Lenin Werke Band 18 - Red Channel
Lenin Werke Band 18 - Red Channel
Lenin Werke Band 18 - Red Channel
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LENIN<br />
WERKE<br />
<strong>18</strong>
HERAUSGEGEBEN AUF BESCHLUSS<br />
DES IX. PARTEITAGES DER KPR(B) UND DES<br />
II. SOWJETKONGRESSES DER UdSSR<br />
DIE DEUTSCHE AUSGABE ERSCHEINT<br />
AUF BESCHLUSS DES ZENTRALKOMITEES<br />
DER SOZIALISTISCHEN EINHEITSPARTEI<br />
DEUTSCHLANDS
INSTITUT FÜR MARXISMUS-LENINISMUS BEIM ZK DER KPdSU<br />
WI.LENIN<br />
WERKE<br />
INS DEUTSCHE ÜBERTRAGEN<br />
NACH DER VIERTEN RUSSISCHEN AUSGABE<br />
DIE DEUTSCHE AUSGABE<br />
WIRD VOM INSTITUT FÜR MARXISMUS-LENINISMUS<br />
BEIM ZENTRALKOMITEE DER SED BESORGT<br />
Wl.LENIN<br />
BAND <strong>18</strong><br />
APRIL i912-MÄRZ 1913<br />
Rnssisdicr Origlnaltltcl:<br />
B.B. JIEHHH-COIHHEHHH<br />
Mit 4 Faksimiles<br />
5. Auflage 1974<br />
Dietz Verlag Berlin<br />
Lizenznummer 1<br />
LSV0056<br />
Printed in the Germari Democratic Repablic<br />
Fotomedianischer Nachdnrck<br />
Satz: Karl-Marx-Werk, Pößneck, V 15/30<br />
Druck und Einband: LVZ-Drnckerei „Hermann Duncker", Leipzig, III <strong>18</strong> 138<br />
Best.-Nr.: 735 088 4<br />
EVP 7,50
VORWORT<br />
VII<br />
Die in <strong>Band</strong> <strong>18</strong> enthaltenen Arbeiten schrieb W. I. <strong>Lenin</strong> von April 1912<br />
bis März 1913, in der Periode des weiteren Aufschwungs der revolutionären<br />
Bewegung in Rußland.<br />
Den größten Teil des <strong>Band</strong>es bilden Arbeiten, in denen <strong>Lenin</strong> eine<br />
Analyse der sozialökonomischen und politischen Ursachen für das Heranreifen<br />
einer neuen Revolution in Rußland gibt. Er arbeitet die Taktik<br />
der bolschewistischen Partei unter den Bedingungen des revolutionären<br />
Aufschwungs aus und enthüllt den konterrevolutionären Charakter der<br />
liberalen Bourgeoisie und die verräterische Rolle der menschewistischen<br />
Liquidatoren, der Trotzkisten und „Wperjod"-Leute in der Arbeiterbewegung.<br />
Dazu gehören folgende Arbeiten: „Der revolutionäre Aufschwung",<br />
„Die politischen Parteien in Rußland", die Broschüre „Zur<br />
gegenwärtigen Sachlage in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands",<br />
„Die Liquidatoren gegen die Partei", „Wie P. B. Axelrod die<br />
Liquidatoren entlarvt" und andere.<br />
Eine große Gruppe von Arbeiten - „Die Wahlkampagne zur IV. Duma<br />
und die Aufgaben der revolutionären Sozialdemokratie", „Die Plattform<br />
der Reformisten und die Plattform der revolutionären Sozialdemokraten",<br />
„Die Ergebnisse der Wahlen", „über einige <strong>Red</strong>en der Arbeiterdeputierten"<br />
u. a. - ist der Wahlkampagne zur IV. Reichsduma, der Einschätzung<br />
der Ergebnisse der Wahlen und der Tätigkeit der sozialdemokratischen<br />
Dumafraktion gewidmet.<br />
In den Artikeln „Das Wesen der ,Agrarfrage in Rußland'", „Ein Vergleich<br />
des Stolypinschen Agrarprogramms mit dem der Volkstümler",<br />
„Das letzte Ventil" u. a. enthüllt <strong>Lenin</strong> das Wesen der Stolypinschen<br />
Agrarpolitik und zeigt, daß ein Fiasko dieser Politik unvermeidlich ist.
Vin Vorwort<br />
In den im <strong>Band</strong> enthaltenen Resolutionen der „Februar"beratung des<br />
ZK der SDAPR mit Parteifunktionären wird die Riditsdinur zu allen<br />
widitigen Fragen der sozialdemokratischen Arbeit in Rußland gegeben.<br />
Der <strong>Band</strong> enthält fünfzehn Dokumente, die zum erstenmal in den<br />
<strong>Werke</strong>n W. I. <strong>Lenin</strong>s veröffentlicht werden. Diese Arbeiten sind dem<br />
Kampf gegen das Liquidatorentam und der Ausarbeitung von Fragen der<br />
Taktik der bolsdiewistisdien Partei gewidmet.<br />
. In dem „Brief über die sozialdemokratisdie Dumafraktion" gibt<br />
W. I. <strong>Lenin</strong> den bolsdiewistisdien Abgeordneten in der IV. Duma Direktiven.<br />
Das Dokument „Zur Frage der Arbeiterdeputierten in der Duma und<br />
ihrer Deklaration" ist der Entwurf einer Deklaration für die sozialdemokratisdie<br />
Fraktion in der IV. Duma.<br />
In den Arbeiten „Illegale Partei und legale Arbeit", „Antwort an die<br />
Liquidatoren", „Ursprünglidies Postskriptum zu der Sdirift ,Zur gegenwärtigen<br />
Sachlage in der Sozialdemokratisdien Arbeiterpartei Rußlands'",<br />
„Kann heute die Losung der »Koalitionsfreiheit* die Grundlage der Arbeiterbewegung<br />
bilden?", „Brief an die Sdiweizer Arbeiter", „über die<br />
Stellung zum Liquidatorentum und über die Einheit. Thesen", „Ursprünglidies<br />
Postskriptum zn dem Artikel ,Die Entwiddung des revolutionären<br />
Streiks und der Straßendemonstrationen'" kritisiert <strong>Lenin</strong> die<br />
Ansiditen der Liquidatoren und Trotzkis, der die Liquidatoren uneingeschränkt<br />
unterstützte.<br />
Die Artikel „Die Kadetten und die Großbourgeoisie" und „Der Zusammenbrudi<br />
der konstitutionellen Illusionen" entlarven die Dumataktik<br />
der Partei der konterrevolutionären liberalen Bourgeoisie, der Kadetten.<br />
In den Arbeiten „Aufstände in Armee und Hotte", „Die Arbeiter<br />
und die ,Prawda'", „Einst und jetzt" analysiert <strong>Lenin</strong> den Aufschwung<br />
der revolutionären Bewegung und die Entwicklung der legalen bolschewistischen<br />
Presse.<br />
In der „Mitteilung" der „Februar"beratung des ZK der SDAPR mit<br />
Parteifunktionären werden die Ergebnisse der Beratung zusammengefaßt.
DIE WAHLKAMPAGNE ZUR IV. DUMA<br />
UND DIE AUFGABEN DER<br />
REVOLUTIONÄREN SOZIALDEMOKRATIE<br />
Die politischen Streiks und die Demonstrationen anläßlich des Gemetzels<br />
an der Lena zeigen das Anwachsen der revolntionären Bewegung<br />
der Arbeitermassen in Rußland. Und diese Verdichtung der revolutionären<br />
Atmosphäre läßt klar die Aufgaben der Partei und ihre Rolle in der<br />
Wahlkampagne hervortreten.<br />
Die Krise reift in einer neuen Situation heran. Die Schwarzhunderterduma,<br />
die den Gutsbesitzern die Macht, der Bourgeoisie eine Arena für<br />
Geschäfte, dem Proletariat eine kleine Tribüne gibt, bildet ein notwendiges<br />
Attribut dieser Situation. Wir brauchen diese Tribüne, brauchen<br />
die Wahlkampagne für die revolutionäre Arbeit unter den Massen. Wir<br />
brauchen die illegale Partei für die Leitung dieser ganzen Arbeit in ihrer<br />
Gesamtheit: im Taurischen Palast wie auf dem Kasaner Platz, in der<br />
Arbeiterversammlung wie im Streik, in der Bezirksversammlung der<br />
sozialdemokratischen Arbeiter wie in der öffentlichen Versammlung der<br />
Gewerkschaften. Nur hoffnungslos Blinde vermögen selbst jetzt nicht zu<br />
sehen, wie unsinnig, wie verderblich für die Arbeiterklasse der Otsowismus<br />
und das Liquidatorentum sind, diese Früchte des Verfalls und der<br />
Zerrüttung in der Epoche, da die Konterrevolution triumphierte. Das<br />
Beispiel der Volkstümler hat uns anschaulich gezeigt, welch skandalöse<br />
Null herauskommt bei der Addition des Citfuidatorentums der „Trudoaviki"<br />
wie auch der legalen Literaten vom „Russkoje Bogatstwo" 1 und<br />
„Sowremennik" 2 und des Otsowismus der „Partei" der Sozialrevolutionäre.<br />
Ziehen wir das allgemeine Fazit aus dem, was die Mobilisierung der<br />
politischen Kräfte für die Wahl ergeben hat. Drei Lager haben sich deut-
W.3.£enin<br />
lieh abgezeichnet: 1. Die Rechten, die für die Regierung sind - von<br />
Purischkewitsch bis Gutschkow. Der erzreaktionäre Gutsbesitzer und der<br />
altgläubige Kaufmann setzen sich mit Leib und Seele für die Regierung<br />
ein. 2. Die liberalen Bourgeois - die „Progressisten" und die Kadetten<br />
zusammen mit den Gruppen der verschiedenen „Nationalen", die gegen<br />
die Regierung und gegen die Revolution sind. Der konterrevolutionäre<br />
Charakter des Liberalismus ist eine der hauptsächlichsten Besonderheiten<br />
des gegebenen historischen Moments. Wer diesen konterrevolutionären<br />
Charakter der „kultivierten" Bourgeoisie nicht sieht, der hat alles vergessen<br />
und nichts gelernt, der legt sich zu Unrecht den Namen eines<br />
Demokraten bei, vom Sozialisten schon ganz zu schweigen. Und die<br />
Trudowiki und „unsere" Liquidatoren sehen schlecht und verstehen<br />
schlecht! 3. Das Lager der Demokratie, in dem nur die revolutionären<br />
Sozialdemokraten, die Antiliquidatoren, geschlossen, organisiert, entschieden<br />
und eindeutig ihr Banner der Revolution entfaltet haben. Die<br />
Trudowiki und unsere Liquidatoren schwanken zwischen dem Liberalismus<br />
und der Demokratie, zwischen der legalen Opposition und der Revolution.<br />
Die Klassenwurzeln, die das erste Lager vom zweiten scheiden, sind<br />
klar erkenntlich. Dagegen ist es den Liberalen gelungen, viele - von<br />
Wodowosow bis Dan - hinsichtlich der Klassenwurzeln irrezuführen, die<br />
das zweite Lager vom dritten scheiden. Die „Strategie" des Liberalen, die<br />
von Blank in den „Saprossy Shisni" 3 naiv ausgeplaudert wurde, ist simpel:<br />
die Kadetten sind das oppositionelle Zentrum, das Deichselpferd; die Beipferde<br />
(die „Flanken") sind rechts die Progressisten, links die Trudowiki<br />
und die Liquidatoren. Mit dieser „Troika" hoffen die Herren Miljukow<br />
in der Rolle der „verantwortungsbewußten Opposition" zum Triumph<br />
zu „fahren".<br />
Die Hegemonie der Liberalen in der russischen Befreiungsbewegung<br />
hat immer deren Niederlage nach sich gezogen und wird sie immer nach<br />
sich ziehen. Der Liberale laviert zwischen der Monarchie der Purischkewitsch<br />
und der Revolution der Arbeiter und Bauern, wobei er diese letz-,<br />
tere in jedem ernsten Moment verrät. Die Aufgabe der Revolution ist es,<br />
den Kampf der Liberalen gegen die Regierung auszunutzen und die<br />
Schwankungen und den Verrat des Liberalismus zu neutralisieren.<br />
Mit der Revolution schrecken, um auf diese Weise die Macht mit
Die Wahlkampagne zur IV. Duma<br />
Purischkewitsch und Romanow zu teilen, dabei gemeinsam die Revolution<br />
unterdrücken - das ist die Politik der Liberalen. Und diese Politik wird<br />
durch die Klassenlage der Bourgeoisie bestimmt. Das ist der Grund, warum<br />
die Kadetten in billigem „Demokratismus" machen, real aber mit dem<br />
sehr gemäßigten „Progressismus" der Jefremow, Lwow, Rjabuschinski<br />
und Co. verschmelzen.<br />
Den Kampf der Liberalen mit den Purischkewitsch um die Teilung der<br />
Macht ausnutzen, dabei keinesfalls im Volk den „Glauben" an den<br />
Liberalen aufkommen lassen, um so den revolutionären Ansturm der<br />
Massen, der die Monarchie stürzen, die Purischkewitsch und die Romanow<br />
mit Stumpf und Stiel ausrotten wird, voranzutreiben, zu verstärken, zu<br />
intensivieren - das ist die Taktik der proletarischen Partei. Bei den Wahlen:<br />
die Demokratie zusammenschließen gegen die Rechten und gegen<br />
die Kadetten; beim zweiten Wahlgang, in der Presse, in den Versammlungen<br />
den Kampf der Liberalen gegen die Rechten „ausnutzen". Daraus<br />
ergibt sich die Notwendigkeit einer revolutionären Plattform, die jetzt<br />
schon über den Rahmen der „Legalität" hinausgeht. Daraus ergibt sich die<br />
Losung der Republik als Gegengewicht zu dem liberalen Spiel mit „konstitutionellen"<br />
Losungen, mit Losungen einer „Rasputin-Treschtschenkowschen<br />
Konstitution". Unsere Aufgabe ist es, überall, stets und ständig,<br />
in allen Formen der Arbeit, auf allen Tätigkeitsgebieten eine Armee<br />
revolutionärer Kämpfer heranzubilden, zu welchen Wendungen uns auch<br />
ein Sieg der Reaktion oder der Verrat des Liberalismus oder die Verschleppung<br />
der Krise usw. zwingen sollte.<br />
Man betrachte die Trudowiki. Das sind volkstümlerische Liquidatoren<br />
sans phrases*. Wir sind Revolutionäre, wird von Herrn Wodowosow „angedeutet",<br />
aber... gegen den Artikel 129 4 ist eben nichts zu machen,<br />
fügt er hinzu. Hundert Jahre nach der Geburt Herzens vermag die<br />
„Partei" der Millionenmasse der Bauern nicht einmal ein Flugblatt - und<br />
sei es ein hektographiertes! - dem Artikel 129 zum Trotz herauszugeben!!<br />
Die Trudowiki, die „in erster Linie" zu einem Block mit den Sozialdemokraten<br />
neigen, vermögen nicht, sich klar über den konterrevolutionären<br />
Charakter der Kadetten zu äußern, verstehen nicht, den Grund für eine<br />
republikanische Bauernpartei zu legen. Dabei haben die Lehren der Jahre<br />
1905-1907 und 1908-1911 die Frage eben so gestellt: für die Republik<br />
* ohne Umschweife. "Die <strong>Red</strong>.
TV. 1 }. <strong>Lenin</strong><br />
kämpfen oder die Stiefel Purisdikewitsdis lecken, unter der Knute Markows<br />
und Romanows leben. Eine andere Wahl haben die Bauern nicht.<br />
Man betrachte die Liquidatoren. Wie die Martynow, Martow und Co.<br />
sich auch drehen und wenden, so wird doch jeder ehrliche und vernünftige<br />
Leser zugeben, daß R-kow 5 das Fazit eben aus ihren Anschauungen gezogen<br />
hat, als er erklärte: „Man soll sich keine Illusionen machen: der<br />
Triumph eines sehr gemäßigten bürgerlichen Progressismus bereitet sich<br />
vor." Der objektive Sinn dieses geflügelten Wortes: die Revolution ist eine<br />
Illusion, die Unterstützung der „Progressisten" eine Realität. Nun, sieht<br />
jetzt nicht jeder, der nicht absichtlich die Augen schließt, daß die Dan und<br />
Martow eben dies mit ein wenig anderen Worten sagen, wenn,sie die<br />
Losung ausgeben: „Die Duma (die vierte Duma, die Gutsbesitzerduma)<br />
den Händen der Reaktion entreißen"? wenn sie sich zum hundertsten<br />
Mal in die Idee von den zwei Lagern verrennen? wenn sie schreien: „vereitelt<br />
nicht" die progressive Arbeit der liberalen Bourgeois? wenn sie den<br />
„Linksblock" bekämpfen? wenn sie im „Shiwoje Delo" 6 voller Selbstzufriedenheit<br />
auf die „Auslandsliteratur, die niemand liest", herabblicken?<br />
wenn sie sich in der Praxis mit einer legalen Plattform, mit legalen<br />
Anschlägen auf die Organisation zufriedengeben? wenn sie liquidatorische<br />
„Initiativgruppen" 7 schaffen und dergestalt mit der revolutionären<br />
SDAPR brechen? Ist es etwa nicht klar, daß dasselbe Liedchen auch die<br />
Lewizki singen, die die liberalen Ideen vom Kampf um das Recht philosophisch<br />
vertiefen, die Newedomski, die als Neuestes die Ideen Dobroljubows<br />
nach rückwärts „revidieren", vom Demokratismus zum Liberalismus,<br />
die Smirnow, die mit dem „Progressismus" liebäugeln, und all die<br />
übrigen Ritter der „Nascha Sarja" 8 und des „Shiwoje Delo"?<br />
In Wirklichkeit könnten die Demokraten wie die Sozialdemokraten<br />
niemals, selbst wenn sie es wollten, den Sieg der „Progressisten" unter den<br />
Gutsbesitzern und den Bourgeois „vereiteln"! Das sind ganz und gar<br />
hohle Phrasen. Die ernsthaften Meinungsverschiedenheiten liegen nicht<br />
hier. Der Unterschied der liberalen und der sozialdemokratischen Arbeiterpolitik<br />
besteht nicht darin. Die Progressisten „unterstützen", weil man<br />
in ihren „Siegen" ein „Heranrücken des kultivierten Bourgeois an die<br />
Macht" erblickt, das ist eben liberale Arbeiterpolitik.<br />
Wir Sozialdemokraten erblicken in dem „Sieg" der Progressisten einen<br />
mittelbaren Ausdruck des demokratischen Aufschwungs. Die Zusammen-
Die Wahlkampagne zur IV. Duma<br />
stoße der Progressisten/mit den Rechten gilt es auszunutzen,- mit der<br />
bloßen Losung, die Progressisten zu unterstützen, ist nichts getan. Unsere<br />
Aufgabe ist es, den demokratischen Aufschwung zu fördern, die neue<br />
revolutionäre Demokratie, die in einem neuen Rußland auf neue Weise<br />
heranwächst, zu hegen und zu pflegen. Wenn sie nicht entgegen den<br />
Liberalen stark zu werden und zu siegen versteht, dann wird in Wirklichkeit<br />
kein „Triumph" der Progressisten und Kadetten bei den Wahlen<br />
ernstlich irgend etwas an der Lage in Rußland ändern.<br />
Daß ein demokratischer Aufschwung zu verzeichnen ist, das ist heute<br />
unbestreitbar. Dieser Prozeß vollzieht sich schwerer, langsamer, komplizierter,<br />
als wir es wünschen mögen, aber er vollzieht sich. Ihn muß man<br />
„unterstützen" und fördern durch die Wahlarbeit wie durch jede andere<br />
Arbeit. Die revolutionäre Demokratie organisieren - durch schonungslose<br />
Kritik am volkstümlerischen Liqtridatorentnm und am volkstümlerischen<br />
Otsowismus eine republikanische Bauernpartei schmieden - und vor allem<br />
und in erster Linie das „eigene Haus" von Liquidatorentum und Otsowismus<br />
säubern, die revolutionäre sozialdemokratische Arbeit im Proletariat<br />
verstärken und die illegale sozialdemokratische Arbeiterpartei festigen,<br />
das ist unsere Aufgabe. Wie sich die Lösung der heranreifenden revolutionären<br />
Krise gestalten wird, das hängt nicht von uns ab, sondern von<br />
unzähligen Faktoren, von der Revolution in Asien und vom Sozialismus in<br />
Europa; von uns aber hängt es ab, ob wir unter den Massen eine konsequente<br />
und unentwegte Arbeit im Geiste des Marxismus betreiben werden,<br />
und nur diese Arbeit allein geht niemals spurlos vorüber.<br />
„Sozia\-T)emohrat° 9Jr. 26, Tiaäj dem 7ext des<br />
8. Mai (-25. April) 1912. „ Sozidl-Demokrat".
DIE LIQUIDATOREN<br />
GEGEN DIE PARTEI<br />
Gegen die Parteikonferenz wird von den Liquidatoren aller Schattierungen<br />
in der legalen russischen Presse eine Hetze betrieben, deren hinterhältige<br />
Schamlosigkeit die Bulgarin und Burenin 9 vor Neid erblassen lassen<br />
muß. Die Artikel im „Shiwoje Delo", die die Delegierten offen danach<br />
fragen, von wem sie delegiert worden sind, und die unter dem Schutz der<br />
Zensur über das herfallen, was in der legalen Presse nicht verteidigt werden<br />
kann, sind ein solches Musterbeispiel an Ignorierung der elementaren<br />
Regeln publizistischer Ehrlichkeit, daß sie nicht nur den Protest der Konferenzanhänger,<br />
sondern den Abscheu aller ehrlichen Politiker überhaupt<br />
hervorrufen müßten. Die Artikel des anonymen Berichterstatters des<br />
„Vorwärts" 10 aber liefern eine solche Blütenlese an unverfrorener Wichtigtuerei<br />
und phrasenhafter Lüge, daß kein Zweifel daran möglich ist: der<br />
liquidatorische Auftrag, diese Artikel zu schreiben, ist in erfahrene Hände<br />
gelangt.»<br />
Die an die Wand gedrückten Gruppen und Zirkel der Liquidatoren<br />
beschränken sich jedoch nicht auf eine Verleumdungskampagne gegen die<br />
Partei. Sie versuchen, eine eigene Konferenz einzuberufen. Es werden<br />
natürlich alle Mittel angewandt, um dem OK 11 , das diese Konferenz einberuft,<br />
den Anschein der „Parteitreue", der „Fraktionslosigkeit", der<br />
„Vereinigung" zu geben. Sind diese Worte doch so bequem,.. .wenn es<br />
• Um die deutschen Genossen mit der wirklichen Sachlage in der SDAPR<br />
bekannt zu machen, hat die <strong>Red</strong>aktion des Zentralorgans eine spezielle Broschüre<br />
in deutscher Sprache herausgegeben, die unter anderem die Methoden<br />
des Anonymus aus dem „Vorwärts" entlarvt. (Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 17, S. 525 bis<br />
538. Die Ked.)
Die Liquidatoren gegen die Partei<br />
gilt, mit dem liquidatorischen Köder alle die zu fangen, die aus irgendeinem<br />
Grund mit der Parteikonferenz unzufrieden sind. Trotzki hat den<br />
Auftrag erhalten, alle Tugenden des OK und der künftigen Liquidatorenkonferenz<br />
zu besingen: wem anders als dem „professionellen Vereiniger"<br />
hätte man diesen Auftrag wohl auch geben sollen. Und er hat ein Loblied<br />
angestimmt... in allen Lettern, die die Wiener Druckerei zur Verfügung<br />
hat: „Die ,Wperjod'-Leute, die ,Golos'-Leute, die parteitreuen Bolsdiewiki,<br />
die parteitreuen Menschewiki, die sogenannten Liquidatoren und die<br />
Fraktionslosen — in Rußland und im Ausland - unterstützen entschieden<br />
die Arbeit..." des OK („Prawda" 12 Nr. 24).<br />
Der Ärmste hat wieder einmal... gelogen und sich wieder einmal verrechnet.<br />
Der gegen die Konferenz des Jahres 1912 mit soviel Lärm und<br />
Geschrei vorbereitete Block unter der Hegemonie der Liquidatoren kracht<br />
in allen Fugen, er kracht, weil die Liquidatoren allzu deutlich ihre Eselsohren<br />
gezeigt haben. Die Polen haben eine Mitarbeit im OK abgelehnt.<br />
Plechanow hat nach Korrespondenz mit einem Vertreter des letzteren<br />
einige interessante Einzelheiten klargestellt: 1. daß die Konferenz als<br />
„konstituierende" Konferenz, d. h. als Konferenz nicht der SDAPR, sondern<br />
irgendeiner neuen Partei geplant ist, 2. daß ihrer Einberufung ein<br />
„anarchisches" Prinzip zugrunde liegt, 3. daß „die Konferenz von Liquidatoren<br />
einberufen wird". Nachdem diese Umstände durch Genossen<br />
Plechanow klargestellt worden waren, konnte es uns schon nicht mehr<br />
wundernehmen, daß die sogenannten bolschewistischen (?!) Versöhnler<br />
Mut faßten und Trotzki überführen wollten, er habe... die Unwahrheit<br />
gesagt, als er sie zu den Anhängern des OK zählte. „Dieses OK in seiner<br />
jetzigen Zusammensetzung, mit seiner deutlichen Tendenz, der ganzen<br />
Partei sein eigenes Verhältnis zu den Liquidatoren aufzudrängen, mit den<br />
Prinzipien der organisatorischen Anarchie, die es der Auffüllung seines<br />
Mitgliederbestands zugrunde gelegt hat - dieses OK garantiert nicht im<br />
geringsten die Einberufung einer wirklich allgemeinen Parteikonferenz",<br />
so äußern sich heute unsere so mutig gewordenen „Parteitreuen" über das<br />
OK. Wo heute unsere Linkesten der Linken, die „Wperjod" -Leute,<br />
stehen, nachdem sie sich seinerzeit beeilt haben, ihre Sympathie für das<br />
OK zu bescheinigen, ist uns unbekannt, aber das ist auch nicht wichtig:<br />
wichtig ist, daß der liquidatorische Charakter der vom OK einberufenen<br />
Konferenz von Plechanow unwiderlegbar und in aller Eindeutigkeit fest-
8 W. J. <strong>Lenin</strong><br />
gestellt worden ist und daß die staatsmännischen Köpfe der „Versöhnler"<br />
sich diesen Tatsachen beugen mußten. Wer ist übriggeblieben? Die ausgesprochenen<br />
Liquidatoren und Trotzki...<br />
Die Grundlage dieses Blocks ist klar: Die Liquidatoren genießen die<br />
volle Freiheit, auf „alte Weise" ihre Linie im „Shiwoje Delo" und in der<br />
„Nascha Sarja" zu verfolgen, Trotzki aber deckt sie - vom Ausland her -<br />
durch die rrrevolutionäre Phrase, die ihn nichts kostet und sie in keiner<br />
Weise bindet.<br />
Aus dieser Geschichte folgt eine kleine Lehre für diejenigen, die im<br />
Ausland nach der Einheit seufzen und unlängst das Pariser Blatt „Sa<br />
Partiju" 13 geschaffen haben. Um die Partei aufzubauen, reicht es nicht<br />
aus, wenn man versteht, „Einheit" zu schreien, man muß noch irgendein<br />
politisches Programm, ein Programm des politischen Handelns haben<br />
Der Block der Liquidatoren, Trotzkis, der „Wperjod" -Leute, der Polen,<br />
der parteitreuen Bolschewiki (?), der Pariser Menschewiki usw. usw.<br />
usw. war im voraus zu einem skandalösen Reinfall verurteilt, denn er war<br />
auf Prinzipienlosigkeit, auf Heuchelei und auf die hohle Phrase gegründet.<br />
Den Seufzenden aber dürfte es schließlich nichts schaden, für sich<br />
selbst die so komplizierte und schwierige Frage zu lösen, mit wem sie die<br />
Einheit wollen. Wenn mit den Liquidatoren, warum sagen sie das dann<br />
nicht ohne Umschweife? Wenn sie aber gegen die Vereinigung mit den<br />
Liquidatoren sind, nach welcher Einheit seufzen sie dann?<br />
Die Januarkonferenz und die von ihr gewählten Organe sind das einzige,<br />
was gegenwärtig alle Parteiarbeiter der SDAPR in Rußland faktisch<br />
vereint. Außer ihr gibt es lediglich das Versprechen der Bundisten und<br />
Trotzkis, eine liquidatorische Konferenz durch das OK einzuberufen, und<br />
die „Versöhnler" mit ihrem liquidatorischen Katzenjammer.<br />
.SoziaVDemokrat" 3Vr. 26, Tiadb dem 7ext des<br />
8. TAai (25. April) I9i2. .Sozial-T>emokrat".
DEM GEDÄCHTNIS HERZENS<br />
Hundert Jahre sind seit dem Tage der Geburt Herzens vergangen. Ihn<br />
feiert das ganze liberale Rußland, wobei es sorgfältig den ernsten Fragen<br />
des Sozialismus aus dem Weg geht und vorsorglich verheimlicht, wodurch<br />
sich der Revolutionär Herzen von einem Liberalen unterschied. Herzens<br />
gedenkt auch die Rechtspresse, die verlogen beteuert, Herzen habe sich am<br />
Ende seiner Tage von der Revolution losgesagt. Und in den <strong>Red</strong>en der im<br />
Ausland weilenden Liberalen und Volkstümler über Herzen herrscht die<br />
Phrase, nichts als die Phrase.<br />
Die Arbeiterpartei muß Herzens gedenken, nicht um spießbürgerliche<br />
Lobgesänge anzustimmen, sondern um ihre eigenen Aufgaben klarzustellen,<br />
um Klarheit zu schaffen über den wirklichen historischen Platz des<br />
Schriftstellers, der bei der Vorbereitung der russischen Revolution eine<br />
große Rolle gespielt hat.<br />
Herzen gehörte zu der Generation der aus den Kreisen des Adels und<br />
der Gutsbesitzer stammenden Revolutionäre der ersten Hälfte des vorigen<br />
Jahrhunderts. Der Adel hat Rußland die Biron und Araktschejew gegeben,<br />
eine zahllose Menge von „besoffenen Offizieren, Raufbolden, Spielern,<br />
Helden des Jahrmarkts, Pikören, Schlägern, Bauernpeinigern und Wüstlingen"<br />
- und schöngeistigen Manilows*. „Und zwischen ihnen", schrieb<br />
Herzen, „entwickelten sich die Männer des 14. Dezember, eine Phalanx<br />
von Helden, wie Romulus und Remus mit der Milch einer Wölfin genährt<br />
... Es sind das wahre Recken, von Kopf bis Fuß aus reinem Stahl<br />
geschmiedet, kriegerische Paladine, die bewußt in den offensichtlichen<br />
Untergang gegangen sind, um die junge Generation zu neuem Leben auf-<br />
* Manilow - Gestalt aus Gogols Roman „Die toten Seelen". Der Tibers.<br />
2 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>
10 -W.1. Centn<br />
zurütteln und die Kinder zu läutern, die inmitten von Henkertum und<br />
Knechtseligkeit geboren worden waren." 14<br />
Zu diesen Kindern gehörte Herzen. Der Aufstand der Dekabristen<br />
rüttelte ihn auf und „läuterte" ihn. In dem leibeigenen Rußland der vierziger<br />
Jahre des 19. Jahrhunderts vermochte er es, sich auf das Niveau<br />
der größten Denker seiner Zeit zu erheben. Er machte sich die Dialektik<br />
Hegels zu eigen. Er verstand, daß sie die „Algebra der Revolution" ist.<br />
Er ging weiter als Hegel, zum Materialismus, im Gefolge Feuerbachs. Der<br />
im Jahre <strong>18</strong>44 geschriebene erste der „Briefe über das Studium der<br />
Natur" - „Empirie und Idealismus" - zeigt uns einen Denker, der die<br />
unzähligen modernen Empiriker, die modernen Naturwissensdiafder, wie<br />
auch die Unmasse der heutigen Philosophen, Idealisten und Halbidealisten,<br />
jetzt noch um Haupteslänge überragt. Herzen kam ganz dicht an den<br />
dialektischen Materialismus heran und machte halt vor dem - historischen<br />
Materialismus.<br />
Dieses „Haltmachen" führte auch zu dem geistigen Zusammenbruch<br />
Herzens nach der Niederlage der Revolution von <strong>18</strong>48. Herzen hatte<br />
Rußland bereits verlassen und beobachtete diese Revolution unmittelbar.<br />
Er war damals Demokrat, Revolutionär, Sozialist. Aber sein „Sozialismus"<br />
gehörte zu den in der Epoche von <strong>18</strong>48 so zahllosen Formen und<br />
Abarten des bürgerlichen und kleinbürgerlichen Sozialismus, die durch die<br />
Junitage endgültig den Todesstoß erhielten. Im Grunde genommen war<br />
das überhaupt kein Sozialismus, sondern schöngeistige Phrase, gutgemeinte<br />
Phantasterei, in die die bürgerliche Demokratie und ebenso das<br />
Proletariat, das sich noch nicht von deren Einfluß frei gemacht hatte, ihr<br />
damaliges revolutionäres Streben kleideten.<br />
Der geistige Zusammenbruch Herzens, sein tiefer Skeptizismus und<br />
Pessimismus nach dem Jahre <strong>18</strong>48, war der Zusammenbruch der bürgerlichen<br />
Illusionen im Sozialismus. Das geistige Drama Herzens war ein<br />
Erzengnis und eine Widerspiegelung jener weltgeschichtlichen Epoche, da<br />
das revolutionäre Streben der bürgerlichen Demokratie scfocw in den letzten<br />
Zügen lag (in Westeuropa), die revolutionäre Gesinnung des sozialistischen<br />
Proletariats jedoch nodb nidht herangereift war. Das haben die<br />
Ritter der liberalen russischen Sprachschwelgerei nicht verstanden und<br />
konnten es nicht verstehen, die heute ihre konterrevolutionäre Gesinnung<br />
mit blumenreichen Phrasen über den Skeptizismus Herzens bemänteln.
Dem Qedädrtnis Herzens 11<br />
Bei diesen Rittern, die die russische Revolution von 1905 verraten, die<br />
selbst jeden Gedanken an den Ehrentitel Revolutionär vergessen haben, ist<br />
der Skeptizismus eine Form des Übergangs von der Demokratie zum<br />
Liberalismus - zu jenem knechtseligen, gemeinen, schmutzigen, bestialischen<br />
Liberalismus, der im Jahre <strong>18</strong>48 die Arbeiter zusammenschoß, der<br />
die umgestürzten Throne wieder aufrichtete, der Napoleon III. Beifall<br />
klatschte und den Herzen verfluchte, ohne seine Klassennatur zu verstehen.<br />
Bei Herzen war der Skeptizismus eine Form des Übergangs von den<br />
Illusionen des „über den Klassen stehenden" bürgerlichen Demokratismus<br />
zum harten, unerbittlichen, unbesiegbaren Klassenkampf des Proletariats.<br />
Der Beweis: die „Briefe an einen alten Freund", an Bakunin, die Herzen<br />
ein Jahr vor seinem Tod, im Jahre <strong>18</strong>69, schrieb. Herzen bricht mit dem<br />
Anarchisten Bakunin. Gewiß, noch sieht Herzen in diesem Bruch nur taktische<br />
Meinungsverschiedenheiten und nicht den Abgrund zwischen den<br />
Weltanschauungen des vom Siege seiner Klasse überzeugten Proletariats<br />
und des an seiner Rettung verzweifelnden Kleinbürgers. Gewiß, Herzen<br />
wiederholt auch hier wieder die alten bürgerlich-demokratischen Phrasen,<br />
der Sozialismus müsse auftreten mit „einer Predigt, die sich in gleicher<br />
Weise an den Arbeiter wie an den Unternehmer, an den Bauern wie an<br />
den Bürger wendet". Und dennoch, als Herzen mit Bakunin brach, wandte<br />
er seine Blicke nicht dem Liberalismus zu, sondern der Internationale, der<br />
Internationale, die von Marx geführt wurde - der Internationale, die begann,<br />
„die üHeere zu sammeln", die Heere des Proletariats, „die Arbeiterweit"<br />
zu vereinigen, „die die Welt verläßt, die genießt, ohne zu arbeiten"!<br />
15<br />
Da Herzen das bürgerlich-demokratische Wesen der ganzen Bewegung<br />
von <strong>18</strong>48 und all der Formen des vormarxschen Sozialismus nicht verstanden<br />
hatte, konnte er um so weniger die bürgerliche Natur der russischen<br />
Revolution verstehen. Herzen ist der Begründer des „russischen"<br />
Sozialismus, der „Volkstümlerrichtung". Herzen erblickte den „Sozialismus"<br />
in der Befreiung des Bauern mit Landzuteilung, im Grundbesitz der<br />
Dorfgemeinden und in der bäuerlichen Idee vom „Recht auf Grund und<br />
Boden". Seine Lieblingsgedanken zu diesem Thema hat er unzählige Male<br />
entwickelt.
12 IV. 1. <strong>Lenin</strong><br />
In Wirklichkeit gibt es in dieser Lehre Herzens wie in der ganzen<br />
russischen Volkstümlerrichtung - bis zu der matten Volkstümlerei der<br />
heutigen „Sozialrevolutionäre" — au
Dem Qedädbtnis Herzens 13<br />
lieh für die Befreiung der Bauern ein. Das sklavische Schweigen war gebrochen.<br />
Aber Herzen gehörte dem Milieu der Gutsbesitzer, der Herren an. Er<br />
hatte Rußland im Jahre <strong>18</strong>47 verlassen, hatte das revolutionäre Volk nicht<br />
gesehen und konnte keinen Glauben an das Volk haben. Daher sein liberaler<br />
Appell an die „Spitzen". Daher seine zahllosen süßlichen Briefe im<br />
„Kolokol" an Alexander II., den Henker, die man heute nicht ohne Abscheu<br />
lesen kann. Tschernyschewski, Dobroljubow, Serno-Solowjewitsdi,<br />
diese Vertreter der neuen Generation der Rasnotschinzen*-Revolutionäre,<br />
hatten tausendmal recht, wenn sie Herzen Vorwürfe machten wegen dieser<br />
Abweichungen vom Demokratismus zum Liberalismus. Allein die<br />
Gerechtigkeit fordert zu sagen, daß bei allen Schwankungen Herzens<br />
zwischen Demokratismus und Liberalismus dennoch der Demokrat in<br />
ihm die Oberhand behielt<br />
Als einer der widerwärtigsten Typen des liberalen Gesindels, Kawelin,<br />
der sich früher für den „Kolokol" gerade wegen seiner liberalen Tendenzen<br />
begeistert hatte, gegen die Konstitution auftrat, über die revolutionäre<br />
Agitation herfiel, sich gegen die „Gewalttätigkeit" und die Aufrufe zur<br />
Gewalt wandte und Geduld zu predigen begann, da bradh Herzen mit<br />
diesem liberalen Weisen. Herzen zog über sein „kümmerliches, abgeschmacktes<br />
und schädliches Pamphlet" her, das geschrieben sei „nicht<br />
für den Druck, sondern damit die liberalisierende Regierung es sich zur<br />
Richtschnur nehme", über Kawelins „politisch-sentimentale Sentenzen",<br />
die „das russische Volk als Vieh, die Regierung aber als Ausbund der<br />
Weisheit" darstellten. Der „Kolokol" veröffentlichte einen Artikel „Grabrede",<br />
in dem die Professoren gegeißelt wurden, „die das verfaulte Spinngewebe<br />
ihrer hochmütig kümmerlichen Ideen weben, die Exprofessoren,<br />
die einst treu und bieder waren, dann aber erbosten, als sie sahen, daß die<br />
gesunde Jugend mit ihrer skrofulösen Denkweise nicht sympathisieren<br />
kann". Und Kawelin erkannte sich irr diesem Porträt sofort wieder.<br />
Als Tschernyschewski verhaftet wurde, schrieb der niederträchtige<br />
Liberale Kawelin: „Die Verhaftungen scheinen mir nicht empörend...<br />
die revolutionäre Partei hält alle Mittel für gut, um die Regierung zu<br />
* Rasnotsdiinzen - Angehörige der Intelligenz, hervorgegangen aus der<br />
Geistlichkeit, der Beamtenschaft, dem Kleinbürgertum und der Bauernschaft.<br />
Der Tibers.
14 W.I.<strong>Lenin</strong><br />
stürzen, und diese verteidigt sich mit ihren Mitteln." Herzen gab diesem<br />
Kadetten eine treffende Antwort, als er anläßlidi des Verfahrens gegen<br />
Tsdiernysdiewski sagte: „Und da kommen diese kläglichen, farblosen<br />
Mensdien, diese qualligen Sdileimer, und sagen, man dürfe diese <strong>Band</strong>e<br />
von Räubern und Sdiuften, die uns regiert, nidit schmähen!"<br />
Als der Liberale Turgenjew einen Privatbrief mit der Versicherung<br />
seiner allerergebensten Gefühle an Alexander II. richtete und zwei Goldstücke<br />
für die bei der Niedersdilagung des polnisdien Aufstands verwundeten<br />
Soldaten spendete, schrieb der „Kolokol" von der „grauhaarigen<br />
Magdalena (männlichen Gesdiledits), die Seiner Majestät geschrieben<br />
hat, sie könne keinen Schlaf finden und quäle sidi ab, weil Seine Majestät<br />
nichts von der Reue wisse, die sie empfinde". Und Turgenjew erkannte<br />
sich sofort.<br />
Als das ganze Geliditer der russisdien Liberalen von Herzen abrückte,<br />
weil er Polen verteidigte, als die ganze „gebildete Gesellschaft" dem<br />
„Kolokol" den Rücken kehrte, ließ sich Herzen nidit beirren. Er fuhr<br />
fort, für die Freiheit Polens einzutreten, und geißelte audi weiterhin die<br />
Büttel, die Sdiarfrichter und Henker Alexanders II. Herzen rettete die<br />
Ehre der russischen Demokratie. „Wir haben die Ehre des russischen<br />
Namens gerettet", schrieb er an Turgenjew, „und dafür hat uns die<br />
sklavische Mehrheit leiden lassen."<br />
Als die Nadiridit eintraf, ein leibeigener Bauer habe einen Gutsbesitzer<br />
wegen eines Ansdilags auf die Ehre seiner Braut ersdilagen, kommentierte<br />
Herzen diese Nadiridit im „Kolokol": „Das hat er ausgezeichnet<br />
gemacht!" Als mitgeteilt wurde, daß zur Durchführung einer „ruhigen"<br />
„Befreiung" Militärbefehlshaber eingesetzt würden, schrieb Herzen: „Der<br />
erste gescheite Oberst, der sich mit seiner Abteilung den Bauern anschließt,<br />
anstatt sie niederzumachen, wird auf den Thron der Romanows<br />
kommen." Als der Oberst Reitern sich in Warschau ersdioß (<strong>18</strong>60), um<br />
nicht zum Helfershelfer der Henker zu werden, schrieb Herzen: „Wenn<br />
ersdiossen werden muß, so müssen die Generale erschossen werden, die<br />
den Befehl geben, auf Waffenlose zu schießen." Als man in Besdna fünfzig<br />
Bauern niedermachte und ihren Anführer, Anton Petrow, hinrichtete<br />
(12. April <strong>18</strong>61), schrieb. Herzen im „Kolokol":<br />
„Oh, wenn meine Worte dod» zu dir dringen könnten, Arbeitsmann und<br />
Märtyrer der russisdien Erde!... Wie würde ich didi lehren, deine geistlidien
Dem Qedädbtnis Herzens 15<br />
Hirten zu verachten, die der Petersburger Synod und der deutsche Zar über<br />
dich gesetzt haben... Du hassest den Gutsbesitzer, du hassest den Gerichtsschreiber,<br />
du fürchtest sie-und mit vollem Recht; aber du glaubst noch an den<br />
Zaren und den Hohenpriester... glaub ihnen nichtf Der Zar ist mit ihnen<br />
und sie mit ihm. Ihn siehst du jetzt, du, Vater des ermordeten Jünglings in<br />
Besdna, du, Sohn des ermordeten Vaters in Pensa... Deine Hirten - sie sind<br />
unwissend wie du, arm wie du ... Das war auch jener Antonius, der in Kasan<br />
für dich gelitten hat" (nicht der Bischof Antonius, sondern Anton von Besdna).<br />
„... Die Leichen deiner Heiligen werden keine achtundvierzig Wunder tun, ein<br />
Gebet zu ihnen hilft nicht gegen Zahnweh,- aber das lebendige Andenken an<br />
sie kann ein Wunder verrichten - deine Befreiung."<br />
Das zeigt, wie gemein und niedrig unsere Liberalen, die sich in der<br />
„legalen" Sklavenpresse verschanzt haben, Herzen verleumden, wie sie<br />
seine schwachen Seiten übertrieben darstellen und seine starken mit<br />
Schweigen übergehen. Es ist nicht die Schuld Herzens, es ist sein Unglück,<br />
daß er das revolutionäre Volk eben in Rußland in den vierziger Jahren<br />
nicht sehen konnte. Als er es in den sedbziger Jahren gesehen hatte, trat er<br />
furchtlos auf die Seite der revolutionären Demokratie gegen den Liberalismus.<br />
Er kämpfte für den Sieg des Volkes über den Zarismus und nicht<br />
für einen Pakt der liberalen Bourgeoisie mit dem Gutsbesitzerzaren. Er<br />
erhob das Banner der Revolution.<br />
Wenn wir Herzen feiern, sehen wir deutlich drei Generationen, drei<br />
Klassen, die in der russischen Revolution wirksam waren. Zunächst - die<br />
Adligen und Gutsbesitzer, die Dekabristen und Herzen. Eng ist der Kreis<br />
dieser Revolutionäre. Furchtbar fern stehen sie dem Volk. Aber ihre Sache<br />
ist nicht verlorengegangen. Die Dekabristen weckten Herzen. Herzen<br />
entfaltete die revolutionäre Agitation.<br />
Diese Agitation wurde aufgegriffen von den Rasnotschinzen-Revolutionären,<br />
von Tsdiernyschewski bis zu den Helden der „Narodnaja<br />
Wolja", die sie erweiterten, festigten und stählten. Weiter wurde der<br />
Kreis der Kämpfer, enger ihre Verbindung mit dem Volk. „Die jungen<br />
Steuerleute im künftigen Sturm" hat Herzen sie genannt. Aber das war<br />
noch nicht der eigentliche Sturm.<br />
Der Sturm, das ist die Bewegung der Massen selbst. Das Proletariat, die<br />
einzige wirklich revolutionäre Klasse, hat sich erhoben, ist an ihre Spitze
16 TV. 7. <strong>Lenin</strong><br />
getreten und hat zum erstenmal die Millionen Bauern zum offenen, revolutionären<br />
Kampf mitgerissen. Der erste Stoß des Sturmes erfolgte im<br />
Jahre 1905. Der nächste beginnt vor unsern Augen an Kraft zu gewinnen.<br />
Indem es Herzen feiert, lernt das Proletariat an seinem Beispiel die<br />
gewaltige Bedeutung der revolutionären Theorie verstehen; lernt es verstehen,<br />
daß die unverbrüchliche Treue zur Revolution und der revolutionäre<br />
Appell an das Volk auch dann nicht vergebens sind, wenn ganze<br />
Jahrzehnte die Ernte von der Saat trennen; lernt es die Rolle der verschiedenen<br />
Klassen in der russischen und internationalen Revolution zu bestimmen.<br />
Um diese Lehren bereichert, wird sich das Proletariat den Weg<br />
zum freien Bündnis mit den sozialistischen Arbeitern aller Länder bahnen<br />
und jenes Reptil, die zaristische Monarchie, zertreten, gegen das Herzen<br />
als erster das hehre Banner des Kampfes erhoben hat, indem er an die<br />
Massen appellierte mit dem freien russisdben Wort.<br />
„Sozia\-T>em6kral" 9fr. 26, TJadi dem. Text des<br />
8. Mai (25. April) 1912. „Sozial-Bemohrat".
DER GRUNDBESITZ<br />
IM EUROPÄISCHEN RUSSLAND<br />
Die Hungersnot, in die 30 Millionen Bauern geraten sind, hat von<br />
neuem die Frage nach der Lage der Bauernschaft in Rußland auf die<br />
Tagesordnung gesetzt. Gewöhnlich läßt man bei Erörterungen über diese<br />
Frage die Hauptsache außer acht: die Wechselbeziehung zwischen dem<br />
Großgrundbesitz der - vornehmlich adligen - Gutsherren und der Lage<br />
der Bauernschaft. Auf diese Hauptsache eben wollen wir das Augenmerk<br />
der Leser lenken.<br />
Im Jahre 1907 wurde vom Innenministerium die „Grundbesitzstatistik<br />
für 1905" herausgegeben. Auf Grund dieser offiziellen Angaben, die<br />
sicherlich keinesfalls der Parteinahme für die Bauern verdächtigt werden<br />
können, kann man eine ziemlich genaue Vorstellung über eine der hauptsächlichen<br />
Ursachen der Hungersnot gewinnen.<br />
Die Regierungsstatistik hat die Bodenfläche in den 50 Gouvernements<br />
des Europäischen Rußlands mit 395 Millionen Desjatinen angegeben.<br />
Aber diese Ziffer gibt kein Bild der wirklichen Sachlage, weil in ihr über<br />
100 Millionen Desjatinen an fiskalischen Ländereien im Hohen Norden, in<br />
den Gouvernements Archangelsk, Olonez und Wologda einbegriffen<br />
sind. Für die Landwirtschaft sind diese Ländereien größtenteils ungeeignet;<br />
es sind das die Tundren und Wälder des Hohen Nordens. Gewöhnlich<br />
wird auf diese Ländereien nur verwiesen, um die wirkliche Verteilung<br />
des für landwirtschaftliche Zwecke tauglichen Bodens im dunkeln zu<br />
lassen.<br />
Scheidet man diese Ländereien aus, so erhält man als Gesamtfläche<br />
geeigneten Bodens (abgerundet) 280 Millionen Desjatinen. Von diesem<br />
Boden befinden sich 101 Millionen Desjatinen in Privatbesitz, und<br />
17
<strong>18</strong><br />
r W. 1. <strong>Lenin</strong><br />
139 Millionen sind Anteilland. Es gilt, den gutsherrlidien Großgrundbesitz<br />
und den kleinbäuerlichen Grundbesitz auseinanderzuhalten.<br />
über die großen Güter macht die Regierungsstatistik folgende Angaben:<br />
Persönliches Privateigentum an Qrund und Boden<br />
im Europäisdoen Rußland<br />
Durchsdinitts-<br />
Anzahl große einer<br />
der Land in Besitzung<br />
Größe des Besitzes Besitzungen Desjatinen in Desjatinen<br />
von 50O- 2 000 Desjatinen 21748 20 590 708 947<br />
„ 2000-10000 „ 5 386 20602109 3 825<br />
über 10000 699 20798 504 29 754<br />
Insgesamt 27 833 61991 321 2 227<br />
Diese Angaben sind unvollständig, da weder die Apanageländereien<br />
noch die Ländereien der großen Handelsgesellschaften und dergleichen<br />
einbezogen sind. Aber immerhin können wir aus diesen Angaben die<br />
"Hauptsache über den gutsherrlichen Grundbesitz in Rußland erfahren.<br />
Siebenhundert Gutsbesitzer besitzen 2 i Millionen Desjatinen, das heißt,<br />
jeder einzelne besitzt fast dreißigtausend Desjatinen.<br />
Weniger als achtundzwanzigtausend Gutsbesitzer besitzen 62 Millionen<br />
Desjatinen Land, das heißt, im Durchschnitt entfallen auf jeden einzelnen<br />
2200 "Desjatinen. Hinzufügen muß man hier die Apanageländereien; man<br />
zählt über fünf Millionen Desjatinen. Dann gehören mehr als dreieinhalb<br />
Millionen Desjatinen Land 272 „Handels- und Industriegesellschaften,<br />
Betriebsgesellschaften u. a.". Es sind das zweifellos große Güter — ihre<br />
Hauptmasse ist im Gouvernement Perm konzentriert -; hier gehören<br />
neun solchen Gesellschaften fast anderthalb Millionen Desjatinen Land<br />
(die genaue Ziffer: t 448 902).<br />
Wir erhalten also insgesamt keinesfalls weniger, sondern sicherlich<br />
mehr als 70 Millionen Desjatinen Land, die den größten Gutsbesitzern<br />
gehören. Die Zahl dieser großen Gutsbesitzer erreicht nicht 30 000.<br />
Nehmen wir jetzt den Grundbesitz der Bauern. Nach den Angaben der<br />
Regierungsstatistik besaßen die Bauern mit den kleinsten Parzellen an<br />
Anteilland:
Der Qrundbesitz im Europäisäoen Rußland 19<br />
Größe des Anteillandes<br />
Bis 5 Desjatinen<br />
5-8 „<br />
8-15 „<br />
Anteilland<br />
Anzahl der Höfe<br />
2 857650<br />
3 317601<br />
3 932 485<br />
Land in<br />
Desjatinen<br />
9030 333<br />
21 706 550<br />
42<strong>18</strong>2 923<br />
Im Durchschnitt<br />
auf<br />
einen Hof<br />
Desjatinen<br />
3,1<br />
6,5<br />
10,7<br />
Insgesamt 10107736 72 919 806 7,0<br />
Also besitzen zehn Millionen Bauernfamilien - von insgesamt etwa<br />
13 Millionen - 73 Millionen Des/atmen Land. Im Durchschnitt entfallen<br />
auf einen Hof sieben Desjatinen. Hinzufügen muß man hier noch die im<br />
Privatbesitz befindlichen kleinen Wirtschaften: Besitzer mit bis zu 10 Desjatinen<br />
zählt man 409 864, an Land besitzen sie 1625 226 Desjatinen,<br />
d. h. weniger als vier Desjatinen je Hof. Folglich erhalten wir ungefähr<br />
zehneinhalb Millionen Bauernfamilien mit 75 Millionen Desjatinen Land.<br />
Nunmehr können wir diese grundlegenden Daten, die bei den Betrachtungen<br />
über die Bauernfrage sehr häufig vergessen oder unrichtig dargestellt<br />
werden, zusammenfassen:<br />
Der gutsherrliche Großgrundbesitz: 30 000 Besitzer - 70 Millionen<br />
Desjatinen Land.<br />
Der kleinbäuerliche Grundbesitz: zehneinhalb Millionen Besitzer -<br />
75 Millionen Desjatinen Land.<br />
Selbstverständlich sind das allgemeine Angaben. Um die Lage der<br />
Bauern und die Bedeutung der großen Güter eingehender zu studieren,<br />
muß man auf die Angaben für die verschiedenen Gebiete oder Bezirke,<br />
zuweilen sogar für die einzelnen Gouvernements, zurückgreifen. Aber die<br />
Ökonomen der Regierung wie die Ökonomen aus dem liberalen Lager und<br />
teilweise sogar aus dem Lager der Volkstümler verdunkeln sehr häufig den<br />
Xern der Bodenfrage eben durch Hinweise auf einzelne Gebiete oder auf<br />
einzelne spezielle Seiten der Frage. Um sich über die fundamentale Bedeutung<br />
der Bodenfrage und über die Lage der Bauern klarzuwerden, darf<br />
man die angeführten grundlegenden Angaben nicht außer acht lassen, darf<br />
man nicht gestatten, daß das Grundlegende durch Einzelheiten verdunkelt<br />
werde.
20 W.l£enin<br />
Beispiele für solche Verdtmkelnngsversnche werden wir im nächsten<br />
Artikel anführen.* Heute jedoch wollen wir das erste grundlegende Fazit<br />
ziehen. Der Grund und Boden im Europäischen Rußland ist so verteilt,<br />
daß die größten Gutsbesitzer, von denen jeder über mehr als 500 Desjatinen<br />
verfügt, 70 Millionen Desjatinen besitzen, wobei die Zahl dieser<br />
Gutsbesitzer nicht einmal 30 000 erreicht.<br />
Die übergroße Mehrheit der Bauern hingegen, nämlich zehneinhalb<br />
Millionen Familien von insgesamt 13 Millionen Bauernfamilien, besitzen<br />
75 Millionen Desjatinen Land.<br />
Die Durdisdinittsgröße der Güter der Großgrundbesitzer beträgt<br />
2200 Desjatinen. Die Durchschnittsgröße der Parzelle des Kleinbauern -<br />
sieben Desjatinen.<br />
Ginge der Grund und Boden der dreißigtausend Großbesitzer an die<br />
zehn Millionen Bauernhöfe über, so würde sich der Bodenbesitz dieser<br />
Höfe fast verdoppeln.<br />
Welche wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Gutsbesitzern und<br />
den Bauern sich aus einer solchen Bodenverteilung ergeben, darüber das<br />
nächste Mal.<br />
„Netoskaja Swesda' 3Vr. 3, "Nada dem Jext der<br />
6. Mai 1912. ."Newskaja Swesda".<br />
IXnUrsdoriit-.lLSiMn.<br />
* Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 60-64. D»e <strong>Red</strong>.
DIE TRUDOWIKI<br />
UND DIE ARBEITERDEMOKRATIE<br />
Die Wahlkampagne für die Wahlen zur IV. Duma hat zu einer gewissen<br />
Belebung geführt und das Interesse für politische Fragen erhöht.<br />
Die durch die Ereignisse an der Lena ausgelöste breite Bewegung hat diese<br />
Belebung vertieft und dieses Interesse besonders groß werden lassen. Mehr<br />
denn je ist es heute am Platze, die Frage des Verhältnisses der Trudowiki,<br />
d. h. der Bauerndemokratie, zur Arbeiterdemokratie zu erörtern.<br />
Herr W. Wodowosow legt in dem Artikel „Die Trudowildgruppe und<br />
die Arbeiterpartei" („Saprossy Shisni" Nr. 17) den Standpunkt der<br />
Trudowiki in dieser Frage dar, wobei er auf meine Artikel in der<br />
„Swesda" <strong>18</strong> „Liberalismus und Demokratie"* antwortet. Der Streit berührt<br />
das eigentliche Wesen der beiden politischen Richtungen, in denen<br />
die Interessen von neun Zehnteln der Bevölkerung Rußlands ihren Ausdruck<br />
finden. Es ist darum die Pflicht eines jeden Demokraten, dem<br />
Gegenstand des Streites die größte Aufmerksamkeit entgegenzubringen.<br />
I<br />
Die Arbeiterdemokratie steht auf dem Standpunkt des Klassenkampfes.<br />
Die Lohnarbeiter bilden eine bestimmte Klasse in der modernen Gesellschaft.<br />
Die Lage dieser Klasse unterscheidet sich radikal von der Lage der<br />
Klasse der Kleinbesitzer, der Bauern. Darum kann von ihrer Vereinigung<br />
in einer Partei keine <strong>Red</strong>e sein.<br />
Das Ziel der Arbeiter ist die Vernichtung der Lohnsklaverei durch die<br />
Beseitigung der Herrschaft der Bourgeoisie. Die Bauern erheben demokratische<br />
Forderungen, die geeignet sind, die Leibeigenschaft in allen<br />
• Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 17, S. 561-570. Die <strong>Red</strong>.<br />
21
22 IV. 3. <strong>Lenin</strong><br />
ihren sozialen Grundlagen und Erscheinungsformen zu vernichten, die<br />
aber ungeeignet sind, die Herrschaft der Bourgeoisie auch nur anzutasten.<br />
Die diesen wie jenen gemeinsamen Aufgaben bringen in Rußland in der<br />
gegenwärtigen Etappe die Bauern- und die Arbeiterdemokratie einander<br />
näher, die nicht anders als getrennt marschieren können, die aber vereint<br />
handeln können - und es im Interesse des Erfolges müssen — gegen alles,<br />
was dem Demokratismus widerspricht. Wenn diese Vereinigung oder<br />
diese Gemeinsamkeit des Handelns nicht verwirklicht werden wird, wenn<br />
sich die Bauerndemokratie nicht von der Vormundschaft der Liberalen<br />
(der Kadetten) frei machen wird, kann von ernsthaften demokratischen<br />
Umgestaltungen in Rußland keine <strong>Red</strong>e sein.<br />
Das sind die Anschauungen der Arbeiterdemokraten, der Marxisten,<br />
die ich in den beiden Artikeln „Liberalismus und Demokratie" entwickelt<br />
habe.<br />
Die Trudowiki, deren Anschauungen Herr Wodowosow darlegt, wollen<br />
eine „über den Klassen stehende" Partei sein. Ihrer Überzeugung nach<br />
könnte eine Partei „durchaus den Interessen von drei Gesellschaftsklassen<br />
Genüge leisten": der Bauernschaft, der Arbeiterklasse und der „werktätigen<br />
Intelligenz".<br />
Ich hatte gesagt, diese „Überzeugung" widerspreche 1. allen Wahrheiten<br />
der ökonomischen Wissenschaft, 2. allen Erfahrungen der Länder,<br />
die der gegenwärtigen Epoche in Rußland ähnliche Epochen durchgemacht<br />
haben, 3. den Erfahrungen Rußlands in einer besonders wichtigen, besonders<br />
kritischen Periode der russischen Geschichte ^im Jahre 1905. Ich<br />
hatte mich lustig gemacht über die echt kadettischen Ansprüche, verschiedene<br />
Klassen zu „umfassen", und hatte daran erinnert, daß die Kadetten<br />
die Herren Maklakow als „werktätige Intelligenz" bezeichnen.<br />
Herr Wodowosow versucht, ohne diese meine Argumente vollständig<br />
und im Zusammenhang anzuführen, fragmentarische Einwendungen zu<br />
machen. Gegen das erste Argument z. B. erklärt er: „Die Bauernschaft ist<br />
eine Masse, die von ihrer Arbeit lebt, ihre Interessen sind die Interessen<br />
der Arbeit, und darum bildet sie die eine Abteilung in der großen Armee<br />
der Arbeit, so wie die Arbeiter die andere Abteilung bilden."<br />
Das ist keine marxistische ökonomische Wissenschaft, sondern eine<br />
bürgerliche: durch die Phrase von den Interessen der Arbeit wird hier der<br />
grundlegende Unterschied zwischen der Lage des Kleinbesitzers und der
Die Jrudotviki und die Arbeiterdemokratie 23<br />
des Lohnarbeiters vertuscht. Der Arbeiter besitzt keinerlei Produktionsmittel<br />
und verkauft sich selbst, seine Hände, seine Arbeitskraft. Der Bauer<br />
besitzt Produktionsmittel - Geräte, Vieh, Land, eigenes oder gepachtetes -<br />
und verkauft die Produkte seiner Wirtschaft, er ist Kleinbesitzer, Kleinunternehmer,<br />
Kleinbürger.<br />
Die Bauern dingen auch heute in Rußland nicht weniger als zwei Millionen<br />
landwirtschaftlicher Lohnarbeiter für ihre Wirtschaften. Gingen<br />
aber alle Gutsbesitzerländereien ohne Ablösung an die Bauern über, dann<br />
würden sie noch weitaus mehr Arbeiter dingen.<br />
Ein solcher Übergang des Bodens an die Bauern liegt im gemeinsamen<br />
Interesse der gesamten Bauernschaft, aller Lohnarbeiter, der ganzen<br />
Demokratie, weil der gutsherrliche Grundbesitz die Basis ist für die politische<br />
Macht der Gutsbesitzer, für eine Macht von solchem Typus, wie ihn<br />
Purischkewitsch, dann Markow 2 und die übrigen „Größen der III. Duma",<br />
die Nationalisten, Oktobristen usw. Rußland besonders anschaulich<br />
vor Augen geführt haben. '<br />
Hieraus erhellt, daß das gemeinsame Ziel, das heute den Bauern und<br />
Arbeitern gesetzt ist, absolut nichts Sozialistisches in sich birgt, entgegen<br />
der Meinung der Schwarzhunderterignoranten und zuweilen auch der<br />
Liberalen. Dieses Ziel ist ein ausschließlich demokratisches Ziel. Ist dieses<br />
Ziel erreicht, so wäre die Freiheit für Rußland errungen, aber noch keineswegs<br />
die Lohnsklaverei vernichtet.<br />
Um das vereinte Handeln verschiedener Klassen ernsthaft zu organisieren,<br />
für einen wirklichen und dauerhaften Erfolg solchen Handelns bedarf<br />
es der klaren Erkenntnis, worin die Interessen dieser Klassen übereinstimmen<br />
und worin sie auseinandergehen. Jegliche Irrtümer, jegliche<br />
„Mißverständnisse" in dieser Hinsicht, jede Verdunkelung der Sache<br />
durch Phrasen muß sich auf das verhängnisvollste auswirken, muß den<br />
Erfolg vereitern.<br />
II<br />
„Die landwirtschafdiche Arbeit unterscheidet sich von der Fabrikarbeit;<br />
aber die Fabrikarbeit unterscheidet sich doch auch von der Arbeit der Handlungsgehilfen<br />
im Laden - allein die ,Swesda' beweist den Handlungsgehilfen<br />
eindringlich, daß sie mit den Arbeitern eine Klasse bilden, daß sie darum die<br />
Sozialdemokratie als ihre Vertreterin betrachten müssen ..."
24 W. J. <strong>Lenin</strong><br />
Das ist die Erwiderung des Herrn Wodowosow auf die Argumente von<br />
dem tiefen Klassenunterschied zwischen den Kleinbesitzern und den<br />
Lohnarbeitern! Die Betrachtungen des Herrn Wodowosow sind auch hier<br />
von dem gewöhnlichen Geist der bürgerlichen politischen Ökonomie<br />
durchdrungen. Der landwirtschaftliche Kleinbesitzer gehört zusammen<br />
mit dem Fabrikanten, mit dem Kleinbesitzer in Handel und Gewerbe zu<br />
einer Klasse; hier gibt es keinen Unterschied zwischen Klassen, sondern<br />
zwischen Berufen. Der landwirtschaftliche Lohnarbeiter gehört mit dem<br />
•Cobnarbeiter aus Fabrik und Handel zu einer Klasse.<br />
Diese Wahrheiten sind vom Standpunkt des Marxismus die allerelementarsten<br />
Wahrheiten. Und wenn Herr Wodowosow „meinen" Marxismus<br />
„äußerst vereinfacht" nennt, so hofft er vergeblich, dadurch das Wesen der<br />
Sadbe verdecken zu können: daß nämlich die Trudowiki ständig von der<br />
marxistischen politischen Ökonomie zur bürgerlichen abirren.<br />
Dieselbe Tendenz zum Abirren, und zwar in eben derselben Richtung,<br />
offenbart Herr Wodowosow, wenn er meine 1 Berufung auf die Erfahrungen<br />
aller Länder und auf die Erfahrungen Rußlands - hinsichtlich des tiefgreifenden<br />
Klassenunterschiedes zwischen den Kleinbesitzern und den<br />
Lohnarbeitern - mit dem Hinweis darauf zu widerlegen versucht, daß zuweilen<br />
verschiedene Parteien eine Klasse repräsentieren und umgekehrt.<br />
Die Arbeiter in Europa folgen manchmal den Liberalen, den Anarchisten,<br />
den Klerikalen usw. Die Gutsbesitzer verteilen sich zuweilen auf verschiedene<br />
Parteien.<br />
Was ist denn damit bewiesen? Lediglich, daß außer den Klassenunterschieden<br />
auch andere Unterschiede, z. B. religiöse, nationale usw., Einfluß<br />
auf die Bildung von Parteien haben.<br />
Diese Tatsache stimmt, aber in welcher Beziehung steht sie zu unserem<br />
Streit? Zeigt Herr Wodowosow für Rußland die besonderen historischen<br />
- religiösen, nationalen oder anderen - Bedingungen auf, die sich in dem<br />
gegebenen 7a\\ den Klassenunterschieden binzugesellen würden?<br />
Herr Wodowosow hat absolut keine derartigen Bedingungen aufgezeigt<br />
und konnte sie auch nicht aufzeigen. Der Streit ging ausschließlich<br />
darum, ob bei uns eine „über den Klassen stehende" Partei mögr<br />
lieh sei, die „den Interessen von drei Klassen Genüge leisten" würde<br />
(wobei es lächerlich ist, die „werktätige Intelligenz" als Klasse zu bezeichnen).
Die Jrudowiki und die Arbeiterdemokratie 25<br />
Auf diese Frage gibt die Theorie die klare Antwort: das ist unmöglich!<br />
Eine ebenso klare Antwort geben die Erfahrungen des Jahres 1905, wo<br />
sich in den unmittelbarsten und größten Massenaktionen in einem außerordentlich<br />
wichtigen kritischen Augenblick der russischen Geschichte alle<br />
Klassen- und Gruppenunterschiede, alle nationalen usw. Unterschiede besonders<br />
deutlich offenbart haben. Die Theorie des Marxismus erhielt ihre<br />
Bestätigung durch die Erfahrungen des Jahres 1905, die gezeigt haben,<br />
daß eine einheitliche Bauern- und Arbeiterpartei in Rußland unmöglich ist.<br />
Al!e drei Dumas haben dasselbe gezeigt.<br />
Was soll da der Hinweis darauf, daß in verschiedenen Ländern Europas<br />
manchmal eine Klasse auf mehrere Parteien aufgeteilt war oder verschiedene<br />
Klassen unter der Führung einer Partei vereinigt waren? Dieser Hinweis<br />
besagt absolut nichts. Mit diesem Hinweis geht Herr Wodowosow<br />
nur der zu erörternden Frage aus dem Wege, versucht er nur, den Leser<br />
abzulenken.<br />
Für den Erfolg der russischen Demokratie ist es überaus wichtig, daß<br />
sie ihre Kräfte kenne, die Lage der Dinge nüchtern betrachte, klar be-<br />
' greife, auf welche Klassen sie zu rechnen vermag. Sich durch Illusionen<br />
verführen lassen, die Klassenunterschiede durch Phrasen verdecken, sich<br />
mit frommen Wünschen über sie hinwegsetzen — all das ist im höchsten<br />
Grade schädlich.<br />
Man muß den tiefen, im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft, im<br />
Rahmen der Herrschaft des Marktes nicht zu beseitigenden Klassenzwiespalt<br />
zwischen den Bauern und den Arbeitern Rußlands offen anerkennen.<br />
Man muß offen anerkennen, worin beute ihre Interessen übereinstimmen.<br />
Man muß jede dieser Klassen einigen, ihre Kräfte zusammenschließen,<br />
ihr politisches Bewußtsein entwickeln und die gemeinsame Aufgabe bestimmen.<br />
Eine „radikale" (ich gebrauche den Ausdruck des Herrn Wodowosow,<br />
obgleich er mir nicht sehr glücklich scheint) Bauernpartei ist nützlich und<br />
notwendig.<br />
Alle Versuche, eine „über den Klassen stehende" Partei zu schaffen, die<br />
Versuche, Bauern und Arbeiter in einer Partei zu vereinigen, die Versuche,<br />
irgendeine niditexistierende „werktätige Intelligenz" als besondere<br />
Klasse hinzustellen, sind äußerst schädlich, sind verderblich für die<br />
russische Freiheit, weil solche Versuche nichts anderes zur Folge haben<br />
3 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>
26 IV. 1. <strong>Lenin</strong><br />
können als Enttäuschungen, Kräfteverlust und Trübung des politischen<br />
Bewußtseins.<br />
Wir stehen der Bildung einer konsequent demokratischen Bauernpartei<br />
voller Sympathie gegenüber und sind eben deshalb verpflichtet, die erwähnten<br />
Versuche zu bekämpfen. Die Arbeiter sind zugleich verpflichtet,<br />
gegen den Einfluß der Liberalen auf die demokratische Bauernschaft zu<br />
kämpfen.<br />
III<br />
über das Verhältnis der Liberalen zur bürgerlichen Demokratie, der<br />
Kadetten zu den Trudowiki, hat die Konferenz der letzteren nichts Klares<br />
und Bestimmtes gesagt. 19 Bei den Trudowiki ist kein Verständnis dafür zu<br />
entdecken, daß gerade die Abhängigkeit der demokratischen Bauernschaft<br />
von den Liberalen einer der Hauptgründe war für den Mißerfolg der<br />
Freiheitsbewegung in den Jahren 1905/1906, daß ein Erfolg dieser Bewegung<br />
unmöglidb ist, wenn nicht die breiten Schichten und die führenden<br />
Schichten der Bauernschaft den Unterschied zwischen Demokratismus und<br />
Liberalismus erkennen, wenn sie sich nicht frei machen von der Vormundschaft<br />
und der Herrschaft der Liberalen.<br />
Herr Wodowosow hat diese Frage von grundlegender Wichtigkeit nur<br />
höchst flüchtig und unzureichend berührt. Er erklärt, daß „die Kadettenpartei<br />
vornehmlich die Interessen der städtischen Bevölkerung vertritt".<br />
Das stimmt nicht. Eine solche Bestimmung der Klassenwurzeln und der<br />
politischen Rolle der Partei der Kadetten ist ganz und gar untauglich.<br />
Die Partei der Kadetten ist die Partei der liberal-monarchistischen<br />
Bourgeoisie. Die soziale Basis dieser Partei (wie auch der „Progressisten")<br />
sind die (im Vergleich zu den Oktobristen) ökonomisch fortschrittlicheren<br />
Schichten der Bourgeoisie, insbesondere aber die bürgerliche Intelligenz.<br />
Zwar folgt noch ein Teil des städtischen und ländlichen Kleinbürgertums<br />
dieser Partei, doch lediglich kraft der Tradition (d. h. der einfachen Gewohnheit,<br />
der blinden Wiederholung des Gestrigen) und weil er von den<br />
Liberalen direkt betrogen wird. -<br />
Wenn die Kadetten sich als Demokraten bezeichnen, betrügen sie sich<br />
selbst und betrügen sie das Volk. In Wirklichkeit sind die Kadetten konterrevolutionäre<br />
Liberale.<br />
Die ganze Geschichte Rußlands, besonders des 20. Jahrhunderts, be-
Die Jrudowiki und die Arbeiterdemokratie 27<br />
sonders der Jahre 1905/1906, hat das vollauf bewiesen, der Sammelband<br />
„Wechi" 20 aber hat das besonders anschaulich, klar und vollständig<br />
demonstriert und enthüllt. Und keinerlei „Vorbehalte" der kadettischen<br />
Diplomaten gegenüber den „Wechi" werden an dieser Tatsache etwas<br />
ändern.<br />
Der erste Abschnitt der Freiheitsbewegung in Rußland, das erste Jahrzehnt<br />
des 20. Jahrhunderts hat offenbart, daß noch breite Massen der<br />
Bevölkerung, die zur Demokratie neigen, nicht in genügendem Maße<br />
politisch bewußt sind, den Liberalismus vom Demokratismus nicht unterscheiden<br />
und sich der Führung der Liberalen unterwerfen. Solange sich<br />
das nicht ändert und soweit sich das nicht ändert, ist es zwecklos, von<br />
irgendeiner demokratischen Umgestaltung Rußlands auch nur zu reden.<br />
Das würde nur leeres Gerede sein.<br />
Welche Einwendungen macht Herr Wodowosow gegen diese Prämissen,<br />
auf denen mein Artikel aufgebaut war? „Die Trudowiki", schreibt er,<br />
„halten es unter den gegenwärtigen Bedingungen für äußerst untaktisch<br />
(!!), zuviel von dem konterrevolutionären Charakter der Kadetten<br />
zu sprechen "<br />
Da hat man's! Was soll hier die „Taktik"? was soll hier das „zuviel"?<br />
Wenn es wahr ist, daß die Kadetten konterrevolutionäre Liberale sind,<br />
dann ist es Pflicht, die Wahrheit zu sagen. Ob man viel, ob man wenig<br />
von den konterrevolutionären Rechten und von den konterrevolutionären<br />
Liberalen sprechen soll — das ist eine ganz und gar zweitrangige Frage:<br />
Jedesmal, wenn der Publizist von den Rechten spricht, jedesmal, wenn er<br />
von den Liberalen spricht, muß er die Wahrheit sagen. Die Trudowiki<br />
haben über die Rechten die Wahrheit gesagt. Dafür sprechen wir ihnen<br />
unser Lob aus. Von den Liberalen haben die Trudowiki selbst zu sprechen<br />
begonnen - und sie haben die Wahrheit nicht ausgesprochen l<br />
Nur deswegen machen wir den Trudowiki Vorwürfe.<br />
„Zuviel" oder zuwenig - das ist durchaus belanglos. Mögen die<br />
Trudowiki tausend Zeilen den Rechten widmen und fünf den Liberalen,<br />
wir werden dagegen nichts einwenden. Nicht deswegen haben wir Einwendungen<br />
gegen die Trudowiki erhoben. Wir haben Einspruch dagegen<br />
erhoben, daß in diesen „fünf Zeilen" (machen Sie sich selbst den Vorwurf,<br />
Herr Wodowosow, daß Sie Ihr unglückliches „zuviel" in die Debatte<br />
geworfen haben!) nicht die Wahrheit über die Liberalen gesagt wurde.
28 WJ.<strong>Lenin</strong><br />
Herr Wodowosow'ist einer Antwort auf das Wesentliche ausgewichen:<br />
Sind die Kadetten konterrevolutionär oder nicht?<br />
Das Ausweichen der Trudowiki vor dieser Frage ist ein großer Fehler,<br />
ein Zeichen dafür, daß in der Praxis ein Teil der Demokraten und ein Teil<br />
der ehemaligen Marxisten vom Liberalismus abhängig ist.<br />
Diese Frage ist durch die ganze Geschichte des ersten Jahrzehnts des<br />
20. Jahrhunderts unabwendbar aufgeworfen.<br />
Heute wachsen in Rußland überall, in den verschiedensten Schichten<br />
der Bevölkerung, neue demokratische Elemente heran. Das ist eine Tatsache.<br />
Diese demokratischen Elemente müssen, während sie heranwachsen,<br />
in konsequentem Demokratismus erzogen werden. Eine solche Erziehung<br />
ist unmöglich, ohne das wahre Wesen der Liberalen klarzustellen, die<br />
über Hunderte von Organen verfügen, hundert Sitze in der Duma innehaben<br />
und dergestalt ständig in pseudodemokratischer Richtung unvergleichlich<br />
mehr Menschen beeinflussen, als unsere Propaganda erfassen<br />
kann.<br />
Die Demokratie muß ihre Kräfte zusammenschließen. Die Trudowiki<br />
werden wir stets für ihre demokratischen <strong>Red</strong>en über die Rechten loben.<br />
Aber ihr Demokratismus wird inkonsequent sein, wenn sie dann, wenn sie<br />
von den Liberalen sprechen, auf liberale Art sprechen, anstatt eine Sprache<br />
zu sprechen, die eines Demokraten würdig ist.<br />
Nicht zwei Lager kämpfen bei den Wahlen, sondern drei. Verwechseln<br />
Sie nicht, meine Herren Trudowiki, das zweite (liberale) Lager mit dem<br />
dritten (demokratischen). Vertuschen Sie nicht den Unterschied zwischen<br />
ihnen - für diese schlechte Sache tragen schon die Liberalen „zuviel"<br />
Sorge.<br />
„Prawda" 5Vr. 13 und 14, Tlada dem Jext der .Prawda".<br />
8.und9.!Mai 1912.<br />
Unterschrift-. P.P.
