 45, TVadh dem 7ext der „Vrawda".<br />

23. 7ebruar 1913.<br />

Unterschrift: "W. 1.


576<br />

DIE HISTORISCHEN SCHICKSALE DER LEHRE<br />

VON KARL MARX<br />

Das Wichtigste in der Marxschen Lehre ist die Klarstellung der weltgeschichtlichen<br />

Rolle des Proletariats als des Schöpfers der sozialistischen<br />

Gesellschaft. Hat.nun der weitere Verlauf der Ereignisse in der ganzen<br />

Welt diese Lehre, wie sie von Marx dargelegt wurde, bestätigt?<br />

Zum erstenmal formulierte sie Marx im Jahre <strong>18</strong>44. Das im Jahre <strong>18</strong>48<br />

erschienene „Kommunistische Manifest" von Marx und Engels gibt bereits<br />

eine geschlossene, systematische, bis heute unübertroffene Darlegung<br />

dieser Lehre. Die Weltgeschichte läßt sich von dieser Zeit an deutlich<br />

in drei Hauptperioden einteilen: 1. von der Revolution <strong>18</strong>48 bis zur<br />

Pariser Kommune (<strong>18</strong>71); 2. von der Pariser Kommune bis zur russischen<br />

Revolution (1905); 3. von der russischen Revolution an.<br />

Werfen wir einen Blick auf das Schicksal der Marxschen Lehre in jeder<br />

dieser Perioden.<br />

Zu Beginn der ersten Periode ist die Marxsche Lehre keineswegs die<br />

herrschende Lehre. Sie ist lediglich eine der äußerst zahlreichen Fraktionen<br />

oder Strömungen des Sozialismus. Vorherrschend sind Formen des Sozialismus,<br />

die im wesentlichen mit unserer Volkstümlerrichtung verwandt<br />

sind: man erkennt nicht die materialistische Grundlage der geschichtlichen<br />

Bewegung, man versteht nicht, die Rolle und Bedeutung jeder Klasse<br />

der kapitalistischen Gesellschaft zu umreißen, man bemäntelt das bürgerliche<br />

Wesen der demokratischen Umgestaltungen mit verschiedenen<br />

scheinsozialistischen Phrasen über „Volk", „Gerechtigkeit", „Recht"<br />

u. dgl. m.


Die historischen S&idksale der Lehre von Karl Marx 577<br />

Die Revolution von <strong>18</strong>48 versetzt allen diesen lärmenden, buntschekkigen,<br />

marktschreierischen Formen des üormarxschen Sozialismus den<br />

Todesstoß. Die Revolution zeigt in allen Ländern die verschiedenen Gesellschaftsklassen<br />

in Aktion. Die Niedermetzelung der Arbeiter durch die<br />

republikanische Bourgeoisie in den Junitagen <strong>18</strong>48 in Paris zeigt endgültig,<br />

daß nur das Proletariat seiner Natur nach sozialistisch ist. Die liberale<br />

Bourgeoisie hat vor der Selbständigkeit dieser Klasse hundertmal mehr<br />

Angst als vor jeder beliebigen Reaktion. Der feige Liberalismus kriecht vor<br />

dieser auf dem Bauch. Die Bauernschaft begnügt sich mit der Beseitigung<br />

der Oberreste des Feudalismus und schlägt sich auf die Seite der Ordnung,<br />

schwankt nur hin und wieder zwischen Arbeiterdemokratie und bürgerlichem<br />

Liberalismus. Alle Lehren von einem nicht klassengebundenen<br />

Sozialismus und einer nidht klassengebundenen Politik erweisen sich als<br />

purer Unsinn.<br />

Die Pariser Kommune (<strong>18</strong>71) schließt diese Entwicklung der bürgerlichen<br />

Umgestaltungen ab; nur dem Heldenmut des Proletariats verdankt<br />

die Republik, d. h. diejenige Form der staatlichen Organisation, in der die<br />

Klassenverhältnisse am wenigsten verhüllt hervortreten, ihre Konsolidierung.<br />

In allen anderen europäischen Ländern führt eine verworrenere und<br />

weniger abgeschlossene Entwicklung ebenfalls zur ausgebildeten bürgerlichen<br />

Gesellschaft. Gegen Ende der ersten Periode (<strong>18</strong>4S-<strong>18</strong>71), der<br />

Periode der Stürme und Revolutionen, stirbt der vormarxsche Sozialismus.<br />

Es entstehen selbständige proletarische Parteien: die I. Internationale<br />

(<strong>18</strong>64-<strong>18</strong>72) und die deutsche Sozialdemokratie.<br />

II<br />

Die zweite Periode (<strong>18</strong>72-1904) unterscheidet sich von der ersten<br />

durch ihren „friedlichen" Charakter, durch das Fehlen von Revolutionen.<br />

Der Westen hat die bürgerlichen Revolutionen abgeschlossen. Der Osten<br />

ist noch nicht reif für sie.<br />

Der Westen tritt in die Phase der „friedlichen" Vorbereitung auf die<br />

Epoche künftiger Umgestaltungen, überall entstehen sozialistische, ihrer<br />

Grundlage nach proletarische Parteien, die es lernen, den bürgerlichen<br />

Parlamentarismus auszunutzen, eine eigene Tagespresse, eigene Bildungs-


578 TV.!. <strong>Lenin</strong><br />

Institutionen, eigene Gewerkschaften, eigene Genossenschaften zu schaffen.<br />

Die Marxsche Lehre trägt den vollen Sieg davon und - wächst in die<br />

Brette. Langsam, aber beharrlich geht der Prozeß der Sammlung und Zusammenfassung<br />

der Kräfte des Proletariats, seiner Vorbereitung auf die<br />

künftigen Schlachten vor sich.<br />

Die Dialektik der Geschichte ist derart, daß der theoretische Sieg des<br />

Marxismus seine Feinde zwingt, sich als Marxisten zu verkleiden. Der<br />

innerlich verfaulte Liberalismus versucht, sich als sozialistischer Opportunismus<br />

neu zu beleben. Die Periode der Vorbereitung der Kräfte auf die<br />

großen Schlachten deuten sie im Sinne des Verzichts auf diese Schlachten.<br />

Die Verbesserung der Lage der Sklaven für den Kampf gegen die Lohnsklaverei<br />

wird von ihnen so erklärt, als verkauften die Sklaven ihre <strong>Red</strong>ite<br />

auf Freiheit für ein Butterbrot. Feige predigen sie den „sozialen Frieden"<br />

(d. h. den Frieden mit den Sklavenhaltern), den Verzicht auf den Klassenkampf<br />

usw. Unter den sozialistischen Parlamentariern, den verschiedenen<br />

Bürokraten der Arbeiterbewegung und der „sympathisierenden" Intelligenz<br />

haben sie sehr viele Anhänger.<br />

III<br />

Die Opportunisten waren noch des Lobes voll darüber, daß unter der<br />

„Demokratie" „sozialer Frieden" herrsche und Stürme nicht notwendig<br />

seien, als in Asien ein neuer Herd der heftigsten Weltstürme entstand.<br />

Auf die russische Revolution folgten die türkische, die persische, die chinesische.<br />

Wir leben heute gerade in der Epoche dieser Stürme und ihrer<br />

„Rückwirkung" auf Europa. Welches immer die Schicksale der großen<br />

chinesischen Republik sein mögen, gegen die jetzt die verschiedenen „zivilisierten"<br />

Hyänen die Zähne fletschen, keine Kraft in der Welt wird die<br />

alte Fronherrschaft in Asien wiederherstellen, wird den heldenhaften<br />

demokratischen Geist der Volksmassen in den asiatischen und halbasiatischen<br />

Ländern vom Erdboden vertilgen können.<br />

Manche Leute, die den Bedingungen der Vorbereitung und Entwicklung<br />

des Massenkampfes keine Aufmerksamkeit schenkten, wurden durch den<br />

langen Aufschub des entscheidenden Kampfes gegen den Kapitalismus in<br />

Europa zur Verzweiflung und zum Anarchismus getrieben. Wir sehen<br />

heute, wie kurzsichtig und kleinmütig die anarchistische Verzweiflung ist.


"Die historischen Schicksale der Zehre von Xarl Marx. 579<br />

Nicht Verzweiflung, sondern Zuversicht müssen wir aus der Tatsache<br />

schöpfen, daß Asien mit seinen 800 Millionen in den Kampf um dieselben<br />

Ideale einbezogen wurde, um die in Europa gekämpft wird.<br />

Die asiatischen Revolutionen haben uns die gleiche Charakterlosigkeit<br />

und Niedertracht des Liberalismus gezeigt, die gleiche außerordentliche<br />

Bedeutung der Selbständigkeit der demokratischen Massen, die gleiche<br />

deutliche Abgrenzung des Proletariats von jeglicher Bourgeoisie. Wer<br />

nach den Erfahrungen sowohl Europas als auch Asiens von einer nicht<br />

klassengebundenen Politik und einem nicht klassengebundenen Sozialismus<br />

spricht, der verdient, einfach in einen Käfig gesperrt und neben<br />

irgendeinem australischen Känguruh zur Schau gestellt zu werden.<br />

Nach Asien begann sich auch Europa zu rühren - nur nicht auf asiatische<br />

Art. Die „friedliche" Periode <strong>18</strong>72-1904 gehört unwiederbringlich<br />

der Vergangenheit an. Die Teuerung und der Druck der Trusts rufen eine<br />

unerhörte Verschärfung des ökonomischen Kampfes hervor, die sogar die<br />

durch den Liberalismus am stärksten demoralisierten englischen Arbeiter<br />

in Bewegung gebracht hat. Vor unseren Augen reift die politische Krise<br />

selbst in dem „hartgesottensten" bürgerlich-junkerlichen Land, in Deutschland,<br />

heran. Die wahnsinnigen Rüstungen und die Politik des Imperialismus<br />

schaffen im heutigen Europa einen „sozialen Frieden", der am ehesten<br />

einem Pulverfaß gleicht. Und die Zersetzung aller bürgerlichen Parteien<br />

und der Reifungsprozeß des Proletariats schreiten unaufhaltsam vorwärts.<br />

Jede der drei großen Epochen der Weltgeschichte nach dem Aufkommen<br />

des Marxismus brachte ihm neue Bestätigungen und neue Triumphe.<br />

Einen noch größeren Triumph aber wird dem Marxismus als der Lehre<br />

des Proletariats die kommende geschichtliche Epoche bringen.<br />

„Prawda" Nr. 50, Nach dem Jext der „Trawda".<br />

i.!Märzi9i3.<br />

Unterschrift: W.J.


580<br />

DER GROSSGRUNDBESITZ UND DER<br />

KLEINBÄUERLICHE LANDBESITZ<br />

IN RUSSLAND<br />

Es wird nicht überflüssig sein, aus Anlaß des kürzlichen Jahrestags des<br />

19. Februar <strong>18</strong>61 an die gegenwärtige Bodenverteilung im Europäischen<br />

Rußland zu erinnern.<br />

Die letzte offizielle Statistik der Bodenverteilung im Europäischen Rußland<br />

wurde vom Innenministerium herausgegeben und betrifft das Jahr<br />

1905.<br />

1 ••••••••••<br />

•• ••••••••••<br />

•••••••••• •••••••<br />

•••••<br />

•••••<br />

••••••• ••••• • •] •<br />

•<br />

•<br />

•<br />

• ••••••••••••••1<br />

1<br />

• •<br />

•<br />

Nach den Angaben dieser Statistik gab es (abgerundet) etwa 30 000<br />

Großgrundbesitzer mit über 500 Desjatinen Land, die zusammen etwa<br />

70 000 000 Desjatinen Land besaßen.<br />

•••••••••••••••1


Der Qroßgnmdbesitz und der kleinbäuerlidbe Landbesitz in Rußland 581<br />

Etwa 10 000 000 Höfe anner Bauern besitzen ebensoviel Land.<br />

Im Durchschnitt entfallen also auf einen Großgrundbesitzer etwa<br />

330 anner Bauernfamilien, wobei jede Bauernfamilie etwa 7 (sieben) Desjatinen<br />

Land besitzt, während jeder Großgrundbesitzer über etwa 2300<br />

(zweitausenddreibundert) Desjatinen Land verfügt.<br />

Um dies anschaulich vor Augen zu führen, wurde die oben abgedruckte<br />

Zeichnung angefertigt.<br />

Das große weiße Viereck in der Mitte ist das Gut eines Großgrundbesitzers.<br />

Die es umgebenden kleinen Quadrate sind die kleinbäuerlichen<br />

Parzellen.<br />

Im ganzen gibt es 324 Quadrate, während die Fläche des weißen Vierecks<br />

320 Quadraten gleichkommt.<br />

.Vrawda" Jir. 5i, TJad) dem Jext der .Prawda".<br />

2. TAärz i9i3.


582<br />

FALSCHE TÖNE<br />

Herrn Miljukows <strong>Red</strong>e in der Reichsduma zur Frage des allgemeinen<br />

Wahlrechts ist von außerordentlichem Interesse, weil der <strong>Red</strong>ner eine<br />

ganze Reihe Themen berühren mußte, die für die Demokratie von erstrangiger<br />

Bedeutung sind.<br />

Unsere Presse überhaupt - einschließlich der liberalen - macht sich<br />

immer mehr eine abscheulich prinzipienlose Gewohnheit zu eigen, nämlich<br />

die <strong>Red</strong>en in der Duma mit lobenden (Herr Litowzew in der „Retsch")<br />

oder schmähenden Notizen abzutun und niemals den idealogisdoen Gehalt<br />

der <strong>Red</strong>en zu untersuchen!<br />

Die Arbeiter glauben nicht an bürgerliche Politikasterei. Die Arbeiter<br />

wollen die Politik studieren. Um diesem Wunsch zu entsprechen, wollen<br />

wir den Versuch machen, Herrn Miljukows <strong>Red</strong>e zu analysieren.<br />

„Sie", sagt Herr Miljukow, ständig den Oktobristen zugewandt, „Sie sind<br />

mit der Staatsmacht nicht nur durch keine bestimmten Verpflichtungen verbunden,<br />

Sie sind mit der Staatsmacht nicht einmal durch Dankbarkeit verbunden"<br />

-<br />

denn die Wahlen wurden ja zu Ihrem Schaden gefälscht.<br />

Herr Miljukow, der einer der gebildetsten Kadetten, Professor, <strong>Red</strong>akteur<br />

usw. ist, entwickelte ganz ernsthaft dieses Argument und fügte sogar<br />

hinzu:<br />

„...offenbar fehlt in Rußland jene.gesellschafdiche Schicht, die die jetzige<br />

Regierangspolitik unterstützen würde..." („Rossija" Nr. 2236.)<br />

Die Unaufrichtigkeit dieser Betrachtungen ist empörend. Derselbe Herr<br />

Miljukow zitierte weiter den Franzosen Chasles, der richtig sagt, die „zentrale<br />

Aufgabe" „ist die Agrarfrage".


7ahdbe Töne 583<br />

„Um eine konservative III. Duma zu erhalten", sagt Chasles, „mußte die<br />

Mehrheit von den Bauern auf die Gutsbesitzer übertragen werden ... Der<br />

Grundbesitz und die Aristokratie des Reichtums können einen Block von '/a der<br />

Stimmen bilden (bei der Wahl der Mitglieder der Reichsduma, nach unserem<br />

Wahlgesetz), während die Minderheit buchstäblich erdrückt wird: die Bauern,<br />

die Mittelklasse und die städtische Demokratie werden vom Gesetzgeber aufgefordert,<br />

keine Wahlen zu machen, sondern bei den Wahlen zuzuschauen,<br />

sich an ihnen nicht zu beteiligen, sondern anwesend zu sein."<br />

Klug und richtig sind die Oberlegungen des Reaktionärs Chasles. Wir<br />

danken Herrn Miljukow für die interessanten Zitate,... die Herrn Miljukows<br />

Phrasen zersdbUgen! Es ist offensichtlich, daß in Rußland eine<br />

gesellschaftliche „Schicht" existiert (die Klasse der Gutsbesitzer - der<br />

Feudal- oder Fronherren), die die Politik der Regierung unterstützt und<br />

„mit der Staatsmacht" durch die <strong>Band</strong>e der Klasseninteressen verbunden<br />

ist. Die Verbundenheit durch „Verpflichtungen" und „Dankbarkeit" aber<br />

ist überhaupt Unsinn, merken Sie sich das, gelehrter Herr Kadett!<br />

Im folgenden Artikel* werden wir zeigen, wie dieser gelehrte Kadett -<br />

wie die Katze um den heißen Brei - um die „zentrale Aufgabe" (d. h. die<br />

Agrarfrage), auf die der Reaktionär Chasles richtig hingewiesen hat, herumgegangen<br />

ist.<br />

„Prawda" 2Vr. 55, Nadh dem 7ert der „Vrawda".<br />

7.Märzi9i3.<br />

Unterschrift: TV. 1.<br />

* Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 584/585. Die <strong>Red</strong>.


584<br />

DIE „ZENTRALE AUFGABE'<br />

Wir haben gesehen, daß der von Herrn Miljukow zitierte französische<br />

Reaktionär Chasles richtig die Agrarfrage für die „zentrale Aufgabe"<br />

hält, vor der Rußland steht.*<br />

Herr Miljukow zitierte die klugen Worte eines klugen Reaktionärs, hat<br />

aber rein gar nichts von ihnen begriffen!<br />

„Den Bauern, den Sie" (d.h. die Oktobristen und die Regierung: Herr<br />

Miljukow unterhält sich mit ihnenf) „mit Ihren Händen hierhergefuhrt haben,<br />

kann man ihn abhängig machen? Spricht er doch aber den Grund und Boden<br />

von diesem Pult herab, und sagt er doch dasselbe, was der unabhängige Bauer<br />

der I. und der II. Reichsduma gesagt hat. Nein, meine Herren, es gibt kein<br />

Element im rassischen Leben, das unabhängiger und standhafter wäre als der<br />

rassische Bauer." (Beifall von links und Stimmen: Richtig.)<br />

Offensichtlich klatschten allein die heuchlerischen Kadetten, denn alle<br />

wissen, daß erstens in der III. und IV. Reichsduma die Bauern ntcfot ganz<br />

„dasselbe", sondern etwas Gemäßigteres als in der I. und II. Reichsduma<br />

sagen und daß es zweitens im russischen Leben ein unabhängigeres und<br />

standhafteres Element gibt. Herr Miljukow selber mußte in seiner <strong>Red</strong>e<br />

zugeben, daß für die politische Freiheit in Rußland „das meiste" die Arbeiter<br />

getan haben. Oder kann man die „Unabhängigkeit" mit einem anderen<br />

Maßstab messen?<br />

Aber nicht das ist das Wesentliche. Wesentlich ist, ob jetzt die Interessen<br />

der 130 000 Gutsbesitzer und der Masse der Bauern miteinander zu<br />

vereinbaren sind. Herr Miljukow schwatzte um diese Frage herum, um<br />

sidb vor der Antwort zu drücken.<br />

• Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 582/583. Die "<strong>Red</strong>.


"Die „zentrale Aufgabe" 585<br />

Aber Herr S. Litowzew, den die „Retsdi" znr Beweihräudierung P. Miljukows<br />

gedangen hat, schrieb: Seine <strong>Red</strong>e<br />

„zerriß den Nebel tun diese aktuelle und strittige Frage. Das allgemeine<br />

Wahlrecht ist bis heute für viele eine Art Schreckgespenst, der Gipfel revolutionärer<br />

Einstellung."<br />

Da haben wir schon wieder ein Musterbeispiel der Phrasendrescherei!<br />

Lernt von dem Reaktionär Chasles, ihr Herren liberalen Schwätzer! Die<br />

zentrale Aufgabe ist die Agrarfrage. Sind in dieser Frage jetzt die Interessen<br />

der 130000 Gutsbesitzerfamilien mit denen der 10000000 Bauernfamilien<br />

zu vereinbaren? Ja oder nein?<br />

Hier ist der „zentrale" Punkt in der Frage des allgemeinen Wahlrechts,<br />

Herr Miljukow, und Sie zersetzen das politische Bewußtsein des Volkes,<br />

wenn Sie diesen für jeden verständigen Menschen augenfälligen Kern der<br />

Sache mit Phrasen verunreinigen.<br />

Beantworten Sie die Frage mit "Ja, so werde ich Sie mit Ihrer eigenen<br />

Feststellung widerlegen, daß in der III. und IV. Reichsduma die Bauern<br />

„dasselbe" (wenn auch gemäßigter) sagen wie in der I. und II. Reichsduma.<br />

Beantworten Sie die Frage mit Nein, so wird Ihr ganzes Geschwätz vom<br />

versöhnenden, nicht „einseitigen" Charakter des allgemeinen Wahlrechts<br />

im heutigen Rußland hinfällig.<br />

Und die gelehrten Verweise auf Bismardk sind pure Kinderei, denn Bismarck<br />

„gewährte" das allgemeine Wahlrecht dann, als infolge der bürgerlichen<br />

Entwicklung Deutschlands die Interessen der Gutsbesitzer und aller<br />

wohlhabenden, teilweise sogar der mittleren Bauern bereits miteinander<br />

übereinstimmten.<br />

Vielleicht wird der scharfsinnige Leser fragen: Folgt nicht hieraus, daß<br />

in Rußland das allgemeine Wahlrecht unmöglich ist? Nein, werden wir<br />

dem scharfsinnigen Leser antworten, hieraus folgt nur, daß in Rußland ein<br />

reformerischer Standpunkt unmöglich ist.<br />

„"Prawda" Tür. 56, Nadb dem 7ext der „Prawda".<br />

8. März 1913.<br />

Untersdirift: IV. 1.<br />

38 <strong>Lenin</strong>, Werte, Bd. <strong>18</strong>


586<br />

DIE LIBERALE BESCHÖNIGUNG<br />

DER LEIBEIGENSCHAFT<br />

Der liberale Historiker Herr Miljukow, Führer der Kadettenpartei,<br />

schrieb kürzlich in einem Leitartikel der „Retsch":<br />

„Die soziale Ungleichheit in Rußland (die Leibeigenschaft) erwies sich als<br />

bruchiger und zufälliger entstanden als sonstwo in der zivilisierten Welt. Sie<br />

wich ohne Widerstand (!!!) dem ersten Federstrich. Miljutin und Solowjow<br />

realisierten ohne Mühe das, was schon unter Alexander I. Graf Stroganow als<br />

möglich vorausgesagt hatte."<br />

Wir haben uns daran gewöhnt, daß alle liberalen und einige volkstümlerische<br />

Historiker die Leibeigenschaft und die feudale Staatsmacht in<br />

Rußland beschönigen. Aber zu so schändlichen „Perlen" wie der von uns<br />

zitierten haben es nicht alle gebracht.<br />

Nicht brüchig und nicht zufällig entstanden waren die Leibeigenschaft<br />

und der feudale Gutsbesitzerstand in Rußland, sondern weitaus „kräftiger",<br />

fester, machtvoller, allmächtiger „als sonstwo in der zivilisierten<br />

Welt". Nicht „ohne Widerstand", sondern mit größtem Widerstand traten<br />

diese Leute einen kleinen Teil ihrer Privilegien ab. Oder will uns vielleicht<br />

der Herr Liberale in der „zivilisierten Welt" Beispiele nachweisen<br />

wie das Schicksal Tschernyschewskis?<br />

Miljutin und Solowjow selber verteidigten die Privilegien der Fronherren<br />

und die unerhört drückende „Ablösung" für diese Privilegien. Indem<br />

er hierüber schweigt, entstellt Herr Miljukow die Geschichte, die von<br />

einer fünfzigjährigen „Zählebigkeit" der fronherrlichen Privilegien, der<br />

Allgewalt und Allmacht nach Miljutin und Co., nach „ihrer" Leibeigenschaftsreform<br />

zeugt.<br />

Weshalb beschönigen die liberalen Historiker die Leibeigenschaft und


Die liberale Beschönigung der Leibeigettsäiaft 587<br />

die Leibeigenschaftsreformen? Weil sie bei den Verfechtern solcher Reformen<br />

die ihnen angenehme Servilität vor den Fronherren, die für sie<br />

erfreuliche Furcht vor der Demokratie, das ihnen vertraute Streben nach<br />

einem Block mit der Reaktion, das ihnen bekannte Beschönigen des Klassenkampfes<br />

wahrnehmen.<br />

Es geht um ferne Vergangenheit. Und doch ist die damalige nnd die<br />

jetzige Einstellung der Liberalen („im Äußern, im Herzen doch Beamte"<br />

134 ) zum Klassenkampf eine Erscheinung gleicher Ordnung.<br />

Mit seiner Beschönigung der Leibeigenschaft hat Herr Miljukow ausgezeichnet<br />

sich selbst, seine Partei und den ganzen russischen bürgerlichen<br />

Liberalismus charakterisiert, der sich zur Demokratie zählt, um die Einfältigen<br />

zu nasführen.<br />

.Trawda" Wr. 57, 7Had> dem Jext der „Trawda".<br />

9. März i9i3.<br />

Unterschrift: 1.


588<br />

EIN „WISSENSCHAFTLICHES" SYSTEM<br />

ZUR SCHWEISSAUSPRESSUNG<br />

Der amerikanische Kapitalismus ist allen voraus. Höchstentwickelte<br />

Technik, raschester Fortschritt - alles das zwingt das alte Europa, den<br />

Yankees nachzueifern. Aber nicht die demokratischen Einrichtungen übernimmt<br />

die europäische Bourgeoisie aus Amerika, nicht die politische Freiheit,<br />

nicht die republikanische Staatsform, sondern die neuesten Methoden<br />

zur Ausbeutung des Arbeiters.<br />

Am meisten spricht man jetzt in Europa und zum Teil auch in Rußland<br />

von dem „System" des amerikanischen Ingenieurs Frederick Taylor. Erst<br />

vor kurzem hielt in der Aula des Instituts für Ingenieure des Verkehrswesens<br />

in Petersburg Herr Semjonow einen Vortrag über dieses System.<br />

Taylor selber bezeichnete es als „wissenschaftliches" System, und sein<br />

Buch wird in Europa eifrig übersetzt und propagiert.<br />

Worin besteht dieses „wissenschaftliche System" ? Darin, aus dem Arbeiter<br />

die dreifache Arbeit in derselben Arbeitszeit herauszupressen. Man<br />

läßt den stärksten und geschicktesten Arbeiter arbeiten; mit einer besonderen<br />

Uhr mißt man - nach Sekunden und Bruchteilen von Sekunden -<br />

die Menge der Zeit, die für jeden Arbeitsgang, für jede Bewegung gebraucht<br />

wird; man ermittelt die sparsamsten und produktivsten Arbeitsmethoden;<br />

die Arbeit des besten Arbeiters wird auf einem Filmstreifen<br />

festgehalten usw.<br />

Im Ergebnis wird während der gleichen 9-10 Arbeitsstunden aus dem<br />

Arbeiter die dreifache Arbeit herausgepreßt, werden alle seine Kräfte erbarmungslos<br />

aufgebraucht, wird dem Lohnsklaven mit verdreifachter Geschwindigkeit<br />

jedes bißchen Nerven- und Muskelenergie ausgesogen. Er<br />

wird früher sterben? - Viele andere warten an den Toren! —


Ein „wissensdiaßidbes" System zur SdbweißauspressutuJ 589<br />

Fortschritt von Technik und Wissenschaft bedeutet in der kapitalistischen<br />

Gesellschaft Fortschritt in der Kunst der Sdiweißauspressung.<br />

Hier ein Beispiel aus Taylors Buch.<br />

Verglichen wird die Arbeit des Verladens von Gußeisen, das zur weiteren<br />

Bearbeitung geht, auf einen Karren, verglichen wird das alte und das<br />

neue, das „wissenschaftliche" System:<br />

Altes Neues<br />

System<br />

Zahl der mit Verladearbeiten<br />

beschäftigten Arbeiter<br />

Ein Arbeiter verlädt im Durchschnitt<br />

500 140<br />

Tonnen (je 61 Pud)<br />

Durchschnittsverdienst<br />

16 59<br />

eines Arbeiters<br />

Unkosten des Fabrikanten für das<br />

2,30 Rbl. 3,75 Rbl.<br />

Verladen einer Tonne 14,4 Kop. 6,4 Kop.<br />

Das Kapital senkt seine Unkosten um die Hälfte und mehr. Der Profit<br />

steigt. Die Bourgeoisie ist begeistert und kann die Taylor nicht genug<br />

loben!<br />

Der Arbeiter erhält zunächst einen Zuschlag. Aber Hunderte von Arbeitern<br />

sind entlassen. Wer geblieben ist, arbeitet viermal so intensiv, reibt<br />

sich bei der Arbeit auf. Alle Kräfte des Arbeiters werden ausgepreßt, und<br />

dann wird er davongejagt. Man nimmt nur die Jungen und Starken.<br />

Eine Schweißauspressung nach allen Regem der Wissenschaft...<br />

„Prawda" SVr. 60, Nadh dem Jext der „Vrawda".<br />

i3.!März i9i3.<br />

Untersdirifi: "W.


590<br />

UNSERE„ERFOLGE"<br />

Der Finanzminister in seinen Erläuterungen zum Staatshaushalt wie<br />

auch alle Regierungsparteien versichern sich und den anderen, daß unser<br />

Haushalt stabil sei. Man beruft sich hierbei unter anderem auf die „Erfolge"<br />

der Industrie, in der es in den letzten Jahren zweifellos einen Aufschwung<br />

gegeben hat.<br />

Unsere Industrie wie überhaupt die gesamte Volkswirtschaft Rußlands<br />

entwickelte und entwickelt sich kapitalistisch. Das ist unbestreitbar. Das<br />

braucht man nicht erst zu beweisen. Aber sich auf Angaben über die „Entwicklung"<br />

und auf selbstzufrieden-prahlerische Hinweise wie: „erhöht<br />

sich um soundsoviel Prozent" zu beschränken, heißt die Augen zu versdbtießen<br />

vor der unglaubUdien Rückständigkeit und Armut Rußlands, die<br />

diese Angaben erkennen lassen.<br />

Der Wert der Erzeugnisse unserer gesamten Fabrik- und Werkindustrie<br />

belief sich im Jahre 1908 auf 4307 Mill. Rbl. und im Jahre 1911 auf ca.<br />

4895 Mill. Rbl., berichtet begeistert der Finanzminister.<br />

Man betrachte aber, welche "Bedeutung diese Zahlen haben. In Amerika<br />

wird alle zehn Jahre eine Zählung durchgeführt. Um eine Zahl zu finden,<br />

die der unseren nahekommt, muß man bis ins Jahr <strong>18</strong>60 zurückgehen, als<br />

in Amerika noch die Negersklere» herrschte.<br />

Im Jahre <strong>18</strong>60 betrag in Amerika der Wert der Erzeugnisse der verarbeitenden<br />

Industrie 3771 Mill. Rbl. und im Jahre <strong>18</strong>70 bereits 8464 Mill.<br />

Rbl. Im Jahre 1910 haben wir dort bereits eine Summe von 41 344 Mill.<br />

Rbl., d. h. fast das Neunfadbe der Summe Rußlands. Die Bevölkerung Rußlands<br />

beträgt 160 Mill., die Amerikas 92 Mill. im Jahre 1910 und 31 Mill.<br />

im Jahre <strong>18</strong>60!


"Unsere „Erfolge" 591<br />

Der jährliche Durchschnittsverdienst eines russischen Fabrikarbeiters<br />

betrug im Jahre 1911 - 251 Rbl., 8,2% mehr (nach der Summe aller Arbeitslöhne)<br />

als im Jahre 1910, berichtet begeistert der Finanzminister.<br />

In Amerika betrug im Jahre 1910 der durchschnittliche Verdienst eines<br />

Industriearbeiters - 1036 "Rubel, d. h. mehr als das Vierfache des russischen.<br />

Im Jahre <strong>18</strong>60 machte dieser Verdienst 576 Rubel aus, d.h. das<br />

Doppelte des jetzigen russischen.<br />

Das Rußland des 20. Jahrhunderts, das Rußland der „Konstitution"<br />

vom 3. Juni steht auf einem niedrigeren Niveau als das Amerika der<br />

Sklaverei.<br />

Die Jahresproduktivität eines Fabrikarbeiters in Rußland betrug im<br />

Jahre 1908 - <strong>18</strong>10 Rbl., in Amerika im Jahre <strong>18</strong>60 - 2860 Rbl., im Jahre<br />

1910-6264 Rubel.<br />

Schon diese wenigen Zahlen genügen, um kurz zu erläutern, was der<br />

moderne Kapitalismus ist und was das ihn erdrückende mittelalterliche<br />

Joch der Leibeigenschaft, das die elende Lage der breiten Massen der<br />

Bauernschaft bedingt.<br />

Und aus der Lage der Bauern folgt unausbleiblich ein kläglicher Umfang<br />

des inneren Marktes, sie drückt den Arbeiter nieder, der im Jahre<br />

1911 nur halb soviel verdient wie der amerikanische Arbeiter zur Zeit der<br />

Sklaverei. Außer allem übrigen aber stellt der Weltmarkt Rußland vor<br />

die Wahl: entweder erdrückt zu werden von den Konkurrenten, bei denen<br />

der Kapitalismus mit anderem Tempo und auf wirklich breiter Basis vorwärtsmarschiert,<br />

oder sich von allen Überresten der Leibeigenschaft zu<br />

befreien.<br />

.Trawda" Nr. 61, Tiadb dem 7ext der „Vrawda".<br />

a. "März i9l3.<br />

'Unterschrift: W.


592<br />

VERSTÄNDIGUNG ODER SPALTUNG?<br />

(Zu den Meinungsverschiedenheiten in der<br />

sozialdemokratischen Dumafraktion)<br />

Die öffentliche Meinung der Sozialdemokratie ist beunruhigt durch die<br />

aus dem Brief der sieben Abgeordneten sprechende Gefahr einer Spaltung<br />

der Fraktion. Mit Recht fand diese Frage bei den Arbeitern größtes Interesse.<br />

Es gilt, sich ein klares Bild über die Lage zu verschaffen.<br />

Auf der einen Seite stehen alle sechs ans der Arbeiterkurie hervorgegangenen<br />

Abgeordneten, d. h., wie jeder versteht, die Vertreter der riesigen<br />

Mehrheit der Arbeiterklasse Rußlands. Auf der anderen - die sieben<br />

übrigen Abgeordneten, die in der Fraktion eine zufällige Mehrheit von<br />

einer Stimme haben.<br />

Seinem Äußeren nach geht der Streit darum, daß die 7 Abgeordneten<br />

die übrigen 6 zwingen wollen, Mitarbeiter der Zeitung „Lutsch" zu werden,<br />

und für die Verschmelzung der „Prawda" mit dem „Lutsch" eintreten.<br />

Diese Forderungen der sieben Abgeordneten erscheinen uns -<br />

sagen wir es offen - einfach unernst. Kann man denn jemanden durch<br />

„Stimmenmehrheit" zwingen, an einer Zeitung mitzuarbeiten, deren Auffassungen<br />

er nicht teilt? (Ganz zu schweigen davon, daß jede <strong>Red</strong>aktion,<br />

die etwas auf sich hält, von selbst auf solche mit Gewalt herbeigeschafften,<br />

unfreiwilligen „Mitarbeiter" verzichten würde.) Kann man im Ernst von<br />

einer Verschmelzung der „Prawda" mit dem „Lutsch" reden?<br />

Natürlich nidhtl Und wir erklären geradeheraus, daß wir einen Verzicht<br />

der „Prawda" auf den Kampf gegen das Liquidatorentum und also auch<br />

einen Zusammenschluß der „Prawda" mit dem „Lutsch" für Verrat an<br />

der Sache des. Proletariats ansehen würden, solange der „Lutsch" nicht<br />

seinerseits auf die Uqwdatorisdoe "Propaganda gegen die „Illegalität",<br />

gegen die politischen Streiks usw. verzichtet. Ernsthafte sozialdemokratische<br />

Funktionäre werden wohl kaum glauben, daß die „Prawda" und die


Verständigung oder Spaltung? 593<br />

6 Arbeiterdeputierten sich zum Selbstmord entschließen würden, nur weil<br />

das der „Lutsch" möchte. Davon kann gar keine <strong>Red</strong>e sein, und die 7 Abgeordneten<br />

werden gut daran tun, auf ihren völlig unannehmbaren und<br />

undurchführbaren „Plan" nicht mehr zurückzukommen.<br />

Damit ist jedoch die Frage der Meinungsverschiedenheiten in der Fraktion<br />

nicht erschöpft. Jeder fühlt, daß sich hinter dem Äußeren des Streits<br />

über die unfreiwillige Mitarbeit im „Lutsch" noch ein anderer, ernsterer<br />

und wichtigerer Streit verbirgt. Er läuft darauf hinaus, wie beide Teile<br />

der Traktion zum £icjuidatorentum stehen.<br />

Und man sollte meinen: Hier haben die Arbeiter vor allem das Recht,<br />

von den sieben Abgeordneten zu fordern, daß sie geradeheraus, klipp<br />

und klar sagen, wie sie zum Liquidatorentum stehen. Die sieben Abgeordneten<br />

sind verpflichtet, das ebenso offen zu tun, wie es die sechs Arbeiterdeputierten<br />

getan haben. In der Fraktion der III. Reichsduma waren die<br />

überwiegende Mehrheit der Abgeordneten Menschewiki. Doch verhielten<br />

sie sich zum Liquidatorentum schroff ablehnend. Wie stellen sich jetzt die<br />

7 Abgeordneten dazu? Sie selber haben die Frage des „Lutsch", d. h. des<br />

Liquidatorentums, aufgeworfen. Sie sind deshalb doppelt verpflichtet,<br />

offen und klar zu sagen, wie sie zur Propaganda des „Lutsch" gegen die<br />

Illegalität (siehe „Lutsch" Nr. 101 u. a.), gegen die politischen Streiks,<br />

gegen die Hegemonie der Arbeiterklasse in der Befreiungsbewegung usw.<br />

stehen. Ohne das kann man keinen Schritt tun, um aus der entstandenen<br />

Lage herauszukommen.<br />

Wir sagen es offen: Gäbe es in der sozialdemokratischen Fraktion auch<br />

nur einen Abgeordneten, der von der Dumatribüne herab <strong>Red</strong>en hielte in<br />

der Art des Artikels in Nr. 101 des „Lutsch" (die zunehmenden Sym- •<br />

pathien für die „Illegalität" seien eine „betrübliche" Tatsache usw.) -<br />

mit einem solchen Abgeordneten wäre der Bruch unvermeidlich. Und ein<br />

sozialdemokratischer Abgeordneter, der nicht aufstünde und sagte, daß<br />

dieser <strong>Red</strong>ner nicht die Meinung der Sozialdemokratie zum Ausdruck<br />

bringt, würde seine Pflicht vor der Arbeiterklasse verletzen.<br />

Haben wir mit dieser unserer Meinung recht oder nicht? Wir überlassen<br />

diese Frage ruhig dem Urteil der Arbeiter ...<br />

Bei vorhandenen ernsten Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden<br />

Hälften der Fraktion kann die Einheit nur dann erhalten bleiben,<br />

wenn beide Seiten in gleicher Weise eine Verständigung anstreben. Die


594 IV. 7. Centn<br />

„Entscheidung" von Programmfragen durch eine zufällige Mehrheit von<br />

einer Stimme ist die Tierausforderung einer Spaltung. Das begreift jeder.<br />

Wer ernsthaft die Einheit will, wird niemals den Weg einer solchen „Entscheidung"<br />

der Fragen einschlagen.<br />

Ist eine solche Verständigung in der Fraktion, bei ihrer jetzigen Zusammensetzung,<br />

möglich? Bisher war sie möglich. Ein Beispiel: die Deklaration<br />

der Fraktion, die bei Beginn der Arbeiten der IV. Duma verlesen<br />

wurde. Die liquidatorischen Ansprüche hat die Fraktion zurückgewiesen,und<br />

das ermöglichte eine Verständigung beider Teile. Ist der gute Wille<br />

vorhanden, bereiten die sieben Abgeordneten keine Spaltung vor, so wird<br />

das auch künftig in allen wichtigen politischen Fragen möglich sein.<br />

Das Beispiel der Deklaration veranschaulicht, was man tun muß, um<br />

eine Spaltung zu verhindern. Das Beispiel der „national-kulturellen Autonomie"<br />

wiederum veranschaulicht, was man nidbt tun darf, wenn man die<br />

Spaltung verhindern will. Diese Forderung aufzustellen, wie es Gen.<br />

Tsdichenkeli getan hat, bedeutet die Annullierung des Programms der<br />

Sozialdemokratie. Beteuerten die Liquidatoren bisher, diese Forderung<br />

„widerspreche nicht" dem Programm, so sind sie jetzt sogar durch die<br />

Bundisten selber entlarvt, die (siehe Nr. 9 der „Zait") Tsdichenkeli gerade<br />

dazu beglückwünschen, daß er „den verknöcherten Standpunkt verlassen<br />

hat, auf dem die offizielle Theorie in der nationalen Frage steht". Ein<br />

Programm mit sieben gegen sechs Stimmen annullieren beißt die Spaltung<br />

vorbereiten. Das begreift jeder klassenbewußte Arbeiter.<br />

Also - Verständigung oder Spaltung 1 So ist die Frage gestellt.<br />

Was schlagen wir vor? - Verständigung l<br />

• Ist diese Verständigung möglich? — Ja!<br />

Ist diese Verständigung wünschenswert? — Ja!<br />

Was ist erforderlich für das Zustandekommen dieser Verständigung? -<br />

Daß man das» Programm nicht annulliert, die „Illegalität" nicht verunglimpft,<br />

daß man dem alten Banner treu bleibt! Wie der Leser sieht, sind<br />

unsere Forderungen bescheiden.<br />

Für die Verständigung der Sieben und der Sechs, gegen die Spaltung!<br />

Das müssen alle klassenbewußten Arbeiter fordern.<br />

„Trawda" 7ir. 62, Tiaäo dem Jext der .Vrawda'.<br />

15.7Aärz 1913.<br />

Unterschrift :B.B.


DER „FREI VERFÜGBARE BESTAND"« 5<br />

595<br />

Die Regierungszeitungen, an ihrer Spitze das lobhudelnde „Nowoje<br />

Wremja", preisen unsere Regierung wegen der großartigen Ergebnisse der<br />

staatlichen Haushaltsführung. Man bedenke nur: „frei verfügbare"<br />

450 Millionen Rubel! Nicht Defizite, sondern überschösse - bitte schön,<br />

so wirtschaften „wir".<br />

Und das „Nowoje Wremja", die Zeitung der erzreaktionären Gutsbesitzer<br />

und oktobristischen Kaufleute, kommt zu dem Schluß, daß mit<br />

solch einer hübschen Reserve von 450 Mill. Rbl. nicht einmal Krieg zu<br />

führen schlimm sei.<br />

Betrachten wir jedoch die Erläuterungen des Finanzministers zum<br />

Staatshaushalt des Jahres 1913; - kann man darin nicht, außer Eigenlob<br />

(davon enthalten die Erläuterungen mehr als genug!), exakte Angäben über<br />

den Ursprung des vielgerühmten „frei verfügbaren Bestandes" finden?<br />

Wir schlagen die Erläuterungen des Herrn Ministers auf und lesen darin<br />

(S. 15, Teil I), daß in den fünf Jahren von 1908 bis 1912 der Staatskasse<br />

durdh Anleihen 33972 Millionen Rubel zugeflossen sind. Eingelöst wurden<br />

in derselben Zeit Anleihen im Betrage von 252,1 Mill. Rbl.<br />

Die Anleihen haben sidb also im ganzen genommen um 87,4 Mit. Rbl.<br />

erhöbt. Da haben wir die erste „Quelle" des „frei verfügbaren Bestandes".<br />

Wie man sieht, eine einfache Quelle.<br />

Aber gehen wir weiter. Bekanntlich ist ab i. Oktober 190S der Preis des<br />

Monopolbranntweins außerordentlich erhöht worden, nämlich von 8 Rbl.<br />

auf 8 Rbl. 40 Kop. das Wedro* (gewöhnlicher Branntwein, das Wedro<br />

Tischbranntwein von 11 Rbl. auf 12 Rbl.).<br />

Nach dieser „Finanzmaßnahme" lag der Durchschnittspreis des Monopolbranntweins<br />

in den fünf Jahren von 1908 bis 1912 bei 8 Rbl. 48 Kop.<br />

das Wedro, d. h., er war genau um 42 Kopeken höher als in den vorangegangenen<br />

vier Jahren (1904-1907 - 8 Rbl. 06 Kop. das Wedro).<br />

• 1 Wedro = 12,3 Liter. Der Tibers.