DIE POLITISCHEN PARTEIEN IN RUSSLAND<br />
Die Wahlen zur Reichsduma veranlassen alle Parteien, ihre Agitation<br />
zu verstärken, ihre Kräfte zusammenzufassen, um möglichst viel Abgeordnete<br />
„ihrer" Partei durchzubringen.<br />
Dabei wird auch bei uns, wie in allen anderen Ländern, die hemmungsloseste<br />
Wahlreklame entfaltet. Alle bürgerlichen Parteien, das heißt alle<br />
diejenigen, die die ökonomischen Privilegien der Kapitalisten verteidigen,<br />
machen für ihre Parteien ebenso Reklame, wie die einzelnen Kapitalisten<br />
für ihre Waren Reklame machen. Man betrachte die Geschäftsinserate in<br />
einer beliebigen Zeitung, und man wird sehen, wie die Kapitalisten die<br />
„effektvollsten", schreiendsten, modischsten Bezeichnungen für ihre<br />
Waren ersinnen und sie über den grünen Klee loben, ohne sich auch nur<br />
den geringsten Zwang anzutun, ohne vor irgendeiner Lüge oder Erfindung<br />
haltzumachen.<br />
Das Publikum - zumindest in den großen Städten und in den Handelszentren<br />
- hat sich längst an die Geschäftsreklame gewöhnt und weiß, was<br />
sie wert ist. Leider verwirrt die politische Reklame unvergleichlich mehr<br />
Menschen, ihre Entlarvung ist weitaus schwieriger, der Betrag hält hier<br />
viel länger vor. Die Namen der Parteien werden — in Europa wie auch bei<br />
uns - zuweilen direkt zum Zweck der Reklame ausgewählt, die „Programme"<br />
der Parteien werden sehr, sehr oft nur geschrieben, um das<br />
Publikum zu betrügen. Je größer die politische Freiheit in einem kapitalistischen<br />
Land ist, je mehr Demokratismus es gibt, d. h., je größer die<br />
Macht des Volkes und der Volksvertreter ist, desto unverfrorener wird<br />
häufig die Reklame der Parteien.<br />
Wie soll man sich da, bei einer solchen Lage der Dinge, in dem Kampf<br />
29
30 IV. 1. <strong>Lenin</strong><br />
der Parteien zurechtfinden? Bedeutet nicht dieser Kampf mit all seinem<br />
Betrug und seiner Reklame, daß Vertretungskörperschaften, Parlamente,<br />
Versammlungen von Volksvertretern überhaupt unnütz, ja sogar schädlich<br />
sind, wie das die Erzreaktionäre, die Feinde des Parlamentarismus, nicht<br />
müde werden zu versichern? Nein. Gibt es keine Vertretungskörperschaften,<br />
so gibt es noch weitaus mehr Täuschung, politische Lüge und<br />
betrügerische Machinationen jeder Art, und das Volk hat weitaus weniger<br />
Mittel in der Hand, um den Betrug aufzudecken und die Wahrheit ausfindig<br />
zu machen.<br />
Um sich in dem Kampf der Parteien zurechtzufinden, darf man den<br />
Parteien nicht aufs Wort glauben, sondern muß ihre wirkliche Geschichte<br />
studieren, muß man nicht so sehr studieren, was die Parteien über sich<br />
selbst sagen, als vielmehr, was sie tun, wie sie bei der Entscheidung der<br />
verschiedenen politischen Fragen handeln, wie sie sich in den Fragen verhalten,<br />
die die Lebensinteressen der verschiedenen Klassen der Gesellschaft<br />
berühren, der Gutsbesitzer, der Kapitalisten, der Bauern, der<br />
Arbeiter und so weiter.<br />
Je größer die politische Freiheit in einem Lande ist, je fester begründet<br />
und demokratischer seine Vertretungskörperschaften sind, desto leichter<br />
ist es für die Volksmassen, sich im Kampf der Parteien zurechtzufinden<br />
und die Politik zu erlernen, d. h. den Betrug aufzudecken und die Wahrheit<br />
ausfindig zu machen.<br />
Am klarsten tritt die Teilung jeder Gesellschaft in politische Parteien<br />
in der Zeit tiefer, das ganze Land erschütternder Krisen hervor. Die<br />
Regierungen pflegen dann notgedrungen Stützen in den verschiedenen<br />
Klassen der Gesellschaft zu suchen; der ernste Kampf fegt alle Phrasen,<br />
alles Kleinliche, Angeschwemmte hinweg; die Parteien spannen alle ihre<br />
Kräfte an, wenden sich an die Massen des Volkes, und die Massen, geleitet<br />
vom richtigen Instinkt, aufgeklärt durch die im offenen Kampf erworbenen<br />
Erfahrungen, folgen den Parteien, die die Interessen dieser oder<br />
jener Klasse zum Ausdruck bringen.<br />
Die Zeiten solcher Krisen bestimmen stets für viele Jahre, ja selbst<br />
Jahrzehnte, die Parteiengrappierung der gesellschaftlichen Kräfte des<br />
betreffenden Landes. In Deutschland z. B. waren die Kriege von <strong>18</strong>66<br />
und <strong>18</strong>70 eine solche Krise; in Rußland die Ereignisse von 1905. Es ist<br />
unmöglich, das Wesen unserer politischen Parteien zu begreifen, es ist
Die politisiert Parteien in Rußland 31<br />
unmöglich, sich klar darüber zu werden, welche "Klassen diese oder jene<br />
Partei in Rußland vertritt, ohne auf die Ereignisse dieses Jahres zurückzugehen.<br />
Beginnen wir unsere kurze Skizze der politischen Parteien in Rußland<br />
mit den extremen Rechtsparteien.<br />
Auf dem äußersten rechten Flügel treffen wir den Bund des russischen<br />
Volkes.<br />
Das Programm dieser Partei wird im Blatt des Bundes des russischen<br />
Volkes, im „Russkoje Snamja" [Reußenfahne], herausgegeben von<br />
A. I. Dubrowin, folgendermaßen dargelegt:<br />
„Der Bund des russischen Volkes, den der Zar am 3. Juni 1907 von der Höhe<br />
seines Thrones herab des Appells gewürdigt hat, ihm eine zuverlässige Stütze<br />
zu sein, indem er für alle und in allem als Beispiel der Gesetzlichkeit und der<br />
Ordnung diene, bekennt, daß der Wille des Zaren nur verwirklicht werden<br />
kann, wenn 1. die mit der russischen rechtgläubigen, kanonisch geordneten<br />
Kirche unlösbar und lebendig verbundene Selbstherrschaft ihre Macht voll<br />
einsetzt; wenn 2. russisches Volkstum nicht nur in den inneren Gouvernements,<br />
sondern auch in den Randgebieten herrschend wird; wenn 3. eine ausschließlich<br />
aus russischen Männern zusammengesetzte Reichsduma bestehen wird als<br />
Hauptgehilfin des Selbstherrschers in seinen Bemühungen um den staatlichen<br />
Aufbau; wenn 4. die grundlegenden Thesen des Bundes des russischen Volkes<br />
bezüglich der Juden voll und ganz beachtet werden und wenn 5. Beamte, die<br />
zu den Gegnern der zaristischen absoluten Macht gehören, aus dem Staatsdienst<br />
entlassen werden."<br />
Wir haben diese feierliche Deklaration der Rechten genau wiedergegeben,<br />
einerseits, um den Leser unmittelbar mit dem Original bekannt<br />
zu machen, und anderseits im Hinblick darauf, daß die hier dargelegten<br />
Grundmotive ihre Geltung bewahren für alle Parteien der Mehrheit der<br />
III. Duma, d. h. sowohl für die „Nationalisten" als auch für die Oktobristen.<br />
Das wird aus der weiteren Darlegung zu ersehen sein.<br />
Das Programm des Bundes des russischen Volkes wiederholt im Grunde<br />
genommen die alte Losung aus den Zeiten der Leibeigenschaft: Rechtgläubigkeit,<br />
Selbstherrschaft, Volkstum. Was die Frage betrifft, vermittels<br />
derer man den Bund des russischen Volkes gewöhnlich von den auf ihn<br />
folgenden Parteien zu unterscheiden pflegt, nämlich die Anerkennung<br />
oder Ablehnung „konstitutioneller" Prinzipien in der russischen Staats-
32 IV. J. <strong>Lenin</strong><br />
Ordnung, so ist es besonders wichtig, hervorzuheben, daß der Bund des<br />
russischen Volkes durchaus nicht gegen eine Vertretungskörperschaft<br />
schlechthin ist. Aus dem zitierten Programm ist ersichtlich, daß der Bund<br />
des russischen Volkes für die Existenz einer Reichsduma in der Rolle einer<br />
„Gehilfin" eintritt. - •<br />
Die Eigenart der russischen, wenn man sich so ausdrücken darf, Konstitution<br />
hat der Dubrowinmann eben richtig, d. h. entsprechend der tatsächlichen<br />
Lage der Dinge, zum Ausdruck gebracht. Sowohl die Nationalisten<br />
als auch die Oktobristen stehen in ihrer wirklichen Politik-eben auf<br />
diesem Standpunkt. Der Streit zwischen diesen Parteien über die „Konstitution"<br />
läuft in bedeutendem Maße auf einen Streit um Worte hinaus:<br />
die „Rechten" sind nicht gegen eine Duma, sie betonen lediglich mit<br />
besonderem Eifer, daß sie „Gehilfin" sein soll ohne irgendwelche Festlegung<br />
ihrer Rechte, die Nationalisten und Oktobristen bestehen ihrerseits<br />
nicht auf irgendwelche genau bestimmte Rechte und denken auch keineswegs<br />
an reale Garantien dieses Rechts. Und die „Konstitutionalisten"<br />
des Oktobrismus vertragen sich durchaus mit den „Gegnern der Konstitution"<br />
auf dem Boden der Konstitution des 3. Juni.<br />
Die Hetze gegen die Fremdstämmigen im allgemeinen und gegen die<br />
Juden im besonderen ist im Programm der Schwarzhunderter offen, klar<br />
und bestimmt formuliert. Wie stets sprechen sie hier gröber, rücksichtsloser,<br />
aufreizender das aus, was die übrigen Regierungsparteien mehr<br />
oder weniger „schamhaft" oder diplomatisch zu verstecken suchen.<br />
In Wirklichkeit beteiligen sich - wie das jedermann weiß, der einigermaßen<br />
mit der Tätigkeit der III. Duma, mit der Presse vom Schlage des<br />
„Nowoje Wremja", des ÄSwet", des „Golos Moskwy" 21 usw. vertraut<br />
ist - an der Hetze gegen die Fremdstämmigen sowohl die Nationalisten<br />
wie die Oktobristen.<br />
Es fragt sich, welches denn nun die soziale Basis der Partei der Rechten<br />
ist, welche Klasse sie vertritt, welcher Klasse sie dient.<br />
Die Rückkehr zu den Losungen der Leibeigenschaft, das Einstehen für<br />
alles Alte, alles Mittelalterliche im russischen Leben, die volle Zufriedenheit<br />
mit der Konstitution des 3. Juni, dieser C/Mtsbesitzerkonstitution, die<br />
Verteidigung der Privilegien des Adels und des Beamtentums - all das<br />
gibt eine klare Antwort auf unsere Frage. Die Rechten, das ist die Partei<br />
der feudalen Gutsbesitzer, des Rates des vereinigten Adels. Nicht umsonst
Die poUtisdßen Parteien in Rußland 33<br />
hat doch gerade dieser Rat eine so hervorragende, mehr noch, führende<br />
Rolle gespielt bei der Auseinanderjagung der II. Duma, bei der Änderung<br />
des Wahlgesetzes und beim Staatsstreich vom 3. Juni.<br />
Um die ökonomische Macht dieser Klasse in Rußland deutlich zu<br />
machen, genügt es, auf die folgende grundlegende Tatsache hinzuweisen,<br />
die durch Zahlen der von der Regierung, vom Innenministerium, herausgegebenen<br />
Bodenstatistik vom Jahre 1905 bewiesen wird.<br />
Im Europäischen Rußland besitzen weniger als 30000 Gutsbesitzer<br />
70 Millionen Desjatinen Land; ebensoviel besitzen die 10 Millionen<br />
Bauernfamilien mit dem kleinsten Bodenanteil. Auf einen Großgrundbesitzer<br />
ergibt das im Durchschnitt ungefähr 2300 Desjatinen Land; auf<br />
einen armen Bauern 7 Desjatinen Land - je Familie, je Hof.<br />
Es ist ganz natürlich und unvermeidlich, daß der Bauer auf einem<br />
solchen „Anteil" nicht leben, sondern nur langsam sterben kann. Ständige<br />
Hungersnöte, von denen Millionen betroffen sind - wie die Hungersnot in<br />
diesem Jahr -, zerstören in Rußland fortlaufend, nach jeder Mißernte, die<br />
Bauernwirtschaft. Die Bauern müssen Land bei den Gutsbesitzern pachten<br />
- gegen Abarbeit jeder Art. Für das Land arbeitet der Bauer mit<br />
seinem Pferd und seinen Geräten bei dem Gutsbesitzer. Das ist der alte<br />
Frondienst, nur daß er offiziell nicht Leibeigenschaft genannt wird. Und<br />
auf Grundstücken von 2300 Desjatinen können die Gutsbesitzer im allgemeinen<br />
auch keine andere Wirtschaft führen als eine auf Schuldknechtschaft<br />
und Abarbeit, d. h. auf Frondienst beruhende Wirtschaft. Mit<br />
Hilfe von Lohnarbeitern bearbeiten sie lediglich einen Teil dieser gewaltigen<br />
Besitzungen.<br />
Weiter, diese selbe Klasse der adligen Gutsbesitzer stellt dem Staat<br />
den weitaus größten Teil aller höheren und mittleren Beamten. Die Privilegien<br />
des Beamtentums in Rußland, das ist die andere Seite der Privilegien<br />
und der auf dem Grundbesitz beruhenden Macht der adligen Gutsbesitzer.<br />
Hieraus wird begreiflidi, daß der Rat des vereinigten Adels und<br />
die „rechten" Parteien nicht zufällig, sondern unvermeidlich, nicht auf<br />
Grund des „bösen Willens" einzelner Personen, sondern unter dem<br />
Druck der Interessen einer unerhört mächtigen Klasse eine Politik der<br />
alten Leibeigenschaftstraditionen vertreten. Die alte herrschende Klasse,<br />
die Nachkömmlinge der Fronherren, die nach wie vor die herrschende<br />
geblieben ist, hat sich die entsprechende Partei geschaffen. Diese Partei,
34 IV. 1.<br />
das sind eben der „Bund des russischen Volkes" oder die ,;Rechten" in der<br />
Reichsduma und im Reichsrat.<br />
Aber wenn einmal Vertretungskörperschaften existieren, wenn einmal<br />
die Massen in der politischen Arena schon offen in Aktion getreten sind,<br />
wie sie es bei uns im Jahre 1905 getan haben, dann wird es für jede Partei<br />
notwendig, in diesen oder jenen Grenzen an das Volk zu appellieren. Womit<br />
aber können die rechten Parteien an das Volk appellieren, sich an das<br />
Volk wenden?<br />
Natürlich ist es unmöglich, geradeheraus über den Schutz der Interessen<br />
der Gutsbesitzer zu sprechen. Es wird von der Erhaltung der guten<br />
alten Zeit im allgemeinen gesprochen, man strengt sich nach Kräften an,<br />
Mißtrauen gegen die Fremdstämmigen, insbesondere gegen die Juden, zu<br />
säen, völlig unentwickelte, völlig unwissende Menschen zu Pogromen, zur<br />
Hetze gegen „den Jud" hinzureißen. Man bemüht sich, die Privilegien<br />
der Adligen, der Beamten und der Gutsbesitzer hinter <strong>Red</strong>en über die<br />
„Unterdrückung" der Russen durch die Fremdstämmigen zu verbergen.<br />
Solcherart ist die Partei der „Rechten". Ihr Mitglied Purischkewitsch,<br />
einer der angesehensten <strong>Red</strong>ner der Rechten in der III. Duma, hat sehr<br />
viel und erfolgreich daran gearbeitet, dem Volk zu zeigen, was die Rechten<br />
wollen, wie sie handeln, wem sie dienen. Purischkewitsch, das ist ein<br />
talentvoller Agitator.<br />
Neben den „Rechten", die in der III. Duma 46 Abgeordnete zählen,<br />
stehen die „"Nationalisten" mit 91 Abgeordneten. Die Schattierung, die<br />
sie von den Rechten unterscheidet, ist völlig unbedeutend: im Grunde genommen<br />
sind das nicht zwei Parteien, es ist eine Partei, die unter sich die<br />
„Arbeit" geteilt hat, gegen den Fremdstämmigen, den „Kadetten" (den<br />
Liberalen), den Demokraten usw. zu hetzen. Die einen verrichten plumper,<br />
die anderen raffinierter genau das gleiche Werk. Und für die Regierung<br />
ist es ja von Vorteil, daß die „extremen" Rechten, die zu jedem<br />
Skandal, Pogrom, zum Mord an den Herzenstem, Jollos und Karawajew<br />
fähig sind, ein wenig im Hintergrund bleiben, gleichsam als ob sie die<br />
Regierung von rechts „kritisierten" ... Eine ernste Bedeutung kann der<br />
Unterschied zwischen Rechten und Nationalisten nicht haben.<br />
Die Oktobristen haben in der III. Duma 131 Abgeordnete, wobei<br />
natürlich auch die „rechten Oktobristen" in diese Zahl einbegriffen sind.<br />
Sie unterscheiden sich in der heutigen Politik in nichts Wesentlichem von
Die politisiert Parteien in Rußland 35<br />
den Rechten, es sei denn dadurch, daß ihre Partei außer dem Gutsbesitzer<br />
auch noch dem Großkapitalisten dient, dem altgläubigen Kaufmann, der<br />
Bourgeoisie, die das Erwachen der Arbeiter und dann auch der Bauern<br />
zu selbständigem Leben in solchen Schrecken versetzt hat, daß sie ganz<br />
und gar zur Verteidigung der alten Zustände zurückgekehrt ist. Es gibt<br />
Kapitalisten in Rußland - und ihrer sind nicht gerade wenig -, die mit<br />
ihren Arbeitern keineswegs besser umgehen als die Gutsbesitzer mit den<br />
ehemaligen Leibeigenen; die Arbeiter, der Handelsangestellte sind für sie<br />
ebenfalls Gesinde, Dienstleute. Niemand versteht diese alten Zustände<br />
besser zu verteidigen als die rechten Parteien, die Nationalisten und die<br />
Oktobristen. Zwar gibt es auch Kapitalisten, die in den Semstwo- und<br />
Städtetagungen von 1904 und 1905 eine „Konstitution" forderten, aber<br />
gegen die Arbeiter sind sie bereit, sich mit der Konstitution des 3.- Juni<br />
völlig zufriedenzugeben.<br />
Die Partei der Oktobristen ist die wichtigste konterrevolutionäre Partei<br />
der Gutsbesitzer und Kapitalisten. Sie ist die führende Partei der<br />
III. Duma: 131 Oktobristen und 137 Rechte und Nationalisten bilden die<br />
solide Mehrheit der III. Duma.<br />
Das Wahlgesetz vom 3. Juni 1907 hat den Gutsbesitzern und Großkapitalisten<br />
die Mehrheit gesidhert-. In allen Wahlmännerversammlungen<br />
der Gouvernements, die die Abgeordneten in die Duma entsenden, gehört<br />
die Mehrheit den Gutsbesitzern und den Wahlmännern der ersten städtischen<br />
(d. h. großkapitalistischen) Kurie. In den Versammlungen von<br />
28 Gouvernements gehört die Mehrheit sogar den Wahlmännern der<br />
Grundbesitzer allein. Die ganze Politik der Regierung des 3. Juni ist mit<br />
Hilfe der oktobristischen Partei durchgeführt worden, für alle Sünden<br />
und Verbrechen der III. Duma fällt ihr die Verantwortung zu.<br />
In Worten, in ihrem Programm setzen sich die Oktobristen für die<br />
„Konstitution" ein und sogar... für die Freiheit! In der Tat aber hat<br />
diese Partei alle Maßnahmen gegen die Arbeiter (wie z. B. den Entwurf<br />
eines Versicherungsgesetzes - man denke nur an den Vorsitzenden der<br />
Dumakommission für Arbeiterfragen, Baron Tiesenhausen!), gegen die<br />
Bauern, gegen eine Beschränkung von Willkür und Rechtlosigkeit unterstützt.<br />
Die Oktobristen sind genauso eine Regierungspartei wie die Nationalisten.<br />
Dieser Umstand wird nicht im geringsten dadurch geändert, daß<br />
die Oktobristen von Zeit zu Zeit - urd besonders vor den Wahlen! -
36 WJ. <strong>Lenin</strong><br />
„oppositionelle" <strong>Red</strong>en halten. Oberall, wo Parlamente existieren, ist<br />
schon seit jeher zu beobachten, beobachtet man ständig, wie die bürgerlichen<br />
Parteien Opposition spielen, ein Spiel, das ihnen nichts schadet,<br />
denn keine Regierung nimmt es ernst, ein Spiel, das im Hinblick auf den<br />
Wähler, den es mit der oppositionellen Gesinnung „einzuseifen" gilt,<br />
manchmal nicht ohne Nutzen ist.<br />
Spezialisten und Virtuosen der Oppositionsspielerei sind hingegen die<br />
Kadetten, die konstitutionellen „Demokraten", die Partei der „Volksfrei'<br />
heit" - die wichtigste oppositionelle Partei der III. Duma.<br />
Ein Spiel ist schon die Bezeichnung dieser Partei, die in Wirklichkeit<br />
absolut keine demokratische Partei ist, keineswegs eine Partei des Volkes,<br />
keine Partei der Freiheit, sondern eine Partei der halben, wenn nicht der<br />
viertel Freiheit ist.<br />
In Wirklichkeit ist das die Partei der liberal-monarchistischen Bourgeoisie,<br />
die die Volksbewegung weitaus mehr fürchtet als die Reaktion.<br />
Der Demokrat glaubt an das Volk, glaubt an die Bewegung der Massen,<br />
unterstützt sie in jeder Weise - obgleich er nicht selten (wie die bürgerlichen<br />
Demokraten, die Trudowiki) eine unrichtige Vorstellung hat von<br />
der Bedeutung dieser Bewegung im Rahmen der kapitalistischen Ordnung.<br />
Der Demokrat strebt aufrichtig danach, mit allem Mittelalterlichen aufzuräumen.<br />
Der Liberale fürchtet die Bewegung der Massen, hemmt sie und verteidigt<br />
bewußt bestimmte, und zwar die wichtigsten mittelalterlichen Einrichtungen,<br />
um eine Stütze gegen die Massen, insbesondere gegen die<br />
Arbeiter, zu haben. Die Teilung der Macht mit den Purischkewitsdi -<br />
keinesfalls die Vernichtung aller Grundlagen für die Macht der Purischkewitsch<br />
-, das ist es, was die Liberalen erstreben: Alles für das Volk,<br />
alles durch das Volk - sagt der demokratische Kleinbürger (darunter der<br />
Bauer und der Trudowik), der aufrichtig die Vernichtung aller Grundlagen<br />
der Purischkewitschordnung erstrebt, ohne jedoch die Bedeutung<br />
des Kampfes der Lohnarbeiter gegen das Kapital zu begreifen. Umgekehrt,<br />
mit den Purischkewitsch die Macht über die Arbeiter und über die<br />
Kleinbesitzer zu teilen, das ist das wirkliche Ziel der liberal-monarchistischen<br />
Bourgeoisie.<br />
Die Kadetten besaßen in der I. und II. Duma die Mehrheit bzw. die beherrschende<br />
Position. Sie benutzten sie für ein sinnloses und schmachvolles
Die politischen Parteien in Rußland 37<br />
Spieh. nach rechts machten sie in Loyalität und Ministerwürdigkeit (wir<br />
sind imstande, friedlich alle Widersprüche zu lösen, ohne den Mushik- zu<br />
verderben und ohne Purischkewitsch zu kränken), nach links in Demokratismus.<br />
Rechts haben die Kadetten als Ergebnis dieses Spiels zu guter<br />
Letzt einen Fußtritt erhalten. Links erwarben sie sich die gerechte Bezeichnung:<br />
Verräter der Volksfreiheit. In den ersten beiden Dumas haben<br />
sie allezeit nicht nur die Arbeiterdemokratie, sondern auch die Trudowiki<br />
bekämpft. Es genügt, daran zu erinnern, daß der von den Trudowiki (in<br />
der I. Duma) aufgestellte Plan örtlicher Bodenkomitees, dieser elementar<br />
demokratische Plan, ein Plan des demokratischen Abc, von den Kadetten<br />
zu 7al\ gebracht wurde, weil sie die Vorherrschaft des Gutsbesitzers und<br />
des Beamten über den Bauern in den Flurbereinigungskommissionen verteidigten!<br />
In der III. Duma spielten die Kadetten die „verantwortungsbewußte<br />
Opposition", die Opposition mit dem Genitiv. Als solche haben sie wiederholt<br />
für das Regierangsbudget gestimmt („Demokraten"!); sie machten<br />
den Oktobristen die Ungefährlichkeit und Harmlosigkeit ihres „Zwangs" -<br />
loskaufs (Zwang für die Bauern) klar - man denke an Beresowski 1; sie<br />
schickten Karaulow auf die Tribüne, damit er „gottesfürchtige" <strong>Red</strong>en<br />
halte; sie sagten sich von der Bewegung der Massen los; sie appellierten<br />
an die „Spitzen" und unterdrückten die Vertreter der Massen (der Kampf<br />
der Kadetten gegen die Arbeiterdeputierten in der Frage der Arbeiterversicherung)<br />
usw. usf.<br />
Die Kadetten sind die Partei des konterrevolutionären Liberalismus.<br />
Durch ihren Anspruch auf die Rolle der „verantwortungsbewußten Opposition",<br />
d. h. einer anerkannten, gesetzlichen, zur Konkurrenz mit den<br />
Oktobristen zugelassenen Opposition nicht gegen das Regime des 3. Juni,<br />
sondern innerhalb des Regimes des 3. Juni - durch diesen Anspruch haben<br />
sich die Kadetten als „Demokraten" endgültig selbst das Grab gegraben.<br />
Die schamlose wechistische Propaganda der kadettischen Ideologen, der<br />
Herren Struve, Isgojew und Co., die von Rosanow und Antonius von<br />
Wolhynien mit Lob überhäuft worden sind, und die Rolle der „verantwortungsbewußten<br />
Opposition" in der III. Duma, das sind zwei Seiten<br />
einer Medaille. Die von den Purischkewitsch geduldete liberal-monarchistische<br />
Bourgeoisie möchte neben Purischkewitsch Platz nehmen.<br />
Der Block der Kadetten mit den „Progressisten" in der gegenwärtigen
38 W.I. <strong>Lenin</strong><br />
Zeit, bei den Wahlen zur IV. Duma, bestätigt noch einmal von neuem den<br />
zutiefst konterrevolutionären Charakter der Kadetten. Die Progressisten<br />
erheben nicht den geringsten Anspruch darauf, Demokraten zu sein, sagen<br />
kein Sterbenswort von Kampf gegen das ganze Regime des 3. Juni und<br />
träumen nicht einmal von einem „allgemeinen Wahlrecht". Es sind das<br />
gemäßigte Liberale, die ihre Verwandtschaft mit den Oktobristen nicht<br />
verbergen. Das Bündnis der Kadetten mit den Progressisten sollte selbst<br />
den Blindesten unter den „kadettisdien Chorsängern" die Augen öffnen<br />
über das wahre Wesen der kadettischen Partei.<br />
Die demokratische Bourgeoisie in Rußland repräsentieren die Volkstümler<br />
aller Schattierungen, von den linkesten Sozialrevolutionären bis<br />
zu den Volkssozialisten und den Trudowiki. Sie alle gebrauchen gern<br />
„sozialistische" Phrasen, doch darf sich der klassenbewußte Arbeiter über<br />
die Bedeutung dieser Phrasen keiner Täuschung hingeben. In Wirklichkeit<br />
gibt es weder in irgendwelchem „Recht auf Grund und Boden" noch<br />
in der „ausgleichenden Bodenverteilung" noch in der „Sozialisierung des<br />
Grund und Bodens" auch nur ein Qran Sozialismus. Das muß jeder begreifen,<br />
der weiß, daß bei Aufhebung des Privateigentums am Grund und<br />
Boden und bei einer neuen, und sei es der „gerechtesten", Verteilung des<br />
Bodens die Warenproduktion, die Macht des Marktes, des Geldes, des<br />
Kapitals, nicht nur unangetastet bleibt, sondern sich im Gegenteil noch<br />
weiter entfaltet.<br />
Aber die Phrasen über das „Arbeitsprinzip" und den „Volkstümler-<br />
Sozialismus" bringen den tiefen Glauben (und das aufrichtige Bestreben)<br />
des Demokraten zum Ausdruck, daß die Ausrottung alles Mittelalterlichen<br />
in den Bodenbesitzverhältnissen und zugleich damit auch in der<br />
politischen Ordnung möglich und notwendig ist. Wenn die Liberalen (die<br />
Kadetten) danach streben, mit den Purischkewitsch die politische Macht<br />
und die politischen Privilegien zu teilen, so sind die Volkstümler darum<br />
eben Demokraten, weil sie danach streben, und in der gegenwärtigen Zeit<br />
danach streben müssen, alle Privilegien in den Bodenbesitzverhältnissen<br />
und alle Privilegien in der Politik zu beseitigen.<br />
Die Lage der russischen Bauernschaft in ihrer großen Masse ist derart,<br />
daß sie von irgendeinem Kompromiß mit den Purischkewitsch (das für<br />
den Liberalen vollkommen möglich, erreichbar und naheliegend ist) nicht<br />
einmal träumen kann. Darum besitzt der Demokratismus der Klein-
Die politisdben Parteien in Rußland 39<br />
bourgeoisie noch für eine ziemlich lange Zeit in Rußland Wurzeln in der<br />
Masse, während die Stolypinsche Agrarreform, diese bürgerliche Politik<br />
der Purisdikewitsch gegen den Mushik, bislang nichts Dauerhaftes geschaffen<br />
hat außer... der Hungersnot für 30 Millionen!<br />
Die Millionen hungernder Kleinbesitzer müssen unbedingt eine andere,<br />
eine demokratische Agrarreform erstreben, die zwar über den Rahmen<br />
des Kapitalismus nicht hinausgehen kann, die Lohnsklaverei nicht beseitigen<br />
wird, aber das Mittelalter von der russischen Erde hinwegzufegen<br />
vermag.<br />
Die Trudowiki sind in der III. Duma furchtbar schwach, aber sie vertreten<br />
die Massen. Das Schwanken der Trudowiki zwischen den Kadetten<br />
und der Arbeiterdemokratie ergibt sich unvermeidlich aus der Klassenlage<br />
der Kleinbesitzer, wobei die besondere Schwierigkeit, diese zusammenzuschließen,<br />
zu organisieren und aufzuklären, die äußerste Unbestimmtheit<br />
und Gestaltlosigkeit der Trudowiki als Partei zur Folge hat Darum<br />
eben bieten die Trudowiki - gefördert durch den einfältigen „Otsowismus"<br />
der linken Volkstümler - das traurige Bild einer liquidierten Partei.<br />
Die Trudowiki unterscheiden sich von unseren beinah-marxistischen<br />
Liquidatoren dadurch, daß sie Liquidatoren aus Schwäche, jene aber aus<br />
Böswilligkeit sind. Den schwachen kleinbürgerlichen Demokraten helfen,<br />
sie dem Einfluß der Liberalen entreißen, das Lager der Demokratie gegen<br />
die konterrevolutionären Kadetten, und nicht nur gegen die Rechten, zusammenschließen<br />
- das ist die Aufgabe der Arbeiterdemokratie.<br />
In bezug auf diese, die ihre eigene Fraktion in der III. Duma gehabt<br />
hat, können wir hier nur wenig sagen.<br />
Die Parteien der Arbeiterklasse haben sich überall in Europa dadurch<br />
herausgebildet, daß sie sich vom Einfluß der allgemeinen demokratischen<br />
Ideologie frei machten-und lernten, den Kampf der Lohnarbeiter gegen<br />
das Kapital zu sondern vom Kampf gegen den Feudalismus, unter anderem<br />
eben, um diesen letzteren Kampf zu intensivieren, ihn frei zu machen<br />
von allen Schwankungen und aller Zaghaftigkeit. In Rußland hat sich die<br />
Arbeiterdemokratie sowohl vom Liberalismus als auch von der bürgerlichen<br />
Demokratie (den Trudowiki) klar abgegrenzt, zum großen Vorteil<br />
für die Sache der Demokratie überhaupt.<br />
Die liquidatorische Strömung in der Arbeiterdemokratie („Nascha<br />
Sarja" und „Shiwoje Delo") teilt die Schwäche der Trudowikirichtung,
40 W. 3. <strong>Lenin</strong><br />
preist die Gestaltlosigkeit, möchte die Lage der „geduldeten" Opposition<br />
einnehmen, sagt sich los von der Hegemonie der Arbeiter, beschränkt sich<br />
auf Worte über eine „legale" Organisation (wobei sie die nicht legale<br />
schmäht), propagiert eine liberale Arbeiterpolitik. Der Zusammenhang<br />
dieser Strömung mit dem Zerfall und der Depression in den Zeiten der<br />
Konterrevolution ist offensichtlich, ihr Abfall von der Arbeiterdemokratie<br />
wird offenkundig.<br />
Die klassenbewußten Arbeiter, die nichts liquidieren, die sich als Gegengewicht<br />
zu den liberalen Einflüssen zusammenschließen, sich als Klasse<br />
organisieren, alle möglichen Formen des Zusammenschlusses, des gewerkschaftlichen<br />
usw., entwickeln, treten als Vertreter der £obnarbeit dem<br />
Kapital und zugleich als Vertreter der konsequenten Demokratie dem<br />
ganzen alten Regime in Rußland entgegen und verurteilen alle Zugeständnisse<br />
an dieses Regime.<br />
Als Illustration veröffentlichen wir die Angaben über die parteimäßige<br />
Zusammensetzung der III. Reichsduma, die wir dem offiziellen Duma-<br />
„Handbuch" für das Jahr 1912 entnehmen.<br />
Zusammensetzung der III. Reicbsduma<br />
naäo Parteien<br />
Gutsbesitzer:<br />
Rechte<br />
Nationalisten<br />
Unabhängige Nationalisten<br />
Rechte Oktobristen<br />
Oktobristen<br />
Insgesamt Regierungsparteien<br />
Bourgeoisie:<br />
Progressisten<br />
Kadetten<br />
Polnisches Kolo<br />
Polnisch-Litauisch-Belorussische Gruppe<br />
Mohammedanische Gruppe<br />
Insgesamt Liberale<br />
46<br />
74<br />
17<br />
11<br />
120<br />
268<br />
36<br />
52<br />
11<br />
7<br />
9<br />
US
Die poUtisdien Parteien in Jiußland 41<br />
Bürgerliche Demokratie:<br />
Trudowikigruppe 14<br />
Arbeiterdemokratie:<br />
Sozialdemokraten 13<br />
Insgesamt Demokraten 27<br />
Parteilose 17<br />
Insgesamt • 437<br />
In der III. Reichsduma gab es zwei Mehrheiten: 1. Rechte und Oktobristen<br />
= 268 von 437; 2. Oktobristen und Liberale = 120 +. 115 = 235<br />
von 437. Beide Mehrheiten sind konterrevolutionär.<br />
„Newskaja Swesda" Nr. 5, TJadb dem 7ext der<br />
10. !Mai 1912. „TJewskaja Swesda".<br />
iXnters
42<br />
EINE ENQUETE<br />
ÜBER DIE ORGANISATIONEN<br />
DES GROSSKAPITALS 22<br />
Die Abteilung für Industrie und Wirtschaft der Kaiserlich Russischen<br />
Technischen Gesellschaft hat eine Enquete durchgeführt über die „Öffentlichen<br />
Organisationen der Handels- und Industrieidasse in Rußland" -<br />
richtiger: über die Organisationen des Großkapitals. Die Ergebnisse dieser<br />
Enquete sind jetzt in dem Buch des Herrn Gusdika 23 „Die Vertretungsorganisationen<br />
der Handels- und Industrieklasse in Rußland" (St. Petersburg<br />
1912) dargelegt worden. Sowohl das hier vorhandene Material als<br />
audi die Schlußfolgerungen, die der Autor in recht bestimmter Form<br />
niederschreibt, verdienen große Aufmerksamkeit.<br />
Die Enquete der Technischen Gesellschaft war eigentlich den „Vertretungs"organisationen<br />
der Kapitalisten gewidmet, die etwa 80% aller<br />
Organisationen bilden. Etwa 15% entfallen auf die Kartelle, Trusts und<br />
Syndikate; etwa 5% auf die Arbeitgeberverbände,- die übrigen auf die<br />
Börsenkomitees, die Kongreßräte usw. Diese letzteren Organisationen bezeichnen<br />
sidi selber am liebsten als „Vertretungs"organe. Ihre Aufgabe<br />
ist es, auf die Organe der Staatsmacht Einfluß zu nehmen.<br />
Die Arbeitgeberverbände führen nach Meinung des Herrn Guschka den<br />
„unmittelbaren" Klassenkampf mit den Lohnarbeitern, während die Vertretungsorganisationen<br />
einen „mittelbaren" Klassenkampf führen, den<br />
„Kampf mit den anderen Klassen vermittels des Drucks auf die Staatsmacht<br />
und die öffentliche Meinung".<br />
Diese Terminologie ist natürlich falsch. Sie zeigt uns sofort einen der
Eine Encjueie über die Organisationen des Qroßkapitah 43<br />
grundlegenden Mängel, die Herr Guschka mit den meisten Repräsentanten<br />
der „professoralen", bürgerlichen politischen Ökonomie teilt. Angeblich<br />
erkennt man den Begriff des Klassenkampfes an, angeblich legt man<br />
ihn der Untersuchung zugrunde. In Wirklichkeit aber wird dieser Begriff<br />
eingeengt und verzerrt. In der Tat ergibt sich bei Herrn Guschka, daß der<br />
Kampf der Kapitalisten gegen die Lohnarbeiter im Rahmen der gegebenen<br />
politischen Ordnung ein „unmittelbarer" Klassenkampf ist, während der<br />
Kampf um die politisdbe Ordnung selbst ein „mittelbarer'' Klassenkampf<br />
ist! Wohin gehört dann der Kampf um die „Staatsmacht" selbst?<br />
Aber auf diesen Grundfehler in der „Weltanschauung" des Herrn<br />
Guschka werden wir an entsprechender Stelle einzugehen haben. Die Bedeutung<br />
seiner Arbeit liegt nicht in der Theorie, sondern in der Zusammenstellung<br />
der Tatsachen. Die Angaben, die die Organisationen des vorherrschenden<br />
Typs umfassen, sind auf jeden Fall von beträchtlichem Interesse.<br />
Die Gesamtzahl der „Vertretungs"organisationen des Großkapitals betrug<br />
im Jahre 1910 in Rußland 143. Davon sind 71 Börsengesellschaften<br />
mit ihren Komitees. Dann 14 Komitees für Handel und Manufakturen,<br />
3 Kaufmannschaften, 51 Organisationen der „Verbands"gruppe (Kongresse,<br />
ihre Räte, Beratungskontore usw.) und 4 Organisationen unbestimmter<br />
Gruppe. Auf die Enquete haben insgesamt 62 Organisationen,<br />
d. h. weniger als die Hälfte, geantwortet. Von den 51 Organisationen der<br />
„Verbands"gruppe, die am meisten Interesse verdient, haben 22 auf die<br />
Enquete geantwortet.<br />
Charakteristisch sind die Angaben über den Zeitpunkt der Gründung<br />
der Organisationen. Von den 32 Börsenkomitees, die auf die Enquete geantwortet<br />
haben, sind 9 in den hundert Jahren von <strong>18</strong>00 bis 1900 gegründet<br />
worden; 5 in den vier Jahren von 1901 bis 1904; 9 in den zwei Jahren<br />
der Revolution, 1905 und 1906; und 9 von 1907 bis 1910.<br />
„Hier zeigt sich in voller Deutlichkeit", schreibt Herr Guschka, „der Stoß,<br />
den der Prozeß der Selbstorganisierung der Vertreter des Kapitals durch die<br />
gesellschaftliche Bewegung des stürmischen Jahres 1905 erhalten hat."<br />
Von den 22 Organisationen der Verbandsgruppe sind nur 7 in der Zeit<br />
von <strong>18</strong>70 bis 1900 entstanden; 2 von 1901 bis 1904; 8 in den zwei Jahren<br />
der Revolution, 1905/1906; und 5 von 1907 bis 1910. Alle diese „Kongreßräte"<br />
der Vertreter der Industrie im allgemeinen, der Bergbau-
44 TV. 7. £enin<br />
industriellen, der Erdölindustriellen usw. usf. sind hauptsächlich ein Produkt<br />
der revolutionären und der konterrevolutionären Epoche.<br />
Nach Industriezweigen unterscheiden sich die Organisationen folgendermaßen.<br />
In den Gruppen der Börsenkomitees sind die Branchen größtenteils<br />
gemischt; diese Komitees vereinigen gewöhnlich alle Industrie- und<br />
Handelszweige der betreffenden Gegend. In der Gruppe der Komitees für<br />
Handel und Manufakturen steht im Vordergrund das Textilwesen. In der<br />
Hauptgruppe, der Verbandsgruppe, entfällt fast die Hälfte der Organisationen<br />
auf die Industrie und nicht auf den Handel, nämlich auf Bergbau<br />
und Hüttenindustrie.<br />
„Diese Gruppe von Industriezweigen (Bergbau und Hüttenindustrie)<br />
bildet eben die ökonomische Basis für die Organisationen der modernen<br />
industriellen ,Garde' Rußlands", schreibt Herr Guschka, der eine kleine<br />
Passion dafür hat, über den Gegenstand seiner Untersuchung in „gehobenem<br />
Stil" zu reden.<br />
Nur für einen Teil der Organisationen gelang es, die Gesamtsumme des<br />
Umsatzes oder der Produktion des ganzen Handels-"und Industriezweiges<br />
der betreffenden Organisation zu bestimmen. Es ergab sich eine Gesamtsumme<br />
von 1570 Millionen Rubel, wovon 1319 Mill. Rbl. auf die Mitglieder<br />
der Organisationen entfallen. Also sind 84% organisiert. Der Umsatz<br />
von 3134 Mitgliedern der Organisationen betrug 1121 Mill. Rbl.,<br />
was im Durchschnitt 358 000 Rbl. je Mitglied ergibt. Die Zahl der Arbeiter<br />
bei 685 Mitgliedern der Organisationen beträgt ungefähr 219 000<br />
(der Autor rechnet auf S. 111 irrtümlicherweise 319 000), d. h., im Durchschnitt<br />
entfallen mehr als 300 Arbeiter auf ein Mitglied der Organisation.<br />
Es ist klar, daß es sich eben um die Organisationen des (Großkapitals<br />
und sogar, richtiger, des größten Kapitals handelt. Herr Guschka ist sich<br />
dessen durchaus bewußt, er verweist z. B. darauf, daß Mitglieder der<br />
Börsenkomitees und der Komitees für Handel und Manufakturen nur die<br />
großen und größten Kaufleute und Industriellen werden und daß die<br />
Organisation der Kongresse der Vertreter von Industrie und Handel die<br />
„größten" kapitalistischen Unternehmen umfaßt.<br />
Zu Unrecht spricht darum der Autor im Titel seines Buches von Organisationen<br />
„der Handels- und Industrieklasse in Rußland". Das ist falsch.<br />
Das ist wiederum eine Einengung des Begriffs der Klasse. In Wirklichkeit<br />
ist bei Herrn Guschka die <strong>Red</strong>e von einer Sdbidbt und nicht von einer
Sine Enquete über die Organisationen des Qroßkapitäls 45<br />
Klasse. Gewiß, die Schicht der größten Kapitalisten beherrscht natürlich<br />
ökonomisch alle anderen, erdrückt sie unweigerlich durch die Ausmaße<br />
ihres Umsatzes; all das steht außer Zweifel. Aber trotzdem ist es eine<br />
Schicht und keine Klasse. Ein gewaltiger Unterschied besteht zum Beispiel<br />
zwischen der politischen Rolle der Vertretungsorganisationen dieser<br />
Schicht und der politischen Herrschaft dieser Schicht, zwischen ihrer politischen<br />
Herrschaft - und der politischen Herrschaft der Handels- und<br />
Industrieklasse.<br />
Im Zusammenhang damit muß folgende Betrachtung des Herrn Guschka<br />
vermerkt werden: „Wir in Rußland", schreibt er, „sind gewohnt, einen<br />
sehr großen Maßstab anzulegen, um zu bestimmen, was als großes oder<br />
nicht großes Unternehmen zu bezeichnen ist, weil bekanntlich die Konzentration<br />
des Kapitals bei uns außergewöhnlich stark ist und selbst die Konzentration<br />
des Kapitals in Deutschland übertrifft..."<br />
Der Vergleich mit Deutschland ist falsch. Wenn es bei uns z. B. im Ural<br />
in der Bergbau- und Hüttenindustrie sehr wenige oder gar keine Kleinbetriebe<br />
gibt, so aus Gründen ganz besonderer Art: infolge des Fehlens<br />
voller Gewerbefreiheit, infolge der Überreste des Mittelalters. Und<br />
unsere amtliche (oder, was dasselbe ist, unsere volkstümlerische) Unterscheidung<br />
zwischen Fabrikindustrie und „Kustar"industrie* - führt sie<br />
etwa nicht dazu, daß unsere Industriestatistik mit der deutschen nicht vergleichbar<br />
ist? täuscht sie etwa nicht auf Schritt und Tritt den Beobachter<br />
hinsichtlich der „ungewöhnlichen Konzentration" in Rußland, indem sie<br />
die „ungewöhnliche" Zersplitterung der Unmenge von bäuerlichen Kleinbetrieben<br />
verdeckt?<br />
II<br />
Es ist von Interesse, einige Angaben der Enquete über die Tätigkeit der<br />
Vertretungsorganisationen des Großkapitals festzuhalten. Der Autor gibt<br />
z. B. eine Zusammenstellung der Auskünfte über ihre Budgets. Das Budget<br />
der 22 Organisationen der Verbandsgruppe weist 3 950 000 Rubel Einnahmen<br />
auf, während die Gesamtsumme der Einnahmen aller Organisationen<br />
7V4 Millionen Rubel beträgt. „Dieses sich auf 7% Millionen be-<br />
* Kustarindustrie - die vorwiegend ländliche rassische Hausindustrie. Der<br />
Tibers.
46 W. 7. <strong>Lenin</strong><br />
laufende Jahresbudget unserer 56 Organisationen", schreibt Herr<br />
Gusdika, „würde sich wahrscheinlich auf das Anderthalb- bis Zweifache<br />
erhöhen, wenn man die Finanzberichte der anderen Organisationen mit<br />
heranziehen könnte, die in unserer Enquete nicht erfaßt sind."<br />
Aber mehr als die Hälfte dieses Budgets, nämlich 4V2 Millionen Rubel,<br />
wird für wirtschaftliche und wohltätige Zwecke ausgegeben. Für die reinen<br />
Vertretungsfunktionen verwenden die 56 Organisationen 2,7 Mill. Rubel.<br />
„Die überwiegende Zahl der Antworten bzw. der Finanzberichte stellen<br />
unter den Ausgaben für die Vertretungsfunktionen die Gehälter der Angestellten<br />
und sodann die Mieten in den Vordergrund. Bei 64,4% der<br />
Organisationen entfällt dabei der größere Teil der Ausgaben auf die Gehälter<br />
der Angestellten, bei 26,7% auf die Mieten."<br />
Diese Zahlen sind, bei einem Umsatz der untersuditen Kapitalistenverbände<br />
von 1319 Mill. Rubel, ein Zeugnis für sehr bescheidene Ausgaben,<br />
so daß die rhetorische Schlußfolgerung des Herrn Guschka - das<br />
Budget der Ausgaben sei eine „Kennziffer für die Tinanzmadbt" (hervorgehoben<br />
vom Autor) „der Vertretungsorganisationen der Handels- und<br />
Industriebourgeoisie in Rußland" \ - uns wiederum die übermäßige Vorliebe<br />
dieses Autors für „große Worte" zeigt.<br />
Dem „dritten Element", d. h. der im Dienste der Kapitalistenverbände<br />
stehenden Intelligenz, widmet der Autor das 9. Kapitel seines Buches.<br />
29 Börsenkomitees haben, wie sich ergibt, 77 Vertreter des dritten Elements<br />
aufgeführt, die in den Diensten dieser Komitees stehen; ferner<br />
haben die 22 Organisationen der Verbandsgruppe <strong>18</strong>0 solcher Angestellten<br />
aufgeführt. Überwiegend werden je Organisation 2 bis 4 Vertreter<br />
des dritten Elements genannt. In Anbetracht dessen, daß die Kapitalistenverbände<br />
derartige Zahlen nicht selten zu niedrig angeben, hält der Autor<br />
den Schluß für wahrscheinlich, „daß sich in den Diensten der Vertretungsorganisationen<br />
des Kapitals in verantwortlichen Funktionen eine Armee (!!)<br />
von Intellektuellen von nidht weniger ah tausend Mann befindet", Sekretäre,<br />
Buchhalter, Statistiker, Rechtsberater usw.<br />
Wenigen nur bedarf es, damit Herr Guschka von einer „Armee" zu<br />
sprechen beginnt.<br />
Die Verlagstätigkeit der Kapitalistenverbände wird durch folgende Zahlen<br />
gekennzeichnet. Als Antwort auf die Enquete hat man außer den ausgefüllten<br />
Fragebogen eine kleine Bibliothek von 288 Bänden erhalten -
Eine Encfuete über die Organisationen des Qroßkapitals 47<br />
Arbeiten der Kongresse, Rechenschaftsberichte, Statuten, Memoranden,<br />
die niemals zum Verkauf gelangten.<br />
Neun Organisationen geben periodische Zeitschriften heraus: „Gorno-<br />
Sawodskoje Delo" [Bergbau], „Neftjanoje Delo" [Erdölindustrie], „Promyschlennost<br />
i Torgowlja" [Industrie und Handel], „Iswestija Rossiskowo<br />
Obschtschestwa Winokurennych Sawodtschikow" [Nachrichten der Russischen<br />
Gesellschaft der Branntweinbrenner] usw. Die Gesamtzahl der<br />
herausgegebenen Nummern dieser Publikationen gibt der Autor mit 2624<br />
„Bänden" an; indem er ihnen 452 Bände „Arbeiten", Jahresberichte usw.<br />
sowie 333 Bände nichtperiodischer Publikationen hinzufügt, kommt Herr<br />
Guschka auf eine Endsumme von 3409 „Bänden", die er als „solide" bezeichnet.<br />
Die Gesamtzahl aller Publikationen beträgt wahrscheinlich<br />
4000-5000 Bände.<br />
„In dieser Bibliothek ist - ohne Übertreibung - ein ganzer Schatz verborgen",<br />
ruft Herr Guschka aus, „reichhaltigstes Material, um, wenn man sich<br />
so ausdrücken darf, die Anatomie und Physiologie der Großbourgeoisie in<br />
Rußland zu studieren... Ohne dieses wertvolle Material studiert zu haben,<br />
kann man sich keine richtige Vorstellung machen vom Gleichgewichtsverhältnis<br />
der herrschenden gesellschaftlichen Kräfte Rußlands, insbesondere von der<br />
sozialen Natur und der Rolle der russischen Staatsmacht sowohl vor als auch<br />
nach 1905."<br />
Derartige Exkursionen in den Bereich der Frage nach der sozialen<br />
Natur und der Rolle der russischen Staatsmacht unternimmt Herr Guschka<br />
sehr häufig. In Anbetracht der Wichtigkeit dieser Frage und ihrer Verzerrung<br />
durch den Autor, der maßlos übertreibt und eben darum unaufhörlich<br />
schwört, daß er „ohne Übertreibung" spreche, verlohnt es sich,<br />
diese Exkursionen besonders zu betrachten.<br />
III<br />
„Der Schwerpunkt der Tätigkeit der zu untersuchenden Organisationen",<br />
schreibt Herr Guschka, „als Vertretungsorganisationen, d. h. als Organisationen,<br />
die sich der Vertretung der Interessen der Industrie- und Handelsklasse<br />
widmen, liegt natürlich darin, daß sie den Standpunkt der Angehörigen<br />
dieser Klasse in den verschiedenen ihre Interessen berührenden Fragen formulieren<br />
und diesen Standpunkt auf die verschiedenste Art und Weise verteidigen."
48 IV. 7. <strong>Lenin</strong><br />
Es ist nicht zu bezweifeln, daß gerade hier der „Schwerpunkt" liegt. In<br />
den Ermittlungsbogen ist viel Aufmerksamkeit darauf verwandt worden,<br />
welche Fragen die-Organisationen der Kapitalisten erörtert und welche<br />
Anträge sie gestellt haben. Der Autor faßt die erhaltenen Angaben zusammen<br />
und stellt eine lange Liste von Fragen auf, die seiner Meinung<br />
nach „Fragen allgemeiner Natur" sind. Als wichtigste Fragenkomplexe<br />
ergeben sich: a) Arbeiterversicherung, Feiertagsruhe usw.; b) Einkommensteuer,<br />
Gewerbesteuer usw.; c) Zollpolitik; d) Verkehrswesen; e) Aktiengesellschaften,<br />
Kredit usw.; f) Konsulate im Ausland, Statistik, Organisation<br />
des Bergdepartements; g) Teilnahme der Kaufmannschaft an den<br />
Semstwoinstitutionen, am Reichsrat, an der vorbereitenden Prüfung von<br />
Gesetzentwürfen der Regierung usw.<br />
In diesem Zusammenhang kommt Herr Guschka zu dem Schluß: „Auf<br />
jeden Fall ist, wie aus den aufgezählten Fragenkomplexen und Anträgen<br />
ersichtlich, die Tätigkeitssphäre unserer Organisationen sehr breit..."<br />
Liest man eine solche Schlußfolgerung, so stutzt man unwillkürlich und<br />
überlegt, ob nicht zufällig das Wörtchen nicfot ausgelassen ist Denn es ist<br />
offensichtlich, daß die von dem Autor angeführte Tätigkeitssphäre sehr<br />
wenig breit ist. Aber es handelt sich hier durchaus nicht um einen falschen<br />
Zungenschlag, sondern um die grundlegende „Konzeption" des Autors.<br />
„Es ist schwer", meint er, „ein mehr oder weniger wesentliches Gebiet des<br />
sozialen und politischen Lebens des Landes zu nennen, das nicht in die<br />
Tätigkeitssphäre der Vertretungsorganisationen des Kapitals einbezogen<br />
wäre."<br />
Unglaublich, aber wahr: Herr Guscfaka tischt allen Ernstes eine solch<br />
himmelschreiende Unwahrheit auf und wiederholt sie in Dutzenden von<br />
Tonarten!<br />
„Es ist schwer... zu nennen ..." Nun, und das Wahlgesetz? und die<br />
Agrarfrage? Oder sind das keine „wesentlichen Gebiete des sozialen und<br />
politischen Lebens des Landes" ?<br />
Herr Guschka betrachtet das „soziale und politische Leben" unter dem<br />
engen Gesichtswinkel des "Kaufmanns. Er vermag durchaus nicht zu begreifen,<br />
daß seine keinen Widerspruch duldende Erklärung gerade für<br />
Enge und absolut nicht für Weite zeugt. Die von den Kaufleuten aufgeworfenen<br />
Fragen zeichnen sich eben durch ihre Enge aus, denn sie<br />
berühren nur die Kaufleute. Bis zu allgemein politischen Fragen vermögen
Eine Enejuete über die Organisationen des Qroßkapitals 49<br />
sich die Kapitalisten nidht aufzuschwingen. „Die Zulassung der Vertreter<br />
von Industrie und Handel" in diese oder jene lokalen oder zentralen<br />
Institutionen - das sind die Grenzen für die „Kühnheit" ihrer Anträge.<br />
Wie diese Institutionen überhaupt organisiert sein sollen, darüber vermögen<br />
sie sich keine Gedanken zu machen. Sie nehmen die auf Weisung<br />
anderer gebildeten Institutionen hin und erbetteln sich darin ein Plätzchen.<br />
Sie stellen sich sklavisch auf den nicht von ihrer Klasse bereiteten<br />
Boden des Staates, und auf diesem Boden stellen sie ihre „Anträge" zur<br />
Wahrung der Interessen ihres Standes, ihrer Gruppe, ihrer Schicht, wobei<br />
sie selbst hier kein wirkliches Verständnis für die Interessen der ganzen<br />
Klasse an den Tag legen.<br />
Herr Guschka, der die Angelegenheit so verzerrt, daß es zum Himmel<br />
schreit, verfällt geradezu in Lobeshymnen. Er schreibt von dem „energischen<br />
und beharrlichen Druck auf die Organe der Staatsmacht". „Unsere<br />
Organisationen" „verstehen das selber ausgezeichnet (!!)..." „Die Organisationen<br />
des Großkapitals wurden zu einer wahren Vorduma ausgestaltet,<br />
die faktisch wohl größeren Einfluß auf die Gesetzgebung ausübt<br />
als die Reichsduma, und das um so mehr", versucht der Autor zu witzeln,<br />
„als auf das kapitalistische Parlament der Artikel 87 M nicht angewandt<br />
wird und die Organisationen des Kapitals noch niemals vorsätzlich für<br />
drei Tage nach Hause geschickt wurden "<br />
Dieser Witz zeugt anschaulich von der maßlosen engstirnigen Borniertheit<br />
der Herren Industriemagnaten und ihres Barden Guschka. Eine<br />
Kleinigkeit, eine ganze Kleinigkeit hat man vergessen: die Duma als gesamtstaatliche<br />
Institution wirft Fragen auf, die sich auf die gesamte Staatsverwaltung<br />
und auf alle Klassen beziehen, während die Organisationen<br />
der Magnaten der Kaufmannschaft es für Mut halten, wenn sie Fragen<br />
aufwerfen, die nur die Kaufmannschaft, nur die Rechte der Kaufleute<br />
betreffen.<br />
Herr Guschka geht so weit, die Worte des Börsenkomitees von Ufa aus<br />
dem Rechenschaftsbericht für 1905/1906 anzuführen! „Die Regierung<br />
selbst sucht sich... vermittels einer Reihe gründlicher Umgestaltungen<br />
der Börseninstitutionen... würdige "Helfer"; und er bezeichnet diese<br />
Worte als „richtig", schreibt sie gesperrt, spricht von der „lebendigen und<br />
aktiven Znsammenarbeit mit der Regierang".<br />
Wenn man solche Dinge liest, erinnert man sich unwillkürlich des deut-
50 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />
sehen Wortes Lobhudelei* - kriecherische Lobpreisung oder lobpreisende<br />
Kriecherei. Im Jahre 1905/1906 spricht man mit selbstzufriedener Miene<br />
von der „gründlichen Umgestaltung" - „der Börseninstitutionen"! Das<br />
ist der Standpunkt eines Lakaien, dem der Herr gestattet, sich mit dem<br />
Koch über die Zusammenstellung des Mittagsmahls usw. zu „beraten",<br />
wofür er sie „meine würdigen Helfer" nennt.<br />
Wie sehr sich Herr Guschka diesem Standpunkt nähert, ist aus dem<br />
Unterabschnitt des Kapitels XV über die Ergebnisse der Anträge der<br />
Organisationen zu ersehen, den er betitelt: „Verlustpositionen". „Es ist<br />
nicht zu bestreiten", lesen wir hier, „daß es gewisse Qebiete gibt, -wo die<br />
Anträge und Forderungen der Vertreter des Kapitals tatsächlich auf den<br />
Widerstand der Regierung stoßen." Es folgen Beispiele in folgender<br />
Reihenfolge: 1. Das Gebiet der Staatsforsten; der Fiskus ist selber Holzindustrieller;<br />
2. das Gebiet der Eisenbahntarife; der Fiskus ist selber<br />
Unternehmer; 3. die Frage der Vertretung in den Semstwos und 4. die<br />
Frage der Vertretung in der Reichsduma und im Reichsrat. „In beiden<br />
Fällen", sagt der Autor zu den beiden letzten Punkten, „machen sich<br />
natürlich die intimen engen Beziehungen der Bürokratie zu der anderen<br />
herrschenden Klasse geltend - zur Klasse der Guts- und Großgrundbesitzer."<br />
„Sieht man aber von den wenigen aufgezeigten Fragen ab", fährt Herr<br />
Guschka zufrieden fort, „dann ist zu sagen, daß auf allen übrigen Gebieten ...<br />
die Daten unserer Enquete die Position der Handels- und Industrieklasse als<br />
Position des Gewinns ausweisen ..."<br />
Nicht wahr, das ist wirklich eine Perle! Die Verlustposition, das sind<br />
Wald, Eisenbahn, Semstwo und Parlament. „Sieht man aber von den<br />
wenigen aufgezeigten Fragen ab" - dann ist die Position eine Position des<br />
Gewinns!<br />
Und in den „Schlußfolgerungen" seines Buches gelangt Herr Guschka<br />
in dem Bestreben, das „traditionelle Vorurteil" von der Unterwerfung<br />
und Rechtlosigkeit der Handels- und Industrieklasse zu bekämpfen, zu<br />
einer, man kann sagen, pathetischen Lobhudelei:<br />
„Nicht als rechtlose, erniedrigte Klasse nimmt die Handels- und Industriebourgeoisie<br />
ihren Platz am Tisch des russischen Staatslebens ein, sie tritt auf<br />
als begehrter Gast und Mitarbeiter, als .würdiger Helfer' der Staatsmacht, der<br />
•„Lobhudelei" bei <strong>Lenin</strong> deutsch. Der Tibers.
Eine Enquete über die Organisationen des Qroßkapitah 51<br />
einen hervorragenden Platz einnimmt sowohl nach der herkömmlichen Sitte als<br />
nach dem Gesetz, nach dem geschriebenen Recht, und das nicht erst seit<br />
gestern."<br />
Das paßt ganz und gar in eine offizielle <strong>Red</strong>e irgendeines Krestownikow,<br />
Awdakow, Tiesenhausen und anderer Kumpane bei einem Gastmahl<br />
eines Ministers. Eben solche <strong>Red</strong>en, gehalten in eben solchem Ton, sind<br />
jedem Russen bekannt. Es fragt sich nur, wie man einen „Gelehrten"<br />
nennen soll, der Anspruch darauf erhebt, eine ernste Enquete „wissenschaftlich"<br />
zu bearbeiten, und dabei Tischreden knechtseliger Kaufleute<br />
als „Schlußfolgerungen aus der Enquete" in die Literatur überträgt?<br />
„Aus der guten alten Zeit", fährt Herr Guschka fort, „ist uns die zur Stärke<br />
eines Vorurteils entwickelte Ansicht verblieben, wonach im kapitalistischen<br />
Rußland der Widerspruch zu beobachten sei, daß die ökonomisdb herrschende<br />
Großbourgeoisie nach wie vor politisd} unterjocht bleibt. Das ganze Material<br />
unserer Enquete schlägt eine fühlbare Bresche in diese traditionelle Konzeption."<br />
Es bedarf der maßlosesten Vulgarisierung des Marxismus, mit dessen<br />
Termini Herr Guschka kokettiert, um eine Enquete über die Organisationen<br />
der Kapitalisten für geeignet zu halten, „Material" zu liefern zur<br />
Frage der politischen Unterjochung der Bourgeoisie durch den Absolutismus<br />
und die Gutsbesitzer. Material, das wirklich eine Antwort auf diese<br />
Frage gäbe, hat der Autor kaum berührt, und das konnte, insofern er in<br />
den Grenzen der vorliegenden Enquete blieb, nicht anders sein.<br />
Die Enquete, die bloß eine Seite des Lebens unserer Bourgeoisie berührt,<br />
bestätigt im Gegenteil deren politische Unterjochung. Die Enquete<br />
zeigt, daß die Bourgeoisie ökonomisch vorrückt, daß einzelne, spezielle<br />
Rechte der Bourgeoisie erweitert werden, daß ihre Organisierung zur<br />
Klasse wächst, daß ihre Rolle im politischen Leben größer wird. Aber<br />
gerade weil sich diese Änderungen vollziehen, wird der Gegensatz<br />
zwischen Absolutismus und Gutsbesitzern, die neunundneunzig Hundertstel<br />
der politischen Macht in ihren Händen behalten, einerseits und dem<br />
ökonomischen Erstarken der Bourgeoisie anderseits nodb tiefer.<br />
Herr Guschka, der mit marxistischen Termini kokettiert, teilt in Wirklichkeit<br />
den Standpunkt eines billigen Sozialliberalismus. Das Verbrämen<br />
dieses Liberalismus mit einer marxistischen Phraseologie ist eine der<br />
spezifischen Besonderheiten oder - wenn man will - Krankheiten Ruß-
52 IV. 1. <strong>Lenin</strong><br />
lands. Auf dem Standpunkt des Liberalismus stehend, ist Herr Guschka<br />
an die Frage nach der sozialen Natur der rassischen Staatsmacht geraten,<br />
ohne auch nur annähernd den ganzen Umfang und die ganze Bedeutung<br />
dieser Frage begriffen zu haben.<br />
Die Klassennatur der russischen Staatsmacht hat nach 1905 eine ernsthafte<br />
Veränderung erfahren. Es ist das eine Veränderung nach der Seite<br />
der Bourgeoisie. Die III. Duma, der „Wechi"-Liberalismus und eine Reihe<br />
anderer Zeichen legen Zeugnis ab von einem neuen „Schritt auf dem<br />
Wege der Umwandlung" unserer alten Staatsmacht „in eine bürgerliche<br />
Monarchie". Aber obwohl sie einen weiteren Schritt auf diesem neuen<br />
Weg macht, bleibt sie die alte Macht, und die Summe der politischen<br />
Widersprüche wird dadurch größer. Herr Guschka, der an diese ernste<br />
Frage geraten ist, hat seine Unfähigkeit offenbart, sich in ihr zurechtzufinden.<br />
rv<br />
Bei der Bearbeitung des Materials der ziemlich speziellen Enquete hat<br />
Herr Gnschka noch eine prinzipielle Frage von größter Wichtigkeit berührt,<br />
auf die besonders eingegangen werden muß. Es ist das die Frage<br />
nach der „Rolle des Jahres 1905", wie der Titel eines der Unterabschnitte<br />
des Kapitels XIII in dem Buch des Herrn Guschka lautet.<br />
Mit der 41. Frage des Fragebogens, wieviel Sitzungen das Vollzugsorgan<br />
der betreffenden Organisation in jedem der letzten 5 Jahre abgehalten<br />
hat, war beabsichtigt klarzustellen, in welchem Maße die Organisationen<br />
im Jahre 1905 eine verstärkte Tätigkeit entfalteten. Das durch<br />
die Enquete erhaltene Material hat, nach den Worten des Herrn Guschka,<br />
„im Leben unserer Organisationen eine solche Erscheinung", d. h. eine<br />
merkliche Verstärkung ihrer Tätigkeit, „nicht aufgezeigt".<br />
„Und das ist auch begreiflich", bemerkt Herr Guschka.<br />
Womit nun will er das erklären?<br />
Die Verbände der „Arbeitgeber", urteilt er, mußten im Jahre 1905<br />
angesichts des verstärkten Streikkampfes ihre Tätigkeit intensivieren.<br />
„Die Organisationen von reinem Vertretungstyp jedoch", fährt Herr Guschka<br />
fort, „befanden sich in einer bis zu einem gewissen Grad entgegengesetzten<br />
Lage: ihr Hauptkontrahent, die Regierungsmacht, befand sich gerade im<br />
Laufe des Jahres 1905 in der Lage einer Macht, die sich verteidigt, die an sich
Eine Enquete über die Organisationen des Qroßkapitals 53<br />
selbst am wenigsten glaubt und anderen am wenigsten Vertrauen einflößt. In<br />
jenem .verrückten' Jahr, ,als die Obrigkeit davongelaufen war', schien es allen,<br />
darunter auch den Industriellen (besonders am Ende des Jahres), daß die alte<br />
.Obrigkeif schon nicht mehr zurückkehren werde.<br />
Darum eben hatten die Vertretungsorganisationen des Kapitals in jener<br />
Zeit keinen Grund, die Aktivität ihrer Vertretung gegenüber den Organen der<br />
Regierungsmacht zu verstärken."<br />
Diese Erklärung taugt nicht das geringste. Wenn wirklich „die Obrigkeit<br />
davongelaufen war", so hätte die Flucht der alten politischen Obrigkeit<br />
unbedingt die Aktivität der neuen ökonomischen Macht verstärken<br />
müssen, hätte sie diese zur neuen politischen Obrigkeit machen müssen.<br />
Wenn die Macht sich vornehmlich verteidigte, wie konnte dann der „Mitarbeiter<br />
und würdige Helfer" dieser Macht (was zu sein Herr Guschka<br />
der Handels- und Industriebourgeoisie bescheinigt) seine Tätigkeit nicht<br />
verstärken, um diese Macht und sich selbst zu verteidigen? Unser Autor<br />
hat absolut nicht überlegt, was er sagt, er beschränkte sich einfach auf das<br />
gangbarste, herkömmlichste Gerede. Er spürte vielleicht, daß es sich um<br />
eine höchst wichtige Frage handelt, von deren Lösung es abhängt oder mit<br />
deren Lösung eng verbunden ist, welche Antwort auf die allgemeinere<br />
Frage nach der politischen Rolle der Bourgeoisie zu geben ist - und er<br />
fürchtete gleichsam, ernsthaft an diese wichtige Frage heranzugehen,<br />
ergriff gleichsam vor ihr die Flucht<br />
Man denke sich hinein in die folgende Betrachtung des Autors zu demselben<br />
Punkt, zur Rolle des Jahres 1905:<br />
„Sich häufig zu versammeln, um ihre Haltung gegenüber aen sozialpolitischen<br />
Fragen, die damals das ganze Land bewegten, zu formulieren, fühlten<br />
die Organisationen des Kapitals ebenfalls keine Neigung: Durch die breite<br />
Welle der Volksbewegung in den Hintergrand gedrängt, zogen sie es vor, einstweilen<br />
die Ergebnisse des um sie herum tobenden Kampfes abzuwarten,- aber<br />
zuletzt, als die .Obrigkeit* unzweideutig ihre Absicht erkennen ließ, wieder<br />
ihren Platz .einzunehmen', begannen auch die Organisationen der Handelsund<br />
Industrieklasse allmählich zu der gewohnten Form und dem üblichen Intensitätsgrad<br />
ihrer Vertretungstätigkeit zurückzukehren."<br />
Die Organisationen des Kapitals waren „durch die breite Welle der<br />
Volksbewegung in den Hintergrund gedrängt..." Sehr gut! Nur überlegt<br />
jedoch Herr Guschka wiederum nicht, was er sagt. Gegen wen war
54 W. J. <strong>Lenin</strong><br />
die breite Welle der Volksbewegung gerichtet? - Gegen die alte Macht.<br />
Wie konnte dann der „Mitarbeiter und würdige Helfer" dieser Macht<br />
in den Wintergrund gedrängt sein? Er hätte - wäre er wirklich Mitarbeiter<br />
und würdiger Helfer gewesen - um so energischer in den Vordergrund<br />
treten müssen, je größer seine von der alten Organisation der politischen<br />
Macht unabhängige ökonomische Kraft war.<br />
Wie konnte der „Mitarbeiter und würdige Helfer" der alten Macht in<br />
eine solche Lage geraten, daß er es „vorzog, abzuwarten" ?<br />
Herr Gusdika hatte sich vorgenommen, gegen die Theorie von der<br />
politischen Unterjochung der ökonomisch herrschenden Bourgeoisie ins<br />
Feld zu ziehen, aber schon beim ersten Herangehen an die Sache verhedderte<br />
er sich! Im Gegenteil, die „Theorie", die zu zerschlagen er versprach,<br />
wird durch den Verlauf der Ereignisse im Jahre 1905 bekräftigt.<br />
Das große Handels- und Industriekapital wie der russische bürgerliche<br />
Liberalismus beschränkten sich im Jahre 1905 nicht darauf „abzuwarten",<br />
sie nahmen auch eine sehr bestimmte konterrevolutionäre Stellung ein.<br />
Die Tatsachen, die das bezeugen, sind allzu gut bekannt. Aber es unterliegt<br />
keinem Zweifel, daß im Vergleich zu den Kräften des Absolutismus<br />
und der Klasse der Gutsbesitzer das Großkapital bis zu einem gewissen<br />
Grad „in den Hintergrund gedrängt" war.<br />
Wie aber konnte es geschehen, daß in der bürgerlichen Revolution die<br />
Bourgeoisie durch den größten Aufschwung der „Welle der Volksbewegung"<br />
am meisten in den Hintergrund gedrängt wurde?<br />
Das konnte geschehen, weil nur die völlige Verzerrung des Begriffs<br />
„bürgerliche Revolution" zu der Ansicht führt, diese würde an Kraft verlieren,<br />
wenn die Bourgeoisie von ihr abschwenkt. Das mußte geschehen,<br />
weil' die Haupttriebkraft der bürgerlichen Revolution in Rußland das<br />
Proletariat und die Bauernschaft sind, während die Haltung der Bourgeoisie<br />
schwankend bleibt. Durch die Gutsbesitzer und den Absolutismus<br />
politisch unterjocht, nimmt die Bourgeoisie anderseits eine konterrevolutionäre<br />
Haltung ein, wenn die Arbeiterbewegung stärker wird. Daraus<br />
ergibt sich ihr Schwanken, ihr Zurückweichen in den „Hintergrund". Sie<br />
ist sowohl gegen die alte Ordnung als für sie. Sie ist bereit, ihr gegen die<br />
Arbeiter zu helfen, aber sie ist durchaus imstande, sich zu „konstituieren",<br />
ja, ihre eigene Herrschaft zu stärken und auszudehnen ohne<br />
irgendwelche Gutsbesitzer und ohne irgendwelche Überreste des alten
£ ine Encfuete über die Organisationen des Qroßkapitals 55<br />
politischen Regimes: davon sprechen klar die Erfahrungen solcher Länder<br />
wie Amerika u. a.<br />
Hieraus wird klar, warum der größte Aufschwung der „breiten Welle<br />
der Volksbewegung" und die größte Schwächung der alten Macht ein verstärktes<br />
Zurückweichen der Handels- und Industriebourgeoisie in den<br />
„Hintergrund" nach sich ziehen kann. Es ist das eben die Klasse, die im<br />
Kampf des Neuen gegen das Alte, der Demokratie gegen das Mittelalter,<br />
neutralisiert werden kann, denn obzwar sie sich neben dem Alten heimischer,<br />
ruhiger und bequemer fühlt, vermag diese Klasse auch bei einem<br />
noch so vollständigen Sieg des Neuen zu herrschen.<br />
Spricht man über die Enquete der Kaiserlich Russischen Technischen<br />
Gesellschaft, so kann man den Artikel des Herrn A. Jermanski in Nr. 1/2<br />
und 3 der liquidatorischen „Nascha Sarja" nicht mit Stillschweigen übergehen.<br />
Herr Jermanski gibt die Arbeit des Herrn Guschka sehr ausführlich<br />
wieder, macht jedoch nicht ein einziges Mal den Vorbehalt, daß er mit<br />
ihm nicht einverstanden sei! Als ob ein Mann, der sich zu den Marxisten<br />
rechnet, sich mit dem faden Liberalismus des Barden der Handels- und<br />
Industriemagnaten solidarisieren könnte!<br />
Herr Jermanski geht sogar noch weiter als Herr Guschka in der gleichen<br />
Richtung, der Richtung eines leicht marxistisch getönten Sozialliberalismus<br />
ä la Brentano und Sombart.<br />
„Die Organisationen des Vertretungstyps", schreibt Herr Jermanski,<br />
„sind Organisationen des Klassenkampfes in seinem vollen Umfang und<br />
in gesamtnationalem (teilweise sogar in internationalem) Maßstab. Die<br />
Angaben der Enquete geben ein Bild davon, daß das Gebiet der Fragen,<br />
die von den Organisationen behandelt werden, fast unbegrenzt ist. Die<br />
Tätigkeit unserer Organisationen erstreckt sich auf fast alle Aufgaben von<br />
gesamtstaatlicher Bedeutung, wie dies das Börsenkomitee von Jekaterinoslaw<br />
ganz richtig formuliert." So urteilt Herr Jermanski in einer Zeitschrift,<br />
die Anspruch darauf erhebt, marxistisch zu sein! Dieses Urteil ist<br />
so ganz und gar falsch, daß es zum Himmel schreit. Die Auffassung vom<br />
Klassenkampf im Sinne von Marx wird hier durch die liberale Auffassung<br />
vom Klassenkampf ersetzt. Als gesamtnational und gesamtstaatlich wird
56 W. J. <strong>Lenin</strong><br />
gerade das proklamiert, worin das Hauptmerkmal des Qesam(nationalen<br />
und des gesamtstaatlichen fehlt - die Frage der Staatsmacht und das<br />
ganze Gebiet der „gesamtstaatlichen" Verwaltung, der gesamtstaatlichen<br />
Politik usw.<br />
Man sehe sich an, bis zu welchen Ungeheuerlichkeiten sich Herr Jermanski<br />
versteigt in einem Eifer, mit dem sein Verstand nicht Schritt hält.<br />
Indem er dagegen ankämpft, daß man die „kapitalistische Bourgeoisie in<br />
Rußland" (er will sagen die große Handels- und Indnstriebourgeoisie)<br />
für kraftlos, mangelhaft entwickelt usw. hält, sucht er eine „moderne<br />
Formel", die die „faktische Lage der Großbourgeoisie in Rußland" zum<br />
Ausdruck brächte.<br />
Und was stellt sich heraus? Als eine solche Formel akzeptiert Herr<br />
Jermanski die Worte von Awdakow, die dieser im Rat für Bergbau und<br />
Hüttenwesen während der Debatten (hört, hört!) über den Übergang zu<br />
einer neuen Organisation der TSergbaukongresse mit einem gewählten<br />
Präsidenten gebraucht hat. Die (russische) Praxis ist so, erklärte Awdakow,<br />
„daß uns bislang niemand irgendwann in irgendeiner Hinsicht Beschränkungen<br />
auferlegt hat".<br />
„Das eben ist die Formel", schreibt Herr Jermanski, „die denkbar gut auf<br />
die Gegenwart paßt."<br />
Nun, das fehlte gerade noch! Man hat den stumpfsinnigen Kaufleuten,<br />
die ergeben das Joch der staatlichen Privilegien des Gutsbesitzers tragen,<br />
bei der Organisation der Bergbaukongresse keine Beschränkungen auferlegt!<br />
Anstatt den redseligen Kit Kitytsch* Awdakow der Lächerlichkeit<br />
preiszugeben, ist Herr Jermanski-aufs eifrigste bemüht zu versichern, daß<br />
Awdakow kein Kit Kitytsch sei, daß er die „moderne Formel" für die<br />
„faktische Lage der Großbourgeoisie in Rußland" gegeben habe! Kit<br />
Kitytsch Awdakow jedoch gleicht ganz und gar einem fett gewordenen<br />
Kammerdiener, der nicht einmal daran zu denken wagt, an Stelle des<br />
gnädigen Herrn selber zum unbeschränkten Herrn zu werden, der gerührt<br />
ist, daß der gnädige Herr ihm gestattet, sich in der Bedientenstabe mit der<br />
Kammerzofe, mit dem Koch usw. zu beraten.<br />
Die folgende Tirade aus dem Artikel des Herrn Jermanski zeigt, daß<br />
* Gestalt aus der Komödie A. Ostrowskis „Der bittre Rest beim fremden<br />
Fest". Der übers.