596 W. 3. <strong>Lenin</strong><br />

Insgesamt verkaufte der Staat in den letzten fünf Jahren (1908 bis<br />

1912) 44072 Millionen Wedro vierzigprozentigen Fusel. Die Erhöhung<br />

des Profits um 42 Kopeken je Wedro ergab <strong>18</strong>5 Millionen Rubel<br />

Da haben wir die zweite Quelle des „frei verfügbaren Bestandes"!<br />

Die dritte Quelle, die staatlichen Eisenbahnen, bradite an „Reingewinn"<br />

in vier Jahren (1908-1911) 53 Millionen Rubel, zählt man nicht mit die<br />

Zinszahlungen und Tilgungsraten für die vom Staat aufgewendeten Kapitalien,<br />

die sich auf 2V4 Milliarden Rubel belaufen!! Nehmen wir für das<br />

Jahr 1912 einen ebenso hohen „Gewinn" an wie im Jahre 1911, d.h.<br />

105 Mill. Rbl., so erhalten wir für das ganze Jahrfünft einen „Gewinn"<br />

von 158 Mill. Rbl. Begreiflicherweise gleicht eine staatliche „Haushaltsführung",<br />

die bei den Milliardenausgaben die Zinsen und Tilgungsraten<br />

„nicht mitzählt", eher einer staatlichen Tasdienspielerei. Wir bemerken<br />

dazu, daß nicht irgendein „linker Journalist" (Gott behüte!), sondern die<br />

Staatskontrotte selbst die Zinsen und Tilgungsraten für die vom Staat im<br />

Eisenbahnbau verwendeten Kapitalien mit 397,6 Millionen Rubel für vier<br />

Jahre (1908-1911) angegeben hat. Für das ganze Jahrfünft, 1908-1912,<br />

sind das 500 Millionen Rubel! Ein hübsches Beispiel für Raubwirtsdhaft.<br />

Fassen wir die Ergebnisse der drei Quellen des „frei verfügbaren Bestandes"<br />

zusammen:<br />

1. aus den Anleihen 87,4 Mill. Rbl.<br />

2. ans der Erhöhung des Preises des staatlichen Fusels <strong>18</strong>5 „ „<br />

3. aus den staatlichen Eisenbahnen<br />

(nidbt mitgezählt 500 Mill. Rbl. Zinsen und Jilgungsraten<br />

für auf gewendete Kapitalien) 158 „ „<br />

Insgesamt 430,4 Mill. Rbl.<br />

Das genügt wohl. Die kleineren „Quellen" anzuführen ist nicht nötig.<br />

Ist es nicht klar, daß unsere feudalen Gutsbesitzer die größten Finanzgenies<br />

sind? Gelder zu leihen, den Preis des Fusels zu erhöhen, die Zinsen<br />

und Tilgungsraten für die (für die „Wirtschaft") aufgewendeten Milliarden<br />

„nicht mitzuzählen" - ist das nicht genial?<br />

Ist das kein Beweis für die „Stabilität" unseres Budgets?<br />

„Prawda" 3Vr. 62, jsjadj dem 7ext der JPrawda".<br />

15. März I9i3.<br />

Untersdbrift: TV.


ANMERKUNGEN


599<br />

1 „Jlusskoje Bocjatstwo" (Russischer Reichtum) - Monatsschrift, die von <strong>18</strong>76<br />

bis 19<strong>18</strong> in Petersburg erschien. Anfang der neunziger Jahre wurde die<br />

Zeitschrift zu einem Organ der liberalen Volkstümler. Von 1906 an war<br />

das „Russkoje Bogatstwo" faktisch Organ der halbkadettischen „Volkssozialistischen<br />

Arbeitspartei". 1<br />

2 „Sowremennik" (Der Zeitgenosse) - Monatsschrift für Literatur und Politik;<br />

erschien von 1911 bis 1915 in Petersburg. Um die Zeitschrift gruppierten<br />

sich menschewistische Liquidatoren, Sozialrevolutionäre, Volkssozialisten<br />

und linke Liberale. Die Zeitschrift hatte keinerlei Verbindung mit den<br />

Arbeitermassen. <strong>Lenin</strong> nannte 1914 die in ihr vertretenen Auffassungen ein<br />

„Gemisch von Volkstümlerideologie und Marxismus" (<strong>Werke</strong>, Bd. 20,<br />

S. 295). l<br />

3 ,Saprossy Sbisni" (Anforderungen des Lebens) - Wochenschrift, die von<br />

1909 bis 1912 in Petersburg erschien. An der Zeitschrift arbeiteten Kadetten,<br />

Volkssozialisten und menschewistische Liquidatoren mit. <strong>Lenin</strong> nannte<br />

diese Zeitschrift „liquidatorisch-trudowikisch-wechistisch" (<strong>Werke</strong>, Bd. 35,<br />

S. 33). 2<br />

4 Gemeint ist der Artikel 129 des Strafgesetzbuches des Russischen Reichs,<br />

der für öffentliches Auftreten gegen die zaristische Regierung und die Verbreitung<br />

dementsprechender Schriften harte Strafen bis zur Verschickung<br />

zu Zwangsarbeit vorsah. 3<br />

5 R-kotv - N. A. Roshkow, Historiker, Sozialdemokrat, den menschewistischen<br />

Liquidatoren nahestehend: 4<br />

6 „Shiwoje De/o" (Lebendige Tat) - legale Wochenzeitung der menschewistischen<br />

Liquidatoren, die vom 20. Januar (2. Februar) bis 28. April (11. Mai)<br />

1912 in Petersburg herausgegeben wurde. Es kamen 16 Nummern heraus.<br />

4


600 Anmerkungen<br />

7 <strong>Lenin</strong> meint die „Jnitiatwgruppen sozialdemokratischer 7unktionäre der<br />

iegalen Arbeiterbewegung", die die menschewistischen Liquidatoren seit<br />

Ende 1910 als Gegengewicht zu den illegalen Parteiorganisationen bildeten.<br />

Die Liquidatoren, die sich vom revolutionären Programm und der revolutionären<br />

Taktik lossagten, wollten die illegale revolutionäre Partei des<br />

Proletariats liquidieren. Sie betrachteten die „Initiativgruppen" als Zellen<br />

einer neuen umfassenden legalen Partei, die sich dem Stolypinschen Regime<br />

anpassen sollte. Es gelang den Liquidatoren, in Petersburg, Moskau, Jekaterinoslaw<br />

und Konstantinowka (Donezbecken) „Initiativgruppen" zu<br />

bilden. Es waren das kleine Intellektuellengruppen ohne Verbindung mit der<br />

Arbeiterklasse. Sie wandten sich gegen den Streikkampf und gegen revolutionäre<br />

Arbeiterdemonstrationen und kämpften bei den Wahlen zur<br />

IV. Duma gegen die Bolschewiki. Die Zentren der „Initiativgruppen" waren:<br />

der im Ausland herausgegebene „Golos Sozial-Demokrata" und die legalen<br />

Organe der Liquidatoren in Rußland: „Nascha Sarja" und „Delo Shisni". 4<br />

8 JNasdoa Sarja" (Unsere Morgenröte) - legale Monatsschrift der menschewistischen<br />

Liquidatoren; erschien von 1910 bis 1914 in Petersburg. Um die<br />

„Nascha Sarja" gruppierte sich der Kern der Liquidatoren in Rußland. 4<br />

9 "Bulgarin, 7. W. - reaktionärer Journalist und Schriftsteller in der ersten<br />

Hälfte des 19. Jahrhunderts; bekannt durch seine Denunziationen und Verleumdungen<br />

fortschrittlicher Zeitschriften und führender Schriftsteller<br />

jener Zeit, insbesondere A. S. Puschkins.<br />

Burenin, "W. V. - Journalist, Mitarbeiter der reaktionären Zeitung „Nowoje<br />

Wremja"; er betrieb eine wüste Hetze gegen die Vertreter aller fortschrittlichen<br />

gesellschaftlichen und politischen Strömungen.<br />

<strong>Lenin</strong> gebraucht diese Namen als Gattungsnamen zur Kennzeichnung<br />

unehrenhafter Methoden in der Polemik. 6<br />

10 „Vorwärts" - Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.<br />

Der Autor der im „Vorwärts" erschienenen verleumderischen Artikel gegen<br />

die Pariser Konferenz der SDAPR war Trotzki. 6<br />

11 Gemeint ist das Organisalionskomitee, das im Januar 1912 auf einer Beratung<br />

der Liquidatoren - der Vertreter des „Bund", des Kaukasischen Gebietskomitees<br />

und der Sozialdemokratie Lettlands - gebildet wurde. Das<br />

OK war das offizielle Organ zur Einberufung der Augustkonferenz der<br />

Liquidatoren. 6<br />

" „Vrawda" (Die Wahrheit), sog. Wiener „Prawda" - Fraktionsorgan der<br />

Trotzkisten,- wurde von 1908 bis 1912 in Wien herausgegeben. Unter der<br />

Maske der „Fraktionslosigkeit" nahm die Zeitung in allen grundlegenden


Anmerkungen 601<br />

Fragen eine liquidatorische Haltung ein, unterstützte aber auch die Otsowisten<br />

und Ultirnatisten. 1912 waren Trotzki und seine Zeitung die Organisatoren<br />

des parteifeindlichen Augustblocks. 7<br />

13 „Sa Partiju" (Für die Partei) - Blatt der Pariser Gruppen der parteitreuen<br />

Menschewiki und Versöhnler; erschien unregelmäßig von April 1912 bis<br />

Februar 1914 in Paris. 8<br />

11 <strong>Lenin</strong> zitiert aus der Arbeit A. I. Herzens „Ende und Anfänge". (Siehe<br />

A. I. Herzen, Ausgewählte <strong>Werke</strong>, 1937, S. 349, russ.) 10<br />

15 <strong>Lenin</strong> zitiert aus den Briefen „An einen alten Freund" (vierter und zweiter<br />

Brief). (Siehe A. I. Herzen, Ausgewählte Philosophische Schriften, Moskau<br />

1949, S.6<strong>18</strong>, 606.) U<br />

16 JKohkol" (Die Glocke) - politische Zeitschrift, die unter der Devise „Vivos<br />

voco!" („Ich rufe die Lebenden!") erschien. Sie wurde von A. I. Herzen<br />

und N. P. Ogarjow in der von A. I. Herzen gegründeten Freien russischen<br />

Druckerei vom 1. Juli <strong>18</strong>57 bis April <strong>18</strong>65 in London und von Mai <strong>18</strong>65 bis<br />

Juli <strong>18</strong>67 in Genf monatlich oder 14täglich herausgegeben. <strong>18</strong>68 erschien<br />

die Zeitschrift in französischer Sprache, gleichzeitig wurden Beilagen in<br />

russischer Sprache gedruckt. 12<br />

17 „Potjarnaja Swesda" (Der Polarstern) - Sammelband für Literatur und<br />

Politik. Die ersten drei Hefte warden von A. I. Herzen, die folgenden von<br />

A. I. Herzen und N.P. Ogarjow von <strong>18</strong>55 bis <strong>18</strong>62 in London in der Freien<br />

russischen Druckerei herausgegeben. Das letzte Hefterschien <strong>18</strong>68 in Genf.<br />

Es kamen insgesamt acht Hefte heraus. i2<br />

<strong>18</strong> „Swesda" (Der Stern) - legale bolschewistische Zeitung, die vom 16. (29.)<br />

Dezember 1910 bis zum 22. April (5. Mai") 1912 (anfangs wöchentlich, ab<br />

Januar 1912 zweimal und ab März dreimal wöchentlich) in Petersburg erschien.<br />

N. N. Baturin, K. S. Jeremejew, M. S. Olminski, N. G. Poletajew<br />

und auch A. M. Gorki arbeiteten an der Zeitung mit Bis zum Herbst 1911<br />

waren auch die parteitreuen Menschewiki (Plechanowleute) an der Zeitung<br />

beteiligt. Ideologisch wurde die Zeitung vom Ausland her von W. L <strong>Lenin</strong><br />

geleitet. <strong>Lenin</strong> veröffentlichte in der „Swesda" etwa 30 Artikel.<br />

Die von <strong>Lenin</strong> geleitete legale „Swesda" war ein bolschewistisches<br />

Kampforgan, das das Programm und die Taktik der illegalen Partei verfocht.<br />

Die „Swesda"- räumte den Arbeiterkorrespondenten breiten Raum<br />

ein und stellte ständige feste Verbindungen mit den Arbeitern her. Die<br />

Auflage einzelner Nummern erreichte 50 000-60 000 Exemplare. Die Zeitung<br />

war ständigen Verfolgungen von Seiten der Regierung ausgesetzt: von<br />

69 Nummern wurden 30 beschlagnahmt, 8 mit Strafen belegt.<br />

39 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>


602 Anmerkungen<br />

Die „Swesda" bereitete die Herausgabe der bolschewistischen Tageszeitung<br />

„Prawda" vor. Sie wurde von der Regierung an dem Tag verboten,<br />

an dem die „Prawda" erschien. 2i<br />

19 Die Konferenz der 7rudowiki fand im März 1912 in Petersburg statt; sie<br />

befaßte sich hauptsächlich mit Fragen der Wahlkampagne zur IV. Reichs-<br />

' duma. Eine Einschätzung der Beschlüsse der Konferenz enthält <strong>Lenin</strong>s Artikel<br />

„Liberalismus und Demokratie". (Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 17, S. 561-570.) 26<br />

20 „TVedhi" (Marksteine) - Sammelband der Kadetten; erschien im Frühjahr<br />

1909 in Moskau mit Artikeln von N. Berdjajew, S. Bulgakow, P. Struve,<br />

M. Gersdienson und anderen Vertretern der konterrevolutionären liberalen<br />

Bourgeoisie. In ihren Artikeln über die russische Intelligenz versuchten<br />

die „Wechi"-Leute, die revolutionär-demokratischen Traditionen der besten<br />

Vertreter des russischen Volkes, darunter W. G. Belinskis und N. G. Tschernyschewskis,<br />

zu verunglimpfen; sie zogen die revolutionäre Bewegung von<br />

1905 in den Schmutz und sprachen der zaristischen Regierung den Dank<br />

dafür aus, daß sie die Bourgeoisie „mit ihren Bajonetten und Gefängnissen"<br />

„vor der Volkswut" rettete. Der Sammelband appellierte an die Intelligenz,<br />

sich in den Dienst der Selbstherrschaft zu stellen. W. I. <strong>Lenin</strong> verglich das<br />

Programm der „Wechi" sowohl in der Philosophie wie auch in der Publizistik<br />

mit dem Programm der Schwarzhunderterzeitung „Moskowskije<br />

Wedomosti" (Moskauer Nachrichten) und bezeichnete den Sammelband<br />

als „Enzyklopädie des liberalen Renegatentums", als eine „einzige Flut<br />

reaktionären Spülichts, das über die Demokratie ausgegossen wird". (Siehe<br />

<strong>Werke</strong>, Bd. 16, S. 117-125.) 27<br />

21<br />

Ober die Zeitung „Noivoje Wremja" (Neue Zeit) siehe den vorliegenden<br />

<strong>Band</strong>, S. 264/265.<br />

„Swet" (Das Licht) - bürgerlich-nationalistische Tageszeitung, die von<br />

<strong>18</strong>82 bis 1917 in Petersburg erschien.<br />

„Qolos TAoskwy" (Die Stimme Moskaus) - Tageszeitung, Organ der<br />

Oktobristen, der konterrevolutionären Partei der industriellen Großbourgeoisie<br />

und der Großgrundbesitzer; sie erschien von 1906 bis 1915 in Moskau.<br />

32<br />

22 Der Artikel „Eine Enquete über die Organisationen des Qroßkapitals" erschien<br />

in Nr. 5-7 der Zeitschrift „Prosweschtschenije".<br />

„Troswesdbtsdbenije" (Die Aufklärung) - theoretisches Organ der Bolschewiki;<br />

erschien monatlich von Dezember 1911 bis Juni 1914 legal in<br />

Petersburg. Die Zeitschrift, die auf Anregung <strong>Lenin</strong>s gegründet worden<br />

war, trat an die Stelle der von der zaristischen Regierung verbotenen Mos-


Anmerkungen 603<br />

kauer bolschewistischen Zeitschrift „Mysl" (Der Gedanke). <strong>Lenin</strong> leitete<br />

die Zeitschrift „Prosweschtschenije" vom Ausland her, er redigierte ihre<br />

Artikel und führte einen regelmäßigen Schriftwechsel mit den Mitgliedern<br />

des <strong>Red</strong>aktionskollegiums. In der Zeitschrift erschienen <strong>Lenin</strong>s Arbeiten:<br />

„Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus", „Kritische Bemerkungen<br />

zur nationalen Frage", „Ober das Selbstbestimmungsrecht der Nationen"<br />

und andere. Den Teil Kunst und Literatur redigierte A. M. Gorki.<br />

Die Auflage der Zeitschrift betrug nahezu 5000 Exemplare.<br />

Kurz vor dem ersten Weltkrieg wurde die Zeitschrift von der Regierung<br />

verboten. Im Herbst 1917 wurde das „Prosweschtschenije" erneut herausgegeben,-<br />

es erschien nur eine Doppelnummer der Zeitschrift, in d» die<br />

Arbeiten <strong>Lenin</strong>s „Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?"<br />

und „Zur Revision des Parteiprogramms" veröffentlicht wurden. 42<br />

23 Qusdbka, A.O., und weiter unten im Text des Artikels: A.'Jermanski -<br />

literarische Pseudonyme des menschewistischen Liquidators O. A. Kogan.<br />

42<br />

24 Der Artikel 87 der staatlichen Grundgesetze gab dem Ministerrat das<br />

Recht, in der Zeit, in der die Reichsduma nicht arbeitete, Gesetzentwürfe<br />

direkt dem Zaren zur Bestätigung vorzulegen. 49<br />

25 „Retsdb" (Die <strong>Red</strong>e) - Tageszeitung, Zentralorgan der Kadettenpartei; erschien<br />

in Petersburg ab Februar 1906. Am 26. Oktober (8. November) 1917<br />

wurde sie vom Revolutionären Militärkomitee beim Petrograder Sowjet<br />

verboten. 58<br />

26 „TJewskaja Swesda" (Der Newastern) - legale bolschewistische Zeitung,<br />

die vom 26. Februar (10. März) bis zum 5. (<strong>18</strong>.) Oktober 1912 in Petersburg<br />

erschien. Es erschienen 27 Nummern. Die „Newskaja Swesda" wurde anfangs<br />

gleichzeitig mit der Zeitung „Swesda" herausgegeben und mußte diese<br />

im Fall des Verbots oder der Konfiskation ersetzen. Nach dem 22. April<br />

(5. Mai) 1912 trat sie an die Stelle der verbotenen „Swesda". In der Zeitung<br />

erschienen 20 Artikel <strong>Lenin</strong>s.<br />

Zur <strong>Red</strong>aktion der Zeitung gehörten N. N. Baturin, M. S. Olminski und<br />

andere. 6i<br />

*» R. B. - R. M. Blank, Publizist, Kadett. 67<br />

28 <strong>Lenin</strong> meint die <strong>Red</strong>e P. N. Miljukows, die dieser anläßlich eines Frühstücks<br />

beim Lord-Mayor von London am 19. Juni (2. Juli) 1909 während<br />

des Besuchs einer Delegation der III. Reichsduma und des Reichsrats in<br />

England hielt. Miljukow erklärte, daß die Kadetten der zaristischen Selbstherrschaft<br />

die Treue halten, und hob hervor, daß die russische Opposition,


604 Anmerkungen<br />

solange es in Rußland eine Duma gibt, „eine Opposition Seiner Majestät<br />

und nicht gegen Seine Majestät bleiben wird". 68<br />

29 „Russkije Wedomosti" (Russische Nachrichten) - Zeitung, die ab <strong>18</strong>63 in<br />

Moskau erschien; sie vertrat die Anschauungen der gemäßigten liberalen<br />

Intelligenz. Anfang 1905 wurde sie zum Organ des rechten Fingeis der<br />

Kadetten. Bald nach der Sozialistischen Oktoberrevolution 1917 wurde die<br />

Zeitung verboten. 75<br />

30 „TJewski Qohs" (Die Newastimme) - legale Wodienzeitung der menschewistischen<br />

Liquidatoren, die von Mai bis August 1912 in Petersburg ersdiien.<br />

75<br />

31 Gemeint ist der Erlaß Stolypins vom 9. (22.) November 1906 über das<br />

Ausscheiden von Bauern aus der Dorfgemeinde. 79<br />

32 Eine Charakteristik des revolutionären Aufschwungs gab <strong>Lenin</strong>, der zugleich<br />

die Aufgaben der bolschewistischen Partei unter den neuen Bedingungen<br />

umriß, vor dem Erscheinen des Artikels „Der revolutionäre Aufschwung"<br />

am 26. April (9. Mai) in der Sitzung der Pariser Sektion der<br />

Auslandsorganisation der SDAPR in einem Bericht über die Ereignisse in<br />

Rußland und die im Zusammenhang damit erforderliche Taktik der Partei<br />

und weiter am.31. Mai (13. Juni) in einem Referat mit dem Thema „Der<br />

revolutionäre Aufschwung des russischen Proletariats". In der von der Pariser<br />

Sektion der Auslandsorganisation der SDAPR herausgegebenen Ankündigung<br />

des Referats ist ein Plan zum Referat enthalten, der mit den<br />

Grundthesen des vorliegenden Artikels übereinstimmt. Siehe W. I. <strong>Lenin</strong>,<br />

<strong>Werke</strong>, Ergänzungsband, <strong>18</strong>96-Oktober 1917, S. 253/254. 91<br />

JS „Sozial-Demokrat"- Zentralorgan der SDAPR; wurde als illegale Zeitung<br />

von Februar 1908 bis Januar 1917 herausgegeben. Es erschienen 58 Nummern:<br />

die erste in Rußland, die übrigen im Ausland, zunächst in Paris und<br />

später in Genf. Die <strong>Red</strong>aktion des Zentralorgans bestand laut Beschluß des<br />

ZK der SDAPR aus Vertretern der Bolschewiki, der Menschewiki und der<br />

polnischen Sozialdemokraten.<br />

Im „Sozial-Demokrat" wurden über achtzig Artikel und Notizen W. I.<br />

<strong>Lenin</strong>s veröffentlicht. Innerhalb der <strong>Red</strong>aktion des „Sozial-Demokrat"<br />

kämpfte <strong>Lenin</strong> für die konsequente bolschewistische Linie. Die menschewistischen<br />

<strong>Red</strong>akteure, Martow und Dan, sabotierten die Arbeit in der <strong>Red</strong>aktion<br />

des Zentralorgans und verteidigten gleichzeitig im „Golos Sozial-<br />

Demokrata" offen das Liquidatorentum.<br />

Der unversöhnliche Kampf <strong>Lenin</strong>s gegen die Liquidatoren führte im


Anmerkungen 605<br />

Juni 1911 zum Ausscheiden Martows und Dans ans der <strong>Red</strong>aktion. Ab<br />

Dezember 1911 wurde der„Sozial-Demokrat"von W. I. <strong>Lenin</strong> redigiert. 93<br />

34 „So war es und so wird es bleiben" - Worte des Innenministers Makarow,<br />

mit denen dieser in der Sitzung der Reidisduma am 11. (24.1 April 1912<br />

auf eine Anfrage der sozialdemokratischen Fraktion anläßlich des Blutbads<br />

an der Lena antwortete. 98<br />

35 „Buduscfetscfoe/e" - „C'Avenir" (Die Zukunft) - bürgerlich-liberale Zeitung;<br />

erschien unter der <strong>Red</strong>aktion W. L. Burzews von Oktober 1911 bis<br />

Januar 1914 in Paris in russischer Sprache (einige Materialien wurden<br />

in französischer Sprache gedruckt). An der Zeitung arbeiteten Menschewiki<br />

und Sozialrevolutionäre mit. iO3<br />

36 <strong>Lenin</strong> meint den Beschluß des Organisationskomitees der Liquidatoren<br />

über die Einladung der PPS-„Lewica" irur Augustkonferenz der Liquidatoren.<br />

PPS (Polska Partia Socjalistyczna) - Polnische Sozialistische Partei -<br />

reformistische nationalistische Partei, die im Jahre <strong>18</strong>92 gegründet wurde.<br />

Die PPS, deren Programm der Kampf für die Unabhängigkeit Polens zugrunde<br />

lag, betrieb eine separatistische, nationalistische Propaganda unter<br />

den polnischen Arbeitern und war bestrebt, sie vom gemeinsamen Kampf<br />

mit den russischen Arbeitern gegen die Selbstherrschaft und den Kapitalismus<br />

abzulenken. 1906 spaltete sich die PPS in zwei Fraktionen: die PPS-<br />

„Lewica" und die rechte, chauvinistische PPS-„Prawica" („Fracy").<br />

Die PPS-„Lewica" nahm unter dem Einfluß der SDAPR(B) sowie der<br />

SDKPuL (Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens) nach und<br />

nach eine konsequent revolutionäre Position ein.<br />

Im ersten Weltkrieg bezog ein großer Teil der PPS-„Lewica" eine internationalistische<br />

Stellung und vereinigte sich im Dezember 19<strong>18</strong> mit der<br />

SDKPuL. Die vereinigten Parteien gründeten die Kommunistische Arbeiterpartei<br />

Polens (die ab 1925 Kommunistische Partei Polens genannt wurde).<br />

Die rechte PPS, an ihrer Spitze Pilsudsld, nahm während des ersten<br />

Weltkriegs eine nationalchauvinistische Haltung ein. Nach der Bildung<br />

des polnischen bürgerlichen Staates betrieb sie eine antisowjetische Politik.<br />

Während des zweiten Weltkriegs spaltete sie sich erneut in zwei Gruppen.<br />

Der reaktionäre, chauvinistische Teil beteiligte sich an der reaktionären<br />

Londoner Exilregierung".<br />

Der linke Teil der PPS, der sich „Arbeiterpartei der Polnischen Sozialisten"<br />

nannte, schloß sich mit der 1942 gegründeten Polnischen Arbeiterpartei<br />

(Kommunisten) zur Volksfront zum Kampf gegen die Hitlerokkupan-


606 Anmerkungen<br />

ten zusammen. Im Dezember 1948 vereinigten sich beide Parteien und<br />

bildeten die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PVAP). 108<br />

31 Siehe „Die KPdSU in Resolutionen und Beschlüssen der Parteitage, Parteikonferenzen<br />

und Plenartagungen des ZK", 7. Auflage, Teil I, Moskau<br />

1954, S. 203, russ. 109<br />

38 „Dnewnik Sozidldemokrata" (Tagebuch eines Sozialdemokraten) - von<br />

G. W. Plechanow in zwangloser Folge herausgegebene Zeitschrift, die mit<br />

großen Unterbrechungen in Genf erschien. Von März 1905 bis April 1912<br />

kamen insgesamt 16 Nummern heraus. 1916 wurde der „Dnewnik" in<br />

Petrograd neu herausgegeben; es erschien aber nur eine Nummer, 1 10<br />

39 Im Februar 1912 trat der menschewistische Liquidator T. O. Beloussow,<br />

Abgeordneter des Irkutsker Gouvernements, aus der sozialdemokratischen<br />

Fraktion der III. Duma aus. Siehe W. I. <strong>Lenin</strong>s Artikel „Ober den Austritt<br />

des Abgeordneten T. O. Beloussow aus der sozialdemokratischen Dumafraktion"<br />

(<strong>Werke</strong>, Bd. 17, S. 513-5<strong>18</strong>). 110<br />

40 Unter „politisdben Säuglingen" sind hier die bolschewistischen Versöhnler<br />

zu verstehen, die ihre Grüppchen in Rußland und im Ausland hatten,- unter<br />

„gewitzte Diplomaten' 1 - die liquidatorische Gruppe der Wiener „Prawda"<br />

Trotzkis und die Führer des „Bund". 123<br />

41 <strong>Lenin</strong> meint das Qesetz vom a. (24.) Dezember 1905 über die Wahlen<br />

zur Reichsduma. Nach diesem Gesetz wurden die Wähler in vier Kurien<br />

geteilt: die Grundbesitzerkurie (die Gutsherren), die Städtekurie (die<br />

Bourgeoisie), die Bauernkurie und die Arbeiterkurie. Stimmrecht hatten<br />

Personen im Alter über 25 Jahren. Für die Gutsbesitzerkurie und die<br />

Städtekurie wurde ein Vermögenszensus festgelegt; in der Bauernkurie<br />

besaßen nur Hofbesitzer das Wahlrecht; in der Arbeiterkurie nur, wer<br />

mindestens 6 Monate in dem betreffenden Betrieb gearbeitet hatte. Es gab<br />

kein gleiches Wahlrecht: Die Stimme eines Gutsbesitzers entsprach den<br />

Stimmen von drei Kapitalisten, von 15 Bauern und von 45 Arbeitern. An<br />

den Wahlen konnten nicht teilnehmen: Frauen, Landarbeiter, ungelernte<br />

Arbeiter, Kleingewerbetreibende, Studierende und Personen im Militärdienst.<br />

Wahlrecht in der Arbeiterkurie erhielten Arbeiter von Fabriken mit<br />

mindestens fünfzig männlichen Beschäftigten. Fabriken und <strong>Werke</strong> mit<br />

einer Beschäftigtenzahl von über 1000 Arbeitern wählten je einen Bevollmächtigten<br />

auf jedes volle Tausend. Die Wahlen waren mehrstufig: für<br />

die Gutsbesitzer und Kapitalisten zweistufig, für die Arbeiter dreistufig und<br />

für die Bauern vierstufig. 130


Anmerkungen 607<br />

42 Am 3. (16.) Juni 1907 löste die Regierung die II. Reichsduma auf und erließ<br />

ein neues Gesetz für die Wahlen zur Duma. Durch das neue Gesetz<br />

wurde die Zahl der Vertreter der Gutsbesitzer und der Handels- und Industriebourgeoisie<br />

in der Duma um ein vielfaches erhöht, während die<br />

Zahl der Abgeordneten der Bauern, der Arbeiter und der nichtrussischen<br />

Nationalitäten stark verringert wurde. Die Städtekurie wurde in zwei<br />

Kurien geteilt: die Großbourgeoisie kam in die erste Städtekurie, die übrigen<br />

städtischen Wähler in die zweite. Nach dem neuen Gesetz entfiel ein<br />

Wahlmann: in der Grundbesitzerkurie (Gutsherren) auf 230 Wähler, in<br />

der ersten Städtekurie auf 1000 Wähler, in der zweiten Städtekurie auf<br />

15 000 Wähler, in der Bauernkurie auf 60 000 Wähler und in der Arbeiterkurie<br />

auf 125 000 Wähler. In den 6 Industriegouvernements Petersburg,<br />

Moskau, Wladimir, Jekaterinoslaw, Kostroma und Charkow war die Wahl<br />

je eines Arbeiterabgeordneten der Arbeiterkurien obligatorisch. Das Wahlgesetz<br />

vom 3. Juni sicherte die uneingeschränkte Herrschaft des Schwarzhunderterblocks<br />

der Gutsbesitzer und der Großbourgeoisie in der III. und<br />

IV. Reichsduma. 130<br />

13 Siehe Karl Marx, „Theorien über den Mehrwert", Teil 2, in Karl Marx<br />

Friedrich Engels, <strong>Werke</strong>, Bd. 26.2, Berlin 1967, S. 236/237. Eine Darlegung<br />

und Erläuterung dieser Marxschen Thesen gibt <strong>Lenin</strong> in der Arbeit „Die<br />

Agrarfrage in Rußland am Ausgang des 19. Jahrhunderts". (Siehe <strong>Werke</strong>,<br />

Bd. 15, S. 132-134.) 135<br />

44 „Qazeta Jiobotnicza" (Arbeiterzeitung) - illegales Organ des Warschauer<br />

Komitees der Sozialdemokratie Polens und Litauens; erschien von Mai bis<br />

Oktober 1906. Nach der Spaltung im Jahre 1912 entstanden in der Polnischen<br />

Sozialdemokratie zwei Warschauer Komitees, und es wurden zwei Organe<br />

unter dem Titel „Gazeta Robotnicza" herausgegeben: das eine von Anhängern<br />

des Hauptvorstands in Warschau (JuYi 1911—Juli 1913), das andere<br />

vom oppositionellen Warschauer Komitee (Landesvorstand) in Krakau<br />

(Juli 1911-Februar 1915). W. I. <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Lage in der SDAPR<br />

und die nächsten Aufgaben der Partei" erschien in Nr. 15/16 der Krakauer<br />

„Gazeta Robotnicza". über die Spaltung in der SDKPuL siehe W. I. <strong>Lenin</strong>s<br />

Artikel „Die Spaltung in der Polnischen Sozialdemokratie" (vorliegender<br />

<strong>Band</strong>, S. 472-476). 140<br />

iS „ Qolcs SoziaUDemokrata" (Die Stimme des Sozialdemokraten) - Auslandsorgan<br />

der Menschewiki; erschien von Februar 1908 bis Dezember 1911,<br />

zunächst in Genf, dann in Parts. Eine Charakteristik des „Golos Sozial-<br />

Demokrata" gab W. I. <strong>Lenin</strong> in seinem Artikel „Der ,Golos' der Liquidatoren<br />

gegen die Partei". (Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 16, S. 151-159.) 142


608 Anmerkungen<br />

46 Gemeint ist die im Januar 1912 in Rußland abgehaltene Beratung der Liquidatoren,<br />

auf der das Organisationskomitee zur Einberufung der Augustkonferenz<br />

der Liquidatoren gebildet wurde. i45<br />

47 Die Notiz .Antwort an die Liquidatoren" schrieb <strong>Lenin</strong> für die „Prawda";<br />

die <strong>Red</strong>aktion erhielt sie am 11. (24.) Juli 1912. 148<br />

48 „Prawda" (Die Wahrheit) - legale bolschewistische Tageszeitung, die im<br />

April 1912 auf Initiative der Petersburger Arbeiter gegründet wurde und in<br />

Petersburg erschien.<br />

Die „Prawda" war eine Massenzeitung; das Geld für ihre Finanzierung<br />

wurde von den Arbeitern selbst gesammelt. Um die Zeitung bildete sich<br />

ein großer Kreis von Arbeiterkorrespondenten und Arbeiterpublizisten. Im<br />

Laufe eines einzigen Jahres wurden in der „Prawda" mehr als elftausend<br />

Arbeiterkorrespondenzen veröffentlicht. Die Tagesauflage der „Prawda"<br />

betrug im Durchschnitt 40 000 Exemplare und erreichte in manchen Monaten<br />

60 000 Exemplare.<br />

W.I.<strong>Lenin</strong> leitete die „Prawda" vom Ausland aus. Er schrieb fast täglich<br />

für die Zeitung, gab der <strong>Red</strong>aktion Anweisungen und gewann für die<br />

Zeitung die besten publizistischen Kräfte der Partei.<br />

An der <strong>Red</strong>aktion der Zeitung waren N. N. Baturin, K. S. Jeremejew,<br />

M.I.Kalinin, M. S. Olminski, N. G. Poletajew, K. N. Samoilowa, J. M.<br />

Swerdlow, A. I. LHjanowa-Jelisarowa u. a. aktiv beteiligt. Auch die bolschewistischen<br />

Abgeordneten der IV. Reichsduma A. J. Badajew, M. K.<br />

Muranow, G. I. Petrowsld, F. N. Samoilow und N. R. Schagow arbeiteten<br />

an der „Prawda" tatkräftig mit.<br />

Die „Prawda" war unablässigen polizeilichen Verfolgungen ausgesetzt.<br />

Im ersten Jahr ihres Bestehens wurde sie 41mal beschlagnahmt, 36 Gerichtsverfahren<br />

wurden gegen die <strong>Red</strong>akteure durchgeführt, die insgesamt 4P-/Z<br />

Monate Gefängnishaft verbüßen mußten. Innerhalb von zwei Jahren und<br />

drei Monaten war die „Prawda" von der zaristischen Regierung achtmal<br />

verboten, wurde aber jedesmal unter einem anderen Namen neu herausgegeben:<br />

„Rabotschaja Prawda" (Arbeiterprawda), „Sewernaja Prawda"<br />

(Prawda des Nordens), „Prawda Truda" (Prawda der Arbeit), „SaPrawdu"<br />

(Für die Prawda), „Proletarskaja Prawda" (Proletarische Prawda), „Put<br />

Prawdy" (Weg der Prawda), „Rabotschi" (Der Arbeiter), „Trudowaja<br />

Prawda" (Prawda der Werktätigen). Am 8. (21.) Juli 1914, kurz vor<br />

Beginn des ersten Weltkriegs, wurde die Zeitung wiederum verboten.<br />

Die Herausgabe der „Prawda" konnte erst nach der Februarrevolution<br />

wiederaufgenommen werden. Vom 5. (<strong>18</strong>.) März 1917 an erschien die<br />

„Prawda" als das Zentralorgan der SDAPR. Am 5. (<strong>18</strong>.) April begann


Anmerkungen 609<br />

<strong>Lenin</strong>, ans dem Ausland zurückgekehrt, in der <strong>Red</strong>aktion zu arbeiten und<br />

übernahm die Leitung der „Prawda". Am 5. (<strong>18</strong>.) Jnli 1917 worden die<br />

<strong>Red</strong>aktionsränme der „Prawda" von Offiziersschülern und Kosaken demoliert.<br />

Von Juli bis Oktober 1917 wechselte die „Prawda", den Verfolgungen<br />

seitens der Provisorischen Regierung ausgesetzt, mehrmals ihren Namen<br />

und erschien als „Listok ,Prawdy'" (Blatt der „Prawda"), „Proletari"<br />

(Der Proletarier), „Rabotschi" (Der Arbeiter), „Rabotschi Put" (Weg des<br />

Arbeiters). Seit dem 17. Oktober (9. November) erscheint die Zeitung<br />

unter ihrem alten Namen „Prawda". 148<br />

49 Gemeint ist: l.Karl Marx, „Das Elend der Philosophie", in Karl Marx/<br />

Friedrich Engels, <strong>Werke</strong>, Bd. 4, Berlin 1964, S. 165-175; 2. Karl Marx/<br />

Friedrich Engels, <strong>Werke</strong>, Bd. 25, Berlin 1968, S. 662-685; 3. „Theorien<br />

über den Mehrwert", 2. Teil, in Karl Marx/Friedrich Engels, <strong>Werke</strong>,<br />

Bd. 26.2, Berlin 1967, S. 145-157. 157<br />

50 Gemeint ist eine Resolution des Vorstands des Petersburger Verbandes der<br />

Brotbäcker, in der die Forderung aufgestellt wurde, eine antiliquidatorische<br />

Arbeitertageszeitung herauszugeben. Der Vorstand begrüßte das bevorstehende<br />

Erscheinen der „Prawda" and rief alle Verbandsmitglieder auf,<br />

Geldsammlungen für die „Prawda" zu organisieren. Eine Mitteilung über<br />

diese Resolution wurde in Nr. 27 der „Swesda" vom 8. (21.) April 1912<br />

veröffentlicht. 163<br />

51 .Sawety" (Das Vermächtnis) - legale Sozialrevolutionäre Monatsschrift für<br />

Literatur und Politik; erschien von April 1912 bis Juli 1914 in Petersburg.<br />

169<br />

52 Gemeint ist der Versuch portugiesischer Monarchisten im Sommer 1912,<br />

einen Aufstand zu organisieren, um die Monarchie wiederherzustellen. Der<br />

Aufstand wurde niedergeschlagen. 171<br />

53 Der Artikel .Ergebnisse der Arbeit eines halben Jahres" wurde in der<br />

ersten Julihälfte 1912 geschrieben. Der Briefwechsel <strong>Lenin</strong>s mit der <strong>Red</strong>aktion<br />

der „Prawda" zur Veröffentlichung dieses Artikels isfoerhalten geblieben.<br />

In einem Brief an die <strong>Red</strong>aktion vom 15. oder 16. (28. oder 29.) Juli<br />

1912 bat <strong>Lenin</strong>, den Artikel „Einige Ergebnisse der Arbeit eines halben<br />

Jahres" in der „Prawda" in vier Nummern als Feuilletons zu veröflfentlichen,<br />

er erklärte sich dabei nur mit Änderungen einverstanden, soweit<br />

sie aus Zensurgründen erforderlich waren. Der Artikel wurde in der<br />

,,Prawda" entsprechend dem Hinweis <strong>Lenin</strong>s veröffentlicht. 177<br />

51 <strong>Lenin</strong> meint die Drohung der menschewistischen Liquidatoren, bei den


610 Anmerkungen<br />

Wahlen zur IV. Duma in der Arbeiterkurie als Gegengewicht zu den bolschewistischen<br />

Kandidaten eigene Kandidaten aufzustellen. <strong>18</strong>6<br />

55 „Appeal to Reason" (Appell an die Vernunft) - Zeitung amerikanischer<br />

Sozialisten,- wurde im Jahre <strong>18</strong>95 im Staat Kansas (USA) gegründet; verfocht<br />

während des imperialistischen Weltkriegs 1914-19<strong>18</strong> den Standpunkt<br />

der Internationalisten. <strong>18</strong>9<br />

56 , Qaseta-Xopejka" (Kopekenzeitung) - bürgerliches Boulevardblatt; erschien<br />

ab 1908 täglich in Petersburg und wurde im Jahre 19<strong>18</strong> verboten. 190<br />

57 Die Broschüre „Zur gegenwärtigen Sachlage in der Sozidldemokratisdhen<br />

Arbeiterpartei Rußlands" schrieb <strong>Lenin</strong> in Krakau, im September 1912<br />

wurde sie in deutscher Sprache in Leipzig zum erstenmal veröffentlicht. Den<br />

Hauptinhalt der Broschüre bildet ein Brief des ZK der SDAPR vom 17.<br />

(30.) Juli. Der Brief war die Antwort auf ein Schreiben des Parteivorstands<br />

der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, in dem dieser darum ersuchte,<br />

die im Ausland bestehenden Partei„zentren" und -„gruppen"<br />

zusammenzurufen. Diese Beratung sollte der „Herstellung der Einheit"<br />

und der Aufteilung der Gelder, die die Führung der Sozialdemokratischen<br />

Partei Deutschlands für die Wahlkampagne zur IV. Duma zur Verfügung<br />

gestellt hatte, dienen. Das ZK der SDAPR lehnte es ab, an einer solchen<br />

Beratung teilzunehmen,- die Beratung fand nicht statt. Einen Teil der<br />

Gelder stellte der Parteivorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands<br />

dem liquidatorischen Organisationskomitee und Kaukasischen Gebietskomitee,<br />

dem „Bund" und dem ZK der lettischen sozialdemokratischen<br />

Partei zur Verfügung, womit er die Liquidatoren gegen die Bolschewiki<br />

unterstützte. Die Broschüre „Zur gegenwärtigen Sachlage in der Sozialdemokratischen<br />

Arbeiterpartei Rußlands" wurde von der <strong>Red</strong>aktion des<br />

„Sozial-Demokrat" an die Bezirks- und Landesvorstände der Sozialdemokratischen<br />