Sine Enquete über die Organisationen des Qroßkapitals 57<br />
er eben diesen Unterschied zwischen der Lage eines Kammerdieners und<br />
der des Herrn nicht begreifen will:<br />
„Hier wird es auch nicht überflüssig sein", schreibt er, „eine Gegenüberstellung<br />
zu machen: alle erinnern sich, wie entschieden, wie sozusagen vor dem<br />
ganzen Volk die Bestrebungen der Semstwoletrte, ,an den Angelegenheiten der<br />
inneren Verwaltung teilzunehmen', als ,sinnlose Träumereien' bezeichnet wurden<br />
,• anderseits hatte das Petersburger Börsenkomitee schon in der vorkonstitutionellen<br />
Zeit, als es von der Notwendigkeit sprach, ,das Recht der Börsengesellschaften<br />
(man beachte das!), an den Angelegenheiten der Verwaltung teilzunehmen,<br />
möglichst weit auszudehnen', allen Grund hinzuzufügen: .Dieses<br />
Recht der Börsengesellschaften stellt nicht irgendeine Neuerung dar, da die<br />
Börsengesellschaften es teilweise schon genießen.' Das, was für andere eine<br />
,sinnlose Träumerei' war, das war für die Vertreter des Großkapitals keine<br />
Träumerei, sondern Wirklichkeit, ein Element der realen Konstitution."<br />
„Das" ist ja nicht das, Herr Jermanski! Ihre „Gegenüberstellnng"<br />
bringt an den Tag, daß Sie nicht die Fähigkeit besitzen oder nicht den<br />
Wunsch haben, zu unterscheiden zwischen dem Bestreben (der Gutsbesitzerklasse),<br />
selber unbeschränkter Herr ztt werden, und dem Bestreben<br />
(des reich gewordenen Gutsvogts Hinz oder Kunz), sich mit den<br />
anderen "Dienern des Herrn zu beraten. Das sind „zwei ganz verschiedene<br />
Dinge".<br />
Es ist nur natürlich, daß die Schlußfolgerungen Herrn Jermanskis ganz<br />
im Geiste Larins gehalten sind. Die Vertreter des Großkapitals, schreibt<br />
Herr Jermanski, „haben in Rußland schon längst die Stellung der herrschenden<br />
Klasse im vollen Sinne dieses Wortes eingenommen".<br />
Das ist absolut unwahr. Hier ist sowohl die Selbstherrschaft vergessen<br />
worden als auäb die Tatsache, daß die Macht und die Einkünfte nach wie<br />
vor in den Händen der feudalen Grundbesitzer Verbleiben. Zu Unrecht<br />
glaubt Herr Jermanski, daß „erst am Ende des 19. und zu Beginn des<br />
20. Jahrhunderts" unsere Selbstherrschaft „aufgehört hat, eine ausschließlich<br />
feudale zu sein". Schon in der Epoche Alexanders II. gab es im<br />
Vergleich zu der Epoche Nikolaus' I. diese „Ausschließlichkeit" nicht<br />
mehr. Aber ein feudales Regime, das die Eigenschaft verliert, ausschließlich<br />
feudal zu sein, das Schritte zur bürgerlichen Monarchie hin macht, mit<br />
der „vollkommenen Herrschaft der Vertreter des Großkapitals" zu verwechseln,<br />
ist absolut unstatthaft.<br />
5 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>
58 'W.I.<strong>Lenin</strong><br />
VI<br />
Die <strong>Red</strong>aktion der „Nascha Sarja" hat, wie üblich, den Artikel des<br />
Herrn Jermanski mit einem „kleinen Vorbehalt" versehen: der Autor<br />
„unterschätzt die Bedeutung, die für sie (die Großbourgeoisie) die unmittelbare<br />
Beteiligung an der politischen Macht" habe.<br />
Das System der Vorbehalte hat sich bei den Liquidatoren fest eingenistet.<br />
In einer Reihe von Artikeln entwickelt Jermanski auf das ausführlichste<br />
Ansichten über den Klassenkampf in liberalem Geiste. Die<br />
Propaganda der Zeitschrift ist eine liberale Propaganda ... Und die „Erinnerung<br />
an die schönen Tage" des Marxismus wird in zwei Zeilen einer<br />
Anmerkung versteckt! Die Leser der „Nascha Sarja" werden im Geist des<br />
Liberalismus erzogen, der den Marxismus ersetzt, die <strong>Red</strong>aktion aber<br />
„distanziert sich" - durch einen Vorbehalt, ganz wie in der kadettischen<br />
„Retsch" 25 .<br />
Es handelt sich durchaus nicht nur darum, daß Herr Jermanski eine bestimmte<br />
Seite der Frage „unterschätzt". Es handelt sich um seine völlig<br />
falschen Anschauungen über den Klassenkampf. Es handelt sich um<br />
seinen grundsätzlichen Fehler bei der Einschätzung der sozialen Struktur<br />
der Selbstherrschaft. Wir haben seit langem darauf verwiesen und werden<br />
nicht müde werden, darauf zu verweisen, daß man dieser Frage nicht mit<br />
Spötteleien über die „Antworten von 1908" (oder 1912) usw. aus dem<br />
Wege gehen kann. In keiner einigermaßen ernsten Publizistik darf diese<br />
Frage übergangen werden.<br />
Die Meinungsverschiedenheit zwischen Jermanski und Larin einerseits<br />
und der <strong>Red</strong>aktion der „Nascha Sarja" anderseits ist eine Meinungsverschiedenheit<br />
zwischen offenen und in ihrer Art ehrlichen Liquidatoren<br />
und den Diplomaten des Liquidatorentums. Darüber darf man sich keine<br />
Illusionen machen.<br />
Larin schrieb: Unsere Staatsmacht ist schon eine bürgerliche Macht geworden.<br />
Darum sollen sich die Arbeiter nicht in Erwartung der Revolution<br />
(und nicht „für die Revolution", fügte er hinzu) organisieren, sondern<br />
für die Teilnahme an der konstitutionellen Erneuerung des Landes. Jermanski,<br />
der von einer anderen Seite her an die Frage herantritt, wiederholt<br />
dem Wesen der Sache nach die erste Prämisse Larins, wobei er auf<br />
die Schlußfolgerungen nur anspielt, ohne sie geradeheraus auszusprechen.
Eine Encjuete über die Organisationen des Großkapitals 59<br />
Martow „berichtigte" Larin ebenso, wie die <strong>Red</strong>aktion der „Nasdia<br />
Sarja" Jermanski berichtigt: Die Staatsmacht sei noch nicht bürgerlich,<br />
und für die Arbeiter „genüge" es, sich an den Widerspruch zwischen Konstitutionalismus<br />
und Absolutismus zu halten.<br />
Auf diese Weise ergibt sich in den Schlußfolgerungen zwischen Martow<br />
(mitsamt der <strong>Red</strong>aktion der „Nasdia Sarja") und Larin-Jermanski eine<br />
Übereinstimmung, die völlig natürlich ist bei ihrer Übereinstimmung in<br />
den grundlegenden Prämissen der liberalen Einstellung zur Arbeiterpolitik.<br />
Wir jedoch glauben nadi wie vor, daß diese Einstellung von Grund aus<br />
falsdi ist. Es handelt sich nicht darum, ob Jermanski die „Linkssdiwenkung"<br />
der Gutsdikow, Rjabusdiinski und Co. „untersdiätzt", oder ob<br />
Martow sie „übersdiätzt". Es handelt sidi nidit darum, ob Jermanski „die<br />
Bedeutung untersdiätzt, die für die Bourgeoisie die unmittelbare Beteiligung<br />
an der politischen Macht hat", oder ob Martow sie „übersdiätzt".<br />
Es handelt sidi darum, daß sie beide die Bedeutung nidit nur „untersdiätzen",<br />
sondern einfadi nicht verstehen, die die „unmittelbare Beteiligung<br />
an der politischen Madit" für die Arbeiterklasse hat und für die ihr folgende,<br />
von den gegenwärtigen Sdiwankungen des Liberalismus freie<br />
bürgerlidie Demokratie! Beide denken sie lediglich an die eine „politisdie<br />
Madit", wobei sie die andere vergessen.<br />
Beide richten sie ihre Blidce nadi oben und sehen nidit die unteren<br />
Schichten. Aber wenn zehn Rjabusdiinski und hundert Miljukow knurren<br />
und liberal entrüstet sind, so bedeutet das, daß Dutzende Millionen<br />
Kleinbürger und allerlei „kleine Leute" ihre Lage als unerträglich empfinden.<br />
Und diese Millionen sind auch eine mögliche Quelle der „politisdien<br />
Madit". Allein der Zusammensdiluß derartiger demokratischer Elemente,<br />
sowohl gegen die Rechten als auch unabhängig von den Schwankungen der<br />
Liberalen, vermag die Fragen zu „lösen", vor die die Gesdiidite Rußland<br />
zu Anfang des 20. Jahrhunderts gestellt hat.<br />
.Proswesdhtsäienije" TJr. 5-7, Tiadb dem Jett der Zeitschrift<br />
April-Juni 1912. .Vroswesdhtsdhenije".<br />
Unterschrift: W.Tljin.
60<br />
DAS WESEN DER<br />
„AGRARFRAGE IN RUSSLAND"<br />
Eine „Agrarfrage" - um diesen herkömmlichen und landläufigen Ausdruck<br />
zu gebrauchen - gibt es in allen kapitalistischen Ländern. Aber in<br />
Rußland gibt es neben der allgemeinen kapitalistischen Agrarfrage eine<br />
andere, eine „echt russische" Agrarfrage. Um in aller Kürze den Unterschied<br />
der beiden Agrarfragen hervorzuheben, wollen wir darauf verweisen,<br />
daß es in keinem einzigen zivilisierten kapitalistischen Land eine<br />
einigermaßen breite demokratisdie Bewegung der kleinen Landwirte für<br />
den Übergang des Grund und Bodens der Großgrundbesitzer in ihre<br />
Hände gibt.<br />
In Rußland gibt es eine solche Bewegung. Und dementsprechend<br />
erheben und unterstützen die Marxisten in keinem anderen europäischen<br />
Land als in Rußland die Forderung nach Übergang des Grund und Bodens<br />
an die kleinen Landwirte. Die russische Agrarfrage hat unvermeidlich<br />
dazu geführt, daß a\\e Marxisten diese Forderung anerkennen, unabhängig<br />
von den Meinungsverschiedenheiten im Zusammenhang damit, wie die<br />
Besitzverhältnisse und die Verfügung über den anfallenden Grund und<br />
Boden organisiert werden sollen (Aufteilung, Munizipalisierung, Nationalisierung).<br />
Woraus ergibt sich nun dieser Unterschied zwischen „Europa" und<br />
Rußland? Etwa aus der Eigenständigkeit der Entwicklung Rußlands, etwa<br />
aus dem NichtVorhandensein des Kapitalismus in Rußland oder aus der<br />
besonderen Hoffnungslosigkeit, Ausweglosigkeit unseres Kapitalismus?<br />
Das glauben die Volkstümler der verschiedenen Schattierungen. Diese<br />
Ansicht jedoch ist grundfalsch, und das Leben hat sie längst widerlegt.<br />
Der Unterschied zwischen „Europa" und Rußland ergibt sich aus der
Das "Wesen der „Agrarfrage in Rußland" 61<br />
außerordentlichen Rückständigkeit Rußlands. Im Westen hat sich die<br />
bürgerliche Agrarordnung schon völlig herausgebildet, die Leibeigenschaft<br />
ist längst hinweggefegt worden, ihre Oberreste sind unbedeutend und<br />
spielen keine ernste Rolle mehr. Das wichtigste gesellschaftliche Verhältnis<br />
auf dem Gebiet der Landwirtschaft ist im Westen das Verhältnis des<br />
Lohnarbeiters zum Unternehmer, zum Farmer, zum Bodeneigentümer.<br />
Der kleine Landwirt nimmt dort eine Zwischenstellung ein, er geht einerseits<br />
über in die Klasse der Lohnarbeiter, der Verkäufer ihrer Arbeitskraft<br />
(die zahlreichen Formen der sogenannten Nebenarbeit oder des Nebenerwerbs<br />
des Bauern), und anderseits in die Klasse der Arbeitgeber (die<br />
Zahl der bei den kleinen Landwirten arbeitenden Lohnarbeiter ist weitaus<br />
höher, als man gewöhnlich glaubt).<br />
In Rußland hat zweifellos eine ebenso kapitalistische Organisation der<br />
Landwirtschaft schon Fuß gefaßt, und sie entwickelt sich unentwegt. Sowohl<br />
die gutsherrliche als auch die bäuerliche Wirtschaft entwickeln sich<br />
in eben dieser Richtung. Aber die rein kapitalistischen Verhältnisse sind<br />
bei uns noch in gewaltigem Ausmaß durch feudale Verhältnisse niedergehalten.<br />
Der Kampf der Masse der Bevölkerung, in erster Linie der<br />
Masse der Bauernschaft schlechthin, gerade gegen diese Verhältnisse -<br />
darin eben besteht die Eigenart der russischen Agrarfrage. Im Westen gab<br />
es seinerzeit eine soldbe „Frage" allenthalben, aber sie ist dort schon längst<br />
gelöst worden. In Rußland hat man sich mit ihrer Lösung verspätet, die<br />
Agrarreform" von <strong>18</strong>61 hat sie nicht gelöst, und die Stolypinsche Agrarpolitik<br />
kann sie unter den gegebenen Umständen nidht lösen.<br />
In dem Artikel „Der Grundbesitz im Europäischen Rußland"<br />
(„Newskaja Swesda" 26 Nr.3)* haben wir die hauptsächlichsten Daten angeführt,<br />
die das Wesen der russischen Agrarfrage in der Gegenwart klarstellen.<br />
Ungefähr 70 Millionen Desjatinen Land für 30000 der größten Gutsbesitzer<br />
und annähernd ebensoviel für 10 Millionen Bauernhöfe, das ist<br />
der Grundton des Bildes. Von welchen wirtschaftlichen Beziehungen zeugt<br />
dieses Bild?<br />
Dreißigtausend der größten Gutsbesitzer, das sind hauptsächlich die<br />
Repräsentanten des alten Herrenstandes und der alten Leibeigenenwirtschaft.<br />
Von den 27 833 Besitzern von Gütern mit über 500 Desjatinen<br />
* Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 17-20. Die <strong>Red</strong>.
62 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />
sind <strong>18</strong> 102 Adlige, d. h. fast zwei Drittel. Die ungeheuren Latifundien,<br />
die sich in ihren Händen befinden - im Durchschnitt entfallen auf jeden<br />
einzelnen dieser Großgrundbesitzer mehr als 2000 Desjatinen! - können<br />
nicht mit dem Inventar des Besitzers und durch Lohnarbeiter bestellt werden.<br />
Bei einer solchen Sachlage ist das alte Fronsystem weitgehend unvermeidlich,<br />
d.h. das Bestehen der Kleinkultur, der Kleinwirtschaft auf<br />
großen Latifundien, die Bearbeitung der Gutsbesitzerländereien mit dem<br />
Inventar des Kleinbauern.<br />
Eben dieses Fronsystem ist auch bekanntlich in den zentralen, altrussischen<br />
Gouvernements des Europäischen Rußlands, im Herzen unseres<br />
Ackerbaus, besonders weit verbreitet. Die sogenannte Abarbeit stellt<br />
nichts anderes dar als die direkte Fortsetzung und ein Überbleibsel des<br />
Systems der Fronwirtschaft. Unmögliche, auf Schuldknechtschaft basierende<br />
Wirtschaftsmethoden nach Art der Verdingung im Winter, der<br />
Arbeit für die abgeschnittenen Bodenstücke, der Bearbeitung in „krugi"*<br />
usw. usf. - all das ist ebenfalls Frondienst. Der bäuerliche „Bodenanteil"<br />
ist bei einem solchen Wirtschaftssystem ein Mittel, um dem Qutsbesilzer<br />
Arbeitskräfte zu verschaffen, und nicht nur Arbeitskräfte, sondern auch<br />
Inventar, das, und sei es noch so erbärmlich, zur Bearbeitung der Gutsbesitzerländereien<br />
dient.<br />
Äußerstes Elend der Masse der Bauern, die an ihren Bodenanteil gebunden<br />
sind und von ihm nicht leben können, äußerste Primitivität der<br />
landwirtschaftlichen Technik, äußerst geringe Entwicklung des inneren<br />
Marktes für die Industrie - das sind die Folgen aus dieser Lage der Dinge.<br />
Und den eindringlichsten Beweis dafür, daß in ihrem Wesen, im Kern,<br />
die Sache bis auf unsere Tage unverändert geblieben ist, bildet die jetzige<br />
Hungersnot, von der 30 Millionen Bauern betroffen sind. Nur die durch<br />
die Leibeigenschaft hervorgebrachte Niedergedrücktheit, Verlassenheit,<br />
Hilflosigkeit der Masse der geknechteten Kleinbesitzer kann in der Zeit<br />
einer sich schnell entwickelnden und (in den besten kapitalistischen Wirtschaften)<br />
schon relativ hochstehenden landwirtschaftlichen Technik zu<br />
einer solch schrecklichen Massenhungersnot führen.<br />
Der grundlegende Widerspruch, der zu diesen schrecklichen Heimsuchungen<br />
führt, die der Bauernschaft Westeuropas seit den Zeiten des<br />
Mittelalters unbekannt sind, ist der Widerspruch zwischen dem in unserer<br />
* d. h. je einer Desjatine Sommergetreide und Wintergetreide. Der Tibers.
Das Wesen der .Agrarfrage in Rußland' 63<br />
Industrie hoch entwickelten, in unserer Landwirtschaft beträchtlich entwickelten<br />
Kapitalismus und den Qrundbesitzverhältnissen, die nach wie<br />
vor mittelalterlich, feudalistisch bleiben. Aus dieser Lage herauszukommen<br />
ist unmöglich, ohne den alten Grundbesitz radikal zu beseitigen.<br />
Feudalistisch ist nicht nur der gutsherrliche, sondern auch der bäuerliche<br />
Grundbesitz. Was den ersteren anbelangt, ist die Sache so augenscheinlich,<br />
daß keinerlei Zweifel aufkommen können. Wir wollen lediglich<br />
bemerken, daß die Beseitigung der feudalen Latifundien, sagen wir, der<br />
Wirtschaften mit mehr als 500 Desjatinen, die Großproduktion in der<br />
Landwirtschaft nicht untergraben, sondern im Gegenteil stärken, entfalten<br />
wird. Denn die feudalen Latifundien sind ein Stützpunkt des<br />
kleinen, auf Schuldknechtschaft gegründeten Ackerbaus und durchaus<br />
nicht der Großproduktion. Auf den gewaltigen, mehr als 500 Desjatinen<br />
großen Grundstücken ist es in den meisten Gegenden Rußlands fast unmöglich,<br />
zumindest aber äußerst schwierig, Qroßwirtsdbaft zu betreiben,<br />
den ganzen Boden mit dem Inventar des Besitzers und mit freien Lohnarbeitern<br />
zu bestellen. Die Verringerung des Umfangs solcher Besitzungen<br />
ist eine der Voraussetzungen für den Untergang des kleinen, auf Schuldknechtschaft<br />
beruhenden Ackerbaus und für den Übergang zur kapitalistischen<br />
Großproduktion in der Landwirtschaft.<br />
Anderseits bleibt auch der bäuerliche Anteilbodenbesitz in Rußland<br />
mittelalterlich und feudalistisch. Und dabei handelt es sich nicht nur um<br />
die juristische Form des Besitzes, die jetzt durch die feldwebelmäßige Zerstörung<br />
der Dorfgemeinde und die Konstituierung des privaten Grundeigentums<br />
verändert wird - es handelt sich ebensosehr um seine tatsädblidbe<br />
Gestalt, die keinerlei Zerschlagung der Dorfgemeinde berührt.<br />
Die tatsächliche Lage der gewaltigen Masse kleiner und kleinster bäuerlicher<br />
„Parzellen" (= winziger Bodenstücke), zum größten Teil Streuländereien,<br />
Boden allerschlechtester Qualität (dank der Vermessung des<br />
bäuerlichen Bodens im Jahre <strong>18</strong>61 unter der Leitung der feudalen Gutsbesitzer<br />
und infolge der Erschöpfung des Bodens), läßt die Bauern unvermeidlich<br />
in ein Verhältnis der Schuldknechtschaft gegenüber dem erblichen<br />
Besitzer des Latifundiums, dem ehemaligen „Herrn" geraten.<br />
Man stelle sich nur recht anschaulich dieses Bild vor: auf 30000 Besitzer<br />
von Latifundien mit je 200Q Desjatinen Land kommen 10000000<br />
Bauernhöfe mit einem Bodenstück von 7 Desjatinen je „Durchschnitts"-
64 'W.J.<strong>Lenin</strong><br />
hof. Es ist klar, daß die Zerschlagung der Dorfgemeinde, die Schaffung<br />
des privaten Grundeigentums nodb keineswegs imstande sein wird, Schuldknechtschaft,<br />
Abarbeit, Frondienst, Not und Elend der Leibeigenschaft<br />
und die sich daraus ergebenden feudalen Abhängigkeitsformen zu ändern.<br />
Die auf Grund einer solchen Lage der Dinge auf die Tagesordnung<br />
gesetzte „Agrarfrage" ist die Frage nach der Beseitigung der Oberreste<br />
der Leibeigenschaft, die zu einem untragbaren Hindernis für die kapitalistische<br />
Entwicklung Rußlands geworden sind. Die Agrarfrage in Rußland,<br />
das ist die Frage der radikalen Beseitigung des alten, mittelalterlichen<br />
Grundbesitzes, des gutsherrlichen Grundbesitzes wie auch des bäuerlichen<br />
Anteilbodenbesitzes, die absolut notwendig geworden ist, weil<br />
dieser Grundbesitz in seiner extremen Rückständigkeit in keiner Weise<br />
dem ganzen kapitalistisch gewordenen System der Volkswirtschaft entspricht.<br />
Eine radikale Beseitigung ist notwendig, weil die Diskrepanz über alle<br />
Maßen groß ist, weil das Alte zu alt, „die Krankheit zu weit gediehen" ist.<br />
Dieser Prozeß muß seinem Inhalt nach auf jeden Fall und in allen seinen<br />
Formen bürgerlich sein, da das ganze Wirtschaftsleben Rußlands schon<br />
bürgerlich ist und der Grundbesitz sich ihm unbedingt unterordnen wird,<br />
sich unbedingt den Anforderungen des Marktes, dem Druck des in unserer<br />
heutigen Gesellschaft allmächtigen Kapitals anpassen wird.<br />
Aber wenn eine radikale Beseitigung notwendig ist, wenn dieser Prozeß<br />
bürgerlich sein muß, so bleibt noch unentschieden, weldbe der beiden<br />
unmittelbar interessierten Klassen, die der Gutsbesitzer oder die der<br />
Bauern, diese Umwälzung durchführen oder ihre Richtung festlegen, ihre<br />
Formen bestimmen wird. Diese „unentschiedene Frage" werden wir im<br />
nächsten Artikel behandeln: „Ein Vergleich des Stolypinschen Agrarprogramms<br />
mit dem der Volkstümler."*<br />
„Newskaja Swesda" Nr. 6, Tiadh dem 7ext der<br />
22.7Aail9i2. .TJewskaja Swesda".<br />
Unterschrift: JL S.<br />
Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 133-139. Die <strong>Red</strong>.
EINIGE ERGEBNISSE DER MOBILISIERUNG<br />
FÜR DIE WAHLEN<br />
Die politischen Kräfte, die an den Wahlen zur Reichsdnma beteiligt<br />
sind, haben sich schon fast alle endgültig organisiert. Auf jeden Fall sind<br />
die grundlegenden Parteigruppierungen in so bestimmten Umrissen hervorgetreten,<br />
daß von irgendwelchen ernsthaften und wesentlichen Veränderungen<br />
keine <strong>Red</strong>e mehr sein kann.<br />
Die Regierung hat schon längst die Wahlkampagne begonnen. Die<br />
Rechten, die Nationalisten und die Oktobristen „arbeiten" mit offenkundiger<br />
Unterstützung der Behörden. Ein unlängst von der „Retsch" veröffentlichtes<br />
und von vielen Zeitungen abgedrucktes Rundschreiben der<br />
Gouverneure an die Kreispolizeichefs über die Ergreifung von „Maßnahmen",<br />
um die Nominierung „linker" Kandidaten als Bevollmächtigte<br />
(besonders der Bauern) oder als Wahlmänner zu verhindern, lüftet ein<br />
wenig den Schleier über der „WahT'maschinerie des Innenministeriums.<br />
Ohne Zweifel wird von dieser Seite alles mögliche - und unmögliche -<br />
gegen die Opposition unternommen werden. Nicht umsonst betonte der<br />
Premier Kokowzow in seiner <strong>Red</strong>e vor den Moskauer Kaufleuten so<br />
stark die Verderblichkeit der „Opposition der Opposition wegen".<br />
Aber wenn man auch an dem Eifer der Regierung und der Polizei bei<br />
den Wahlen nicht zu zweifeln braucht, so unterliegt es doch ebenfalls<br />
keinem Zweifel, daß in der Stimmung der Wähler eine weitgehende<br />
Wandlung „nach links" vor sich gegangen ist und vor sich geht. Keinerlei<br />
Kniffe der Regierung sind imstande, an dieser Tatsache etwas zu ändern.<br />
Im Gegenteil, Kniffe und „Maßnahmen" vermögen lediglich die Unzufriedenheit<br />
zu steigern. Und wenn diese Unzufriedenheit bei der Großbourgeoisie<br />
in einer „oppositionellen" <strong>Red</strong>e Schubinskis oder in einer<br />
65
66 "W. J. <strong>Lenin</strong><br />
„vorsichtigen" Anspielung Rjabuschinskis ihren Ausdruck findet, daß<br />
„kultivierte Regierungsmethoden" wünschenswert seien, oder in giftigen<br />
Sticheleien der kadettischen „Retsch" gegen das Kabinett - dann ist leicht<br />
zu verstehen, daß die Unzufriedenheit in dem weiten Kreis der von den<br />
Rjabuschinski, Golowin usw. abhängigen „kleinen Leute" weitaus größer<br />
und ernsthafter ist.<br />
Welches sind nun die politischen Gruppierungen im Lager der diese<br />
Unzufriedenheit politisch zum Ausdrude bringenden Opposition, die hervorgetreten<br />
sind? Hervorgetreten ist die „verantwortungsbewußte",<br />
liberal-monarchistische Opposition der Kadetten und Progressisten. Der<br />
Block zwischen ihnen ist ein deutliches Zeichen dafür, daß die Kadetten<br />
weitaus „rechter" stehen, als es den Anschein hat.<br />
Hervorgetreten ist die Arbeiterdemokratie, die sich nicht die „Unterstützung"<br />
der kadettisch-progressistisdien Opposition, sondern die Ausnutzung<br />
ihrer Konflikte mit den Rechten (einschließlich der Nationalisten<br />
und Oktobristen) zur Aufgabe gemacht hat, um aufklärend zu wirken<br />
und die Demokratie zu organisieren. Hervorgetreten ist schließlich auch<br />
die bürgerliche Demokratie: Auf der Konferenz der Trudowiki hat sie sich<br />
für ein Abkommen „in erster Linie mit den Sozialdemokraten" ausgesprochen,<br />
ohne jedoch zugleich irgendeine bestimmte Losung des Kampfes<br />
gegen den konterrevolutionären Liberalismus der Kadetten zu geben,<br />
d. h., in der Praxis schwankt sie nach wie vor zwischen diesen und jenen.<br />
Welches sind nun die Schlußfolgerungen aus dieser „politischen Mobilisierung"<br />
der Parteien für die Wahlen? Die erste und grundlegende<br />
Schlußfolgerung, die die Arbeiterdemokratie schon längst gezogen hat,<br />
ist die, daß es nicht zwei, sondern drei kämpfende Lager gibt. Die Liberalen<br />
möchten gar zu gern die Sache so darstellen, als ob im Grunde genommen<br />
zwei Lager im Kampf ständen, und die Liquidatoren gleiten, wie<br />
wiederholt gezeigt worden ist, ständig zu dieser selben Ansicht hinab. Für<br />
die Konstitution oder gegen die Konstitution? - so formulieren die Kadetten<br />
die Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden Lagern. In<br />
Wirklichkeit jedodi besagt diese Formulierung rein gar nichts, denn auch<br />
die Oktobristen versidiern, sie seien Anhänger einer Konstitution, ja, und<br />
überhaupt solle nicht darüber gesprodien werden, was man eine Konstitntion<br />
nennen könne und was nidit, sondern von dem genauen Inhalt bestimmter<br />
liberaler oder demokratischer Forderungen.
Einige Ergebnisse der Mobilisierung für die Wahlen 67<br />
Drei Lager werden eben durch den Inhalt der Forderungen bestimmt,<br />
durch den realen Unterschied der Klassentendenzen: das Lager der Rechten<br />
oder das Regierungslager; das liberale Lager oder das der liberalmonarchistischen<br />
Bourgeoisie, die auf konterrevolutionärem Boden steht,<br />
und das demokratische Lager. Es geht dabei nicht so sehr um die „Chancen"<br />
unter dem gegebenen Wahlsystem - nein, die Sache reicht viel tiefer,<br />
es geht um den ganzen Charakter der politischen Propaganda in der Zeit<br />
der Wahlen, um den ganzen politisch-ideologischen Gehalt der Wahlkampagne.<br />
Die tagtägliche „Strategie" der Liberalen ist bei einer solchen Sachlage<br />
darauf gerichtet, selber die Hegemonie über die „ganze" Oppositionsbewegung<br />
zu erringen. Und die liberalen „Saprossy Shisni" haben das<br />
von der „Retsch" so sorgsam gehütete „Geheimnis" dieser Strategie ausgeplaudert.<br />
„Die Progressisten", schreibt Herr R. B. 27 in Nr. 13 der „Saprossy",<br />
„haben ihre Kampagne mit einem vielversprechenden Zug (!)<br />
eröffnet, indem sie den sogenannten parteilosen progressiven Block' bildeten,<br />
der von den ersten Tagen an eine große Anziehungskraft auf die<br />
oppositionellen politischen Kreise ausübte, die rechts von den Kadetten<br />
stehen." Anderseits „entspricht die Wahlplattform der Trudowikigruppe<br />
ungeachtet ihrer Verschwommenheit - zum Teil vielleicht gerade dank<br />
dieser Verschwommenheit - den Wünschen weiter Kreise der demokratischen<br />
Intelligenz". „Unter bestimmten Bedingungen könnte die Trudowikigruppe<br />
links von den Kadetten dieselbe Rolle spielen, die rechts von<br />
den Kadetten die Gruppe der Progressisten übernommen hat. Die oppositionelle<br />
Front bestände dann aus beweglichen und schwankenden, aber<br />
elastischen äußeren Flanken und einem unbeweglichen, aber stabilen Zentrum,<br />
was in strategischer Beziehung auch im politischen Kampf seine<br />
vorteilhaften Seiten hat."<br />
Was die Herren Miljukow und Schingarjow im Sinn haben, hat R. B.<br />
auf der Zunge! Die Kadetten brauchen gerade zwei „elastische" Flanken:<br />
die Progressisten für das Einfangen des bürgerlichen Wählers, der auf<br />
dem Boden des 3. Juni steht, und die „verschwommenen" Demokraten<br />
für das Einfangen der demokratisch gesinnten breiten Masse. Diese „Strategie"<br />
entspringt in der Tat der Natur der Partei der Kadetten selbst. Es<br />
ist das die Partei der konterrevolutionären Liberalen, die durch Lug und<br />
Trug gewisse demokratische Schichten, wie einen Teil der Handlungs-
68 W. J. <strong>Lenin</strong><br />
gehilfen, der kleinen Angestellten usw., an sich zieht. Eine solche Partei<br />
braucht gerade den „parteilosen Progressisten" als die eigentliche Klassenstütze<br />
und den verschwommenen Demokraten als ansprechendes Aushängeschild.<br />
Den Typ des Progressisten können der Gutsbesitzer Jefremow und der<br />
Millionär Rjabuschinski abgeben. Typ des verschwommenen Demokraten<br />
sind der Trudowik aus dem Lager der Volkstümler und der Liquidator<br />
aus dem der Marxisten. Man nehme die ganze Geschichte der Kadettenpartei,<br />
und man wird sehen, daß ihr Handeln stets gerade darin bestand,<br />
den Demokratismus im Munde zu führen, einen „Jefremowschen und<br />
Rjabuschinski entsprechenden" Liberalismus jedoch in die Tat umzusetzen.<br />
Angefangen zumindest mit der Vereitelung des Plans für die örtlichen<br />
Bodenkomitees von 1906 und endend mit der Abstimmung für das<br />
Budget in der III. Duma oder mit den „Londoner" Losungen Miljukows 28<br />
usw., sehen wir eben diese "Natur der Kadettenpartei und die pseudodemokratische<br />
Aufmachung.<br />
Die Ungeschicklichkeit des Herrn R. B. von den „Saprossy" ist so groß,<br />
daß er ungewollt die Wahrheit ausgesprochen hat, die vor den Demokraten<br />
so sorgsam verborgen wird und von den Liberalen so verwirrt<br />
worden ist. Das Programm der Progressisten, gesteht er, „stellt die Frage<br />
auf eine feste, reale Basis"! In diesem Programm jedoch gibt es außer allgemeinen<br />
Phrasen rein oktobristischer Fasson (z. B. „völlige Verwirklichung<br />
des Manifests vom 17. Oktober") rein gar nichts. Als feste und<br />
reale Basis wird die Basis eines bürgerlichen Liberalismus bezeichnet, der<br />
so gemäßigt, so kraftlos, so ohnmächtig ist, daß es geradezu lächerlich<br />
wäre, auf ihn Hoffnungen irgendwelcher Art zu setzen. Diejenigen, die<br />
1907 „friedliche Erneuerer" waren, diejenigen, die in der III. Duma die<br />
Mitte zwischen Kadetten und Oktobristen hielten, sie sind es, die eine<br />
feste und reale Basis genannt werden!<br />
Der Millionär Rjabuschinski ist Progressist. Das Organ dieser oder ähnlicher<br />
Progressisten ist das „Utro Rossii" [Der Morgen Rußlands]. Und<br />
niemand anders als die „Retscfe", das Organ der Kadetten, die einen<br />
Block mit den Progressisten eingegangen sind, schrieb: „Am zufriedensten<br />
von allen" (mit der <strong>Red</strong>e Kokowzows) „ist das Organ der Moskauer<br />
Industriellen ,Utro Rossii'... Es bläst in dasselbe Hörn wie Krestownikow:<br />
,Das kommerzielle und industrielle Moskau kann sich mit Recht
Einige Ergebnisse der Mobilisierung für die "Wahlen 69<br />
als zufriedengestellt betrachten'." Und die „Retsdo" fügt von sich aus hinzu:<br />
„Insoweit es. vom ,Golos Moskwy' und ,Utro Rossii' abhängt, sind sie<br />
bereit, keinerlei Linie zu verfolgen, und fühlen sich zufriedengestellt."<br />
Es fragt sich, wo sind die Anzeichen dafür, daß Jefremow oder andere<br />
Progressisten eine „Linie" haben"} Solche Anzeichen gibt es nicht. Einen<br />
derartigen Progressismus unterstützen, gleichgültig ob er sich Progressismus<br />
oder Kadettismus nennt, heißt nichts anderes, als die Position der<br />
Demokratie aufgeben. Eine andere Sache ist es, die Konflikte zwischen der<br />
Bourgeoisie und den Gutsbesitzern, zwischen den Liberalen und den<br />
Rechten auszunutzen. Nur das kann sich der Demokrat zur Aufgabe<br />
machen.<br />
Die klare Erkenntnis des konterrevolutionären Charakters des Liberalismus<br />
der Kadetten und der Progressisten ist notwendig, um diese Aufgabe<br />
zu erfüllen, um jene außerordentlich breiten Massen, die ökonomisch von<br />
den Jefremow und Rjabuschinski abhängen, politisch aufzuklären und zu<br />
organisieren. Der Hauptmangel, der den Trudowiki und den Liquidatoren<br />
gemeinsam ist, besteht in dem Fehlen dieser klaren Erkenntnis. Bei den<br />
Trudowiki gibt es überhaupt keine Klassencharakteristik des Liberalismus,<br />
bei den Liquidatoren ergeben die Phrasen, daß man „die "Duma den<br />
Händen der Reaktion entreißen" wird, daß die Kadetten und Progressisten<br />
der Macht näherkommen, daß sie eine historisch-fortschrittlidie<br />
Arbeit vollbringen (siehe Martow und Dan), in ihrer Gesamtheit doch<br />
eben jene Rolle der kadettischen „Flanke", mit der auch R. B. so zufrieden<br />
ist.<br />
Die subjektiven Wünsche der Trudowiki und der Liquidatoren sind<br />
natürlich nicht von dieser Art, aber es handelt sich nicht um ihre subjektiven<br />
Pläne, sondern um die objektive Gruppierung der gesellschaftlichen<br />
Kräfte. Diese Gruppierung jedoch zeigt uns klar, trotz aller Anhänger der<br />
Idee von den zwei Lagern, trotz des schadenfrohen Geschreis über die<br />
Desorganisation der Arbeiterdemokratie (siehe Herr R. B. in demselben<br />
Artikel), daß das dritte Lager sich gebildet hat. Seine Linie ist deutlich<br />
angegeben und allen bekannt. Die antiliquidatorischen Arbeiter verfolgen<br />
diese Linie, indem sie alle Demokraten im Kampf sowohl gegen die Rechten<br />
als auch gegen den Liberalismus zusammenschmieden. Ohne sich<br />
irgendwelche Illusionen zu machen über den ohnmächtigen, in allen grundsätzlichen<br />
Fragen vor der Reaktion kriechenden Liberalismus der Kadet-
70 W.I.Zenin<br />
ten, nutzen die Arbeiter seine Zusammenstöße mit der Reaktion für sidi<br />
aus, für ihre Klassenorganisation, für ihre Demokratie, die heute in der<br />
Tiefe der von den Jefremow und Rjabusdiinski unterjochten Volksmassen<br />
in aller Stille heranreift.<br />
Der Kampf der Rechten gegen die „verantwortungsbewußte" Opposition<br />
muß dazu dienen, und wird - dank der antiliquidatorischen Taktik<br />
der Arbeiter - dazu dienen, das Bewußtsein und die selbständige Organisation<br />
einer solchen „Opposition" zu entwickeln, die auf den wenig ehrenvollen<br />
Titel „verantwortungsbewußt" keinen Anspruch erhebt.<br />
,?iewshx]a Swesda" 7$r. 6, Nadb dem 7ext der<br />
ii.TAcA 1912. .Newskaja Swesda".<br />
Unterschrift: B. Q.
WIRTSCHAFTLICHER<br />
UND POLITISCHER STREIK<br />
Seit 1905 ist in der offiziellen Streikstatistik, die vom Ministerium für<br />
Handel und Industrie geführt wird, eine ständige Unterteilung der Streiks<br />
in wirtschaftliche und politische eingeführt worden. Die Einführung dieser<br />
Unterteilung ist vom Leben erzwungen worden, das eigentümUdbe Formen<br />
der Streikbewegung hervorgebracht hat. Die Kombination des wirtschaftlichen<br />
und des politischen Streiks - das ist einer der Hauptzüge<br />
dieser Eigentümlichkeit. Und in der gegenwärtigen Zeit, da die Streikbewegung<br />
anschwillt, ist es im wissenschaftlichen Interesse, im Interesse<br />
eines bewußten Herangehens an die Ereignisse erforderlich, daß die Arbeiter<br />
diesen eigentümlichen Zug der russischen Streikbewegung aufmerksam<br />
betrachten.<br />
Vor allen Dingen wollen wir einige grundlegende Zahlen anführen, die<br />
wir der Streikstatistik der Regierung entnehmen. Im Verlauf der drei<br />
Jahre von 1905 bis 1907 stand die russische Streikbewegung auf einer<br />
solchen Höhe, wie sie bislang die "Welt noöi nidht gesehen bat. Die Regierungsstatistik<br />
erstreckt sich lediglich auf Fabriken und <strong>Werke</strong>, so daß sowohl<br />
die Unternehmen des Bergbaus und Hüttenwesens wie die Eisenbahnen,<br />
sowohl die Bauarbeiten wie viele andere Zweige der Lohnarbeit<br />
unberücksichtigt bleiben. Aber allein schon in den Fabriken und <strong>Werke</strong>n<br />
streikten 1905 2863000 Menschen, d.h. etwas weniger als 3 Millionen,<br />
1906 1 108 000 und 1907 740000. In den ganzen 15 Jahren von <strong>18</strong>94<br />
bis 1908, da man in Europa damit begann, systematisch eine Streikstatistik<br />
zu führen, war die Höchstzahl der Streikenden im Jahr in<br />
Amerika 660000.<br />
Die rassischen Arbeiter haben folglich als die ersten in der Weh einen<br />
71
72 TV. 1 }. <strong>Lenin</strong><br />
solchen Massenstreikkampf entfaltet, wie wir ihn in den Jahren von 1905<br />
bis 1907 gesehen haben. Nunmehr haben die englischen Arbeiter auf dem<br />
Gebiet des wirtschaftlichen Streiks der Bewegung einen neuen starken<br />
Anstoß gegeben. Die führende Rolle der russischen Arbeiter erklärt sich<br />
nicht daraus, daß sie stärker, organisierter, entwickelter wären als die<br />
westeuropäischen Arbeiter, sondern daraus, daß es in Europa noch keine<br />
großen nationalen Krisen mit selbständiger Beteiligung der proletarischen<br />
Massen gegeben hat. Wenn diese Krisen hereinbrechen, dann werden die<br />
Massenstreiks in Europa noch stärker sein, als sie es 1905 in Rußland<br />
waren.<br />
Wie war das Verhältnis zwischen wirtschaftlichem und politischem<br />
Streik in diesem Zeitabschnitt? Darauf gibt die Regierungsstatistik folgende<br />
Antwort:<br />
Zahl der Streikenden in Jausend-.<br />
1905 1906 1907<br />
In wirtschaftlichen Streiks 1439 458 200<br />
In politischen Streiks 1424 650 540<br />
Insgesamt 2863 1108 '740<br />
Hieraus ist der enge und unlösbare Zusammenhang beider Arten von<br />
Streiks zu ersehen. Der größte Aufschwung der Bewegung (1905) zeichnet<br />
sich aus durch die breiteste wirtsdbafilidbe Kampf basis: Die politischen<br />
Streiks ruhen in diesem Jahr auf einer festen und soliden Basis von wirtschaftlichen<br />
Streiks. Die Zahl der aus wirtschaftlichen Gründen Streikenden<br />
ist höher als die Zahl der aus politischen Gründen Streikenden.<br />
In dem Maße, wie die Bewegung in den Jahren 1906 und 1907 abflaut,<br />
sehen wir die wirtschaftliche Basis sdbwädher werden: die Zahl der aus<br />
wirtschaftlichen Gründen Streikenden fällt 1906 auf vier Zehntel der<br />
Gesamtzahl der Streikenden und 1907 auf drei Zehntel. Politischer und<br />
wirtschaftlicher Streik unterstützen sich also gegenseitig und sind jeder<br />
ein Kraftquell für den anderen. Ohne die enge Verbindung dieser Streikformen<br />
ist eine wirklich breite Massenbewegung, die Bedentang für das<br />
ganze Volk erhielte, unmöglich. Am Anfang der Bewegung besitzt der<br />
wirtschaftliche Streik nicht selten die Eigenschaft, die Zurückgebliebenen<br />
aufzurütteln und in Bewegung zu bringen, die Bewegung zu verallgemeinern,<br />
sie auf eine höhere Stufe zu heben.
Wirtsdhaftliäier und politischer Streik 73<br />
Im ersten Quartal des Jahres 1905 überwog zum Beispiel der wirtschaftliche<br />
Streik beträchtlich gegenüber dem politischen: auf den ersteren<br />
entfielen 604000 Streikende, auf den letzteren nur 206000. Im letzten<br />
Quartal des Jahres 1905 jedoch ist das Verhältnis umgekehrt: auf wirtschaftliche<br />
Streiks entfallen 430000 und auf politische Streiks 847000<br />
Streikende. Das heißt, daß zu Beginn der Bewegung viele Arbeiter den<br />
wirtschaftlichen Kampf in den Vordergrund stellten, zur Zeit des größten<br />
Aufschwungs aber war es umgekehrt. Doch die Verbindung des wirtschaftlichen<br />
mit dem politischen Streik existierte die ganze Zeit hindurch.<br />
Ohne diese Verbindung, wir wiederholen es, ist eine wirklich große Bewegung,<br />
die große Ziele verwirklicht, unmöglich.<br />
Die Arbeiterklasse tritt beim politischen Streik als die führende Klasse<br />
des ganzen Volkes auf. Das Proletariat spielt in solchen Fällen die Rolle<br />
nicht einfach einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, sondern die Rolle<br />
des Hegemons, d. h. des Leiters, des Vorkämpfers, des Führers.'Die politischen<br />
Ideen, die in der Bewegung zutage treten, tragen gesamtnationalen<br />
Charakter, das heißt, sie berühren die grundlegenden, fundamentalen<br />
Verhältnisse des politischen Lebens des ganzen Landes. Dieser<br />
Charakter des politischen Streiks weckte - wie alle wissenschaftlichen<br />
Untersuchungen des Zeitabschnitts von 1905 bis 1907 hervorheben -<br />
das Interesse an der Bewegung bei allen Klassen und insbesondere natürlich<br />
bei den breitesten, zahlenmäßig stärksten und demokratischsten<br />
Schichten der Bevölkerung, bei der Bauernschaft und so weiter.<br />
Anderseits wird die Masse der Werktätigen niemals bereit sein, sich<br />
einen allgemeinen „Fortschritt" des Landes vorzustellen ohne ökonomische<br />
Forderungen, ohne eine unmittelbare und unverzügliche Verbesserung<br />
ihrer Lage. Nur wenn die wirtschaftliche Lage des Arbeitenden<br />
verbessert wird, wird die Masse in die Bewegung einbezogen, nimmt sie<br />
energisch an ihr teil, weiß sie diese zu schätzen, offenbart sie Heldenmut,<br />
Selbstaufopferung, Standhaftigkeit und Ergebenheit für die große Sache.<br />
Anders kann es nicht sein, denn die Lebensbedingungen der Arbeiter sind<br />
in „gewöhnlichen" Zeiten unglaublich schwer. Indem die Arbeiterklasse<br />
für eine Verbesserung der Lebensbedingungen kämpft, wädist sie zugleich<br />
sowohl moralisch als auch geistig und politisch, wird sie fähiger, ihre großen<br />
Freiheitsziele zu verwirklichen.<br />
Die vom Ministerium für Handel und Industrie herausgegebene Streik-<br />
6 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>
74 'W.I.<strong>Lenin</strong><br />
Statistik bestätigt voll und ganz diese gigantische Bedeutung des wirtschaftlichen<br />
Kampfes der Arbeiter in einer Zeit der allgemeinen Belebung. Je<br />
stärker der Drnck der Arbeiter, eine desto größere Verbesserung ihrer<br />
Lebensbedingungen erreichen sie. Sowohl die „Sympathie der Gesellschaft"<br />
als auch die Verbesserung der Lebensbedingungen sind das Resultat<br />
einer hohen Entwicklungsstufe des Kampfes. Wenn die Liberalen<br />
(und die Liquidatoren) den Arbeitern sagen: Ihr seid stark, wenn ihr die<br />
Sympathien der „Gesellschaft" besitzt, so sagen die Marxisten den Arbeitern<br />
etwas anderes: Ihr besitzt die Sympathien der „Gesellschaft",<br />
wenn ihr stark seid. Unter Gesellschaft sind in diesem Fall alle möglichen<br />
demokratischen Schichten der Bevölkerung zu verstehen, das Kleinbürgertnm,<br />
die Bauern, die Intelligenz, die in enger Berührung mit dem Arbeiterleben<br />
steht, die Angestellten usw.<br />
Am stärksten war die Streikbewegung im Jahre 1905. Und was war die<br />
Folge? Wir sehen, daß die Arbeiter gerade während dieses Jahres die<br />
größte Verbesserung ihrer Lebensbedingungen erzielten. Die Regierungsstatistik<br />
zeigt, daß im Jahre 1905 von 100 Streikenden nur 29 den Kampf<br />
einstellten, ohne etwas erreicht zu haben, das heißt, eine völlige Niederlage<br />
erlitten. In den vorangegangenen zehn Jahren (<strong>18</strong>95 bis 1904) hatten<br />
von 100 Streikenden 52 den Kampf eingestellt, ohne etwas erreicht zu<br />
haben! Der Massencharakter der Bewegung hat also den Erfolg des Kampfes<br />
in gewaltigem Ausmaß, fast auf das Doppelte, erhöht.<br />
Als aber die Bewegung anfing abzuflauen, da begannen auch die Erfolge<br />
des Kampfes sich zu verringern: 1906 beendeten von 100 Streikenden 33<br />
den Kampf, ohne etwas erreicht zu haben, oder, richtiger, sie erlitten eine<br />
Niederlage; 1907 waren es 58; 1908 sogar 69 von 100!!<br />
Die wissenschaftlichen Daten der Statistik für eine ganze Reihe von<br />
Jahren bestätigen also durchaus die eigene Erfahrung und Beobachtung<br />
eines jeden klassenbewußten Arbeiters, daß es notwendig ist, den wirtschaftlichen<br />
Streik mit dem politischen zu vereinigen, und daß eine solche<br />
Vereinigung in einer wirklich breiten und das ganze Volk umfassenden<br />
Bewegung unerläßlich ist<br />
Die heutige Welle der Streikbewegung bestätigt gleichermaßen voll und<br />
ganz diese Schlußfolgerung. Im Jahre 1911 ist die Zahl der Streikenden<br />
gegenüber dem Jahre 1910 auf das Doppelte angewachsen (100 000 gegen<br />
50 000), aber trotzdem war diese Zahl noch sehr gering; die rein wirt-
TVirtsdoaftlicher und politischer Streik 75<br />
schaftlichen Streiks blieben eine verhältnismäßig „enge" Angelegenheit,<br />
hatten noch keine Bedeutung für das ganze Volk gewonnen. Dagegen sieht<br />
heute jedermann, daß die Streikbewegung des laufenden Jahres nach den<br />
bekannten Aprilereignissen gerade eine solche Bedeutung erlangt hat.<br />
Darum ist es von äußerster Wichtigkeit, gleich von Anfang an den<br />
Anstrengungen der Liberalen und der liberalen Arbeiterpolitiker (der<br />
Liquidatoren), die bemüht sind, den Charakter der Bewegung zu entstellen,<br />
entschieden entgegenzutreten. Ein Liberaler, Herr Sewerjanin, hat<br />
in den „Russfaje TVedomosti" einen Artikel veröffentlicht gegen das<br />
„Hineintragen" wirtschaftlicher oder „irgendwelcher" (sieh mal einer an!)<br />
„Forderungen" in den Streik zum 1. Mai, und die kadettische „Ketsdo"<br />
hat voller Sympathie die Hauptstellen dieses Artikels abgedruckt.<br />
„Solche Streiks", schreibt der Herr Liberale, „mit dem Zeitpunkt gerade<br />
des 1. Mai zn verbinden ist... meistens unbegründet... Auch ist es irgendwie<br />
seltsam: Wir feiern den Tag des internationalen Arbeiterfestes, und bei diesem<br />
Anlaß fordern wir einen Zuschlag von 10 Prozent auf Kattun der und der<br />
Sorten." („Retsch" Nr. 132.)<br />
Dem Liberalen scheint „seltsam", was dem Arbeiter völlig verständlich<br />
ist. Nur Verteidiger der Bourgeoisie und ihrer maßlosen Profite können<br />
über die Forderung eines „Zuschlags" spotten. Die Arbeiter jedoch wissen,<br />
daß gerade der breite Charakter der Forderung nach einem Zuschlag,<br />
gerade der allseitige Charakter der Streiks vor allem anderen eine Masse<br />
neuer Teilnehmer heranzieht, vor allem anderen die Stärke des Drucks<br />
und die Sympathie der Gesellschaft gewährleistet, vor allem anderen<br />
sowohl den Erfolg der Arbeiter selbst als auch die gesamtnationale Bedeutung<br />
ihrer Bewegung garantiert. Darum muß man gegen die liberale<br />
Entstellung, die Herr Sewerjanin, die „Russkije Wedomosti" und die<br />
„Retsdb" propagieren, entschieden ankämpfen und die Arbeiter mit allem<br />
Nachdruck vor derartigen üblen Ratgebern warnen.<br />
Der Liquidator Herr W. Jeshow tritt gleich in der ersten Nummer der<br />
liquidatorischen Zeitung „Newski Golos" 30 mit einer ebensolchen, rein<br />
liberalen Entstellung hervor, obzwar er an die Frage von einer etwas anderen<br />
Seite her herangeht. Herr W. Jeshow geht besonders auf die Streiks<br />
ein, zu denen es auf Grund der wegen des 1. Mai verhängten Strafen kam.<br />
Der Autor, der-mit Recht auf die ungenügende Organisiertheit der Arbeiter<br />
verweist, zieht aus diesem berechtigten Hinweis die allerverkehrtesten
76 W.J.<strong>Lenin</strong><br />
und für die Arbeiter schädlichsten Schlußfolgerungen. Die Unorganisiertheit<br />
sieht Herr Jeshow darin, daß man in der einen Fabrik einfach aus<br />
Protest streikte, in der anderen zugleich wirtschaftliche Forderungen aufstellte<br />
usw. In der Tat liegt jedoch in dieser Mannigfaltigkeit der Streikformen<br />
noch nicht die geringste Unorganisiertheit: es ist Dummheit, sich die<br />
Organisiertheit unbedingt als Einförmigkeit vorzustellen! Die Unorganisiertheit<br />
ist ganz und gar nicht dort zu suchen, wo Herr Jeshow sie sucht.<br />
Aber noch weitaus schlimmer ist seine Sdhlußfoigerung-.<br />
„Dadurch" (d. h. durch die Mannigfaltigkeit der Streiks und die verschiedenen<br />
Formen der Kombination von Wirtschaft und Politik) „wurde in einer<br />
beträchtlichen Zahl von Fällen der prinzipielle Charakter des Protestes (man<br />
streikte ja wohl nicht um 25 Kopeken) verwischt, er wurde kompliziert durch<br />
wirtschafdiche Forderungen..."<br />
Das ist eine wahrhaft empörende, durch und durch verlogene, durch<br />
und durch liberale Betrachtungsweise! Zu glauben, daß die Forderung von<br />
„25 Kopeken" den prinzipiellen Charakter des Protestes „vertuschen"<br />
könnte, heißt auf das Niveau eines Kadetten hinabsinken. Im Gegenteil,<br />
Herr Jeshow, über die Forderung von „25 Kopeken" soll man nicht spötteln,<br />
sie verdient volle Anerkennung! Im Gegenteil, Herr Jeshow, diese<br />
Forderung „vertuscht" den „prinzipiellen Charakter des Protestes" nidbt,<br />
sondern verstärkt ihn! Erstens ist die Frage der Verbesserang der Lebensbedingungen<br />
aud] eine prinzipielle Frage, und zwar eine überaus wichtige<br />
prinzipielle Frage, und zweitens schwäche ich meinen Protest nicht ab,<br />
sondern verstärke ihn, wenn ich nicht gegen eine Erscheinungsform der<br />
Unterdrückung, sondern gegen zwei, drei usw. dieser Erscheinungsformen<br />
protestiere.<br />
Jeder Arbeiter wird mit Entrüstung die empörende liberale Entstellung<br />
der Sache durch Herrn Jeshow zurückweisen.<br />
Aber bei Herrn Jeshow ist das keineswegs ein falscher Zungenschlag.<br />
Er schreibt weiterhin noch empörendere Dinge:<br />
„Die eigene Erfahrung hätte den Arbeitern sagen müssen, daß die Komplizierung<br />
ihres Protestes durch wirtschaftliche Forderungen genauso unzweckmäßig<br />
ist wie auch die Komplizierung eines gewöhnlichen Streiks durch prinzipielle<br />
Forderungen."<br />
Das ist falsch, tausendmal falsch! Schande über den „Newski Golos",<br />
daß er solche Ergüsse druckt. Durchaus zweckmäßig ist, was Herrn Jeshow
"WirtsdiaftUdber und pdlitis&er Streik 77<br />
unzweckmäßig scheint. Sowohl die eigenen Erfahrungen eines jeden<br />
Arbeiters als auch die Erfahrungen einer sehr großen Zahl rassischer Arbeiter<br />
in der jüngsten Vergangenheit besagen das Qegenteil von dem, was<br />
Herr Jeshow lehrt.<br />
Nur die Liberalen können gegen eine „Komplizierung" selbst des „gewöhnlichsten"<br />
Streiks durch „prinzipielle Forderungen" protestieren; das<br />
zum ersten. Und zweitens begeht unser Liquidator einen groben Fehler,<br />
wenn er die heutige Bewegung mit dem Maß „gewöhnlicher" Streiks mißt.<br />
Und vergebens versucht Herr Jeshow, seine liberale Konterbande unter<br />
fremder Flagge zu verbergen, vergebens vermengt er die Frage der Xombinierung<br />
des wirtschaftlichen und des politischen Streiks mit der Frage<br />
der Vorbereitung des einen wie des anderen! Natürlich, vorbereiten und<br />
sich vorbereiten, dabei so gründlich, einmütig, geschlossen, überlegt, entschieden<br />
wie möglich, all das ist höchst wünschenswert. Darüber kann es<br />
keinen Streit geben. Aber vorbereiten muß man, entgegen Herrn Jeshow,<br />
gerade die Kombination beider Streikarten.<br />
„Wir stehen vor einem Zeitabschnitt wirtschaftlicher Streiks", schreibt Herr<br />
Jeshow. „Es wäre ein nicht wiedergutzumachender Fehler, wenn sie verflochten<br />
würden mit politischen Aktionen der Arbeiter. Eine solche Vermischung würde<br />
sich sowohl auf den wirtschaftlichen Kampf der Arbeiter wie auch auf den<br />
politischen Kampf schädlich auswirken."<br />
Weiter, scheint es, geht's nimmer! Das Hinabsinken des Liquidators<br />
auf das Niveau des Dutzendliberalen ist aus diesen Worten ganz klar zu<br />
ersehen. Jeder Satz enthält einen Fehler! Jeden Satz muß man in sein<br />
direktes Gegenteil verwandeln, um die Wahrheit zu erhalten!<br />
Es stimmt nicht, daß wir vor einem Zeitabschnitt wirtschaftlicher Streiks<br />
stehen. Ganz im Gegenteil. Wir stehen vor einem Zeitabschnitt nicht nur<br />
wirtschaftlicher Streiks. Wir stehen vor einem Zeitabschnitt politischer<br />
Streiks. Die Tatsachen, Herr Jeshow, sind stärker als Ihre liberalen Entstellungen,<br />
und wenn Sie die statistischen Karten über die Streiks, die im<br />
Ministerium für Handel und Industrie gesammelt werden, erhalten könnten,<br />
dann würde sogar diese Regierungsstatistik Sie völlig widerlegen.<br />
Es stimmt nicht, daß die „Verflechtung" ein Fehler wäre. Ganz im<br />
Gegenteil. Es wäre ein nicht wiedergutzumachender Fehler, wenn die<br />
Arbeiter nicht die ganze Eigentümlichkeit, die ganze Bedeutung, die ganze<br />
Notwendigkeit, die ganze prinzipielle Wichtigkeit gerade einer solchen
78 TV."}. <strong>Lenin</strong><br />
„Verflechtung" begriffen. Zum Glück aber verstehen die Arbeiter das ausgezeichnet<br />
und weisen voller Verachtung die Predigt der liberalen Arbeiterpolitiker<br />
zurück.<br />
Es stimmt schließlich nicht, daß eine solche Vermischung sich auf beide<br />
Formen „schädlich auswirken" würde. Ganz im Gegenteil. Sie wirkt sich<br />
auf beide günstig aus. Sie stärkt beide.<br />
Herr Jeshow belehrt irgendwelche von ihm entdeckte „Hitzköpfe".<br />
Man höre:<br />
„Es gilt, die Stimmung der Arbeitennassen organisatorisch zu fixieren<br />
..." - Heilige Wahrheit! - „Es gilt, die Agitation für die Gewerkschaften<br />
zu verstärken, neue Mitglieder für sie zu werben..."<br />
Das ist durchaus richtig, aber... aber Herr Jeshow, es ist unzulässig,<br />
die „organisatorische Fixierung" auf die Gewerkschaften allein zu besdbräriken!<br />
Denken Sie daran, Herr Liquidator!<br />
„Das ist um so notwendiger, als sich heute unter den Arbeitern nicht wenig<br />
Hitzköpfe finden, die sich durch die Massenbewegung hinreißen lassen und in<br />
den Versammlungen gegen die Qewerksdbaften auftreten, da diese nutzlos und<br />
unnötig seien."<br />
Das ist eine liberale Verleumdung der Arbeiter. Nicht „gegen die Gewerkschaften"<br />
sind die Arbeiter aufgetreten, die den Liquidatoren das<br />
Leben sauer gemacht haben und immer sauer machen werden. Nein, die<br />
Arbeiter sind gegen die "Beschränkung der organisatorischen Fixierung nur<br />
auf die „Gewerkschaften" allein aufgetreten, wie sie so klar aus dem vorhergehenden<br />
Satz des Herrn Jeshow hervorgeht<br />
Die Arbeiter sind nicht „gegen die Gewerkschaften" aufgetreten, sondern<br />
gegen die liberale Entstellung des Charakters ihres Kampfes, die den<br />
ganzen Artikel des Herrn Jeshow kennzeichnet.<br />
Der russische Arbeiter ist politisch reif genug, um die große Bedeutung<br />
seiner Bewegung für das ganze Volk zu verstehen. Er ist reif genug, um<br />
die ganze Falschheit, die ganze Armseligkeit der liberalen Arbeiterpolitik<br />
zu begreifen, und stets wird er sie voller Verachtung zurückweisen.<br />
Veröffentlicht am 31. TAai 1912 "Nach dem 7ext der „Newskaja<br />
in der „TJewskaja Swesda" 7ir. 10. Swesda", verglichen mit dem<br />
"Unterschrift:1w. Petrotv. 7ext des Sammelbandes „Marxismus<br />
und Eicjuidatorentum",<br />
7eil II, St. Petersburg 1914.
DIE FRAGE DER UMSIEDLUNG<br />
Bekanntlich haben die Regierung nnd die konterrevolutionären Parteien<br />
auf die Umsiedlung der Bauern besonders große Hoffnungen gesetzt Sie<br />
sollte nach der Meinung aller Konterrevolutionäre die Agrarfrage wenn<br />
nicht radikal lösen, so doch zumindest in bedeutendem Maße entschärfen<br />
und ungefährlich machen. Darum eben begann man gerade dann für die<br />
Umsiedlung besonders Reklame zu machen, sie auf jede Weise zu fördern,<br />
als im Europäischen Rußland die Bauernbewegung einsetzte und sich entwickelte.<br />
Was die Vertreter der Regierung und weiterblickende Politiker, zum<br />
Beispiel unter den Oktobristen, im Sinn haben, das kommt so unverhüllten<br />
Reaktionären wie dem Erzreaktionär Markow 2 aus Kursk auf die<br />
Zunge. Und dieser Abgeordnete erklärte bei der Erörterung der Frage der<br />
Umsiedlung in der Duma geradeheraus, mit lobenswerter Offenheit:<br />
„Jawohl, eben durch Umsiedlung muß die Regierung die Agrarfrage<br />
lösen." (1. Sitzungsperiode.)<br />
Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Umsiedlung, falls sie richtig<br />
organisiert wird, eine gewisse Rolle in der wirtschaftlichen Entwicklung<br />
Rußlands spielen könnte. Selbstverständlich darf diese Rolle nicht überschätzt<br />
werden, nicht einmal heute, wo die Lage der Bauern so ganz und<br />
gar unerträglich ist, daß der russische Mushik bereit ist, nicht nur nach<br />
Sibirien, sondern bis ans Ende der Welt zu wandern; nicht einmal heute,<br />
wo man die landarmen und landlosen Bauern auf jede Weise zur Umsiedlung<br />
und Abwanderung ermuntert, um sie vor der Verführung zu bewahren,<br />
die in dem Anblick der gutsherrlichen Latifundien liegt; wo der<br />
Erlaß vom 9. November 31 für die Umsiedler die Liquidation der Überreste<br />
79
80 W.l. Centn<br />
ihrer heimatlidien Wirtschaft außerordentlich erleichtert hat; nicht einmal<br />
heute, wie die Apologeten des natürlichen Zuwachses selber zugeben<br />
müssen. Lediglich in den Gouvernements, die den höchsten Prozentsatz an<br />
Abwanderern stellen (der Süden, der Westen und das Zentrale Schwarzerdegebiet<br />
Rußlands), kommt die Abwanderung dem natürlichen Zuwachs<br />
gleich, resp. sie übersteigt ihn nur um ein weniges<br />
Nichtsdestoweniger gibt es in Sibirien noch eine beträchtliche Reserve<br />
an freien Ländereien, die für die Umsiedlung geeignet sind. Allerdings ist<br />
noch sehr wenig getan worden, um diese auch nur annähernd genau zu<br />
bestimmen. Kulomsin setzte schon <strong>18</strong>96 die Reserve an Kolonisationsländereien<br />
mit 130000 Siedlerstellen an. Seit dieser Zeit ist das Zehnfache<br />
an Siedlerstellen zugewiesen worden, und die Reserve ist noch nicht<br />
erschöpft. Im Gegenteil, nach Berechnungen der Siedlungsverwaltung beläuft<br />
sich 1900 die vorhandene Reserve für die Umsiedlung geeigneter<br />
Ländereien auf 3 Millionen Siedlerstellen für 6 Millionen Umsiedler. Wie<br />
man sieht, sind die Ziffern außerordentlich verschieden; sie schwanken<br />
innerhalb eines sehr breiten Bereichs.<br />
Wie dem aber auch sei, selbst wenn man einen bestimmten Prozentsatz<br />
der letzten Zahlen im Hinblick auf die übliche bürokratische Schönfärberei<br />
zu streichen hätte, so unterliegt es dennoch keinem Zweifel, daß es in<br />
Sibirien noch eine Reserve an Ländereien gibt und also eine Umsiedlung<br />
nach dort sowohl für Sibirien als auch für Rußland von einer gewissen<br />
Bedeutung sein könnte, wenn sie nur zweckmäßig organisiert würde.<br />
Eben diese conditio sine qua non* aber wird von der gegenwärtigen<br />
Regierung nicht erfüllt. Die heutige Organisation des Umsiedlungswesens<br />
zeigt und beweist ein übriges Mal, daß unsere „alte Ordnung" absolut<br />
unfähig ist, die elementarsten wirtschaftlichen Bedürfhisse der Bevölkerung<br />
zu befriedigen; die schlechte Organisierung der Umsiedlung legt noch einmal<br />
Zeugnis davon ab, daß die heutigen Herren der Lage unvermögend<br />
sind, auch nur irgend etwas für den wirtschaftlichen Fortschritt des Landes<br />
zu tun.<br />
Die Richtung, den Charakter und die Art der Durchführung der Siedlungspolitik<br />
klarzustellen, das eben war auch der Zweck der <strong>Red</strong>en, die<br />
die sozialdemokratischen Abgeordneten bei der alljährlichen Erörterung<br />
des Budgetvoranschlags der Siedlungsverwaltung hielten.<br />
* unerläßliche Bedingung. Die <strong>Red</strong>.
Die frage der Umsiedlung 81<br />
Welches Ziel verfolgt die Regierung bei der Umsiedlung der Bauern?<br />
Das ist die grundlegende Frage, die alle anderen bestimmt, denn das von<br />
der Regierung bei der Durchführung der Siedlungspolitik verfolgte Ziel<br />
bestimmt den gesamten Charakter dieser Politik.<br />
Der Abgeordnete Woiloschnikow, der in der 2. Sitzungsperiode der<br />
Duma im Namen der sozialdemokratischen Fraktion sprach, charakterisierte<br />
die Aufgaben, die sich die Regierung bei der Umsiedlung der<br />
Bauern stellt, folgendermaßen: „Die Siedlungspolitik", sagte Woiloschnikow,<br />
„ist eins der Glieder der gesamten Agrarpolitik der Regierung. Die<br />
Gutsbesitzer brauchten schwache und nicht widerstandsfähige Bauern als<br />
billige Arbeitskräfte, und die Regierung war auf jede Weise bemüht, die<br />
Umsiedlung zu bremsen und den Bevölkerungsüberschuß an Ort und<br />
Stelle zu belassen. Aber nicht genug damit: sie führte einen intensiven<br />
Kampf gegen die eigenmächtige Umsiedlung, d. h., sie war bestrebt, dieses<br />
Sicherheitsventil zu schließen; aber der natürliche Bevölkerungszuwachs<br />
jener Zeit wurde immer größer, die Zeiten änderten sich; als drohende<br />
Gefahr zeichneten sich die Erhebung des Proletariats und der hungernden<br />
Bauernschaft ab und all die sich daraus ergebenden Folgen. Regierung und<br />
Gutsbesitzer begannen, sich auf die Umsiedlung zu orientieren, legten sie<br />
neben dem Erlaß vom 9. November ihrer Agrarpolitik zugrunde, aber<br />
wenn dort, bei der Durchführung des Erlasses vom 9. November, die Aufmerksamkeit<br />
auf die Starken und Kräftigen konzentriert war, darauf, den<br />
Schwachen das Land wegzunehmen und es den starken Bauern zu geben,<br />
so geht es hier darum, möglichst viele schwache Bauern nach Sibirien abzuschieben;<br />
und obwohl sich in letzter Zeit eine Tendenz zur Erhöhung<br />
des Durchschnittsniveaus des wohlhabenden Umsiedlers bemerkbar macht,<br />
so wird dennoch die Hauptmasse, nach der Terminologie Stolypins,<br />
weiterhin von den Schwachen gebildet. An dieser intensiven Abschiebung<br />
nehmen ebenso auch die Flurbereinigungskommissionen teil, oder, ich<br />
möchte sagen, sie wurden dazu herangezogen.<br />
Den Flurbereinigungskommissionen ist die Verpflichtung auferlegt worden,<br />
den Siedlern die Grundstücke zu übergeben, zuzuweisen, und damit<br />
eben einen Schlußstrich zu ziehen unter die alten Mißstände auf dem<br />
Agrargebiet. Also, meine Herren, der Erlaß vom 9. November, die verstärkte<br />
Propagierung der Umsiedlung, die verstärkte Abschiebung der<br />
Schwachen nach Sibirien und die Flurbereinigungskommissionen - das
82 W. J.<strong>Lenin</strong><br />
sind zwei eng miteinander verbundene Seiten ein und derselben Frage,<br />
ein und derselben Politik. Es ist unschwer zu sehen, daß die Durchfährung<br />
des Erlasses vom 9. November dazu beiträgt, daß sich die Starken und<br />
Kräftigen auf Kosten der armen Bauern auf den Bodenanteilen festsetzen,<br />
daß sie dadurch eben dazu beitragen wird, diese schwachen, in<br />
kolonisatorischer Hinsicht wenig geeigneten Elemente in die ihnen fremden<br />
Randgebiete zu verstoßen. Sowohl in bezug auf die Dorfgemeinde als<br />
auch in bezug auf die Umsiedlung hat sich die Regierung in ihrer Siedlungspolitik<br />
einzig und allein von den Interessen des Häufleins feudaler<br />
Gutsbesitzer leiten lassen und überhaupt der herrschenden Klassen, die<br />
die Arbeitermassen und die werktätige Bauernschaft unterdrücken. Sie ist<br />
jedes Verständnisses bar für die elementaren Bedürfnisse des Landes und<br />
die Erfordernisse der Volkswirtschaft" (77. Sitzung, 2. Sitzungsperiode.)<br />
Am vollständigsten legte diese Seite der Sache der Abgeordnete<br />
Tschcheidse dar (in seiner <strong>Red</strong>e in der 2. Sitzungsperiode der Reichsduma),<br />
der ein detailliertes Bild der Siedlungspolitik im Kaukasus zeichnete.<br />
Der sozialdemokratische <strong>Red</strong>ner bewies vor allem, gestützt auf Tatsachen<br />
und Zahlen, daß alle offiziellen Mitteilungen über die freien Ländereien<br />
im Kaukasus in himmelschreiender Weise der Wahrheit widersprechen.<br />
Wir möchten besonders unterstreichen, daß der Abgeordnete<br />
Tschcheidse, um allen Vorwürfen der Voreingenommenheit und der Entstellung<br />
aus dem Wege zu gehen, ausschließlich offizielle Angaben und<br />
Berichte von Regierungsbeamten benutzte. Nach Angaben, die schon in<br />
den achtziger Jahren durch den ehemaligen Minister für Staatsdomänen<br />
gesammelt worden sind, „wurden allein nur unter den Staatsbauern, die<br />
auf fiskalischen Ländereien im Kaukasus angesiedelt waren, in vier transkaukasischen<br />
Gouvernements gezählt: 22 000, die völlig ohne Land waren,<br />
66 000 mit einem Bodenanteil bis zu einer Desjatine pro Kopf, 254 000 mit<br />
Anteilen vou ein bis zwei Desjatinen, 5013 mit Anteilen von zwei bis vier<br />
Desjatinen - insgesamt ungefähr 1 000 000 mit kleineren Anteilen, als die<br />
Minimalnorm für die Landzuteilung an die im Kaukasus angesiedelten<br />
Umsiedler vorsieht. Im Gouvernement Kutais zählte man unter 29977<br />
Bauernstellen 2541 ohne Land oder mit einem Anteil bis zu einer Desjatine<br />
pro Hof, 4227 mit ein bis zwei Desjatinen, 4016 mit zwei bis drei<br />
Desjatinen und 5321 mit drei bis fünf Desjatinen. Nach, neuesten Angaben<br />
beträgt in vier transkaukasischen Gouvernements die Zahl der Siedlun-
Die 7ra0e der Umsiedlung 83<br />
gen, die fiskalisches Land überhaupt nicht oder in nnznreidiendem Maße<br />
besitzen, ungefähr 46 Prozent, während im Gouvernement Kutais ungefähr<br />
33 Prozent Höfe gezählt wurden, die nicht über fiskalisches Land<br />
verfügen. Aus dem Bericht des Bakuer Komitees über die Notlage der<br />
landwirtschaftlichen Industrie erfahren wir, daß derartige mit zuwenig<br />
Land versorgte Siedlungen aus ihrer Mitte diejenigen ausscheiden, die<br />
kein Land haben, daß diese sich bei Besitzern beträchtlicher Bodenanteile<br />
ansiedeln und sich dann viele Jahre lang in einer solchen abhängigen Lage<br />
befinden- Und der Senator Kusminski sagt in seinem alleruntertänigsten<br />
Bericht folgendes: ,Es ist zu vermerken, daß zuweilen der eigentliche<br />
Stamm der Siedler von Personen gebildet wird, die den Ackerbau aufgegeben<br />
haben und das zu Zwecken der Kolonisation erhaltene Land an<br />
Dorfgenossen oder an einheimische Bauern aus der benachbarten Siedlnng<br />
verpachten/ Also werden schon vor 25 Jahren in Transkaukasien unter<br />
den Staatsbauern, die, man könnte meinen, besser mit Land versorgt sein<br />
sollten als die anderen Kategorien der Bauern, Hunderttausende gezählt,<br />
die ohne Übertreibung als Tagelöhner bezeichnet werden können. Schon<br />
vor 25 Jahren waren die ortsansässigen Bauern genötigt, das Land zu<br />
pachten, das den Umsiedlern gegeben worden war."<br />
So sehen die Angaben _ aus, auf deren Grundlage man sich ein Bild<br />
davon machen kann, wie die Staatsbauern im Kaukasus mit Land versorgt<br />
sind.<br />
„Was die sogenannten zeitweilig verpflichteten Bauern betrifft", fuhr der<br />
<strong>Red</strong>ner fort, „so ist auf Grund von aufgestellten Dokumenten zu ersehen, daß<br />
im Gonv. Tiflis 1444 Bauernstellen völlig ohne Ackerland geblieben waren und<br />
386 nicht einmal Hofland erhalten hatten. Das sind 13 Prozent der Gesamtzahl<br />
der Gutsbanern im Gouv. Tiflis. Im Gouv. Kutafs war die Zahl der landlosen<br />
Bauern bei der Reform noch höher. Geht man selbst vom Verhältnis znr Gesamtzahl<br />
der Leibeigenen im Gonv. Tiflis aus, so erhält man auch dann im<br />
Gonv. Kutais insgesamt 5590 Bauernstellen oder 25000 Personen, die bei der<br />
Bauernbefreiung im Kaukasus kein Stückchen Land erhalten haben. 20 Jahre<br />
nach der Reform, im Jahre <strong>18</strong>95 - fährt der Verfasser des Memorandums über<br />
die Liquidierung der Pflichtverhältnisse fort - wurde im Gouv. Jelisawetpol die<br />
Zahl der landlosen Bauern mit 5308 Banernstellen oder 25 000 Personen beiderlei<br />
Geschlechts angegeben. Im Gouv. Baku waren es 3906 Bauernstellen oder<br />
11709 Landlose beiderlei Geschlechts. Und nun die Daten über die Landversorgung<br />
der Bauern aus der Zahl der zeitweilig Verpflichteten, die ihre
84 "W.J.Cemrt<br />
Bodenanteile nicht losgekauft haben, aber irgendeine Wirtschaft besitzen. Im<br />
Gouv. Tiflis entfallen auf die Person 0,9 Desj., im Gouv. Kutais 0,6 Desj. Bei<br />
denjenigen, die ihre Anteile losgekauft haben, entfallen im Gouv. Tiflis 1,7 Desj.<br />
auf die Person und im Gouv. Kutais 0,7 Desj. Derart sind die Bauern, die<br />
irgendeine Wirtschaft haben, mit Land versorgt Eine allgemeine Charakteristik<br />
der wirtschaftlichen Lage der Bauern im Kaukasus gibt der Bericht des<br />
Gouvernementskomitees von Kutais über die Notlage der landwirtschafdichen<br />
Industrie. Nach Angaben, die aus verschiedenen offiziellen Untersuchungen<br />
geschöpft sind, erreicht die Zahl der Bauern, die ärgste Not leiden, im Gouvernement<br />
Kutais 70 Prozent. Mehr noch, hier wird zugleich auch erwähnt, daß<br />
im Gouv. Kutais 25% des Adels akute Not leiden.<br />
Solche Besitzer von Grundstücken - fährt der Bericht fort - können ihre<br />
wirtschaftliche Selbständigkeit nur aufrechterhalten, wenn sie einem Nebenerwerb<br />
nachgehen, und sind völlig der Möglichkeit beraubt, Mittel für Verbesserungen,<br />
für Gerätschaften und für die Bodendüngung aufzuwenden. Die<br />
große Nachfrage konnte nicht ohne Einfluß bleiben auf die Höhe der Bodenpacht,<br />
die bei dem System der Halbpacht 60 Prozent der Bruttoeinnahme erreicht<br />
und zuweilen, bei Zahlung einer festgelegten Menge von Bodenerzeugnissen,<br />
in Jahren der Mißernte die Bruttoeinnahme übersteigt. Die Verpachtung<br />
von Land gegen Geld trifft man selten an, und die Pachtsumme erreicht<br />
30 Rubel für eine Desjatine im Jahr. So ist es im Gouvernement Kutais. Nun<br />
einige Angaben über die Bodenversorgung der Bauern in vier Kreisen des<br />
Gouv. Jelisawetpol. Auf Grund der Angaben über alle Bauern, die auf Gutsländereien<br />
leben, ergibt sich hier, daß in vier Kreisen des Gouv. Jelisawetpol,<br />
nämlich in den Kreisen Dshebrail, Sangesur, Schuschä und Dshewanschir, die<br />
Bodenzuteilung nur 0,6 Desj. pro Person erreicht. Nach Berechnung des Senators<br />
Knsminski erreicht im Kreis Lenkoran, Gouv. Baku, bei den Siedlern, die<br />
auf Gutsländereien angesiedelt worden sind, der durchschnittliche Bodenanteil<br />
pro Person männlichen Geschlechts nicht mehr als 0,5 Desj. Im Kreis Kuba<br />
nicht mehr als 0,9 Desj. Derart, meine Herren", schloß der <strong>Red</strong>ner, „steht es<br />
in Transkaukasien um die Versorgung der Bauern mit Land."<br />
Wenn, was den Bodenmangel angeht, die Lage der kaukasischen Bauern<br />
sich kaum von der Lage der Bauern in Rußland unterscheidet, so erhebt<br />
sich die Frage: Woraus wird denn im Kaukasus der Bodenfonds für<br />
Kolonisationszwecke gebildet, und warum wird die Umsiedlung nach dort<br />
betrieben, anstatt einheimische Bauern anzusiedeln?<br />
Der Siedlungsfonds wird gebildet, indem die Rechte der Einheimischen<br />
auf den Grund und Boden in himmelschreiender Weise verletzt werden,
Die 7rage der Umsiedlung 85<br />
und die Umsiedlung aas Rußland wird betrieben zu Nutz und Frommen<br />
des berüchtigten nationalistischen Prinzips der „Russifizierung der Randgebiete".<br />
Der Abgeordnete Tsdidieiidse hat eine Reihe von Beispielen angeführt,<br />
wiederum offiziellen Quellen entnommen, wie die Einheimischen ganzer<br />
Ortschaften im Interesse der Bildung eines Bodenfonds für Kolonisationszwecke<br />
von ihren angestammten Plätzen verjagt wurden, wie ganze Gerichtsprozesse<br />
aufgezogen wurden, um die Enteignung des Grund und<br />
Bodens der Gebirgsbevölkerung zu rechtfertigen (Bericht des Adelsmarschalls,<br />
Fürst Zereteli, an den Innenminister über die Gebirgssiedlung<br />
Kiknaweleti, Kreis Kutais) usw. Und all das sind nicht vereinzelte Tatsachen,<br />
nicht Ausnahmefälle, sondern, wie auch der Senator Knsminski<br />
konstatiert, „typische Fälle".<br />
Das Resultat ist ein ausgesprochen feindseliges Verhältnis zwischen<br />
Siedlern und Einheimischen. Als z. B. die Gemeinde Alar von ihrem Grund<br />
und Boden vertrieben worden war, „ausgesiedelt", wie Senator Kusminski<br />
sich ausdrückt, „ohne Land zugeteilt zu bekommen und der Willkür des<br />
Schicksals überlassen", da wurden die Okkupanten ihres Bodens, die Siedler,<br />
auf Staatskosten bewaffnet: den örtlichen Kreishauptleuten wurde vorgeschrieben,<br />
„dafür Sorge zu tragen, daß die Bauern der neu entstandenen<br />
Siedlungen in der Mugansteppe, einschließlich der Bauern aus Pokrowka,<br />
mit Waffen, 10 Berdan-Gewehre auf 100 Höfe, versorgt werden". Eine<br />
interessante Illustration, um den „nationalistischen Kurs" der gegenwärtigen<br />
Politik zu charakterisieren.<br />
Nichtsdestoweniger verwiesen die rechten Abgeordneten der Reichsduma<br />
triumphierend auf das Vorhandensein eines Siedlungsfonds von<br />
1 700000 Desj., von dem der Statthalter im Kaukasus berichtet. Allein,<br />
wie derselbe Statthalter bezeugt, ist fast die Hälfte dieses Fonds schon<br />
von Siedlern besetzt, ein beträchtlicher Teil befindet sich in Gegenden,<br />
wo, wie wiederum der Statthalter bestätigt, es dem an die Verhältnisse<br />
nicht gewöhnten Landwirt physisch unmöglich ist, eine Wirtschaft zu betreiben.<br />
Der Abgeordnete Tsdicheidse charakterisierte ebenfalls, wie die Regierung<br />
die Neusiedlungen an Ort und Stelle gestaltet. „Die ungenügende<br />
Wasserversorgung und Bewässerung der Siedlergrundstücke, heißt es in<br />
einem Schreiben des Statthalters, vor allem in den östlichen Gebieten
86 W. 3. <strong>Lenin</strong><br />
Transkaukasiens, ist einer der Hauptgründe für die Rückwanderung der<br />
Siedler, die dort schon ansässig geworden waren. Aus dem Schwarzmeergebiet<br />
fliehen die neu Angesiedelten, weil es an Wegen fehlt, die für den<br />
Wagenverkehr — nicht nur zwischen den einzelnen Ortschaften, sondern<br />
auch innerhalb der Siedlungen selbst — geeignet wären. Dem muß man<br />
hinzufügen, daß die ungünstigen, für die Siedler -ungewohnten klimatischen<br />
Verhältnisse, die in vielen Gegenden des Kaukasus Malariaerkrankungen<br />
hervorrufen, welche nicht nur die Menschen, sondern auch das<br />
Vieh zugrunde richten, ihrerseits nicht weniger als die Wegelosigkeit zur<br />
Flucht der minder standhaften Neusiedler aus dieser Region beitragen.<br />
Unter dem Einfluß der dargelegten Ursachen ist eine ständige Abwanderung<br />
aus den Gouvernements Jelisawetpol, Baku, dem Gebiet Dagestan<br />
•wie auch aus dem Gouvernement Tiflis und dem Schwarzmeergöuvernement<br />
zu beobachten."<br />
Und so beurteilt der Statthalter selber die Ergebnisse der Umsiedlung<br />
nach dem Kaukasus wie folgt: „Das bis in die letzte Zeit hinein praktizierte<br />
Verhalten gegenüber der kaukasischen Bevölkerung in ihren Bodenangelegenheiten'",<br />
sägt der Statthalter, „kann schon darum nicht länger<br />
geduldet werden, als es zweifellos in der revolutionären Stimmung der<br />
Landbevölkerung eine recht bedeutende Rolle spielt."<br />
Ganz und gar analoge Ziele verfolgen die Regierung und die herrschenden<br />
Klassen bei der Umsiedlung von Bauern nach Sibirien; auch in diesem<br />
Fall verfolgt man politische Ziele, setzt man sich völlig über die Interessen<br />
der Siedler wie über die Rechte der Alteingesessenen hinweg.<br />
In den Abwanderungsgebieten in Rußland sind jetzt die Flurbereinigungskommissionen,<br />
die Landeshauptleute und die Gouverneure mit den<br />
Angelegenheiten der Umsiedlung betraut. Zutiefst daran interessiert, die<br />
örtliche landarme und landlose Bauernschaft so weit zu lichten, daß an Ort<br />
und Stelle nur soviel zurückbleiben, wie für die Bedürfnisse des Großgrundbesitzes<br />
(als Lieferanten von Lohnarbeit) erforderlich sind, haben<br />
die Flurbereinigungskommissionen die armen Bauern derart energisch<br />
„ausgesiedelt", daß sogar die Siedlungsverwaltung murrte. „Die Flurbereinigungskommissionen",<br />
protestierte ein Siedlungsbeamter, „stellen<br />
Gruppen von bettelarmen Menschen zusammen, die von ihrem Heimatort<br />
an der Reiseunterstützung bedürfen, des Darlehens nicht für die Einrichtung<br />
der neuen Wirtschaft, sondern für den bloßen Unterhalt; trifft man
Die Trage der TAmsiedlung 87<br />
aber einmal ausnahmsweise einen Siedler mit geringen Geldreserven, so<br />
gibt er alles für Reise und Verpflegung aus."<br />
Und diese „schwachen" Stiefsöhne einer Agrarpolitik, die als ihre<br />
Devise das „Setzen auf die Starken" proklamiert hat, werden haufenweise<br />
nach Sibirien abgeschoben, in Viehwagen ohne jede Einrichtung, vollgepfercht<br />
mit Greisen, Kindern und schwangeren Frauen. In diesen selben<br />
Viehwagen (mit der berühmten Aufschrift: 40 Mann, 8 Pferde) bereiten<br />
die Siedler ihr Essen zu, waschen sie ihre Wäsche, hier Hegen oft auch ansteckend<br />
Kranke, die gewöhnlich von den Siedlern verborgen werden aus<br />
Angst, daß man sie heraussetzen und auf diese Weise von der Gruppe<br />
trennen würde. An den Endpunkten und auf den Stationen bringt man die<br />
Siedler im besten Fall in speziell errichteten Zelten unter, im schlimmsten<br />
Fall läßt man sie einfach unter freiem Himmel, in Sonne und Regen liegen.<br />
Der Abgeordnete Woiloschnikow berichtete in der Duma, wie er selber<br />
auf der Sretensker Sammelstelle beobachtet habe, daß Typhuskranke ungeschützt<br />
im Regen lagen. Und derartige Reisebedingungen für die Siedler,<br />
wie sie oben geschildert worden sind, haben zwei Minister (Stolypin<br />
und Kriwoschein) „erträglich" gefunden: „Die sanitären Verhältnisse bei<br />
der Beförderung der Siedler sind erträglich", berichten sie alleruntertänigst,<br />
„unterwegs finden viele sogar ihnen ungewohnte Bequemlichkeiten."<br />
Wahrhaftig, der bürokratische Gleichmut kennt lceine Grenzen!<br />
Nachdem sie auf der Reise in das „gelobte Land" derartige Strapazen<br />
erduldet haben, finden diese armen Siedler auch in Sibirien kein Glück.<br />
Führen wir zum Beispiel an, wie der Abgeordnete Woiloschnikow an<br />
Hand von Zitaten aus offiziellen Berichten ihre Etablierung an den neuen<br />
Orten charakterisierte.<br />
Ein Beamter (für besondere Aufträge der Siedlungsverwaltung) schreibt:<br />
„Die meisten Ländereien liegen verstreut in Waldgegenden, ohne Wasser,<br />
ohne Saatflächen, ohne Weideland." Ein anderer fügt hinzu; „Die Darlehnsgewährung<br />
hat völlig ihren Charakter, ihre Bedeutung für die Einrichtung<br />
einer Wirtschaft verloren; der Umfang des Darlehens ist an und<br />
für sich zu klein, um eine wirkliche Hilfe für die Einrichtung der Wirtschaft<br />
zu sein. Die festgelegte Ordnung für die Gewährung von Darlehen<br />
hat diese ganze Sache in reinste Philanthropie verwandelt; sich mit einem<br />
Darlehen von 150 Rubel einrichten und zwei Jahre lang ernähren ist ein<br />
Ding der Unmöglichkeit."