Partei Deutschlands, an die Delegierten des Chemnitzer Parteitags,<br />

der im September 1912 stattfand, und an die <strong>Red</strong>aktionen der wichtigsten<br />

sozialdemokratischen Zeitungen Deutschlands verschickt. 191<br />

58 „Spilka" (Verband) - ukrainische sozialdemokratische Organisation; entstand<br />

Ende 1904; sie gehörte mit den Rechten einer autonomen Gebietsorganisation<br />

zur SDAPR. Im innerparteilichen Kampf in der SDAPR schloß<br />

sie sich den Menschewiki an. In der Periode der Reaktion zerfiel die<br />

„Spilka". 1912 existierten nur noch kleine isolierte Grüppchen der<br />

„Spilka". Zu dieser Zeit wurden die meisten ihrer Mitglieder bürgerliche<br />

Nationalisten. Nur im Jahre 1908 erschien die liquidatorische Zeitung


Anmerkungen 611<br />

Trotzkis, die „Prawda" (Wiener „Prawda"), als Organ der „Spilka" (die<br />

ersten beiden Nummern). i95<br />

59 Die Einbernfang des ordentlichen (IX.) Internationalen Sozialistenkongresses<br />

der II. Internationale war für Herbst 1913 in Wien vorgesehen. Im<br />

Zusammenhang mit dem 1912 ausgebrochenen Balkankrieg wurde jedoch<br />

für November 1912 ein außerordentlicher Kongreß nach Basel einberufen.<br />

204<br />

80 Gemeint ist die sogenannte Augustkonferenz der Liquidatoren im August<br />

1912 in Wien, auf der sich der parteifeindliche, von Trotzki organisierte<br />

Augastblock formierte. An der Konferenz nahmen teil: Vertreter des<br />

„Bund", des Kaukasischen Gebietskomitees, der Sozialdemokratie Lettlands<br />

sowie liquidatorischer, trotzkistischer und otsowistischer Grüppchen im Ausland<br />

- der <strong>Red</strong>aktion des „Golos Sozial-Demokrata", der Wiener „Prawda"<br />

Trotzkis und der Gruppe „ Wperjod". Aus Rußland entsandten Delegierte:<br />

die Petersburger und die Moskauer „Initiativgruppe" der Liquidatoren,<br />

die Krasnojarsker Organisation, die „Sewastopoler sozialdemokratische<br />

Militärorganisation" sowie die <strong>Red</strong>aktionen der liquidatorischen Publikationen<br />

„Nascha Sarja" und „Newski Golos"; auch ein Vertreter des Auslandskomitees<br />

der ukrainischen Organisation „Spilka" war anwesend. Die<br />

übergroße Mehrheit der Delegierten bestand aus Personen, die im Ausland<br />

lebten und keine Verbindung mit der Arbeiterklasse Rußlands hatten.<br />

Die Konferenz nahm zu allen Fragen der sozialdemokratischen Taktik<br />

parteifeindliche liquidatorische Beschlüsse an and sprach sich gegen das Bestehen<br />

einer illegalen Partei aus.<br />

Der aus den verschiedenartigsten Elementen zusammengezimmerte<br />

Augustblock begann bereits auf der Konferenz selbst auseinanderzufalten.<br />

Die Liquidatoren vermochten kein ZK zu wählen und beschränkten sich<br />

auf die Bildung eines Organisationskomitees. Unter den Schlägen der<br />

Bolschewiki fiel der parteifeindliche Augustblock bald endgültig auseinander.<br />

206<br />

" Das Manuskript trägt keine Überschrift. Die Überschrift stammt vom<br />

Institut für Marxismus-<strong>Lenin</strong>ismus beim ZK der KPdSU in Moskau. 2iO<br />

62 „La Revue Scientificjue" (Wissenschaftliche Revue) - Zeitschrift; erscheint<br />

seit <strong>18</strong>63 in Paris. 213<br />

« <strong>Lenin</strong> zitiert die Resolution des V. Parteitags der SDAPR „über die Stellung<br />

zu den nichtproletarischen Parteien". (Siehe „Die KPdSU in Resolutionen<br />

und Beschlüssen der Parteitage, Parteikonferenzen und Plenartagungen<br />

des ZK", 7. Auflage, Teil I, Moskau 1954, S. 164, russ.) 2<strong>18</strong>


612 Anmerkungen<br />

64 Der Artikel „Aufstände in Armee und Tlotte" wurde in der „Rabotschaja<br />

Gaseta" Nr. 9 vom 30. Juli (12. August) 1912 veröffentlicht.<br />

„Rabotsdbaja Qaseta" (Arbeiterzeitung) - illegales populäres Organ der<br />

Bolsdiewild; wurde in Paris vom 30. Oktober (12. November) 1910 bis<br />

30. Juli (12. August) 1912 herausgegeben,- es erschienen 9 Nummern. An<br />

der Zeitung arbeiteten auch parteitreue Menschewiki mit. Begründer und<br />

Leiter der „Rabotschaja Gaseta" war <strong>Lenin</strong>. <strong>Lenin</strong> veröffentlichte in der<br />

Zeitung 14 Artikel. Die Prager Konferenz der SDAPR (Januar 1912)<br />

stellte fest, daß die „Rabotschaja Gaseta" die Partei und das Parteiprinzip<br />

entschieden und konsequent verteidigte, und erklärte sie zum offiziellen<br />

Organ des ZK der SDAPR (Bolschewiki). 222<br />

65 In Nr. 9 der „Rabotschaja Gaseta" ist als Ersdieinungsdatum irrtümlicherweise<br />

der 12. (30.) August angegeben; das richtige Datum ist der 30. Juli<br />

(12. August). 225<br />

•• .Die Wablplattform der SDAPR" wurde von W.I.<strong>Lenin</strong> in Paris, kurz<br />

nach der Prager Konferenz, ausgearbeitet. In Rußland brachte das Zentralkomitee<br />

der Partei die Wahlplattform als besondere Flugschrift heraus.<br />

Sie wurde in <strong>18</strong> Orte versandt, darunter in die größten proletarischen Zentren.<br />

„Die Wahlplattform der SDAPR" wurde als Nachdruck der russischen<br />

Publikation in Form einer Beilage zu Nr. 26 des „Sozial-Demokrat"<br />

veröffentlicht. Auch viele örtliche bolschewistische Organisationen druckten<br />

sie nach. In Tiflis druckte das Russische Büro des ZK der SDAPR die Plattform<br />

nach. (Den Text der Plattform siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 17, S. 498-504.) 226<br />

57 S. W.- Stanislaw Wolski - Pseudonym A. W. Sokolows,- Otsowist, einer<br />

der Organisatoren der Gruppe „Wperjod". 229<br />

68 £. JW. - L. Martow - einer der Führer der Menschewiki. 230<br />

89 Den „Brief an die Sdoweizer Arbeiter" schrieb W. I. <strong>Lenin</strong> im Zusammenhang<br />

mit den folgenden Ereignissen. Im Juli 1912 sandte das mensdiewistisch-liquidatorische<br />

Büro der Vereinigten Organisation der SDAPR<br />

in Zürich einen Brief an den Vorstand der sozialdemokratischen Organisation<br />

„Die Eintracht" und den Schweizerischen Arbeiterbund. In dem Brief<br />

erklärte sich das Büro zum alleinigen Vertreter der Auslandsgruppen der<br />

SDAPR in Zürich. Am 27. Juli (9. August) fand in Zürich eine Beratung<br />

der bolschewistischen Schweizer Sektion der Auslandsorganisation der<br />

SDAPR statt. An der Beratung nahmen Vertreter der bolschewistischen<br />

Gruppen von Zürich, Davos, Bem, Lausanne und Genf teil. Die Beratung<br />

erörterte folgende Resolutionen und nahm sie an: 1. Ober die Sachlage in<br />

der Partei; 2. Über die Sachlage im Ausland und 3. eine Protestresolution


Anmerkungen 613<br />

gegen den Brief des liquidatorischen Büros. Die letztgenannte Resolution<br />

und der Brief W. I. <strong>Lenin</strong>s, der die Kompetenz der Züricher Sektion der<br />

Bolschewiki bestätigt, wurden in deutscher Sprache verfaßt und als hektographierte<br />

Flugschrift veröffentlicht. 234<br />

70 Gemeint ist eine Erhebung über die Fabriken und <strong>Werke</strong> Rußlands, die<br />

von der Abteilung Industrie des Finanzministeriums im Jahre 1908 durchgeführt<br />

wurde. Vorläufige Angaben über die Ergebnisse der Erhebung veröffentlichte<br />

W. J. Warsar in dem Artikel „Die verarbeitende Fabrik- und<br />

Werkindustrie des Reichs zu Beginn des Jahres 1909" im „Westnik Finansow,<br />

Promyschlennosti i Torgowli" (Finanz-, Industrie- und Handelsbote)<br />

Nr. 50, 11. (24.) Dezember 1911. <strong>Lenin</strong> benutzte die Daten der zusammenfassenden<br />

Tabelle des Artikels. 245<br />

71 Gemeint ist die „Sammlung der Berichte der Fabrikinspektoren für das<br />

Jahr 1910", St. Petersburg 1911, S. XXXVII. 247<br />

72 Die Zahlenangaben entnahm <strong>Lenin</strong> der „Sammlung der Berichte der Fabrikinspektoren<br />

für das Jahr 1910", St. Petersburg 1911, S. XV. 252<br />

73 „Hossija" (Rußland) - Tageszeitung der Schwarzhunderter, die von 1905<br />

bis 1914 in Petersburg herausgegeben wurde. Von 1906 an war sie das<br />

offizielle Organ des Innenministeriums. <strong>Lenin</strong> nannte die Zeitung „Rossija"<br />

ein „korruptes Polizeiblättchen". 271<br />

74 Der Artikel „DieLiquidatoren und die ,£inbeit" erschien in der „Prawda"<br />

zusammen mit einem besonderen Abschnitt, der sich mit den Beschuldigungen<br />

auseinandersetzte, die die Liquidatoren gegen die „Prawda" erhoben.<br />

Dieser Abschnitt des Artikels war von M. S. Olminski verfaßt. 280<br />

75 „Semsäitsdbina" (DerBauernstand) -Tageszeitung der Schwarzhunderter;<br />

Organ der extrem rechten Abgeordneten der Reichsduma; erschien von<br />

1909 bis 1917 in Petersburg. 288<br />

76 „Russkaja !Mysl" (Der russische Gedanke) - Monatsschrift für Literatur<br />

und Politik, die von <strong>18</strong>80 bis 19<strong>18</strong> in Moskau erschien. Bis zum Jahre 1905<br />

vertrat sie die liberal-volkstümlerische Richtung. Dennoch veröffentlichte<br />

sie in den neunziger Jahren verschiedentlich auch Artikel von Marxisten.<br />

Nach der Revolution von 1905 wurde sie unter der <strong>Red</strong>aktion von P. B.<br />

Struve zum Organ des rechten Flügels der Kadettenpartei. 303<br />

17 <strong>Lenin</strong> zitiert aus dem Poem Nekrassows „Wer lebt glücklich in Rußland?"<br />

(Vgl. N. A. Nekrassow, „Wer lebt glücklich in Rußland?", Reclam o. J.,<br />

S.38.)<br />

Der weiter unten im Text zitierte Vierzeiler entstammt dem Gedicht


614 Anmerkungen<br />

Nekrassows „An den unbekannten Freund, der mir das Gedicht ,Es kann<br />

nicht sein' sandte". (Siehe N. A. Nekrassow, Ausgewählte <strong>Werke</strong>, 1947,<br />

S. 135/136, russ.) 304<br />

78 Die Worte .der Niedertradbt angepaßt" entnimmt <strong>Lenin</strong> dem satirischen<br />

Märchen Saltykow-Schtschedrins „Der Liberale". (Siehe M. J. Saltykow-<br />

Schtschedrin, Ausgewählte <strong>Werke</strong>, 1947, S. 554-557, russ.) 305<br />

79 „Russki TVestntk" (Russischer Bote) - Zeitschrift für Politik und Literatur,<br />

die von <strong>18</strong>56 bis 1906 erschien. Von <strong>18</strong>56 bis <strong>18</strong>87 wurde die Zeitschrift in<br />

Moskau herausgegeben, <strong>Red</strong>akteur und Herausgeber war M. N. Katkow.<br />

Anfangs war die Richtung der Zeitschrift gemäßigt-liberal, beginnend mit<br />

den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde sie zu einem Organ der<br />

feudalen Reaktion. Nach dem Tode Katkows wurde der „Russki Westnik"<br />

von <strong>18</strong>88 bis <strong>18</strong>% in Petersburg herausgegeben, von <strong>18</strong>96 bis 1902 in<br />

Moskau und von 1902 bis 1906 wiederum in Petersburg. 3G8<br />

80 Gemeint sind folgende Fakten: Im November und Dezember 1908 fanden<br />

in Moskau „zu aktuellen Fragen" geschlossene Beratungen der Großindustriellen<br />

(Goujon, Krestownikow u. a.) mit Führern der Kadetten (Struve,<br />

Manuilow, Kiesewetter u. a.) statt.<br />

Im Oktober 1910 erklärte F. A. Golowin, Mitglied der III. Reichsduma,<br />

daß er sein Abgeordnetenmandat niederlege, und bald darauf beteiligte er<br />

sich aktiv an einer Eisenbahnkonzession.<br />

Im März 1912 fangierte W. A. Maklakow, Mitglied der III. Duma, ungeachtet<br />

seines Abgeordnetenmandats als Verteidiger in dem Prozeß gegen<br />

Tagijew, einen Erdöl-Großindustriellen aus Baku, der beschuldigt wurde,<br />

einen seiner Angestellten, den Ingenieur Bebutow, mißhandelt zu haben.<br />

312<br />

81<br />

Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, <strong>Werke</strong>, Bd. 5, Berlin 1964, S. 65 und<br />

283. 323<br />

82<br />

Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, <strong>Werke</strong>, Bd. 19, Berlin 1962, S. 29.<br />

335<br />

83<br />

Nach einer <strong>Red</strong>e des Mitglieds der sozialdemokratischen Fraktion in der<br />

III. Reichsduma A. A. Woiloschnikow über das Wehrpflichtstatut am 2.<br />

(15.) Dezember 1911 beantragte der Dumapräsident, Woiloschnikow für<br />

5 Sitzungen auszuschließen. Nach einer nochmaligen Stellungnahme Woiloschnikows<br />

auf derselben Sitzung sollte die Dauer des Ausschlusses auf<br />

15 Sitzungen erhöht werden. Die Kadetten stimmten für den ersten Antrag<br />

des Präsidenten. 338<br />

84<br />

Siehe A. S. Gribojedow, „Geist bringt Kummer", Berlin 1948, S. 12. 34 i


Anmerkungen 615<br />

85 Das Treffen Miljukows mit dem Außenminister Sasonow, in dessen Verlauf<br />

die Politik der Zarenregierung auf dem Balkan erörtert wurde, fand<br />

Ende September oder Anfang Oktober 1912 statt. 343<br />

8t Gemeint ist der Brief von Karl Marx an L. Kugelmann vom 12. April<br />

<strong>18</strong>71, der eine Einschätzung der Pariser Kommune enthält. (Siehe Karl<br />

Marx/Friedrich Engels, <strong>Werke</strong>, Bd. 33, Berlin 1966, S. 205/206.) 348<br />

87 Siehe das Vorwort von Friedrich Engels zur ersten deutschen Ausgabe von<br />

Karl Marx* Werk „Das Elend der Philosophie", in Karl Marx/Friedrich<br />

Engels, <strong>Werke</strong>, Bd. 4, Berlin 1964, S. 561. 350<br />

88 Siehe „Die KPdSU in Resolutionen und Beschlüssen der Parteitage, Parteikonferenzen<br />

und Plenartagungen des ZK", 7. Auflage, Moskau 1954,<br />

Teil I, S. 164, russ. 366<br />

89 .Lutsd}" (Der Strahl) - legale Tageszeitung der menschewistischen Liquidatoren;<br />

wurde vom 16. (29.) September 1912 bis 5. (<strong>18</strong>.) Juli 1913 in Petersburg<br />

herausgegeben. Es erschienen 237 Nummern. Die Zeitung existierte<br />

in der Hauptsache von Spenden Liberaler. Die ideologische Leitung der<br />

Zeitung lag in den Händen P. B. Axelrods, Th. Dans, L. Martows und<br />

A. S. Martynows. 404<br />

90 Unter „österreidoisdber" Jöderation ist der organisatorische Aufbau der<br />

Sozialdemokratie Österreichs nach Nationalitäten zu verstehen. Auf dem<br />

Wiener Parteitag <strong>18</strong>97 wurde die einheitliche Partei liquidiert und an ihrer<br />

Stelle ein föderativer Bund von sechs nationalen „sozialdemokratischen<br />

Gruppen" geschaffen: der deutschen, tschechischen, polnischen, ruthenischen,<br />

italienischen und südslawischen Gruppe. Alle diese Gruppen wurden<br />

lediglich durch einen Gesamtparteitag und eine Gesamtleitung vereinigt.<br />

Auf dem Brünner Parteitag <strong>18</strong>99 wurde die Gesamtleitung in ein föderatives<br />

Organ, bestehend aus den Exekutivkomitees der nationalen sozialdemokratischen<br />

Parteien, umgewandelt. Das Ergebnis des organisatorischen<br />

Föderalismus war, daß die einheitliche sozialdemokratische Partei Österreichs<br />

zerfiel. 405<br />

91 Die Thesen „Tiber einige <strong>Red</strong>en der Arbeiterdeputierten" lagen der Deklaration<br />

der sozialdemokratischen Fraktion der IV. Duma zugrunde. Das<br />

Manuskript der. Thesen ist nur unvollständig erhalten. Der Annahme der<br />

Deklaration ging ein erbitterter Kampf der bolschewistischen Abgeordneten<br />

gegen die sieben menschewistischen Abgeordneten der Fraktion voraus. Die<br />

bolschewistischen Abgeordneten setzten die Aufnahme der Grundforderungen<br />

der bolschewistischen Plattform in die Deklaration durch, es gelang


616 Anmerkungen<br />

jedoch den Menschewiki, den Punkt mit der Forderung nach nationalkultureller<br />

Autonomie hineinzubringen. Die Deklaration wurde im Namen<br />

der sozialdemokratischen Fraktion in der Sitzung der Duma am 7. (20.)<br />

November 1912 von dem Abgeordneten Malinowski (später als Spitzel<br />

entlarvt) verlesen. Beim Verlesen der Deklaration ließ Malinowski eine<br />

Reihe von Punkten aus, darunter den Punkt über das allgemeine Wahlrecht.<br />

Wegen der Veröffentlichung des Stenogramms der Dumasttzung mit<br />

dem Wortlaut der Deklaration wurde die <strong>Red</strong>aktion der „Prawda" gerichtlich<br />

zur Verantwortung gezogen, und die Zeitung wurde beschlagnahmt.<br />

40«<br />

92 Der Außerordentlidhe Internationale Kongreß der II. Internationale tagte<br />

am 24. und 25. November 1912 in Basel. Am Tage der Eröffnung des<br />

Kongresses fand eine große Antikriegsdemonstration und eine internationale<br />

Protestkundgebung gegen den Krieg statt. Auf der Sitzung des Kongresses<br />

am 25. November wurde einstimmig ein Manifest angenommen,<br />

das die Sozialisten aller Länder aufrief, einen energischen Kampf gegen die<br />

Kriegsgefahr zu führen. 409<br />

93 <strong>Lenin</strong> bezieht sich auf die Unruhen unter den politischen Gefangenen in<br />

den Zuchthäusern Kutomara und Algatschi. Anlaß für die Unruhen war<br />

eine Verfügung des Militärgouverneurs von Transbaikalien vom Ende des<br />

Sommers 19.12 über die Einführung militärischer Regeln im Umgang mit<br />

den politischen Gefangenen im Nertschinsker Verbannungsgebiet. Die<br />

politischen Gefangenen des Zuchthauses Kutomara beantworteten diese<br />

Verfügung mit einem fünfzehntägigen Hungerstreik, viele begingen Selbstmord.<br />

Zu Ereignissen desselben Charakters kam es auch im Zuchthaus<br />

Algatschi. Das Echo auf diese Ereignisse waren Proteststreiks der Arbeiter<br />

von Petersburg, Moskau, Warschau und Riga. Im Namen der sozialdemokratischen<br />

Fraktion und der Trudowiltigruppe wurde in der IV. Duma eine<br />

Interpellation über die Behandlung der politischen Gefangenen eingebracht.<br />

Die Erörterung der Interpellation wurde mit Stimmenmehrheit vertagt und<br />

später nicht wieder aufgenommen. 410<br />

94 Es handelt sich um den Agrarentwurf der Bauerndeputierten (der parteilosen<br />

und rechten), der am 10. (23.) Mai 1908 in der III. Duma zur Erörterung<br />

eingebracht wurde. Der Entwurf sah eise Zwangsenteignung des<br />

Gutsbesitzerlandes, das von den Besitzern nicht selbst bearbeitet wurde,<br />

zum durchschnittlichen Marktpreis vor. Zur Durchführung der Agrarreform<br />

wurde vorgeschlagen, örtliche Bodenkommissionen zu bilden, die durch allgemeine<br />

Abstimmung gewählt werden. Eine Einschätzung dieses Entwurfs


Anmerkungen 617<br />

gab <strong>Lenin</strong> in dem Artikel „Die Agrardebatten in der III. Duma". (Siehe<br />

<strong>Werke</strong>, Bd. 15, S. 301-315.) 41i<br />

95 Das Dokument „ Zur Trage der Arbeiierdeputierten in der Duma und ihrer<br />

Deklaration" ist der Entwurf der Deklaration der sozialdemokratischen<br />

Fraktion. N. K. Krupskaja schrieb das Dokument ab und schickte es am<br />

13. (26.) November 1912 aus Krakau an die bolschewistischen Dumaabgeordneten.<br />

Der Deklarationsentwurf wurde von der zaristischen Polizei abgefangen<br />

und im Jahre 1932 im Archiv des Polizeidepartements aufgefunden.<br />

413<br />

96 Die Demonstration wurde auf Initiative bolschewistischer Vertreter einzelner<br />

Stadtbezirke und Betriebe von Petersburg organisiert. Wenige Tage<br />

vor der Eröffnung der Duma verteilten die Bolschewik) in den Betrieben<br />

ein Flugblatt, das die Arbeiter aufrief, am 15. (28.) November einen eintägigen<br />

politischen Streik und einen Demonstrationszug zum Taurischen<br />

Palast zu organisieren. Die Liquidatoren wandten sich in der Zeitung<br />

„Lutsch" gegen eine Demonstration. Am 13. (26.) November berief die<br />

sozialdemokratische Fraktion der IV. Duma eine Beratung unter Teilnahme<br />

der Vertreter des Petersburger Komitees, der <strong>Red</strong>aktion der „Prawda", des<br />

leitenden Zentrums der Liquidatoren - des Organisationskomitees - und<br />

der Liquidatorenzeitung „Lutsch" ein. Auf der Beratung unterstützten die<br />

Bolschewiki den Vorschlag, den Tag der Eröffnung der Schwarzhunderterduma<br />

mit einem Streik und einer Demonstration zu begehen; die Liquidatoren<br />

sprachen sich kategorisch dagegen aus. Nach der Beratung gab<br />

die sozialdemokratische Fraktion in der Presse die politisch falsche Erklärung<br />

ab, sie stehe dem Streik ablehnend gegenüber. Trotz des Widerstands<br />

der Liquidatoren und der politisch falschen Haltung der sozialdemokratischen<br />

Fraktion streikten am Tage der Eröffnung der Duma Zehntausende<br />

Arbeiter. In einer Reihe von Betrieben wurden Kurzversammlungen<br />

organisiert, auf denen die Arbeiter beschlossen, den „Lutsch" zu<br />

boykottieren. Nach der Demonstration nahmen die bolschewistischen<br />

Dumaabgeordneten in Arbeiterversammlungen zu ihrem Fehler Stellung<br />

und korrigierten sich. 417<br />

97 <strong>Lenin</strong> meint Rodsjankos <strong>Red</strong>e nach seiner Wahl zum Präsidenten der<br />

IV. Duma. In seiner <strong>Red</strong>e sprach Rodsjankovon „unerschütterlicher Treue"<br />

zum Zaren und erklärte sich zum Anhänger eines konstitutionellen Repräsentativsystems,<br />

in<br />

98 Der Brief W.I.<strong>Lenin</strong>s wurde am 28. November (11.Dezember) 1912 geschrieben<br />

und am selben Tag aus Krakau nach Petersburg an J. W. Stalin<br />

40 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>


6<strong>18</strong> Anmerkungen<br />

gesandt. Er war von N. K. Krupskaja mit unsichtbarer Tinte abgeschrieben<br />

worden. Der Brief wurde vom Polizeidepartement abgefangen, dechiffriert<br />

und auf der Schreibmaschine übertragen. Eine Kopie des Briefes wurde<br />

im Archiv des Departements aufgefunden. Bei der Dechiffrierung wurden<br />

einige Worte nicht entziffert, der Brief weist Auslassungen auf. 420<br />

ss 'Jagiello, £. jf. - Mitglied der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) -<br />

wurde von der Stadt Warschau als Abgeordneter in die IV. Duma gewählt.<br />

Die Bolschewiki lehnten kategorisch die Aufnahme Jagiellos in die<br />

sozialdemokratische Fraktion ab, da Jagiello durch die Unterstützung der<br />

Bourgeoisie sowie des Blocks der PPS und des „Bund" in die Duma gelangt<br />

war. Bei der ersten Abstimmung spaltete sich die sozialdemokratische Fraktion:<br />

6 Abgeordnete (Menschewiki) stimmten für die Aufnahme Jagiellos<br />

und 6 (Bolschewiki) dagegen. Mit der Ankunft des Abgeordneten aus Irkutsk<br />

- des rechten Menschewiks Mankow - erhielten die Menschewiki das<br />

Übergewicht, und Jagiello wurde in die sozialdemokratische Fraktion aufgenommen.<br />

Unter dem Druck der bolschewistischen Abgeordneten jedoch<br />

wurden seine Rechte innerhalb der Fraktion eingeschränkt, in allen innerparteilichen<br />

Fragen hatte Jagiello nur beratendes Stimmrecht. 420<br />

100 „Den" (Der Tag) - konspirative Bezeichnung für die „Prawda". 420<br />

101 Der Text des Dokuments weist hier eine Auslassung auf. Kollegium - der<br />

bolschewistische Teil der sozialdemokratischen Fraktion der IV. Duma. 420<br />

102 Im Brief sind einige Worte ausgelassen. „P." - N. G. Poletajew, Bolschewik,<br />

Mitglied der III. Reichsduma. Der Liquidator „"M." ist anscheinend J. Majewski<br />

(Pseudonym W. A. Gutowskis), ein Mitarbeiter der Liquidatorenzeitung<br />

„Lutsch". 422<br />

5" Am 5. (<strong>18</strong>.) Oktober 1912 trat der Kongreß der Bevollmächtigten der Arbeiterkurie<br />

zusammen,- anwesend waren 50 Bevollmächtigte,- von den sechs<br />

vom Kongreß gewählten Wahlmännern waren vier Bolschewiki.<br />

Die zaristische Regierung, die einen Sieg der Sozialdemokraten in der<br />

Arbeiterkurie fürchtete, annullierte die Bevollmächtigtenwahlen in 21<br />

Petersburger Betrieben. Als Antwort darauf rief das Petersburger Komitee<br />

die Arbeiter zu einem eintägigen politischen Streik auf. Der Streik erfaßte<br />

etwa 100000 Arbeiter. Die Regierung war gezwungen nachzugeben und<br />

schrieb Ergänzungswahlen aus. Bei der abermaligen Wahl der Wahlmänner<br />

fand die Abstimmung nicht nach Plattformen statt. Das Ergebnis war,<br />

daß 3 Bolschewiki und 3 Liquidatoren gewählt wurden. Zur Bestimmung<br />

des Kandidaten der Arbeiterkurie für die Duma schlugen die Bolschewiki<br />

den Liquidatoren eine Entscheidung durch Auslosung vor. Die Liquidatoren


Anmerkungen 619<br />

lehnten die Entscheidung durch das Los ab. Auf dem Gouvernementskongreß<br />

der Wahlmänner wurde als Deputierter der Arbeiterkurie des Gouvernements<br />

Petersburg der Bolschewik A. J. Badajew gewählt. 422<br />

IM Der Brief wurde von N. K. Krupskaja mit unsichtbarer Tinte zwischen<br />

die Zeilen eines anderen Briefes geschrieben. Das Dokument wurde in<br />

den Akten des Polizeidepartements zwischen perlustrierten Briefen gefunden.<br />

TVassiljeiv - J. W, Stalin. 423<br />

105 Das 3lugb1att zum 9. Januar i913 wurde auf der Grundlage der Hinweise<br />

in diesem Brief verfaßt und mit folgenden Unterschriften herausgegeben:<br />

Petersburger Komitee der SDAPR, Zentralbüro der Gewerkschaften und<br />

Komitee des Moskauer Bezirks der SDAPR. 423<br />

106 Gemeint ist der rechte Menschewik I. N. Mankow, Abgeordneter der IV.<br />

Duma. 423<br />

107 <strong>Lenin</strong> meint die Delegierten zum V. Parteitag der SDAPR. 430<br />

103 <strong>Lenin</strong> meint die sozialdemokratische Fraktion der II. Reichsduma. 43i<br />

109 Der Kongreß der „Progressiven" fand vom 11. bis 13. (24. bis 26.) November<br />

1912 statt. Auf dem Kongreß wurde die Taktik der Fraktion in der<br />

IV. Duma erörtert. Der Kongreß nahm einen Beschluß über die organisatorische<br />

Formierung der „Progressisten"gruppen zu einer Partei an. Dem<br />

Programm der neuen Partei wurde die Forderung nach einer konstitutionellmonarchistischen<br />

Ordnung zugrunde gelegt.<br />

Organ der „Progressisten" wurde die Zeitung „Russkaja Molwa" (Russische<br />

Stimme), die von 1912 bis 1913 in Petersburg herausgegeben wurde.<br />

434<br />

"° „Slowo" (Das Wort) - Tageszeitung; erschien von 1903 bis 1909 in Petersburg.<br />

Von November 1905 bis Juli 1906 war sie Organ der Oktobristen und<br />

danach Organ der konstitutionell-monarchistischen Partei der „friedlichen<br />

Erneuerer", die <strong>Lenin</strong> die „Partei der friedlichen Ausplünderung" nannte.<br />

436<br />

111 Die Beratung des ZX der ST>JPJt. mit Parteifunktionären, die aus konspirativen<br />

Gründen als „Februar"beratung bezeichnet wurde, fand vom<br />

26. Dezember 1912 bis 1. Januar 1913 (8. bis 14. Januar 1913) in Krakau<br />

statt. An der Beratung nahmen 14 Personen teil, darunter Mitglieder des<br />

ZK und bolschewistische Abgeordnete der IV-Reichsduma. Die Beratung<br />

wurde unter <strong>Lenin</strong>s Vorsitz durchgeführt; er Sprach zu einer Reihe von<br />

Fragen, schrieb die Resolutionen und die Mitteilung über die Beratung.


620 Anmerkungen<br />

Die Beratung nahm Beschlüsse zu den. wichtigsten Fragen der Arbeiterbewegung<br />

an, sie erörterte die Berichte der lokalen Vertreter über die<br />

Lage in den Parteiorganisationen und die Arbeit der <strong>Red</strong>aktion der „Prawda"<br />

und der Zeitschrift „Prosweschtsdienije".<br />

Die Resolutionen der Beratung wurden vom ZK bestätigt und hektographiert<br />

herausgegeben. In der ersten Februarhälfte wurden die Resolutionen<br />

zusammen mit der „Mitteilung" als Broschüre in Paris veröffentlicht. Im<br />

April 1913 empfahl das Auslandsbüro des ZK der Partei in einem Rundschreiben<br />

den Parteiorganisationen, den Bevollmächtigten des ZK und den<br />

einzelnen Parteifunktionären, die Beschlüsse der „Februar"beratung in den<br />

Komitees, in den Parteizellen und Zirkeln zu erörtern. In einem Brief an<br />

A. M. Gorki bemerkte W. I. <strong>Lenin</strong>, daß die Beratung „sehr gut gewesen<br />

ist und noch eine Rolle spielen wird". 439<br />

112 Gemeint ist die Stellungnahme des menschewistischen Abgeordneten A. I.<br />

Tschchenkeli zur Regierungserklärung in der Dumasitzung vom 10. (23.)<br />

Dezember 1912. 453<br />

U3 Bei der vom II. Parteitag der SDAPR abgelehnten Formulierung handelt es<br />

sich um den Vorschlag des Bundisten Goldblatt, in den Paragraphen 8 des<br />

Parteiprogramms über das „Selbstbestimmungsrecht aller Nationen, die<br />

dem Staatsverband angehören" einen Zusatz aufzunehmen: „unddieGründung<br />

von Institutionen, die ihnen die volle Freiheit der kulturellen Entwicklung<br />

garantieren". 453<br />

i» In der Sitzung der IV. Duma am 15. (28.) Dezember 1912, nach Abbruch<br />

der Debatte über die Regierungserklärung, wurden von den Kadetten, den<br />

„Progressisten", den Trudowiki und den Nationalisten Anträge auf Übergang<br />

zur Tagesordnung eingebracht. Mit Stimmenmehrheit wurde der Antrag<br />

der „Progressisten" angenommen, in dem die Überzeugung ausgesprochen<br />

wird, daß die Regierung das Manifest vom 17. Oktober 1905 verwirklichen<br />

wird. Für diesen Antrag stimmten auch die Sozialdemokraten.<br />

Später erkannten sie ihre Stimmabgabe als falsch an. 453<br />

115 In den nicht veröffentlichten Punkten (7, 8 und 9) der Resolution über die<br />

Arbeit der sozialdemokratischen Dumafraktion forderte die Beratung die<br />

bolschewistischen Abgeordneten auf, die Gleichstellung mit den sieben menschewistischen<br />

Abgeordneten innerhalb der Fraktion anzustreben, ihre<br />

Namen aus der Mitarbeiterliste der Zeitung „Lutsch" zu streichen und sich<br />

zur Parteiarbeit zusammenzuschließen. Der Text dieser Punkte der Resolution<br />

istnicht erhaltenr453<br />

116 <strong>Lenin</strong> zitiert Worte aus dem Arbeiterlied des deutschen Dichters Georg


Anmerkungen 621<br />

Herwegh, das dieser im Jahre <strong>18</strong>64 für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein<br />

schrieb. 460<br />

117 Gemeint sind Korrespondenzen aus Riga und Moskau, die am 12. (25.)<br />

Januar 1913 in Nr. 30 des „Sozial-Demokrat" veröffentlicht wurden. Sie<br />

berichten von Streiks und Demonstrationen der Arbeiter. Am 11. (24.) November<br />

1912 organisierten die Arbeiter Rigas eine Protestdemonstration<br />

gegen die Todesurteile, die das Marinegericht von Sewastopol gegen zehn<br />

Matrosen des Panzerkreuzers „Joann Slatoust" ausgesprochen hatte, gegen<br />

die Mißhandlungen der politischen Gefangenen im Zuchthaus von Kutomara<br />

und gegen den ausgebrochenen Balkankrieg. Ober 1500 Arbeiter zogen<br />

durch die Straßen von Riga, wobei sie die Sympathie der Bevölkerung<br />

fanden. Am 12. (25.) November begann in vielen Großbetrieben Rigas ein<br />

politischer Streik. Am 8. (21.) November streikten die Arbeiter einer Reihe<br />

von Fabriken in Moskau. Es wurde der Versuch unternommen, eine Demonstration<br />

zu organisieren, aber die Polizei jagte die sich versammelnden<br />

Arbeiter auseinander. 466<br />

"» H>. A. - W.-M. Abrossimow, menschewistischer Liquidator, später als Spitzel<br />

entlarvt.<br />

Jb. T>. - Th. I. Dan, einer der Führer der Liquidatoren. 470<br />

H9 Das Manuskript trägt keine Überschrift. Die Überschrift stammt vom Institut<br />

für Marxismus-<strong>Lenin</strong>ismus beim ZK der KPdSU in Moskau. 471<br />

120 Awjustowski - Pseudonym des menschewistischen Liquidators S. O. Zeder-<br />

baum. 476<br />

121 Der Artikel „Tiber den Bohdheivismus" wurde für den zweiten <strong>Band</strong> des<br />

Sammelwerkes von N. A. Rubakin „Unter Büchern" verfaßt. <strong>Lenin</strong> schickte<br />

diesen Artikel am 12. (25.) Januar 1913 mit einem Begleitbrief ab, in dem<br />

er für die Veröffentlichung die Bedingung stellte, daß „keinerlei Änderungen<br />

irgendwelcher Art vorgenommen werden". Der Artikel wurde vollständig<br />

veröffentlicht. 477<br />

1 22 <strong>Lenin</strong> zitiert Worte aus dem Gedicht D. W. Dawydows „Lied eines alten<br />

Husaren". (Siehe D. W. Dawydow, Sämtliche Gedichte, 1933, S. 106,<br />

russ.) 483<br />

123 <strong>Lenin</strong> meint folgenden Satz aus dem „Manifest der Kommunistischen Partei"<br />

: „Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen<br />

Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet." (Siehe Karl Marx/<br />

Friedrich Engels, <strong>Werke</strong>, Bd. 4, Berlin 1964, S. 464.) 484<br />

124 <strong>Lenin</strong> zitiert in eigener Übersetzung aus der Schrift von Karl Marx „Zur


622 Anmerkungen<br />

Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung." (Siehe Karl Marx/<br />

Friedrich Engeis, <strong>Werke</strong>, Bd. 1, Berlin 1969, S. 379.) 484<br />

125 Unter „Ropsdbinsdben Emotionen" versteht <strong>Lenin</strong> die reaktionären Ideen<br />

und dekadenten Stimmungen, die in den Jahren der Reaktion weite Verbreitung<br />

unter der Sozialrevolutionären Intelligenz gefunden hatten und<br />

ihren klarsten Ausdruck in den literarischen <strong>Werke</strong>n Ropschins (B. Sawinkows)<br />

fanden. 489<br />

126 7. £-ko - Pseudonym <strong>Lenin</strong>s. 499<br />

127 Es handelt sich um die Wahlen zur IV. Reichsduma in Riga und Jekaterinodar,<br />

wo die Kadetten gemeinsam mit den Schwarzhunderterparteien gegen<br />

die sozialdemokratischen Kandidaten gestimmt hatten. 503<br />

128 .Votsdbin" („L'Initiative") - Zeitschrift liquidatorisch-volkstümlerischer<br />

Richtung; wurde von einer Gruppe von Sozialrevolutionären herausgegeben.<br />

Es erschien nur eine Nummer im Juni 1912 in Paris. 507<br />

<strong>Lenin</strong> meint die Beschlüsse der Fünften Konferenz der SDAPR im Jahre<br />

1908 und der Beratung der erweiterten <strong>Red</strong>aktion des „Proletari" im Juni<br />

1909. (Siehe „Die KPdSU in Resolutionen und Beschlüssen der Parteitage,<br />

Parteikonferenzen und Plenartagungen des ZK", 7. Auflage, Teil I, Moskau<br />

1954, S. 195-205, 212-232, russ.) 51i<br />

130 j[m w. P. - Pseudonym A. W. Peschechonows, eines Führers der Partei der<br />

„Volkssozialisten". 517<br />

131 7Jikoiai-on - Pseudonym N. F. Danielsons, eines Ideologen der liberalen<br />

Volkstümlerrichtung der achtziger und neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts.<br />

517<br />

132 Der nur für Parteimitglieder bestimmte Artikel „An die Sozialdemokraten''<br />

wurde in Krakau als hektographierte Flugschrift herausgegeben. 522<br />

133 Die Erklärungen des Ministers für Volksbildung Kasso in der Duma waren<br />

durch eine Interpellation von 44 Dumaabgeordneten am 14. (27.) Dezember<br />

1912 anläßlich der Verhaftung von 34 Schülern der Mittelschulen von<br />

Petersburg während einer Versammlung in dem privaten Gymnasium Witmer<br />

veranlaßt worden. Die Schüler wurden von der Ochranaabteilung verdächtigt,<br />

einem illegalen Zirkel anzugehören. Die Interpellation wurde in<br />

fünf Dumasitzungen erörtert. Am 6. (19.) Februar 1913 wurde mit Stimmenmehrheit<br />

ein Antrag auf Übergang zur Tagesordnung angenommen,<br />

der die Erklärungen des zaristischen Ministers als unbefriedigend bezeichnete.<br />

564


Anmerkungen 623<br />

134 £)je von ^ i <strong>Lenin</strong> zitierten Worte sind eine Abwandlung eines Zweizeilers<br />

aus dem „Wiegenlied" von N. A. Nekrassow:<br />

Wirst Beamter Du im Äußern,<br />

im Herzen doch ein Schuft.<br />

(Siehe N. A. Nekrassow, Ausgewählte <strong>Werke</strong>, 1947, S. 4, russ.) 587<br />

135 jn der vorliegenden Ausgabe ist in dem Artikel „Der ,frei verfügbare Bestand'"<br />

nach den Worten „staatliche Taschenspielerei" bis zu dem Satz<br />

„Ein hübsches Beispiel für Raubwirtsdbaft" eine 1941 entdeckte Einfügung<br />

aufgenommen, die im Text des zum erstenmal in der „Prawda" Nr. 62 vom<br />

15. März 1913 veröffentlichten Artikels und in der zweiten resp. dritten<br />

Ausgabe der <strong>Werke</strong> W. I. <strong>Lenin</strong>s nicht enthalten ist. 595


DATEN AUS DEM LEBEN UND WIRKEN<br />

W.I.LENINS<br />

(April 1912 bis März 1913)


April bis letzte<br />

"Junidekade<br />

Cn. St.)<br />

22. April<br />

(5. Mai)<br />

25. April<br />

(8. Mai)<br />

26. April<br />

(9. Mai)<br />

6. (19.) Mai<br />

1912<br />

<strong>Lenin</strong> lebt in Paris.<br />

627<br />

Es erscheint die erste Nummer der legalen bolschewistischen<br />

Tageszeitung „Prawda".<br />

<strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Wahlkampagne zur IV. Duma und die<br />

Aufgaben der revolutionären Sozialdemokratie", „Die Liquidatoren<br />

gegen die Partei" und „Dem Gedächtnis Herzens"<br />

werden in Nr. 26 des „Sozial-Demokrat" veröffentlicht.<br />

<strong>Lenin</strong> spricht in der Sitzung der Pariser Sektion der Auslandsorganisation<br />

der SDAPR über das Blutbad an der Lena,<br />

die Streiks in Rußland und die auf Grund dieser Ereignisse<br />

erforderliche Taktik der Partei.<br />

<strong>Lenin</strong>s Artikel „Der Grundbesitz im Europäischen Rußland"<br />

erscheint in Nr. 3 der „Newskaja Swesda".<br />

8. und 9. (21. <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Trudowiki und die Arbeiterdemokratie"<br />

und 22.) Mai erscheint in Nr. 13 und 14 der „Prawda".<br />

10. (23.) Mai <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die politischen Parteien in Rußland" erscheint<br />

in Nr. 5 der „Newskaja Swesda".<br />

22. Mai (4. Juni) <strong>Lenin</strong>s Artikel „Das Wesen der .Agrarfrage in Rußland'"<br />

und „Einige Ergebnisse der Mobilisierung für die Wahlen"<br />

erscheinen in Nr. 6 der „Newskaja Swesda".