88 W.J.<strong>Lenin</strong><br />
Und nun, als Beispiel, eine Schilderung der sanitären Verhältnisse in den<br />
neuen Siedlungen in denselben offiziellen Berichten.<br />
„Nach dem Typhus", schreibt ein Beamter*, „hat hier der Skorbut nicht<br />
geringere Ausmaße angenommen,- fast in allen Siedlungen, in allen Hütten gibt<br />
es an dieser Krankheit Leidende oder Kandidaten dafür. Häufig liegen in einer<br />
Hütte sowohl Typhus- als Skorbutkranke. In der Siedlung Okur-Sdiaskoje<br />
konnte ich solch ein Bild sehen: der Hausherr liegt am Typhus danieder im<br />
Stadium der Hautabschuppung, seine schwangere Frau ist wegen Nahrungsmangels<br />
äußerst schwach; der Sohn, ein Junge von zwölf Jahren, hat geschwollene<br />
Drüsen und Skorbut; die Schwester der Fran hat Skorbut, kann nicht<br />
gehen, sie hat ein Brustkind; ihr zehnjähriger Junge hat Skorbut, Nasenbluten<br />
und ist schwach auf den Beinen, und von der ganzen Familie ist lediglich ihr<br />
Mann gesund.<br />
Auf Skorbut und Typhus folgt Nachtblindheit. Man kann Siedlungen treffen,<br />
wo buchstäblich alle Siedler, ohne Ausnahme, nachtblind sind. Die Siedlungsgruppe<br />
am Fluß Jemna ist inmitten eines dichten Waldes entstanden, wo es kein<br />
Ackerland, keine Heuschläge gibt, und im Verlauf von zwei, drei Jahren konnten<br />
die Neusiedler kaum ihre Höfe ausbauen und elende Hütten errichten. Von<br />
eigenem Getreide konnte keine <strong>Red</strong>e sein; man hat ausschließlich von dem<br />
Darlehen gelebt, und als dieses aufgebraucht war, machte sich ein schrecklicher<br />
Brotmangel fühlbar,- viele hungerten buchstäblich. Zu dem Brotmangel kommt<br />
der Mangel an Trinkwasser hinzu."<br />
Solchen Mitteilungen begegnet man auf Schritt und Tritt. Wie schrecklich<br />
diese offiziellen Berichte aber auch sind, klar ist, daß sie doch nicht das<br />
bis zu Ende aussprechen, was ist, das heißt, daß sie die Wirklichkeit beschönigen.<br />
Fürst Lwow zum Beispiel, Bevollmächtigter der Gesamtrussischen<br />
Semstwoorganisation, bekanntlich ein Mann von gemäßigten Anschauungen,<br />
charakterisierte nach einer Reise in den Fernen Osten die<br />
Kolonisation im Amurgebiet folgendermaßen:<br />
„Abgeschnitten von der Welt, wie auf einer unbewohnten Insel, inmitten<br />
sumpfiger Fetzen öder Taiga, morastiger Täler und morastiger Berge, wird der<br />
leicht verzagende und bettelarme Siedler natürlich von den unerhört primitiven<br />
Bedingungen des Lebens, der Arbeit und des Unterhalts überwältigt Er verfällt<br />
in Apathie, nachdem er seinen geringen Energievorrat gleich zu Anfang im<br />
Kampf mit der rauhen Natur erschöpft hat, um sich eine dürftige Behausung<br />
zu bauen. Skorbut und Typhus ergreifen den erschöpften Organismus und<br />
• „Memorandum", S. 8.
Die Trage der Umsiedlung 89<br />
bringen ihn auf den Friedhof. In vielen Dörfern gab es 1907 eine geradezu<br />
unglaublich hohe Sterblichkeit, 25 und 30 Prozent. Soviel Höfe es hier gibt,<br />
soviel Kreuze gibt es auch, und nicht wenige Dörfer sind dazu verurteilt, geschlossen<br />
entweder auf neue Grundstücke oder auf den Friedhof umzusiedeln.<br />
Wieviel bittere Tränen unglücklicher Familien, welch kostspielige Begräbnisse'<br />
auf Staatskosten in dem fernen Randgebiet an Stelle der Kolonisation! Nicht<br />
so bald werden die von der Taiga zerschlagenen Überreste der vorjährigen<br />
verstärkten Siedlerwelle wieder auf die Beine kommen. Noch viele werden<br />
dahinsterben, viele werden davonlaufen, werden nach Rußland zurückkehren,<br />
werden die Region durch Erzählungen über ihr Elend in Verruf bringen,<br />
werden Schrecken verbreiten und die weitere Umsiedlung aufhalten. Nicht<br />
umsonst ist in diesem Jahr eine Abwanderung aus dem Küstengebiet in nie dagewesenem<br />
Ausmaß zu verzeichnen, während ein auf ein Fünftel verringerter<br />
Siedlerstrom in das Gebiet fließt."<br />
Fürst Lwow ist mit Recht entsetzt über die Weltabgeschiedenheit und<br />
Verlassenheit des Siedlers in der unermeßlichen sibirischen Taiga, insbesondere<br />
bei der sibirischen Wegelosigkeit. Man kann sich vorstellen, wie<br />
glänzend dort jetzt die Einrichtung von Einzelhöfen und die Abtrennung<br />
von Sonderland verläuft, denn eben dieselben Leiter der Agrarpolitik<br />
proklamierten „die Notwendigkeit einer entschiedenen Wendung (!) in<br />
der Agrarpolitik in Sibirien", „die Schaffung und Festigung des Privateigentums",<br />
„die endgültige Zuteilung der Grundstücke an die einzelnen<br />
Bauern auf der Grundlage des Erlasses vom 9. November 1906", „die Zuweisung<br />
von Siedlerstellen, nach Möglichkeit bei Aufteilung des Grund<br />
und Bodens in Sonderland"* usw.<br />
Es ist ganz natürlich, daß unter solchen Kolonisationsbedingungen von<br />
den in den Jahren 1903 bis 1905 angesiedelten Siedlern nach Angaben der<br />
Siedlungsverwaltung 10 Prozent überhaupt kein Zugvieh, 12 Prozent nur<br />
ein einziges Stück Zugvieh, 15 Prozent keine Kuh und 25 Prozent keinen<br />
Pflug besaßen (aus der <strong>Red</strong>e des Abgeordneten Gaidarow in der<br />
1. Sitzungsperiode, der damals im Namen der sozialdemokratischen Fraktion<br />
gesprochen hatte). Mit vollem Recht hat darum der Abgeordnete<br />
Woiloschnikow, gestützt auf dieselben offiziellen Berichte, folgendes Fazit<br />
der Siedlungspolitik der Jahre 1906 bis 1908 gezogen:<br />
„Im Verlauf der drei Jahre 1906, 1907 und 1908 sind 1 552 439 Personen<br />
beiderlei Geschlechts über den Ural geschickt worden, bettelarm, durch die<br />
• „Memorandum", S. 60, 61, 62.<br />
7 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>
90<br />
r W. 7. <strong>Lenin</strong><br />
Regierangsreklame in unbekannte Gegenden gelockt, der Willkür des Schicksals<br />
überlassen. Von ihnen haben sich, wie die Siedlungsverwaltung schreibt,<br />
564 041 angesiedelt, 284984 Personen beiderlei Geschlechts kehrten zurück.<br />
Also weiß man nach den Mitteilungen der Siedlungsverwaltung von 849 025<br />
Menschen, wohin aber sind die übrigen geraten? Wo sind diese 703 414 Menschen?<br />
Meine Herren, die Regierung weiß ausgezeichnet um ihr bitteres Los,<br />
aber sie will von ihnen nicht sprechen,- ein Teil von ihnen wurde den Dörfern<br />
der Alteingesessenen zugeschrieben, ein Teil füllte die Reihen des sibirischen<br />
Proletariats auf und geht betteln.<br />
Aber für einen gewaltigen Teil hat die Regierung kostspielige Begräbnisse<br />
gerichtet, und darum eben schweigt sich die Regierung über sie aus."<br />
So bewahrheiten sich die Hoffnungen von Markow 2, durch die Umsiedlung<br />
„die Agrarfrage zu lösen". Angesichts derartiger Tatsachen waren<br />
sogar die oktobristischen Repräsentanten des Großkapitals genötigt, die<br />
„Defekte des Siedlungswesens" anzuerkennen. Schon in der 1. Sitzungsperiode<br />
hatten die Oktobristen den Wunsch zum Ausdruck gebracht (und<br />
die Duma unterstützte diesen Wunsch), „die Bedingungen für die Beförderung<br />
der Siedler zu verändern und zu verbessern", „in den Siedlungsgebieten<br />
die für ihre kulturelle und ökonomische Entwicklung notwendigen<br />
Bedingungen zu schaffen", „bei der Zuweisung von Land und bei der<br />
Ansiedlung der Siedler die Interessen und Rechte der örtlichen Bauernschaft<br />
und der fremdstämmigen Bevölkerung zu beachten". Es versteht<br />
sich, daß diese vorsichtigen und vorsätzlich zweideutigen Wünsche ohnehin<br />
eine „Stimme des Predigers in der Wüste" geblieben sind. Und die<br />
so hartnäckigen Oktobristen wiederholen sie geduldig von Jahr zu Jahr...<br />
„TJewskaja Swesda" ?Jr. li, Tiadh dem 7ext der<br />
3. "Juni 1912. .TJewskaja Swesda".<br />
Untersdbrift: W. 7.
DER REVOLUTIONÄRE AUFSCHWUNG 32<br />
Der grandiose Maistreik des Proletariats von ganz Rußland und die mit<br />
ihm verbundenen Straßendemonstrationen, die revolutionären Proklamationen<br />
und revolutionären <strong>Red</strong>en vor den Arbeitermassen haben deutlich<br />
gezeigt, daß Rußland in eine Phase des revolutionären Aufschwungs eingetreten<br />
ist.<br />
Dieser Aufschwung ist keineswegs wie ein Blitz aus heiterem Himmel<br />
gekommen. Nein, er wurde durch die ganzen Verhältnisse des russischen<br />
Lebens schon seit langem vorbereitet, und die Massenstreiks im Zusammenhang<br />
mit den Erschießungen an der Lena und dem 1. Mai haben lediglich<br />
endgültig seinen Eintritt manifestiert. Der zeitweilige Triumph der<br />
Konterrevolution war unlösbar verbunden gewesen mit dem Abflauen des<br />
Massenkampfes der Arbeiter. Die Zahl der Streikenden liefert eine wenn<br />
auch nur annähernde, dafür aber unbedingt objektive und präzise Vorstellung<br />
von den Ausmaßen dieses Kampfes.<br />
In den zehn Jahren vor der Revolution, in den Jahren <strong>18</strong>95 bis 1904,<br />
betrug die Durchschnittszahl der Streikenden (rund gerechnet) 43 000<br />
jährlich. Im Jahre 1905 - 2% Millionen, 1906 - 1 Million, 1907 - 3 /4 Millionen.<br />
Die drei Jahre der Revolution zeichnen sich durch einen in der<br />
Welt nodh nirgends dagewesenen Aufschwung des Streikkampfes des Proletariats<br />
aus. Sein Abflauen, das in den Jahren 1906 und 1907 begann,<br />
stand 1908 endgültig fest: 175 000 Streikende. Der Staatsstreich vom<br />
3. Juni 1907, der die Selbstherrschaft des Zaren im Bunde mit der Duma<br />
der erzreaktionären Gutsbesitzer und der Handels- und Industriemagnaten<br />
wiederherstellte, war das unvermeidliche Ergebnis des Abflauens der<br />
revolutionären Energie der Massen.<br />
91
92 W. 3. <strong>Lenin</strong><br />
Die drei Jahre von 1908 bis 1910 waren eine Periode des zügellosen<br />
Wütens der Konterrevolution der Schwarzhunderter, des bürgerlich-liberalen<br />
Renegatentums und der Depression und des Zerfalls in den Reihen<br />
des Proletariats. Die Zahl der Streikenden geht immer mehr zurück, sie<br />
fällt auf 60 000 im Jahre 1909 und auf 50 000 im Jahre 1910.<br />
Aber vom Ende des Jahres 1910 an beginnt eine merkliche Wendung.<br />
Die Demonstrationen im Zusammenhang mit dem Tode des Liberalen<br />
Muromzew und Leo Tolstois wie auch die Studentenbewegung weisen<br />
deutlich darauf hin, daß ein anderer Wind zu wehen begonnen hat, daß<br />
eine gewisse Wendung in der Stimmung der demokratischen Massen eingetreten<br />
ist. Das Jahr 1911 zeigt uns einen allmählichen Übergang der<br />
Arbeitermassen zur Offensive: die Zahl der Streikenden erreicht 100000.<br />
Von verschiedenen Seiten her gibt es Anzeichen dafür, daß die durch den<br />
Triumph der Konterrevolution hervorgerufene Müdigkeit und Erstarrung<br />
vorübergeht, daß von neuem Ridituru} auf die Revolution genommen<br />
ist. Die Gesamtrussische Konferenz der SDAPR im Januar 1912 konstatierte<br />
als Endergebnis ihrer Einschätzung der Lage, daß „in breiten Kreisen<br />
der Demokratie und in erster Linie in den Reihen des Proletariats sich der<br />
Beginn einer politischen Belebung bemerkbar macht. Die Arbeiterstreiks<br />
der Jahre 1910/1911, die einsetzenden Demonstrationen und proletarischen<br />
Kundgebungen, der Beginn einer Bewegung unter der städtischen<br />
bürgerlichen Demokratie (Studentenstreiks) usw. - all das sind Erscheinungsformen<br />
der anwachsenden revolutionären Stimmung der Massen<br />
gegen das Regime des 3. Juni". (Siehe die „Mitteilung" über die Konferenz,<br />
S. <strong>18</strong>*.)<br />
Schon zu Beginn des zweiten Quartals des laufenden Jahres war diese<br />
Stimmung so weit herangereift, daß sie in der Aktion der Massen ihren<br />
Ausdruck fand und einen revolutionären Aufschwung schuf. Der Gang<br />
der Ereignisse in den letzten anderthalb Jahren zeigt handgreiflich, daß<br />
dieser Aufschwung nichts Zufälliges an sich hat, daß sein Einsetzen durchaus<br />
gesetzmäßig und durch die gesamte vorherige Entwicklung Rußlands<br />
zwangsläufig bedingt ist.<br />
Die Erschießungen an der Lena waren der Anlaß für das Umschlagen<br />
der revolutionären Stimmung der Massen in einen revolutionären Aufschwung<br />
der Massen. Es gibt nichts Verlogeneres als die liberale Erfindung,<br />
• Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 17, S. 458. Die <strong>Red</strong>.
Der revolutionäre Aufsdbwung 93<br />
die von Trotzki, der darin den Liquidatoren folgt, in der Wiener<br />
„Prawda" nachgeplappert wird, wonach „der Kampf für die Koalitionsfreiheit<br />
die Qrundfacje ist sowohl für die Tragödie an der Lena als auch<br />
für ihren mächtigen Widerhall im Lande". Beim Streik an der Lena war<br />
die Koalitionsfreiheit weder eine spezifische Forderung noch die Hauptforderung.<br />
Bei den Erschießungen an der Lena ist keineswegs zutage getreten,<br />
daß es keine Freiheit ausgerechnet der Koalition gibt, sondern daß<br />
es keine Freiheit gibt gegenüber... der Provokation, der allgemeinen<br />
Rechtlosigkeit und der grenzenlosen Willkür.<br />
Wie wir schon in Nr. 26 des „Sozial-Demokrat" 33 klargestellt haben,<br />
spiegelt sich in den Erschießungen an der Lena aufs genaueste das ganze<br />
Regime der Monarchie des 3. Juni wider. Charakteristisch für die Ereignisse<br />
an der Lena ist keineswegs der Kampf für eines der <strong>Red</strong>ote, und sei<br />
es das kardinalste, das für das Proletariat wichtigste Recht. Charakteristisch<br />
für sie ist das völlige Fehlen der elementarsten Gesetzlichkeit in<br />
jeder Beziehung. Das Charakteristische besteht darin, daß der Provokateur,<br />
der Spitzel, der Ochranamann, der Zarenscherge den Weg der<br />
Massenerschießungen ohne irgendwelche politischen Vorwände betreten<br />
hat. Gerade diese allgemeine Rechtlosigkeit im russischen Leben, gerade<br />
die Hoffnungslosigkeit und Unmöglichkeit des Kampfes für einzelne<br />
Rechte, gerade diese Unverbesserlichkeit der Zarenmonarchie und ihres<br />
ganzen Regimes sind bei den Ereignissen an der Lena so grell in Erscheinung<br />
getreten, daß sie in den Massen das revolutionäre Feuer entzündet<br />
haben.<br />
Wenn sich die Liberalen schier überschlugen und überschlagen in ihrem<br />
Bemühen, den Ereignissen an der Lena und den Maistreiks den Charakter<br />
einer gewerkschaftlichen Bewegung und eines Kampfes für „Rechte" zu<br />
verleihen, so ist doch für jedermann, der durch die Diskussionen der Liberalen<br />
(und der Liquidatoren) nicht geblendet ist, etwas anderes klar. Klar<br />
ist der revolutionäre Charakter des Massenstreiks, der in der Petersburger<br />
Proklamation verschiedener sozialdemokratischer Gruppen (und sogar<br />
einer Sozialrevolutionären Arbeitergruppe!) zum 1. Mai besonders unterstrichen<br />
worden ist, die die von der Gesamtrussischen Konferenz der<br />
SDAPR im Januar 1912 ausgegebenen Losungen wiederholt und die wir<br />
in der Rubrik „Chronik" im vollen Wortlaut abdrucken.<br />
Die wichtigste Bestätigung des revolutionären Charakters der Lena-
94 W.i.tenin<br />
und Maistreiks liegt zudem nicht einmal in den Losungen. Die Losungen<br />
haben das formuliert, was die Tatsachen besagen. Die Tatsache der von<br />
einem Bezirk auf den andern überspringenden Massenstreiks, ihr gewaltiges<br />
Anwachsen, die Schnelligkeit ihrer Verbreitung, die Kühnheit der<br />
Arbeiter, die immer häufiger werdenden Kundgebungen und revolutionären<br />
<strong>Red</strong>en, die Forderung nach Abschaffung der Geldstrafen wegen<br />
Teilnahme an der Maifeier, die uns aus der ersten russischen Revolution<br />
bekannte Kombinierung des politischen und des wirtschaftlichen Streiks -<br />
all das weist augenfällig auf den wahren Charakter der Bewegung hin, auf<br />
den revolutionären Aufschwung der Massen.<br />
Erinnern wir uns der Erfahrungen des Jahres 1905. Die Ereignisse<br />
zeigen uns, daß die Jradition des revolutionären Massenstreiks unter den<br />
Arbeitern lebendig ist und daß die Arbeiter diese Tradition sofort aufgegriffen,<br />
neu belebt haben. Der in der Welt bislang unvergleichliche<br />
Aufschwung der Streikbewegung im Jahre 1905 ergab 810 000 Streikende<br />
im ersten und 1 277 000 im letzten Vierteljahr, wobei der wirtschaftliche<br />
Streik mit dem politischen verbunden war. Die Lenastreiks haben nach<br />
annähernden Berechnungen bis zu 300 000 Arbeiter, die Maistreiks bis<br />
zu 400 000 Arbeiter erfaßt, und die Streiks wachsen und wachsen immer<br />
noch an. Jede Zeitungsnummer - sogar der liberalen Zeitungen - berichtet<br />
darüber, wie die Streikflamme um sich greift. Das zweite Quartal des<br />
Jahres 1912 ist noch nicht ganz abgelaufen, und schon jetzt zeichnet sidi<br />
ganz klar die Tatsache ab, daß der Beginn des revolutionären Aufschwungs<br />
im Jahre 1912 dem Umfang der Streikbewegung nach hinter dem Beginn<br />
des Aufschwungs im Jahre 1905 nicht zurückbleibt, sondern ihn eher übertrifft!<br />
Die russische Revolution hat als erste diese proletarische Methode der<br />
Agitation, der Aufrüttelung, des Zusammenschlusses und der Hineinziehung<br />
der Massen in den Kampf in großem Maßstab entwickelt. Und<br />
jetzt wendet das Proletariat diese Methode von neuem und mit noch<br />
festerer Hand an. Keine Kraft der Welt könnte das zustande bringen, was<br />
mit dieser Methode die revolutionäre Avantgarde des Proletariats zustande<br />
bringt. Das ungeheure Land mit einer Bevölkerung von 150 Millionen,<br />
die über einen gigantischen Raum verstreut, zersplittert, bedrückt,<br />
rechtlos, unwissend ist und von einem Schwärm von Behörden, Polizisten,<br />
Spitzeln vor „schlechten Einflüssen" behütet wird - dieses ganze Land
Der revolutionäre Aufschwung 95<br />
gerät in Gärung. Die rückständigsten Schichten sowohl der Arbeiter als<br />
auch der Bauern kommen direkt und indirekt mit den Streikenden in Berührung.<br />
Hunderttausende von revolutionären Agitatoren treten plötzlich<br />
auf den Plan, deren Einfluß sich dadurch unendlich steigert, daß sie mit<br />
den unteren Schichten, mit der Masse unlösbar verbunden sind und in<br />
ihren Reihen bleiben, daß sie für die dringendsten Bedürfnisse jeder<br />
Arbeiterfamilie kämpfen und mit diesem unmittelbaren Kampf für die<br />
dringenden wirtschaftlichen Bedürfnisse den politischen Protest und den<br />
Kampf gegen die Monarchie verbinden. Denn dank der Konterrevolution<br />
sind Millionen und aber Millionen von brennendem Haß gegen die Monarchie<br />
erfüllt, beginnen sie deren Rolle zu verstehen, und nun dringt die<br />
Losung der fortgeschrittenen Arbeiter der Hauptstädte: Es lebe die demokratische<br />
Republik! unausgesetzt durch Tausende von Kanälen, im Gefolge<br />
jedes Streiks, in die zurückgebliebenen Schichten, in die abgelegene<br />
Provinz, ins „Volk", „in die Tiefe Rußlands".<br />
Außerordentlich charakteristisch ist die Betrachtung des Liberalen<br />
Sewerjanin über den Streik, die von den „Russkije Wedomosti" freundlich<br />
aufgenommen und von der „Retsch" voller Sympathie abgedruckt wurde:<br />
„Haben die Arbeiter irgendeinen Grund, in den Streik zum 1. Mai wirtschaftliche<br />
oder irgendwelche (!) Forderungen hineinzutragen?" fragt Herr<br />
Sewerjanin, und er antwortet: „Ich wage zu glauben, daß es solche nicht gibt.<br />
Jeder wirtschafdiche Streik kann und soll nur nach ernstem Abwägen der Aussichten<br />
begonnen werden... Solche Streiks mit dem Zeitpunkt gerade des<br />
1. Mai zu verbinden, ist darum auch meistens unbegründet... Auch ist es<br />
irgendwie seltsam: Wir feiern den Tag des internationalen Arbeiterfestes, und<br />
bei diesem Anlaß fordern wir einen Zuschlag von 10 Prozent auf Kattun der<br />
und der Sorten."<br />
So argumentiert ein Liberaler! Und diese grenzenlose Banalität, Niedertracht<br />
und Gemeinheit wird von den „besten" liberalen Zeitungen, die auf<br />
die Bezeichnung demokratisch Anspruch erheben, voller Sympathie aufgenommen!<br />
Der gröbste Eigennutz eines Bourgeois, die niederträchtigste Feigheit<br />
eines Konterrevolutionärs - das steckt hinter den effektvollen Phrasen des<br />
Liberalen. Er möchte die Taschen der Unternehmer nicht antasten. Er<br />
möchte eine „manierliche" und „unschädliche" Demonstration für die<br />
„Koalitionsfreiheit"! Das Proletariat aber zieht statt dessen die Massen in<br />
den revolutionären Streik, der Politik und Wirtschaft unlösbar verbindet,
96 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />
in den Streik, der die zurückgebliebensten Schichten durch den Erfolg im<br />
Kampf für die sofortige Verbesserung des Arbeiterlebens anzieht und<br />
gleichzeitig das Volk gegen die Zarenmonardbie aufrüttelt.<br />
Ja, die Erfahrungen des Jahres 1905 haben die tief verwurzelte und<br />
große Tradition der Massenstreiks geschaffen. Und es darf nicht vergessen<br />
werden, wohin diese Streiks in Rußland führen. Hartnäckige<br />
Massenstreiks sind bei uns untrennbar mit dem bewaffneten Aufstand<br />
verbunden.<br />
Man möge diese Worte nicht mißdeuten. Es handelt sich keineswegs<br />
um einen Aufruf zum Aufstand. Ein solcher Aufruf wäre im gegenwärtigen<br />
Moment höchst unvernünftig. Es handelt sich um die Feststellung<br />
des Zusammenhangs zwischen Streik und Aufstand in Rußland.<br />
Wie reifte der Aufstand von 1905 heran? Erstens häuften sich durch<br />
Massenstreiks, Demonstrationen und Kundgebungen die Zusammenstöße<br />
der Menge mit Polizei und Militär. Zweitens ermunterten die Massenstreiks<br />
die Bauernschaft zu einer Reihe einzelner, zersplitterter, halb spontaner<br />
Aufstände. Drittens griffen die Massenstreiks sehr schnell auf Heer<br />
und Flotte über, lösten Zusammenstöße auf wirtschaftlicher Basis<br />
(„Erbsenmeutereien" usw.) und dann Aufstände aus. Viertens begann die<br />
Konterrevolution seihst den Bürgerkrieg mit Pogromen, Mißhandlungen<br />
von Demokraten usw.<br />
Die Revolution von 1905 endete keineswegs deshalb mit einer Niederlage,<br />
weil sie „zu weit" gegangen, weil der Dezemberaufstand „künstlich"<br />
gewesen wäre, wie die liberalen Renegaten usw. glauben. Im Gegenteil,<br />
die Ursache der Niederlage liegt darin, daß der Aufstand nidht weit genug<br />
gegangen ist, daß die Erkenntnis seiner Notwendigkeit in den revolutionären<br />
Klassen nicht weit genug verbreitet war und nicht genügend<br />
festen Fuß gefaßt hatte, daß der Aufstand nicht einmütig, entschlossen,<br />
organisiert, gleichzeitig, offensiv durchgeführt wurde.<br />
Untersuchen wir nunmehr, ob sich gegenwärtig Anzeichen für ein Heranreifen<br />
des Aufstands beobachten lassen. Um nicht der revolutionären<br />
Leidenschaftlichkeit zu erliegen, nehmen wir die Oktobristen als Zeugen.<br />
Dem deutschen Oktobristenbund in Petersburg gehören größtenteils sogenannte<br />
„linke" und „konstitutionelle" Oktobristen an, für die die Kadetten<br />
eine besondere Vorliebe haben und die (im Vergleich zu den anderen<br />
Oktobristen und Kadetten) am ehesten fähig sind, die Ereignisse
Der revolutionäre AujsAnoung 97<br />
„objektiv" zu beobachten, ohne sich das Ziel zu setzen, die Obrigkeit mit<br />
der Revolution zu schrecken.<br />
Das Organ dieser Oktobristen, die „St.-Petersburger Zeitung", schrieb<br />
in der politischen Wochenschau vom 6. (19.) Mai:<br />
„Der Mai ist gekommen. Das pflegt, ganz abgesehen von der Witterung,<br />
für den Residenzler kein angenehmes Ereignis zu sein, da der Mai mit dem<br />
Proletariats-JTest' beginnt. In diesem Jahr, wo noch die Lena-Demonstrationen<br />
den Arbeitern im Blut steckten, war der 1. Mai besonders gefährlich. Es roch<br />
brenzlig in der von allerhand Streik- und Demonstratiorisgerüchten durchschwirrten<br />
Großstadtluft. Auch die treue Polizei geriet in merkliche Bewegung,<br />
veranstaltete Haussuchungen, verhaftete einige Personen und bereitete sich in<br />
Massenaufgeboten zur Verhinderung von Straßenkundgebungen vor. Daß die<br />
Polizei nichts Scharfsinnigeres fand, als die <strong>Red</strong>aktionen der Arbeiterblätter<br />
zu durchwühlen und ihre <strong>Red</strong>akteure zu drangsalieren, spricht nicht für tiefe<br />
Kenntnis der Fäden, an denen die Gliederpuppen-Regimenter der Arbeiterschaft<br />
gezerrt werden/Diese Fäden sind aber vorhanden. Die Disziplin, die<br />
Allgemeinheit des Streiks und vieles andere spricht dafür. Deshalb ist dieser<br />
größte bisher dagewesene Maistreik - es traten 100 000 oder gar 150 000 Arbeiter<br />
großer und kleiner Betriebe in den Ausstand - so unheimlich. Es war nur<br />
eine friedliche Parade - doch die Geschlossenheit dieses Heeres ist beachtenswert.<br />
Das um so mehr, als andere beunruhigende Erscheinungen mit der neuerlichen<br />
Erregung der Arbeiterschaft Hand in Hand gingen: Auf verschiedenen<br />
Schiffen unserer Marine sind Matrosen wegen revolutionärer Umtriebe verhaftet<br />
worden. Nach allem, was an die Öffentlichkeit durchsickert, sieht es<br />
nicht gut aus auf unseren zusammengeschmolzenen Kriegsschiffen ... Audi die<br />
Eisenbahner haben wiederum Sorgen erregt. Freilich ist es nirgends auch nur<br />
zu Streikversuchen gekommen, aber Verhaftungen, darunter eine so aufsehenerregende<br />
wie die des Gehilfen des Chefs der Güterstation an unserer Nikolai-<br />
Bahn, A. A. Uschakow, beweisen, daß es auch hier Gefahren gibt.<br />
Die revolutionären Umtriebe unreifer Arbeitermassen können auf den Ausfall<br />
der nächsten Reichsdumawahl natürlich nur schädlich wirken. Sie sind um<br />
so unmotivierter, als ... der Zar Manuchin ernannt und der Reichsrat die<br />
Arbeiterversicherung angenommen hat."!!<br />
So urteilt ein deutscher Oktobrist. Wir unserseits wollen dazu bemerken,<br />
daß wir, was die Matrosen betrifft, genaue Beridite von Ort und<br />
Stelle erhalten haben, die beweisen, daß das „Nowoje Wremja" die Angelegenheit<br />
übertreibt und aufbauscht. Es ist offensichtlich, daß die<br />
Ochrana provokatorisch „arbeitet". Vorzeitige Aufstandsversuche wären
98<br />
der Gipfel der Unvernunft. Die proletarische Avantgarde muß begreifen,<br />
daß die grundlegenden Voraussetzungen für einen rechtzeitigen - d. h.<br />
siegreichen - bewaffneten Aufstand in Rußland die Unterstützung der<br />
Arbeiterklasse durch die demokratische Bauernschaft und die aktive Beteiligung<br />
der Armee sind.<br />
Massenstreiks haben in revolutionären Epochen ihre eigene objektive<br />
Logik. Sie sprühen nach allen Seiten Hunderttausende und Millionen<br />
Funken - und ringsherum liegt der leicht entzündliche Stoff der aufs<br />
äußerste getriebenen Erbitterung, der unerhörten Hungerqualen, der<br />
schrankenlosen Willkür, der schamlosen und zynischen Verhöhnung des<br />
„Bettlers", des „Mushik", des gemeinen Soldaten. Dazu füge man die bis<br />
aufs äußerste entfesselte antisemitische Pogromhetze der Schwarzhunderter,<br />
die von der Hofkamarilla des stumpfsinnigen und blutgierigen Nikolaus<br />
Romanow insgeheim genährt und dirigiert wird ... „So war es und<br />
so wird es bleiben" 34 , sagte Minister Makarow, und diese prophetischen<br />
Worte kommen über sein Haupt, über das seiner Klasse und seines gutsherrlichen<br />
Zaren!<br />
Der revolutionäre Aufschwung der Massen legt jedem sozialdemokratischen<br />
Arbeiter, jedem ehrlichen Demokraten große und verantwortungsvolle<br />
Pflichten auf. „Allseitige Unterstützung der beginnenden Bewegung<br />
der Massen" (jetzt muß schon gesagt werden: der begonnenen revolutionären<br />
Bewegung der Massen) „und ihre Entwicklung in die Breite auf<br />
dem Boden der voll zu verwirklichenden Losungen der Partei" - so hat die<br />
Gesamtrussische Konferenz der SDAPR diese Pflichten definiert. Die<br />
Losungen der Partei - demokratische Republik, Achtstundentag, Konfiskation<br />
des gesamten Gutsbesitzerlandes - müssen die Losungen der gesamten<br />
Demokratie, die Losungen der T-'olfesrevolution werden.<br />
Um die Bewegung der Massen zu unterstützen und zu erweitern, bedarf<br />
es der Organisation und nochmals der Organisation. Ohne eine illegale<br />
Partei läßt sich diese Arbeit nicht durchführen und hat es gar keinen<br />
Zweck, darüber zu sprechen. Bemüht, den Ansturm der Massen zu unterstützen<br />
und zu verbreitern, muß man zugleich die Erfahrungen des Jahres<br />
1905 sorgfältig berücksichtigen und, bei Klarstellung der Notwendigkeit<br />
und Unvermeidlichkeit des Aufstands, vor vorzeitigen Versuchen dieser<br />
Art warnen und von ihnen zurückhalten. Das Anwachsen der Massenstreiks,<br />
die Einbeziehung anderer Klassen in den Kampf, der Zustand der
Der revolutionäre Aufsdbwunc) 99<br />
Organisationen, die Stimmung der Massen - all das wird von selbst den<br />
Moment zeigen, da sich alle Kräfte im einmütigen, entschlossenen, offensiven,<br />
rückhaltlos kühnen Vorstoß der Revolution gegen die Zarenmonarchie<br />
werden vereinigen müssen.<br />
Ohne siegreiche Revolution wird es in Rußland keine Freiheit geben.<br />
Ohne Sturz der Zarenmonarchie durch den Aufstand des Proletariats<br />
und der Bauernschaft wird es in Raßland keine siegreiche Revolution<br />
geben.<br />
rSozial-T>emokrat' TJr. 27, Naäb dem 7ext des<br />
17. (4.) Juni 1912. .Sozial- Demokrat".
100<br />
DIE LOSUNGEN<br />
DER GESAMTRUSSISCHEN KONFERENZ<br />
DER SDAPR IM JANUAR 1912<br />
UND DIE MAIBEWEGUNG<br />
An anderer Stelle der vorliegenden Nummer findet der Leser den vollen<br />
Text einer Proklamation, die von Petersburger Arbeitern kurz vor der<br />
nun berühmt gewordenen Maikundgebung gedruckt und verbreitet worden<br />
ist. Diese Proklamation verdient, daß man sehr ausführlich auf sie<br />
eingeht, denn sie ist ein sehr wichtiges Dokument in der Geschichte der<br />
Arbeiterbewegung Rußlands und in der Geschichte unserer Partei.<br />
Die Proklamation ist die Widerspiegelung eines gewissen Zustands der<br />
Desorganisation in der sozialdemokratischen Partei in der Hauptstadt,<br />
denn unterschrieben ist der Aufruf nicht vom Petersburger Komitee, sondern<br />
von einzelnen sozialdemokratisdien Gruppen und sogar von einer<br />
Sozialrevolutionären Arbeitergruppe. In den meisten Gegenden Rußlands<br />
steht es um unsere Partei eben so, daß die führenden Komitees und<br />
Zentren einerseits ständig verhaftet werden und anderseits sich ständig<br />
von neuem bilden dank dem Bestehen aller möglichen sozialdemokratischen<br />
Betriebs-, Gewerkschafts-, Unterbezirks- und Bezirksgruppen,<br />
eben jener „Zellen", die stets den Haß der Liberalen und der Liquidatoren<br />
auf sich gezogen haben. Im letzten Heft der Zeitschrift dieser Herren<br />
(„Nasdia Sarja" Nr. 4, 1912) kann der Leser noch einmal wieder<br />
feststellen, wie Herr, W. Lewizki, sich in ohnmächtiger Wut krümmend<br />
und von Schimpfereien überfließend, gegen die „Wiedergeburt der Partei<br />
durch eine künstliche Belebung politisch toter Zellen" geifert.<br />
Besonders typisch, besonders bedeutsam wird die hier betrachtete Proklamation<br />
eben dadurch, daß infolge der Verhaftung des Petersburger<br />
Komitees gerade Zellen auf den Plan treten mußten, die mit Hilfe der<br />
Polizei ihres den Liquidatoren so verhaßten „führenden Zentrums"
Die Losungen der Qesamtrussisdjen Konferenz der SVJPR 101<br />
beraubt waren. Infolge dieses in den Augen eines jeden Revolutionärs<br />
bedauerlichen Umstands ist das selbständige Leben der Zellen zum Vorschein<br />
gekommen. Die Zellen mußten in aller Eile, den wütenden Verfolgungen<br />
durch die Polizei ausgesetzt, die vor dem 1. Mai geradezu aus<br />
dem Häuschen geriet, ihre Kräfte sammeln, die Verbindungen organisieren,<br />
die „Illegalität" wiederherstellen. Die Gruppen, Vertreter usw., die<br />
die Proklamation unterschrieben haben - das alles ist eben die den Liberalen<br />
und Liquidatoren verhaßte Illegalität. Zur selben Zeit, da dieser<br />
selbe liquidatorische Führer, Herr Lewizki, im Namen der „Nascha<br />
Sarja" und des „Shiwoje Delo", natürlich mit Schaum vor dem Mund,<br />
über den „Jllegalitätskult" herfällt (siehe S. 33 des genannten Heftes),<br />
erhalten wir mit der Petersburger Proklamation ein genaues und vollständiges<br />
Dokument, das uns die Existenz dieser Illegalität, ihre Lebenskraft,<br />
den Inhalt ihrer Arbeit und deren Bedeutung vor Augen führt.<br />
Das Petersburger Komitee ist durch die Verhaftungen ausgeschaltet<br />
worden - es wird sich nun zeigen, was denn die illegalen Zellen an sich<br />
darstellen, was sie tun und was sie tun können, welche Ideen sie wirklich in<br />
sich aufgenommen und entwickelt und nicht bloß von der obersten Parteiinstanz<br />
übernommen haben, welche Ideen wirklich die Sympathien der<br />
Arbeiter genießen.<br />
Aus der Proklamation ist zu ersehen, was die Zellen tun: Sie setzen die<br />
Arbeit des zeitweilig (zur Befriedigung all der verschiedenartigen Feinde<br />
der Illegalität) zerstörten Petersburger Komitees fort. Sie fahren fort,<br />
den 1. Mai vorzubereiten. Sie stellen in aller Eile die Verbindungen zwischen<br />
den verschiedenen illegalen sozialdemokratischen Gruppen wieder<br />
her. Sie ziehen auch Sozialrevolutionäre Arbeiter heran, da sie gut die Bedeutung<br />
verstehen, die der proletarischen Vereinigung in der lebendigen<br />
revolutionären Arbeit zukommt. Sie vereinen diese verschiedenen sozialdemokratischen<br />
Gruppen und sogar eine „Gruppe sozialrevolutionärer<br />
Arbeiter" um bestimmte Kampflosungen. Und siehe, hervortritt gerade<br />
der wahre Charakter der Bewegung, die wahre Stimmung des Proletariats,<br />
die wahre "Kraft der SDAPR und ihrer Gesamtrussischen Konferenz vom<br />
"Januar.<br />
Eine hierarchische Instanz, die das Aufstellen eben dieser und nicht<br />
anderer Losungen hätte dekretieren können, ist infolge der Verhaftungen<br />
nicht vorhanden. Die proletarische Masse zu vereinigen, die sozialdemo-
102 W.3.£enin<br />
kratisdien und sogar einen Teil der Sozialrevolutionären Arbeiter zu vereinigen<br />
ist also nur durch Losungen möglich, die in den Massen wirklich<br />
unbestritten sind - nur durch Losungen, die ihre Kraft nicht aus „Dekreten<br />
von oben" (wie sich Demagogen und Liquidatoren ausdrücken)<br />
schöpfen, sondern aus der "Überzeugung der revolutionären Arbeiter<br />
selbst.<br />
Und was hat sich gezeigt?<br />
Es hat sich gezeigt, daß nadh der Zerstörung des Petersburger Komitees,<br />
als keine. Möglichkeit bestand, es unverzüglich wiederherzustellen, als die<br />
eine Gruppe von Arbeitern auf die andere ausschließlich ideologisch und<br />
nicht organisatorisch einwirken konnte, die Losungen der Qesamtrussisdien<br />
Konferenz der SDAPK vom Januar IS 12 angenommen wurden,<br />
der Konferenz, die den geradezu wütenden, wilden Haß der Liberalen,<br />
der Liquidatoren, der Liber, Trotzki und.Co. auf sich gezogen hat!<br />
„Unsere Losungen", schrieben die Petersburger Arbeiter in ihrer Proklamation,<br />
„sollen sein: Konstituierende Versammlung, Achtstundentag,<br />
Konfiskation der Gutsbesitzerländereien." Und weiterhin ertönt in der<br />
Proklamation der Ruf: „Nieder mit der Zarenregierung! Nieder mit der<br />
autokratischen Verfassung des 3. Juni! Es lebe die demokratische Republik!<br />
Es lebe der Sozialismus!"<br />
Wir ersehen aus diesem lehrreichen Dokument, daß alle Losungen, die<br />
die Konferenz der SDAPR aufgestellt hat, vom Petersburger Proletariat<br />
aufgenommen worden sind und den ersten Schritten der neuen russischen<br />
Revolution ihren Stempel aufgedrückt haben. Alle diejenigen, die die<br />
Januarkonferenz verleumden und schmähen, mögen, soweit es ihnen beliebt,<br />
ihr schmutziges Werk fortsetzen. Die Antwort hat ihnen das revolutionäre<br />
Proletariat von Petersburg gegeben. Jene Arbeit, die von der<br />
revolutionären Sozialdemokratie schon lange vor der letzten Konferenz<br />
geleistet worden ist, die das Proletariat aufrief, die Rolle des Führers der<br />
T'olfesrevolution zu übernehmen - sie hat ihre Früchte gezeitigt trotz aller<br />
Verfolgungen durch die Polizei, trotz der Verhaftungswelle vor dem<br />
1. Mai und der Hetzjagd auf Revolutionäre, trotz der Flut von Lügen und<br />
Schmähungen in der liberalen und liquidatorischen Presse.<br />
Hunderttausende Angehörige des Petersburger Proletariats - und nach<br />
ihnen die Arbeiter in allen Teilen Rußlands — sind in den Streik getreten<br />
und haben Straßendemonstrationen veranstaltet nicht als eine der ver-
Die Losungen der Qesamtrussisdben Konferenz der SDAPX. 103<br />
sdbiedenen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft, nicht mit „ihren" nur<br />
gewerkschaftlichen Losungen, sondern als Hegemon, der das Banner der<br />
Revolution erhebt für das ganze Volk, im Namen des ganzen Volkes, um<br />
all die Klassen aufzurütteln und in den Kampf einzubeziehen, die die<br />
Freiheit brauchen, die sie zu erkämpfen vermögen.<br />
Die revolutionäre Bewegung des Proletariats in Rußland hat eine<br />
höhere Stufe erreicht. Begann sie im Jahre 1905 mit Massenstreiks und<br />
der Gaponiade, so beginnt die Bewegung im Jahre 1912, ungeachtet der<br />
Zertrümmerung unserer Parteiorganisationen durch die Polizei, mit<br />
Massenstreiks und der Aufpflanzung des republikanischen Banners 1 Einzelne<br />
„Zellen", voneinander isolierte „Gruppen" von Arbeitern haben<br />
trotz der schwersten und schwierigsten Bedingungen das Ihre getan. Das<br />
Proletariat hat seine „Maikomitees" geschaffen und hat den Kampf aufgenommen<br />
mit einer revolutionären Plattform, würdig der Klasse, der es<br />
bestimmt ist, die Menschheit von der Lohnsklaverei zu befreien.<br />
Die Maibewegung zeigt uns ebenfalls, welche Bedeutung so manche<br />
Worte über die „Vereinigung" haben und wie sich in der lat die Vereinigung<br />
der Arbeiter vollzieht. Der Vertreter der Partei der Sozialrevolutionäre,<br />
Rubanowitsch, schreibt in der Pariser Zeitung Burzews „Buduschtscheje"<br />
35 : „Hervorgehoben werden muß der folgende bemerkenswerte<br />
Zug der diesjährigen Maibewegung: In den vorbereitenden Versammlungen<br />
lehnten es die Petersburger Arbeiter ab, die zwischen den verschiedenen<br />
sozialistischen Gruppen bestehenden Trennungswände anzuerkennen<br />
... die Tendenz zu einem Übereinkommen herrschte vor." Die<br />
von uns abgedruckte Proklamation zeigt klar und deutlich, welche Tatsachen<br />
Anlaß zu einer solchen Schlußfolgerung geben. Es ist das die Tatsache,<br />
daß die sozialdemokratischen Zellen, die ihr leitendes Zentrum<br />
verloren hatten, die Verbindung mit den Gruppen jeder Art wiederherstellten,<br />
daß sie zu diesem Zweck Arbeiter gleich welcher Gesinnungsrichtung<br />
heranzogen und unter ihnen allen ihre Parteilosungen propagierten.<br />
Und diese Parteilosungen wurden, eben weil sie richtig sind, weil<br />
sie den revolutionären Aufgaben des Proletariats entsprechen, weil sie die<br />
Aufgaben der Revolution des ganzen Volkes umfassen, von allen Arbeitern<br />
angenommen.<br />
Die Vereinigung ist zustande gekommen, weil die Januarkonferenz der<br />
SDAPR Schluß gemacht hat mit dem leeren Spiel der Abmachungen der
104 W.I.<strong>Lenin</strong><br />
Auslandsgrüppdien, Schluß mit dem unnützen Umwerben der Liquidatoren<br />
der revolutionären Partei, und zur redhten Zeit mit klaren und präzisen<br />
Kampflosungen hervorgetreten ist. Die Vereinigung des Proletariats<br />
in der revolutionären Aktion wurde erreicht nicht durch Übereinkommen<br />
der proletarischen (sozialdemokratischen) Partei mit der nichtproletarischen<br />
(Sozialrevolutionären) Partei, nicht durch Vereinbarungen mit den<br />
von der sozialdemokratischen Partei abgefallenen Liquidatoren, sondern<br />
durch den Zusammenschluß der in den russischen sozialdemokratischen<br />
Organisationen tätigen Arbeiter und ihre richtige Einschätzung der Aufgaben<br />
des Augenblicks.<br />
Das ist eine gute Lehre für diejenigen, die dem Geschwätz der Liberalen<br />
aus dem „Bund" und der Trotzki aus Wien erliegen und es noch<br />
fertigbringen, an eine „Vereinigung" mit den Liquidatoren zu glauben.<br />
Die berüchtigte „Organisationskommission" Libers, Trotzkis und<br />
der Liquidatoren schrie auf allen Gassen nach der „Vereinigung", konnte<br />
aber in Wirklichkeit keine einzige, den revolutionären Kampf der Arbeiter<br />
tatsächlich vereinigende Losung hervorbringen und hat das auch nicht<br />
getan. Die Liquidatoren stellten ihre Losungen, nichtrevolutionäre Losungen<br />
auf, Losungen der liberalen Arbeiterpolitik — die Bewegung aber ging<br />
an ihnen vorbei. Das ist es, was den trotzkistischen Fabeln von der „Vereinigung"<br />
zugrunde liegt!<br />
Am 23. April (6. Mai) versicherte in Wien Trotzki, der Stein und Bein<br />
schwor, daß er „die Vereinigung anstrebt", und die Konferenz in allen<br />
Tonarten verwünschte, den Gutgläubigen, daß „der Kampf für die Koalitionsfreiheit<br />
die Qrundlage" (!!) der Ereignisse an der Lena und ihres<br />
Widerhalls sei, daß „diese Forderung im Mittelpunkt (!!) der revolutionären<br />
Mobilisierung des Proletariats steht und stehen wird". Es verging<br />
etwa eine Woche, und diese erbärmlichen Phrasen des Nachbeters der<br />
Liquidatoren waren wie Spreu hinweggefegt von den - „Vertretern aller<br />
organisierten Arbeiter St. Petersburgs", von der „Sozialdemokratischen<br />
Gruppe ,Objedinenije' [Einigkeit]", der „Zentralen städtischen sozialdemokratischen<br />
Gruppe", der „Gruppe sozialrevolutionärer Arbeiter",<br />
der „Gruppe sozialdemokratischer Arbeiter" und den „Vertretern der<br />
Maikomitees".<br />
Das sozialdemokratische Proletariat von Petersburg hat verstanden,<br />
daß nicht im Namen eines einzelnen Rechts, und sei es das wesentlichste,
Die Losungen der Qesamtrussisdben Konferenz der SDAPR 105<br />
das wichtigste für die Arbeiterklasse, sondern im Namen der Treiheit des<br />
ganzen Volkes der neue revolutionäre Kampf begonnen werden muß.<br />
Das sozialdemokratische Proletariat von Petersburg hat verstanden,<br />
daß es die Forderungen verallgemeinern muß und sie nicht in einzelne<br />
Teile zerlegen darf - daß die Republik die Koalitionsfreiheit einschließt<br />
und nicht umgekehrt -, daß man ins Zentrum treffen, das öbel an der<br />
Wurzel fassen muß, das ganze System, die ganze Ordnung des zaristischen<br />
Schwarzhunderterrußlands zerstören muß.<br />
Das sozialdemokratische Proletariat von Petersburg hat verstanden,<br />
daß es lächerlich und dumm ist, die Fordernng nach Koalitionsfreiheit an<br />
Nikolaus Romanow, an die Schwarzhunderterduma zu richten; daß es<br />
lächerlich und dumm ist, anzunehmen, die gegenwärtige Staatsordnung<br />
Rußlands, unsere „autokratische Verfassung des 3. Juni" sei mit der<br />
Koalitionsfreiheit zu vereinbaren-, daß in einem Land der allgemeinen und<br />
völligen Rechtlosigkeit, in einem Land, wo schrankenlose Willkür und die<br />
Provokation der Behörden herrschen, in einem Land, wo man nicht einmal<br />
die „Freiheit" hat, den Millionen Hungernden die elementarste Hilfe zu<br />
leisten, daß in einem solchen Land nur liberale Schwätzer und Vertreter<br />
der liberalen Arbeiterpolitik in den „Mittelpunkt der revolutionären Mobilisierung"<br />
die Koalitionsfreiheit stellen können.<br />
Das sozialdemokratische Proletariat von Petersburg hat das verstanden<br />
und hat das republikanische Banner entrollt, es hat die Forderung erhoben<br />
nach dem Achtstundentag und der Konfiskation der Gutsbesitzerländereien<br />
als den einzigen Garantien für einen wirklich demokratischen<br />
Charakter der Revolution.<br />
„Sozial-Demokrat" 7Jr. 27, Tladb dem Jext des<br />
17. (4 J Juni i9l2. „Sozial-Demokrat".<br />
8 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>
106<br />
DIE LIQUIDATOREN<br />
GEGEN DEN REVOLUTIONÄREN MASSENSTREIK<br />
Der Leitartikel der vorliegenden Nummer war schon in die Druckerei<br />
gegeben worden, als wir die Nr. 1 des liquidatorischen „NewsH Golos"<br />
erhielten. Der bekannte Liquidator W. Jeshow von der „Nasdia Sarja"<br />
hat das neue Organ gleich mit einer solchen Perle geschmückt, daß man<br />
nur staunen kann! Ist das etwa nicht gelungen:<br />
„Dadurch" (d. h. durch die Mannigfaltigkeit der Streiks, die sich bald allein<br />
auf den Protest gegen die Geldstrafen beschränkten, die wegen der Teilnahme<br />
an den Maikundgebungen verhängt worden waren, bald zu diesem Protest<br />
wirtschaftliche Forderungen hinzufügten usw.) „wurde in einer beträdidichen<br />
Zahl von Fällen der prinzipielle Charakter des Protestes (man streikte ja wohl<br />
nicht um 25 Kopeken) verwischt (!??!), er wurde kompliziert durch wirtschaftliche<br />
Forderungen<br />
Die eigene Erfahrung hätte den Arbeitern sagen müssen, daß die Komplizierung<br />
ihres Protestes durch wirtschaftliche Forderungen genauso unzweckmäßig<br />
(!!) ist wie auch die Komplizierung (!?) eines gewöhnlichen Streiks<br />
durch prinzipielle Forderungen.<br />
Es gilt, die Stimmung der Arbeitermassen organisatorisch zu fixieren. Es<br />
gilt, die Agitation für die Gewerkschaften zu verstärken, neue Mitglieder für<br />
sie zu werben. Das ist um so notwendiger, als sich heute unter den Arbeitern<br />
nicht wenig Hitzköpfe finden, die sich durch die Massenbewegung hinreißen<br />
lassen und in Versammlungen gegen die Qewerksdoaften auftreten, da diese<br />
nutzlos and unnötig seien.<br />
Wir stehen vor einem Zeitabschnitt wirtschafdicher Streiks" (nur wirtschaftlicher?).<br />
„Es wäre ein nicht wiedergutzumachender Fehler, wenn sie verflochten<br />
würden mit politischen Aktionen der Arbeiter (!!!). Eine solche Vermischung<br />
würde sich sowohl auf den wirtschaftlichen Kampf wie auch auf den politischen<br />
Kampf schädlich (!!??) auswirken."
Die £icfuidatoren gegen den revolutionären Massenstreik 107<br />
Da hat man den ganzen liberalen Herrn Sewerjanin, kopiert von einem<br />
Liquidator! Völliges Unverständnis dafür, daß der revolutionäre Massenstreik<br />
zwangsläufig sowohl den wirtschaftlichen als auch den politischen<br />
Streik in sich vereinigt, Engstirnigkeit, eine ungeheuerliche Verzerrung des<br />
revolutionären Charakters des Aufschwungs und Versuche, ihn mit der<br />
Elle „gewöhnlicher Streiks" zu messen, ein höchst reaktionärer Rat, die<br />
Politik nicht durch die Wirtschaft zu „komplizieren" und sie nicht miteinander<br />
zu „verflechten", ein Struve und Maklakow würdiger Ausfall in der<br />
legalen Presse gegen die revolutionären sozialdemokratischen Arbeiter:<br />
sie sind „Hitzköpfe", sind „gegen die Gewerkschaften"!<br />
Der Liberale kann in dem revolutionären Sozialdemokraten nur einen<br />
Menschen sehen, der „gegen die Gewerkschaften" ist. Aber die Arbeiter<br />
in den Versammlungen waren natürlich nicht „gegen die Gewerkschaften",<br />
sondern gegen die Ersetzung der revolutionären Losungen durch<br />
liberale, womit Herr Jeshow und Co. sich befassen. Nicht die Koalitionsfreiheit<br />
ist unsere Losung, sagten die Arbeiter, nicht allein durch „Gewerkschaften"<br />
und nicht hauptsächlich durch sie kann man unsere Bewegung<br />
„organisatorisch fixieren". Unsere Losung ist die Republik (siehe<br />
den Petersburger Aufruf der Arbeiter), wir bauen die illegale Partei auf,<br />
die den revolutionären Ansturm der Massen gegen die Zarenmonarchie<br />
zu führen vermag. Das war es, was die Arbeiter in den Versammlungen<br />
erklärten.<br />
Die Herren Liber und Trotzki aber wollen den Arbeitern einreden, es<br />
wäre möglich, das sozialdemokratische Proletariat und seine Partei mit<br />
den Liberalen ä la Jeshow, Potressow und Co. zu „vereinigen"!<br />
„Sozial-Demokrat" 2Vr. 27, Nadb dem JexX des<br />
17.C4.)Juni 1912. .Sozial-Demokrat".
108<br />
, VEREINIGER"<br />
Die Liquidatoren „vereinigen sich" aus Leibeskräften. Dieser Tage<br />
fehlte nicht viel, und sie hätten sich mit den Leuten von der PPS 36 „vereinigt",<br />
mit der sogenannten „Lewica", einer der Fraktionen des polnischen<br />
Sozialnationalismus.<br />
Seit mehr als zehn Jahren kämpft die Sozialdemokratie in Polen gegen<br />
den Sozialnationalismus der PPS. So ist es gelungen, eine Reihe nationalistischer<br />
Vorurteile aus den Köpfen eines Teils der PPS (der „Lewica")<br />
auszutreiben. Aber der Kampf dauert an. Die polnischen sozialdemokratischen<br />
Arbeiter sprechen sich gegen die Vereinigung mit der genannten<br />
Fraktion der PPS als Organisation aus, da sie der Meinung sind, daß das<br />
der Sache schaden würde. Einzelne Arbeiter und einzelne Gruppen der<br />
„Lewica" gehen in die Reihen der Sozialdemokratie über, da sie nicht<br />
stehenbleiben wollen bei einer nur halbschlächtigen Revision der Prinzipien<br />
des PPS-Nationalismus. Und ausgerechnet in dieser Zeit sind unsere<br />
Liquidatoren darauf aus, sich mit der PPS-Lewica zu „vereinigen"!<br />
Das ist ganz das gleiche, als wollten die russischen Sozialdemokraten<br />
sich unter Umgehung des „Bund" mit, sagen wir, den sogenannten „Zionistischen<br />
Sozialisten" „vereinigen" oder ohne die Sozialdemokratie Lettlands<br />
mit dem sogenannten „Lettischen Sozialdemokratischen Verband"<br />
(der in Wirklichkeit Sozialrevolutionär ist)<br />
Wir sprechen schon gar nicht von der formalen Seite der Sache. Die<br />
Sozialdemokratie Polens hat auf dem Stockholmer Parteitag mit der<br />
SDAPR ein Übereinkommen geschlossen, wonach in Polen Gruppen gleich<br />
welcher Art nur durch Eintritt in die Organisation der Sozialdemokratie<br />
Polens in die SDAPR gelangen können. Und die Gesamtrussische Kon-
„Vereinter" 109<br />
ferenz der SDAPR vom Dezember 1908 hat es mit großer Stimmenmehrheit<br />
abgelehnt, die Frage der Vereinigung mit der „Lewica" audi nur zu<br />
diskutieren. 37<br />
Es ist völlig klar, daß Trotzki und seine Freunde, die Liquidatoren, die<br />
ständig nach der „Vereinigung" schreien, in Wirklichkeit die Spaltung<br />
eben in Polen vertiefen. Zum Glück für die SDAPR ist diese ganze Liquidatorenkumpanei<br />
mitsamt den ihnen nachtrottenden „Versöhnlern" absolut<br />
außerstande, in der Praxis irgend etwas zu tun - und das auch in<br />
Polen nicht. Andernfalls würde natürlich die Vereinigung der Liquidatoren<br />
mit der PPS zur entschiedensten Spaltung in Polen führen.<br />
Warum haben sich denn die Liquidatoren auf ein offenkundiges Abenteuer<br />
eingelassen? Nun, natürlich nicht, weil es ihnen „gut geht". Mit<br />
irgend jemand müssen sie sich doch vereinigen, irgendeine „Partei" müssen<br />
sie doch schaffen. Da die Sozialdemokraten, die Sozialdemokratie Polens,<br />
nicht mit ihnen gehen, sind sie genötigt, statt der Sozialdemokraten<br />
PPS-Leute zu nehmen, die mit unserer Partei nichts gemein haben. Da in<br />
den rassischen Städten unsere alten Parteiorganisationen nicht mit ihnen<br />
gehen, sind sie genötigt, statt der sozialdemokratischen Zellen sogenannte<br />
„Initiativgruppen" der Liquidatoren zu nehmen, die mit der SDAPR<br />
nichts gemein haben.<br />
„Wem es gut geht, der liebt keine Veränderungen" ... Ist es nicht an<br />
der Zeit, meine Herren Liquidatoren, daß Sie beginnen, sich auch mit den<br />
Sozialrevolutionären (mit den Sozialrevolutionären Eicjuidatoren?) zu vereinigen?<br />
Diese Herren brennen doch wohl auch vor Begierde, sich zu<br />
„vereinigen". Eine schöne „breite" Partei werden Sie dann haben. Selbst<br />
Latin wird zufrieden sein...<br />
Solange sich die Liquidatoren mit „fremden Mächten" „vereinigen",<br />
wird zwischen ihnen und den „Versöhnlern" der Schacher über die Bedingungen<br />
der „Vereinigung" dieses liquidatorisch-versöhnlerischen Lagers<br />
selbst fortgesetzt. Herr W. Lewizld veröffentlicht in der „Nascha Sarja"<br />
einen manifestartigen Artikel, der sich an „alle Strömungen" wendet, die<br />
bereit sind, gegen die jüngste Konferenz der SDAPR anzukämpfen.<br />
Herr Lewizki hat diesen Artikel betitelt: „Für die Vereinigung — gegen<br />
die Spaltung". Nun, ist das nicht ganz wie bei Trotzki? Seitdem die Par-
110 W.J.Cenin<br />
teianhänger den Liquidatoren in allen Sphären der Arbeit eine glänzende<br />
Abfuhr erteilten, haben sich Lewizki und Co. eine sehr „versöhnlerische"<br />
Sprache zu eigen gemacht. Oh, sie sind ganz und gar für die „Einheit".<br />
Sie stellen lediglich folgende vier bescheidene Bedingungen für die „Vereinigung"<br />
:<br />
1. Kampf gegen die Konferenz der SDAPR, die alle Sozialdemokraten<br />
außer einer Handvoll Schwankender vereinigt hat.<br />
2. Schaffung einer „zentralen Initiativgruppe" (hervorgehoben von<br />
Herrn Lewizki, „Mascha Sarja" Nr. 4, S. 31) an Stelle der Partei. (Was<br />
liquidatorische „ Initiativ" gruppen sind, hat Plechanow unlängst in der<br />
Presse klargestellt: siehe seinen „Dnewnik Sozialdemokrata" 38 Nr. 16. Im<br />
Dienst der Liquidatoren verheimlichen sowohl der „Bund" wie auch<br />
Trotzki ihren Lesern die Klarstellung Plechanows. Das wird Ihnen nicht<br />
gelingen, meine Herren!)<br />
3. Keine Belebung der „politisch toten Zellen" (ebenda, S. 33).<br />
4. Anerkennung der Losung „Qegen den 3llegalitätskult" (ebenda,<br />
S. 33).<br />
Das Programm ist entworfen, wenn auch nicht so offen und bestimmt<br />
wie in vergangenen Zeiten, aber doch klar genug. Und Lewizki erklärt<br />
hier sofort allen Trotzkis in aller Ausführlichkeit: Sie haben ja keine<br />
Wahl, meine Herren. Nehmen Sie unsere Bedingungen an, dafür gehen<br />
wir (d. h. Lewizki und Co.) gern auf folgendes ein: Sie (d. h. Trotzki<br />
und seinesgleichen) können „sich zum Trost" sagen, daß nicht Sie den<br />
Liquidatoren entgegengekommen sind, sondern die Liquidatoren Ihnen.<br />
In demselben Heft der „Nascha Sarja" droht Martow frühzeitig der<br />
zukünftigen sozialdemokratischen Fraktion der IV. Duma: Falls sie auch<br />
so antiliquidatorisch sein sollte wie ihre ränkesüchtige Vorgängerin, „würden<br />
Fälle wie der Fall Beloussow 39 schon keine Ausnahme mehr, sondern<br />
die Regel sein", d. h., einfacher gesprochen, die Liquidatoren würden die<br />
Dumafraktion spalten. Wie schrecklich... meine Herren Liquidatoren.<br />
Wenn Sie stark genug wären, so hätten Sie schon längst Ihre eigene liquidatorische<br />
Dumafraktion geschaffen ...<br />
Die Sache der „Vereinigung" liegt in sicheren Händen - da ist nichts<br />
zu sagen ...<br />
Die erbärmliche Komödie der liquidatorisch-trotzkistischen „Vereinigerei"<br />
stößt die anspruchslosesten Menschen ab. Die Vereinigung voll-
„Vereiniger" 111<br />
zieht sich, nur ist das eine Vereinigung nicht mit den Liquidatoren, sondern<br />
gegen sie.<br />
Was die unglaubliche Hochstapelei Trotzkis, Libers („Bund") und der<br />
Liquidatoren mit ihrer berüchtigten „Organisationskommission" angeht,<br />
so glauben wir, daß es genügt, die Leser, die die strittigen Fragen ernsthaft<br />
und durchdacht an Hand von Dokumenten nachprüfen möchten und<br />
nicht gewillt sind, Worten Glauben zu schenken, auf folgende Tatsachen<br />
zti verweisen:<br />
Im Juni 1911 wurde in Paris die Auslandsorganisationskommission gebildet,<br />
nachdem Liber und Igorew die Versammlung der ZK-Mitglieder<br />
verlassen hatten. Die erste Organisation in Rußland, an die sich die Auslandsorganisationskommission<br />
wandte, war Kiew. Sogar Trotzki gibt zu,<br />
daß es über sie keinen Streit geben kann. Im Oktober 1911 wurde unter<br />
Beteiligung Kiews die Russische Organisationskommission geschaffen. Im<br />
Januar 1912 berief diese die Konferenz der SDAPR ein.<br />
Im Januar 1912 tagte eine Beratung des „Bund", des lettischen Zentralkomitees<br />
und des Kaukasischen Gebietskomitees (alle drei Gruppen sind<br />
liquidatorische Gruppen). Die Polen treten sofort zurück, nachdem sie das<br />
ganze Vorhaben für liquidatorisch erklärt haben. Dann wird von den<br />
„Versöhnlern" und von Plechanow, der in Nr. 16 des „Dnewnik Sozialdemokrata"<br />
erklärte, diese Konferenz werde von den Liquidatoren einberufen,<br />
der Beitritt abgelehnt. Heute haben wir Juni 1912, und sowohl<br />
der „Bund" wie Trotzki haben außer den „Golos"-Leuten und den „Wperjod"-Leuten<br />
niemanden „vereinigt", haben keine einzige ernsthafte und<br />
unbestrittene Organisation in Rußland für sich gewonnen, haben Plechanow<br />
kein sachliches Wort erwidert, haben die Propaganda der Liquidatoren<br />
in der „Nascha Sarja" und ähnlichen Organen nicht um ein Jota<br />
geändert!<br />
Der Phrasen aber und der Großspurigkeit betreffs der „Vereinigung"<br />
ist kein Ende.<br />
„SoziaVDemokrat" ?Jr. 27, • TJadj dem Jext des<br />
1 7. M ")uni 1912. „ Sozial-T)emokrat".
112<br />
ÜBER DEN CHARAKTER<br />
UND DIE BEDEUTUNG UNSERER POLEMIK<br />
MIT DEN LIBERALEN<br />
Der bekannte Vertreter des Revisionismus und der liberalen Arbeiterpolitik,<br />
Herr Prokopowitsch, hat in den „Russkije Wedomosti" einen<br />
Artikel „Eine drohende Gefahr" veröffentHdit. Die Gefahr besteht nach<br />
der Meinung dieses Politikers darin, daß die Wahlen zur IV. Reidisduma<br />
von den Kreispolizeichefs gemacht werden könnten. Das Mittel zur Bekämpfung<br />
der Gefahr sei „die Vereinigung aller konstitutionellen Elemente<br />
des Landes", d. h. sowohl der Sozialdemokraten und Trudowiki als<br />
auch der Kadetten und Progressisten.<br />
Die reditskadettischen „Russkije Wedomosti" erklären in einer besonderen<br />
redaktionellen Bemerkung ihre Befriedigung" über den Artikel<br />
des Herrn Prokopowitsch. „In einer solchen Vereinigung der oppositionellen<br />
Kräfte", schreibt die Zeitung, „sehen wir augenblicklich das dringendste<br />
Erfordernis der Stunde."<br />
Die offiziell-kadettische „Retsch", die den Inhalt des Artikels des Herrn<br />
Prokopowitsch und das Urteil der „Russkije Wedomosti" wiedergibt, bemerkt<br />
ihrerseits:<br />
„Liest man jedoch die Organe sozialdemokratischer Richtung, die ihre ganzen<br />
Anstrengungen vor allem auf den Kampf gegen die Opposition richten, so<br />
kann man diesem Appell (d.h. dem ,Vereinigungs'appell) schwerlich irgendeine<br />
reale Bedeutung beimessen."<br />
Immer wieder erhebt sich somit die wichtige Frage nach der Wahltaktik<br />
und nach dem Verhältnis der Arbeiter zu den Liberalen. Immer<br />
wieder muß man sich davon überzeugen, daß die Liberalen an diese Frage<br />
nicnt wie ernste Politiker herangehen, sondern wie Heiratsvermittlerinnen.<br />
Nicht Klärung der Wahrheit, sondern ihre Verdunkelung ist ihr Ziel.
Tiber den Charakter und die Bedeutung unserer Polemik 113<br />
In der Tat, man denke sich in folgende Situation hinein. Verstehen die<br />
Liberalen unter „Vereinigung" die Verschmelzung der Parteien? Keineswegs.<br />
Sowohl Herr Prokopowitsch wie die „Russkije Wedomosti" und die<br />
„Retsch" erklären wie aus einem Munde, daß das nicht der Fall sei.<br />
Also versteht man unter Vereinigung das Zusammenwirken gegen die<br />
Rechten - von Purischkewitsch bis Gutschkow?? Anscheinend ja!<br />
Es fragt sich, lehnt irgend jemand der „Linken" ein solches Zusammenwirken<br />
ab?<br />
Niemand lehnt es ab, das ist allbekannt.<br />
Ein Abkommen mit den Liberalen über eine Stimmabgabe gegen die<br />
Rechten, das eben ist eine „Vereinigung" der Demokraten und der Liberalen<br />
bei den Wahlen. Womit sind denn nun die Liberalen unzufrieden?<br />
Warum verschweigen sie, daß die „Linken" mit aller Bestimmtheit, in<br />
aller Eindeutigkeit Abkommen anerkannt haben? Warum schweigen sie<br />
sich schamhaft darüber aus, daß gerade die Liberalen nidbts Klares, Bestimmtes,<br />
Eindeutiges, Formelles über Abkommen mit den Linken, mit<br />
den Demokraten, mit den Marxisten gesagt haben? Warum sagen sie,<br />
wenn sie über die Wahltaktik sprechen, kein Wort über den bekannten<br />
Beschluß der Konferenz der Kadetten, die Blocks mit den „linken Oktobristen"<br />
für zulässig erklärt hat?<br />
Die Tatsachen liegen auf der Hand, meine Herren, und keinerlei Ausflüchte<br />
werden da helfen. Gerade die Linken, gerade die Marxisten haben<br />
sich klar, eindeutig und in aller Form für ein Abkommen mit den Liberalen<br />
(den Kadetten einschließlich der Progressisten) gegen die Rechten<br />
ausgesprochen. Einer wirklich eindeutigen und formellen Antwort im<br />
Hinblick auf die Linken ausgewichen sind gerade die Kadetten!<br />
Herr Prokopowitsch kennt diese Tatsachen sehr gut, und darum ist es<br />
völlig unverzeihlich, daß er so die Wahrheit entstellt, d. h., den eindeutigen<br />
Beschluß der Marxisten und das Ausweichen der Kadetten verschweigt.<br />
Was ist der Grund für dieses Verschweigen? Das zeigen klar die angeführten<br />
Worte der „Retsch", wonach wir angeblich unsere „ganzen Anstrengungen<br />
vor allem auf den Kampf gegen die Opposition richten".<br />
Die Phrase der „Retsch" ist so formuliert, daß sich aus ihr unvermeidlich<br />
ergibt: Wollen sich die Demokraten mit den Liberalen vereinigen,<br />
dann dürfen sie nicht „alle Anstrengungen" auf den Kampf gegen die<br />
Opposition „richten". Sagt das doch klar heraus, ihr Herren! Stellt eure
114 W. 1. Lettin<br />
Bedingungen eindeutig, in aller Form! Das ist ja gerade euer Pech, daß ihr<br />
das nidbt tun könnt. Alle Welt würde lachen, wenn ihr den Versuch unternähmet,<br />
eine solche Bedingung zu formulieren. Ihr würdet, wenn ihr eine<br />
solche Bedingung aufstellt, euch selbst widerlegen, denn ihr alle habt einstimmig<br />
die „bedeutenden Meinungsverschiedenheiten" zwischen den<br />
Liberalen und den Demokraten (von den Marxisten schon ganz zu schweigen)<br />
zugegeben.<br />
Gibt es aber einmal Meinungsverschiedenheiten, sind sie nun einmal<br />
bedeutend, wie kann man dann den Kampf vermeiden?<br />
Die Heuchelei des Liberalismus besteht eben darin, daß er einerseits die<br />
Verschmelzung verwirft, die bedeutenden Meinungsverschiedenheiten zugibt,<br />
die Unmöglichkeit „eines Verzichts der Parteien auf die Grundsätze<br />
ihres Programms" („Russkije Wedomosti") betont, anderseits aber sich<br />
über den „Kampf gegen die Opposition" beschwert!!<br />
Aber betrachten wir die Sache etwas näher. Erstens, stimmt es denn,<br />
daß die Zeitungen und Zeitschriften, von denen die „Retsch" spricht, ihre<br />
ganzen Anstrengungen vor allem auf den Kampf gegen die Opposition<br />
richten? Nein, das stimmt ganz und gar nicht. Keine, nicht eine einzige<br />
Frage können die Liberalen vorbringen, in der die Demokraten nicht ihre<br />
ganzen Anstrengungen vor allem auf den Kampf gegen die Rechten richteten<br />
!! Wer diese Worte nachprüfen will, der mag ein Experiment machen.<br />
Man nehme, sagen wir, drei beliebige aufeinanderfolgende Nummern<br />
einer beliebigen Zeitung der Marxisten. Man nehme als Stichprobe drei<br />
politische Fragen und vergleiche an Hand der dokumentarischen Angaben,<br />
gegen wen in den gewählten Fragen in den gewählten Zeitungsnummern<br />
der Kampf der Marxisten vor allem „gerichtet" ist!<br />
Ihr werdet dieses einfache und jedem mögliche Experiment nicht machen,<br />
ihr Herren Liberalen, denn jedes derartige Experiment wird zeigen, daß<br />
ihr unrecht habt.<br />
Mehr noch. Eine zweite und besonders wichtige Erwägung spricht noch<br />
überzeugender gegen euch. Wie führen die Demokraten im allgemeinen<br />
und die Marxisten im besonderen ihren Kampf gegen die Liberalen? Sie<br />
führen ihn so und nur so, daß jeder, entschieden und unbedingt jeder Vorwurf<br />
oder jede Anklage an die Adresse der Liberalen einen noch entschiedeneren<br />
Vorwurf, eine nodh schwerere Anklage gegen die Rechten in sich<br />
schließt.
Tiber den Charakter und die Bedeutung unserer Polemik 115<br />
Darum eben geht es, das eben ist der Kern der Sache! Einige Beispiele<br />
werden unseren Gedanken anschaulich erläutern.<br />
Wir bezichtigen die Liberalen, die Kadetten, der konterrevolutionären<br />
Gesinnung. Man zeige uns auch nur eine von uns ausgesprochene Beschuldigung<br />
dieser Art, die nicht noch stärker die Rechten träfe.<br />
Wir bezichtigen die Liberalen des „Nationalismus", des „Imperialismus".<br />
Man zeige uns auch nur eine von uns ausgesprochene Beschuldigung<br />
dieser Art, die sich nicht noch stärker gegen die Rechten richtete.<br />
Wir haben den Liberalen den Vorwurf gemacht, sie fürchteten die Bewegung<br />
der Massen. Nun, und? Vermag man in unseren Zeitungen eine<br />
Formulierung dieses Vorwurfs zu finden, die nicht auch gegen die Rechten<br />
gerichtet wäre?<br />
Wir haben den Liberalen den Vorwurf gemacht, sie verteidigten „gewisse"<br />
mittelalterliche Einrichtungen, die geeignet seien, sich gegen die<br />
Arbeiter „auszuwirken". Die Liberalen dessen bezichtigen heißt, eben<br />
damit alle Rechten dessen und noch anderer Dinge mehr zu bezichtigen.<br />
Die Zahl dieser Beispiele läßt sich beliebig vergrößern. Immer und überall,<br />
ohne jede Ausnahme, wird man finden, daß die Arbeiterdemokratie<br />
den Liberalen ausschließlich ihre Verwandtschaft mit den Rechten, die<br />
Unentschlossenheit und die Tiktivität ihres Kampfes gegen die Rechten,<br />
ihre Halbheit zum Vorwurf macht, womit sie eben die Rechten nicht nur<br />
der „halben Schuld", sondern der ganzen bezichtigt.<br />
„Der Kampf gegen die Liberalen", den die Demokraten und Marxisten<br />
führen, geht mehr in die Tiefe, ist konsequenter, inhaltsreicher, klärt die<br />
Massen besser auf und schmiedet sie fester zusammen als der Kampf<br />
gegen die Rechten. So steht die Sache, ihr Herren!<br />
Und um in dieser Hinsicht keinerlei Zweifel zu lassen, um einer absurden<br />
Entstellung des Sinns und der Bedeutung unseres Kampfes gegen<br />
die Liberalen vorzubeugen, um z. B. der absurden Theorie vorzubeugen<br />
von der „einen reaktionären Masse" (d. h. dem Vermengen von Liberalen<br />
und Rechten in dem einen politischen Begriff reaktionärer Block, reaktionäre<br />
Masse), sprechen wir in unseren offiziellen Erklärungen vom Kampf<br />
gegen die Rechten stets in andrer Weise als vom Kampf gegen die Liberalen.<br />
Herr Prokopowitsch, wie auch jeder gebildete Liberale, weiß das sehr<br />
gut. Er weiß, daß z. B. in unserer Definition der sozialen Natur, der
116 "W. 3. <strong>Lenin</strong><br />
Klassennatur der verschiedenen Parteien stets das Mittelalterliche bei den<br />
Rechten, das Bürgerliche bei den Liberalen betont wird. Das sind „zwei<br />
ganz verschiedene Dinge". Das Mittelalterliche kann (und muß) vernichtet<br />
werden, selbst wenn man in den Grenzen des Kapitalismus bleibt. Das<br />
Bürgerliche kann in diesen Grenzen nicht vernichtet werden, aber man<br />
kann (und muß) gegen den bürgerlichen Gutsbesitzer an den bürgerlichen<br />
Bauern, gegen den bürgerlichen Liberalen an den bürgerlichen Demokraten,<br />
gegen die bürgerliche Halbfreiheit an die bürgerliche ganze Freiheit<br />
„appellieren". Eben in solchen Appellationen, nur in solchen Appellationen<br />
besteht unsere Kritik am Liberalismus in dem Zeitpunkt, den<br />
Rußland durchlebt, d. h. jene Kritik, die wir vom Standpunkt der nächsten<br />
und aktuellen Aufgaben dieses Zeitpunkts üben.<br />
Man nehme z. B. folgende Phrase des Herrn Prokopowitsch: „Die<br />
Schaffung von gesunden Voraussetzungen für das politische Leben der<br />
Volksmassen, das eben ist das nächste Ziel, das in der Gegenwart sowohl<br />
die Linken als auch die Opposition vereinigt."<br />
Es gibt nichts Inhaltsloseres, Leereres, Trügerischeres als diese Phrase.<br />
Unter diese Phrase setzt auch der Oktobrist und der raffinierte „Nationalist"<br />
seine Unterschrift, denn irgend etwas Klares folgt aus ihr nicht.<br />
Das ist ein einfaches Versprechen, eine bloße Deklamation, ein diplomatisches<br />
Verbergen der wahren Gedanken. Aber wenn Herrn Prokopowitsch,<br />
wie auch vielen anderen Liberalen, die Sprache gegeben ist, um die<br />
wahren Gedanken zu verbergen, so werden wir versuchen, unsere Pflicht<br />
zu erfüllen: das aufzudecken, was hier verborgen wird. Nehmen wir vorsichtshalber<br />
ein etwas bescheideneres, kleineres Beispiel.<br />
Ist das Zweikammersystem eine gesunde Voraussetzung für das politische<br />
Leben? Wir glauben - nein. Die Progressisten und Kadetten glauben<br />
- ja. Wegen solcher Anschauungen bezichtigen wir die Liberalen des<br />
Antidemokratismus, der konterrevolutionären Gesinnung. Und wenn wir<br />
solch eine Bezichtigung gegen die Liberalen aussprechen, dann bezichtigen<br />
wir eben damit in noch höherem Maße alle Rechten.<br />
Es fragt sich weiterhin, wie verhält es sich hier mit der „Vereinigung<br />
der Linken und der Opposition"? Lehnen wir wegen dieser Meinungsverschiedenheit<br />
eine Vereinigung mit den Liberalen gegen die Rechten<br />
ab? Nein, wir lehnen sie keineswegs ab. Die konterrevolutionären Ansichten<br />
der Liberalen in dieser Frage wie in allen analogen, weitaus widb-
Tiber den Charakter und die 'Bedeutung unserer Polemik 117<br />
tigeren Fragen der politischen Freiheit sind uns seit langem, seit 1905,<br />
wenn nicht früher, bekannt, aber nichtsdestoweniger wiederholen wir auch<br />
im Jahre 1912: Sowohl beim zweiten Wahlgang wie im zweiten Stadium<br />
der Wahlen sind Abkommen mit den Liberalen gegen die Rechten zulässig.<br />
Denn der bürgerliche monarchistische Liberalismus ist bei all seiner<br />
Halbheit ganz und gar nicht dasselbe wie die feudale Reaktion. Diesen<br />
Unterschied nicht ausnutzen wäre eine ganz schlechte Arbeiterpolitik.<br />
Aber gehen wir weiter. Wie soll er ausgenutzt werden? Unter weldben<br />
Bedingungen ist eine „Vereinigung der Linken und der Opposition" möglich?<br />
Der Liberale antwortet auf diese Frage: Von einer Vereinigung kann<br />
keine <strong>Red</strong>e sein, wenn die Linken unentwegt die Opposition bekämpfen.<br />
Und der Liberale erläutert seinen Gedanken so: Je bescheidener die Forderung,<br />
desto weiter der Kreis derer, die damit einverstanden sind, desto<br />
vollständiger die Vereinigung, desto größer die Kraft, die diese Forderung<br />
zu verwirklichen vermag; für eine „leidliche" Konstitution mit einem<br />
Zweikammersystem (und mit anderen wie drückt man das möglichst<br />
milde aus?... kleinen Abweichungen vom Demokratismus) werden sowohl<br />
alle Demokraten als auch alle Liberalen sein; das ist sehr viel; wenn<br />
man sich aber auf den „reinen" Demokratismus versteift, dann werden<br />
die Progressisten abfallen, auch viele Kadetten werden „abgestoßen", und<br />
das Resultat ist eine Zersplitterung und Entmachtung der „konstitutionellen<br />
Elemente". #<br />
So urteilt der Liberale- Wir aber urteilen anders. Ohne Bewußtheit der<br />
Massen kann es keine Wendung zum Besseren geben. Das ist unsere<br />
grundlegende These. Der Liberale schaut nach oben, wir jedoch schauen<br />
nach „unten". Verzichten wir darauf, die Schädlichkeit des Zweikammersystems<br />
klarzustellen, oder schwächen wir den „Kampf" gegen alle und<br />
jede antidemokratischen Ansichten in dieser Frage auch nur um ein Jota<br />
ab, so „gewinnen" wir für uns den liberalen Gutsbesitzer, Kaufmann,<br />
Advokaten, Professor — sie alle sind leibliche Brüder Purischkewitschs, und<br />
irgend etwas Ernstes gegen die Purischkewitsch können sie nicht ausrichten.<br />
Indem wir sie „gewinnen", stoßen wir die Massen ab - sowohl in dem<br />
Sinne, daß die Massen, für die der Demokratismus kein diplomatisches<br />
Aushängeschild, keine Paradephrase, sondern eine dringliche, ureigene<br />
Angelegenheit, eine Frage von Tod und Leben ist, daß diese Massen das<br />
Vertrauen zu den Anhängern des Zweikammersystems verlieren, als auch
1<strong>18</strong> W.1. <strong>Lenin</strong><br />
in dem Sinne, daß eine Abschwächung der Angriffe auf das Zweikammersystem<br />
ein Zeichen ist für eine unzureichende Bewußtheit der Massen;<br />
sind aber die Massen unaufgeklärt, energielos und unentschlossen, dann<br />
sind überhaupt keine Veränderungen zum Besseren möglich.<br />
Durch eure Polemik gegen die Liberalen entzweit ihr die Linken und<br />
die Opposition, erklären uns die Kadetten und die Herren Prokopowitsch.<br />
Wir antworten, daß der konsequente Demokratismus die schwankendsten,<br />
unzuverlässigsten, den Purischkewitsch gegenüber duldsamsten Liberalen<br />
abstößt; ihrer ist eine Handvoll; aber er gewinnt die Millionen, die heute<br />
zu einem neuen Leben erwachen, zu einem „gesunden politischen Leben",<br />
wobei wir unter diesem Wort bei weitem nicht das, ganz und gar nicht<br />
das verstehen, was Herr Prokopowitsch darunter versteht.<br />
Anstatt des Zweikammersystems hätte man als Beispiel auch die Zusammensetzung<br />
der Flurbereinigungskommissionen nehmen können:<br />
Soll man ein Drittel des Einflusses den Gutsbesitzern, das zweite den<br />
Bauern, das dritte den Beamten einräumen, wie es die Kadetten vorschlagen,<br />
oder sollen die Wahlen ganz und gar frei sein bei einem völlig demokratischen<br />
Wahlrecht? Was nun ist im Hinblick auf diesen Punkt unter<br />
den „gesunden Voraussetzungen für das politische Leben der Volksmassen"<br />
zu verstehen, Herr Prokopowitsch? Wen stoßen wir ab und wen<br />
gewinnen wir durch einen konsequenten Demokratismus in dieser Frage?<br />
Und mögen uns die „Russkije Wedomosti" nicht erwidern, daß „gegenwärtig<br />
gegenüber allen anderen Punkten der Programme ein allen progressiven<br />
Parteien gemeinsamer Punkt dominiert, der Punkt, der die Verwirklichung<br />
der politischen Freiheit fordert". Gerade eben weil dieser<br />
Punkt dominiert - das ist absolut unbestreitbar, das ist die heilige Wahrheit<br />
-, ist es notwendig, daß die breitesten Massen, die Millionen und aber<br />
Millionen die halbe Freiheit von der ganzen Freiheit unterscheiden und<br />
den unlösbaren Zusammenhang des politischen Demokratismus mit dem<br />
Demokratismus der Agrarumgestaltungen begreifen.<br />
Wenn die Massen nicht interessiert, bewußt, aktiv, tätig, entschlossen,<br />
selbständig sind, kann auf dem einen wie auf dem anderen Gebiet absolut<br />
nichts getan werden.<br />
.Tlewskaja Swesda" SVr. 12, Nadh dem Jext der<br />
10. Juni 1912. n7Jewskaja Swesda".<br />
lAntersdbrift:W.1.
KAPITALISMUS UND „PARLAMENT"<br />
119<br />
Die Wahrheiten des Demokratismus dürfen uns nicht einen Umstand<br />
übersehen lassen, der von bürgerlichen Demokraten häufig aus dem Auge<br />
gelassen wird: daß die Vertretungskörperschaften in kapitalistischen Ländern<br />
unvermeidlich eigentümliche Formen der Beeinflussung der Staatsmacht<br />
durch das Kapital erzeugen. Ein Parlament gibt es bei uns nicht -<br />
aber parlamentarischen Kretinismus unter den Liberalen, parlamentarisdbe<br />
Korruption unter allen bürgerlichen Abgeordneten gibt es bei uns soviel<br />
man will.<br />
Diese Wahrheit müssen sich die Arbeiter gründlich zu eigen machen,<br />
wenn sie lernen wollen, die Vertretungskörperschaften für die Entwicklung<br />
des Bewußtseins, der Geschlossenheit, der Wirksamkeit und Aktivität<br />
der Arbeiterklasse auszunutzen. Alle dem Proletariat feindlichen sozialen<br />
Kräfte - die „Bürokratie", der Grundbesitz, das Kapital - nutzen diese<br />
Vertretungskörperschaften schon gegen die Arbeiter aus. Man muß wissen,<br />
wie sie das machen, um zu lernen, die selbständigen Interessen der Arbeiterklasse<br />
und ihre selbständige Entwicklung zu verfechten.<br />
Die III. Duma hat einen Beschluß gefaßt, den einheimischen Maschinenbauern<br />
Prämien auszuzahlen. Welchen einheimischen? - Den in Rußland<br />
„arbeitenden"!<br />
Sieht man nun genauer zu - dann zeigt sich, daß gerade ausländische<br />
Kapitalisten ihre Betriebe nach Rußland verlegt haben. Die Zölle sind<br />
hoch, die Profite unermeßlich, da übersiedelt das ausländische Kapital<br />
eben nach Rußland selbst. Ein amerikanischer Trust - ein Kapitalistenverband<br />
von Millionären - hat z. B. in der Nähe von Moskau, in Ljuberzy,<br />
eine gewaltige Fabrik für landwirtschaftliche Maschinen errichtet. Und in
120 W. J. <strong>Lenin</strong><br />
Charkow baut der Kapitalist Mehlhose und in Berdjansk der Kapitalist<br />
John Greaves landwirtschaftliche Maschinen. Nicht wahr, wieviel „echt<br />
Russisches", „Einheimisches" steckt in diesen Unternehmern?<br />
Aber selbstverständlich könnten sie ohne die allseitige Hilfe der russischen<br />
Kapitalisten überhaupt nidht in Rußland tätig sein. Eine Hand<br />
wäscht die andere. Die amerikanischen, englischen, deutschen Kapitalisten<br />
scheffeln Profit mit Hilfe der russischen Kapitalisten, für die ein sehr guter<br />
Teil abfällt. Man nehme z. B. die Goldfelder an der Lena oder die Bergbau-<br />
und Hüttenbetriebe im Ural. Wieviel Millionen haben hier die ausländischen<br />
und die russischen Kapitalisten miteinander geteilt!<br />
Eine Duma ist da sehr nützlich für die Herren Industriellen. Die Kapitalisten<br />
haben in der Duma wie im Reichsrat eine gehörige Zahl ihrer Vertreter,<br />
und zudem ist ja auch der Gutsbesitzer in unseren Tagen ohne<br />
Kapital ein Nichts. Die Kapitalisten wie die Gutsbesitzer haben in Gestalt<br />
der Duma einen fertigen Apparat zur Durchbringung von Gesetzen<br />
über „Prämien" (für sidh selbst), über Schutzzölle (d. h. eine andere Form<br />
von Prämien für sich selbst), über Konzessionen (eine dritte Form von<br />
Prämien für sich selbst) und so weiter ohne Ende.<br />
Ein liberaler „Skeptiker" schrieb darüber in der liberalen „Retsch" gar<br />
nicht übel. So voller Gefühl schrieb er gegen die „Nationalisten" (die sich<br />
selber „Prämien" gewährten als Ansporn für den „einheimischen" Maschinenbau<br />
der Herren Greaves, Mehlhose, Ellworthy und anderer Gesellschaften),<br />
daß auch ich etwas vom Skeptizismus angesteckt wurde.<br />
Ja, die „Nationalisten" entlarvt der Herr liberale „Skeptiker" nicht<br />
übel. Aber warum schweigt er von den Kadetten? Als z. B. Golowin Konzessionen<br />
erwarb, hat ihm da etwa nicht seine Stellung als Dumaabgeordneter<br />
und ehemaliger Dumapräsident bei dieser nützlichen und einträglichen<br />
Beschäftigung geholfen?<br />
Als Maklakow die „Tagijew"-Honorare einheimste, hat es ihm da etwa<br />
nicht seine Stellung als Dumaabgeordneter erleichtert, so „vorteilhafte"<br />
Geschäfte machen zu können?<br />
Und wieviel kadettische Gutsbesitzer, Kaufleute, Kapitalisten, Finanziers,<br />
Advokaten, Geschäftemacher haben noch ihre Transaktionen ausgedehnt,<br />
ihre „Verbindungen" gefestigt, ihre „Geschäfte" abgeschlossen<br />
unter Ausnutzung ihres Abgeordnetenmandats und der Vorteile, der Annehmlichkeiten,<br />
die dieses Mandat gewährt?
Kapitalismus und „Parlament" 121<br />
Wie wäre es, wenn man eine Enquete durchführte über die Finanzoperationen<br />
von Dumaabgeordneten und unter Beteiligung von Dumaabgeordneten?<br />
In allen kapitalistischen Ländern aber sind Maßnahmen getroffen, die<br />
gewährleisten, daß das „Geschäftsgeheimnis" gewahrt bleibt, daß kein<br />
„Parlament" eine solche Enquete zuläßt.<br />
Den Arbeiterdeputierten ist jedoch zweifellos vieles, was diese Frage<br />
betrifft, bekannt, und wenn man sich bemüht, sich dafür einsetzt, Auskünfte<br />
sammelt, Material zusammenträgt, in den Zeitungen sucht, auf der<br />
Börse Erkundigungen einzieht usw., kann man auch selber eine sehr aufschlußreiche<br />
und sehr nützliche „Enquete" über die ges&äftUdben Transaktionen<br />
von Dumaabgeordneten und unter Beteiligung von Dumaabgeordneten<br />
durchführen.<br />
In den europäischen Parlamenten sind diese Transaktionen allgemein<br />
bekannt, und die Arbeiter enthüllen sie ständig unter Namhaftmachung<br />
der Geschäftemacher - zur Belehrung des Volkes.<br />
„Newskaja Swesda" 3Vr. 13, SVacfe dem Text der<br />
17. Juni 19i2. „TJewskaja Swesda".<br />
lAntersdbrift: Ein nicbt-<br />
Uberaler Skeptiker.<br />
9 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>
122<br />
DIE WAHLEN UND DIE OPPOSITION<br />
Die Marxisten haben ihre prinzipielle Stellung zu den Wahlen schon<br />
längst festgelegt. Die rechten Parteien, von Purischkewitsch bis Gutschkow,<br />
die liberal-monarchistische Bourgeoisie (die Kadetten und die Progressisten)<br />
und die Demokratie (die Arbeiterdemokratie und die bürgerliche,<br />
d. h. die Trudowiki) - das sind die drei Haupdager, die sich im Wahlkampf<br />
gegenüberstehen. Der Unterschied zwischen ihnen ist grundlegend:<br />
Sie vertreten verschiedene Klassen, sie unterscheiden sich durch ihr ganzes<br />
Programm und ihre ganze Taktik. Nur wenn man die prinzipielle Basis<br />
der Politik eines jeden dieser Lager klar erfaßt hat, kann man für die<br />
Wahlkampagne die richtigen praktischen Schlüsse ziehen.<br />
Seit die Marxisten, vor einem halben Jahr etwa, diese Thesen definitiv<br />
aufgestellt haben*, wird ihre Richtigkeit besonders anschaulich durch das<br />
Auftreten der liberalen Opposition bestätigt. Unsere „Nachbarn und<br />
Feinde von rechts", die keineswegs unsere Auffassungen teilen, lieferten<br />
uns mit lobenswertem Eifer die beste Bestätigung ihrer Richtigkeit. Man<br />
kann es zum Qesetz erheben: die Entwicklung der politischen Aktivität<br />
und der politischen Auffassungen eines Kadetten bekräftigt vorzüglich die<br />
Auffassungen der Marxisten. Anders ausgedrückt: macht ein Kadett den<br />
Mund auf, seien Sie überzeugt, er wird nicht schlechter als mancher Marxist<br />
die Auffassung der liberalen Arbeiterpolitiker widerlegen.<br />
Aus diesem Grunde übrigens ist es für die Arbeiter von doppeltem<br />
Nutzen, die Kadettenpolitik aufmerksam zu verfolgen: erstens erkennt<br />
man dadurch ausgezeichnet den liberalen Bourgeois, und zweitens lernt<br />
man, die Fehler mancher Anhänger der Arbeiterklasse deutlicher zu sehen.<br />
* Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 17, S. 357-361. Die <strong>Red</strong>.
Die Wahlen und die Opposition 123<br />
Von diesem doppelten Nutzen dürfte sicherlich die kürzliche Stellungnahme<br />
der „Retsdb" zu den in den „Russkije Wedomosti" abgegebenen<br />
wichtigen Wahlerklärungen sein. Es sind das die Erklärungen Herrn Akimows<br />
(Wl. Machnowez),-eines alten „Ökonomisten", d. h. Opportunisten<br />
der Zeit von <strong>18</strong>97 bis 1902. Sie beinhalten eine direkte Verteidigung des<br />
„progressiven Blocks", dessen (übrigens nidht veröffentlichte!) „Plattform"<br />
Herr Akimow, der sich Sozialdemokrat nennen möchte, für „durchaus<br />
annehmbar für die Sozialdemokratie" hält.<br />
Zahlreiche politische Säuglinge (von Paris bis Krasnojarsk) und gewitzte<br />
Diplomaten (von Wien bis Wilna) 40 sagten uns und sagen uns noch<br />
heute, daß die liberale Arbeiterpolitik ein „Schreckgespenst" sei. Schaut<br />
doch auf Herrn Akimow, ihr liebwerten Opponenten! Ihr werdet hier<br />
gewiß nicht leugnen können, daß sich in ihm unverkennbar die liberale<br />
Arbeiterpolitik verkörpert. Und ihr werdet auch nicht sagen können, daß<br />
Akimow ein „Unikum" sei, d. h. ein Einzelgänger und eine einzigartige,<br />
unnachahmliche Seltenheit. Denn wie viele unnachahmliche Eigenschaften<br />
Herr Akimow auch haben mag, ein Einzelgänger ist er nicht; es wäre die<br />
direkte Unwahrheit, wollte man das behaupten. Er ist nach Herrn Prokopowitsch<br />
aufgetreten und im Einvernehmen mit ihm. Er hat ein verbreitetes<br />
liberales Organ gefunden - eine bequeme Tribüne, die seine <strong>Red</strong>en weithin<br />
hörbar macht. Er hat eine „gute Presse" unter den liberalen Journalisten<br />
gefanden. O nein, das ist kein Einzelgänger. Mag er schon lange<br />
keiner Gruppe mehr angehören. Mögen seine Rechte, sich Sozialdemokrat<br />
zu nennen, völlig fiktiv sein. Aber er vertritt eine politische Linie, die<br />
Wurzeln hat, die lebt und, wenn sie auch oft versteckt ist, bei der geringsten<br />
politischen Belebung immer wieder hervorbricht.<br />
Die „Retsdb" läßt „dem nüchternen Realismus" der Überlegungen des<br />
Herrn Akimow „völlige Gerechtigkeit widerfahren" und betont mit besonderem<br />
Vergnügen seine Meinung, daß „die Sozialdemokraten heute den<br />
Teil ihrer politischen Aufgaben hervorkehren müssen, der bei genügend<br />
breiten, politisch starken Kreisen des Volkes Unterstützung findet".<br />
Nun ja, wie sollte sich die „Retsch" darüber nicht freuen! Was die<br />
„Nascha Sarja" mit tausend Ausreden und Ausflüchten, mit einem Vorbehalt<br />
nach dem anderen, die Spuren verwischend und mit einem Geprunk<br />
längst abgewetzter quasimarxistischer Wörtchen sagt, damit platzt Herr<br />
Akimow direkt heraus, grob, einfältig, naiv ... unglaublich naiv.
124 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />
Formal haben die „Nascha Sarja" und der „Newski Golos" natürlich<br />
durchaus die Möglichkeit, jede Verantwortung für Herrn Akimow abzulehnen.<br />
Faktisch aber entnimmt die breite Leserschaft, die in bezug auf<br />
Feinheiten nicht gewitzigt ist und sich für Feinheiten nicht interessiert,<br />
diesen liquidatorischen Publikationen gerade den „Akimowismus" und<br />
ausschließlich ihn. Die Sache der Progressisten „nicht hintertreiben",<br />
schrieb Martow. „Den Teil der Aufgaben hervorkehren", der die Unterstützung<br />
der Trogressisten findet, schreibt Akimow, natürlich mit dem<br />
Vorbehalt, daß die Parteilosigkeit der Progressisten es jeder Partei erleichtere,<br />
ihre Selbständigkeit (auf dem Papier) zu wahren. Einen größeren<br />
Teil der Aufgaben hervorkehren, als den Progressisten angenehm ist, das<br />
heißt eben ihre Sache „hintertreiben": das ist die Dechiffrierung der<br />
Losung Martows im lebendigen politischen Kampf, durch den Haufen, den<br />
Akimow gut vertritt.<br />
Die Kadetten und die Progressisten sind nach Akimows Überzeugung<br />
„breite und politisch starke Kreise des Volkes". Gerade das ist die liberale<br />
Unwahrheit, von der kürzlich die „Newskaja Swesda" in einem Artikel<br />
über den Charakter und die Bedeutung der marxistischen Polemik mit den<br />
Liberalen schrieb.* In Wirklichkeit ist die liberal-monarchistische Bourgeoisie<br />
in ihrer Gesamtheit, die Kadetten, die Progressisten und viele andere<br />
einbegriffen, ein sehr enger Kreis des Volkes, der auch politisch außerordentlich<br />
schwach ist.<br />
Einen breiten Kreis im Volke kann die Bourgeoisie niemals darstellen.<br />
Politisch stark kann sie sein und ist sie in einer ganzen Reihe kapitalistischer<br />
Länder - nur nicht in Preußen, nur nicht in Rußland. Hier erklärt<br />
sich ihre erstaunliche, groteske, nahezu unglaubliche politische Schwäche<br />
vollauf dadurch, daß diese Bourgeoisie die Revolution weit mehr fürchtet<br />
als die Reaktion. Politische Schwäche ist die unvermeidliche Folge. Und<br />
alles Gerede von einer „politischen Stärke" der Bourgeoisie, das diese<br />
grundlegende Besonderheit der Lage der Dinge in Rußland ignoriert, ist<br />
völlig falsch und deshalb absolut zu nichts nütze.<br />
Herr Akimow ist als ganz und gar offener und gemäßigter Liberaler<br />
aufgetreten: euch, ihr Herren Kadetten und Progressisten, halten wir für<br />
eine Kraft, eure Plattform nehmen wir durchaus an (obwohl es diese Plattform<br />
nicht gibt!), wir selbst kehren gegenwärtig den 7eil der Aufgaben<br />
* Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 112-1<strong>18</strong>. BieJled.
Die Wahlen und die Opposition 125<br />
hervor, der eure Unterstützung genießt, euch bitten wir nur um eins -<br />
„daß in die Listen des Blödes (der Progressisten) auch die Sozialdemokraten<br />
aufgenommen werden". Das, buchstäblich das schrieb Akimow! Zu<br />
allem, zu allem bin ich bereit - werd' ich nur in die Liste der Liberalen<br />
aufgenommen!<br />
Von Seiten der „Retsch" war es geradezu engherzig, daß sie sogar eine<br />
so gemäßigte Bitte zurückwies. Es gehe doch um die Wähler des 3. Juni,<br />
rufen die Kadetten Akimow in Erinnerung. Und was sind unter ihnen die<br />
Sozialdemokraten? Eine Null — „mit Ausnahme der großen Städte, von<br />
denen doch nicht die <strong>Red</strong>e"ist". Und das offizielle Kadettenorgan belehrt<br />
herablassend den ergebenen und gehorsamen Akimow: „Mit Ausnahme<br />
der Randgebiete werden sie (die Sozialdemokraten) sich fast überall leiten<br />
lassen müssen nicht von der Absicht, eigene Kandidaten aufzustellen, sondern<br />
von Erwägungen, wie der Sieg des progressiven Blocks über den<br />
Schwarzhunderterblock der Unterdrücker des Volkes zu gewährleisten<br />
ist."<br />
Der Liberale hat die demütig hingestreckte Hand des liberalen Arbeiterpolitikers<br />
grob ausgeschlagen! Das ist der verdiente Lohn für den Verzicht<br />
auf den Kampf in den großen Städten. Die großen Städte gehören uns,<br />
weil wir stark sind, sagen die Kadetten, und das übrige Rußland gehört<br />
uns, weil die Männer des 3. Juni und ihr Gesetz vom 3. Juni, das uns das<br />
Monopol der Opposition sichert, stark sind.<br />
Keine schlechte Antwort. Die Lehre, die Akimow erhalten hat, ist eine<br />
harte, aber eine nützliche Lehre.<br />
.Tiewskaja Swesda" 7$r. 14, "Nadh dem 7ext der<br />
24. Juni 1912. .TJewskaja Swesda".<br />
Vntersdirift: %. 7.
126<br />
DIE BEDEUTUNG DER WAHLEN<br />
IN PETERSBURG<br />
Die Zeitungen melden, daß die Frage des Zeitpunkts der Einberufung<br />
der IV. Reichsduma und des Zeitpunkts der Wahlen in den herrschenden<br />
Kreisen verschiedentlich Zweifel hervorgerufen hat. Die einen sprachen<br />
sich dafür aus, die Einberufung der Reichsduma bis zum Januar zu verschieben,<br />
die anderen waren für den Oktober. Jetzt soll die Frage zugunsten<br />
der zweiten Meinung entschieden worden sein.<br />
Die Wahlen sind also schon ganz nahe herangerückt, nur noch etwa<br />
7-9 Wochen trennen uns von ihnen. Es gilt daran zu denken, die Energie<br />
in der gesamten Wahlarbeit zu verzehnfachen.<br />
Ich möchte im vorliegenden Artikel auf eine spezielle Frage eingehen,<br />
die jedoch für die Arbeiterdemokratie eine überaus große und allgemeine<br />
Bedeutung erlangt hat. Es ist das die Frage nach der Rolle der Petersburger<br />
Wahlen.<br />
Die Wahlen zur 2. städtischen Kurie in Petersburg stehen im Brennpunkt<br />
der ganzen Wahlkampagne anläßlich der Wahlen zur IV. Reichsduma.<br />
Nur in Petersburg gibt es eine leidlich organisierte Arbeiterpresse, die<br />
bei den schweren Verfolgungen, denen sie ausgesetzt ist, den Geldstrafen<br />
und den Verhaftungen der <strong>Red</strong>akteure, bei der ganzen Unsicherheit ihrer<br />
Lage und der Unterdrückung durch die Zensur die Anschauungen der<br />
Arbeiterdemokratie schwach widerzuspiegeln vermag.<br />
Ohne Tagespresse bleiben Wahlen eine dunkle Angelegenheit, und ihre<br />
Bedeutung im Sinne der politischen Aufklärung der Massen sinkt um die<br />
Hälfte, wenn nicht noch mehr.<br />
Die Petersburger Wahlen erlangen dadurch die Bedeutung eines
Erste Seite der „Newskaja Swesda" Nr. 15 vom 1. Juli 1912, in der W. I. <strong>Lenin</strong>s<br />
Artikel „Die Bedeutung der Wahlen in Petersburg" und „Ein Vergleich des<br />
Stolypinsdien Agrarprogramms mit dem der Volkstümler" erschienen<br />
•Verkleinert
Die Bedeutung der 'Wahlen in Petersburg 129<br />
Musterbeispiels der Wahlkampagne, die die Arbeiterdemokratie unter den<br />
unglaublich schweren rassischen Bedingungen durchzuführen hat. Eine<br />
andere allen sichtbare Wahlkampagne können die Arbeiter nirgends<br />
durchführen. In der Arbeiterkurie haben die Wahlen natürlich sehr große<br />
Bedeutung, aber die Arbeiter können hier nicht mit den anderen Klassen<br />
der Bevölkerung in Berührung kommen, können deshalb nicht genügend<br />
breit die Forderungen des ganzen Volkes, die Auffassungen über die Aufgaben<br />
der allgemeinen Politik darlegen, die die fortgeschrittene, proletarische<br />
Demokratie entwickelt hat, damit sie der ganzen Demokratie überhaupt<br />
als Leitfaden dienen.<br />
In Petersburg wird direkt gewählt. Deshalb kann sich der Wahlkampf<br />
hier viel bestimmter, klarer, parteilicher als anderswo entfalten. Die übrigen<br />
großen Städte könnten eine ebenso große Bedeutung wie Petersburg<br />
haben, aber der administrative Druck ist in .der Provinz nodb viel stärker<br />
als in der Hauptstadt, so daß es für die Arbeiterdemokratie schwer ist,<br />
sich einen Weg zu bahnen, sich Gehör zu verschaffen.<br />
In Petersburg muß schließlich der Kampf in der 2. Kurie zwischen den<br />
Liberalen und der Demokratie entbrennen. Die Kadetten betrachten die<br />
2. Kurie als ihre Domäne. Petersburg wird vertreten von Miljukow,<br />
Roditschew und Kutler.<br />
Selbstverständlich kann man diese Vertretung einer ziemlich breiten<br />
Masse demokratischer Wähler durch Liberale keineswegs als normal bezeichnen.<br />
Die Wahlen zur II. Duma haben gezeigt, daß die „Herrschaft"<br />
der Kadetten unter den demokratischen Wählern der Städte alles andere<br />
als beständig ist. In Petersburg selbst hätte der „Linksblock" bei den<br />
Wahlen zur II. Duma, d. h. der Block der Arbeiterdemokratie und der<br />
bürgerlichen Demokratie (der Volkstümler), nicht nur siegen können,<br />
sondern sogar gewiß gesiegt, wenn damals die Menschewiki vom Schlage<br />
Dans und Co. nicht die Wahlkampagne der Arbeiter gespalten und so für<br />
den Erfolg der Sache überaus schädliche Schwankungen und Verwirrungen<br />
unter den Volkstümlern hervorgerufen hätten. Es genügt, daran zu<br />
erinnern, daß selbst die „Sozialrevolutionäre" bei den Wahlen zur<br />
II. Duma bis zum letzten Augenblick den Menschewiki gefolgt sind und<br />
den Block mit den Kadetten verteidigt haben!<br />
Nach dem jetzigen Wahlgesetz ist ein zweiter Wahlgang möglich, so<br />
daß im ersten Stadium keinerlei Blocks möglich oder zulässig sind.
130 W.lCenin<br />
In Petersburg steht ein Kampf zwischen der Arbeiterdemokratie und<br />
den Liberalen bevor. Die Volkstümler werden wohl kaum so viel Kraft<br />
haben, um selbständig aufzutreten: Allzu eifrig haben sie sich schon selbst<br />
„liquidiert", indem sie der Linie unserer Liquidatoren folgen. Deshalb ist<br />
den Arbeiterdemokraten die Unterstützung der bürgerlichen Demokratie<br />
(der Trudowiki und der Volkstümler) fast gewiß, wenn nicht im ersten<br />
Stadium der Wahlen, so jedenfalls im zweiten Wahlgang.<br />
Die Liberalen haben aus Petersburg ihren Führer, Herrn Miljukow.<br />
Sie hatten bisher eine große Mehrheit. Die finanziellen Mittel, die ihnen<br />
die liberal-monarchistische Bourgeoisie zukommen läßt, die Mittel der<br />
Agitation in Gestalt von zwei Tageszeitungen, eine faktisch geduldete, de<br />
facto nahezu legalisierte Organisation - all das verschafft den Kadetten<br />
riesige Vorteile.<br />
Auf der Seite der Arbeiter sind die Arbeitermasse, der konsequente und<br />
ehrliche Demokratismus, die Energie und die Hingabe für die Sache des<br />
Sozialismus und der Arbeiterdemokratie. Die Arbeiter können siegen,<br />
wenn sie sich auf diese Kräfte stützen und über eine Arbeitertageszeitung<br />
verfügen. Der Kampf der Arbeiter um die Deputiertensitze von Petersburg<br />
erlangt zweifellos in der ganzen Wahlkampagne zur IV. Duma riesige<br />
und gesamtrussische Bedeutung.<br />
Die Freunde von Gerüchten über eine „Vereinigung" der ganzen Opposition<br />
- von den Progressisten und Kadetten bis zu dem vorsichtigschlauen<br />
Liquidator Martow und den plump-naiven Prokopowitsch und<br />
Akimow -, alle suchen die Frage der Wahlen in Petersburg zu umgehen<br />
oder im dunkeln zu lassen. Sie umgehen das politische Zentrum und verlieren<br />
sich gern in politische, sozusagen, Bärenwinkel. Sie reden viel, eifrig<br />
und gewandt davon, was angebracht sein wird im zweiten Stadium der<br />
Wahl, d. h. wenn der grundlegende, wichtigste, entscheidende Teil der<br />
Wahlkampagne schon vorbei ist - und sie „schweigen beredt" über<br />
Petersburg, das die Kadetten erobert haben und das man von ihnen<br />
zurückerobern und der Demokratie wiedergeben muß.<br />
Deputierte der Demokratie von Petersburg gab es weder nach dem Gesetz<br />
vom 11. Dezember 1905 41 noch nach dem Gesetz vom 3. Juni 1907 42 ,<br />
so daß das Wort wiedergeben hier fehl am Platze scheint. Doch gehört<br />
Petersburg der Demokratie nach dem ganzen Verlauf der ganzen Befreiungsbewegung<br />
in Rußland, und auf einer bestimmten Stufe ihrer Ent-
Die 'Bedeutung der Wahlen in Petersburg 131<br />
wicklung wird nidht einmal der unerhört hohe Damm des Wahlgesetzes<br />
vom 3. Juni die „demokratische Flut" aufhalten können.<br />
Die meisten Wähler der 2. Kurie entstammen zweifellos den demokratischen<br />
Schichten der Bevölkerung. Die Kadetten ziehen sie an sich, wobei<br />
sie sie direkt betrügen, indem sie sich, die liberal-monarchistische Partei<br />
der Bourgeoisie, für die Demokratie ausgeben. Einen solchen Betrug praktizierten<br />
und praktizieren alle Liberalen der Welt bei den Wahlen zu<br />
allen und jeglichen Parlamenten. Und die Arbeiterparteien aller Länder<br />
messen ihre Erfolge im übrigen daran, inwieweit es ihnen gelingt, die kleinbürgerliche<br />
Demokratie dem Einfluß der Liberalen zu entreißen.<br />
Diese Aufgabe müssen sich auch die russischen Marxisten mit aller<br />
Klarheit und Bestimmtheit ein für allemal stellen. In bezug auf die großen<br />
Städte haben sie deshalb in ihren bekannten Januarbeschlüssen direkt<br />
gesagt, daß Blocks hier, da es offensichtlich keine Schwarzhundertergefahr<br />
gibt, nur mit den Demokraten gegen die Liberalen zulässig sind.* Dieser<br />
Beschluß „packt den Stier bei den Hörnern". Er gibt eine direkte Antwort<br />
auf eine der wichtigsten Fragen der Wahltaktik. Er bestimmt den Qeist,<br />
die Richtung, den Charakter der ganzen Wahlkampagne.<br />
Einen groben Fehler machen umgekehrt diejenigen Liquidatoren, die<br />
von den Kadetten gern als von „Vertretern" der „städtischen Demokratie"<br />
reden. Solches Gerede verfälscht die Sache: die Wahlsiege der Liberalen<br />
über die Demokraten, die Wahlbetrügereien der Liberalen an den demokratischen<br />
Wählern werden dergestalt als Beweise für den „Demokratismus"<br />
der Kadetten ausgegeben. Als ob Europa nicht Dutzende von Beispielen<br />
dafür kennte, wie antidemokratische Parteien jahrelang verschiedene<br />
demokratische Schichten am Gängelband führten, bis wirkliche bürgerliche<br />
Demokraten, meistens aber Sozialdemokraten, diese Schichten<br />
dem Einfluß der ihnen ihrer Geisteshaltung nach fremden politischen Parteien<br />
entrissen.<br />
Der Wahlkampf in Petersburg ist ein Kampf zwischen den Liberalen<br />
und der Arbeiterdemokratie um die Hegemonie in der ganzen Befreiungsbewegung<br />
Rußlands.<br />
Diese außerordentlich wichtige Rolle der Petersburger Wahlen führt<br />
uns übrigens zu zwei praktischen Schlußfolgerungen. Wem viel gegeben<br />
ist, von dem wird viel gefordert. Die Petersburger Arbeiter müssen die<br />
* Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 17, S. 461. Die -<strong>Red</strong>.
132 W.1. <strong>Lenin</strong><br />
i<br />
Wahlkampagne in Petersburg in der 2. städtischen Kurie im Namen der<br />
ganzen Arbeiterdemokratie ganz Rußlands führen. Ihnen fällt eine große<br />
und schwere Aufgabe zu. Sie geben das Beispiel. Sie müssen ein Höchstmaß<br />
an Initiative, Energie und Beharrlichkeit an den Tag legen. Sie haben<br />
das mit der Arbeitertageszeitung getan. Sie müssen die großartig begonnene<br />
Sache auch bei den Wahlen fortsetzen.<br />
Ganz Rußland richtet seine Aufmerksamkeit auf den Wahlkampf in<br />
Petersburg. Und ganz Rußland muß Petersburg Hilfe leisten. Ohne die<br />
möglichst vielseitige Hilfe von allen Ecken und Enden Rußlands werden<br />
die Petersburger Arbeiter den „Feind" allein nicht überwältigen können.<br />
.Newskaja Swesda" 3Vr. 15, Tiado dem 7ext der<br />
i. "Juli i9i2. „Newskaja Swesda".<br />
Unterschrift: 7. 7.
EIN VERGLEICH DES<br />
STOLYPINSCHEN AGRARPROGRAMMS<br />
MIT DEM DER VOLKSTÜMLER<br />
133<br />
In den vorhergehenden Artikeln (siehe „Newskaja Swesda" Nr. 3 und<br />
6)* brachten wir die Hauptdaten, die den Grandbesitz im Europäischen<br />
Rußland charakterisieren, und umrissen das Wesen der Agrarfrage in<br />
Rußland. Die mittelalterlichen Verhältnisse im Grundbesitz beseitigen,<br />
darauf läuft dieses Wesen hinaus.<br />
Der Widerspruch zwischen dem Kapitalismus, der in der ganzen Welt<br />
und auch bei uns in Rußland herrscht, und dem mittelalterlichen Qrundbesitz,<br />
dem gutsherrlichen Besitz wie dem bäuerlichen Anteilbesitz, ist<br />
unversöhnlich. Der alte, mittelalterliche Grundbesitz muß unter allen Umständen<br />
beseitigt werden, und je entschiedener, erbarmungsloser, kühner<br />
das geschieht, um so besser für die ganze Entwicklung Rußlands, am so<br />
besser für die Arbeiter und für die Bauern, die jetzt nidht nur vom Kapitalismus<br />
unterdrückt-und geknechtet werden, sondern auch durch die unzähligen<br />
Überreste des Mittelalters.<br />
Es fragt sich nun, wie kann man bei einer solchen Lage der Dinge das<br />
Stolypinsche Agrarprogramm mit dem der Volkstümler vergleichen? Ist<br />
nicht das eine der völlige Gegensatz des anderen?<br />
Jawohl, aber dieser Gegensatz schließt nicht aus, daß sich das Stolypinsche<br />
Agrarprogramm und das der Volkstümler in einem wesentlichen<br />
Punkt gleichen. Beide Programme geben nämlich zu, daß man den alten<br />
Grundbesitz beseitigen muß. Das Alte muß beseitigt werden, und das<br />
möglichst rasch und entschieden, sagen die Verfechter der Stolypinschen<br />
„Flurbereinigung", wobei man aber so vorgehen müsse, daß die ganze<br />
Last der Mehrheit der Bauern, den am meisten ruinierten, am meisten<br />
* Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 17-20 und 60-64. Die "<strong>Red</strong>.
134 'W.I.L.enin<br />
verelendeten Bauern zufällt. Die Gutsbesitzer sollen dabei nichts verlieren.<br />
Ist es nicht zu vermeiden, daß sie einen Teil ihrer Ländereien verlieren,<br />
so dürfen diese nur dann enteignet werden, wenn die Gutsbesitzer<br />
freiwillig zustimmen und eine vom Standpunkt der Gutsbesitzer „gerechte"<br />
Einschätzung erfolgt. Die wohlhabenden Bauern sollen eine<br />
Unterstützung erhalten, die Ruinierung der Masse der „schwachen" aber<br />
braucht man nicht zu scheuen.<br />
Das ist das Wesen des Stolypinschen Agrarprogramms. Der Rat des<br />
vereinigten Adels, der Stolypin das Programm vorgeschrieben hat, handelte<br />
als echter Vertreter von Reaktionären - nicht von Schwätzern, sondern<br />
von Männern der Tat. Der Rat des vereinigten Adels war seinen<br />
Klasseninteressen durchaus treu, als er beschloß, auf die Starken zu setzen.<br />
Und in der Tat, nach 1905 war klargeworden, daß Polizei und Bürokratie<br />
allein keinen genügenden Schutz vor den Bauern bieten.<br />
Wo konnte der Rat des vereinigten Adels noch Verbündete suchen?<br />
Nur unter der kleinen Minderheit der wohlhabenden Bauern, der „Kulaken",<br />
der „DorfWucherer". Andere Verbündete auf dem Lande konnte<br />
er nicht finden. Und um die „neuen Gutsbesitzer" für sich zu gewinnen,<br />
scheuten sich die Reaktionäre nicht, ihnen das ganze "Dorf buchstäblich<br />
zum Plündern auszuliefern.<br />
Muß schon etwas beseitigt werden, so laßt uns den Anteilbesitz zu<br />
unseren Gunsten und zugunsten der neuen Qutsbesitzer beseitigen - das<br />
ist der Kern der Agrarpolitik, die der Rat des vereinigten Adels Stolypin<br />
diktiert hat.<br />
Rein theoretisch gesprochen muß man jedoch zugeben, daß ein nicht<br />
minder entschiedenes, ja sogar ein noch viel entschiedeneres Vorgehen auch<br />
von der anderen Seite her möglich ist. Jedes Ding hat zwei Seiten. Wenn<br />
zum Beispiel die 70 Millionen Desjatinen Land, die 30 000 Gutsbesitzern<br />
gehören, den 10 000 000 Bauernhöfen zusätzlich zu ihren 75 Millionen<br />
Desjatinen zugeteilt würden, wenn die einen wie die anderen Ländereien<br />
zusammengetan und dann zwischen den wohlhabenden und mittleren<br />
Bauern aufgeteilt würden (die Dorfarmut hätte ohnehin nichts zum<br />
Pflügen, Säen, Düngen, zur Bodenbestellung), was wäre das Ergebnis<br />
einer solchen Umwandlung?<br />
Man stelle diese Frage vom rein ökonomischen Standpunkt, man betrachte<br />
diese prinzipielle Möglichkeit unter dem Gesichtswinkel der all-
Ein Vergleich des Stolypinsdhen Agrarprogramms mit dem der Volkstümler 135<br />
gemeinen Bedingungen der kapitalistischen Wirtschaft in der ganzen<br />
Welt. Man wird sehen, daß das Ergebnis der von uns vorgeschlagenen<br />
Umwandlung eine konsequentere, entschiedenere, erbarmungslosere Beseitigung<br />
des mittelalterlichen Grundbesitzes wäre, als es im Programm<br />
Stolypins vorgesehen ist.<br />
Warum gerade des mittelalterlichen und nur des mittelalterlichen?<br />
Weil der kapitalistisdbe Grundbesitz dem Wesen der Sache nach durch<br />
keinen Besitzwechsel, ja nicht einmal durch den Übergang sämtlicher Ländereien<br />
in die Hände des Staates (in der Wissenschaft der politischen<br />
Ökonomie „Nationalisierung" des Bodens genannt) aufgehoben werden<br />
kann. Kapitalistischer Grundbesitz ist Grundbesitz desjenigen, der über<br />
Kapital verfügt und sich am besten dem Markt anpaßt. Wem auch immer<br />
der Grund und Boden als Eigentum gehören möge, dem alten Gutsbesitzer,<br />
dem Staat oder dem Bauern mit Anteilland - der Grund und Boden wird<br />
immer in die Hände des Landwirts geraten, der ihn jederzeit pachten<br />
kann. Die Pacht gedeiht in alten kapitalistischen Ländern bei den mannigfachsten<br />
Formen des Grundbesitzes. Keinerlei Verbote können den Kapitalisten,<br />
den Landwirt, der über Kapital und Kenntnis des Marktes verfügt,<br />
daran hindern, sich Land anzueignen, solange der Markt die gesamte<br />
gesellschaftliche Produktion beherrscht, d. h. solange diese Produktion<br />
kapitalistisch bleibt.<br />
Mehr noch. Die Bodenpacht ist für den reinen Kapitalismus, für die<br />
vollständigste, freieste, „idealste" Anpassung an den Markt sogar bequemer<br />
als das Grundeigentum. Warum? Weil das private Grundeigentum<br />
den Besitzwechsel des Grund und Bodens erschwert, die Anpassung<br />
der Bodennutzung an die Marktverhältnisse hemmt, den Boden an die<br />
betreffende Familie oder Person und ihre Erben bindet, selbst -wenn sie<br />
schlechte Landwirte wären. Die Pacht ist eine elastischere Form, bei der<br />
sich die Bodennutzung am einfachsten, am leichtesten, am schnellsten dem<br />
Markt anpaßt.<br />
Aus diesem Grunde bildet übrigens England keine Ausnahme von den<br />
anderen kapitalistischen Ländern, sondern hat die vom Standpunkt des<br />
Kapitalismus vollkommenste Agrarverfassung, wie Marx in seiner Rodbertus-Kritik<br />
zeigt. 43 Und worin besteht die Agrarverfassung Englands?<br />
Im alten Grundbesitz, im Landlordismus, bei neuer, freier, rein kapitalistischer<br />
Pacht.
136 W. I.<strong>Lenin</strong><br />
Und wenn dieser Landlordismus ohne Landlords existierte, d. h. wenn<br />
der Grund und Boden nicht Eigentum der Landlords, sondern des Staates<br />
wäre? So wäre das eine vom Standpunkt des Kapitalismus noch vollkommenere<br />
Agrarverfassung, mit einer noch freieren Anpassung der Bodennutzung<br />
an den Markt, mit einer noch leichteren Mobilisierung des Bodens<br />
als Wirtschaftsobjekt, mit einer noch größeren Freiheit, Breite, Klarheit<br />
und Bestimmtheit des Klassenkampfes, der Bestandteil jedes kapitalistischen<br />
Grundbesitzes ist.<br />
Und je mehr nun das betreffende Land hinter dem Weltkapitalismus<br />
zurijj&geblieben ist, je größere Anstrengungen es machen muß, um die<br />
Nachbarn einzuholen, je mehr es seine „Krankheit", mittelalterlichen<br />
Grundbesitz und versklavende Kleinwirtschaft, „verschleppt" hat, je dringender<br />
es die radikale Beseitigung all seiner Grundbesitzverhältnisse, die<br />
Umwandlung seiner ganzen Agrarverhältnisse nötig hat - um so natürlicher<br />
ist es, daß in einem solchen Lande unter der Landbevölkerung alle<br />
möglichen Ideen und Pläne zur Nationalisierung des Grund und Bodens<br />
entstehen und weite Verbreitung finden.<br />
Das Jahr 1905 wie die ersten beiden Dumas haben unzweideutig bewiesen,<br />
und die III. Duma hat indirekt durch ihre (von den Gutsbesitzern<br />
gesiebten) „Bauern"deputierten bestätigt, daß in der russischen Landbevölkerung<br />
alle möglichen Ideen und Pläne zur Nationalisierung des<br />
Grund und Bodens überaus weit verbreitet sind. Bevor man diese Ideen<br />
billigt oder mißbilligt, muß man sich fragen, weshalb sie eine so weite<br />
Verbreitung erfahren haben, weldhe wirtschaftliche Notwendigkeit sie<br />
hervorgebracht hat.<br />
Es genügt nicht, diese Ideen vom Standpunkt ihrer inneren Geschlossenheit,<br />
Harmonie oder theoretischen Richtigkeit zu kritisieren. Man muß sie<br />
vom Standpunkt der wirtschaftlichen Notwendigkeit kritisieren, die in<br />
diesen Ideen ihre Widerspiegelung gefunden hat, mag diese Widerspiegelung<br />
manchmal noch so „wunderlich", falsch und „verzerrt" sein.<br />
Die wirtschaftliche Notwendigkeit, die die Ideen der Nationalisierung<br />
des Grund und Bodens in der russischen Bauernschaft Anfang des 20. Jahrhunderts<br />
hervorgebracht hat, ist die Notwendigkeit der raschen Beseitigung<br />
des alten Grundbesitzes. Die Ideen der „ausgleichenden Verteilung"<br />
des ganzen Grund und Bodens sind die Ideen der Qleidbbeit, die im<br />
Kampf gegen die Überreste der Leibeigensdiaft notwendigerweise ent-
Ein Vergleidh des Stolypinsdhen Jgrarprogramms mit dem der Volkstümler 137<br />
stehen und die unvermeidlich auf den Grund und Boden Obertragen werden,<br />
wenn 30 000 Nachkömmlinge der Fronherren 70 Millionen Desjatinen<br />
und 10 000 000 versklavte Bauern 75 Millionen Desjatinen besitzen.<br />
Die Überführung der ersten Ländereien in die Kategorie der zweiten<br />
oder vielmehr in die Hände der Besitzer der zweiten ist keineswegs<br />
utopisch. Utopisch ist lediglich der Wunschtraum von einer Gleichheit der<br />
Grundbesitzer, solange die Herrschaft des Marktes besteht, utopisch ist<br />
der Wunschtraum von einem allen „Bürgern und Bürgerinnen" (einschließlich<br />
der Nichtlandwirte) im Kapitalismus zustehenden „<strong>Red</strong>bt auf Grund<br />
und Boden". Aber das Utopische dieser Ideen darf uns nicht die echte,<br />
lebendige Realität dessen vergessen lassen, was hinter ihnen in der Praxis<br />
verborgen ist.<br />
Die Aufhebung aller mittelalterlichen Unterschiede des Grundbesitzes<br />
- des gutsherrlichen, des Anteilbesitzes usw. - enthält nichts Utopisches.<br />
Der Bruch mit den alten Agrarverhältnissen enthält nichts Utopisches. Im<br />
Gegenteil, gerade die Entwicklung des Kapitalismus erfordert aufs dringlichste<br />
einen solchen Bruch. Es kann im Kapitalismus weder eine „ausgleichende<br />
Verteilung" nodh eine „Sozialisierung" des Bodens geben. Das<br />
ist eine Utopie.<br />
Eine Nationalisierung des Grund und Bodens im Kapitalismus ist ökonomisch<br />
durchaus möglich, und ihre rede Bedeutung würde in jedem<br />
Falle, d. h. wie, durch wen, unter welchen Bedingungen sie auch durchgeführt<br />
würde, ob sie eine dauerhafte und für lange Zeit bestehende<br />
Maßnahme wäre oder vorübergehend und für kurze Zeit Wirksamkeit<br />
erlangte - ihre reale Bedeutung würde in jedem Falle in der maximalen<br />
Beseitigung alles Mittelalterlichen im russischen Grundbesitz und in den<br />
russischen Agrarverhältnissen, in der freiesten Anpassung der neuen<br />
Bodennutzung und des neuen Grundbesitzes an die neuen Bedingungen<br />
des Weltmarktes bestehen.<br />
Stellen wir uns für einen Augenblick die Verwirklichung des Planes der<br />
linken Volkstümler wenigstens dergestalt vor, daß sämtliche Ländereien<br />
unter alle Bürger und Bürgerinnen zu gleichen Teilen aufgeteilt werden.<br />
Eine solche Aufteilung im KapitalismusJst ganz und gar absurd. Sie wäre<br />
nicht von Bestand, könnte sich im Kapitalismus nicht einmal ein Jahr lang<br />
halten. Heißt das aber, daß ihre Ergebnisse gleich Null wären oder ein<br />
Minus bedeuten würden?<br />
10 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>
138 W.3.£enin<br />
Keineswegs! Ihre Ergebnisse wären ein riesiges Plus - durchaus nicht<br />
ein Plus, wie es die linken Volkstümler erwarten, sondern ein überaus<br />
reales Plus. Dieses Plus würde darin bestehen, daß jegliche Unterschiede<br />
zwischen den jetzigen Standes- und Rangformen des Grundbesitzes aufgehoben<br />
würden. Das wäre ein Riesengewinn für die ganze Volkswirtschaft,<br />
für den Kapitalismus, für das Proletariat, denn es gibt nichts<br />
Schädlicheres für die Entwicklung Rußlands als unseren alten, gegenwärtigen<br />
Grundbesitz. Der gutsherrliche Grundbesitz wie der Anteilbesitz<br />
sind durdh und duräo fronherrschaftliche Formen des Grundbesitzes.<br />
Ihre ausgleichende Neuverteilung wäre nicht von Bestand, aber die<br />
Jlüdkkebr zum alten wäre unmöglich! Die einmal beseitigten Raine würde<br />
keine „Restauration" wiederherstellen. Keine politische Macht der Welt<br />
könnte die Errichtung neuer Raine, Grenzen, Formen der Bodennutzung<br />
verhindern, die den neuen Erfordernissen des Marktes entsprechen.<br />
„Die alten Schranken niederreißen", sagte ein linker Volkstümler, wie<br />
ich mich entsinne, in der II. Duma. Er glaubte, daß es dadurch zu einer<br />
„ausgleichenden Bodennutzung" kommen würde. Er irrte. Aber aus seinem<br />
TAunde — so ist die Ironie der Geschichte! - sprach der konsequenteste und<br />
unerschrockenste, der radikale "Bourgeois, der die Absurdität der alten,<br />
mittelalterlichen „Trennwände" unseres „AnteiT'besitzes, unseres „adligen",<br />
„kirchlichen" usw. usf. Besitzes fühlt, der die Notwendigkeit sieht,<br />
alle diese Trennwände niederzureißen für eine neue Aufteilung des<br />
Bodens. Nur wird das nicht „nach Köpfen" geschehen, wie es der Volkstümler<br />
erträumt, sondern nadh dem Kapital, wie es der Markt vorschreibt.<br />
Die konstruktiven Pläne der Volkstümler sind utopisch. Aber ihre konstruktiven<br />
Pläne enthalten ein Element der Zerstörung, was das Mittelalter<br />
betrifft. Und dieses Element ist keineswegs utopisch. Es ist lebendigste<br />
Realität. Es ist die konsequenteste und progressivste Realität vom Standpunkt<br />
des Kapitalismus und des Proletariats.<br />
Fassen wir unsere Ansichten kurz zusammen. Die reale Übereinstimmung<br />
zwischen dem Stolypinschen Agrarprogramm und dem der Volkstümler<br />
besteht darin, daß beide den alten, mittelalterlichen Grundbesitz<br />
radikal beseitigen. Und das ist sehr gut. Nichts anderes ist er wert. Am<br />
reaktionärsten sind die Kadetten von der „Retsdb" und den „Russkije<br />
Wedomosti", die Stolypin deswegen Vorwürfe machen — anstatt die Notwendigkeit<br />
eines noch konsequenteren und entschiedeneren Vorgehens zu
Ein Vergleidh des Stolypinsdhen Agrarprogramms mit dem der Volkstümler 139<br />
beweisen. Wir werden in einem folgenden Artikel sehen, daß ein Vorgehen<br />
im Sinne Stolypins die Schuldknechtschaft und die Abarbeit nidbt<br />
beseitigen kann, daß aber ein Vorgehen im Sinne der Volkstümler dazu<br />
imstande ist.*<br />
Wir wollen einstweilen bemerken, daß das einzige durchaus reale Ergebnis<br />
der Stolypinschen Methode die Hungersnot ist, die 30 Millionen<br />
betroffen hat. Und wer weiß, ob die Stolypinsche Methode dem russischen<br />
Volk nicht beibringen wird, wie man entschiedenervorgehen muß. Zweifellos<br />
wird es daraus lernen. Ob es die Lehren ziehen wird - wir werden es<br />
sehen.<br />
„ftewskaja Swesda" Nr. 15, TJadh dem Text der<br />
1. Juli i9i2. „TJewskaja Swesda".<br />
Wntersdtrift: JL S.<br />
* Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 237-242. Die <strong>Red</strong>.
140<br />
DIE LAGE IN DER SDAPR<br />
UND DIE NÄCHSTEN AUFGABEN<br />
DER PARTEI<br />
Die SDAPR hat unerhört schwere Jahre wütender Konterrevolution<br />
hinter sich und ist jetzt auf dem richtigen Wege zur Wiederherstellung<br />
ihrer Organisation, zur Stärkung ihrer Kräfte und des führenden Einflusses<br />
auf das russische Proletariat, das 1905 der Selbstherrschaft wuchtige<br />
Schläge versetzt hat und sie in der kommenden Revolution vernichten<br />
wird. :<br />
Die schweren Jahre von 1908 bis 1911 waren Jahre der Spaltung; eben<br />
in dieser Zeit löste sich von der SDAPR der jetzige Hauptvorstand der<br />
Sozialdemokratie Polens und Litauens, die 1906 unserer Partei beigetreten<br />
war und gemeinsam mit uns Bolschewiki den menschewistischen<br />
Opportunisten entgegentrat.<br />
Die sozialdemokratischen Arbeiter Polens müssen dieses Abrücken des<br />
jetzigen Hauptvorstands von der SDAPR kritisch beurteilen. Daher<br />
greife ich sehr gern den Vorschlag des Warsdhauer Komitees der SDPuL<br />
auf, in der „Gazeta Robotnicza" 44 eine kurze Darstellung der Ursachen<br />
der Spaltung in der Partei und der traurigen Rolle zu geben, die dabei der<br />
jetzige Hauptvorstand gespielt hat, und in diesem Zusammenhang die<br />
nächsten Aufgaben des sozialdemokratischen Proletariats ganz Rußlands<br />
darzulegen.<br />
I<br />
Die Genossen polnischen Arbeiter kennen die Meinungsverschieden-,<br />
heiten zwischen den Bolschewiki und den Menschewiki zur Zeit der Revolution<br />
von 1905. Einige hervorragende Vertreter der SDPuL, wie zum<br />
Beispiel Rosa Luxemburg, standen zunächst, 1904, auf der Seite der
Die Lage in der SDJPR 141<br />
Menschewiki, aber die Revolution, die klar den Opportunismus der Menschewiki<br />
bewies, offenbarte bald ihren Fehler.<br />
Mit der Konterrevolution der Jahre 1908-1911 begann eine neue<br />
Etappe in der Geschichte Rußlands. Die alte Selbstherrschaft machte einen<br />
weiteren Schritt in Richtung der bürgerlichen Monarchie. Es entstand eine<br />
Duma der Gutsbesitzer und der Großbourgeoisie. Der Zarismus verlor<br />
noch nicht seinen fronherrschaftlichen Charakter, betrieb aber eine bürgerliche<br />
Agrarpolitik, die möglichst rasch das private Grundeigentum einführen<br />
sollte - um den Preis einer unerhörten Ruinierung und der Vertreibung<br />
von Millionen von Bauern. Der bürgerliche Liberalismus vollzog<br />
eine jähe Wendung zur Konterrevolution und feierte wahre Orgien an<br />
Abtrünnigkeit.<br />
Unter der Intelligenz herrschten allgemein und mehr denn je Spaltung<br />
und Zerfahrenheit. Das Proletariat wurde vom Zarismus, der für die<br />
Revolution Rache nahm, verfolgt und von den Renegaten mit Strömen von<br />
Verleumdnngea überschüttet.<br />
Die SDAPR hatte die Aufgabe, die revolutionäre sozialdemokratische<br />
Partei der Arbeiterklasse zu erhalten und sich zugleich den neuen Bedingungen<br />
der Arbeit anzupassen.<br />
Gleich die ersten Schritte zur Lösung dieser Aufgabe enthüllten neue<br />
antiproletarische Strömungen in der SDAPR, die die Existenz der Partei<br />
selbst untergruben. Sie waren hervorgegangen ans der historischen Situation<br />
unserer Konterrevolution. Diese bürgerlichen Strömungen sind das<br />
Licfuidatorentum und der Otsowismus.<br />
Erfaßt von der Welle der bürgerlichen Desertion, schworen die Liquidatoren<br />
der Revolution ab. Sie machten ein Kreuz über die illegale Partei,<br />
suchten sich den einzig legalen Boden in dem sozusagen „konstitutionellen"<br />
Regierungsregime des 3. (16.) Juni und propagierten seine konstitutionelle<br />
Erneuerung. Eine „legale Arbeiterpartei" und Losungen konstitutioneller<br />
Reformen — das war das Wesen ihrer Politik. Das war keine<br />
sozialdemokratische, sondern eine Überale Arbeiterpolitik.<br />
Natürlich ist es einfach lächerlich, die Liquidatoren mit den westeuropäischen<br />
Opportunisten innerhalb der sozialdemokratischen Arbeiterparteien<br />
zu vergleichen (wie es der" jetzige Hauptvorstand unter dem Einfluß<br />
Tyszkas tut). Unsere Liquidatoren erkennen die Partei in ihrer illegalen,<br />
d. h. jetzigen, Form nicht an und organisieren eine neue legale
142 W.1.£enin<br />
Partei. Das ist keine Strömung innerhalb der Partei, sondern ein Abrücken<br />
von der Partei. Die offene Absage an die Partei und ihre Zerstörung<br />
durch die Liquidatoren riefen bei den Menschewiki selber heftigen<br />
Protest hervor. Die menschewistischen Arbeiter in Rußland sind nidbt den<br />
Liquidatoren gefolgt, und im Ausland stellte sich der Menschewik Plechanow<br />
an die Spitze der „parteitreuen" Menschewiki (der Antiliquidatoren).<br />
Plechanow hat jetzt in der Presse offen und unzweideutig erklärt, daß die<br />
Liquidatoren eine neue Partei organisieren.<br />
Zur Information der pohlischen Arbeiter ergänzen wir, daß die wichtigsten<br />
Organe der Liquidatoren im Ausland der „Golos Sozial-Demokrata"<br />
45 (Martow, Dan, Axelrod und andere ,,Golos"-Leute) und in Rußland<br />
die „Nascha Sarja" (Potressow, Lewizld, Tscherewanin u. a.) sind.<br />
Die „Otsowisten" („Abberufler" - abgeleitet von: die sozialdemokratischen<br />
Abgeordneten aus der III. Duma abberufen) boykottierten die<br />
III. Duma, sie begriffen nicht die Notwendigkeit, die Damatribüne und<br />
alle „legalen Möglichkeiten" für die revolutionäre sozialdemokratische<br />
Arbeit auszunutzen. Aus den Losungen der revolutionären Taktik von<br />
1905 machten sie inhaltslose Phrasen. Die Erfahrungen zeigten bald, daß<br />
der Boykott der III. Duma ein Unsinn war, der die sozialdemokratischen<br />
russischen Boykottisten selbst gegen ihren Willen zum Anarchismus führte.<br />
War die Mehrheit der Bolschewiki' im Sommer 1907 für den Boykott, so<br />
verstand sie es doch schon im Frühjahr 1908, die Lehren zu ziehen, und<br />
erteilte der Agitation der „Otsowisten" in Petersburg und Moskau eine<br />
schwere Abfuhr. Nach dieser völligen Niederlage in Rußland fristeten die<br />
Otsowisten und ihre Verteidiger, zusammengeschlossen in dem völlig<br />
ohnmächtigen „Wperjod"-Grüppchen (Lunatscharski, Alexinsldu. a.), ein<br />
kümmerliches Leben im Ausland.<br />
Es erübrigt sich hinzuzufügen, daß infolge der Schwäche der Mehrheit<br />
der Organisationen in Rußland, infolge der Loslösung der ausländischen<br />
Gruppen von der Arbeit in Rußland die meisten dieser Gruppen völlig<br />
„frei" die Partei zerstörten und zersetzten, daß sie keinerlei Disziplin<br />
anerkannten und von keiner Organisation in Rußland ein Mandat zur<br />
Leitung eines Organs, zur Herausgabe von Broschüren und Proklamationen<br />
hatten. Außer Grüppchen mit unterschiedlichen prinzipiellen Auffassungen<br />
entstanden — wie es natürlich ist — einzelne völlig prinzipienlose<br />
Grüppchen, die unter dem Schein der „Versöhnung" und der „Vereini-
Die Lage in der SDAPR 143<br />
gung" der Partei bestrebt waren, durch Maklertum, Winkeldiplomatie<br />
und Intrigen politisches Kapital zu erwerben. Große Meister auf diesem<br />
Gebiet waren Trotzki mit der Wiener „Prawda" und Tyszka mit dem<br />
Hauptvorstand.<br />
II<br />
Die SDAPR stand vor der Frage, wie die Partei wiederherzustellen sei.<br />
Natürlich konnte man die Partei weder zusammen mit denen wiederherstellen,<br />
die die Partei liquidieren wollten, noch mit denen, die die Duma<br />
und die legalen Möglichkeiten boykottierten; entweder mußten die ausländischen<br />
Grüppchen, die diese bürgerliche Politik betrieben, diese aufgeben<br />
und sich der überwiegenden Mehrheit der Organisationen, Gruppen<br />
und Zirkel in Rußland fügen, oder aber Rußland mußte die Partei wiederherstellen<br />
entgegen diesen ausländischen Grüppcben.<br />
Im Januar 1910 fand die letzte Plenartagung des ZK der SDAPR statt,<br />
die den Versuch machte, die sich von der Sozialdemokratie abspaltenden<br />
Liquidatoren und Otsowisten zu retten und auf den Weg der Parteiarbeit<br />
zu führen. Die Absurdität und der unsozialdemokratische Charakter beider<br />
Abweichungen waren so offensichtlich, daß es niemanden gab, der sie<br />
verteidigt hätte. Einstimmig wurde festgestellt, daß es sich um bürgerliche<br />
Strömungen handelt, daß nur die Abkehr von ihnen die Wiedergeburt der<br />
Partei ermöglicht.<br />
Ein einstimmiger Beschluß reicht aber nicht aus, wenn ihm nicht eine<br />
einheitliche Aktion folgt. Die Liquidatoren und Otsowisten mißachteten<br />
die Beschlüsse des ZK-Plenums und ließen in ihrer Zersetzungstätigkeit<br />
nicht nach, sondern verstärkten sie noch. So kämpfte für die Partei anderthalb<br />
Jahre lang (von Januar 1910 bis Juni 1911) ihr Zentralorgan unter<br />
der Führung der Bolschewiki und der Polen, wobei der Menschewik<br />
Plechanow den Kampf gegen die Liquidatoren energisch unterstützte.<br />
Qegen die Partei „arbeiteten" mit aller Kraft die Liquidatoren, die<br />
„Wperjod"-Leute, Trotzki und der „Bund". Die Letten schwankten,<br />
stellten sich aber häufiger auf die Seite der Liquidatoren.<br />
Die Liquidatoren gingen in ihrer Zersetzungstätigkeit so weit, daß sie<br />
das ZK der Partei zerstörten! Das Plenum beschloß, das ZK in Rußland<br />
wiederherzustellen und neue Mitglieder zu kooptieren - aber die Liquidatoren<br />
willigten nicht einmal ein, auch nur zu einer einzigen Sitzung zu
144 W. 3. <strong>Lenin</strong><br />
erscheinen, und erklärten eine illegale Partei wie ein illegales ZK für<br />
„schädlich". Kann man nach all dem aus einem anderen Grunde als um<br />
zu intrigieren die Liquidatoren mit den westeuropäischen Opportunisten<br />
vergleichen?<br />
Die Partei blieb ohne ZK. Der Zerfall der Partei war unausbleiblich.<br />
Sie wiederherzustellen waren nur die russischen, d. h. die in Rußland<br />
arbeitenden Organisationen imstande. Und hier gerade zeigte sich in<br />
ihrem ganzen Glanz die heuchlerische Intrigantenpolitik Tyszkas, der im<br />
Hauptvorstand die Anhänger einer prinzipielleren Politik majorisierte und<br />
den Hauptvorstand dazu brachte, mit der SDAPR zu brechen, so daß<br />
dieser schließlich eine Stellung zwischen der Partei und den Liquidatoren<br />
der Partei einnahm.<br />
Um diese Politik, die der polnischen sozialdemokratischen Bewegung<br />
Schaden zufügt, begreiflich zu machen, wollen wir zunächst eine Tatsache<br />
aus der Sphäre des ideologischen Kampfes in unserer Partei anführen.<br />
Das Plenum des ZK hat, wie wir oben zeigten, das Liquidatorentum<br />
einstimmig verurteilt. Aber ein Teil der wichtigsten Resolution (ihr sogenannter<br />
Paragraph 1) wurde in direkt entgegengesetztem Sinne abgefaßt;<br />
das kam den Liquidatoren zupaß. In diesem Paragraphen hieß es,<br />
daß die Sozialdemokratie gegenwärtig, d. h. zur Zeit der Konterrevolution,<br />
zum erstenmal voll und ganz die Methoden der internationalen Sozialdemokratie<br />
anwendet. Dieser Paragraph, der ein Schlupfloch für Renegatentheorien<br />
ließ, war von Tyszka vorgeschlagen worden, der zwischen<br />
den Liquidatoren und der Partei zu lavieren suchte. Natürlich unterstützten<br />
die Liquidatoren diesen Paragraphen wärmstens, halfen sie Tyszka zu<br />
„siegen"; ein Teil der Bolschewiki, die sogenannte Gruppe der „Versöhnler"<br />
(d. h. faktisch Trotzkisten), glitt ebenfalls zu den Liquidatoren ab.<br />
Nach dem Plenum spottete Plechanow trefflich und scharf über die<br />
„Aufgedunsenheit", Verschwommenheit und Allgemeinheit dieses Punktes<br />
(ohne zu wissen, wer sein Urheber war). Ich nahm nach Plechanow Stellung<br />
und berichtete von meinem erfolglosen Kampf gegen den Bund<br />
Tyszkas mit den „Versöhnlern" und Liquidatoren.*<br />
Kein einziger der zahlreichen Publizisten des Hauptvorstands hat in<br />
den letzten zwei Jahren auch nur ein Wort zur Verteidigung dieses Paragraphen<br />
gesagt.<br />
* Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 16, S. 226-232. Die -<strong>Red</strong>.