628 Daten aus dem Leben und Wirken TV. 3. <strong>Lenin</strong>s<br />

31. Mai <strong>Lenin</strong> hält in der Salle de L'Alcazar auf einer von der Pariser<br />

(13. Juni) Sektion der Auslandsorganisationen der SDAPR einberufenen<br />

Versammlung ein Referat über das Thema „Der revolutionäre<br />

Aufschwung des russischen Proletariats".<br />

<strong>Lenin</strong>s Artikel „Wirtschaftlicher und politischer Streik" erscheint<br />

in Nr. 10 der „Newskaja Swesda".<br />

3. (16.) "Juni <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Frage der Umsiedlung" erscheint in<br />

Nr. 11 der „Newskaja Swesda".<br />

4. (17.) Juni <strong>Lenin</strong>s Artikel „Der revolutionäre Aufschwung", „Die Losungen<br />

der Gesamtrussischen Konferenz der SDAPR im Januar<br />

1912 und die Maibewegung", „Die Liquidatoren gegen den<br />

revolutionären Massenstreik" und „,Vereiniger'" erscheinen<br />

in Nr. 27 des „Sozial-Demokrat".<br />

<strong>Lenin</strong> hält in Leipzig ein Referat „über den revolutionären<br />

Aufschwung in Rußland".<br />

10. (23.) Juni <strong>Lenin</strong> übersiedelt von Paris nach krakau, um festere Verbindungen<br />

mit Rußland herzustellen und die Anleitung der<br />

bolschewistischen Dumafraktion und der <strong>Red</strong>aktion der<br />

„Prawda" zu verbessern.<br />

<strong>Lenin</strong>s Artikel „Ober den Charakter und die Bedeutung<br />

unserer Polemik mit den Liberalen" erscheint in Nr. 12 der<br />

„Newskaja Swesda".<br />

17. (30.) Juni <strong>Lenin</strong>s Artikel „Kapitalismus und ,Parlament'" erscheint in<br />

Nr. 13 der „Newskaja Swesda".<br />

21. Juni <strong>Lenin</strong> bezieht in Krakau in der Ulica Zwierzyniec Nr. 2<strong>18</strong><br />

(4. Juli) Quartier.<br />

24. Juni <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Wahlen und die Opposition" erscheint<br />

(7. Juli) in Nr. 14 der „Newskaja Swesda".<br />

Ende Juni <strong>Lenin</strong> schreibt den Artikel „Die Lage in der SDAPR und die<br />

nächsten Aufgaben der Partei". Der Artikel erscheint am<br />

3. (16.) Juli in Nr. 15/16 der „Gazeta Robotnicza" (Organ<br />

der Opposition der Sozialdemokratie Polens und Litauens,<br />

der „Rozlamowcy").


Daten aus dem Leben und "Wirken TV. 1. <strong>Lenin</strong>s 629<br />

I. (l4.)Juli <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Bedeutung der Wahlen in Petersburg"<br />

und „Ein Vergleich des Stolypinschen Agrarprogramms mit<br />

dem der Volkstümler" erscheinen in Nr. 15 der „Newskaja<br />

Swesda".<br />

6. (19.) Juli <strong>Lenin</strong> schreibt einen Brief an die <strong>Red</strong>aktion der „Prawda",<br />

in dem er Trotzki als niederträchtigen Lügner und Intriganten<br />

entlarvt.<br />

Vor dem <strong>Lenin</strong> schreibt an die <strong>Red</strong>aktion der „Prawda" die Notiz<br />

II. (24.) Juli „Antwort an die Liquidatoren", in der er fordert, bei den<br />

Wahlen zur IV. Duma einen entschiedeneren Kampf gegen<br />

die Liquidatoren zu führen.<br />

11. (24 JJuli <strong>Lenin</strong> schreibt einen Brief an die <strong>Red</strong>aktion der „Newskaja<br />

Swesda", in dem er die <strong>Red</strong>aktion wegen ihrer Angst vor<br />

einer Polemik mit den Liquidatoren scharf verurteilt.<br />

12. f 25 J Juli <strong>Lenin</strong>s Artikel „In der Schweiz" erscheint in Nr. 63 der<br />

„Prawda".<br />

12.-14. (25.-27.) <strong>Lenin</strong> schreibt den Artikel „Ergebnisse der Arbeit eines hal-<br />

Juli ben Jahres" und sendet ihn mit einem Hinweis über die<br />

Veröffentlichung des Artikels an die <strong>Red</strong>aktion der „Prawda".<br />

Der Artikel erscheint in den Nummern 78, 79, 80 und<br />

81 der „Prawda" vom 29. und 31. Juli (11. und 13. August)<br />

und 1. und 2. (14. und 15.) August.<br />

15. (28.) Juli <strong>Lenin</strong>s Artikel „Demokratie und Volkstümlerideologie in<br />

China" erscheint in Nr. 17 der „Newskaja Swesda".<br />

<strong>Lenin</strong>s Artikel „Der Parteitag der italienischen Sozialisten"<br />

und „Russische <strong>Red</strong>efreiheit'" erscheinen in Nr.66 der<br />

„Prawda".<br />

17. (30.) Juli <strong>Lenin</strong> verfaßt in Beantwortung eines Schreibens des Parteivorstands<br />

der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands<br />

über die Einberufung einer Beratung der im Ausland bestehenden<br />

Partei„zentren" und -„gruppen" zwecks Herstellung<br />

der Einheit und der Aufteilung der Gelder, die die<br />

Führung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands für<br />

die Wahlkampagne zur IV. Duma zur Verfügung gestellt<br />

hatte, den Te^t eines Briefes des ZK der SDAPR. Der Brief<br />

bildet den Hauptinhalt der Broschüre „Zur gegenwärtigen<br />

Sachlage in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands".


630 Daten aus dem Leben und Wirken TV. 1. <strong>Lenin</strong>s<br />

19.Juli <strong>Lenin</strong> schreibt einen Brief an die <strong>Red</strong>aktion der „Prawda", in<br />

(1. August) dem er um Mitteilung ersucht, ob die <strong>Red</strong>aktion beabsichtigt,<br />

im Zusammenhang mit den Wahlen zur IV. Duma eine<br />

gegen die Liquidatoren gerichtete Rubrik einzuführen.<br />

<strong>Lenin</strong> schreibt A. M. Gorki einen Brief, in dem er ihn über<br />

den revolutionären Aufschwung in Rußland und über das<br />

Erscheinen der Arbeitertageszeitung „Prawda" informiert.<br />

20. Juli <strong>Lenin</strong> schreibt einen Brief an die <strong>Red</strong>aktion der „Prawda", in<br />

(2. August) dem er darauf hinweist, daß es notwendig ist, vor den Wahlen<br />

zur IV. Duma gegen die kadettische Presse „den Kampf<br />

noch stärker zu entfachen".<br />

<strong>Lenin</strong>s Artikel „Kapitalismus und Volkskonsum" erscheint<br />

in Nr. 70 der „Prawda".<br />

22. und 29. Juli <strong>Lenin</strong>s Artikel „Wie P. B. Axelrod die Liquidatoren entlarvt"<br />

(4. und 11. erscheint in Nr. <strong>18</strong> und 19 der „Newskaja Swesda".<br />

August)<br />

25. Juli <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Liberalen und die Klerikalen" erscheint<br />

(7. August) in Nr. 74 der „Prawda".<br />

26. Juli <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Kadetten und die Demokratie" erscheint<br />

(8. August) in Nr. 75 der „Prawda".<br />

28. Juli <strong>Lenin</strong>s Artikel „Der Feldzug der Liberalen" erscheint in<br />

(10. August) Nr. 77 der „Prawda".<br />

30. Juli <strong>Lenin</strong>s Artikel „Aufstände in Armee und Flotte", „Am Vor-<br />

02. August) abend der Wahlen zur IV. Duma", „Kann heute die Losung<br />

der Koalitionsfreiheit' die Grundlage der Arbeiterbewegung<br />

bilden?" erscheinen in Nr. 9 der „Rabotschaja Gaseta".<br />

31. Juli <strong>Lenin</strong>s Artikel „Grundsatzfragen" erscheint in Nr. 79 der<br />

(13. August) „Prawda".<br />

Ende Juli bis <strong>Lenin</strong>s „Brief an die Schweizer Arbeiter" erscheint als hekto-<br />

Anfang August graphierte Flugschrift in deutscher Sprache in Zürich.<br />

5. (IS.) August <strong>Lenin</strong>s Artikel „Das letzte Ventil" erscheint in Nr. 20 der<br />

„Newskaja Swesda".


Daten aus dem Leben und "Wirken W. 1. <strong>Lenin</strong>s 631<br />

8. (21.) August <strong>Lenin</strong>s Artikel „Kleine Information" und „Die Löhne der<br />

Arbeiter und die Profite der Kapitalisten in Rußland" erscheinen<br />

in Nr. 85 der „Prawda".<br />

P. (22 .) August <strong>Lenin</strong>s Artikel „Streikkampf und Arbeitslohn" erscheint in<br />

Nr. 86 der „Prawda".<br />

11. und 12. <strong>Lenin</strong>s Artikel „Der Arbeitstag in den Fabriken des Gou-<br />

(24. und 25.) vernements Moskau", „In England" und „Die Konzentration<br />

August der Produktion in Rußland" erscheinen in Nr. 88 und 89<br />

der „Prawda".<br />

12. (25.) August <strong>Lenin</strong>s Artikel „Arbeitstag und Arbeitsjahr im Gouvernement<br />

Moskau" erscheint in Nr. 21 der „Newskaja Swesda".<br />

<strong>18</strong>. (31.) August <strong>Lenin</strong>s Artikel „Karriere" erscheint in Nr. 94 der „Prawda".<br />

<strong>Lenin</strong> schreibt einen Brief „An das Sekretariat des Internationalen<br />

Sozialistischen Büros", in dem er gegen das Schreiben<br />

des Hauptvorstands der Sozialdemokratie des Königreichs<br />

Polen und Litauens protestiert, das das Internationale Sozialistische<br />

Büro von der Spaltung unter den polnischen Sozialdemokraten<br />

unterrichtet.<br />

19. August <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Kadetten und die Agrarfrage" erscheint<br />

(l. September) in Nr. 22 der „Newskaja Swesda".<br />

21. August <strong>Lenin</strong>s Artikel „Eine schlechte Verteidigung" erscheint in<br />

(3. September) Nr. 96 der „Prawda".<br />

22. August <strong>Lenin</strong> bezieht in Krakau in der- Ulica Lubomirskiego Nr. 47<br />

(4. September) Quartier.<br />

24. August <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Liquidatoren und die ,Einheit'" erscheint<br />

(6. September) in Nr. 99 der „Prawda".<br />

26. August <strong>Lenin</strong>s Artikel „Lektion über die ,Kadettenfresserei'" er-<br />

(8. September) scheint in Nr. 23 der „Newskaja Swesda".<br />

29. August <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Arbeiter und die ,Prawda' " erscheint in<br />

(l 1. September) Nr. 103 der „Prawda".<br />

30. August <strong>Lenin</strong>s Artikel „Einst und jetzt" und „Der internationale<br />

(12. September) Richtertag" erscheinen in Nr. 104 der „Prawda".


632<br />

Daten aus dem Leben und Wirken TV. J. <strong>Lenin</strong>s<br />

31. August <strong>Lenin</strong>s Artikel „In der Schweiz" erscheint in Nr. 105 der<br />

(13. September) „Prawda".<br />

1. (14.) <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Geistlichkeit und die Politik" erscheint<br />

September in Nr. 106 der „Prawda".<br />

2. (15.) <strong>Lenin</strong> schreibt das Postskriptum zu der Broschüre „Zur<br />

September gegenwärtigen Sachlage in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei<br />

Rußlands".<br />

2. und 9. <strong>Lenin</strong>s Artikel „Noch ein Feldzug gegen die Demokratie"<br />

f 15. und 22.) erscheint in Nr. 24 und 25 der „Newskaja Swesda".<br />

September<br />

5. (<strong>18</strong>.) <strong>Lenin</strong>s Artikel ^Eintracht zwischen den Kadetten und den<br />

September Leuten vom ,Nowoje Wremja'" erscheint in Nr. 109 der<br />

„Prawda".<br />

15. (28.) <strong>Lenin</strong>s Artikel „Zu dem Brief von N. S. Poljanski" erscheint<br />

September in Nr. 1<strong>18</strong> der „Prawda".<br />

16.(29.) <strong>Lenin</strong>s Artikel „über die politische Linie" erscheint in Nr. 26<br />

September der „Newskaja Swesda".<br />

<strong>18</strong>. September <strong>Lenin</strong>s Artikel „Erfolge der amerikanischen Arbeiter" er-<br />

(l, Oktober) scheint in Nr. 120 der „Prawda".<br />

28. September <strong>Lenin</strong>s Artikel „Das Ende des Krieges zwischen Italien und<br />

(i 1. Oktober) der Türkei" erscheint in Nr. 129 der „Prawda".<br />

Zweite Sep- <strong>Lenin</strong>s Broschüre „Zur gegenwärtigen Sachlage in der Sotemberbälfte<br />

zialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands" erscheint in<br />

deutscher Sprache in Leipzig.<br />

Anfang <strong>Lenin</strong> schreibt einen Brief an A. M. Gorki, in dem er ihn<br />

Oktober über den Verlauf der Wahlen zur IV. Duma unterrichtet und<br />

ihn bittet, für die „Prawda" zu schreiben.<br />

4.(17.) <strong>Lenin</strong>s Artikel „Ein Hasardspiel" erscheint in Nr. 134 der<br />

Oktober „Prawda".<br />

<strong>Lenin</strong> schreibt einen Brief an A. M. Gorki, in dem er ihn<br />

bittet, ständiger Mitarbeiter der „Prawda" zu werden.


Daten aus dem Leben und Wirken IV. 1 <strong>Lenin</strong>s 633<br />

5.(<strong>18</strong>.) <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Geistlichkeit bei den Wahlen und die<br />

Oktober Wahlen mit der Geistlichkeit" erscheint in Nr. 17 der „Newskaja<br />

Swesda".<br />

6. (19.) <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die ,Position' des Herrn Milfukow" erscheint<br />

Oktober in Nr. 136 der „Prawda".<br />

12. (25.) <strong>Lenin</strong> schreibt einen Brief an N. G. Poletajew mit Hinweisen<br />

Oktober für die <strong>Red</strong>aktion der „Prawda": die Wahlplattform der<br />

Bolschewiki vor dem Kongreß der Bevollmächtigten der Arbeiterkurie<br />

Petersburgs entschiedener zu vertreten, die Listen<br />

der bolschewistischen Wahlmänner-Kandidaten vollständig<br />

zu veröffentlichen und den Wahlen zur Duma eine Sondernummer<br />

der „Prawda" zu widmen.<br />

16. (29.) <strong>Lenin</strong>s Artikel „Der Abgeordnete der Petersburger Arbei-<br />

Oktober ter" und „Die Balkanvölker und die europäische Diplomatie"<br />

erscheinen in Nr. 144 der „Prawda".<br />

<strong>18</strong>. (31.) <strong>Lenin</strong>s Artikel „Der Fuchs und der Hühnerstall" und „Eine<br />

Oktober schändliche Resolution" erscheinen in Nr. 146 der „Prawda".<br />

19. Oktober <strong>Lenin</strong>s Artikel „Der Kadettenprofessor" erscheint in Nr. 147<br />

(l. November) der „Prawda".<br />

21. Oktober <strong>Lenin</strong>s Artikel „Ein neues Kapitel der Weltgeschichte" er-<br />

(3. November) scheint in Nr. 149 der „Prawda".<br />

24. Oktober <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Kadetten und die Nationalisten" er-<br />

(6. November) scheint in Nr. 151 der „Prawda".<br />

28. Oktober <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Schrecken des Krieges" erscheint in<br />

(iO.November) Nr. 155 der „Prawda".<br />

Oktober <strong>Lenin</strong> schreibt den Artikel „Englische Meinungsverschiedenheiten<br />

über liberale Arbeiterpolitik"; der Artikel erscheint<br />

1913 in Nr. 4 der Zeitschrift „Prosweschtschenije".<br />

<strong>Lenin</strong> schreibt den Artikel „Zwei'Utopien".<br />

Anfang <strong>Lenin</strong> schreibt als Anleitung für die Ausarbeitung der De-<br />

November klaration der sozialdemokratischen Fraktion die Thesen<br />

„Ober einige <strong>Red</strong>en der Arbeiterdeputierten".<br />

i. (14.) <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Kadetten und die Großbourgeoisie" er-<br />

November scheint in Nr. 157 der „Prawda".<br />

41 <strong>Lenin</strong>, JFerke, Bd. <strong>18</strong>


634<br />

Daten aus dem Leben und Wirken W. J. <strong>Lenin</strong>s<br />

4.(il.) <strong>Lenin</strong>s Artikel „Echt russische Sitten" erscheint in Nr. 160<br />

November der „Prawda".<br />

5. (lSj <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Plattform der Reformisten und die Platt-<br />

November form der revolutionären Sozialdemokraten" und „Illegale<br />

Partei und legale Arbeit" erscheinen in Nr. 28/29 des<br />

„Sozial-Demokrat".<br />

7. (20J <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die soziale Bedeutung der serbisch-bulgari-<br />

November sehen Siege" erscheint in Nr. 162 der „Prawda".<br />

8. (21J <strong>Lenin</strong>s Artikel „Das erneuerte China" erscheint in Nr. 163<br />

November der „Prawda".<br />

9. (22J <strong>Lenin</strong>s Artikel „Ergebnis und Bedeutung der Präsident-<br />

November schaftswahlen in Amerika" erscheint in Nr. 164 der „Prawda".<br />

12. oder i3. <strong>Lenin</strong> führt eine Sitzung des ZK durch, auf der die finanzielle<br />

(25. oder 26.) Krise in der <strong>Red</strong>aktion der „Prawda" beraten wird.<br />

November<br />

13.(26.) <strong>Lenin</strong> sendet den bolschewistischen Abgeordneten der IV.<br />

November Duma den von ihm verfaßten Entwurf einer Deklaration<br />

der sozialdemokratischen Fraktion.<br />

Zweite Novem- <strong>Lenin</strong> schreibt den Artikel „Zu dem Ereignis vom 15. Noberhälfte<br />

vember (Eine nichtgehaltehe <strong>Red</strong>e)".<br />

23. November <strong>Lenin</strong> schreibt einen Brief über die Vorbereitung eines ein-<br />

(6. Dezember} tägigen Streiks und von Kundgebungen und Demonstrationen<br />

zum Jahrestag des 9. Januar sowie über die Aufgaben<br />

der bolschewistischen Abgeordneten der IV. Duma im Kampf<br />

gegen die Liquidatoren.<br />

28. November <strong>Lenin</strong> sendet über die <strong>Red</strong>aktion der Zeitschrift „Proswe-<br />

(il. Dezember) schtschenije" in Petersburg den bolschewistischen Abgeordneten<br />

einen Fragebogen zur Zusammenfassung der Wahlergebnisse<br />

in der Arbeiterkurie.<br />

<strong>Lenin</strong> schreibt einen Brief mit Resolntionsentwürfen für die<br />

bolschewistischen Abgeordneten der IV. Duma zur Frage der<br />

Aufnahme des Abgeordneten Jagiello in die sozialdemokratische<br />

Fraktion und über die Stellung zum Streik am Tage der<br />

Eröffnung der Duma.


"Daten aus dem Leben und Wirken IV. 1. <strong>Lenin</strong>s 635<br />

29. November <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Krankheit des Reformismus" erscheint<br />

(12. Dezember) in Nr. <strong>18</strong>0 der „Prawda".<br />

30. November <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Verelendung in der kapitalistischen<br />

(13. Dezember) Gesellschaft" erscheint in Nr. <strong>18</strong>1 der „Prawda".<br />

November <strong>Lenin</strong> schreibt den Artikel „ ,Brennende Fragen' unserer Partei.<br />

Die Frage der Liquidatoren' and die nationale' Frage".<br />

Der Artikel wird zum erstenmal im August 1913 in Nr. 1<br />

des vom Warschauer und Lodzer Komitee der sozialdemokratischen<br />

Partei Polens und Litauens herausgegebenen „Pismo<br />

Dyskusyjne" veröffentlicht.<br />

12. (25.) <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Arbeiterklasse und ihre ,parlamentari-<br />

Dezember sehe' Vertretung" erscheint in Nr. 191 der „Prawda".<br />

15. (28.) <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die ,Versöhnung' der Nationalisten mit den<br />

Dezember Kadetten" erscheint in Nr. 194 der „Prawda".<br />

22. Dezember <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Nationalliberalen" erscheint in Nr. 200<br />

(4. Januar 1913) der „Prawda".<br />

Dezember <strong>Lenin</strong> schreibt für die „Februar"berätung des ZK der<br />

SDAPR mit Parteifunktionären die Thesen „Ober die Stellung<br />

zum Liquidatorentum und über die Einheit".<br />

26. Dezember <strong>Lenin</strong> leitet die „Februar"beratung des ZK der SDAPR mit<br />

bis l. Januar Parteifunktionären. Die Beratung nimmt die von <strong>Lenin</strong> ver-<br />

(8.-14. Januar faßten Resolutionen an: Der revolutionäre Aufschwung, die<br />

1913) Streiks und die Aufgaben der Partei; der Aufbau der illegalen<br />

Organisation,- die sozialdemokratische Dumafraktion;<br />

über die illegale Literatur; über die Versicherungskampagne;<br />

über das Verhältnis zum Liquidatorentum und über die<br />

Einheit; über die „nationalen" sozialdemokratischen Organisationen.<br />

Auf der Beratung umreißt <strong>Lenin</strong> eine Reihe von Maßnahmen<br />

zur Verbesserung der Arbeit der „Prawda".<br />

<strong>Lenin</strong> leitet eine Sitzung des ZK unter Teilnahme der bolschewistischen<br />

Abgeordneten, auf der Fragen der Tätigkeit<br />

der bolschewistischen Fraktion der IV. Duma erörtert werden.