Die Lage in der SDJPR 145<br />
Tyszkas Lavieren führte einzig nnd allein zu einer liquidatorischen<br />
Entstellung der Auffassungen der Partei. -<br />
Noch trauriger waren die Folgen dieser Politik in der Organisationsfrage.<br />
Ein ZK existiert nicht. Die Partei wiederherstellen kann nur eine<br />
Konferenz der Organisationen in Rußland. Wie aber soll man eine Konferenz<br />
einberufen? Offenkundig nidit zusammen mit denen, die die Partei<br />
liquidieren, sondern ohne sie.<br />
Tyszka balanciert, laviert und macht in „Vereinigung" der Partei mit<br />
denen, die sie liquidieren. Zuerst schließen sidb. Tyszka plus das „Versöhnler"grüppdien<br />
(ein völlig ohnmächtiges Auslandsgrüppchen, das ein<br />
volles Jahr lang von keiner einzigen Organisation in Rußland auch nur<br />
eine einzige Bestellung auf seine Druckerzeugnisse erhalten hat) den Bolsdiewiki<br />
an, sie übernehmen die Xontrolle der Einberufung der Konferenz,<br />
geben den Agenten, die die Konferenz einberufen sollen, Geld und<br />
schicken sie überallhin, wobei sie behaupten, sie würden die Partei „vereinigen"<br />
(eine Behauptung, die bei den Liquidatoren wie bei uns homerisches<br />
Gelächter erregt).<br />
Diese Agenten beginnen ihre Rundfahrt in "Kiew, wo die Organisation<br />
so eindeutig mensdiewistisch war, daß dies sogar unsere notorischen<br />
Feinde, Trotzki und die Letten, in der Presse zugegeben haben. Angesichts<br />
der zügellosen Angriffe der Liquidatoren auf unsere Konferenz müssen<br />
die polnischen Arbeiter wissen, daß eben unter Beteiligung der genannten<br />
Organisation die Russische Organisationskommission für die Einberufung<br />
der Konferenz gebildet wurde (im Oktober 1911). Und eben ein Delegierter<br />
dieser Organisation (Kiews) war auf der Konferenz Vorsitzender<br />
der Mandatsprüfungskommission!<br />
Es ist klar, daß in der Russischen Organisationskommission die Mehrheit<br />
von den Bolschewiki und einem Teil der „parteitreuen" (d. h. antiliquidatorischen)<br />
Menschewiki gebildet wird. Die anderen Grüppchen<br />
waren darin nicht vertreten, sind sie doch nur ausländische Fiktionen ohne<br />
Verbindungen in Rußland.<br />
Und da verläßt Tyszka aus Verzweiflung, daß er nicht vermitteln und<br />
intrigieren, nicht in Vereinigung mit den Liquidatoren machen kann, die<br />
ROK und erscheint trotz dreimaliger Einladung nicht zur Konferenz.<br />
Statt dessen nimmt er an einer Beratung der Liquidatoren 48 über die
146 IV. 7. Centn<br />
Einberufung einer anderen (liquidatorischen) Konferenz teil und... verläßt<br />
sie mit der Erklärung, daß dort Liquidatoren seien!! Ist solch ein<br />
„Versöhnler" etwa kein Komödiant?*<br />
III<br />
Die Januarkonferenz der SDAPR vereinigte die Mehrheit der Organi-'<br />
sationen in Rußland: Petersburg, Moskau, das Wolgagebiet und den Kaukasus,<br />
den Süden, die Westgebiete. Die Konferenz stellte fest, daß sich<br />
die Liquidatoren („Nascha Sarja") außerhalb der Partei gestellt haben.<br />
Die Konferenz lehnte jegliche Verantwortung für die Auslandsgrüppchen<br />
ab, die durch ihre Aktionen die Partei zersetzen.<br />
In ihren 23 Sitzungen erörterte die Konferenz eingehend alle Fragen<br />
der Taktik, sie nahm eine ganze Anzahl von Beschlüssen im Geiste der<br />
vorangegangenen vierjährigen Arbeit des Zentralorgans und aller führenden<br />
Parteiinstanzen an. Die Konferenz konstituierte sich als höchste<br />
Parteiinstanz und wählte ein Zentralkomitee.<br />
Daß die Liquidatoren und mit ihnen alle ohnmächtigen Auslandsgrüppchen<br />
gegen die Parteikonferenz Gift und Galle speien, ist durchaus begreiflich.<br />
Die Konferenz hat sie verurteilt. Jeder Verurteilte hat das Recht,<br />
24 Stunden lang auf seine Richter zu schimpfen.<br />
Aber es gibt weder ein anderes ZK nodb eine andere sozialdemokratische<br />
Partei in Rußland. Tyszka und der Hauptvorstand, die dieser Konferenz<br />
ausgewichen sind und den pohlischen Arbeitern versichern, daß es<br />
(unter Mitwirkung von Maklern) möglich sei, die Partei mit den Liquidatoren<br />
zu „vereinigen", betrügen die Arbeiter. Dieser Betrug beraubte die<br />
polnischen" Arbeiter der Möglichkeit, sich mit den russischen Genossen zu<br />
beraten, zusammen mit ihnen die Taktik und die Losungen in einem so<br />
wichtigen Augenblick zu erörtern, wie ihn der revolutionäre Aufschwung<br />
der April- und Maitage und die Wahlen zur IV. Duma kennzeichnen.<br />
Die Verstärkung des revolutionären Aufschwungs unter dem russischen<br />
* Der Hauptvorstand nennt im „Vorwärts" Trotzki einen Agenten der<br />
Liquidatoren und weist im „Czerwony Sztandar" [Rotes Banner] nach, daß eine<br />
Vereinignng nicht nur mit der liqnidatorischen PPS-Lewica, sondern auch mit<br />
dem liqtridatorischen „Bund" in Polen unmöglich sei!! Tyszka jedoch verspricht,<br />
die SDAPR mit den russischen Liquidatoren zu vereinigen.
Die Lage in der SDAVTL 147<br />
Proletariat ist offensichtlich. Diesen Prozeß fördern, die illegale Organisation<br />
festigen, der Bewegung die richtigen revolutionären Lösungen<br />
geben, dem Opportunismus der legalistischen Liquidatoren eine Abfuhr<br />
erteilen, die legalen Organisationen mit antiliquidatorischem Geist erfüllen<br />
und in dieser Richtung die Wahlen zur IV. Duma durchführen -<br />
das sind die nächsten Aufgaben, die die SDAPR gegenwärtig in der Praxis<br />
zu lösen hat, wobei ihre theoretische Stellung zu diesen Aufgaben von der<br />
Gesamtrussischen Januarkonferenz festgelegt wurde.<br />
Was die Richtung ihrer Arbeit betrifft, so marschieren die pohlischen<br />
revolutionären sozialdemokratischen Arbeiter gemeinsam mit uns. Ich<br />
erlaube mir daher zu schließen, indem ich der Überzeugung Ausdruck<br />
gebe, daß das Proletariat Polens es vermögen wird, sich trotz der prinzipiellen<br />
Schwankungen des gegenwärtigen Hauptvorstands auch organisatorisch<br />
mit uns, mit der SDAPR, zu vereinigen.<br />
Veröftentlidit am i6. "Juli i9l2 "Naäi dem 7ext der Zeitung,<br />
in der „ Qazeta Robotnicza" T^r. i5/i6. Aus dem Volnisdoen.<br />
Vntersdirift: 7$. <strong>Lenin</strong>.
148<br />
ANTWORT AN DIE LIQUIDATOREN«<br />
Die Liquidatoren vom „Newski Golos" schreiben sich die Finger wund,<br />
um die Einheit der Arbeiterwahlen in Petersburg zu zerstören. Das wird<br />
ihnen nicht gelingen. Das heuchlerische Geschrei nach „Einheit"... (von<br />
Seiten der £icfuidatoren!!') wird niemanden betrügen.<br />
Die Einheit der Arbeiterdemokratie ist gesichert.<br />
Die Arbeiter folgen nicht denen, die die Arbeiterdemokratie liquidieren<br />
und nur versprechen, sie zu ersetzen ... durch eine legale „Partei", die<br />
eine liberale Arbeiterpolitik betreibt. Die Einheit der Arbeitermassen,<br />
und nicht eine „Vereinbarung" auf Kosten dieser Einheit mit den intellektuellen<br />
Spalterzirkeln der Liquidatoren, das ist es, was die klassenbewußten<br />
Arbeiter wollen. Und die „Prawda"® folgt dieser Losung.<br />
Uns verwirren nicht die unwürdigen Ausfälle der Liquidatoren, die<br />
offen fragen, wo das zu „finden" ist, was sich der „Offenheit" nicht<br />
rühmt... Zimmert nur, Herrschaften, eure ,;offene" Plattform, baut eure<br />
neue, „legale" Partei, viel Glück auf den Weg!<br />
PS. Ich bitte dringend, mir umgehend oder möglichst bald auf die hier<br />
aufgeworfene Frage zu antworten. JAan darf nidbt schweigen. Man kann<br />
alles verderben und den Protest der Arbeiter von links hervorrufen, wenn<br />
man darüber schweigt. Man muß den Liquidatoren eine Abfuhr erteilen.<br />
Man kann keine Wahlen durchführen, wenn man verheimlicht, für<br />
wen diese Arbeit geleistet wird (doch nicht für die Liquidatoren?).<br />
Wollt Ihr „links" nicht alles verschärfen und verderben, so veröffentlicht<br />
diese „Antwort an die Liquidatoren". Solltet Ihr sie nidbt bringen, so<br />
schickt mir dieses Blatt unverzüglidh zurück. Das ist für mich wichtig !<br />
Qesdhrieben im "Juli 1912.<br />
Zuerst veröftentlidbt TJadh dem Manuskript.<br />
1933 im £enin-Sammelband XXV.
IN DER SCHWEIZ<br />
149<br />
Die Schweiz wird von den dortigen Sozialisten eine „Republik der<br />
Lakaien" genannt. Das kleinbürgerliche Land, in dem einer der wichtigsten<br />
Erwerbszweige seit eh und je das Gastwirtsgewerbe war, hing allzusehr<br />
von den reichen Tagedieben ab, die für Sommerreisen ins Gebirge<br />
Millionen hinauswerfen. Der vor dem reichen Touristen katzbuckelnde<br />
kleine Unternehmer war bis vor kurzem der häufigste Typ des schweizerischen<br />
Bourgeois.<br />
Jetzt ändert sich die Lage. In der Schweiz entwickelt sich eine Großindustrie.<br />
Eine große Rolle spielt bei diesem industriellen Aufschwung die<br />
Ausnutzung der Wasserfälle und der Gebirgsflüsse für die direkte Gewinnung<br />
von elektrischer Energie. „Weiße Kohle" nennt man häufig diese<br />
Kraft des herabstürzenden Wassers, die der Industrie die Steinkohle ersetzt.<br />
Die Industrialisierung der Schweiz, d. h. die Entwicklung einer einheimischen<br />
Industrie, einer Großindustrie, machte der früheren Stagnation<br />
der Arbeiterbewegung ein Ende. Der Kampf zwischen Kapital und Arbeit<br />
verschärft sich. Der müde, spießerische Geist, der früher oft in einigen<br />
Arbeiterbünden der Schweiz herrschte, schwindet, und an seine Stelle<br />
tritt die kämpferische Stimmung des klassenbewußten, organisierten Proletariats,<br />
das seine Kraft erkennt.<br />
Die Arbeiter der Schweiz täuschen sich keineswegs darüber, daß ihre<br />
Republik eine bürgerliche Republik ist, die die gleiche Lohnsklaverei in<br />
Schutz nimmt, wie sie in ausnahmslos allen kapitalistischen Ländern besteht.<br />
Doch zugleich verstehen es die schweizerischen Arbeiter heute ausgezeichnet,<br />
die Freiheit ihrer republikanischen Einrichtungen für die<br />
Schulung und Organisierung der breiten Arbeitermassen auszunutzen.
150 W. I.<strong>Lenin</strong><br />
Die Früchte dieser Arbeit traten bei dem Generalstreik in Zürich am<br />
12. Juli (29. Juni a. St.) deutlich zutage.<br />
Das war so. Die Maler und Schlosser von Zürich streikten schon<br />
mehrere Wochen, um eine Lohnerhöhung und eine Verkürzung der Arbeitszeit<br />
durchzusetzen. Die Unternehmer gerieten in Wut und beschlossen,<br />
den Widerstand der Streikenden zu brechen. Die Regierung der<br />
bürgerlichen Republik eilte den Kapitalisten, denen sie ihren Eifer beweisen<br />
wollte, zu Hilfe und begann, die streikenden Ausländer auszu<br />
weisen l (In der Schweiz arbeiten viele zugewanderte ausländische Arbeiter,<br />
besonders Italiener.) Aber dieser grobe Gewaltakt half nicht. Die<br />
Arbeiter hielten stand.<br />
Daraufhin griffen die Kapitalisten zu folgender Methode. In Hamburg<br />
(Deutschland) existiert eine Firma Ludwig Koch, die sich besonders mit<br />
der Beschaffung von Streikbrechern befaßt. Die Züricher Kapitalisten -<br />
Patrioten nnd Republikaner, Scherz beiseite! - ließen sich von dieser<br />
Firma Streikbrecher kommen, unter ihnen wissentlich allerlei kriminelle<br />
Typen, die in Deutschland wegen Kuppelei, Schlägerei usw. verurteilt<br />
worden waren. Diesen Vagabunden oder Lumpenproletariern gaben die<br />
Kapitalisten Revolver. Die frech gewordene <strong>Band</strong>e dieser Streikbrecher<br />
verteilte sich auf die Wirtshäuser im Arbeiterviertel und benahm sich unerhört<br />
rowdyhaft. Als sich die Arbeiter zusammenschlössen, um die<br />
Rowdys zu verjagen, ersdhoß einer von diesen einen streikenden Arbeiter.<br />
Die Geduld der Arbeiter war erschöpft. Der Mörder wurde verprügelt.<br />
Es wurde beschlossen, im Stadtrat von Zürich eine Anfrage über die Ausschreitungen<br />
der Rowdys einzubringen. Und als der Stadtrat die Kapitalisten<br />
in Schutz nahm und die Streikposten verbot, beschlossen die Arbeiter,<br />
mit einem vierundzwanzigstündigen Qenerälstreik zu protestieren.<br />
Für den Streik sprachen sich einmütig alle Gewerkschaftsverbände aus.<br />
Nur die Buchdrucker machten eine traurige Ausnahme. Sie stimmten<br />
gegen den Streik, und die Versammlung der 425 Vertreter aller Arbeiterorganisationen<br />
von Zürich quittierte diesen Beschluß der Buchdrucker mit<br />
lauten „Pfui!"-Rnfen. Der Streik wurde beschlossen, obwohl die Führer<br />
der politischen Organisationen dagegen waren (der alte Geist der verspießerten,<br />
opportunistischen schweizerischen Führer!).<br />
Die Arbeiter wußten,, daß die Kapitalisten und die Verwaltung versuchen<br />
würden, den friedlichen Streik zum Scheitern zu bringen, und sie
Jn der Söbweiz 151<br />
handelten daher nach der weisen Regel: „Wenn schon Krieg, dann wie im<br />
Krieg". Im Krieg läßt man den Feind nicht wissen, wann der Angriff erfolgen<br />
wird. Die Arbeiter erklärten am Donnerstag, daß der Streik am<br />
Dienstag oder Mittwoch durchgeführt würde, setzten ihn aber in Wirklichkeit<br />
für Jreitag fest. Die Kapitalisten und die Verwaltung wurden<br />
überrumpelt.<br />
Der Streik gelang ausgezeichnet. Am frühen Morgen waren 30 000 Flugblätter<br />
in deutscher und italienischer Sprache verteilt worden. Etwa 2000<br />
Streikende hielten die Straßenbahndepots besetzt. Albs stand still. Das<br />
Leben in der Stadt war erstorben. Der Freitag ist in Zürich Markttag, aber<br />
die Stadt lag wie tot. Der Genuß von Alkohol (aller alkoholischen Getränke)<br />
war vom Streikkomitee untersagt worden, und die Arbeiter hielten<br />
sich streng an diesen Beschluß.<br />
Um 2 Uhr nachmittags fand eine imposante Massendemonstration<br />
statt. Nachdem die <strong>Red</strong>en gehalten waren, ging man friedlich und ohne<br />
Gesang auseinander.<br />
Die Regierung und die Kapitalisten, die gehofft hatten, die Arbeiter zu<br />
Gewaltakten provozieren zu können, mußten ihren Mißerfolg erkennen,<br />
und jetzt rasen sie vor Wut. Ein besonderer Erlaß verbietet im ganzen<br />
Kanton Zürich nicht nur Streikposten, sondern auch Versammlungen im<br />
Freien und Demonstrationen. Die Polizei besetzte das Volkshaus in<br />
Zürich und verhaftete eine Reihe von Arbeiterführern. Die Kapitalisten<br />
verfügten, um sich für den Generalstreik zu rächen, eine dreitägige Aussperrung.<br />
Die Arbeiter verhalten sich ruhig, sie halten den Boykott von Schnaps<br />
und Wein streng ein und sagen einander: „Warum sollten wir Arbeiter<br />
nicht drei Tage im Jahr feiern, wo doch die Reichen das ganze Jahr lang<br />
feiern."<br />
„Vrawda" Nr. 63, Nada dem 7ext der „Vrawda".<br />
12. Juli i9i2.<br />
TAntersdbrift: B. Sb.
152<br />
DEMOKRATIE<br />
UND VOLKSTUMLERIDEOLOGIE<br />
IN CHINA<br />
Der Artikel des provisorischen Präsidenten der chinesischen Republil<br />
Sun Yat-sen, den wir der Brüsseler sozialistischen Zeitung „Le Peuple"<br />
[Das Volk] entnehmen, ist für uns Russen von außerordentlichem Interesse.<br />
Ein Sprichwort sagt: Der Außenstehende sieht besser. Sun Yat-sen ist<br />
ein außerordentlich interessanter „außenstehender" Zeuge, denn obwohl<br />
er ein europäisch gebildeter Mensch ist, ist er offenbar mit Rußland ganz<br />
und gar nicht vertraut. Und dieser europäisch gebildete Vertreter der<br />
kämpfenden und siegreichen chinesischen Demokratie, die sich die Republik<br />
erobert hat, wirft vor unseren Augen - ganz und gar unabhängig von<br />
Rußland, von den russischen Erfahrungen, von der russischen Literatur -<br />
rein russische Fragen auf. Der fortgeschrittene chinesische Demokrat<br />
urteilt buchstäblich wie ein Russe. Seine Ähnlichkeit mit einem russischen<br />
Volkstümler ist so groß, daß sie bis zur vollen Übereinstimmung der<br />
Hauptgedanken und einer ganzen Reihe einzelner Aussprüche geht.<br />
Der Außenstehende sieht besser. Die Plattform der großen chinesischen<br />
Demokratie - denn eben eine solche Plattform stellt der Artikel Sun Yatsens<br />
dar - veranlaßt uns und gibt uns die willkommene Gelegenheit, die<br />
Frage der gegenseitigen Beziehungen zwischen Demokratismus und Volkstümlerideologie<br />
in den gegenwärtigen bürgerlichen Revolutionen Asiens<br />
noch einmal unter dem Gesichtswinkel der neuen Weltereignisse zu überprüfen.<br />
Es ist das eine der ernstesten Fragen, vor die Rußland in seiner<br />
revolutionären Epoche, die 1905 begann, gestellt worden ist. Und nicht<br />
nur Rußland, sondern ganz Asien, wie die Plattform des provisorischen<br />
Präsidenten der chinesischen Republik zeigt, besonders wenn man diese
"Demokratie und Volkstümlerideologie in China 153<br />
Plattform der Entwicklung der revolutionären Ereignisse in Rußland, in<br />
der Türkei, in Persien und China gegenüberstellt. Rußland ist in sehr<br />
vielen und sehr wesentlichen Beziehungen zweifellos ein asiatischer Staat,<br />
und dabei ein ganz besonders barbarischer, mittelalterlicher, schändlich<br />
rückständiger asiatischer Staat.<br />
Die russische bürgerliche Demokratie ist im Sinne der Volkstümler-'<br />
ideologie gefärbt - beginnend mit ihrem ältesten und einsamen Vorläufer,<br />
dem Adligen Herzen, und endend mit ihrer Massenvertretung,<br />
den Mitgliedern des Bauembundes im Jahre 1905, den Trudowikiabgeordneten<br />
der ersten drei Dumas von 1906 bis 1912. Jetzt sehen wir, daß<br />
die bürgerliche Demokratie Chinas in ganz der gleichen volkstümlerischen<br />
Färbung auftritt Betrachten wir nun am Beispiel Sun Yat-sens, worin die<br />
„soziale Bedeutung" der Ideen besteht, die aus der tiefen revolutionären<br />
Bewegung Hunderter und aber Hunderter Millionen Menschen hervorgegangen<br />
sind, die jetzt endgültig in den Strom der weltumfassenden kapitalistischen<br />
Zivilisation hineingezogen werden.<br />
Streitbare, ehrliche demokratische Gesinnung erfüllt jede Zeile der<br />
Plattform Sun Yat-sens. Volles Verständnis für die Mangelhaftigkeit einer<br />
„Rassen"revolution. Keine Spur eines Apolitizismus oder auch nur einer<br />
Geringschätzung der politischen Freiheit, keinerlei Zulassung des Gedankens<br />
einer Vereinbarkeit der chinesischen Selbstherrschaft mit einer chinesischen<br />
„Sozialreform", mit einer chinesischen konstitutionellen Umgestaltung<br />
usw. Voller Demokratismus mit der Forderung der Republik.<br />
Direkte Stellung der Frage nach der Lage der Massen, der Frage des<br />
Massenkampfes, heißes Mitgefühl mit den Werktätigen und Ausgebeuteten,<br />
Glaube an ihr Recht und ihre Kraft.<br />
Vor uns haben wir wirklich die große Ideologie eines wirklich großen<br />
Volkes, das sein jahrhundertealtes Sklaventum nicht mir beklagt, von<br />
Freiheit und Gleichheit nicht nur träumt, sondern es auch versteht, gegen<br />
die jahrhundertealten Unterdrücker Chinas zu kämpfen.<br />
Es drängt sich von selbst der Vergleich zwischen dem provisorischen<br />
Präsidenten der Republik im wilden, öden, asiatischen China und den<br />
verschiedenen Präsidenten der Republiken in Europa, in Amerika, in den<br />
Ländern der fortgeschrittenen Kultur auf. Dort sind die Präsidenten der<br />
Republiken durchweg Manager, Agenten oder Puppen in den Händen der<br />
Bourgeoisie, die durch und durch verfault ist, von Kopf bis Fuß, mit<br />
11 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>
154 W. I.<strong>Lenin</strong><br />
Schmutz und Blut bespritzt - nicht mit dem Blut der Padischahs und Großmoguln,<br />
sondern mit dem Blut der Arbeiter, die im Namen des Fortschritts<br />
imd der Zivilisation erschossen werden, wenn sie streiken. Dort sind die<br />
Präsidenten Vertreter einer Bourgeoisie, die sich schon längst von allen<br />
Idealen ihrer Jugend losgesagt hat, die sich selbst bis zum äußersten<br />
prostituiert und sich den Millionären, Milliardären, den verbürgerlichten<br />
Feudalherren usw. mit Haut und Haaren verkauft hat.<br />
Hier der asiatische provisorische Präsident einer Republik, ein revolutionärer<br />
Demokrat, voll Edelsinn und Heroismus, wie sie einer Klasse<br />
eigen sind, die aufsteigt und nicht abwärts gleitet, die die Zukunft nicht<br />
fürchtet, sondern an sie glaubt und mit Selbstverleugnung für sie kämpft -<br />
einer Klasse, die das Vergangene haßt und es versteht, sich des Abgestorbenen,<br />
der alles Leben erstickenden Fäulnis zu entledigen, einer Klasse,<br />
die sich nicht um ihrer Privilegien willen an die Erhaltung und Wiederaufrichtung<br />
des Vergangenen klammert.<br />
Was denn? Heißt das vielleicht, daß der materialistische Westen verfault<br />
ist und das Licht nur aus dem mystischen, religiösen Osten leuchtet?<br />
Nein, gerade umgekehrt. Das heißt, daß der Osten endgültig den Weg<br />
des Westens betreten hat, daß neue Hunderte und aber "Hunderte Millionen<br />
Menschen nunmehr am Kampf für die Ideale teilnehmen, zu denen<br />
sich der Westen durchgekämpft hat. Verfault ist die Bourgeoisie des<br />
Westens, vor der schon ihr Totengräber steht — das Proletariat. Aber in<br />
Asien existiert nodh eine Bourgeoisie, die fähig ist, die ehrliche, streitbare<br />
und konsequente Demokratie zu vertreten, eine würdige Gefährtin der<br />
großen Verkünder und großen Tatmenschen am Ende des <strong>18</strong>. Jahrhunderts<br />
in Frankreich.<br />
Der Hauptvertreter oder die soziale Hauptstütze dieser, einer historisch<br />
fortschrittlichen Sache noch fähigen, asiatischen Bourgeoisie ist der Bauer.<br />
Neben ihm gibt es bereits eine liberale Bourgeoisie, deren Führer, wie<br />
Yüan Schi-kai, am ehesten des Verrats fähig sind: gestern fürchteten sie'<br />
noch den „Sohn des Himmels" und krochen vor ihm; dann - als sie eine<br />
Kraft sahen, als sie den Sieg der revolutionären Demokratie fühlten -<br />
verrieten sie den Himmelssohn, und morgen werden sie die Demokraten<br />
verraten, um einer Abmachung mit irgendeinem alten oder neuen „konstitutionellen"<br />
Himmelssohn willen.<br />
Ohne einen starken, wahrhaften demokratischen Aufschwung, der die
Demokratie und VolkstümUrideohgie in China 155<br />
werktätigen Massen entflammt, sie fähig macht, Wunder zu vollbringen,<br />
und der in jedem Satz der Plattform Sun Yat-sens sichtbar wird, wäre<br />
eine wirkliche Befreiung des chinesischen Volkes von der jahrhundertealten<br />
Sklaverei unmöglich.<br />
Aber diese Ideologie des streitbaren Demokratismus ist bei den chinesischen<br />
Volkstümlern verknüpft erstens mit sozialistischen Träumereien,<br />
mit der Hoffnung, den Weg des Kapitalismus in China zu vermeiden, dem<br />
Kapitalismus zuvorzukommen, and zweitens mit dem Plan und der Propagierung<br />
einer radikalen Agrarreform. Gerade diese beiden politischideologischen<br />
Strömungen stellen das Element dar, welches das Wesen der<br />
Volkstütnlerriditung in der spezifischen Bedeutung dieses Begriffs, d. h.<br />
zum Unterschied vom Demokratismus, in Ergänzung zum Demokratismus,<br />
ausmacht.<br />
Welchen Ursprung und welche Bedeutung haben diese Strömungen?<br />
Die chinesische Demokratie konnte die alte Ordnung in China nicht<br />
stürzen und die Republik nicht erobern ohne einen gewaltigen geistigen<br />
und revolutionären Aufschwung der Massen. Ein solcher Aufschwung<br />
setzt voraus und erzeugt das aufrichtigste Mitgefühl mit der Lage der<br />
werktätigen Massen, den glühendsten Haß gegen ihre Unterdrücker und<br />
Ausbeuter. Doch in Europa und Amerika, von wo die fortschrittlichen<br />
Chinesen, alle Chinesen, soweit sie diesen Aufschwung verspürten, ihre<br />
Befreiungsideen entlehnt haben, steht schon die Befreiung von der Bourgeoisie,<br />
d. h. der Sozialismus, auf der Tagesordnung. Die Folge ist unvermeidlich<br />
die Sympathie der chinesischen Demokraten für den Sozialismus,<br />
ihr subjektiver Sozialismus.<br />
Sie sind subjektiv Sozialisten, weil sie gegen die Unterdrückung und<br />
Ausbeutung der Massen sind. Aber die objektiven Verhältnisse Chinas,<br />
eines •zurückgebliebenen, halbfeudalen Agrarlandes, stellen im Leben<br />
dieses fast eine halbe Milliarde zählenden Volkes allein eine bestimmte,<br />
historisch-eigentümliche Form dieser Unterdrückung und dieser Ausbeutung<br />
auf die Tagesordnung: den Feudalismus. Der Feudalismus fußte auf<br />
der Vorherrschaft des Ackerbaus und der Naturalwirtschaft; die Quelle<br />
der feudalen Ausbeutung des chinesischen Bauern war seine Tesseluncj an<br />
die Scholle in dieser oder jener Form; die politischen Träger dieser Ausbeutung<br />
waren die Feudalherren, alle zusammen und jeder einzelne, mit<br />
dem Kaiser als dem Haupt des Systems.
156 W.l <strong>Lenin</strong><br />
Und nun zeigt sidi, daß sich aus den subjektiv-sozialistischen Gedanken<br />
und Programmen des chinesischen Demokraten in der Praxis ein Programm<br />
der „Änderung aller Rechtsgrundlagen" einzig und allein des „unbeweglichen<br />
Eigentums", ein Programm der Vernichtung einzig und allein<br />
der feudalen Ausbeutung ergibt.<br />
Darin liegt der %ern der Volkstümlerideologie Sun Yat-sens, seines<br />
fortschrittlichen, kämpferischen, revolutionären Programms der bürgerlich-demokratischen<br />
Agrarumgestaltungen und seiner sogenannten sozialistischen<br />
Theorie.<br />
Diese Theorie ist, vom Standpunkt der Doktrin betrachtet, die Theorie<br />
eines kleinbürgerlichen „sozialistischen" Reaktionärs. Denn es ist ganz<br />
und gar reaktionär, davon zu träumen, daß es in China möglich sei, dem<br />
Kapitalismus „zuvorzukommen", daß in China infolge seiner Rückständigkeit<br />
die „soziale Revolution" leichter sei usw. Und Sun Yat-sen läßt selbst<br />
mit unnachahmlicher, man könnte fast sagen kindlicher Naivität seine<br />
reaktionäre Volkstümlertheorie in Rauch aufgehen, wenn er anerkennt, was<br />
anzuerkennen das Leben erzwingt: daß nämlich „China am Vorabend<br />
einer gigantischen industriellen" (d.h. kapitalistischen) „Entwicklung<br />
steht", daß in China „der Handel" (d. h. der Kapitalismus) „sich in gewaltigem<br />
Ausmaß entfalten wird", daß es „bei uns in 50 Jahren viele<br />
Schanghais geben wird", d. h. Millionenzentren kapitalistischen Reichtums<br />
und proletarischer Not und Armut.<br />
Aber es fragt sich - und das ist der ganze Kem der Frage, das ist der<br />
interessanteste Punkt, vor dem nicht selten der kastrierte liberale Quasimarxismus<br />
haltmacht -, es fragt sich, ob Sun Yat-sen auf Grund seiner<br />
reaktionären ökonomischen Theorie wirklich ein reaktionäres Agrarprogramm<br />
vertritt<br />
Darum eben geht es, daß dem nicht so ist. Darin eben besteht die<br />
Dialektik der gesellschaftlichen Verhältnisse Chinas, daß die chinesischen<br />
Demokraten, die mit dem Sozialismus in Europa aufrichtig sympathisierten,<br />
ihn in eine reaktionäre Theorie verwandelt haben und auf Qrund<br />
dieser reaktionären Theorie, daß China dem Kapitalismus „zuvorkommen"<br />
könne, ein rein kapitdlistisdies, maximal kapitalistisches Agrarprogramm<br />
verfechten!<br />
In der Tat, worauf läuft die „ökonomische Revolution" hinaus, von der<br />
Sun Yat-sen am Anfang seines Artikels so prunkvoll und dunkel spricht?
Demokratie und Volkstümlerideofogie in China 157<br />
Auf die Übergabe der Rente an den Staat, das heißt auf die Nationalisierung<br />
des Bodens mittels einer Art Einheitssteuer im Sinne Henry<br />
Georges. Irgend etwas anderes Reales ist in der von Sun Yat-sen vorgeschlagenen<br />
und verkündeten „ökonomischen Revolution" nicht enthalten.<br />
Der Unterschied zwischen dem Wert des Bodens in einem bäuerlichen<br />
Krähwinkel und in Schanghai besteht in dem Unterschied der Größe der<br />
Rente. Der Preis des Bodens ist kapitalisierte Rente. Dafür zu sorgen, daß<br />
der „Wertzuwachs" des Bodens „Eigentum des Volkes" werde, bedeutet,<br />
die Rente, d. h. das Eigentum an Grund und Boden, dem Staat zu übergeben,<br />
oder anders gesagt, den Boden zu nationalisieren.<br />
Ist eine solche Reform im Rahmen des Kapitalismus möglich? Sie ist<br />
nicht nur möglich, sondern sie stellt sogar den reinsten, maximal konsequenten,<br />
ideal vollkommenen Kapitalismus dar. Das hat Marx im „Elend<br />
der Philosophie" gezeigt und eingehend im III. <strong>Band</strong> des „Kapitals" bewiesen;<br />
besonders anschaulich hat er das in der Polemik gegen Rodbertus<br />
in den „Theorien über den Mehrwert" 49 entwickelt<br />
Die Nationalisierung des Bodens gibt die Möglichkeit, die absolute<br />
Rente zu beseitigen und nur die Differentialrente übrigzulassen. Die<br />
größtmögliche Ausmerzung der mittelalterlichen Monopole und der mittelalterlichen<br />
Verhältnisse in der Landwirtschaft, die größtmögliche Freiheit<br />
des Handels mit Grund und Boden, die leichteste Anpassung der Bodenbewirtschaftung<br />
an den Markt - das bedeutet die Nationalisierung des<br />
Bodens nach der Lehre von Marx. Die Ironie der Geschichte besteht darin,<br />
daß die Volkstümlerrichtung im Namen des „Kampfes gegen den Kapitalismus"<br />
in der Landwirtschaft ein Agrarprogramm vertritt, dessen volle<br />
Verwirklichung die schnellste Entwicklung des Kapitalismus in der Landwirtschaft<br />
bedeuten würde.<br />
Welche ökonomische Notwendigkeit hat in einem der am weitesten<br />
zurückgebliebenen Bauernländer Asiens zur Verbreitung der fortschrittlichsten<br />
bürgerlich-demokratischen Programme in der Bodenfrage geführt?<br />
Die Notwendigkeit der Vernichtung des Feudalismus in allen seinen Formen<br />
und Erscheinungen.<br />
Je mehr China hinter Europa und hinter Japan zurückblieb, desto mehr<br />
drohte ihm Zerstückelung und nationaler Zerfall. „Erneuern" konnte es<br />
nur der Heroismus der revolutionären Volksmassen, der fähig ist, auf dem
158 "W.1. <strong>Lenin</strong><br />
Gebiet der Politik die chinesische Republik zu schaffen und auf dem Gebiet<br />
der Landwirtschaft mittels der Nationalisierung des Bodens den<br />
raschesten kapitalistischen Fortschritt zu sichern.<br />
Ob und in welchem Maße das gelingt, das ist eine andere Frage. Verschiedene<br />
Länder haben in ihrer bürgerlichen Revolution verschiedene<br />
Stufen der politischen Demokratie und der Agrardemokratie verwirklicht,<br />
und dabei in den buntesten Kombinationen. Entscheiden werden die internationale<br />
Lage und das Verhältnis der gesellschaftlichen Kräfte in China.<br />
Der Kaiser wird sicherlich die Feudalherren, die Bürokratie und die chinesische<br />
Geistlichkeit vereinigen und die Restauration vorbereiten. Yüan<br />
Schi-kai, der Vertreter der Bourgeoisie, die eben erst aus einer liberalmonarchistischen<br />
zu einer liberal-republikanischen geworden ist (auf wie<br />
lange?), wird eine Politik des Lavierens zwischen der Monarchie und der<br />
Revolution betreiben. Die revolutionäre bürgerliche Demokratie, die von<br />
Sun Yat-sen vertreten wird, sucht ganz richtig den Weg zur „Erneuerung"<br />
Chinas in der Entwicklung der größtmöglichen Selbsttätigkeit, Entschlossenheit<br />
und Kühnheit der bäuerlichen Massen in der Sache der politischen<br />
und der Agrarreformen.<br />
Und schließlich wird, in dem Maße, wie in China die Zahl der Schanghais<br />
wachsen wird, auch das chinesische Proletariat wachsen. Es wird<br />
wahrscheinlich diese oder jene chinesische sozialdemokratische Arbeiterpartei<br />
bilden, die bei gleichzeitiger Kritik an den kleinbürgerlichen Utopien<br />
und den reaktionären Anschauungen Sun Yat-sens den revolutionärdemokratischen<br />
Kern seines politischen und Agrarprogramms sicherlich<br />
sorgfältig herausheben, bewahren und weiterentwickeln wird.<br />
„7Jewska]a Swesda" 5Vr. n, Ttaäi dem 7ext der<br />
15. Juli i9i2. „TJewskaja Swesda",<br />
Zlntersdhrift: IV l Jljin.
DER PARTEITAG<br />
DER ITALIENISCHEN SOZIALISTEN<br />
159<br />
In diesen Tagen wurde in der Stadt Reggio (Provinz Emilia) der XIII.<br />
Parteitag der Italienischen Sozialistischen Partei beendet.<br />
Der innere Kampf in der Italienischen Sozialistischen Partei hat in den<br />
letzten Jahren besonders scharfe Formen angenommen. Anfangs gab es<br />
zwei Grundrichtungen: die Revolutionäre und die Reformisten. Die ersten<br />
verteidigten den proletarischen Charakter der Bewegung und kämpften<br />
gegen jegliche Erscheinungsformen des Opportunismus, d. h. gegen den<br />
Geist der Mäßigung, des Paktierern mit der Bourgeoisie, des Verzichts auf<br />
die (sozialistischen) Endziele der Arbeiterbewegung. Der Klassenkampf,<br />
das ist das Grundprinzip, die Grundlage der Anschauungen dieser Richtung.<br />
Die Reformisten vergaßen im Kampf um Reformen, d. h. um einzelne<br />
Verbesserungen der politischen und wirtschaftlichen Lage, ständig den<br />
sozialistischen Charakter der Bewegung, sie setzten sich für Blocks und<br />
Bündnisse mit der Bourgeoisie ein bis zum Eintritt eines Sozialisten in ein<br />
bürgerliches Kabinett, bis zum Verzicht auf konsequent republikanische<br />
Überzeugungen (im monarchistischen Italien gilt die republikanische Propaganda<br />
an sich nicht als ungesetzlich), bis zur Verteidigung der „Kolonialpolitik",<br />
der Politik der Eroberung von Kolonien, der Unterdrückung,<br />
Ausplünderung und Ausrottung der Eingeborenen usw.<br />
Diese beiden Grundrichtungen, die es in dieser oder jener Form in allen<br />
sozialistischen Parteien gibt, brachten in Italien noch zwei extreme Richtungen<br />
hervor, die sich völlig vom Sozialismus abwandten und die deshalb<br />
zur Lostrennung von der sozialistischen Arbeiterpartei führten. Eines dieser<br />
nichtsozialistischen Extreme ist der Syndikalismus, der eine Zeitlang
160 TV. J.<strong>Lenin</strong><br />
in Italien „Mode" wurde. Die Syndikalisten neigten zum Anarchismus,<br />
verfielen in revolutionäre Phrasen, untergruben die Disziplin des Arbeiterkampfes,<br />
verzichteten auf die Ausnutzung der Parlamentstribüne durch<br />
die Sozialisten oder verteidigten diesen Verzicht.<br />
Der Einfluß der Anarchisten ist überall schwach, und die Arbeiterbewegung<br />
überwindet diese Krankheit schnell.<br />
Die italienischen Syndikalisten (mit ihrem Führer Arturo Labriola an<br />
der Spitze) stehen gegenwärtig schon außerhalb der Sozialistischen Partei.<br />
Ihre Rolle in der Arbeiterbewegung ist ganz unbedeutend. Die revolutionären<br />
Marxisten in Italien wie auch in den anderen Ländern zeigen<br />
nicht die geringste Nachsicht gegenüber den anarchistischen Stimmungen<br />
und Richtungen, die die proletarische Bewegung zersetzen.<br />
Die Reformisten sind weniger beharrlich gegenüber jenen extremen<br />
rechten Reformisten, die zur liberalen Arbeiterpolitik hinabgleiten und<br />
endgültig in das Lager der Liberalen und auf die Seite der Bourgeoisie<br />
übergehen. Die Absonderung dieser Verräter an der Sache der Arbeiter<br />
von der Sozialistischen Partei geht deshalb selten ohne einen unerhört<br />
harten Kampf der revolutionären Marxisten gegen alle Reformisten vonstatten.<br />
So war es zum Beispiel in Frankreich, als der Opportunist und<br />
Reformist Millerand sich endgültig der Bourgeoisie verkaufte und in das<br />
bürgerliche Kabinett eintrat.<br />
So steht die Sache auch in Italien. Die Reformisten spalteten sich in die<br />
Unken Reformisten (mit Turati an der Spitze) und in die rechten Reformisten<br />
(mit Bissolati an der Spitze). Der Parteitag in Reggio Emilia manifestiert<br />
den letzten Akt dieser Spaltung.<br />
Auf dem Parteitag waren drei Richtungen vertreten: 1. die Revolutionäre<br />
(sie hatten entsprechend der Zahl ihrer Anhänger in der Partei auf<br />
dem Parteitag etwa 12500 Stimmen), 2. die Unken Reformisten (etwa<br />
9000) und 3. die rechten Reformisten (etwa 2000). Die Revolutionäre<br />
stellten den Antrag, Bissolati und noch drei extreme rechte Reformisten<br />
aus der Partei auszuschließen. Von den linken Reformisten war ein Drittel<br />
ebenfalls für ihren Ausschluß, aber mit einer „milderen" Begründung, und<br />
zwei Drittel waren gegen den Ausschluß und für eine einfache Rüge.<br />
Da die Revolutionäre, wie aus den angeführten Zahlen ersichtlich, die<br />
Mehrheit hatten, siegten sie, und Bissolati und Co. wurden ausgeschlossen.<br />
Worin bestanden die Anschauungen und Handlungen Bissolatis, die es
Der Parteitag der italienisdhen Sozialisten 161<br />
notwendig machten, ihn aus der Partei auszuschließen? Entgegen den<br />
wiederholten Beschlüssen der Partei ging Bissolati in der Unterstützung<br />
des bürgerlichen Kabinetts so weit, daß er selbst fast zn einem „Minister<br />
ohne Portefeuille" geworden war (d. h., ohne Minister zu sein, verhielt er<br />
sich wie ein Gesinnungsgenosse und Mitglied des bürgerlichen Kabinetts).<br />
Entgegen den republikanischen Oberzeugungen, denen die italienischen<br />
Sozialisten streng folgen, fuhr Bissolati zum Quirinal, besuchte den<br />
König und führte mit ihm Verhandlungen! Bissolati verstieg sich bis zur<br />
Verteidigung des Krieges, den Italien gegenwärtig gegen die Türkei führt,<br />
obgleich die ganze Partei diesen Krieg entschieden als schamlosen bürgerlichen<br />
Raub und als schmutziges Gemetzel an den afrikanischen Eingeborenen<br />
in Tripolis verurteilt hat, gegen die moderne, todbringende Waffen<br />
eingesetzt werden.<br />
Nach dem Ausschluß von Bissolati und Co. aus der Partei traten alle<br />
rechten Reformisten aus der Partei aus und gründeten eine eigene Partei,<br />
die sie „Reformsozialistische Partei" nannten. Hinter diesem Aushängeschild<br />
verbirgt sich in WirkUdbkeit die „Partei" der liberal-monarchistischen<br />
„Arbeiter"politiker.<br />
Eine Spaltung ist eine schwere, schmerzhafte Angelegenheit. Aber zuweilen<br />
wird sie notwendig, und in solchen Fällen ist jegliche Schwäche,<br />
jegliche „Sentimentalität" (ein Wort, das in Reggio unsere Landsmännin<br />
Balabanowa gebrauchte) ein Verbrechen. Die Führer der Arbeiter sind<br />
keine Engel, keine Heiligen, keine Heroen, sondern Menschen wie alle.<br />
Sie machen Fehler. Die Partei korrigiert sie. Es hat Fälle gegeben, wo die<br />
deutsche Arbeiterpartei opportunistische Fehler selbst solcher großen Führer<br />
wie Bebel korrigieren mußte.<br />
Aber wenn man auf dem Fehler beharrt, wenn zur Verteidigung des<br />
FelJers eine Gruppe gebildet wird, die alle Beschlüsse der Partei, die<br />
ganze Disziplin der proletarischen Armee mit Füßen tritt, dann ist eine<br />
Spaltung notwendig. Und indem die Partei des sozialistischen Proletariats<br />
Italiens die Syndikalisten und rechten Reformisten aus ihrer Mitte entfernte,<br />
beschritt sie den richtigen Weg.<br />
.Vrawda", 5Vr. 66, Tiaäo dem lexX der „Vrawda".<br />
15."Juli i9i2.<br />
'Unterschrift :1.
162<br />
RUSSISCHE „REDEFREIHEIT"<br />
Die Zeitung „Wetterfahne", auch noch „Nowpje Wremja" genannt,<br />
gibt eine Korrespondenz ihres werten Kollegen, der „Peterburgskije Wedomosti"<br />
[Petersburger Nachrichten], aus Iwanowo-Wosnessensk wieder.<br />
„In unserer Fabrikstadt", schreibt man der Zeitung, „haben Unflätigkeiten<br />
auf der Straße die menschliche <strong>Red</strong>eweise verdrängt Es fluchen die Fabrikarbeiter,<br />
unflätig schimpfen die Kutscher, anständig gekleidete Leute, die Polizisten<br />
bei der Ausübung ihrer Dienstobliegenheiten."<br />
Und das „Nowoje Wremja" bemerkt zu diesem Sittenbild:<br />
„Die glückliche Arbeiterstadt, wo die kühnsten sozialdemokratischen<br />
Wünsche in bezug auf eine durch nichts geregelte <strong>Red</strong>efreiheit verwirklicht<br />
sind."<br />
Nicht wahr, wie lehrreich dieser grobe Ausfall ist?<br />
Wer wüßte nicht, ihr Herren <strong>Red</strong>akteure eines regierungstreuen Blattes,<br />
daß gerade die der Regierung am nächsten stehenden rechten Parteien<br />
in der III. Duma die <strong>Red</strong>efreiheit in puncto Unflätigkeiten „verwirklicht"<br />
haben? Wer wüßte nicht, daß sich die Herren Purischkewitsch, Markow<br />
und ihre Kollegen in ganz Rußland dadurch einen Namen gemacht haben?<br />
Unvorsichtig, wirklich unvorsichtig handelt das „Nowoje Wremja"! Es<br />
könnte seine Lakaienrolle geschickter spielen... So aber erinnert einen<br />
plötzlich eine der Regierung ohne Schmeichelei ergebene Zeitung daran,<br />
welche „<strong>Red</strong>efreiheit" von den Purischkewitsch und Co. praktiziert wird<br />
und welche von den sozialdemokratischen Dumaabgeordneten.<br />
Die <strong>Red</strong>efreiheit der Purischkewitsch in der Gutsbesitzerduma und die<br />
<strong>Red</strong>efreiheit in den Arbeiterversammlungen ... Ein gutes Wahlthema berührt<br />
das in seinem groben Eifer ungeschickte „Nowoje Wremja"!<br />
J>rawda" Tit. 66,15. JHI» 1912. TJaä) dem Text der .Trawda".<br />
Vntersdn-ift: IV.
WIE P.B.AXELROD<br />
DIE LIQUIDATOREN ENTLARVT<br />
163<br />
P. B. Axelrod ist es bestimmt, in der Entwicklung der opportunistischen<br />
Strömung unter den Marxisten eine originelle Rolle zu spielen. Viel Staub<br />
wirbelte er seinerzeit zum Beispiel mit der Idee des „Arbeiterkongresses"<br />
auf. Seine Propaganda gewann und begeisterte manche Arbeiter. Aber je<br />
umfassender diese Propaganda betrieben wurde, je näher die praktische<br />
Ausführung heranrückte, desto deutlicher wurde der phantastische Charakter<br />
der ganzen Idee. Sie platzte von selbst. Die Erfahrung hat bestätigt,<br />
was die Bolschewiki oft genug gesagt hatten: Axelrods „Ideen" sind<br />
Hirngespinste der opportunistischen Intelligenz, Wunschträume, wie man<br />
den harten Klassenkampf und politischen Kampf „umgehen" kann.<br />
Genau die gleiche Geschichte wiederholte sich jetzt mit der Idee eines<br />
Arbeiterverlages und einer „fraktionslosen" Arbeiterzeitung. Welcher<br />
Petersburger Arbeiter erinnert sich nicht, wie die Liquidatoren vor noch<br />
gar nicht langer Zeit eben diese Idee im Sinne hatten? wie sie die Arbeiter<br />
mit dem Wunschtraum verlocken wollten, man könne den Kampf innerhalb<br />
der Arbeiterdemokratie „umgehen" ? wie komisch ungehalten sie über<br />
die „Swesda" waren, weil diese erklärt hatte, daß man die Frage der<br />
liberalen Arbeiterpolitik (man denke an den Beschluß der Bäcker 50 ) nicht<br />
umgehen könne, daß das Gerede von einer Arbeiterkontrolle über eine<br />
fraktionslose Zeitung bloße Demagogie sei?<br />
Und nun hat Axelrod in Nr. 6 des Liquidatorenblattes „Newski Golos"<br />
die Demagogie seiner eigenen Freunde vortrefflich entlarvt - mußte er sie<br />
entlarven. Demagogie heißt unerfüllbare Versprechungen machen. Der
164 W. 1. Cenin<br />
Gedanke eines breiten Arbeiterkongresses, eines legalen Arbeiterverlages,<br />
einer fraktionslosen Arbeiterzeitung ist verlockend. Die ganze Sadie ist<br />
aber die, daß diese verlockenden Dinge unerfüllbar sind ohne vorherigen<br />
harten und schweren Kampf für die politische Freiheit überhaupt, für den<br />
Sieg des Marxismus innerhalb der Arbeiterdemokratie usw. Demagogische<br />
Versprechungen machen ist leicht. Doch zeigt das Leben bald ihre Unerfüllbarkeit<br />
und enthüllt den Opportunismus der „rosigen Illusionen".<br />
Im „Newsld Golos" Nr. 6 bietet Axelrod erstaunlich viel an leerer<br />
Deklamation. So die Beteuerung, daß er und seine Freunde „progressive<br />
Vertreter der Partei", die Gegner aber „reaktionäre" Vertreter seien.<br />
Selbstverständlich ist es Axelrod sehr angenehm, das zu denken, den<br />
Liquidatoren, das zu drucken. Aber nur allzu billig ist diese Deklamation!<br />
Sich selbst dafür loben, daß man „progressiv" sei... wäre es da nicht<br />
besser, Wesen und Bedeutung der Differenzen zu erklären?<br />
„Der Gedanke an die Möglichkeit eines zu keiner Fraktion gehörenden<br />
sozialdemokratischen (eines wirklich sozialdemokratischen, ohne Anführungszeichen)<br />
Organs erscheint noch jetzt als eine Utopie, und zwar eine Utopie, die<br />
den Interessen der parteipolitischen Entwicklung und der organisatorischen Vereinigung<br />
des Proletariats unter dem Banner der Sozialdemokratie objektiv<br />
zuwiderläuft. Du magst die Natur zur Tür hinausjagen, sie kommt durchs<br />
Fenster und durch die Spalten wieder herein."<br />
So schreibt Axelrod. Das sind sehr vernünftige Gedanken. Das ist in<br />
seinem Kern völlig richtig. Es zeigt, daß Axelrods Freunde, die Liquidatoren,<br />
die gestern noch gerade den von Axelrod jetzt verurteilten Gedanken<br />
in die Arbeitermasse schlenderten, keineswegs recht hatten. Nur können<br />
wir nichts „Progressives" darin sehen, unerfüllbare Versprechungen<br />
zu machen...<br />
„Man kann sagen, daß wir keine in feste Organisationsform gebrachten<br />
Fraktionen besitzen", schreibt Axelrod. „Es gibt an ihrer Stelle verschiedene<br />
kleine Gruppen und Grüpplein, von denen nur wenige an ihren bestimmten<br />
politischen, taktischen und organisationsmäßigen Anschauungen festhalten,<br />
während die anderen ziellos umherirren oder zwischen den Füßen der ersteren<br />
trotteln."<br />
Der erste Teil des Satzes stimmt nicht ganz. Axelrod weiß sehr wohl,<br />
daß etwas durchaus in feste Organisationsform Gebrachtes existiert, soweit<br />
das heute nur möglich ist. Aber der zweite Teil stimmt - es gibt in der
Wie P. B. Axelrod die Liquidatoren entlarvt 165<br />
Tat viele Grüpplein, die umherirren und zwischen den Füßen der anderen<br />
trotteln. Wenn Axelrod diese vom Verlauf der Ereignisse diktierte Wahrheit<br />
ausspricht, entlarvt er wiederum seine Freunde. Wer wüßte nicht,<br />
daß die Freunde Axelrods gerade jetzt eben mit einer zur Schau getragenen,<br />
papierenen „Vereinigung" der umherirrenden Grüpplein prahlen?<br />
Ist es nicht dieselbe Nr. 6 des „Newski Golos", in der sie diese fiktive<br />
„Vereinigung" aller Liquidatoren mit allen Umherirrenden versprechen?<br />
„Der Zentralpunkt und die Hauptquelle der Streitigkeiten", fährt Axelrod<br />
fort, „ergeben sich aus dem verschiedenen Verhalten verschiedener Parteikreise<br />
zur neuen, offenen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung" (nidit zur legalen<br />
Partei, verehrter P. B. Axelrod? Es ist nicht schön, wenn man das Wesen einer<br />
Differenz verfälscht!) „und aus den wesentlich verschiedenen Auffassungen der<br />
nächsten politischen Aufgaben und der politischen Taktik der russischen Sozialdemokratie.<br />
Die Fragen dieser Art gewinnen gerade jetzt, wo eine neue gesellschaftliche<br />
und politische Bewegung beginnt, eine besonders unmittelbare brennende<br />
Bedeutung. Und gerade hier ist die russische Sozialdemokratie in zwei<br />
große Lager gespalten. Es fragt sich: Wie kann das projektierte Arbeiterblatt<br />
eine neutrale Stellung zwischen den beiden entgegengesetzten Lagem einnehmen?<br />
Ist auch nur im Prinzip eine solche Stellung zulässig? Offenbar nein "<br />
Eine völlig richtige Schlußfolgerung. Axelrod schlägt ausgezeichnet<br />
nicht nur diejenigen seiner Freunde, die gestern mit einem neutralen und<br />
fraktionslosen Blatt Lärm machten, sondern auch diejenigen, die heute<br />
naiven Leuten versichern, sie wollten sich mit den neutralen Grüpplein<br />
„verständigen", „vereinigen", zusammenschließen u. dgl. m.<br />
Große Lager gibt es in der Tat zwei. Das eine ist durchaus in feste<br />
Organisationsformen gebracht. Seine Antworten auf alle von Axelrod<br />
aufgezählten Fragen sind durchaus in aller Form gegeben, exakt, bestimmt,<br />
und gleichen nicht den verstreuten und einander widersprechenden Artikeln<br />
einzelner Publizisten. Das andere Lager jedoch, das der Liquidatoren,<br />
dem Axelrod angehört, ist wissentlich weder in feste Organisationsformen<br />
gebracht (statt dessen gibt es nur Versprechungen, eine legale<br />
Arbeiterpartei zu schaffen, nur <strong>Red</strong>ereien von offenen politischen Arbeitergesellschaften,<br />
die noch unmöglicher sind als der Arbeiterkongreß 1906/<br />
1907), noch hat es bestimmte, exakte Antworten auf die von Axelrod<br />
selbst aufgezählten Fragen gegeben (statt bestimmter Antworten gibt es<br />
nur die publizistischen Übungen eines Jeshow, Lewizki, Kljonow, Tschazki<br />
u. a.).
166 IV. J. <strong>Lenin</strong><br />
„Sobald sich die verlegerische und literarische Arbeitergruppe entschließt,<br />
mit einem bestimmten Aktionsprogramm hervorzutreten, eine bestimmte Stellung,<br />
und sei es zum Beispiel in Fragen, die mit der Wahlkampagne zusammenhängen,<br />
zu beziehen, den Arbeitern diese oder jene Aufgaben und Parolen in<br />
dieser Kampagne zu geben und sich für diese oder jene Taktik gegenüber den<br />
verschiedenen politischen Parteien auszusprechen, sobald die Verlagsgenossenschaft,<br />
sage ich, ihrer Publikation den Charakter eines prinzipiell proletarischen<br />
politischen Organs verleihen will, wird sie von Angesicht zu Angesicht denselben<br />
brennenden Fragen und Meinungsverschiedenheiten gegenüberstehen,<br />
die die russische Sozialdemokratie bewegen und spalten. Und dann kann es<br />
passieren, daß diese Genossenschaft selbst zu einem neuen Herd ebensolcher<br />
Streitigkeiten wird - wenn sich ihre Mitglieder nicht rechtzeitig einigen und<br />
über diese Fragen verständigen."<br />
Sehr richtig und sehr gut widerlegt Axelrod die Liquidatoren. Was für<br />
die „Genossenschaft" gilt, gilt für die „Nascha Sarja" und den „Newski<br />
Golos" erst recht. Weshalb einigen sie sich denn nicht über die brennenden<br />
Tragen und Meinungsverschiedenheiten? Weshalb geben sie keine exakten<br />
Antworten wenigstens auf die von Axelrod aufgezählten wichtigsten Fragen<br />
(Stellung zu den verschiedenen Parteien, die Aufgaben und Parolen,<br />
die Taktik)?<br />
„Arzt, hilf dir selber." Axelrod hat den Arbeitern die Notwendigkeit<br />
klarer und exakter Antworten auf die „brennenden Fragen" so gut erklärt,<br />
daß die Literaten von der „Nascha Sarja" und vom „Newski Golos"<br />
(vielleicht aber auch nicht nur vom „Newski Golos" ...) auf die Worte<br />
Axelrods hören sollten. Es geht nidht ohne exakte und klare Antworten<br />
auf die „brennenden Fragen", man darf sich nicht auf Artikel beschränken<br />
- wäre das doch Zirkelunwesen! -, notwendig sind Beschlüsse, exakte, in<br />
aller Form gefaßte, durchdachte, bestimmte. Nicht umsonst spricht doch<br />
Axelrod - und er tut es ausgezeichnet! - von einem bestimmten Aktionsprogramm,<br />
von Aufgaben und "Parolen usw.<br />
Die Liquidatoren heißen übrigens eben deshalb Liquidatoren, weil sie<br />
das Alte verwerfen, aber Neues nicht bieten. Daß eine legale Partei nützlich<br />
ist und offene politische Gesellschaften notwendig sind - davon haben<br />
uns alle Liquidatoren die Ohren vollgeredet. Aber dieses <strong>Red</strong>en reicht doch<br />
noch nicht aus, und von einer 7at ist bei den Liquidatoren rein gar nichts<br />
zu sehen. Es fehlt gerade das, was Axelrod von den Arbeitern verlangt!<br />
Im Feuilleton des „Newski Golos", unter dem Strich, bietet Axelrod
"Wie P. B. Axelrod die Liquidatoren entlarvt 167<br />
prächtiges entlarvendes Material gegen die Liquidatoren über dem Stridb,<br />
im redaktionellen Teil der Zeitung. Man lese aufmerksam Axelrods Feuilleton,<br />
und man wird erkennen, daß es Betrug und Selbstbetrug ist, wenn<br />
die Liquidatoren von einer „Verständigung" über die Wahlplattform, von<br />
einer „einheitlichen" Plattform usw. schreien.<br />
Ein „Anhänger der Swesda" hat in der „Newskaja Swesda" Nr. 16 diesen<br />
Betrug bereits entlarvt. Aber die Entlarvung durch Axelrod ist noch<br />
gründlicher und noch wertvoller, eben weil sie von Axelrod ausgeht.<br />
Wir sind durchaus für eine einheitliche Plattform, und zwar für die,<br />
die von den Bolschewiki und parteitreuen Menschewiki schon lange angenommen<br />
worden ist und verwirklicht wird, wie der „Anhänger der<br />
Swesda" richtig bemerkt. Wir sind durchaus für eine einheitliche Wahlkampagne,<br />
und zwar auf dieser Plattform, auf der Basis eben dieser Beschlüsse,<br />
der bestimmten und exakten Antworten auf alle „brennenden<br />
Fragen".<br />
Wenn die Liquidatoren nach „Einheit" schreien, versuchen sie, die politisch<br />
unentwickelten Arbeiter mit dem bloßen Klang des Wortes mitzureißen.<br />
„Einheit" ist angenehm, „fraktionslose Organe" sind sympathischer!<br />
Aber man lese sogar Axelrod, auch er wird einem erklären, daß<br />
Fraktionslosigkeit unmöglich, utopisch ist, daß es zwei Cager in der Arbeiterdemokratie<br />
gibt, daß diese Lager Qegensätze bilden.<br />
Wie denn? Die Liquidatoren werden doch nicht etwa eine „Plattform"<br />
Zur Verschleierung ihrer Ansichten verteidigen? - eine diplomatische<br />
Plattform, die die Bourgeoisie so liebt? - eine Plattform, die keinerlei Antworten<br />
auf die „brennenden Fragen" vorsieht, sondern sich „einfach" und<br />
„nur" damit beschäftigt, die Kandidaten „in die Duma zu bringen" ?<br />
Das wäre der Gipfel der Prinzipienlosigkeit. Darauf werden sich die<br />
Arbeiter niemals einlassen. Solche Plattformen, wie „offen" sie auch sein<br />
mögen, werden keinen einzigen Tag Bestand haben.<br />
Nein. Wir haben genug vom Selbstbetrug. Es ist an der Zeit, der Wahrheit,<br />
die diesmal auch der Führer der Liquidatoren, Axelrod, offen zugegeben<br />
hat, ins Auge zu schauen. Wollt ihr Herren Liquidatoren auf<br />
„eurer" Plattform beharren (obwohl ihr sie bisher noch nicht dargeboten<br />
habt, und an Plattformen, die sechs Wochen vor den Wahlen aufgestellt<br />
werden, glauben wir nicht!) - wollt ihr auf „eurer" Taktik beharren (obwohl<br />
ihr sie bisher nirgends exakt, in aller Form, parteimäßig dargelegt
168 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />
habt!) -, so beklagt euch bei euch selbst! Dann habt ihr die Einheit verletzt,<br />
die sdoon vorhanden ist. Dann fällt eudh die ganze Verantwortung<br />
für diese Verletzung zu.<br />
Nein. Wir haben genug vom Selbstbetrug. Das liquidatorische Geschrei<br />
nach „Einheit" dient nur der Irreführung. Die Liquidatoren wissen sehr<br />
gut, daß sie die Arbeiter gegen sich haben, sie wissen auch ebensogut,<br />
welch völlige, vernichtende Niederlage ihnen ihr isoliertes Auftreten einbringen<br />
würde. Deshalb sind sie auch bereit, alles mögliche zu versprechen<br />
- werden sie nur in die Duma gewählt.<br />
So geht es nicht. So handeln nur Bourgeois. Die Arbeiterdemokratie<br />
glaubt nur an Programme, Beschlüsse, Taktiken, Losungen, die jahrelang<br />
vor den Wahlen in die Tat umgesetzt wurden und bei den Wahlen nur<br />
zum hundertsten Male wiederholt werden. Wer aber ohne diese Beschlüsse,<br />
nur für die Wahlen, nichtssagende „Plattformen" aufstellt, der<br />
verdient keinerlei Vertrauen.<br />
Axelrods Feuilleton ist eine nützliche Sache für die Überwindung des<br />
Selbstbetrugs, für die Belehrung der verschiedenen Verfasser „neuer",<br />
„offener", „gemeinsamer" Plattformen.<br />
II<br />
Der Schluß des Artikels von Axelrod, von dem wir in der „Newskaja<br />
Swesda" Nr. <strong>18</strong> sprachen, ist jetzt in der „Nascha Sarja" erschienen. Im<br />
allgemeinen hat dieser Schluß unser Urteil vollauf bestätigt, und wir können<br />
nur wiederholen: Axelrods Artikel ist eine nützliche Sache für die<br />
Überwindung des Selbstbetrugs, für die Klärung der wirklichen Natur des<br />
Liquidatorentnms, für die Einschätzung der ganzen Hohlheit der berüchtigten<br />
„Fraktionslosigkeit", für die man sich heutzutage in manchen Zirkeln<br />
so sehr und so unnütz begeistert.<br />
Besonders ausdrucksvoll und überzeugend widerlegt Axelrod Trotzki,<br />
der heute im <strong>Band</strong> (in festem?) mit den Liquidatoren steht. „Die ideologische<br />
und organisatorische Vereinigung der progressiven Elemente...",<br />
schreibt Axelrod, dem es Spaß macht, die Liquidatoren parteitreue Progressisten<br />
und uns Reaktionäre des Parteiprinzips zu nennen, „zu einer<br />
selbständigen Fraktion ist, bei der gegebenen Lage der Dinge, ihre direkte<br />
Pflicht, ihre unaufschiebbare Aufgabe." „Will man bei dieser Sachlage in
TVie V. B. Axelrod die Liquidatoren entlarvt 169<br />
der Partei von einem Aufheben jeder Fraktionsspalttmg als dem alleinrettenden<br />
Mittel sprechen, so tut man es dem Vogel Strauß gleich, der bei<br />
nahender Gefahr den Kopf in den Sand steckt, so betrügt man sich selbst<br />
und andere in bezug auf die wirkliche Lage der Dinge in der Sozialdemokratie<br />
..." („Nasdia Sarja" Nr. 6, S. 15.)<br />
Armer Trotzki! Es ist geradezu grausam und engherzig, wenn P. B.<br />
Axelrod gegen einen treuen Freund der Liquidatoren und Mitarbeiter der<br />
„Nascha Sarja" so losdonnert. Was können wir jetzt erwarten? Wird<br />
Trotzki mit einem vernichtenden Artikel gegen den Fraktionär Axelrod<br />
auftreten, oder wird Martow den Versöhnler Trotzki mit dem Fraktionär<br />
Axelrqd aussöhnen, indem er, wie gewöhnlich, aus dem Leim Gehendes<br />
mit Hilfe eines Dutzends Vorbehaltspflaster zusammenflickt?<br />
Kann man denn jetzt noch im Ernst davon sprechen, daß es den berüchtigten<br />
Block* Trotzlds, der lettischen und jüdischen Beinahe-Marxisten<br />
usw. mit Axelrod gibt?<br />
Axelrods Artikel enthält einen Punkt, der ernsthaft analysiert zu werden<br />
verdient, nämlich über die „Europäisierung" unserer sozialdemokratischen<br />
Bewegung. Bevor wir aber zu diesem Punkt übergehen, müssen<br />
einige Worte über eine gewisse Methode der Liquidatoren gesagt werden.<br />
Eine Seite des Artikels von Axelrod (die 16.) bildet eine Kollektion von<br />
stärksten, boshaftesten, sorgsam ausgesuchten Schmähungen gegen die<br />
Antiliquidatoren überhaupt und den Schreiber dieser Zeilen im besondern.<br />
Auf Beschimpfungen brauchte man überhaupt nicht zu antworten (in Axelrods<br />
Lage bleibt nichts anderes übrig, als zu schimpfen und zu fluchen),<br />
gäbe es nicht dokumentarische Beweise dafür, daß die einen solches Gekeif<br />
besonders ausnutzen, die anderen sich dadurch verwirren lassen.<br />
Herr Tschemow stellt zum Beispiel in den „Sawety" 51 als Antwort auf<br />
die Beweise Kamenews, daß er, der Führer der „linken" Volkstümler, von<br />
der Demokratie zum Liberalismus absinke, einen Strauß der stärksten<br />
Ausdrücke der Liquidatoren und Antiliquidatoren zusammen und macht<br />
• Axelrods Artikel trägt das Datnm des 17. Mai 1912 - ist also fünf Monate<br />
nach der feierlichen Bildung des Blocks der Trotzkisten und Liquidatoren zur<br />
Bekämpfung der Antiliqaidatoren unter dem Banner der „Fraktionslosigkeit"<br />
geschrieben!<br />
12 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>
170 W.1. Lettin<br />
sich darüber lustig. Herrn Tschemows Manier ist so verwerflich, daß es<br />
genügt, auf sie aufmerksam zu machen und weiterzugehen.<br />
Nirgendwo in der Welt ist es auch nur bei einem einzigen prinzipiellen<br />
Kampf zwischen den Gruppen innerhalb der sozialdemokratischen Bewegung<br />
ohne vielerlei persönliche und organisatorische Konflikte abgegangen.<br />
Speziell die „konfliktbedingten" Ausdrücke herauszufischen ist Sache von<br />
Schmutzfinken. Sich durch diese Konflikte verwirren lassen, sich von<br />
ihnen entmutigt oder verachtungsvoll abwenden - dort ist doch alles Krakeel<br />
! - können nur nervenschwache Dilettanten aus dem Kreis der „Sympathisierenden".<br />
Leute, die sich ernsthaft für die Arbeiterbewegung<br />
interessieren, werden es immer lernen - das ist möglich und notwendig —,<br />
wenn sie auch nur die historische Rolle der großen Männer der Arbeiterbewegung<br />
studieren, die „konfliktbedingte" Seite des Kampfes der Ideen,<br />
des Kampfes der Strömungen von der prinzipiellen Seite zu unterscheiden.<br />
Menschen sind Menschen, und ohne „konfliktbedingtes" Material, ohne<br />
„Krakeel" ist es bei den historischen Konflikten zwischen den Marxisten<br />
und den Anarchisten (Marx und Bakunin), den Guesdisten und den Jauresisten,<br />
den Lassalleanern und den Eisenachern usw. nicht abgegangen.<br />
Es gibt auch heute noch literarische Schmutzfinken, die sich speziell<br />
damit befassen, „aus jenen Zeiten" Sträuße von tausendundein Beschuldigungen<br />
unehrlichen Verhaltens u. dgl. m. zu sammeln. Es gibt aber auch<br />
ernste Sozialdemokraten, und diese decken die ideohgisdhen Wurzeln der<br />
Meinungsverschiedenheiten auf, die bei der Spaltung der einzelnen Gruppen,<br />
unter den Bedingungen des Emigrantendaseins usw. unausbleiblich<br />
die Form heftiger und erbitterter Konflikte annehmen.<br />
Mögen die Leser nicht denken, daß wir irgend jemanden „abschrecken"<br />
wollen, das Material zu studieren, worauf Axelrod an den besonders<br />
zänkischen Stellen seines Artikels anspielt - nur anspielt. Ganz im Gegenteil.<br />
Wer über die sozialdemokratische Bewegung alles wissen will, den<br />
fordern wir auf, dieses Material zu studieren. Im Ausland ist es vollständig<br />
vorhanden, es gibt da nicht nur leidenschaftliche Beschuldigungen,<br />
sondern atfch Dokumente und Zeugenaussagen neutraler Personen. Ein<br />
Studium dieser Dokumente und dieser Aussagen wird die Frage beantworten,<br />
weshalb der im Januar 1910 gemachte Versuch, zwischen den<br />
Liquidatoren und den Antiliquidatoren völligen Frieden zu schließen, gescheitert<br />
ist.
ieV.H. Jhcelrod die Liquidatoren entlarvt 171<br />
Eine der interessantesten und prinzipiellsten Stellen in Axelrods Artikel<br />
ist die folgende:<br />
„Die Bildung einer festen Fraktion erscheint als direkte Pflicht und dringende<br />
Aufgabe der Freunde einer Parteireform oder, genauer..." (hört!)<br />
„ einer Parteirevolution, denn nur so werden sie die Aufgabe lösen können,<br />
den Charakter der russischen Sozialdemokratie, wie er in der Zeit vor der<br />
Revolution geprägt wurde und sich in der Revolution weiterentwickelt hat, zu<br />
europäisieren, d.h. radikal zu verändern und sie auf den Fundamenten aufzubauen,<br />
auf denen der Parteibau der europäischen Sozialdemokratie ruht."<br />
Die Liquidatoren sind also Anhänger einer Parteirevolution. Diese<br />
überaus wahre Erklärung Axelrods ist wert, hervorgehoben zu werden:<br />
eine bittere Wahrheit ist nützlicher als ein „erhebend schöner Wahn"*,<br />
ist wertvoller als diplomatische Ausflüchte und Vorbehalte. Machen Sie<br />
doch eine Parteirevolution, verehrter P.B. Axelrod! Wir werden sehen,<br />
ob Sie und Ihre Freunde mehr Erfolg haben als die „Revolutionäre", die<br />
ganz vor kurzem erst eine „Revolution" (gegen die Republik) in Portugal<br />
machen wollten. 52<br />
Das Wichtigste in der angeführten Äußerung aber ist die berüchtigte<br />
„Europäisierung", von der Dan wie Martow, Trotzki wie Lewizki und<br />
alle Liquidatoren in allen Tonarten reden. Hier liegt einer der Kernpunkte<br />
ihres Opportunismus.<br />
„Den Charakter der russischen Sozialdemokratie europäisieren, d.h.<br />
radikal verändern..." Man denke über diese Worte nach. Was bestimmt<br />
den „Charakter" jeglidher Sozialdemokratie und dessen radikale<br />
Veränderung? - Zweifellos die allgemeinen ökonomischen und politischen<br />
Verhältnisse des betreffenden Landes. Zweifellos läßt sich der Charakter<br />
der Sozialdemokratie des einen oder anderen Volkes nur bei radikaler<br />
Wandlung dieser Verhältnisse radikal verändern.<br />
All das sind ganz und gar unbestrittene Binsenwahrheiten. Aber gerade<br />
diese Binsenwahrheiten enthüllen Axelrods opportunistischen Fehler! Darin<br />
eben besteht ja sein Pech, daß er den harten und schweren Kampf für<br />
eine noch nicht vollzogene radikale Änderung der russischen politischen<br />
Verhältnisse umgehen will, indem er von einer radikalen Wandlung des<br />
„Charakters der russischen Sozialdemokratie" träumt.<br />
Wie die Kadetten, die gern von Europäisierung faseln (die Liquida-<br />
*~Zitat aus dem Gedicht „Der Held""von A. S. Puschkin. Der Tibers.
172 IV. jf. <strong>Lenin</strong><br />
toren haben sowohl das kadettische Wort als auch die kadettischen Ideen<br />
übernommen), mit diesem verschwommenen Wort den exakten Begriff<br />
der unverrückbaren Grundpfeiler der politischen Freiheit verschleiern und<br />
„konstitutionelle Opposition" „spielen", so spielen auch die Liquidatoren<br />
„europäische Sozialdemokratie", obwohl es in dem Lande, in dem sie<br />
sich mit ihrem Spiel die Zeit vertreiben, noch keine Verfassung gibt, die<br />
Grundlagen des „Europäismus" nodh fehlen, der schwere Kampf um sie<br />
nodh bevorsteht.<br />
Ein nackter Wilder, der sich einen Zylinderhut aufsetzen und sich<br />
deshalb für einen Europäer halten würde, sähe ziemlich lächerlich aus. An<br />
eben einen solchen Wilden erinnert der Freund der Bourgeoisie Miljukow,<br />
wenn er in der III. Duma versichert: „Wir haben, Gott sei Dank, eine<br />
Verfassung" - und der Arbeiterfreund Axelrod, wenn er sich einen Zylinderhnt<br />
aufsetzt mit der Aufschrift: „Ich bin ein europäischer Sozialdemokrat".<br />
Beide, Miljukow wie Axelrod, sind lächerlich in ihrer Naivität. Beide<br />
sind Opportunisten, denn mit illusionistischen Phrasen von „Europäismus"<br />
umgehen sie die schwierige und aktuelle Frage, wie sich diese oder jene<br />
Klasse unter nichteuropäischen Umständen verhalten muß, um hartnäckig<br />
für die Sicherung der Qrundhgen des Europäismus zu kämpfen.<br />
Daß gerade die Umgehung einer lebendigen und aktuellen Sache vermittels<br />
illusionistischer Phrasen das Ergebnis ist, das hat gerade Axelrod<br />
mit seinem Artikel bewiesen. Trotzki hat einen ganz europäischen -<br />
aber auch ganz und gar europäischen — Vorschlag ausgearbeitet, eine<br />
„Pressekommission" als „gewähltes kollektives Kontrollorgan" zur Kontrolle<br />
der Arbeiter über die Arbeiterzeitungen zu bilden (S. <strong>18</strong> in Axelrods<br />
Artikel). Trotzki hat sich dabei wahrscheinlich sogar mit den „europäischen<br />
Sozialdemokraten" beraten, und sie haben ihm, worauf er besonders<br />
stolz ist, ihren Segen zuteil werden lassen.<br />
Und da erbarmt sich der „europäische Sozialdemokrat" Axelrod, nachdem<br />
er an die zwei Monate verstreichen ließ, in denen Trotzki allen<br />
Petersburger Sozialdemokraten mit seinen allgemeines Gelächter auslösenden<br />
Briefen über „gewählte kollektive Kontrollorgane" lästig wurde,<br />
schließlich Trotzkis und erklärt ihm, daß die „Pressekommission" nichts<br />
tauge, daß sie unmöglich sei, daß statt ihrer die „Verständigung" der<br />
Arbeiter mit dem liquidatorischen „Shiwoje Delo" erreicht werden müsse<br />
(S. <strong>18</strong> und 19 in Axelrods Artikel)!!
Wie J>. B. Axelrod die Liquidatoren entlarvt 173<br />
Das ist ein kleines Beispiel, mit dem wir uns leider begnügen müssen. Es<br />
ist aber sehr kennzeichnend. Das lächerliche Ergebnis, das bei dem „europäischen"<br />
Plan Trotzkis für eine „Pressekommission" herausgekommen<br />
ist, kommt auch heraus bei den „europäischen" Plänen aller Liquidatoren<br />
für eine „legale Arbeiterpartei" oder „legale politische Arbeitergesellschaften",<br />
für eine „Kampagne" des „Kampfes für die Koalitionsfreiheit"<br />
usw.<br />
Die „europäischen" Pläne Trotzkis für eine „Pressekommission", ein<br />
„gewähltes kollektives Kontrollorgan" zur Kontrolle über die Arbeiterzeitung<br />
„aller Arbeiterorganisationen, die feste Gestalt angenommen haben",<br />
haben lediglidh dazu geführt, daß das legalistische „Arbeiterverlag"-Spiel<br />
den Arbeitern eine besondere Lehre erteilt hat, die Liquidatoren aber in<br />
der Tat weder eine „Pressekommission" nodb eine Arbeiterpresse zustande<br />
brachten! So sehen die Tatsachen aus.<br />
Die „Pressekommission" war der Wunschtraum eines opportunistischen<br />
Intellektuellen, der unter Außerachtlassung der schwierigen nichteuropäischen<br />
Verhältnisse der Arbeiterbewegung in Rußland einen ausnehmend<br />
guten europäischen Plan aufstellte und das zum Anlaß nahm, vor<br />
der ganzen Welt mit seinem „Europäismus" zu prahlen.<br />
Dieses bittere Los der Liquidatoren ist nicht zufällig, sondern unausbleiblich.<br />
Sobald sich ihre „europäischen" Pläne der Ausführung nähern,<br />
wird sofort offenbar, daß es Seifenblasen, Hirngespinste opportunistischer<br />
Intellektueller sind. So war es mit dem Arbeiterkongreß und mit der<br />
„Pressekommission", mit der legalen politischen Arbeitergesellschaft (die<br />
wirren Vorbehalte, mit denen Martow in der „Nascha Sarja" Nr. 5 diesen<br />
„Plan" zu „retten" sucht, machen diese Sache keineswegs besser) und mit<br />
der Kampagne des Kampfes für die Koalitionsfreiheit.<br />
Mit „Europäismus" bezeichnen die Liquidatoren die Arbeitsbedingungen<br />
der Sozialdemokraten in den wichtigsten Staaten Europas nadh <strong>18</strong>7:1,<br />
d. h. gerade in einer Periode, da die ganze historische Epoche der bürgerlichen<br />
Revolutionen abgeschlossen war und sidi die Qrundlagen der politischen<br />
Freiheit für eine lange Zeit fest herausgebildet hatten. Die „Wandlung<br />
des Charakters" der Sozialdemokratie in diesen Staaten erfolgte<br />
erstens nado einer radikalen Änderung der politischen Verhältnisse, nachdem<br />
sich eine bestimmte Verfassungsordnung verhältnismäßig sehr fest<br />
eingebürgert hatte, und zweitens war diese Wandlung nur eine zeit-
174 TV.I.<strong>Lenin</strong><br />
weilige Wandlung für eine bestimmte Periode (die, wie auch die vorsichtigsten<br />
Sozialdemokraten Europas allgemein zugeben, gerade in der<br />
letzten Zeit ihrem Ende entgegengeht).<br />
Unter solchen Bedingungen eines völlig gefestigten bürgerlichen Konstitutionalismus<br />
konnte eine Kampagne zum Beispiel für die Koalitionsfreiheit<br />
oder für das allgemeine Wahlrecht, überhaupt für konstitutionelle<br />
Reformen, unter bestimmten Umständen zu einer Kampagne der Arbeiterklasse,<br />
zu einer wirklich politischen Kampagne, zu einem wirklichen Kampf<br />
für konstitutionelle Reformen werden.<br />
Unsere opportunistischen Intellektuellen jedoch übertragen die Losungen<br />
solcher „europäischer" Kampagnen auf einen Boden, der der elementarsten<br />
Grundlagen des europäischen Konstitutionalismus ermangelt, sie<br />
suchen die eigentümliche historische Evolution, die der Schaffung dieser<br />
Grundlagen gewöhnlich vorausgeht, zu umgehen.<br />
Der Reformismus unseres Axelrod und seiner Freunde, die sich als<br />
„europäische Sozialdemokraten" aufspielen, unterscheidet sich vom Reformismus<br />
Bissolatis, dieses echten Europäers, dadurch, daß Bissolati die<br />
Prinzipien des Klassenkampfes und einer konsequenten marxistischen<br />
Theorie und Praxis für Reformen opfert, die von der wirklich herrschenden<br />
liberalen Bourgeoisie tatsächlich (mit diesen oder jenen Schmälerungen)<br />
durchgeführt werden. Axelrod jedoch bringt dasselbe Opfer wie<br />
Bissolati für Reformen, von denen ohnmächtige, nicht ernst zu nehmende,<br />
verträumte Liberale nur unnütz schwatzen.<br />
Zu einer wirklichen Kraft wird die liberale Bourgeoisie bei uns in<br />
Rußland nur dann werden, wenn die Entwicklung des Landes über die<br />
Schüchternheit der Liberalen, über ihre versöhnlerischen, halbschlächtigen<br />
Losungen hinwegschreitet. So war es überall. Die Liberalen wurden zu<br />
einer Macht nur dann, wenn die Demokratie entgegen den Liberalen<br />
siegte.<br />
Veröffentlicht am 22. und 29. "]u\i 1912 Tiaäi dem 7ext der Zeitung,<br />
in der „Newskaja Swesda" "Nr. <strong>18</strong> und 19. verglühen mit dem 7ext des<br />
"Unterschrift: W. 7. Sammelbandes „Marxismus<br />
und Licfuidatorentum", 7eil<br />
11, St. Petersburg 1914.
HPABUA<br />
enjusiiui rwnui rutr«. Cpcm, 1 Atrycr» i»u i\ UfeHA 2 Kon.<br />
EioAneTeHt. KoHTopmHi IIEHA.<br />
Erste Seite der „Prawda" Nr. 80 vom 1. August 1912<br />
mit einer Fortsetzung von W. I. <strong>Lenin</strong>s Artikel<br />
„Ergebnisse der Arbeit eines halben Jahres"<br />
"Verkleinert
ERGEBNISSE DER ARBEIT<br />
EINES HALBEN JAHRES 53<br />
177<br />
Mit der Herausgabe einer Arbeitertageszeitung haben die Petersburger<br />
Arbeiter eine große, ja, man kann ohne Übertreibung sagen, eine historische<br />
Tat vollbracht. Die Arbeiterdemokratie hat sich unter ungemein<br />
schwierigen Bedingungen zusammengeschlossen und gefestigt. Selbstverständlich<br />
kann man bei uns nicht von einer festen Tundierung der demokratischen<br />
Arbeiterpresse sprechen. Jeder weiß sehr gut, welchen Verfolgungen<br />
die Arbeiterzeitungen ausgesetzt sind.<br />
Aber bei alledem bleibt die Gründung der „Prawda" ein hervorragendes<br />
Zeugnis des Bewußtseins, der Energie und der Geschlossenheit der<br />
russischen Arbeiter.<br />
Es ist von Nutzen, Rückschau zu halten und einige Ergebnisse der halbjährigen<br />
Arbeit zu betrachten, die von den russischen Arbeitern zur<br />
Herausgabe einer eigenen Presse geleistet worden ist. Eben seit Januar<br />
dieses Jahres hat sich in den Arbeiterkreisen Petersburgs endgültig das<br />
Interesse für eine eigene Presse herausgebildet, sind in Organen aller<br />
Schattierungen, die der Arbeiterwelt nahestehen, eine Reihe von Artikeln<br />
über eine Arbeitertageszeitung erschienen.<br />
I<br />
Angaben darüber, von wem und wie die Arbeitertagespresse in Rußland<br />
geschaffen worden ist, liegen glücklicherweise relativ vollständig<br />
vor. Es sind das die Angaben über die Sammlungen für eine Arbeitertageszeitung.<br />
Beginnen wir bei den Samminngen, mit deren Hilfe die „Prawda"
178 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />
geschaffen wurde. Für die Zeit vom 1. Januar bis zum 30. Juni, genau für<br />
ein halbes Jahr, liegen uns die Berichte der „Swesda", der „Newskaja<br />
Swesda" und der „Prawda" vor. Die öffentliche Abgabe dieser Berichte<br />
gewährleistete ihre absolute Richtigkeit; zufällige Fehler wurden auf<br />
Grund von Hinweisen der interessierten Personen unverzüglich korrigiert.<br />
Das Wichtigste und Interessanteste für uns ist nicht die Gesamtsumme<br />
der Sammlungen, sondern die Zusammensetzung der Spender. Wenn zum<br />
Beispiel die „Newskaja Swesda" in Nr. 3 die Gesamtsumme der Sammlungen<br />
für die Arbeitertageszeitung mit 4288 Rubel 84 Kopeken angab<br />
(vom Januar bis zum 5. Mai; die Summen nicht eingerechnet, die seit dem<br />
22. April, dem Tag des Erscheinens der „Prawda", bei dieser Zeitung<br />
direkt eingingen), dann erhebt sich vor uns sofort die Frage: Welche Rolle<br />
haben bei der Aufbringung dieser Summe die Arbeiter und Arbeitergruppen<br />
selbst gespielt? Setzt sie sich aus großen Beiträgen von Sympathisierenden<br />
zusammen? Oder haben hier die Arbeiter selber persönliches,<br />
lebhaftes Interesse für die Arbeiterpresse gezeigt und die hohe Summe<br />
durch Beiträge einer großen Anzahl von Arbeitergruppen aufgebracht?<br />
Vom Standpunkt der Initiative, der Energie der Arbeiter selbst sind<br />
100 Rubel, die, sagen wir, 30 Arbeitergruppen gesammelt haben, viel<br />
wichtiger als 1000 Rubel, die von einigen Dutzend „Sympathisierenden"<br />
aufgebracht wurden. Eine Zeitung, begründet auf Jünfkopekenstüdken,<br />
die von kleinen Arbeiterzirkeln in den <strong>Werke</strong>n und Fabriken gesammelt<br />
worden sind, ist um ein vielfaches solider, fester und sidberer fundiert<br />
(sowohl vom finanziellen Standpunkt aus als auch - was am wichtigsten<br />
ist — im Hinblick auf die Entwicklung der Arbeiterdemokratie) als eine<br />
Zeitung, die sich auf Dutzende und Hunderte Rubel gründet, die die<br />
sympathisierende Intelligenz gespendet hat.<br />
Um genaue Angaben zu dieser grundlegenden und wesentlichsten Frage<br />
zu erhalten, haben wir mit den in den drei erwähnten Zeitungen veröffentlichten<br />
Angaben über die Sammlungen die folgende Berechnung<br />
angestellt. Wir haben dabei nur Sammlungen ausgewählt, bei denen vermerkt<br />
ist, daß sie von Qruppen von Arbeitern oder Angestellten durchgeführt<br />
wurden.<br />
Uns interessieren hier nur Sammlungen, die die Arbeiter selbst vorgenommen<br />
haben, und dabei nicht einzelne Arbeiter, die vielleicht zufällig<br />
diesem oder jenem Sammler begegneten, ohne mit ihm ideologisch,
Ergebnisse der Arbeit eines halben Jahres 179<br />
d. h. ihren Anschauungen, ihren Überzeugungen nach verbunden zu sein,<br />
sondern gerade Qruppen von Arbeitern, die zweifellos vorher beratschlagt<br />
haben, ob man Geld geben soll, wem man es geben soll und für<br />
welchen Zweck.<br />
Jede Mitteilung der „Swesda", der „Newskaja Swesda" und der<br />
„Prawda", in der vermerkt ist, daß es gerade eine Gruppe von Arbeitern<br />
oder Angestellten war, die Geld für eine Arbeitertageszeitung beisteuerte,<br />
werten wir als eine Qruppensammlung der Arbeiter selbst.<br />
Wieviel solcher Sammlungen von Arbeitergrnppen hat es nun in der<br />
ersten Hälfte des Jahres 1912 gegeben?<br />
Jünfbundertvier Qruppensammlungenl<br />
Mehr als ein halbes tausendmal haben Arbeitergruppen für die Gründung<br />
und Unterstützung ihrer Zeitung gespendet, indem sie hier einen<br />
Tagesverdienst abführten, dort einen einmaligen Beitrag leisteten und dort<br />
wiederum diese Beiträge von Zeit zu Zeit wiederholten. 504 Arbeitsgruppen<br />
haben neben einzelnen Arbeitern und Sympathisierenden aktivsten<br />
Anteil an der Gründung ihrer Zeitung genommen; diese Zahl deutet<br />
zweifellos darauf hin, daß unter den Arbeitermsssen ein tiefes und bewußtes<br />
Interesse für die Arbeiterzeitung erwacht ist, und dabei nicht für eine<br />
beliebige Arbeiterzeitung schlechthin, sondern gerade für eine demokratische<br />
Arbeiterzeitung. Wenn ein solches Bewußtsein und eine solche<br />
Aktivität unter den Massen zu verzeichnen sind, so brauchen wir keine<br />
Schwierigkeiten und keine Hindernisse zu fürchten. Es gibt keine Schwierigkeiten<br />
und keine Hindernisse, die das Bewußtsein, die Aktivität und<br />
die Interessiertheit der Arbeitermassen nicht so oder anders überwinden<br />
würden, und es kann sie nicht geben.<br />
Auf die einzelnen Monate verteilen sich diese 504 Gruppensammlungen<br />
wie folgt: Januar 1912 14<br />
Februar 1912 <strong>18</strong><br />
März 1912 76<br />
April 1912 227<br />
Mai 1912 135<br />
Juni 1912 34<br />
Im Halbjahr insgesamt 504<br />
Aus dieser kleinen Tabelle geht übrigens klar die ganze Bedeutung der<br />
April-Mai-Tage als der Jage des Vmsdhwungs hervor. Aus Finsternis zum
<strong>18</strong>0 W.I.Zenin<br />
Lidit, von Passivität zu Aktivität, von Aktionen einzelner zu Massenaktionen.<br />
Im Januar und Februar sind die Sammlungen von Arbeitergruppen<br />
noch ganz und gar unbedeutend. Man sieht, daß die Sadie eben erst im<br />
Keimen ist. Im März schon ein merklicher, bedeutender Anstieg. 76 Sammlungen<br />
von Arbeitergruppen in einem Monat - das zeugt auf jeden Fall<br />
von einer ernst zu nehmenden Bewegung unter den Arbeitern, von dem<br />
beharrlichen Bestreben der Massen, ihr Ziel um jeden Preis zu erreichen,<br />
ohne Opfer zu scheuen. Das zeugt von dem tiefen Vertrauen der Arbeitermassen<br />
in die eigenen Kräfte und in die Organisation der ganzen Sache, in<br />
die Richtung der geplanten Zeitung usw. Im März gab es noch keine<br />
Arbeitertageszeitung. Die Arbeitergruppen sammelten also Geld und zahlten<br />
es bei der „Swesda" eb, sozusagen als Kredit.<br />
Der April bringt mit einem Schlage einen gigantisdien Aufschwung,<br />
der die Sache entscheidet. 227 Sammlungen von Arbeitergruppen in einem<br />
Monat, mehr als sieben Sammlungen im Durchschnitt pro Tag! Der<br />
Damm ist gebrochen, die Arbeitertageszeitung gesichert. Jede Gruppensammlung<br />
bedeutet nicht nur eine Summe von Fünf- und Zehnkopekenstücken,<br />
sondern noch etwas weit Wichtigeres: eine Summe gemeinsamer,<br />
von den Massen aufgebrachter Energie, die Entschlossenheit von<br />
Qruppen, die Arbeiterzeitung zu unterstützen, zu verbreiten, zu lenken,<br />
sie durch die eigene Mitwirkung zu schaffen.<br />
Es kann die Frage auftauchen: Oberwogen nicht im April die Sammlungen<br />
nach dem 22. April, d.h. nach dem Erscheinen der „Prawda"?<br />
Nein. In der „Swesda" wurden vor dem 22. April Berichte über i88 Qruppensamnilungen<br />
veröffentlicht. Die „Prawda" brachte vom 22. April<br />
bis zum Monatsende Berichte über 39 Gruppensammlungen. Also kommen<br />
in den 21 Apriltagen vor dem Erscheinen der „Prawda" durchschnittlich<br />
neun Qruppensammlungen auf den Tag, in den letzten neun Apriltagen<br />
dagegen nur vier.<br />
Hieraus ergeben sich zwei wichtige Schlußfolgerungen:<br />
Erstens entfalteten die Arbeiter gerade vor dem Erscheinen der<br />
„Prawda" die größte Energie. Indem sie „Kredit" gaben, indem sie der<br />
„Swesda" Vertrauen schenkten, drückten sie ihre Entschlossenheit aus,<br />
ihren Willen durchzusetzen.<br />
Zweitens ist hieraus ersichtlich, daß es gerade der proletarische April-
Ergebnisse der Arbeit eines halben Jahres <strong>18</strong>1<br />
aufsdbwung war, der die Arbeiterzeitung „Prawda" geschaffen hat. Es<br />
kann kein Zweifel daran bestehen, daß zwischen dem allgemeinen Aufschwung<br />
der Arbeiterbewegung (der sich nicht auf einen Betrieb, einen<br />
Berufszweig beschränkt, sondern das ganze Volk erfaßt) und der Schaffung<br />
eines täglich erscheinenden Organs der Petersburger Arbeiterdemokratie<br />
der engste Zusammenhang besteht. Berufs- und Fachorgane genügen<br />
uns nicht, wir brauchen eine eigene politische Zeitung - das ist die<br />
Erkenntnis, die sich in den Apriltagen bei den Massen durchgesetzt hat;<br />
wir brauchen nicht irgendeine politische Arbeiterzeitung, sondern gerade<br />
die Zeitung der fortschrittlichen Arbeiterdemokratie; wir brauchen die<br />
Zeitung nicht nur, damit sie unseren Arbeiterkampf unterstützt, sondern<br />
auch, damit sie dem ganzen Volk das Beispiel gibt und ihm den Weg erhellt.<br />
Im Mai ist der Aufschwung noch sehr deutlich zu verspüren. Die Zahl<br />
der Gruppensammlungen liegt im Durchschnitt täglich über vier. Einerseits<br />
wird hier der allgemeine Aufschwung vom April und Mai sichtbar. Anderseits<br />
wissen die Arbeitermassen, daß die Lage der Tageszeitung,<br />
obwohl sie bereits zu erscheinen begonnen hat, zunächst besonders schwierig<br />
ist und sie der Unterstützung durch die Gruppen besonders bedarf.<br />
Im Juni sinkt die Zahl der Gruppensammlungen unter den Stand vom<br />
März. Natürlich muß man in Betracht ziehen, daß nadi dem Erscheinen<br />
der Arbeitertageszeitung eine andere Form der Hilfe für die Zeitung entstanden<br />
ist und entscheidende Bedeutung erlangt hat, und zwar das Abonnement<br />
und die Verbreitung der Zeitung unter Genossen, Bekannten,<br />
Landsleuten usw. Alle bewußten Freunde der „Prawda" beschränken sich<br />
nicht darauf, sie selbst zu abonnieren, sondern verteilen die Zeitung zur<br />
Probe, zur Einsicht in anderen Fabriken, in den Nachbarwohnungen und<br />
-häusern, verschicken sie auf das Land usw. Leider kann es über diese Art<br />
der Gruppenhilfe keine vollständige Statistik geben.<br />
Äußerst lehrreich ist es, zu analysieren, wie sich diese 504 Sammlungen<br />
von Arbeitergruppen auf die Städte und Fabrikorte verteilen. In welchen<br />
Gegenden Rußlands und mit welcher Energie sind die Arbeiter dem Aufruf<br />
gefolgt, eine Arbeitertageszeitung zu schaffen?
<strong>18</strong>2 W.I.Cenin<br />
Angaben darüber liegen glücklicherweise für alle Sammlungen von<br />
Arbeitergruppen vor, über die Berichte in der „Swesda", der „Newskaja<br />
Swesda" und der „Prawda" veröffentlicht wurden.<br />
Wenn wir diese Angaben zusammenfassen, müssen wir vor allem<br />
Petersburg hervorheben, das bei der Schaffung einer Petersburger<br />
Arbeiterzeitung naturgemäß an der Spitze steht; sodann folgen vierzehn<br />
Städte und Fabrikorte, aus denen Sammlungen von mehr als einer Arbeitergruppe<br />
eingingen, und schließlich alle übrigen Städte, 35 an der Zahl,<br />
aus denen während des Halbjahres nur von je einer Arbeitergruppe gesammelte<br />
Gelder eingingen. Wir erhalten folgendes Bild:<br />
insgesamt<br />
Petersburg 412<br />
14 Städte mit 2-12 Gruppensammlungen 57<br />
35 Städte mit je 1 Gruppensammlung 35<br />
Insgesamt in 50 Städten 504<br />
Hieraus ist ersichtlich, daß sich fast ganz Rußland in diesem oder jenem<br />
Maße aktiv an der Schaffung einer Arbeitertageszeitung beteiligt hat.<br />
Zieht man in Betracht, auf welche Schwierigkeiten die Verbreitung der<br />
demokratischen Arbeiterpresse in der Provinz stößt, dann muß man sich<br />
über die große Anzahl von Städten wundern, die in diesem Halbjahr dem<br />
Appell der Petersburger Arbeiter gefolgt sind.<br />
Zweiundneunzig Sammlungen von Arbeitergruppen in 49 Städten<br />
Rußlands*, außer der Hauptstadt - das ist eine sehr eindrucksvolle Zahl,<br />
zumindest für den Anfang. Hier kann von zufälligen, gleichgültigen, passiven<br />
Spendern keine <strong>Red</strong>e mehr sein,- wir haben zweifellos Vertreter der<br />
* Hier die vollständige Liste der Städte und Ortschaften. Umgebung von<br />
St. Petersburg: Kronstadt, Kolpino, Sestrorezk. Süden: Charkow - 4 Gruppensammlungen,<br />
Jekaterinoslaw - 8, Ananjew - 2, Lugansk - 3, Cherson, Rostow<br />
am Don, Pawlograd, Poltawa, Kiew - 12, Astradhan - 4, Tschernigow,<br />
Jasowka - 3, Minakowo, Schtscherbin. Rudnik, Rykowski Rudnik, Belgorod,<br />
Jelisawetgrad, Jekaterinodar, Mariupol - 2, Nishne-Dneprowsk, Nadhitsdiewan.<br />
Moskauer Bezirk: Rodniki - 2, Rjasan, Tula - 2, Beshezk - 2. Norden:<br />
Archangelsk - 5, Wologda. Westen: Dwinsk, Wilna, Gomel, Riga, Libau,<br />
Mühlgraben. Ural: Perm, Kysditym, Minjar, Orenburg. Wolgagebiet: Sormowo,<br />
Dorf Balakowo. Kaukasus: Baku - 2, Grosny, Tiflis. Sibirien: Tjnmen<br />
und Blagowesditschensk. Finnland: Helsingfors.
Ergebnisse der Arbeit eines halben Jahres <strong>18</strong>3<br />
proletarischen Massen vor uns, die zwar über ganz Rußland verteilt, aber<br />
durch ihre bewußte Sympathie für die Arbeiterdemokratie vereinigt sind.<br />
Wir wollen bemerken, daß an der Spitze der Provinzstädte Kiew mit<br />
zwölf Gruppensammlungen steht, dann folgt Jekaterinoslaw mit acht, und<br />
erst an vierter Stelle kommt Moskau mit sechs. Dieses Zurückbleiben<br />
Moskaus und des ganzen Bezirks wird aus folgenden Gesamtängaben für<br />
alle Gebiete Rußlands noch klarer ersichtlich:<br />
Zahl der Sammlungen von Arbeitergruppen für eine Arbeitertageszeitung<br />
im Halbjahr Januar bis Juni I9i2<br />
Petersburg und Umgebung 415<br />
Süden 51<br />
Moskau und Moskauer Bezirk 13<br />
Norden und Westen 12<br />
Ural und Wolgagebiet 6<br />
Kaukasus, Sibirien, Finnland 7<br />
Insgesamt in Rußland 504<br />
Diese Angaben lassen sich folgendermaßen auslegen:<br />
Vom Standpunkt der Belebung der Arbeiterdemokratie in Rußland ist<br />
das proletarische Petersburg bereits erwacht und steht auf seinem ruhmvollen<br />
Posten. Der Süden erwacht gerade. Mütterchen Moskau mit dem<br />
übrigen Rußland aber schläft noch. Es wäre auch für sie Zeit zu erwachen.<br />
Das Zurückbleiben des gesamten Moskauer Bezirks zeigt sich bei einem<br />
Vergleich mit den übrigen JVotx'nzbezirken. Der Süden ist weiter, und<br />
zwar viel weiter von Petersburg entfernt als Moskau. Und trotzdem<br />
kommt der Süden, der eine geringere Anzahl von Industriearbeitern hat<br />
als der Moskauer Bezirk, im Vergleich zu diesem auf fast viermal soviel<br />
Sammlungen von Arbeitergruppen.<br />
Moskau ist offensichtlich sogar hinter dem Ural und dem Wolgagebiet<br />
zurückgeblieben, denn die Zahl der Arbeiter in Moskau und im Moskauer<br />
Bezirk beträgt nicht nur das Doppelte, sondern ein Mehrfaches<br />
der Zahl der Arbeiter im Ural und im Wolgagebiet. Indessen entfallen<br />
auf Moskau und den Moskauer Bezirk insgesamt 13 Gruppensammlungen<br />
gegenüber 6 im Ural und im Wolgagebiet.<br />
Freilich ist das Zurückbleiben Moskaus und des Moskauer Bezirks<br />
wahrscheinlich durch zwei besondere Umstände beeinflußt. Erstens über-
<strong>18</strong>4 1/9. "i. <strong>Lenin</strong><br />
wiegt hier die Textilindustrie. Hier war die Konjunktur, d. h..die Marktverhältnisse<br />
und die Bedingungen für eine stärkere oder schwächere Belebung<br />
der Produktion, schlechter als zum Beispiel in der metallurgischen<br />
Industrie. Deshalb beteiligten sich die Textilarbeiter weniger an Streiks,<br />
zeigten sie weniger Interesse für die Politik und die Arbeiterdemokratie.<br />
Zweitens gibt es im Moskauer Bezirk mehr Fabriken, die auf entlegene<br />
Ortschaften verstreut sind, und die Zeitung kann schwerer dorthin gelangen<br />
als in die Großstadt.<br />
Aber auf jeden Fall ergibt sich für uns alle aus den angeführten Zahlen<br />
eine nicht zu bezweifelnde Lehre. Der Verbreitung der Arbeiterzeitung<br />
in Moskau muß nun die größte Aufmerksamkeit gewidmet werden. Man<br />
kann sich unmöglich mit dem Zurückbleiben Moskaus abfinden. Jeder<br />
bewußte Arbeiter begreift, daß Petersburg ohne Moskau wie eine Hand<br />
ohne die andere ist.<br />
In Moskau und im Moskauer Bezirk ist die überwiegende Masse der<br />
Fabrikarbeiter Rußlands konzentriert. Im Jahre 1905 zum Beispiel gab<br />
es hier laut Regierungsstatistik 567000 Fabrikarbeiter, d.h. über ein<br />
"Drittel aller Fabrikarbeiter Rußlands (1 660 000) und weit mehr als im<br />
Kreis Petersburg (298 000). Der Moskauer Bezirk müßte deshalb an erster<br />
Stelle stehen, was die Zahl der Leser und Freunde der Arbeiterzeitung,<br />
die Zahl der bewußten Vertreter der Arbeiterdemokratie betrifft. Moskau<br />
wird sich natürlich eine eigene Arbeitertageszeitung schaffen müssen.<br />
Vorläufig aber muß ihm Petersburg helfen. Die Leser der „Prawda"<br />
müssen sich und ihren Freunden jeden Morgen sagen: „Arbeiter, denkt an<br />
die Moskauer!"<br />
in<br />
Die angeführten Zahlen müssen unsere Aufmerksamkeit aber noch<br />
unter einem anderen, äußerst wichtigen und praktisch aktuellen Gesichtspunkt<br />
auf sich lenken. Jeder versteht, daß eine politische Zeitung für<br />
jedwede Klasse der heutigen Gesellschaft eine der Grundvoraussetzungen<br />
für ihre Beteiligung am politischen Leben des Landes überhaupt und insbesondere<br />
auch für ihre Beteiligung an einer Wahlkampagne ist.<br />
So brauchen auch die Arbeiter überhaupt und insbesondere für die<br />
Wahlen zur IV. Duma eine Zeitung. Die Arbeiter wissen sehr wohl, daß<br />
sie weder von der III. noch von der IV. Duma etwas Gutes erwarten
Ergebnisse der Arbeit eines halben Jahres <strong>18</strong>5<br />
können; aber an den Wahlen müssen wir uns beteiligen, erstens, um die<br />
Arbeitermassen während der Wahlen, wo der Parteienkampf und das<br />
ganze politische Leben einen Aufschwang nehmen, wo die Massen so<br />
oder so Politik lernen, zusammenzuschließen und politisch zu schulen, und<br />
zweitens, um unsere Arbeiterdeputierten in die Duma zu bringen. Selbst<br />
in der schwärzesten Duma, in einer reinen Gutsbesitzerduma können<br />
Arbeiterdeputierte der Arbeitersache nicht wenig Nutzen bringen - und<br />
sie haben ihn gebraäat —, wenn diese Deputierten echte Arbeiterdemokraten,<br />
wenn sie mit den Massen verbunden sind und die Massen es lernen,<br />
sie zu lenken und zu kontrollieren.<br />
Im ersten Halbjahr 1912 haben alle politischen Parteien in Rußland das<br />
begonnen, und im wesentlichen bereits beendet, was man Mobilisierung<br />
der Parteikräfte vor den Wahlen nennt. Mobilisierung ist ein militärisches<br />
Wort. Es bedeutet: die Truppen in Kampfbereitschaft versetzen. Ähnlich<br />
wie vor einem Krieg die Truppen in Kampfbereitschaft versetzt, die<br />
Reservisten einberufen, Waffen und Munition verteilt werden, so ziehen<br />
vor Wahlen auch alle Parteien eine Bilanz ihrer Arbeit, bestätigen ihre<br />
Beschlüsse über die Auffassungen und Losungen der Partei, sammeln ihre<br />
Kräfte und rüsten sich zum Kampf gegen alle übrigen Parteien.<br />
Diese Arbeit ist, wir wiederholen es, im wesentlichen bereits abgeschlossen.<br />
Bis zu den Wahlen verbleiben noch wenige Wodoen-, in dieser<br />
Zeit kann und muß man alle Kräfte anspannen, um den Einfluß auf die<br />
Wähler, auf die Massen zu verstärken, aber wenn sich die Partei (die<br />
Partei einer jeden Klasse) während des halben Jahres selbst nicht vorbereitet<br />
hat, so wird ihr nichts mehr helfen, so hat sie sich, was die Wahlen<br />
betrifft, bereits als eine 3VulJ erwiesen.<br />
Deshalb ist das Halbjahr, das unsere Statistik umfaßt, ein Halbjahr<br />
der entsdbeidenden Mobilisierung der Arbeiterkräfte vor den Wahlen zur<br />
IV. Duma. Dieses Halbjahr ist ein Halbjahr der Mobilisierung aller Kräfte<br />
der Arbeiterdemokratie - natürlich nicht nur im Hinblick auf den Dumakampf,<br />
aber wir richten unsere Aufmerksamkeit einstweilen gerade auf<br />
diesen.<br />
Hier taucht eine Frage auf, die kürzlich in der „Newskaja Swesda"<br />
Nr. 16 und in der „Prawda" Nr. 61 berührt wurde. Es ist das die Frage<br />
der sogenannten Liquidatoren, die in Petersburg seit Januar 1912 die Zeitungen<br />
„Shiwoje Delo" und „Newski Golos" herausgeben. Die Liquida-<br />
13 <strong>Lenin</strong>, Wcrire, Bd. <strong>18</strong>
<strong>18</strong>6 W.J.Cemn<br />
toren, die ihre besonderen Zeitungen besitzen, sagen, um die „Einheit" der<br />
Arbeiterdemokratie bei den Wahlen zu sichern, sei eine „Vereinbarung"<br />
mit ihnen, den Liquidatoren, notwendig, und schrecken für den anderen<br />
Fall mit dem Gespenst der „Doppelkandidaturen" 54 .<br />
Diese Einschüditerungsversuche haben offensichtlich bisher sehr -wenig<br />
Erfolg gehabt.<br />
Und das ist durchaus verständlich. Wie kann man Leute ernst nehmen,<br />
die zu Recht die Bezeichnung Liquidatoren und Verfechter einer liberalen<br />
Arbeiterpolitik verdienen?<br />
Aber vielleicht stehen trotzdem viele Arbeiter hinter den irrigen, unsozialdemokratischen<br />
Auffassungen dieser Gruppe von Intellektuellen?<br />
Muß man da nicht besonderes Augenmerk auf diese Arbeiter richten? Zur<br />
Beantwortung dieser Frage liegen uns nunmehr objektive, allgemein zugängliche<br />
und ganz exakte Angaben vor. Während des gesamten Halbjahres<br />
1912 haben die Liquidatoren bekanntlich besonders viel Energie<br />
in ihre Angriffe auf die „Prawda", die „Newskaja Swesda", die „Swesda"<br />
und überhaupt auf alle Gegner des Liquidatorentums gelegt.<br />
Welchen Erfolg hatten die Liquidatoren nun unter den Arbeitern?<br />
Davon zeugen die Sammlungen für eine Arbeitertageszeitung, von denen<br />
die Liquidatorenzeitungen „Shiwoje Delo" und „Newski Golos" berichteten.<br />
Daß eine Tageszeitung notwendig ist, haben die Liquidatoren schon<br />
lange, schon 1911, wenn nicht gar 1910 erkannt, und sie haben diese Idee<br />
mit allen Kräften unter ihren Anhängern propagiert. Seit Februar 1912<br />
veröffentlicht das „Shiwoje Delo", das zum erstenmal am 20. Januar erschien,<br />
Berichte über die bei ihm für diesen Zweck eingegangenen gesammelten<br />
Mittel.<br />
Heben wir aus diesen Sammlungen (die im ersten Halbjahr 1912<br />
139 Rbl. 27 Kop. erbrachten) die Sammlungen von Arbeitergruppen heraus<br />
- genauso, wie wir das bei den niditliquidatorischen Zeitungen gemacht<br />
haben. Ziehen wir die Bilanz aus sämtlichen 16 Nummern des „Shiwoje<br />
Delo" und den 5 Nummern des „Newski Golos" (Nr. 6 des „Newski<br />
Golos" ist erst im Juli erschienen) und nehmen wir sogar die Sammlungen<br />
zur Unterstützung des „Shiwoje Delo" selbst hinzu (obwohl wir bei den<br />
niditliquidatorischen Zeitungen Angaben über derartige Sammlungen<br />
unberücksichtigt ließen). Wir erhalten folgende Angaben über die Gesamtzahl<br />
der Sammlungen von Arbeitergruppen in diesem Halbjahr:
Ergebnisse der Arbeit eines halben Jahres <strong>18</strong>7<br />
Zahl der Sammlungen von Arbeitergruppen für eine Arbeitertageszeitung<br />
im ersten Uatbjabr 1912<br />
Januar<br />
Februar<br />
März<br />
April<br />
Mai<br />
Juni<br />
Insgesamt<br />
nidhtliqnidatorisdien Liquidatoren-<br />
Zeitungen<br />
14<br />
<strong>18</strong><br />
76<br />
227<br />
135<br />
34<br />
504<br />
zcttongcD<br />
0<br />
0<br />
7<br />
8<br />
0<br />
0<br />
Im Laufe eines halben Jahres ist es also dem Grüppdien intellektueller<br />
Liquidatoren onter verzweifelten Anstrengungen gelungen, die Unterstützung<br />
von insgesamt 15 Arbeitergruppen za erhalten!<br />
Kann man sid» eine vollständigere Niederlage der Liquidatoren seit<br />
dem Januar 1912 vorstellen? Kann man sidi einen treffenderen Beweis<br />
dafür vorstellen, daß wir eben ein Grüppdien intellektueller Liquidatoren<br />
vor uns haben, das zwar imstande ist, eine halbliberale Zeitsduift und eine<br />
Zeitung herauszugeben, das aber jeder einigermaßen ernst zu nehmenden<br />
proletarisdien Massenbasis entbehrt?<br />
Hier nodi die Angaben über die Verteilung der bei den Liquidatoren<br />
eingegangenen Sammlungen von Arbeitergruppen auf die einzelnen<br />
Gebiete.<br />
Zähl der Sammlungen von Arbeitergruppen für eine Arbeitertageszeitung<br />
im erstenflaibjabr 1912<br />
Eingegangen bei<br />
niditliqnidatorisdien Liquidatoren-<br />
Petersburg und Umgebung<br />
Süden<br />
Moskau und Moskauer Bezirk<br />
Norden und Westen<br />
Ural und Wolgagebiet<br />
Kaukasus, Sibirien und Finnland<br />
Insgesamt<br />
15<br />
Zeitungen<br />
415<br />
51<br />
13<br />
12<br />
6<br />
7<br />
504<br />
Zeitungen<br />
10<br />
I<br />
2<br />
1<br />
0<br />
1<br />
* Moskau - 2, Nadiitsdiewan, Nowonikolajewsk und Archangelsk je 1.<br />
15*
<strong>18</strong>8 TV.I.Cenin<br />
Im Süden ist also die Niederlage der Liquidatoren in diesem Halbjahr<br />
sogar noch größer als in Petersburg.<br />
Diese exakten Angaben der Arbeiterstatistik, die während des ganzen<br />
Halbjahres in den Zeitungen der entgegengesetzten Richtungen offen abgedruckt<br />
wurden, entscheiden die Frage des „liquidatorentums" endgültig.<br />
Man kann die Gegner des Liquidatorentums beschimpfen und verleumden,<br />
soviel man will, aber die exakten Angaben über die Sammlungen<br />
von Arbeitergruppen sind unwiderlegbar.<br />
Jetzt ist durchaus verständlich, warum weder die „Newskaja Swesda"<br />
noch die „Prawda" die Drohungen der Liquidatoren mit den „Doppelkandidaturen"<br />
ernst genommen haben. Es wäre lächerlich, Drohungen von<br />
Leuten ernst zu nehmen, von denen sich in einem halben Jahr offenen<br />
Kampfes herausgestellt hat, daß sie kaum mehr als eine Null sind. Alle<br />
Verteidiger des Liquidatorentums haben sich im „Shiwoje Delo" und<br />
„Newski Golos" vereinigt. Und sie alle zusammengenommen haben im<br />
Laufe eines halben Jahres fünfzehn Arbeitergruppen für sich gewonnen!<br />
Das Liquidatorentum ist in der Arbeiterbewegung ein Nichts, stark ist<br />
es nur unter der liberalen Intelligenz.<br />
IV<br />
Die in der „Prawda" veröffentlichten Angaben über Arbeitersammlungen<br />
jeder Art stellen, allgemein gesagt, ein äußerst interessantes Material<br />
dar. Hier erhalten wir zum erstenmal im höchsten Grade exakte Angaben<br />
über die verschiedensten Seiten der Arbeiterbewegung und des Lebens<br />
der russischen Arbeiterdemokraten. Auf die Auswertung dieser Angaben<br />
hoffen wir noch öfter zurückzukommen.<br />
Jetzt aber müssen wir, die Obersicht über die Zahlen der Arbeitergruppensammlungen<br />
für eine Tageszeitung abschließend, eine praktische<br />
Schlußfolgerung festhalten.<br />
Die Arbeiter haben gruppenweise 504 Beiträge für ihre Presse bei der<br />
„Swesda" und der „Prawda" eingezahlt. Sie haben dabei keinerlei anderes<br />
Ziel verfolgt, als eine eigene Arbeiterpresse zu schaffen und zu unterstützen.<br />
Gerade deshalb hat die einfache wahrheitsgetreue Zusammenstellung<br />
dieser Angaben eines halben Jahres ein ungemein wertvolles Bild<br />
aus dem Leben der Arbeiterdemokratie in Rußland ergeben. Die Fünf-
Ergebnisse der Arbeit eines halben Jahres <strong>18</strong>9<br />
und Zehnkopekenstücke, gemeinsam zusammengetragen und mit dem<br />
Vermerk versehen: „von einer Arbeitergruppe aus der und der Fabrik",<br />
haben die Möglichkeit geboten, über die Stimmung der Arbeiter wie über<br />
ihr Bewußtsein, ihre Einigkeit und ihre Aufgeschlossenheit für die Arbeitersache<br />
zu urteilen.<br />
Darum muß man diesen Brauch der Arbeitergruppensammlungen, den<br />
der Aufschwung von April und Mai hervorgebracht hat, unbedingt fortführen,<br />
entfalten und erweitern, und selbstverständlich sind weiterhin<br />
solche Berichte über die Sammlungen notwendig, wie sie die „Prawda"<br />
immer gebracht hat.<br />
Sowohl im Hinblick auf die feste Fundierung der Arbeiterpresse als<br />
audi im Hinblick auf die gemeinsamen Interessen der Arbeiterdemokratie<br />
ist dieser Brauch von größter Bedeutung.<br />
Die Arbeiterpresse muß entwickelt und gefestigt werden. Dazu braucht<br />
man Geld. Nur unter der Voraussetzung, daß unter den Arbeitermassen<br />
ständig Sammlungen durchgeführt werden, wird es in beharrlicher Arbeit<br />
möglich sein, eine befriedigende Organisation der Arbeiterzeitungen in<br />
Rußland zu erreichen. In Amerika gibt es eine Arbeiterzeitung („Appeal<br />
to Reason" 55 ), die über eine halbe Million Abonnenten hat. Es muß ein<br />
schlechter russischer Arbeiter sein - würden wir in Abwandlung einer bekannten<br />
<strong>Red</strong>ewendung sagen -, der nicht die Hoffnung hätte, seinen<br />
amerikanischen Kollegen einzuholen und zu überholen.<br />
Viel wichtiger, unvergleichlich wichtiger ist jedoch nicht die finanzielle<br />
Seite der Sache, sondern eine andere. Nehmen wir an, hundert Arbeiter<br />
der verschiedenen Abteilungen einer Fabrik zahlten am Lohntag je eine<br />
Kopeke für die Arbeiterzeitung. Das wären insgesamt zwei Rubel im<br />
Monat. Nehmen wir anderseits an, zehn gut verdienende Arbeiter, die<br />
zufällig zusammengekommen sind, hätten auf einen Schlag zehn Rubel<br />
gesammelt.<br />
Die ersten zwei Rubel sind wertvoller als der zweite Zehnrubelschein.<br />
Das ist jedem Arbeiter so klar, daß hier lange Erklärungen überflüssig sind.<br />
Es muß Brauch werden, daß jeder Arbeiter an jedem Lohntag je eine<br />
Kopeke für die Arbeiterzeitung zahlt. Mag das Zeitungsabonnement seinen<br />
Gang gehen, mag, wer es kann, mehr zahlen, wie er es bisher getan<br />
hat. Das Wichtigste aber ist, außerdem den Brauch der .Kopeke }ür die<br />
Arbeiterzeitung" einzuführen und zu verbreiten.
190 IV.I.<strong>Lenin</strong><br />
Die ganze Bedeutung dieser Sammlungen wird darin liegen, daß sie regelmäßig<br />
an jedem Lohntag, ohne Unterbrechung, durchgeführt werden, und<br />
darin, daß sich eine immer größere Anzahl von Arbeitern an diesen ständigen<br />
Sammlungen beteiligt Die veröffentlichten Berichte könnten einfach<br />
lauten: „Soundso viel Kopeken" - das hieße: Soundso viel Arbeiter der<br />
betreffenden Fabrik haben Beiträge für die Arbeiterzeitung geleistet. Und<br />
danach, wenn es größere Beiträge gibt, kann man schreiben: „Außerdem<br />
haben soundso viel Arbeiter soundso viel gespendet."<br />
Wenn sich dieser Brauch der Kopeke jür die Arbeiterzeitung einbürgert,<br />
dann werden die russischen Arbeiter ihre Zeitungen bald auf die gebührende<br />
Höhe bringen. Die Arbeiterzeitung muß mehr und vielfältigeres<br />
Material bringen, Sonntagsbeilagen und anderes, sie muß in der Duma<br />
ebenso wie in allen Städten Rußlands und in den größten Städten des Auslands<br />
ihre Korrespondenten haben. Die Arbeiterzeitung muß sich ständig<br />
entwickeln und verbessern - und das ist anmöglich, wenn nicht eine möglichst<br />
große Anzahl von Arbeitern ständig für ihre Presseorgane sammelt.<br />
Eine monatliche Zusammenstellung der Angaben über die Arbeiterkopeke<br />
wird allen und jedem zeigen, wie die Arbeiter in allen Gegenden<br />
Rußlands ihre Gleichgültigkeit abstreifen und aus ihrer Verschlafenheit<br />
zu einem vernünftigen, kulturvollen Leben - nicht im konventionellen und<br />
nicht im liberalen Sinne dieses Wortes — erwachen. Man wird deutlich<br />
sehen können, wie das Interesse für die Arbeiterdemokratie wächst, wie<br />
die Zeit heranrückt, da sich sowohl Moskau als auch alle anderen Großstädte<br />
eigene Arbeiterzeitungen schaffen.<br />
Wir haben genug von der Herrschaft der bürgerlichen „Kopejka" 56 !<br />
Lange genug hat das prinzipienlose Krämerblättchen geherrscht. Die Arbeiter<br />
von Petersburg haben in einem halben Jahr gezeigt, welch gewaltigen<br />
Erfolg gemeinsame Arbeitersammlungen zeitigen können. Möge ihr<br />
Beispiel, ihre Initiative nicht umsonst gewesen sein. Möge sich der Brauch<br />
der Arbeiterkopeke für die Arbeiterzeitung entwickeln und festigen!<br />
Qesdbrieben 12.-14. (25.-270 JuU i9l2.<br />
Veröftentli&t am 29. und 31. Juli Tiadj dem 7ext der .Prawda'.<br />
und am t. und 2. August 1912<br />
in der .Vrawda" 3Vr. 78,79,80 und 81.<br />
Vntersdnift: Ein Statistiker.
ZUR GEGENWÄRTIGEN SACHLAGE<br />
IN DER<br />
SOZIALDEMOKRATISCHEN<br />
ARBEITERPARTEI RUSSLANDS 57<br />
191<br />
Die deutschen Genossen bekommen oft Mitteilungen von einem schar-<br />
-fen Kampfe und von tiefgreifenden Spaltungen innerhalb der Sozialdemofccratischen<br />
Arbeiterpartei Rußlands zu lesen. Leider gehen derartige Miti-eilungen<br />
aus der Mitte einzelner Emigrantengruppen hervor; sie werden in<br />
den allermeisten Fällen von Leuten gegeben, die entweder mit den wirklichen<br />
russischen Verhältnissen im gegenwärtigen Zeitpunkt keineswegs ver-<br />
•\raut sind oder aber auch die deutschen Genossen durch einseitige parteipolitische<br />
Schilderung bewußt täuschen wollen. Hat doch jede solche Emigrantengruppe<br />
ihre eigene „Richtung" zu vertreten, wobei sie aber in Wirklichkeit<br />
aus Leuten zusammengesetzt wird, die jeden lebendigen Zusammenhang<br />
mit der kämpfenden russischen Arbeiterpartei verloren oder nie<br />
gehabt haben. Einer dieser „Informatoren" hatte es verstanden, leider<br />
auch das Vertrauen des „Vorwärts" zu gewinnen. In einer Reihe von Artikeln<br />
gab das Zentralorgan der deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei<br />
einer Unmenge von unerhörten Verleumdungen der russischen<br />
Partei Ausdruck, die aus der Feder jenes Informators flössen und aus angeblich<br />
„objektiven" Quellen stammen sollten.<br />
In Wirklichkeit waren jene Quellen durch und durch „subjektiv", durch<br />
und durch falsch. Als nun der „Vorwärts" unsere fäktisdie Berichtigung<br />
nicht aufgenommen hatte, sahen wir uns genötigt, eine besondere Schrift<br />
unter dem Titel: „Der Anonymus aus dem , Vorwärts' und die Sachlage in<br />
der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands"* herauszugeben, die<br />
in einer Auflage von mehreren hundert Exemplaren erschien und an alle<br />
Vorstände der in Betracht kommenden deutschen Parteiorganisationen<br />
• Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 17, S. 525-538. Die •<strong>Red</strong>.
192 W. 7. <strong>Lenin</strong><br />
sowie <strong>Red</strong>aktionen der wichtigeren Organe der Parteipresse gesandt<br />
wurde.<br />
Gegen das Tatsachenmaterial, das diese Schrift enthielt, hat der „Vorwärts"<br />
keinen Einwand zu bringen vermocht, somit hat er es stillschweigend<br />
anerkannt.<br />
Um unsere deutschen Parteigenossen in den Stand zu setzen, die Glaubwürdigkeit<br />
mancher Informationen, die ihnen zugehen, zu beurteilen, bringen<br />
wir hier den Brief, den das Zentralkomitee der Sozialdemokratischen<br />
Arbeiterpartei Rußlands an den Vorstand der deutschen sozialdemokratischen<br />
Partei gerichtet hat. Die Letten machten dem Vorstande den Vorschlag,<br />
eine Gesamtberatung der elf „Zentren" wegen der Wahlunterstützungsfrage<br />
zu veranstalten, worauf der Vorstand die letzteren um<br />
ihre Stellungnahme befragt hat. Dieser Brief ist die Antwort des Zentralkomitees<br />
und hat folgenden Wortlaut:<br />
AN DEN<br />
30. Juli 1912*<br />
PARTEIVORSTAND DER SOZIALDEMOKRATISCHEN PARTEI<br />
DEUTSCHLANDS<br />
Werte Qenossenl<br />
Wir haben vor einiger Zeit die Kopie des an Sie gerichteten Schreibens<br />
des Ausländischen Komitees der Sozialdemokratie Lettlands vom 24. Juni<br />
erhalten. Wir betrachteten es als überflüssig, Sie über den sonderbaren<br />
Plan dieser Letten aufzuklären, da wir der Meinung waren, daß kein einziger<br />
unterrichteter Mensch diesen Plan ernst nehmen wird. Aus Ihrem<br />
an uns gerichteten Schreiben vom 22. Juli ersahen wir aber mit Erstaunen,<br />
daß Sie diesen Plan zu akzeptieren beabsichtigen. Dies zwingt uns, einen<br />
entschiedenen Protest dagegen zu erheben, welchen wir an Sie richten. Das<br />
Vorhaben des Vorstandes ist objektiv nichts anderes als ein Versuch, die<br />
Spaltung in unserer Partei (der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands)<br />
und die Bildung einer neuen, gegnerischen Partei zu fördern. Dies<br />
ist in der ganzen Internationale eine bisher unerhörte Sache. Wir werden<br />
den deutschen Genossen unsere Behauptung genau beweisen.<br />
* Der Brief erscheint hier mit unwesentlichen Änderungen stilistischer Art.
Zur gegenwärtigen Sachlage in der SDAVR 193<br />
Die Lage in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands<br />
seit "Januar 1912<br />
Im Januar 1912 fand die Allrussische Konferenz der Sozialdemokratischen<br />
Arbeiterpartei Rußlands statt, bestehend aus den Delegierten der<br />
Organisationen von Petersburg, Moskau, Moskau-Bezirk, Kasan, Saratow,<br />
Tiflis, Baku, Nikolajew, Kiew, Jekaterinoslaw, Wilna und Dwinsk. - Diese<br />
Konferenz hat die Partei wiederhergestellt und ein Zentralkomitee, das<br />
von den Liquidatoren vernichtet wurde, gewählt, wobei die Konferenz<br />
diese Liquidatoren als außerhalb der Partei stehend erklären mußte.<br />
(Siehe Broschüre „Der Anonymus aus dem ,Vorwärts' und die Sachlage<br />
in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands", welche dem Vorstande<br />
gesandt wurde; in derselben wurden die Proteste der Liquidatoren,<br />
der Nationalorganisationen, der Polen, der Letten, des Bundes und der<br />
ausländischen Gruppen erwähnt)<br />
Im Januar fand auch die Beratung zwecks Schaffung des Organisationskomitees<br />
für die Berufung einer neuen Konferenz, der „allgemeinen Parteikonferenz",<br />
wie sie die Liquidatoren und ihre Freunde nannten, statt.<br />
Im Schreiben an den Vorstand vom 24. Juni behaupten die Letten, daß<br />
dieses „Organisationskomitee" folgende Organisationen und Richtungen<br />
bilden: der Bund, die Sozialdemokraten Lettlands, das Distriktskomitee<br />
des Kaukasus, die Richtung der Menschewiki „Golos Sozial-Demokrata",<br />
die Richtung der Wiener „Prawda" und die Gruppe „Wperjod".<br />
Also auf der einen Seite das Zentralkomitee der Sozialdemokratischen<br />
Arbeiterpartei Rußlands, welches von den russischen, d. h. den in Rußland<br />
wirkenden Organisationen auf der Konferenz gewählt wurde (die Gegner<br />
nennen es <strong>Lenin</strong>sche Richtung), auf der anderen Seite das sogenannte Organisationskomitee,<br />
welches die Berufung der „allgemeinen" Parteikonferenz<br />
verspricht.<br />
Jn welchen "Beziehungen stehen<br />
zu dem sogenannten Organisationskomitee<br />
die bisher neutralen russischen Sozialdemokraten!<br />
Plechanow, der bekannteste Menschewik, welcher entschieden gegen<br />
die Vernichtung der Partei durch die Liquidatoren kämpfte, erschien nicht<br />
zur Parteikonferenz im Januar, trotzdem er eingeladen wurde. Im April
194 W.1. <strong>Lenin</strong><br />
1912 veröffentlichte er seine Korrespondenz mit dem Repräsentanten des<br />
Organisationskomitees (siehe sein „Tagebuch eines Sozialdemokraten",<br />
Nr. 16).<br />
Plechanow sagte seine Teilnahme an dem sogenannten Organisationskomitee<br />
ab, indem er erklärte, daß der Bund keine Konferenz der bestehenden<br />
Parteiorganisationen einberuft, sondern eine „konstituierende",<br />
d. b. eine solche, die eine neue Partei gründen soll. - Die sogenannten Initiativgruppen,<br />
welche in Wahrheit allein das Organisationskomitee unterstützen,<br />
sind laut Behauptung Pledianows Gruppen der Liquidatoren,<br />
welche der Partei nicht angehören und eine neue Partei bilden wollen.<br />
„Die neue Konferenz wird von den Liquidatoren einberufen", schreibt<br />
Plechanow im April 1912.<br />
Es erschien nun im Juli die Nr. 3 des Flugblattes („Listok") dieses Organisationskomitees.<br />
In derselben ist kein Wort, kein Laut zur Antwort an<br />
Plechanow angeführt. Man kann danach urteilen, wie die Letten den Vorstand<br />
informieren, dieselben Letten, welche darüber Klage führen, daß das<br />
„<strong>Lenin</strong>sche" Zentralkomitee die Briefe des Organisationskomitees nicht<br />
beantwortet.<br />
Ist es denn so sonderbar, daß das Zentralkomitee der Partei, der alten<br />
Partei, denjenigen, die laut Ausspruch des bisher neutralen Plechanow<br />
eine neue Partei bilden, nicht antwortet?<br />
Das Organisationskomitee muß vor allem dem neutralen Plechanow<br />
beweisen, daß es keine neue Partei bildet und die alte Partei nicht liquidiert.<br />
Die Letten, die am Organisationskomitee teilnehmen, sollten, als sie<br />
sich am 24. Juni an den Vorstand wandten, und zwar nach einem halben<br />
Jahre des Kampfes dieses Organisationskomitees der Liquidatoren gegen<br />
die Partei, mittels Tatsachen und Dokumenten die Resultate dieses Kampfes<br />
beweisen. - Statt dessen zeigen die Letten dem Vorstande die Potjomkinschen<br />
Dörfer der Liquidatoren.<br />
Die Letten forderten den Vorstand auf, elf „Organisationszentren, Organisationen<br />
und Fraktionen" der russischen Sozialdemokratie zu berufen.<br />
Wörtlich war es so. (Siehe Seite 4 des Briefes der Letten an den Vorstand<br />
vom 24. Juni.)<br />
In der ganzen Welt wurden bis jetzt sämtliche Parteien aus lokalen<br />
Organisationen, die durch eine Zentralinstitution vereinigt werden, gebildet.<br />
Aber die russischen und lettischen Liquidatoren haben im Jahre 1912
Zur gegenwärtigen Saäilage in der ST>APR 195<br />
eine große Entdeckung gemacht. - Von nun an kann eine Partei aus „Zentren,<br />
Organisationen und Fraktionen" gebildet werden.<br />
In die Zahl der elf Organisationszentren, Organisationen and Fraktionen<br />
gehören laut der neuesten lettisch-liquidatorischen Wahlgeometrie<br />
erstens das Organisationskomitee und zweitens sechs Fraktionen oder<br />
Organisationen oder Zentren, welche dieses Organisationskomitee bilden.<br />
So steht im Schreiben der Letten: „Punkte 2 bis 7 inklusive bilden das<br />
Organisationskomitee".<br />
Auf diese Weise bekommen die Gruppen der die Partei liquidierenden<br />
Intelligenzler ein dreifaches Wahlrecht, gleich dem Adel in den faulen Ortschaften*:<br />
1. das Distriktskomitee vom Kaukasus, eine fiktive Organisation,<br />
2. dasselbe in der Person des Pariser „Golos", obwohl Golos kein<br />
ständiges Mandat vom Kaukasus hat,<br />
3. dasselbe in der Person des „Organisationskomitees".<br />
Wir konstatieren, daß die russischen Arbeiter mit Empörung und Verachtung<br />
den Gedanken einer Beratung der Frage der doppelten Kandidaturen,<br />
d. h. der Versuche der Liquidatoren, im Verein mit den ohnmächtigen<br />
ausländischen Gruppen die Spaltung hervorzurufen, ablehnen<br />
werden, zumal diese Gruppen nur Desorganisatoren aus den Reihen der<br />
Intelligenzler darstellen.<br />
Wir stellen die Tatsache fest, daß absolut keine einzige ausländische<br />
Gruppe von denjenigen, die den Kampf gegen die Partei führen, im Laufe<br />
des letzten halben Jahres ein Mandat zur Führung ihres Organes oder<br />
zur Veröffentlichung ihrer Flugblätter von irgendeiner Organisation in<br />
Rußland hatte. Die Letten wollen dem Vorstande das Gegenteil beweisen;<br />
so mögen sie in der russischen Presse wenigstens ein solches Mandat bis<br />
zum 22. Juli ausfindig machen.<br />
„Golos Sozial-Demokrata" ist kein Organ irgendeiner Organisation in<br />
Rußland.<br />
Die Wiener „Prawda" von Trotzki ist ebenfalls kein Organ irgendeiner<br />
Organisation Rußlands. Die „Prawda" war vor drei Jahren das Organ der<br />
ukrainischen Spilka 58 (Südrußland), aber die Spilka hat schon längst ihr<br />
Mandat zurückgezogen.<br />
• Die „rotten boroughs" in England vor der Wahlreform von <strong>18</strong>32. Der<br />
Tibers.
196 W. 3. <strong>Lenin</strong><br />
Weder der „Wperjod" noch Plechanow, noch die „Bolschewiki-Partizy"<br />
geben Organe heraus, welche Parteiorgane irgendeiner Organisation in<br />
Rußland wären.<br />
Es ist sehr leicht, sich auf tatsächlich nicht existierende Gruppen zu<br />
berufen. Es ist auch nicht schwer, „sympathisierende" Korrespondenzen zu<br />
drucken. - Aber um auch ein halbes Jahr ein Organ einer in Rußland<br />
wirkenden Organisation zu leiten, sind ständige Verbindungen, volles<br />
Vertrauen der lokalen Arbeiterschaft, die Übereinstimmung der taktischen<br />
Ansichten, die als Folge langer Mitarbeiterschaft erscheint, nötig. Dies<br />
alles fehlt den ausländischen Grüppchen, welche von den lettischen und<br />
bundistischen Desorganisatoren gegen die Partei mobilisiert werden.<br />
über die PPS* werden wir uns kurz fassen. Sie ist keine sozialdemokratische<br />
Organisation. Sie gehörte nie zur Sozialdemokratischen Arbeiterpartei.<br />
Es ist nur ein Grund zur Heranziehung derselben vorhanden, nämlich:<br />
sie „verspricht", sozialdemokratisch zu werden und sich den Liquidatoren<br />
anzuschließen! — Den Desorganisatoren und Spaltungslustigen genügt<br />
es selbstverständlich! Wenn man zu Beratungen die PPS heranziehen<br />
soll, so ist kein Grund vorhanden, weshalb man die Sozialisten-Revolutionäre,<br />
diejenigen, welche an den Dumawahlen teilnehmen, die Zionisten-<br />
Sozialisten, die Lettische sozialistisch-revolutionäre Vereinigung und ähnliche<br />
„Strömungen" nicht auch mit heranzieht.<br />
Die sozialdemokratisdhe Traktion der dritten Duma<br />
In die Zahl der Organisationszentren hat der Vorstand die ausländischen<br />
Grüppchen eingereiht, dagegen bat er aber die sozialdemokratische<br />
Vumafraktion nicht eingeladen. Es ist unglaublich, aber Tatsache. Es wird<br />
den russischen Arbeitern nützlich sein, zu erfahren, auf welche Weise<br />
Trotzki & Co. unsere ausländischen Genossen irreführen. Die Letten<br />
schreiben in dem Briefe vom 24. Juni an den Vorstand:<br />
„Was die sozialdemokratische Dumafraktion betrifft, kann von ihr als einer<br />
Vermittlerin in der Wahlunterstützungsfrage nicht mehr die <strong>Red</strong>e sein, da die<br />
Dumasession bereits zu Ende geht und damit sich zugleich die sozialdemokratische<br />
Fraktion auflöst." (Seite 2 des mehrfach genannten Schreibens.)<br />
* PPS - Polnische Sozialistische Partei. Die <strong>Red</strong>.
Zur gegenwärtigen Sadbhge in der ST>AJ>R 197<br />
Dies ist entweder eine bewußte Täuschung oder eine grenzenlose politische<br />
Ignoranz, welche klar genug die Kenntnisse der Brüsseler Letten<br />
über die Wahlen in Rußland charakterisiert.<br />
Der Brief ist vom 24. Juni datiert. Am 9. Juni, das ist am 22. Juni<br />
neuen Stils, wurde die dritte Duma offiziell für unbestimmte Zeit aufgelöst,<br />
indem sämtliche Deputierten ihre Vollmachten behielten, folglich<br />
in dieser Zahl auch die sozialdemokratischen Deputierten. Die letzteren<br />
sind daher bis jetzt Dumadeputierte, was jedem lesekundigen Arbeiter in<br />
Rußland bekannt ist. Dies aber ist den ausländischen Parteiverleumdern<br />
unbekannt.<br />
Die einzigen legalen Sozialdemokraten in Rußland, welche bis jetzt,<br />
wo sie sich auch im Lande befinden mögen, die einzige offizielle Organisation<br />
bilden, sind eben die Mitglieder der sozialdemokratischen Fraktion<br />
der dritten Duma.<br />
Alle Liquidatoren hassen diese Fraktion. Die Blätter der Liquidatoren<br />
(„Nascha Sarja") überschütten sie mit Beschimpfungen und Insinuationen,<br />
alle ausländischen DesOrganisatoren klatschen über sie. Warum? Weil die<br />
Mehrheit der Fraktion, in der immer die parteitreuen Menschewiki die<br />
Oberhand hatten, immer entschieden gegen die Liquidatoren kämpfte und<br />
half, dieselben in Petersburg ganz unschädlich zu machen.<br />
In der Broschüre „Der Anonymus usw." haben wir eine wesentliche<br />
Tatsache veröffentlicht. Niemand konnte ein Wort dagegen einwenden.<br />
Nur zwei Mitglieder der Fraktion sind ständige Mitarbeiter der liquidatorischen<br />
Zeitungen. Adrt Mitglieder der Fraktion sind ständige Mitarbeiter<br />
der antiliquidatorischen Zeitungen.*<br />
Und die Letten wie auch Trotzki schlagen dem Vorstand vor, dieses<br />
einzige allrussische Kollegium, das die Einheit bewahrte, von den Beratungen<br />
auszuschließen! - Wenn auch die Letten nur geirrt hätten, indem sie<br />
am 24. Juni dies nicht wußten, was allen Arbeitern in Rußland bekannt<br />
war, waren sie dann nicht in der Lage, bis zum 22. Juli, d. h. nach Ablauf<br />
eines ganzen Monats, ihren Irrtum zu korrigieren? Es gibt eben Irrtümer,<br />
die für die Irrenden sehr nützlich sind.<br />
Das Vorhaben der Letten und der Liquidatoren, die den Vorstand irregeführt<br />
haben, geht dahin, daß gegen die Mehrheit der Partei in Rußland,<br />
gegen die Mehrheit der sozialdemokratischen Dumafraktion die liquida-<br />
* Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 17, S. 537. Die <strong>Red</strong>.
198 W.J.<strong>Lenin</strong><br />
torischen Kandidaten durch die Vereinigung der ausländischen fiktiven<br />
Grüppchen aufgedrängt werden und daß man durch Betrug Geld von den<br />
deutschen Arbeitern erhält. - Dies ist der langen <strong>Red</strong>e (der Letten, der<br />
Bundisten, des Trotzki & Co.) kurzer Sinn.<br />
Aber dieser Betrug wird nicht unbestraft bleiben.<br />
öffentlich kontrollierbare 7atsadben über den Einfluß<br />
der Cicjuidatoren im Vergleidb mit demjenigen der Partei<br />
Jeder vernünftige Mensch versteht, daß leere Phrasen vom Bestehen<br />
der angeblich mit den Liquidatoren sympathisierenden geheimen „Organisationen"<br />
keinen Glauben verdienen.<br />
Wir behaupten, daß sämtliche Organisationen der Liquidatoren in Rußland<br />
fiktiv sind.<br />
Wer keine persönlichen genauen Kenntnisse der Sachlage in den sozialdemokratischen<br />
Kreisen Rußlands besitzt, dem ist es schwer, die Wahrheit<br />
festzustellen. Aber auch dieser kann die Wahrheit finden, wenn er<br />
nach Dokumenten suchen wird und den Sinn derselben prüfen wird, ohne<br />
aufs Wort zu glauben. Die erste der öffentlichen Prüfung zugängliche Tatsache<br />
haben wir angeführt, und zwar die Verteilung der Kräfte der sozialdemokratischen<br />
Dumafraktion zwischen den Liquidatoren und Antiliquidatoren.<br />
Jetzt aber, nach einem halbjährigen Kampfe der Liquidatoren mit der<br />
Partei, existieren weitere, ganz objektive und noch mehr überzeugende<br />
Tatsachen.<br />
Die Letten führen im Schreiben vom 24. Juni (Seite 5 und 6) legale<br />
marxistische Zeitungen in Petersburg an. Sie nennen das „Shiwoje Delo"<br />
und „Newski Golos", welche von der menschewistischen Richtung („Golos<br />
Sozial-Demokrata") geleitet werden, und stellen ihnen gegenüber die Zeitungen<br />
„Swesda" und Petersburger „Prawda" (nicht zu verwechseln mit<br />
der liquidatorischen Wiener „Prawda" des Trotzki), die nach Behauptung<br />
der Letten „nur im Besitz und unter £eilune) der Ceninsdhen Gruppe<br />
stehen".<br />
Mag diese Behauptung auch nicht zutreffen, so haben doch die Letten<br />
hier unwillkürlich eine stichhaltige Tatsache gegen die Liquidatoren angeführt.
Zur gegenwärtigen Sachlage in der ST>ÄPR 199<br />
Wenn die „offene Partei" nur eine leere liberale Parole der Liquidatoren<br />
ist, so ist die offene Jätigkeit in der Duma and in der Presse die<br />
Haupttätigkeit der marxistisdien Propaganda. Hier, und nur hier, kann<br />
man Tatsachen finden, die objektiv die Macht der Liquidatoren und der<br />
Antiliquidatoren beweisen.<br />
Es gibt keine anderen politischen allrussischen Organe außer den von<br />
den Letten genannten. Die Liquidatoren haben das „Shiwoje Delo" und<br />
den „Newski Golos", die Antüiquidatoren die „Swesda", später „Newskaja<br />
Swesda" und die (Petersburger) „Prawda". Es gibt keine anderen<br />
Richtungen und Fraktionen in Rußland, weder in der Presse noch auf der<br />
öffentlichen Massenarena; alle von den Letten angeführten ausländischen<br />
Gruppen sind lauter Nullen.<br />
Jetzt haben wir vor uns Resultate der halbjährigen Tätigkeit beider<br />
Richtungen. ' -<br />
In diesem Halbjahr (Januar bis Juni 1912) haben sämtliche Parteien<br />
Rußlands die Vorbereitungen zu den Wahlen begonnen und beendet. Es<br />
bleiben jetzt nur sechs bis acht Wochen bis zur Wahl. Die Wahllisten sind<br />
schon meistenteils fertiggestellt. Tatsächlich ist schon der Wahlausgang<br />
bestimmt, und zwar auf Grund dieser halbjährigen Vorbereitung.<br />
Für die Richtung der Liquidatoren erklärten sich die „Punkte 1 bis 7"<br />
in der Aufzählung der Letten (das Organisationskomitee, der Bund, die<br />
Sozialdemokratie Lettlands, „Golos", Wiener „Prawda", das Distriktskomitee<br />
vom Kaukasus, „Wperjod"), für die Richtung der Antiliquidatoren<br />
das Zentralkomitee, das die russischen Organisationen, d. h. die in<br />
Rußland wirkenden (nur die einzige „<strong>Lenin</strong>sche Richtung" behaupten die<br />
Liquidatoren), vereinigt hat.<br />
Wir wollen also betrachten, was die einen und die anderen vollbracht<br />
haben.<br />
Die Liquidatoren haben in Petersburg vom 1. Januar 1912 bis zum<br />
30. Juni 1912 alten Stils 16 Nummern der Zeitung „Shiwoje Delo" und<br />
5 Nummern der Zeitung „Newski Golos" publiziert. Zusammen 21<br />
Nummern.<br />
Die Antiliquidatoren in demselben Halbjahr 33 Nummern der Zeitung<br />
„Swesda", 14 Nummern der Zeitung „Newskaja Swesda" und 53 Nummern<br />
der Zeitung „Prawda". Zusammen 100 Nummern.<br />
21 gegen 100.
200 W. J. Centn<br />
Dies ist der Kraftvergleich zwischen den Liquidatoren und der Partei<br />
in Rußland. Die Tatsachen über die Zeitungen sind öffentlich zugängliche<br />
Tatsachen; man kann sie beweisen und prüfen vor allen.<br />
Wie steht es mit dem Zeitungsverschleiß? Die Letten behaupten, daß<br />
die Liquidatoren 30 000 Exemplare verschleißen. Nehmen wir an, daß es<br />
nicht übertrieben ist. über die Zeitungen der Antiliquidatoren wurde dem<br />
Vorstande von einer Person, die vom Genossen Haase und von anderen<br />
Mitgliedern gesehen wurde, die Zahl 60 000 Exemplare genannt. Dieses<br />
Verhältnis reduziert den Einfluß der Liquidatoren im Verhältnis 1 zu 10<br />
des Einflusses der Partei.<br />
Wenn auch die Berichte über den Verschleiß nicht veröffentlicht wurden<br />
und als übertrieben erscheinen können, so sind andere, wichtigere,<br />
überzeugendere veröffentlicht worden.<br />
Das sind die Berichte über die Verbindung der Liquidatoren und der<br />
Partei mit den Arbeitermassen in Rußland.<br />
Offene, der Prüfung zugängUdbe Daten<br />
über die Beziehungen der Liquidatoren<br />
und der Partei in Rußand mit den Arbeitermassen<br />
Die Daten über die Zahl der Zeitungsnummern und die Auflagezahl<br />
beweisen noch nicht vollständig die Überlegenheit der Partei über die<br />
Liquidatoren. Zeitungen können auch kleine Gruppen der liberalen Intelligenzler<br />
herausgeben. Eine jede „arbeiterfreundliche" oder sogar liberale<br />
Zeitung mit einer radikalen Färbung wird immer in Rußland viele Leser<br />
finden. Außer den Arbeitern werden sie sowohl die Liberalen wie auch<br />
die kleinen Bourgeoisdemokraten lesen.<br />
Es existieren aber Tatsachen, die viel einfacher und deutlicher die Beziehungen<br />
der Liquidatoren und der Partei in Rußland mit den Arbeitermassen<br />
beweisen.<br />
Dies sind die Daten über die Geldmittel, welche zur Herausgabe der<br />
Arbeiterpresse dienen.<br />
Es wird schon seit jeher in Rußland wegen Sammlung der Mittel zur<br />
Herausgabe eines Arbeitertageblattes unter den Arbeitern agitiert. Es<br />
war allen verständlich, daß ohne solch eine Zeitung die Teilnahme an den
Zur gegenwärtigen Sadblage in der SVAPR 201<br />
"Wahlen fast fiktiv ist. Ein Tageblatt ist das Hauptwerkzeug der Wahlkampagne,<br />
es ist das Hauptmittel zu einer marxistischen Massenagitation.<br />
Woher soll man nun das Geld für die Zeitung beschaffen?<br />
Man muß Sammlungen unter den Arbeitern veranstalten. Diese Sammlungen<br />
werden einen Fonds bilden und die Stärke der Verbindungen bei<br />
der einen oder der anderen Gruppe beweisen. Sie werden ihr Prestige,<br />
das Zutrauen der Arbeiter, ihren realen Einfluß auf die Proletariermassen<br />
zeigen.<br />
Und nun wurden diese Sammlungen für ein Arbeitertageblatt in Petersburg<br />
Anfang des Jahres 1912 eröffnet. Ein halbes Jahr, vom 1. Januar bis<br />
30. Juni, ist eine genügende Frist. Die Daten über die Sammlungen werden<br />
genau in sämtlichen obenangeführten, sowohl liquidatorischen wie auch<br />
antiliquidatorischen Zeitungen veröffentlicht.<br />
Das Resultat dieser Daten für das Halbjahr ist das beste Material, die<br />
öffentliche, volle, objektive, endliche Antwort auf die Frage nach den<br />
Machtverhältnissen der Liquidatoren und der Partei in Rußland. Wir<br />
haben daher in der Beilage die vollständige Übersetzung sämtlicher Geldberichte<br />
über die Sammlungen für das Arbeitertageblatt in sämtlichen<br />
fünf obengenannten Zeitungen für das Halbjahr angeführt.<br />
Hier führen wir nun das Resultat dieser Daten an.<br />
Für das halbe Jahr wurden in den antiliquidatorischen Zeitungen Berichte<br />
über 504 Geldsammlungen von Arbeitergruppen veröffentlicht, d. h. über<br />
solche Sammlungen, bei welchen der Name der Arbeitergruppe, die die<br />
Sammlungen zusammengebracht hat, direkt angeführt ist Diese Sammlungen<br />
wurden in 50 russischen Städten und Fabrikstädtdien veranstaltet<br />
Für dasselbe Halbjahr, 1. Januar bis 30. Juni 1912, wurden in den<br />
liquidatorischen Zeitungen die Berichte über fünfzehn Geldsammlungen<br />
von Arbeitergruppen veröffentlicht Diese Sammlungen wurden in fünf<br />
russischen Städten veranstaltet*<br />
* Trotz des Klatsches der Liquidatoren haben eben diese Sammlungen, die<br />
über 12 000 Mark ausmachten, sowie die frühere Hilfe der deutschen Genossen<br />
den Grundfonds nnserer sozialdemokratischen Presse in Rußland gebildet. Die<br />
im Texte erwähnte vollständige Übersetzung aller Rechenschaftsberichte über<br />
die Geldsammlungen in den verschiedenen sozialdemokratischen Zeitungen im<br />
Laufe des Halbjahres wurde an den Vorstand, an die Kontrollkommission und<br />
an Bebel gesandt.<br />
14 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>
202 "W.3. <strong>Lenin</strong><br />
Dies sind die genauen Berichte.<br />
Die Qeldsammlungen der Arbeitergruppen<br />
für das Arbeitertageblatt<br />
In den liqtridato- In den antiliquidatischen<br />
Zeitungen torisdien Zeitungen<br />
Januar 0 14<br />
Februar 0 <strong>18</strong><br />
März 7 76<br />
April 8 227<br />
Mai 0 135<br />
Juni 0 34<br />
15<br />
Dasselbe: Hauptrayons Rußlands<br />
Petersburg<br />
Südrußland<br />
Moskau<br />
Nord- und Westrußland<br />
Ural und Wolga<br />
Kaukasus, Sibirien, Finnland<br />
10<br />
1<br />
2<br />
1<br />
0<br />
1<br />
504<br />
415<br />
51<br />
13<br />
12<br />
6<br />
7<br />
15 504<br />
Nach einem halben Jahr des Kampfes gegen die Partei wurden die<br />
Liquidatoren total geschlagen.<br />
Die Liquidatoren bilden eine vollständige Null in der sozialdemokratischen<br />
Arbeiterbewegung Rußlands. Dies beweisen obige Daten, welche<br />
ein jeder prüfen kann. Das sind Tatsachen, welche in Rußland veröffentlicht<br />
wurden, ein ganzes Halbjahr umfassen, trotz der Prahlerei von<br />
Trotzki und der Liquidatoren.<br />
Man muß bemerken, daß Trotzki Mitarbeiter des „Shiwoje Delo" ist.<br />
Ferner gaben die Letten selbst im Schreiben vom 24. Juni zu, daß ganze<br />
sechs Gruppen - in dieser Zahl Trotzki, Menschewiki-Golos, die Leiter<br />
der Zeitung „Shiwoje Delo" und „Newski Golos" - das sogenannte<br />
Organisationskomitee bilden. Daher beweisen unsere Daten, daß nicht<br />
nur die Liquidatoren, sondern auch alle ihre wichtigtuenden ausländischen<br />
Freunde eine volle Null in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in<br />
Rußland bilden.