636 Baten aus dem Leben und Wirken IV. 1 Cenins<br />

1913<br />

Anfang Januar <strong>Lenin</strong> redigiert die Resolutionen und schreibt die „Mitteilung"<br />

über die „Februar"beratung des ZK der SDAPR mit<br />

Parteifunktionären.<br />

1.(14.) Januar <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die englische Arbeiterbewegung im Jahre<br />

1912" erscheint in Nr. 1 der „Prawda".<br />

6. (19.) Januar <strong>Lenin</strong> schreibt den Artikel „Besser spät als nie"; der Artikel<br />

erscheint am 11. (24.) Januar in Nr. 8 der „Prawda".<br />

12. (25.) Januar <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Entwicklung des revolutionären Streiks<br />

und der Straßendemonstrationen" und „Die Spaltung in der<br />

Polnischen Sozialdemokratie" erscheinen in Nr. 30 des „Sozial-Demokrat".<br />

<strong>Lenin</strong> schreibt einen Brief an die bolschewistischen Abgeordneten<br />

der IV. Reichsduma, in dem er eine Reorganisation der<br />

<strong>Red</strong>aktion der „Prawda" verlangt.<br />

<strong>Lenin</strong> schickt den Artikel „Ober den Bolschewismus" für<br />

<strong>Band</strong> II des Sammelwerkes von N. A. Rubakin „Unter Büchern"<br />

ab.<br />

TJadb dem <strong>Lenin</strong> organisiert die Heransgabe der „Mitteilung" und der<br />

12.(25.) Resolutionen der „Februar"beratung des ZK der SDAPR<br />

Januar mit Parteifunktionären.<br />

<strong>Lenin</strong> schreibt an A. M. Gorki einen Brief über den Plan, in<br />

Moskau eine legale bolschewistische Zeitung herauszugeben<br />

und die Zeitschrift „Prosweschtschenije" zu erweitern; er<br />

schickt ihm die Resolutionen der „Februar"beratung.<br />

15. (28.) Januar <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Bedeutung der Wahl PoincareV' erscheint<br />

in Nr. 11 der „Prawda".<br />

i7. (30.) Januar <strong>Lenin</strong>s Artikel „Offen gesagt" erscheint in Nr. 13 der<br />

„Prawda".<br />

i8.(3i.) Januar <strong>Lenin</strong>s Artikel „Das Kabinett Briand" erscheint in Nr. 14<br />

der „Prawda".<br />

19. Januar <strong>Lenin</strong>s Artikel „Das Leben lehrt" und „fiine neue Demokra-<br />

(l. Jebruar) tie" erscheinen in Nr. 15 der „Prawda".


Baten aus dem Leben und Wirken W. 7. <strong>Lenin</strong>s 637<br />

20. und 22. <strong>Lenin</strong>s Artikel „ober die Volkstümlerideologie" erscheint in<br />

Januar (2. und Nr. 16 nnd 17 der „Prawda".<br />

4. Jebruar)<br />

22. Januar <strong>Lenin</strong> verfaßt das gegen die Liquidatoren gerichtete Schreien.<br />

7ebruar) ben „An die Sozialdemokraten"; es wird im Januar 1913 in<br />

Krakau als hektographierte Fingschrift herausgegeben.<br />

25. Januar <strong>Lenin</strong>s Artikel „In der Welt der Asef" erscheint in Nr. 20<br />

(7.7ebruar) der „Prawda".<br />

27. Januar <strong>Lenin</strong> unterstreicht in einem Brief an J. M. Swerdlow die Be-<br />

(9. Tebruar) deutung der „Prawda", kritisiert die Mängel in der Arbeit<br />

der <strong>Red</strong>aktion und fordert die sofortige Reorganisation der<br />

<strong>Red</strong>aktion der Zeitung.<br />

29. Januar <strong>Lenin</strong>s Artikel „Bourgeoisie und Reformertum" erscheint in<br />

(i i.Jebruar) Nr. 23 der „Prawda".<br />

30. Januar <strong>Lenin</strong>s Artikel „Ober die legale Partei" wird in Nr. 24 der<br />

(i2.7ebruar) „Prawda" veröffentlicht.<br />

Januar <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Ergebnisse der Wahlen" erscheint in<br />

Nr. 1 der Zeitschrift „Prosweschtschenije".<br />

Ende Januar <strong>Lenin</strong> schreibt den Artikel „Russen und Neger".<br />

Ende Januar/ <strong>Lenin</strong> schreibt den Artikel „Der Zusammenbruch der konsti-<br />

AnfanQfebruar rationellen Illusionen".<br />

1. (i4.) Tebruar . <strong>Lenin</strong> schreibt einen Brief an die <strong>Red</strong>aktion der „Prawda",<br />

in dem er sie scharf kritisiert, weil sie in Nr. 24 einen Brief<br />

A. Bogdanows veröffentlicht hatte.<br />

<strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Mobilisierung der bäuerlichen Ländereien"-erscheint<br />

in Nr. 26 der „Prawda".<br />

2. (i5.) Jebruar <strong>Lenin</strong>s Artikel „Einiges über Streiks" erscheint in Nr. 27 der<br />

„Prawda".<br />

5.(i8.)7ebruar <strong>Lenin</strong>s Artikel „Über eine Entdeckung" erscheint in Nr. 29<br />

der „Prawda".<br />

6. (i9.) Jebruar <strong>Lenin</strong>s Artikel „Der Parteitag der englischen Arbeiterpartei"<br />

erscheint in Nr. 30 der „Prawda".


638<br />

Daten aus dem Leben und Wirken IV. 1. <strong>Lenin</strong>s<br />

6.-9. f 19.-22.) <strong>Lenin</strong> schreibt den Artikel „Wachsendes Mißverhältnis.<br />

7ebruar Notizen eines Publizisten", in dem er die Beschlüsse einer<br />

Beratung der Kadetten kritisiert; der Artikel erscheint in<br />

Nr. 3 und 4 der Zeitschrift „Prosweschtschenije".<br />

8.(2i.)7ebruar <strong>Lenin</strong> schreibt einen Brief an die <strong>Red</strong>aktion der „Prawda",<br />

in dem er sie zur Verbesserung der Zeitung beglückwünscht<br />

und vorschlägt, eine Sondernummer zum 30. Todestag von<br />

Karl Marx herauszugeben.<br />

I2.(25.)7ebruar <strong>Lenin</strong>s Artikel „Wir danken für die Offenheit" wird in<br />

Nr. 35 der „Prawda" veröffentlicht.<br />

16. Jebruar <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Frage der Einheit" erscheint in Nr. 39<br />

(i. JAärz) der „Prawda".<br />

23. Jebruar <strong>Lenin</strong>s Artikel „Einige Ergebnisse der Flurbereinigung'" er-<br />

(&. März) scheint in Nr. 45 der „Prawda".<br />

Tebruar <strong>Lenin</strong>s Artikel „Was tut sich in der Volkstümlerrichtung,<br />

und was tut sich auf dem Lande?" erscheint in Nr. 2 der<br />

Zeitschrift „Prosweschtschenije".<br />

i.(l4.)März <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die historischen Schicksale der Lehre von<br />

Karl Marx" erscheint in Nr. 50 der „Prawda".<br />

2.(15.) März <strong>Lenin</strong>s Artikel „Der Großgrundbesitz und der kleinbäuerliche<br />

Landbesitz in Rußland" erscheint in Nr. 51 der „Prawda".<br />

7. (20.) März <strong>Lenin</strong>s Artikel „Falsche Töne" erscheint in Nr. 55 der<br />

„Prawda".<br />

8. (21.) März <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die ,zentrale Aufgabe'" erscheint in Nr. 56<br />

der „Prawda".<br />

5. C22J März <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die liberale Beschönigung der Leibeigenschaft"<br />

erscheint in Nr. 57 der „Prawda".<br />

10.-13. (23.-26.) <strong>Lenin</strong> leitet eine Beratung der Mitglieder des ZK der SDAPR<br />

März in Krakau.<br />

13. (26.) März <strong>Lenin</strong>s Artikel „Ein .wissenschaftliches' System zur Schweißauspressung"<br />

erscheint in Nr. 60 der „Prawda".


Baten aus dem Leben und Wirken W. J. <strong>Lenin</strong>s 639<br />

14. (27.)!März <strong>Lenin</strong>s Artikel „Unsere ,Erfolge'" erscheint in Nr. 61 der<br />

„Prawda".<br />

15. (28.) TAärz <strong>Lenin</strong>s Artikel „Verständigung oder Spaltung? (Zu den Meinungsverschiedenheiten<br />

in der sozialdemokratischen Dumafraktion)"<br />

und „Der ,frei verfügbare Bestand'" erscheinen<br />

in Nr. 62 der „Prawda".


640<br />

INHALTSVERZEICHNIS<br />

Vorwort VII-VIII<br />

Die Wahlkampagne zur IV. Duma und die Aufgaben der revolutionären<br />

Sozialdemokratie 1-5<br />

Die Liquidatoren gegen die Partei 6-8<br />

Dem Gedächtnis Herzens 9-16<br />

Der Grundbesitz im Europäischen Rußland 17-20<br />

Die Trudowiki und die Arbeiterdemokratie 21-28<br />

I .. .. 21<br />

II 23<br />

III 26<br />

Die politischen Parteien in Rußland 29-41<br />

Eine Enquete über die Organisationen des Großkapitals 42-59<br />

I , 42<br />

II 45<br />

III 47<br />

IV 52<br />

V 55<br />

VI 58<br />

Das Wesen der „Agrarfrage in Rußland" 60-64<br />

Einige Ergebnisse der Mobilisierung für die Wahlen 65-70


Inbahsverzeidhnis 641<br />

Wirtschaftlicher und politischer Streik 71-78<br />

Die Frage der Umsiedlung 79-90<br />

Der revolutionäre Aufschwung .. 91-99<br />

Die Losungen der Gesamtrussischen Konferenz der SDAPR im<br />

Januar 1912 und die Maibewegung 100-105<br />

Die Liquidatoren gegen den revolutionären Massenstreik 106-107<br />

„Vereiniger" .. 108-111<br />

über den Charakter und die Bedeutung unserer Polemik mit den<br />

Liberalen 112-1<strong>18</strong><br />

Kapitalismus und „Parlament" 119-121<br />

Die Wahlen und die Opposition 122-125<br />

Die Bedeutung der Wahlen in Petersburg 126-132<br />

Ein Vergleich des Stolypinschen Agrarprogramms mit dem der<br />

Volkstümler 133-139<br />

Die Lage in der SDAPR und die nächsten Aufgaben der Partei .. 140-147<br />

I 140<br />

II 143<br />

III 146<br />

Antwort an die Liquidatoren 148<br />

In der Schweiz 149-151<br />

Demokratie und Volkstumlerideologie in China 152-158<br />

Der Parteitag der italienischen Sozialisten 159-161<br />

Russische „<strong>Red</strong>efreiheit" 162<br />

Wie P. B. Axelrod die Liquidatoren entlarvt 163-174<br />

I 163<br />

II 168<br />

Ergebnisse der Arbeit eines halben Jahres 177-190<br />

I .. 177<br />

II <strong>18</strong>1


642 Jnbaltsv&rzeidmis<br />

III .. .. <strong>18</strong>4<br />

IV <strong>18</strong>8<br />

Zur gegenwärtigen Sachlage in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei<br />

Rußlands 191-209<br />

An den Parteivorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands<br />

192<br />

Die Lage in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands<br />

seit Januar 1912 193<br />

In welchen Beziehungen stehen zu dem sogenannten Organisationskomitee<br />

die bisher neutralen russischen Sozialdemokraten?<br />

193<br />

Die sozialdemokratische Fraktion der dritten Duma 196<br />

öffentlich kontrollierbare Tatsachen über den Einfluß der Liquidatoren<br />

im Vergleich mit demjenigen der Partei .. ..... 198<br />

Offene, der Prüfung zugängliche Daten über die Beziehungen<br />

der Liquidatoren und der Partei in Rußland mit den Arbeitermassen<br />

200<br />

Schlußfolgerungen 203<br />

Postskriptum 207<br />

Ursprüngliches Postskriptum zu der Schrift „Zur gegenwärtigen<br />

Sachlage in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands" .. 210-212<br />

Kapitalismus und Volkskonsum 213—215<br />

Die Liberalen und die Klerikalen 216-217<br />

Die Kadetten und die Demokratie 2<strong>18</strong>-219<br />

Der Feldzug der Liberalen 220-221<br />

Aufstände in Armee und Flotte 222-225<br />

Am Vorabend der Wahlen zur IV. Duma 226-230<br />

Kann heute die Losung der „Koalitionsfreiheit" die Grundlage der<br />

Arbeiterbewegung bilden? 231-233<br />

Brief an die Schweizer Arbeiter 234<br />

Grundsatzfragen 235-236


Inhaltsverzeichnis ' 643<br />

Das letzte Ventil 237-242<br />

Kleine Information 243-244<br />

Die Löhne der Arbeiter und die Profite der Kapitalisten in Rußland 245-246<br />

Streikkampf und Arbeitslohn 247-248<br />

Der Arbeitstag in den Fabriken des Gouvernements Moskau .. .. 249-250<br />

Arbeitstag und Arbeitsjahr im Gouvernement Moskau 251-259<br />

In England 260-261<br />

Die Konzentration der Produktion in Rußland 262-263<br />

Karriere .. 264-265<br />

An das Sekretariat des Internationalen Sozialistischen Büros .. .. 266-267<br />

Die Kadetten und die Agrarfrage 268-277<br />

Eine schlechte Verteidigung 278-279<br />

Die Liquidatoren und die „Einheit" 280-281<br />

Lektion über die „Kadettenfresserei" 282-289<br />

Die Arbeiter und die „Prawda" 290-292<br />

Einst und jetzt 293-294<br />

Der internationale Richtertag 295-297<br />

In der Schweiz 298-300<br />

Die Geistlichkeit und die Politik 301-302<br />

Noch ein Feldzug gegen die Demokratie 303-314<br />

I .. 303<br />

II 306<br />

III 308<br />

IV 311<br />

V 312<br />

Eintracht zwischen den Kadetten und den Leuten vom „Nowoje<br />

Wremja" .. .... .. 315-317<br />

Zu dem Brief von N. S. Poljanski 3<strong>18</strong>-319<br />

über die politische Linie 320-326


644 Jnbdltsverzeidbnis<br />

Erfolge der amerikanischen Arbeiter 327-328<br />

Das Ende des Krieges zwischen Italien und der Türkei 329-330<br />

Ein Hasardspiel 331-332<br />

Die Geistlichkeit bei den Wahlen und die Wahlen mit der Geistlichkeit<br />

333-336<br />

Die „Position" des Herrn Miljnkow 337-338<br />

Der Abgeordnete der Petersburger Arbeiter 339-340<br />

Die Balkanvölker und die europäische Diplomatie 341-342<br />

Der Fuchs und der Hühnerstall 343-344<br />

Eine schändliche Resolution 345-346<br />

Zwei Utopien.. '. 347-351<br />

Englische Meinungsverschiedenheiten über liberale ArbeiterpoKtik.. 352-358<br />

Der Kadettenprofessor 359-360<br />

Ein neues Kapitel der Weltgeschichte 361-362<br />

Die Kadetten und die Nationalisten 363-364<br />

Die Schrecken des Krieges 365<br />

Die Kadetten und die Großbourgeoisie 366-367<br />

Echt russische Sitten 368-369<br />

Die Plattform der Reformisten und die Plattform der revolutionären<br />

Sozialdemokraten 370-379<br />

Illegale Partei und legale Arbeit 380-389<br />

I 381<br />

II 384<br />

III 386<br />

IV 387<br />

Die soziale Bedeutung der serbisch-bulgarischen Siege .... • • 390-392<br />

Das erneuerte China 393-394<br />

Ergebnis und Bedeutung der Präsidentschaftswahlen in Amerika .. 395-397


Jnhaltsverzeidbnis 645<br />

„Brennende Fragen" unserer Partei. Die Frage der „Liquidatoren"<br />

und die „nationale" Frage 398-405<br />

I 398<br />

II 400<br />

III 402<br />

IV 404<br />

über einige <strong>Red</strong>en der Arbeiterdeputierten 406-412<br />

Zur Frage der Arbeiterdeputierten in der Duma und ihrer Deklaration<br />

413-416<br />

Zu dem Ereignis vom 15. November (Eine nichtgehaltene <strong>Red</strong>e) .. 417-419<br />

An J.W. Stalin. 11. Dezember 1912 .. 420-422<br />

An J. W. Stalin. 6. Dezember 1912 .. ..' .. .. - 423-424<br />

Die Krankheit des Reformismus 425-427<br />

Die Verelendung in der kapitalistischen Gesellschaft 428-429<br />

Die Arbeiterklasse und ihre „parlamentarische" Vertretung .. .. 430-431<br />

Die „Versöhnung" der Nationalisten mit den Kadetten 432-433<br />

Die Nationalliberalen 434-436<br />

über die Stellung zum Liquidatorentum und über die Einheit.<br />

Thesen 437-438<br />

Mitteilung und Resolutionen einer Beratung des Zentralkomitees der<br />

SDAPR mit Parteifunktionären .. .. 439-459<br />

Mitteilung 441-447<br />

Resolutionen .. ., 448-459<br />

Der revolutionäre Aufschwung, die Streiks und die Aufgaben<br />

der Partei 448<br />

Der Aufbau der illegalen Organisation 450<br />

Die sozialdemokratische Dumafraktion 452<br />

Ober die illegale Literatur 453<br />

Ober die Versicherungskampagne 454<br />

Ober das Verhältnis zum Liquidatorentum und über die Einheit 455<br />

über die „nationalen" sozialdemokratischen Organisationen .. 457


646 Inhaltsverzeichnis<br />

Die englische Arbeiterbewegung im Jahre 1912 460-461<br />

Besser spät als nie 462-463<br />

Die Entwicklung des revolutionären Streiks und der Straßendemonstrationen<br />

464-470<br />

Ursprüngliches Postskriptum zu dem Artikel „Die Entwicklung des<br />

revolutionären Streiks und der Straßendemonstrationen" .. .. 471<br />

Die Spaltung in der Polnischen Sozialdemokratie 472-476<br />

Ober den Bolschewismus 477-478<br />

Die Bedeutung der Wahl PoincanSs 479-480<br />

Offen gesagt 481^82<br />

Das Kabinett Briand 483-484<br />

Die Ergebnisse der Wahlen.. .. 485-511<br />

I. Die Wahl>acherei" 485<br />

II. Die neue Duma 487<br />

III. Die Veränderungen innerhalb des Systems des 3. Juni .. 490<br />

IV. Worum ging der Kampf bei den Wahlen? .. .. .. .. 494<br />

V. Die Überprüfung der Wahllosungen durch das Leben.. .. 497<br />

VI. Das „Ende" der Illusionen über die Kadettenpartei .. .. 502<br />

VII. über die „riesige Gefahr für den Grundbesitz des Adels".. 505<br />

VIII. Die Tarnung der Niederlage 506<br />

Das Leben lehrt 512-514<br />

Eine neue Demokratie 515-516<br />

über die Volkstümlerideologie .. • 517-521<br />

I 517<br />

II 5<strong>18</strong><br />

An die Sozialdemokraten 522-525<br />

Die Arbeitermassen und die Illegalität 522<br />

In der Welt der Asef *.. .. 526-527<br />

Bourgeoisie und Reformertum 528-529


Jnbahsverzeidmis 647<br />

über die legale Partei 530-532<br />

Die Mobilisierung der bäuerlichen Ländereien 533-534<br />

Einiges über Streiks 535-536<br />

Russen und Neger 537-538<br />

über eine Entdeckung 539-540<br />

Der Parteitag der englischen Arbeiterpartei 541-542<br />

Der Zusammenbruch der konstitutionellen Illusionen 543<br />

Wir danken für die Offenheit 544-545<br />

Die Frage der Einheit 546-547<br />

Was tut sich in der Volkstümlerrichtung, und was tut sich auf dem<br />

Lande? 548-554<br />

Wachsendes Mißverhältnis. Notizen eines Publizisten 555-573<br />

I 555<br />

II .. .. 556<br />

III 557<br />

IV 559<br />

V 560<br />

VI 562<br />

VII 563<br />

VIII 564<br />

IX 566<br />

X .. .. 568<br />

Einige Ergebnisse der „Flurbereinigung" 574-575<br />

Die historischen Schicksale der Lehre von Karl Marx 576-579<br />

I 576<br />

II .. 577<br />

III 578<br />

Der Großgrundbesitz und der kleinbäuerliche Landbesitz in Rußland<br />

580-581


648 Inhaltsverzeidbnis<br />

Falsche Töne 582-583<br />

Die „zentrale Aufgabe" 584-585<br />

Die liberale Beschönigung der Leibeigenschaft .. .. 586-587<br />

Ein „wissenschaftliches" System zur Schweißauspressung 588-589<br />

Unsere „Erfolge" 590-591<br />

Verständigung oder Spaltung? (Zu den Meinungsverschiedenheiten<br />

in der sozialdemokratischen Dumafraktion) 592-594<br />

Der „frei verfügbare Bestand" 595-596<br />

Anmerkungen 597-623<br />

Daten aus dem Leben und Wirken IV. 7. <strong>Lenin</strong>s 625-639<br />

ILLUSTRATIONEN<br />

Erste Seite der „Newskaja Swesda" Nr. 15 vom 1. Juli 1912, in der<br />

W. I. <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Bedeutung der Wahlen in Petersburg"<br />

und „Ein Vergleich des Stolypinschen Agrarprogramms mit dem<br />

der Volkstümler" erschienen 127<br />

Erste Seite der „Prawda" Nr. 80 vom 1. August 1912 mit einer<br />

Fortsetzung von W. I. <strong>Lenin</strong>s Artikel „Ergebnisse der Arbeit eines<br />

halben Jahres" 175<br />

Erste Seite von W. I. <strong>Lenin</strong>s Manuskript „über einige <strong>Red</strong>en der<br />

Arbeiterdeputierten" - November 1912 407<br />

Erste Seite von W. I. <strong>Lenin</strong>s Manuskript der „Mitteilung" über eine<br />

Beratung des ZK der SDAPR mit Parteifunktionären - Januar<br />

1913 443

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