Zur gegenwärtigen Sadjlage in der SVAPR 203<br />
Auf ihrer Seite steht durchschnittlich nur eine einzige Arbeitergruppe<br />
von dreißig Arbeitergruppen Rußlands.<br />
Wir führen die Adressen und Ersdieinungstage sämtlicher sozialdemokratischen<br />
Zeitungen in Petersburg an.<br />
Liquidatoren:<br />
1. „Shiwoje Delo". Petersburg, Gr. Moskowskaja 16. Erste Nummer:<br />
20. Januar 1912; sechzehnte und letzte Nummer: 28. April 1912. (Unterdrückt.)<br />
2. „Newski Golos". Petersburg, Kolokolnaja 3. Nr. 1: 20: Mai 1912;<br />
Nr. 5: 28 Juni 1912. (Existiert bis jetzt, den 29. Juli 1912.)<br />
Antiliquidatoren:<br />
3. „Swesdä". Petersburg, Rasjesshaja 10, W. 14. Nr. 1 (37): 6. Januar<br />
1912; Nr. 33 (69): 22. April 1912. (Unterdrückt.)<br />
4. „Newskaja Swesda". Petersburg, Nikolajewskaja 33, W. 57. (Nr 1:<br />
26. Februar 1912); Nr. 2: 3. Mai 1912; Nr. 14: 24. Juni 1912. (Existiert<br />
bis jetzt.)<br />
5. „Prawda". Petersburg, Nikolajewskaja 37, W. <strong>18</strong>. Nr. 1: 22. April<br />
1912; Nr. 53: 30. Juni 1912. (Existiert bis jetzt.)<br />
Schlußfolgerungen<br />
Die Kandidaten der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands zu<br />
den bevorstehenden Dumawahlen werden von den lokalen Organisationen<br />
der Partei ohne Unterschied der Ansichten und der Richtungen benannt<br />
sein. Die Minderheit der sozialdemokratischen Arbeiter wird sich überall<br />
der Mehrheit fügen.<br />
Die berüchtigten Doppelkandidaturen sind einfach Unsinn, welcher nur<br />
zum Schrecken der ausländischen Genossen und zum Geldpumpen dient.<br />
Es fehlte nur, daß die berüchtigten zehn „Richtungen" mit zebnjadien<br />
Kandidaturen einschüchtern und für jeden Kandidaten bei den Ausländern<br />
um Geldmittel ersuchen.<br />
Es werden keine Doppelkandidaturen stattfinden. Die Liquidatoren<br />
sind so schwach, daß sie keine Doppelkandidaturen aufstellen können.<br />
Wir bahnen keine Verhandlungen mit einer Handvoll von der Partei abtrünnigen<br />
Liquidatoren an. Weder das Zentralkomitee in Rußland noch
204 IV. 1. <strong>Lenin</strong><br />
die lokalen Organisationen nehmen es mit den Liquidatoren ernst. Man<br />
beachte z. B. die letzten Vorgänge in Petersburg. Die Liquidatoren haben<br />
in der Zeitung „Newski Golos" (Nr. 6) veröffentlicht, daß in Petersburg<br />
Beratungen mit ihnen (den Liquidatoren) wegen der Leitung der Wahlkampagne<br />
stattfanden. Sowohl die „Newskaja Swesda" (Nr. 16) wie auch<br />
die „Prawda" (Nr. 61) vom 21. und 23. Juli veröffentlichten, daß sie ihre<br />
Vertreter zu den Beratungen nicht geschickt haben; außerdem hat ein Teilnehmer<br />
an den Beratungen in der „Newskaja Swesda" erklärt, daß die<br />
Arbeiter in ganz Rußland die Beschlüsse der Januarkonferenz der Sozialdemokratischen<br />
Arbeiterpartei Rußlands durchführen werden.<br />
„Die Vereinigung verschiedener Richtungen", erklärte er, indem er die<br />
Liquidatoren im Sinne hatte, „ist ganz unmöglich in der sozialdemokratischen<br />
Wahlkampagne" („Newskaja Swesda" Nr. 16 vom 8. (21.) Juli 1912).<br />
Keine Geldhilfe in der Welt wird den Liquidatoren die Sympathie der<br />
russischen Arbeiter gewinnen. Aber selbstverständlich ist es möglich, für<br />
die Gelder des Vorstandes in verschiedenen Orten fiktive Doppelkandidaturen<br />
aufzustellen. In diesem Falle wird die Verantwortung für solche<br />
Kandidaturen, die faktisch die Kandidaturen des deutschen Vorstandes<br />
sein werden, dem Vorstande auch zur Last fallen. Die Qel der,<br />
w e l c h e d e n L i q u i d a t o r e n a u s g e f o l g t w e r d e n , w e r -<br />
d e n z u r Qr u n d u n g des K o n k u r r e n z o r g ans der<br />
L i q u i d a t o r e n , die k e i n e t ä g l i c h e Z e i t u n g bes<br />
i t z e n , d i e n e n . D i e s e Q el der w e r d e n z u r V er a n -<br />
s t a t t u n g des "Bruches v o n d e n j e n i g e n v e r w e n d e t<br />
w e r d e n , w e l c h e in e i n e m m e h r j ä h r i g e n "Kampf<br />
ihre SV u l l i t ä i b e w i e s e n h ab en. D i e Qel der w e r d e n<br />
für R e i s e n usw., z u r Q r ü n d u n g e i n e r n e u e n P a r t e i<br />
verwendet werden. - Wenn der Vorstand jetzt auf die eine oder<br />
andere Weise den Liquidatoren helfen will, so wird er uns zwingen,<br />
bei aller unserer Achtung vor der deutschen Bruderpartei, an die Internationale<br />
zu appellieren. Wir werden dann dem Wiener internationalen<br />
Kongreß 59 auf Qrund der Dokumente beweisen, daß der Vorstand sich<br />
bereit erklärte, durch Geldunterstützung die Spaltung bei uns zu fördern,<br />
die Doppelkandidaturen ins Leben zu rufen und die geschlagenen<br />
Liquidatoren, diese Kadaver, zu galvanisieren. Wenn die deutschen Genossen<br />
der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands helfen wollen,
Zur gegenwärtigen Sadblage in der SDJPJl 205<br />
so müssen sie die Gelder dem Zentralkomitee der alten Partei und nicht<br />
denjenigen, die eine neue Partei bilden, ausfolgen.<br />
Das Zentralkomitee der Sozialdemokratischen<br />
Arbeiterpartei Rußlands<br />
Nachdem der Vorstand die beabsichtigte Beratung fallenließ, teilte er<br />
uns mit, daß er „nicht imstande" ist, „einer der Parteigruppen in Rußland<br />
Gelder für den Wahlkampf zuzuführen, solange nicht von allen zusammen<br />
uns (dem Vorstand) eine Stelle bezeichnet wird, die von dem Vertrauen<br />
aller getragen, das Geld in Empfang zu nehmen und zu verteilen<br />
beauftragt wird".<br />
Diese vermeintliche Neutralität des Vorstandes läuft in Wirklichkeit<br />
darauf hinaus, daß er auf die Unterstützung der Arbeiterpartei in Rußland<br />
verzichtet wegen der Verleumdungen, denen diese letzte seitens der<br />
im Auslande befindlichen Grüppdien und der „Konferenz" der Liquidatoren<br />
ausgesetzt wird.<br />
In Ergänzung der obigen Bemerkungen halten wir für pflichtgemäß,<br />
folgendes hinzuzufügen.<br />
Die legal erscheinenden, im marxistischen Geiste geführten russischen<br />
Blätter sind im gegenwärtigen Zeitpunkt das wichtigste offene Sprachrohr<br />
der russischen sozialdemokratischen Arbeiterschaft in ihrem Zusammenhange<br />
mit der Agitationsbewegung der Parter.<br />
Die im Auslande erscheinenden, für Rußland nicht legalen Blätter können<br />
sachgemäß keinen Anspruch auf dieselbe Bedeutung wie die obengenannten<br />
erheben, wenn auch ihre prinzipielle Wichtigkeit für die theoretische<br />
Klärung der Bewegung zweifellos außerordentlich groß ist. Man<br />
weiß ja, wie leicht und zuweilen leichtfertig solche Blätter von kleinen,<br />
im Auslande zerstreuten Gruppen der russischen Emigranten gegründet<br />
werden; diese Blätter führen ihr kümmerliches Dasein innerhalb solcher<br />
Gruppen und gelangen fast nie in die Hände der russischen Parteimitglieder.<br />
Es kann ihnen daher sachgemäß keine irgendwie nennenswerte<br />
Bedeutung für das Parteileben in Rußland zuerkannt werden.<br />
Nach dem ein halbes Jahr andauernden Kampfe der antiliquidatorischen<br />
Zeitungen (Januar bis Juni 1912) ist das einzige Organ der<br />
Liquidatoren der „Newski Golos" (Stimme der Newa). Diese Zeitung ist<br />
als politisches Organ fast eingegangen; im Laufe von IV2 Monaten (Juni
206 W. J. <strong>Lenin</strong><br />
bis Mitte August) sind nur zwei Nummern (6 und 7) erschienen. Es ist<br />
eben klar, daß kein solches Blatt den polizeilichen Verfolgungen, die in<br />
Rußland gegen alle Arbeiterzeitungen und auch viele recht gemäßigte<br />
liberale wüten, gewachsen sein kann, wenn es nicht seine Lebenskraft aus<br />
dem engen Zusammenhange mit der Arbeiterschaft erhält.<br />
Als solche Arbeiterzeitungen von großer politischer Tragweite und unmittelbar<br />
aktueller Bedeutung erscheinen gegenwärtig: die Wochenschrift<br />
„Newskaja Swesda" (Der Newa-Stem) und die Tageszeitung „Prawda"<br />
(Die Wahrheit). Beide Blätter erscheinen in Petersburg; sie werden von<br />
unseren politischen Qegnern aus der Mitte der lettischen Sozialdemokratie<br />
mit der geringschätzigen Bezeichnung als Organe der „<strong>Lenin</strong>schen<br />
Gruppe" abgetan. Aus den oben gebrachten objektiven Tatsachen, die<br />
man stets offen kontrollieren kann, dürfte für unsere deutschen Genossen<br />
erhellen, daß diese „<strong>Lenin</strong>sche Gruppe" in Wahrheit die erdrückende<br />
Mehrheit der russischen sozialdemokratischen Arbeiter umfaßt.<br />
Es wird daher wohl verständlich, warum alle Mitteilungen, die aus<br />
der Mitte der Liquidatoren und der ihnen befreundeten Gruppen und<br />
Grüpplein fließen, nidbt den geringsten Anspruch auf Vertrauenswürdigkeit<br />
erheben dürfen. Was alle solchen Kreise und mit ihnen die jüdischen<br />
(Bund) und lettischen Sozialdemokraten, die in keinem direkten Kontakt<br />
mit der russisdhen Bewegung stehen, an Gerüchten verbreitet haben über<br />
eine berufene oder angeblich zu berufende Gesamtkonferenz aller „Richtungen"<br />
60 , erweist sich als reinste Erfindung. Keine derartiger Konferenzen,<br />
selbst wenn sie auch stattfinden sollte, hat irgendwelche reelle "Bedeutung<br />
im Kampfe des russischen Proletariats. Es handelt sich also, um einmal<br />
das harte Wort ungern zu gebrauchen, im Grunde um einen Schwindel.<br />
Um für unsere deutschen Parteigenossen die in Frage stehenden Tatsachen<br />
von zweifellos ernster politischer Tragweite noch besser zu beleuditen,<br />
bringen wir zum Schluß einige Ausführungen aus dem Aufsatz von<br />
Axelrod, einem der Führer der Liquidatoren, der im letzten Heft der<br />
Monatsschrift „Nascha Sarja" (Unser Morgenrot) erschien.<br />
Axelrod schreibt:<br />
„Der Gedanke an die Möglichkeit eines zu keiner Fraktion gehörenden<br />
Organs erscheint noch jetzt als eine Utopie, und zwar eine Utopie, die den<br />
Interessen der parteipolitischen Entwicklung zuwiderläuft... Man kann sagen,<br />
daß wir keine in feste Organisationsform gebrachten Fraktionen besitzen. Es
Zur gegenwärtigen Sadhlage in der ST>APR 207<br />
gibt an ihrer Stelle verschiedene kleine Gruppen und Grüpplein, von denen nur<br />
wenige an ihren bestimmten politischen, taktischen und organisationsmäßigen<br />
Anschauungen festhalten, während die anderen ziellos umherirren oder<br />
zwischen den Füßen der ersteren trotteln... Der Zentralpunkt und die Hauptquelle<br />
der Streitigkeiten ergeben sich aus dem verschiedenen Verhalten verschiedener<br />
Parteikreise zur neuen, offenen sozialdemokratischen rassischen<br />
Arbeiterbewegung und aus den verschiedenen Auffassungen der nächsten politischen<br />
Aufgaben und der politischen Taktik der russischen Sozialdemokratie.<br />
Die Fragen dieser Art gewinnen gerade jetzt... eine besonders unmittelbare<br />
brennende Bedeutung. Und gerade hier ist die russische Sozialdemokratie in<br />
zwei große Lager gespalten. Es fragt sich: Wie kann das (von einigen Arbeitern<br />
in Petersburg und vielen Intelligenzlern im Auslande) projektierte Arbeiterblatt<br />
eine wirklich neutrale Stellung zwischen den beiden entgegengesetzten Lagern<br />
einnehmen? Ist auch nur im Prinzip eine solche Stellung zulässig? Offenbar<br />
nein! ...Will man bei dieser Sachlage in der Partei von einem Aufheben<br />
jeder Fraktionsspaltung als dem alleinrettenden Mittel sprechen, so betrügt man<br />
sich selbst und andere in bezug auf die wirkliche Lage der Dinge in der russischen<br />
Sozialdemokratie... Die Bildung einer festen Fraktion erscheint als<br />
direkte Pflicht und dringende Aufgabe der Freunde einer Parteireform, oder<br />
genauer, einer Parteirevolution."<br />
Mit den letzten Worten meint Axelrod also die Liquidatoren... Wir<br />
möchten unseren deutschen Parteigenossen nur empfehlen, wenn man<br />
ihnen von mancher Seite über die „Fraktionslosigkeit" tmd die fraktionslose<br />
Konferenz - mit Beteiligung der Liquidatoren — erzählen wird, zur<br />
besseren Orientierung die Übersetzung des ganzen erwähnten Artikels<br />
von Axelrod für die deutsche sozialdemokratische Presse zu verlangen.<br />
So werden manche Fabeln als solche erkannt und beurteilt werden.<br />
Die <strong>Red</strong>aktion des Zentralorgans der<br />
Sozialdemokratisdhen Arbeiterpartei Rujilands<br />
„Sozial-Demohrat"<br />
Vertraulidhl Nur an organisierte Mitglieder der sozialdemokr. Parteien!<br />
POSTSKRIPTUM<br />
zu der Schrift „Zur gegenwärtigen Sadhiage<br />
in der Soziäldemokratisdben Arbeiterpartei Rußlands"<br />
Heute, am 15. September 1912, haben wir den folgenden Brief des<br />
Vorstandes durch Paris erhalten, der den deutschen Genossen besonders
208 IV. 7. Cenin<br />
veranschaulichen muß, wie sehr wir im Recht waren, als wir gegen die<br />
privaten, unverantwortlichen „Informatoren" des Vorstandes, die vor die<br />
Öffentlichkeit zn treten Angst haben, protestierten.<br />
Der Parteivorstand schreibt am 10. d. M. folgendes:<br />
Berlin, 10. September 1912<br />
Werter Genosse Knsnezow!<br />
Wir ersuchen Sie um gefl. Mitteilung darüber, ob es richtig ist, daß zu den<br />
Wahlkreisen, in denen für die Dumawahlen eine Verständigung sämtlicher<br />
sozialdemokratischer Gruppen erzielt ist, u. a. gehören:<br />
Jekaterinoslaw, Charkow, Moskau-Stadt und -Land, das Don-Gebiet und<br />
Odessa-Stadt. Ich bitte Sie, mir diese Mitteilungen baldmöglichst zukommen<br />
zu lassen, und zwar unter der Adresse: H. Müller, zur Zeit Chemnitz.<br />
Wenn wir bis 17. September keine Nachricht erhalten, nehmen wir an, daß<br />
das oben Mitgeteilte richtig ist<br />
Mit Parteigruß "H. Müller<br />
Auf den vorstehenden Brief hin haben wir die folgende Antwort gegeben:<br />
An den Parteivorstand<br />
der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands!<br />
Werte Genossen! Es versteht sich von selbst, daß alles, was dem Vorstande<br />
mitgeteilt worden war, auf Unwahrheit beruhte, daß es eine freie Erfindung der<br />
Liquidatoren ist Wir dürfen mit Sicherheit behaupten, daß diese Fabel dem<br />
Vorstande nur seitens der Letten, der Bundisten oder auch seitens Trotzkis<br />
Anhang mitgeteilt werden konnte, die doch erst neuerdings „ihre" Konferenz<br />
geschlossen haben, die sie als „Parteikonferenz" bezeichnen möchten, die aber<br />
in Wirklichkeit die der Liquidatoren gewesen ist Um nichts Unbestätigtes zu<br />
bringen und um unseren Organisationsbriefwechsel nicht zu zitieren, beschränken<br />
wir uns hier nur darauf, auf ein in Petersburg offen erschienenes Dokument<br />
hinzuweisen.<br />
In der Petersburger marxistischen Tageszeitung „Prawda" Nr. 102, vom<br />
28. August 1912 (10. September neuen Stils), ist ein Brief erschienen, der aus<br />
einer der größten Fabriken in Charkow herrührt und der sich speziell mit der<br />
Dumawahl befaßt. In diesem Briefe wird direkt und offen gesagt, daß die<br />
„Kandidaten der Liquidatoren nidbt veröftentlidbt worden sind" und daß diese<br />
letzten .die Notwendigkeit der Arbeiterpartei leugnen" („Prawda" Nr. 102,<br />
Seite 4, Spalte 1).
Zur gegenwärtigen Sachlage in der SBAPR 209<br />
Die deutschen Genossen können schon daraus allein ersehen, wie gewissenlos<br />
sie von den Letten, Bundisten, dem Trotzki-Anhang und allen<br />
ähnlichen Privat-Informatoren betrogen werden. Die Sache läuft klar<br />
darauf hinaus, daß dieselben und wohl auch die Kaukasier Geld erlangen<br />
wollten im Namen der angeblichen „Organisationen", deren Existenz<br />
weder der Parteivorstand noch jemand anders beglaubigen und prüfen<br />
kann.<br />
Kann denn nicht die deutsche Partei mit ihren 90 sozialdemokratischen<br />
Tageszeitungen - wenn sie sich nicht in Verlegenheit versetzen will durch<br />
ihre Irrtümer in russischen Parteiangelegenheiten - die Diskussion über<br />
die Sozialdemokratische Partei in Rußland eröffnen und alle die vor dem<br />
Tageslicht sich verbergenden Informatoren öffentlich veranlassen, mit ihrer<br />
Unterschrift und mit Belegen in der Hand aufzutreten?<br />
Rußland ist immerhin noch nicht so entfernt wie Zentralafrika, und die<br />
deutsche sozialdemokratische Arbeiterschaft würde ohne große Mühe die<br />
Wahrheit entdecken und somit auch die deutschen Vorstandsmitglieder<br />
vom Anhören der privaten und der Prüfung unzugänglichen Erzählungen<br />
befreien.<br />
Im Auftrage des Zentralkomitees<br />
der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands<br />
W. Cenin<br />
Geschrieben zwischen dem i7. (30.) Juli<br />
und 20. August (2. September) i9!2,<br />
das Vostskriptum am 2. (15.) September 19 i2.<br />
Veröffentlicht i9i2 in Leipzig Tiaä) dem 7ext der Broschüre.<br />
als Broschüre in deutscher Sprache.
210<br />
URSPRÜNGLICHES POSTSKRIPTUM<br />
ZU DER SCHRIFT<br />
„ZUR GEGENWÄRTIGEN SACHLAGE IN DER<br />
SOZIALDEMOKRATISCHEN ARBEITERPARTEI<br />
RUSSLANDS" 61<br />
Nachdem die oben geschriebenen Zeilen bereits in Satz gegeben waren,<br />
erhielten wir die in Petersburg am 17. August alten Stils erschienene Nr. 7<br />
des „Newski Golos". Die Liquidatorenzeitung erscheint also wieder nach<br />
i l hmonatiger "Unterbrechung. (Die vorige Nummer dieses Wochenblatts,<br />
Nr. 6, war am 5. Juli alten Stils herausgekommen.)<br />
Die im „Newski Golos" Nr. 7 selbst veröffentlichten Meldungen bestätigen<br />
am besten die Einschätzung der tatsächlichen Bedeutung der<br />
Liquidatoren in Rußland, wie sie (die Einschätzung) in dem Schreiben<br />
unseres Zentralkomitees an den Vorstand* gegeben wurde.<br />
In der Tat, Anfang Juli wurde die Herausgabe der Zeitung eingestellt.<br />
Die Liquidatoren und ihre Freunde machten natürlich alle Anstrengungen,<br />
sie wieder erscheinen zu lassen, über das Ergebnis dieser Anstrengungen<br />
in diesen anderthalb Monaten (Juli bis Mitte August) berichtet der „Newski<br />
Golos" selbst in seiner Nummer 7 folgendes:<br />
„Im Kontor der Zeitung sind zur materiellen Unterstützung der<br />
Zeitung eingegangen:<br />
Juli, Von 14 Personen je 25 Rbl. (I. F., P., G., M. I., K., L., K. F.,<br />
L., B., Wsch., Lw., WL, W. P., aus Mosk. von B.); über R. - 50 Rbl. ,von<br />
M. - 11 Rbl.; Schch. - 11 Rbl.; von 8 Personen je 10 Rbl. (E.,<br />
I., Is., Seh., R'f., Awg., Ob., P. O.); von Ch. I. - 8 Rbl.; von S. -<br />
7 Rbl.; von Ch. - 5 Rbl., B. B. - 5 Rbl.; von F. - 6 Rbl.; M. B. -<br />
5 Rbl.; aus Libau - 5 Rbl.; Gmp. - 3 Rbl. Insgesamt 546 Rubel.<br />
August Von Wulfson (Zürich) - 10 Rbl.; von demselben - 3 Rbl.<br />
57 Kop.; Bensi (Zürich) - 15 Rbl.; G-a (Kischinjow) - 20 Rbl.;<br />
* Parteivorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Die <strong>Red</strong>.
lirsprünglidjes Postskriptum 211<br />
As-w (Astrachan) - 3 Rbl.; Sp-ago (Bogorodsk) - 15 Rbl.; W. W. -<br />
6 Rbl.; J. J. F. - 59 Rbl.; aus Dubbeln über S. - 20 Rbl.; aus Mosk.<br />
von B. - 25 Rbl.; von J. L. - 10 Rbl.; L. L. - 12 Rbl.; M. Gr. -<br />
3 Rbl.; von der Moskauer Initiativgr. - 35 Rbl.; B. B. - 5 Rbl.; B. -<br />
5 Rbl.; über L. L. von An. Konst. aus St. Petersb. - 6 Rbl.; von<br />
einer Gruppe von Freunden aus Paris - 8 Rbl. 54 Kop.; aus Pawlograd<br />
von B. - 20 Rbl. Insgesamt 281 Rbl. 11 Kop."<br />
So lautet der von den Liquidatoren selbst veröffentlichte Bericht. In den<br />
anderthalb Monaten ergibt sich folgendes Bild ihrer Arbeit und ihrer<br />
Verbindungen mit den Massen:<br />
Insgesamt wurden gesammelt -8 2 7 Rbl. i i %op.<br />
Davon<br />
Moskauer Initiativgruppe 35 Rbl. -<br />
Gruppe von Freunden aus Paris 8 Rbl. 54 Kop.<br />
Privatspenden von Einzelpersonen:<br />
35 Spenden mit insgesamt 708 Rbl.<br />
15 Spenden mit insgesamt 75 Rbl. 57 Kop.<br />
Insgesamt 827 Rbl. 11 Kop.<br />
Allen ist bekannt, und Plechano-w hat schon im April 1912 öffentlich<br />
erklärt („Dnewnik Sozialdemokrata" Nr. 16), daß die „Initiativgruppen"<br />
£i(juidatorengrappea sind.<br />
Den Liquidatoren haben also in der schwersten Zeit, als ihr Organ<br />
nicht erscheinen konnte, geholfen<br />
eine Liquidatorengruppe in Rußland<br />
eine Gruppe von Freunden in Paris<br />
35 zahlungskräftige Personen mit einer durchschnittlichen Spende von<br />
je 20 Rubeln (über 40 Mark pro Person)<br />
15 Einzelpersonen mit einer durchschnittlichen Spende von je 5 Rbl.<br />
(über 10 Mark pro Person).<br />
Hatte unser ZK nicht recht mit der Behauptung, daß die Liquidatoren<br />
in der russischen Arbeiterbewegung eine völlige Null sind?<br />
Die Liquidatoren berufen sich auf das „Kaukasische Distriktskomitee".<br />
Von keiner einzigen Arbeitergruppe im Kaukasus haben<br />
sie in den anderthalb Monaten auch nur einen einzigen Beitrag erhalten.
212 W. 1. Centn<br />
Die Liquidatoren wollen die Hilfe des „<strong>Band</strong>" und der sozialdemokratischen<br />
Organisation Lettlands in Anspruch nehmen. Von kein er<br />
einzigen Arbeitergruppe des „Bund" oder der Letten haben sie in<br />
den anderthalb Monaten auch nur einen einzigen Beitrag erhalten.<br />
Die „Prawda", die Petersburger Tageszeitung der Antiliquidatoren,<br />
veröffentlichte in denselben anderthalb Monaten (Juli bis 14. August)<br />
Berichte über 4 i Sammlungen von Arbeitergruppen aus verschiedenen<br />
Orten Rußlands, darunter von Arbeitern der Erdölindustrie (Grosny,<br />
Terekgebiet) („Prawda" Nr. 60) und von jüdischen Arbeitern in Libau<br />
(„Prawda" Nr. 67). Wir erlauben uns die Meinung, daß diese Hilfe der<br />
Arbeiter ernster zu nehmen ist als die Phrasen und Deklamationen des<br />
„Kaukasischen Distriktskomitees", der Letten und des „Bund".<br />
Keine Hilfe der Welt und keine „Konferenzen" mit den Letten, dem<br />
„Bund" u. dgl. m. werden aus der liquidatorischen "Null in der russischen<br />
Arbeiterbewegung eine Eins machen.<br />
Mögen sich die deutschen Genossen die nicht allzu große Mühe machen<br />
und die "Dokumente über die Lage der SDAPR zusammentragen und prüfen<br />
- Rußland ist immerhin nicht Zentralafrika, von dem man alle möglichen<br />
„Jagdgeschichten" erzählen kann. Die deutschen Genossen werden<br />
doch wohl Schluß machen wollen mit einem solchen gelinde gesagt* sonderbaren<br />
Zustand, wo sie über den italienischen, schwedischen und jeden<br />
beliebigen anderen Sozialismus durch offen publizierte Dokumente informiert<br />
werden, über den russischen Sozialismus aber durch privat übermittelte<br />
Märchen und Gerüchte.<br />
Qesdhrieben im August I9i2.<br />
Zum erstenmal veröftentlidht. Tiadi dem Manuskript.<br />
„gelinde gesagt" bei <strong>Lenin</strong> deutsch. Der Tibers.
KAPITALISMUS UND VOLKSKONSUM<br />
213<br />
Vor kurzem veröffentlichte die französische Zeitschrift „La Revue<br />
Scientüique" 62 Daten über die iWanfanneproduktion in den verschiedenen<br />
Ländern. Diese Daten erinnern ein übriges Mal an die schon längst festgestellte<br />
Tatsache, daß sich die Volksernährung mit der Entwicklung des<br />
Kapitalismus verschlechtert.<br />
Margarin nennt man bekanntlich besonders (durch Entzug des Stearins)<br />
bearbeiteten Talg. Aus diesem Margarin wird das Kunstspeisefett Margarine<br />
hergestellt.<br />
Die Produktion von Margarine hat in den wichtigsten europäischen<br />
Ländern sehr große Ausmaße erreicht. Deutschland produziert I2V2 Millionen<br />
Pud Margarine im Jahr, England 772 Millionen usw.<br />
Margarine ist billiger als echte Butter. Für die überwiegende Mehrheit<br />
der Bevölkerung in den kapitalistischen Ländern ist echte Butter zu teuer.<br />
Die Arbeiter verdienen so wenig, daß sie billige, künstlich hergestellte<br />
Lebensmittel von niedriger Qualität kaufen müssen. Und die Hauptverbraucher<br />
sind ja die Arbeiter. Arbeiter gibt es Millionen, Kapitalisten nur<br />
Hunderte. So wächst eben die Produktion eines billigen, künstlich hergestellten<br />
Nahrungsmittels zusehends - bei gleichzeitig zunehmendem<br />
unerhörtem Luxus einer Handvoll Millionäre.<br />
Es wächst der Reichtum der Bourgeoisie. Es wächst das Elend und die<br />
Not des Proletariats und der Masse der ihrem Ruin entgegengehenden<br />
Kleinbesitzer, der Bauern, Handwerker, Kleinhändler.<br />
Bemerkenswert ist, daß der Margarineverbrauch gerade in den Ländern<br />
am höchsten ist, die besonders dafür bekannt sind, daß sie echte Butter<br />
in großer Menge und von bester Qualität produzieren. Um festzustellen,
214 W.J.<strong>Lenin</strong><br />
wie hodi der Margarineverbraudi ist, muß man die Gesamtmenge der im<br />
Lande produzierten Margarine (zuzüglich der Einfuhr und abzüglich der<br />
Ausfuhr) durch die Einwohnerzahl dividieren.<br />
Dabei ergibt sich, daß in bezug auf die Höhe des Margarineverbrauchs<br />
an erster Stelle Dänemark mit 16,4 Kilogramm Margarine im Jahr (etwa<br />
ein Pud) pro Einwohner steht. Es folgen Norwegen mit 15 Pfund, Deutschland<br />
mit 772 Pfund usw.<br />
Dänemark ist hinsichtlich der Butterproduktion das reichste Land. Die<br />
dänische echte Bntter zählt zur besten. London, die größte und reichste<br />
Stadt der Welt (mit den Randgebieten etwa 6 Millionen Einwohner),<br />
nimmt am liebsten dänische Butter und zahlt dafür den höchsten Preis.<br />
Die dänischen wohlhabenden Bauern und vor allem die dänischen Kapitalisten<br />
machen mit dem Butterhandel gute Geschäfte. Und zugleich steht<br />
Dänemark an erster Stelle in der Welt im Verbrauch an künstlicher Butter,<br />
an Margarine!<br />
Wie ist das zu erklären?<br />
Sehr einfach. Die übergroße Mehrheit der dänischen Bevölkerung, wie<br />
auch der Bevölkerung in jedem anderen kapitalistischen Land, sind Arbeiter<br />
und arme Bauern. Für sie ist die echte Butter zu teuer. Sogar die Mittelbauern<br />
in Dänemark verkaufen aus Geldmangel die in ihrer Wirtschaft<br />
produzierte Butter ins Ausland und kaufen für sich selbst die billige Margarine.<br />
Es wächst der Reichtum der dänischen Kapitalisten, und es wächst<br />
das Elend und die Not der dänischen Arbeiter und Bauern.<br />
Bei uns in Rußland ist es dasselbe. Vor sehr langer Zeit, etwa vor vierzig<br />
Jahren, als die Errichtung von Käsereien und Käsereiarteis in den Dörfern<br />
Mode wurde, vermerkte der demokratische Publizist Engelhardt, daß die<br />
Bauern aus Geldmangel Milch und Butter verkaufen, während die Kinder<br />
hungern und dahinsterben.<br />
Seither wurde von dieser Erscheinung oft gesprochen. Die Käseproduktion<br />
nimmt zu, es steigt die Produktion von Milch für den Verkauf, wenige<br />
wohlhabende Bauern und Händler werden reich, während die Armen<br />
noch ärmer werden. Die Kinder der armen Bauern bleiben ohne Milch<br />
und sterben in großer Zahl. Die Kindersterblichkeit in Rußland ist unglaublich<br />
hoch.<br />
Oft bringen die Bauern die Milch in die Käsereien und erhalten die<br />
9/lagermildb zurück, die sie für sich zum Essen verwenden.
Kapitalismus und Volkskonsum 215<br />
Den Reichen bringt die Zunahme der Produktion und des Handels<br />
Profite, den Arbeitern und Bauern - Margarine und Magermilch. So sieht<br />
die kapitalistische Wirklichkeit aus, die die liberalen und staatstreuen Gelehrten<br />
mit so viel Eifer schminken.<br />
„Vrawda" Nr. 70, Nadi dem 7ext der „Prawda".<br />
20. Juli 1912.<br />
llntersdhrift: B. B.
216<br />
DIE LIBERALEN<br />
UND DIE KLERIKALEN<br />
Die Geistlichkeit schickt sich an, die IV. Duma zu überschwemmen.<br />
Wie soll man sich zu diesem Erscheinen der Geistlichkeit in der politischen<br />
Arena verhalten?<br />
Die Demokratie kann niemals den Standpunkt einnehmen, daß die<br />
Geistlichkeit am politischen Leben nicht teilnehmen solle. Das ist ein erzreaktionärer<br />
Standpunkt. Er führt nur zu konventioneller Heuchelei und<br />
zu weiter nichts. Im Leben sind Maßnahmen, die die eine oder andere<br />
Bevölkerungsgruppe oder -Schicht von der Politik und vom Klassenkampf<br />
ausschließen, völlig unmöglich und undurchführbar.<br />
Erinnern wir uns, daß Bebel und die anderen deutschen Sozialdemokraten<br />
für die Agitationsfreiheit der Jesuiten in Deutschland waren. Wir<br />
sind gegen die liberalen Phrasen, daß man die Agitation der Jesuiten „verbieten"<br />
müsse, sagten die Sozialdemokraten. Wir fürchten die Jesuiten<br />
nicht. Mögen die Jesuiten votte "Freiheit der Agitation haben, mag man<br />
aber auch uns Sozialdemokraten die volle Agitationsfreiheit geben. So<br />
argumentierten Bebel und die anderen deutschen Sozialdemokraten.<br />
Die Arbeiterdemokraten Rußlands kämpfen gegen die Verfälschung des<br />
Wahlrechts (und jedes anderen Rechts) zugunsten der Gutsbesitzer oder<br />
der Geistlichkeit usw., keineswegs aber gegen die Freiheit der Teilnahme<br />
der Geistlichkeit am politischen Leben. Wir stehen auf dem Standpunkt<br />
des Klassenkampfes und fordern die volle Freiheit der politischen Betätigung<br />
für jede Klasse, für jeden Stand, für beide Geschlechter, für jedes<br />
Volk, jede Bevölkerungsschicht oder -gruppe.<br />
Die Liberalen urteilen in dieser Frage falsch, undemokratisch. Fürst<br />
Trubezkoi zum Beispiel schrieb unlängst unter dem Beifall der „Retsch":
Die Liberalen und die Klerikalen 217<br />
„Die Verwandlung der Kirche in ein politisches Werkzeug wird erreicht<br />
um den Preis ihrer inneren Zersetzung." Den Plan, die Duma durch die<br />
Geistlichkeit zu überschwemmen, nannte er „antichristlich und antikirchlich".<br />
Das ist nicht wahr. Das ist Heuchelei. Das ist ein zutiefst reaktionärer<br />
Standpunkt.<br />
Trubezkoi und die anderen Liberalen stehen in ihrem Kampf gegen den<br />
Klerikalismus auf einem Mndemokratischen Standpunkt. Unter der Flagge<br />
der Nichtteilnahme der Geistlichkeit am politischen Kampf betreiben sie<br />
nur ihre mehr versteckte (und darum viel gefährlichere) Teilnahme.<br />
Die Arbeiterdemokratie ist für die Freiheit des politischen Kampfes für<br />
alle, auch für die Geistlichkeit. Wir sind nicht gegen die Teilnahme der<br />
Geistlichkeit am Wahlkampf, an der Duma u. dgl. m., sondern aussdbließ-<br />
Hdh gegen die mittelalterlichen Privilegien der Geistlichkeit. Wir fürchten<br />
den Klerikalismus nicht, wir werden - auf einer freien und für alle gleichen<br />
Tribüne — gern mit ihm streiten. Die Geistlichkeit beteiligte sich an<br />
der Politik stets verstedkt; für das Volk wird es nur von Nutzen sein, und<br />
zwar von großem Nutzen, wenn die Geistlichkeit an der Politik offen teilnimmt.<br />
„Prawda" 9Jr. 74, Tiado dem Text der „Prawda".<br />
25. Juli i9i2.<br />
Vntersdhrift: Ein Laie.<br />
15 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>
2<strong>18</strong><br />
DIE KADETTEN UND DIE DEMOKRATIE<br />
„Wir haben uns an den Gedanken gewöhnt", schreibt der Leitartikler<br />
der „Retsch", „daß die Marxisten den Kadetten die Bedeutung einer demokratischen<br />
Partei zubilligen, wenn auch mit dem beleidigenden Zusatz:<br />
bürgerlich"' (das heißt: bürgerlich-demokratisch).<br />
Man kann sich schwerlich vorstellen, daß „gebildete Menschen", die die<br />
marxistische Literatur lesen, eine noch größere politische Unwissenheit an<br />
den Tag legen könnten. Unwillkürlich erhebt sich die Frage: Ist es nicht<br />
manchmal Berechnung, die sie veranlaßt, sich unwissend zu stellen?<br />
Seit 1906 haben wir Hunderte und Tausende Male erklärt, daß die Kadetten<br />
nidht Demokraten, sondern liberal-monarchistische Bourgeois sind.<br />
Im Frühjahr 1907 haben die jedem politisch gebildeten Menschen bekannten<br />
offiziellen Beschlüsse der Marxisten aus ganz Rußland das bekräftigt und<br />
vor aller "Welt festgestellt, daß die Kadetten eine Partei der liberalmonarchistischen<br />
Bourgeoisie sind, daß ihr Demokratismus „heuchlerisch"<br />
ist, daß den Kadetten ein Teil des Kleinbürgertums „nur aus Tradition"<br />
folgt (aus der blinden Gewohnheit an das Gewöhnliche, an das Alte) „und<br />
weil er von den dberalen direkt betrogen wird" 63 .<br />
Hunderte und Tausende Male wurden diese Gedanken seither wiederholt<br />
und weiterentwickelt.<br />
Und die Kadetten beteuern, als ob nichts gewesen sei, daß sie sich „an<br />
den Gedanken gewöhnt" hätten, daß die Marxisten sie für Demokraten<br />
halten! Wahrlich, schlimmer als jeder Taube ist, wer nicht hören will.<br />
Die Liberalen unterscheiden sich von den Konservativen (den Schwarzhundertern)<br />
dadurch, daß sie die Interessen der Bourgeoisie vertreten, die<br />
den Fortschritt und eine einigermaßen geregelte Rechtsordnung, die Wah-
Die Xadetten und die Demokratie 219<br />
rung der Gesetzlichkeit, der Verfassung, die Gewährleistung einer gewissen<br />
politischen Freiheit braudht.<br />
Diese fortschrittliche Bourgeoisie aber fürchtet die Demokratie und die<br />
Bewegung der Massen noch mehr als die Reaktion. Daher die ewigen<br />
Tendenzen der Liberalen zu Konzessionen an das Alte, zum Paktieren mit<br />
ihm, zur Verteidigung vieler Grundpfeiler des Alten. Und all das bewirkt<br />
die völlige Ohnmacht des Liberalismus, seine Unentschlossenheit und<br />
Halbheit, sein ewiges Schwanken.<br />
Die Demokratie, das ist die breite Masse der Bevölkerung. Der Demokrat<br />
fürchtet nicht die Bewegung der Massen, sondern glaubt an sie. Die<br />
Demokratie in Rußland, das sind die Trudowiki und überhaupt die linken<br />
„Volkstümler". Die Marxisten bezeichnen sie als bürgerliche Demokratie,<br />
keineswegs um sie zu „beleidigen", sondern weil keinerlei Neuaufteilung<br />
des Bodens und keinerlei Demokratisierung des Staates bereits die Herrschaft<br />
des Kapitals, die Herrschaft der bürgerlichen Ordnung beseitigt.<br />
Die Politik der Arbeiterdemokraten ist klar. Wir erkennen Vereinbarungen<br />
mit den Liberalen gegen die Rechten erst im zweiten Stadium<br />
der Wahlen und nur dort an, wo man mit den Demokraten die Liberalen<br />
nicht besiegen kann. Wir kämpfen zusammen mit allen bürgerlichen Demokraten,<br />
solange sie ihrem Demokratismus die Treue bewahren.<br />
„Trawda" 5Vr. 75, TJadh dem Hext der „Trawda".<br />
26. Juli 19i2.
220<br />
DER FELDZUG DER LIBERALEN<br />
Die Liberalen sind in Bewegung geraten und bedrängen geschlossen die<br />
„Prawda". Die Leitartikler der kadettischen „Retsch", die parteilos-progressiven<br />
Herren Prokopowitsch und R. Blank haben in den „Saprossy<br />
Shisni" gegen die Arbeiterzeitung das Feuer eröffnet, weil diese beschlossen<br />
hat, in Petersburg eine selbständige Wahlkampagne durchzuführen.<br />
„Die Anstrengungen der .Newskaja Swesda' und der ,Prawda' sind völlig<br />
vergeblich", versichern die „Saprossy Shisni". „Sie können doch nicht im Ernst<br />
damit rechnen, daß der Kandidat der Arbeiterpartei in der Petersburger<br />
städtischen Kurie, in der der Anteil der Arbeiter gering ist, siegen wird!"<br />
Da haben wir ein Musterbeispiel liberaler Betrachtungsweise, da haben<br />
wir die Methoden zur Einschüchterung des Wählers, der den spießbürgerlichen<br />
Standpunkt noch nicht überwunden, sich noch nicht zu wirklich bewußtem<br />
politischem Denken durchgerungen hat.<br />
Es gab eine Zeit, da die Liberalen direkt mit einem Wahlsieg der<br />
Schwarzhunderter zu schrecken suchten. Jetzt aber „zieht" die grobe<br />
Lüge nicht mehr. Jedermann weiß, daß bei den Wahlen in Petersburg<br />
keine, aber auch nicht die geringste Schwarzhundertergefahr besteht. Und<br />
da greift man eben zu einem Einschüchterungsversuch anderer Art: Man<br />
kann doch nicht damit rechnen, daß die Arbeiter siegen werden.<br />
Nein, ihr Herren Liberale, der demokratische Wähler überhaupt - der<br />
Arbeiter im besonderen - hat in den verflossenen fünf schweren Jahren<br />
viel durchgemacht, über vieles nachgedacht und viel gelernt. Mit einem<br />
solchen Einschüchterungsversuch werdet ihr nichts erreichen.<br />
Nirgendwo in der Welt begannen die Arbeiter in den großen Städten<br />
ihre Wahlkampagne, ohne starke liberale Parteien gegen sich zu haben.
Der Teldzug der Liberalen 221<br />
Nirgendwo in der Welt gelang es der Arbeiterdemokratie ohne hartnäckigen<br />
Kampf, die Massen der kleinen Dienstleute, der Handlungsgehilfen,<br />
Handwerker, Kleinhändler usw. dem Einfluß der Liberalen zu entreißen.<br />
Wer dagegen ist, daß die Petersburger Arbeiter gerade jetzt diesen<br />
Kampf aufnehmen (vielmehr: das fortsetzen, was in den Jahren 1906,<br />
1907 und 1909 begonnen wurde), der nennt sich zu Unrecht Demokrat,<br />
der bleibt in Wirklichkeit ein Sklave der Liberalen.<br />
Tausende und aber Tausende neuer demokratischer Wähler werden<br />
jetzt an den Wahlen in Petersburg teilnehmen.<br />
Die große Tat, die die Petersburger Arbeiter mit der Schaffung ihrer<br />
Arbeitertageszeitung vollbracht haben, gibt uns allen Grund, im Wahlkampf<br />
keine geringeren Erfolge zu erwarten.<br />
Von den alten Wählern erwachen Tausende zn neuem, bewußterem<br />
politischem Leben, mit Hilfe ihrer Arbeiterzeitung lernen sie es, für die<br />
Verbesserung ihres Lebens zu kämpfen, sie gewöhnen sich an gemeinsame<br />
politische Aktionen und werden sich der großen Aufgaben des ganzen<br />
Volkes bewußt, die die Arbeiterdemokratie zu lösen hat.<br />
Ein Sieg über die Liberalen in Petersburg ist möglich. Und das demokratische<br />
Petersburg schöpft aus der Unruhe und den zänkischen Ausfällen<br />
der Liberalen, aus ihren Einschüchterungsversuchen und Ermahnungen nur<br />
aufs neue die Gewißheit, daß es auf sicherem Wege zum Siege schreitet.<br />
.Trawda" 7!T. 77, Tladb dem 7ext der „Prawda".<br />
28.7«J/
222<br />
AUFSTÄNDE IN ARMEE UND FLOTTE«<br />
In letzter Zeit drangen einige Nachrichten über eine revolutionäre<br />
Gärung in der Truppe sogar in unsere legale Presse. Halten wir die drei<br />
wichtigsten Meldungen fest.<br />
In der Schwarzmeerflotte. Das Marinegericht in Sewastopol verhandelte<br />
am 27. Juni unter Ausschluß der Öffentlichkeit gegen den Elektriker Selenin<br />
vom Panzerkreuzer „Joann Slatoust". Gemeinsam mit Karpischin und<br />
Siljakow wurde er angeklagt, eine Proklamation mit einem Aufruf zum<br />
bewaffneten Aufstand verfaßt und verbreitet zu haben. Selenin, Karpischin<br />
und Siljakow wurden zum Tode verurteilt und am 10. Juli erschossen.<br />
Am 2. Juli fand beim gleichen Gericht eine Verhandlung in Sachen der<br />
Besatzung desselben Panzerkreuzers statt. 16 Matrosen standen unter der<br />
Anklage, die Besatzung aufgewiegelt zu haben, sich des Schiffes zu bemächtigen.<br />
Zehn wurden zum Tode verurteilt, fünf zu 6 Jähren Zuchthaus.<br />
Wie aus amtlichen telegrafischen Meldungen vom 4. Juli hervorgeht,<br />
sollen die zehn zum Tode Verurteilten ein Gnadengesuch eingereicht<br />
haben.<br />
In der Baltischen Flotte. Für den 16. Juli war beim Marinegericht des<br />
Kronstädter Hafens die Verhandlung gegen 65 Matrosen des Schulschiffes<br />
„Dwina", des Kreuzers „Aurora" und des Panzerkreuzers „Slawa" anberaumt.<br />
Die Oktobristenzeitung „Golos Moskwy" erhielt am 3. Juli aus<br />
St. Petersburg die telefonische Mitteilung, daß in der Stadt viel über diesen<br />
aufsehenerregenden Prozeß gesprochen werde. Wie man sagt, werden<br />
diese 65 Matrosen der Zugehörigkeit zur Partei der Sozialrevolutionäre<br />
sowie der „Zugehörigkeit zu einem Geheimbund" beschuldigt, „der auf<br />
den offenen Aufstand und die Ermordung hoher Offiziere hingearbeitet
Aufstände in Armee und Jlotte 223<br />
hat". Der gleichen Meldung zufolge nahm die Sache ihren Anfang mit der<br />
Verhaftung eines Matrosen der „Dwina" am 22. Januar 1912.<br />
Ferner ist bekannt, daß in den Maitagen Matrosen der Baltischen Flotte<br />
in Helsingfors verhaftet wurden.<br />
Schließlich unternahmen am 1. Juli in dem Dorf Troizkoje bei Taschkent<br />
Pioniere einen Aufstandsversuch. Stabskapitän Pochwisnew wurde von<br />
den Aufständischen aufs Bajonett gespießt. Eine telegrafische Mitteilung<br />
über diesen Vorfall wurde nidbt durchgelassen. Erst am 10. Juli erschien in<br />
Petersburg ein Abdruck aus den „Turkestanskije Wedomosti" [Turkestanische<br />
Nachrichten], einem amtlichen Blatt, das zugibt, daß es mit den<br />
Aufständischen zu einem Qefedrt gekommen ist. Infanterie und Kosaken<br />
haben die aufständischen Pioniere, bei denen es sich um insgesamt 100 bis<br />
130 Mann gehandelt haben soll, zusammengeschlagen. Der Aufstand begann<br />
abends und endete nach der amtlichen Mitteilung gegen Morgen.<br />
Etwa 380 Pioniere wurden verhaftet, von denen „mehr als die Hälfte" (so<br />
behauptet das Regierungsblatt) am Aufstand „zweifellos (??) unbeteiligt<br />
war". Außer Pochwisnew wurden die beiden Leutnante Krassowski und<br />
Koschtsdienez sowie zwei untere Chargen von den Aufständischen getötet;<br />
fünf Offiziere und zwölf untere Chargen wurden verwundet. Wieviel Aufständische<br />
getötet wurden, verschweigt das amtliche Blatt.<br />
Das sind die spärlichen und offensichtlich unvollständigen, offensichtlich<br />
von der Polizei verstümmelten und bagatellisierten Nachrichten, über die<br />
wir augenblicklich verfügen.<br />
Was zeigen diese Ereignisse?<br />
Sie bestätigen voll und ganz das, was in den Beschlüssen der Gesamtrussischen<br />
Januarkonferenz der SDAPR von 1912 erklärt und vor einem<br />
Monat in Nr. 27 des Zentralorgans „Sozial-Demokrat" ausführlicher dargelegt<br />
worden ist.*<br />
In Rußland hat ein revolutionärer Aufschwung begonnen. Die Massenstreiks<br />
im April und Mai haben gezeigt, daß das Proletariat in Rußland<br />
zur Offensive übergeht: sowohl gegen das Kapital als auch gegen die<br />
Zarenmonarchie, sowohl für ein besseres Leben der durch die Verfolgungen<br />
und die Unterdrückungsmaßnahmen der Konterrevolution in den Jahren<br />
1908-1911 gequälten und gepeinigten Arbeiter als auch für die Freiheit<br />
des ganzen Volkes, für die demokratische Republik.<br />
* Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 91-99. "Die <strong>Red</strong>.
224 W. 7. <strong>Lenin</strong><br />
Die Liberalen (und nach ihnen die Liquidatoren vom „Newski Golos")<br />
verbreiten die Mär, Grundlage der Bewegung vom April und Mai sei der<br />
Kampf um die Koalitionsfreiheit gewesen. Dieses Märchen ist durch die<br />
Tatsachen widerlegt. Im Sklavenhalterstaat Rußland kann man nicht nur<br />
um eines der politischen Rechte kämpfen, unter der zaristischen Selbstherrschaft<br />
kann man nicht um konstitutionelle Reformen kämpfen. Der Kampf<br />
des Proletariats hat mit der Welle von Streiks ganz Rußland erfaßt, und<br />
das waren sowohl wirtschaftliche als audh politische Streiks. In der Vereinigung<br />
dieser beiden Formen lag und liegt die Stärke der Bewegung. Das<br />
sind keine einfachen Streiks mehr, das ist der revolutionäre Aufschwung<br />
der Massen, das ist der Anfang der Offensive der Arbeitermassen gegen<br />
die Zarenmonarchie.<br />
Die Massenstreiks mußten überall die revolutionäre Flamme entfachen.<br />
Und das Aufflammen von Aufständen in der Truppe hat gezeigt, daß<br />
diese Flamme auflodert; überall ist Zündstoff vorhanden; überall wächst<br />
die revolutionäre Stimmung in den Massen, sogar bei jenen Arbeitern und<br />
Bauern, die der Kasernenhofdrill niederhält.<br />
Die Massenstreiks in Rußland sind unlösbar mit dem bewaffneten Aufstand<br />
verbunden. Wachsen die Streiks, so wächst auch der Aufstand.<br />
Das haben die Ereignisse bewiesen, von denen wir eingangs gesprochen<br />
haben.<br />
Diese Ereignisse erteilen die Lehre, die in Nr. 27 des Zentralorgans<br />
„Sozial-Demokrat" dargelegt ist. Zum Aufstand aufzurufen ist jetzt<br />
höchst unvernünftig. Der Aufstand wäre noch vorzeitig. Nur der vereinte<br />
Ansturm der Arbeitennassen, der Bauernschaft und des besten Teils der<br />
Armee kann die Voraussetzungen für einen siegreichen, d. h. rechtzeitigen<br />
Aufstand schaffen.<br />
Und die fortgeschrittenen Arbeiter müssen alle Kraft daransetzen, die<br />
illegale Partei der Arbeiterklasse, die SDAPR, zu festigen, sie wiederherzustellen<br />
und zu entwickeln. Nur eine solche Partei, die eine revolutionäre<br />
Agitation betreibt, die sich alle Mittel der legalen Propaganda vermittels<br />
der Arbeiterpresse und der Arbeiterdeputierten in der Duma zunutze<br />
macht, wird imstande sein, einen Verschleiß der Kräfte in aussichtslosen<br />
kleinen Aufständen zu vermeiden und die Armee des Proletariats auf den<br />
großen siegreichen Aufstand vorzubereiten.<br />
Es leben die revolutionären Soldaten und Matrosen!
Aufstände in Armee und Jlotte 225<br />
Es lebe die einträchtige, beharrliche, unermüdliche revolutionäre Arbeit<br />
zur Entfaltung einer breiten revolutionären Offensive der Millionenmassen,<br />
der Arbeiterstreiks und der Bauembewegung! Nur an der Spitze des<br />
Ansturms von Millionen, nur in engstem, unlöslichem Bündnis mit ihnen<br />
kann und wird der revolutionäre Teil der russischen Truppen die Zarenmonarchie<br />
besiegen!<br />
.Xabotsäiaja Qaseta" Tit. 9, 7ia& dem 7ext der<br />
30. Juli (i2. Augusty 5 i9i2. .Rabotsdhaja Qaseta".
226<br />
AM VORABEND DER WAHLEN ZUR IV. DUMA<br />
Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands hat vor den Wahlen<br />
trotz aller Verfolgungen, trotz Massenverhaftungen ein Programm, eine<br />
Taktik und eine Plattform vorgelegt, die klarer, deutlicher, exakter sind als<br />
die jeder anderen Partei.<br />
Die Gesamtrussische Konferenz der SDAPR im Januar 1912 zog das<br />
Fazit der in den schweren Jahren der Konterrevolution geleisteten politischideologischen<br />
Arbeit. Die Beschlüsse der Konferenz gaben tunfassend Antwort<br />
auf alle aktuellen Fragen der Bewegung. Auf der Grundlage dieser<br />
Beschlüsse bildete die Wahlplattform nur das Schlußwort. Die Plattform<br />
wurde vom Zentralkomitee in Rußland herausgegeben und danach von<br />
einer ganzen Reihe Lokalorganisationen nachgedruckt. 66 Die ganze bürgerlidie<br />
Presse berichtete über die Konferenz und zitierte einige ihrer Beschlüsse.<br />
In dem halben Jahr, das seit der Konferenz verflossen ist, wurden die<br />
Beschlüsse der Konferenz in der Parteipresse und in Dutzenden von Referaten,<br />
in Hunderten von <strong>Red</strong>en in Fabrikzirkeln, auf Kundgebungen in<br />
den April- und Maitagen erläutert und verwirklicht. Die Losungen der<br />
Partei - Republik, Achtstundentag, Konfiskation der Gutsbesitzerländereien<br />
- fanden in ganz Rußland Verbreitung und wurden von den fortgeschrittenen<br />
Proletariern aufgegriffen. Der revolutionäre Aufschwung der<br />
Massen, von Streiks und Kundgebungen bis zu Aufständen unter den<br />
Truppen, hat die Richtigkeit und Aktualität dieser Losungen bewiesen.<br />
Unsere Partei hat die Wahlen bereits ausgenutzt, und das in breitem<br />
Umfang. Keinerlei „Erläuterungen" der Polizei, keinerlei Verfälschung<br />
der IV. Duma (durch die Popen oder sonstwen) werden dieses Ergebnis
Am Vorabend der Wahlen zur IV. Duma 227<br />
zunichte machen können. Die streng parteilich betriebene Agitation ist<br />
schon überallhin gedrungen, und sie bestimmte den Ion der ganzen sozialdemokratischen<br />
Wahlkampagne.<br />
Die bürgerlichen Parteien schreiben hastig, in aller Eile „Plattformen<br />
für die Wahlen", um Versprechungen zu machen, um die Wähler zu<br />
täuschen. Die Liquidatoren, im Fahrwasser der Liberalen, verfassen jetzt<br />
ebenfalls eine legale „Plattform für die Wahlen". Die Liquidatoren erheben<br />
in der legalen, zensurierten Presse ein Geschrei über Plattformen,<br />
in der Absicht, ihre völlige Zerfahrenheit, Desorganisiertheit und ideologische<br />
Haltlosigkeit hinter einer passablen, zensurierten „Plattform für<br />
die Wahlen" zu verstecken.<br />
Nicht eine Plattform „für die Wahlen", sondern Wahlen für die Propagierung<br />
einer revolutionären sozialdemokratischen Plattform! - das ist<br />
der Standpunkt der Partei der Arbeiterklasse. Wir haben die Wahlen zu<br />
diesem Zweck bereits ausgenutzt, und wir werden sie bis zu Ende ausnutzen,<br />
wir werden sogar die schwärzeste zaristische Duma ausnutzen, um<br />
die revolutionäre Plattform und Taktik, das revolutionäre Programm der<br />
Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands zu propagieren. Wertvoll<br />
sind nur Plattformen, die den Abschluß einer lange Zeit betriebenen revolutionären<br />
Agitation bilden, die bereits alle Fragen der Bewegung umfassend<br />
beantwortet hat, und nicht Plattformen (die legalen besonders!), die<br />
man in aller Eile fabriziert, um die Löcher zu stopfen, um ein auffälliges<br />
Aushängeschild zu haben, wie das bei den Liquidatoren der Fall ist.<br />
Ein halbes Jahr ist vergangen, seitdem die Partei wiederhergestellt ist,<br />
und obgleich sie unglaubliche Schwierigkeiten zu überwinden hat, wütenden<br />
Verfolgungen ausgesetzt ist und bald hier, bald dort Unterbrechungen<br />
in der Arbeit der örtlichen Zentren und des gemeinsamen Zentrums,<br />
des Zentralkomitees, hinnehmen muß, schreitet sie unaufhaltsam vorwärts<br />
und entfaltet ihre Arbeit und ihren Einfluß unter den Massen. Die Arbeit<br />
entfaltet sich auf neue Art: zu den illegalen, geheimen, eng begrenzten<br />
Zellen, die versteckter als früher arbeiten, kommt eine breitere legale<br />
marxistische Propaganda hinzu. Gerade diese Eigenart der neuen Vorbereitung<br />
der Revolution unter den neuen Bedingungen ist von der Partei<br />
schon lange festgestellt und anerkannt worden.<br />
Und wir können jetzt die vollständige Antwort auf die geräuschvollen<br />
Äußerungen der Liquidatoren geben, die mit „Doppelkandidaturen" dro-
228 W.ICenin<br />
hen. Leere Drohungen, die niemanden rühren! Die Liquidatoren sind so<br />
sehr zerschlagen und so ohnmächtig, daß keinerlei Hilfe sie wiederbeleben<br />
wird. Sie können nicht einmal daran denken, „Doppelkandidaturen" aufzustellen:<br />
täten sie es, würden sie eine klägliche, eine lächerlich geringe<br />
Stünmenzahl erhalten. Sie wissen das und werden es auf einen Versuch<br />
nicht ankommen lassen. Sie lärmen, gerade um abzulenken, um die Wahrheit<br />
zu verbergen.<br />
„Keinerlei Hilfe", sagten wir. Die Liquidatoren rechnen auf ausländische<br />
Hilfe. Ihre Freunde - besonders die Letten, der „Bund" und Trotzki<br />
- haben die Einberufung von zehn „Zentren, Organisationen und Fraktionen"<br />
angekündigt! Allen Ernstes! Das Ausland ist reich, groß und mächrig.<br />
Ganze „10 Zentren"!! Die Kniffe sind hier dieselben wie die der Regierung<br />
im Hinblick auf die IV. Duma: die Vorbereitung einer Vertretung,<br />
die Verwandlung einer Summe von Nullen in das Trugbild „großer Zahlen".<br />
Erstens Trotzki (in Rußland ist er eine Null, er ist nur Mitarbeiter<br />
des „Shiwoje DeJo", seine Agenten sind nur Beschützer der „Initiativgruppen"<br />
der Liquidatoren). Zweitens der „Golos Sozial-Demokrata",<br />
d. h. dieselben ohnmächtigen Liquidatoren. Drittens das „Kaukasische<br />
Distriktskomitee" - dieselbe Null, in dritter Aufmachung. Viertens das<br />
„Organisationskomitee" - die vierte Aufmachung derselben Liquidatoren.<br />
Fünftens und sechstens die Letten und der „Bund", der jetzt völlig liquidatorisch<br />
ist... Aber genug!<br />
Es steht außer Frage, daß unsere Partei dieses Spiel ausländischer Nullen<br />
mit Gelächter quittiert. Sie werden einen Leichnam nicht wiederbeleben,<br />
die Liquidatoren in Rußland aber sind ein Leichnam.<br />
Hier die Tatsachen.<br />
Ein halbes Jahr lang führen die Liquidatoren und alle ihre Freunde<br />
einen erbitterten Kampf gegen die Partei. Es gibt eine legale marxistisdje<br />
Presse. Sie wird teuflisch unterdrückt, sie wagt keinen Laut zu sagen über<br />
die Republik, über unsere Partei, über einen Aufstand, über die Zarenbande.<br />
Es ist lächerlich, zu glauben, man könne die Losungen der SDAPR<br />
durch diese Presse verbreiten.<br />
Aber der Arbeiter in Rußland ist nicht mehr der, der er früher war. Er<br />
ist zu einer Macht geworden. Er hat sich seinen Weg gebahnt. Er besitzt<br />
eine eigene Presse, eine unterdrückte zwar, aber eine eigene, die den<br />
Marxismus theoretisdi verteidigt.
Am Vorabend der Wahlen zur IV. "Duma 229<br />
In dieser öffentlichen Arena kann jedermann die „Erfolge" des Kampfes<br />
der Liquidatoren gegen die Antüiqoidatoren sehen. Der „Wperjod"-Mann<br />
S. W. 67 hat in der liquidatorischen Wiener „Prawda" Trotzkis diese Erfolge<br />
schon festgestellt: Die Sammlungen der Arbeiter — schrieb er - fließen<br />
fast alle den Antiliquidatoren zu. Und er tröstet sich: das geschehe<br />
nicht deshalb, weil die Arbeiter mit den „<strong>Lenin</strong>isten" sympathisierten.<br />
O nein, natürlich „nicht deshalb", liebwerter Freund der Liquidatoren!<br />
Aber man sehe sich dennoch die. Tatsachen an.<br />
Ein halbes Jahr offenen Kampfes für die Arbeitertageszeitung.<br />
Seit 1910 schreien die Liquidatoren nach ihr. Und der Erfolg? In einem<br />
halben Jahr, vom 1. Januar bis zum 1. Juli 1912, haben ihre Zeitungen<br />
„Shiwoje Delo" und „TJewski Qölos" Berichte über 15 (fünfzehn) Sammlungen<br />
von Arbeitergruppen für eine Arbeitertageszeitung gebracht!!<br />
Fünfzehn Arbeitergruppen in einem halben Jahr!<br />
Man nehme die Zeitungen der Antiliquidatoren. Man sehe sich dort die<br />
Berichte über die Sammlungen für eine Arbeitertageszeitung in demselben<br />
Halbjahr an. Man rechne die Sammlungen von Arbeitergruppen zusammen.<br />
Man kommt auf 504 "Beiträge von Arbeitergruppen.<br />
Hier die genauen Angaben nach Monaten und nach den Gebieten Rußlands.<br />
Januar<br />
Februar<br />
März<br />
April<br />
Mai<br />
Juni<br />
Insgesamt<br />
Petersburg und Umgebung<br />
Süden<br />
übriges Rußland<br />
Zahl der Sammlungen von Arbeitergrnppen für eine<br />
Arbeitertageszeitung im ersten Halbjahr 1912<br />
Eingegangen bei<br />
antiliquidatorisdien<br />
Zeitungen<br />
14<br />
<strong>18</strong><br />
76<br />
227<br />
135<br />
34<br />
504<br />
415<br />
51<br />
38<br />
Liquidatoren-<br />
Zeitungen<br />
0<br />
0<br />
7<br />
8<br />
0<br />
0<br />
15<br />
10<br />
1<br />
4<br />
Insgesamt 5Q4 15
230 W.J.Cenin<br />
Die Liquidatoren sind angesichts der Arbeitergruppen Rußlands völlig<br />
geschlagen. Die Liquidatoren sind ein Leichnam, und keine noch so drohenden<br />
(oh, wie drohenden!) ausländischen „Bündnisse von Gruppen,<br />
Zentren, Fraktionen, Strömungen, Richtungen" werden diesen Leichnam<br />
wiederbeleben.<br />
Keine marktschreierischen Manifeste im Ausland, keine vorgetäuschten<br />
Konferenzen der „Initiativgruppen" mit den Liquidatoren werden diese<br />
völlige Niederlage der Liquidatoren angesichts der 'Hunderte von Arbeitergruppen<br />
in Rußland aus der Welt schaffen oder abschwächen.<br />
Die Einheit der Wahlkampagne der sozialdemokratischen Arbeiter in<br />
Rußland ist gesidhert. Sie ist gesichert nicht durch „Vereinbarungen" mit<br />
den Liquidatoren, sondern durch den völligen Sieg über die Liquidatoren,<br />
die bereits ihre wirkliche Rolle, die Rolle liberaler Intelligenzler, zugewiesen<br />
bekommen haben. Man sehe, wie sehr der Sozialrevolutionäre Liquidator<br />
Sawin der „Nascha Sarja" zupasse kommt. Man sehe, wie sehr<br />
L. M. 68 im „Listok Golossa Sozial-Demokrata" die „Initiative" der Sozialrevolutionäre<br />
lobt, die (aus otsowistischem Katzenjammer!) immer wieder<br />
in Liquidatorentum verfallen. Man denke über die Bedeutung der Tatsache<br />
nach, daß in demselben Blatt der bekannte Sozialrevolutionäre „Funktionär"<br />
Awksentjew Plechanow als Vorbild hingestellt wird. Man erinnere<br />
sich, wie die niditsozialdemokratische PPS-„Lewica" von allen Liquidatoren<br />
abgeküßt wird. Liquidatoren aller Parteien, vereinigt euch!<br />
Alle finden schließlich ihren Platz. Die Gruppen der intellektuellen Liquidatoren,<br />
ehemalige Marxisten und ehemalige Liberale mit der Bombe,<br />
werden vom Verlauf der Ereignisse zusammengeführt.<br />
Die Partei der Arbeiterklasse aber, die SDAPR, hat, wie aus den angeführten<br />
Tatsachen ersichtlich, in dem halben Jahr nach ihrer Befreiung<br />
von den Fesseln derer, die sie liquidieren wollten, einen gewaltigen Schritt<br />
vorwärts getan.<br />
„Rabotsdbaja Qaseta" Nr. 9, Tlado dem 7ext der<br />
30. Juli (12. August) 1912. .Rabotsdhaja Qaseta".
KANN HEUTE DIE LOSUNG<br />
DER „KOALITIONSFREIHEIT" DIE GRUNDLAGE<br />
DER ARBEITERBEWEGUNG BILDEN?<br />
231<br />
Die Liquidatoren mit Trotzki an der Spitze suchen in der legalen Presse<br />
zu beweisen, daß dies möglich sei. Sie sind mit aller Kraft bemüht, den<br />
wirklichen Charakter der Arbeiterbewegung zu verfälschen. Aber diese<br />
Versuche sind zwecklos. Die ertrinkenden Liquidatoren greifen nach dem<br />
Strohhalm, um ihre unrechte Sache zu retten.<br />
Im Jahre 1910 begannen Grüppchen von Intellektuellen eine Petitionskampagne<br />
für die Koalitionsfreiheit. Das war eine ausgetüftelte Kampagne.<br />
Die Arbeitermassen blieben gleichgültig. Mit dieser leeren Idee kann man<br />
das Proletariat nicht entflammen. Den Liberalen stand es an, an politische<br />
Reformen unter der Selbstherrschaft des Zaren zu glauben. Die Arbeiter<br />
sahen sofort die Unaufrichtigkeit der Idee und blieben taub.<br />
Die Arbeiter sind nicht gegen den Kampf für Reformen, sie kämpften<br />
für das Versicherungsgesetz. Sie nutzten durch ihre Abgeordneten jede<br />
Gelegenheit in der III. Duma aus, um noch so kleine Verbesserungen<br />
durchzusetzen. Aber es geht eben darum, daß die III. Duma und das Versicherungsgesetz<br />
keine Hirngespinste sind, sondern politische Tatsachen.<br />
Die „Koalitionsfreiheit" unter der Romanow-Monarchie des 3. Juni aber<br />
ist eine leere Versprechung fauler Liberaler.<br />
Die Liberalen sind Feinde der Revolution. Sogar jetzt treten sie direkt<br />
gegen sie auf - die III. Duma der Schwarzhunderter hat es ihnen nicht abgewöhnt,<br />
die Revolution zu fürchten. Aus Angst vor der Revolution trösten<br />
sich die Liberalen mit der Hoffnung auf konstitutionelle Reformen, und<br />
für die Arbeiter predigen sie eine dieser Reformen: die Koalitionsfreiheit.<br />
Aber die Arbeiter glauben nicht an das Märchen von einer „Konstitution"<br />
angesichts der III. Duma, bei der allgemeinen Rechtlosigkeit, bei
232 W. 7. <strong>Lenin</strong><br />
dem Wüten der Willkür. Die Arbeiter fordern die Koalitionsfreiheit im<br />
Ernst und kämpfen deshalb für die Freiheit des ganzen Volkes, für den<br />
Sturz der Monarchie, für die Republik.<br />
Die Streiks vom April und Mai haben in der Praxis bewiesen, daß sich<br />
das Proletariat zum revolutionären Streik erhoben hat. Die Verschmelzung<br />
des wirtschaftlichen und des politischen Streiks, die revolutionären<br />
Kundgebungen, die Losung der Republik, die von den Petersburger Arbeitern<br />
am 1. Mai aufgestellt wurde - alle diese Tatsachen beweisen endgültig<br />
den Beginn des revolutionären Aufschwungs.<br />
Die tatsächliche, objektive Lage in Rußland ist die: Das Proletariat<br />
hat den revolutionären Massenkampf für den Sturz der Zarenmonarchie<br />
aufgenommen, im Heer gärt es immer mehr, das heißt, es schließt sich<br />
diesem Kampf an. Der beste Teil der Bauemdemokratie wendet sich von<br />
den Liberalen ab und hört auf die Arbeitervorhut.<br />
Die Liberalen aber, die Feinde der Revolution, verteidigen nur den<br />
„konstitutionellen" Weg, sie setzen der Revolution die Verheißung (die<br />
leere und verlogene Verheißung) der „Koalitionsfreiheit" unter der russischen<br />
Zarenmonarchie entgegen!<br />
So sieht die politische Lage in Wirklichkeit aus. Das sind die realen<br />
gesellschaftlichen Kräfte: 1. die Zarenmonarchie, die jegliche „Konstitution"<br />
mit Füßen tritt; 1. die liberal-monarchistischen Bourgeois, die aus<br />
Angst vor der Revolution vorgeben, an die Vereinigung der „Freiheit"<br />
mit der Zarenmacht zu glauben, und 3. die revolutionäre Demokratie; ihr<br />
Führer hat sich bereits erhoben - die Arbeitermassen, und ihrem Ruf<br />
folgen die Matrosen und Soldaten von Helsingfors bis Taschkent.<br />
Man sehe, wie hoffnungslos dumm bei dieser Lage das Gerede der<br />
Liquidatoren von der „Koalitionsfreiheit" ist! Von allen „Reformen"<br />
haben diese Weisen der liberalen Arbeiterpolitik eine unmögliche konstitutionelle<br />
Reform ausgewählt, die nichts anderes ist als ein Versprechen,<br />
und sie spielen zur Belustigung „europäischen" Konstitutionalismus.<br />
Nein! Die Arbeiter weisen die Liberalen und die liberale Arbeiterpolitik<br />
zurück. Jede Reform, die wirklich auf der Tagesordnung steht, in<br />
der III. wie in der IV. Duma, von der Versicherung bis zur Gehaltserhöhung<br />
für die Kanzleisklaven, werden die Arbeiter unterstützen, fördern,<br />
zum Gegenstand ihrer Kampagnen machen.<br />
Die leere und törichte Verheißung einer konstitutionellen politischen
Die Losung der .Koalitionsfreiheit" 233<br />
Reform unter der Selbstherrschaft quittierten die Arbeiter jedoch mit<br />
verächtlichem Lachen. Es lebe die Ausweitung und Verstärkung des begonnenen<br />
revolutionären Massenkampfes für den Sturz der Monarchie,<br />
für die Republik! Der Kampf wird zeigen, welche halbschläditigen konstitutionellen<br />
Reformen eine "Niederlage der neuen Revolution zur Folge<br />
haben wird, aber jetzt - zu Beginn des revolutionären Ansturms - den<br />
Massen vom nicfrtrevolutionären Weg, von einer friedlichen konstitutionellen<br />
Reform reden, das können nur „Menschen im Futteral"*.<br />
Der begonnene revolutionäre Ansturm erfordert revolutionäre Losungen.<br />
Nieder mit der Monarchie! Es lebe die demokratische Republik, der<br />
Achtstundentag, die Konfiskation aller Gutsbesitzerländereien!<br />
.Jlabotsdiaja Qaseta" Nr. 9, Naä) dem Jext der<br />
30. Juli (.12. August) 1912. ."Rdbotsdiaja Qaseta",<br />
* „Der Mann im Futteral" - Titel einer Erzählung von A. P. Tschechow.<br />
Tier Tibers.<br />
16 <strong>Lenin</strong>. <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>
234<br />
BRIEF AN DIE SCHWEIZER ARBEITER 69<br />
Werte Genossen!<br />
Hiermit bestätige ich, vor allen Schweizer Genossen, im Namen der<br />
Soz. Dem. Arbeiterpartei Rußlands, daß die allgemeine Parteikonferenz<br />
dieser Partei im Januar 1912 in einer speziellen Resolution jede Verantworüidhkeit<br />
für einzelne ausländische russische Gruppen abgelehnt hat.<br />
Ich bestätige weiter, daß das Zentralkomitee unserer Partei bis jelzt<br />
nur eine einzelne russische soz. dem. Organisation im Auslande bestätigt<br />
hat - nämlich das Komitee der Ausländischen Organisalionen und deren<br />
Zürcher Sektion. Beiliegend die deutsche Broschüre des Zentralorgans<br />
unserer Partei, wo das Benehmen der desorganisatorischen Grüppchen von<br />
Russen im Auslande ausführlich beschrieben ist.*<br />
Mit Parteigruß <strong>Lenin</strong> (W. VljanowJ<br />
Vertreter der Soz. Dem. Arb. Partei Rußlands im Internationalen Sozialistischen<br />
Büro.<br />
Qesdbrieben im Juli 19 i 2.<br />
Veröffentlicht im August 1912 Nada der Jlugsdirift.<br />
als hektographierte Tlugsdbrift<br />
in deutscher Sprache.<br />
Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 191-209. Die <strong>Red</strong>.
GRUNDSATZFRAGEN<br />
235<br />
Eine kleine Belebung der Wahlkampagne - und die offiziell-kadettische<br />
„Retsch" beginnt (endlich hat sie sich dazu aufgerafft!), von ihren grundsätzlichen<br />
Meinungsverschiedenheiten mit den Linken zu reden.<br />
„An eine Aussöhnung mit dem Regime des 3. Juni dachten und denken wir<br />
nicht", schreibt die „Retsch".<br />
Das stimmt nicht. Daran habt ihr gedacht, und daran denkt ihr noch, ihr<br />
Herren Kadetten. Der Beweis: Eure <strong>Red</strong>en von der „verantwortungsbewußten"<br />
Opposition und der Opposition mit dem Genetiv. Das sind<br />
nicht nur „Gedanken" an einen Frieden, das ist eine Politik des „Friedens"<br />
mit dem Regime des 3. Juni.<br />
Und die frommen <strong>Red</strong>en Karaulows in der frommen III. Duma? Und<br />
die Stimmabgabe der Kadetten für das Budget und seine größten Posten?<br />
Und die <strong>Red</strong>en von Beresowski 2* zur Agrarfrage? Und die unlängst<br />
abgegebenen Erklärungen Gredeskuls, die in der „Retsch" wiederholt<br />
wurden? Stellt alles das etwa nicht gerade eine Politik des "Friedens mit<br />
den Qrundlagen des Regimes des 3. Juni dar? Zweifellos ja.<br />
„Fünf Jahre lang haben wir nicht gesehen", schreibt die „Retsch", „daß im<br />
Hahmen der "Duma die Taktik der Sozialdemokratie eine andere gewesen wäre<br />
als die Taktik der anderen Oppositionsparteien. Und in diesem Falle handelt<br />
es sich doch um die Wahlen zur Duma."<br />
Da haben wir ein Muster an Sophismus und Entstellung der Wahrheit!<br />
In keiner einzigen Frage war die Taktik der Sozialdemokratie in der<br />
III. Duma der Taktik der Kadetten verwandt. In allen Fragen war sie<br />
grundsätzlich anders: keine Taktik des „Friedens", keine Taktik des Libe-<br />
• Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 270. Der Übers.
236 l/V. 1. <strong>Lenin</strong><br />
ralismus; stets war sie eine Taktik der Demokratie und eine Taktik des<br />
Klassenkampfes.<br />
Will die „Retsch" etwa behaupten, daß man als Übereinstimmung der<br />
Taktik allein schon das bloße „Dagegenstimmen" bezeichnen könne - und<br />
nicht die Übereinstimmung der grundsätzlichen Fragestellung in den <strong>Red</strong>en<br />
der Dumasprecher, in den Anträgen auf Übergang zur Tagesordnung?<br />
Will die „Retsch" etwa sagen, daß es zulässig sei, in der Duma das<br />
eine und außerhalb der Duma etwas anderes zu sagen? Will sie das nicht,<br />
um die Frage des undemokratischen Inhalts der kadettischen Propaganda<br />
außerhalb der Duma zu verkleistern?<br />
„Wir können nicht leugnen", schreibt die „Retsch", „daß die .Demokratie',<br />
der wir selbst dienen, das Recht auf selbständige Aufgaben und Aktionen<br />
hat."<br />
Das stimmt nicht, ihr Herren gebildete Liberale! Versucht eure grundsätzlichen<br />
Ansichten über den Unterschied zwischen Liberalismus und<br />
Demokratie darzulegen. Versucht diese Auffassungen durch Beispiele aus<br />
der englischen, französischen oder deutschen Geschichte zu erläutern,<br />
selbst wenn ihr dabei die speziell proletarische, die Arbeiterdemokratie,<br />
die marxistische Demokratie beiseite laßt. Ihr werdet nicht leugnen können,<br />
daß sich bürgerlicher Liberalismus und bürgerliche Demokratie in<br />
ihrem Verhältnis zur alten Ordnung unterscheiden. Wir werden euch stets<br />
beweisen, daß ihr eine Partei der liberal-monarchistischen Bourgeoisie<br />
seid, und keineswegs eine demokratische Partei.<br />
Die bürgerliche Demokratie in Rußland, das sind die Trudowiki und<br />
die Volkstümler aller Schattierungen.<br />
„Wer A sagt, muß auch B sagen." Habt ihr angefangen, von den<br />
Grundsätzen der Kadetten und der Linken zu reden, so laßt uns wirklich<br />
die Grundsätze erläutern. Nur so kann man es dahin bringen, daß die<br />
Wahlagitation ein wenig über die Fragen hinausgeht, wieviel Gesetzwidrigkeiten<br />
der und der Polizeioffizier, der und der Gouverneur oder<br />
die und die Verwaltungsinstanz begeht.<br />
„ Trawda" Nr. 79, Nado dem 7ext der „Vrawda".<br />
31. Juli 19/2.
DAS LETZTE VENTIL<br />
237<br />
Wir schlössen unseren vorigen Artikel über den gegenwärtigen Stand<br />
der Agrarfrage in Rußland (siehe „Newskaja Swesda" Nr. 15) mit den<br />
Worten:<br />
„Die reale Übereinstimmung zwischen dem Stolypinsdien Agrarprogramm<br />
und dem der Volkstümler besteht darin, daß beide den alten, mittelalterlichen<br />
Grundbesitz radikal beseitigen. Und das ist sehr gut. Nichts<br />
anderes ist er wert. Am reaktionärsten sind die Kadetten von der ,Retsch'<br />
und den ,Russkije Wedomosti', die Stolypin deswegen Vorwürfe machen -<br />
anstatt die Notwendigkeit eines noch konsequenteren und entschiedeneren<br />
Vorgehens zu beweisen. Wir werden in einem folgenden Artikel sehen,<br />
daß ein Vorgehen im Sinne Stolypins die Schuldknechtschaft und die<br />
Abarbeit nicht beseitigen kann, daß aber ein Vorgehen im Sinne der Volkstümler<br />
dazu imstande ist<br />
Wir wollen einstweilen bemerken, daß das einzige durchaus reale Ergebnis<br />
der Stolypinschen Methode die Hungersnot ist, die 30 Millionen<br />
betroffen hat. Und wer weiß, ob die Stolypinsche Methode dem russischen<br />
Volk nicht beibringen wird, wie man entschiedener vorgehen muß. Zweifellos<br />
wird es daraus lernen. Ob es die Lehren ziehen wird - wir werden<br />
es sehen."*<br />
Somit stehen wir jetzt vor der Frage: Warum kann die Beseitigung des<br />
mittelalterlichen Grundbesitzes nach Stolypinscher Manier die Schuldknechtschaft<br />
und die Abarbeit nidbt beseitigen, während sie nach der<br />
Manier der bäuerlichen Trudowiki oder der Volkstümler dazu imstande<br />
ist?<br />
• Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 138/139. Die <strong>Red</strong>.
238 TV. 1. <strong>Lenin</strong><br />
Wenn wir an die Untersuchung dieser Frage gehen, so wollen wir vor<br />
allem bemerken, daß eine der Hauptsünden der am weitesten verbreiteten<br />
Betrachtungen über dieses Thema - der liberalen und volkstümlerischen<br />
und teilweise der revisionistischen Betrachtungen (P. Maslow) - die abstrakte<br />
Fragestellung ist, das Vergessen der wirklich vor sich gehenden,<br />
konkreten historischen „Ablösung". In Rußland vollzieht sich jene Ablösung,<br />
die in den fortgeschrittenen Ländern des Westens schon längst<br />
vor sich gegangen ist: die Ablösung der Leibeigenenwirtschaft durch die<br />
kapitalistische.<br />
Es handelt sich und es kann sich nur handeln um die Formen und Bedingungen,<br />
um die Schnelligkeit, die Umstände dieser Ablösung: alle<br />
anderen Erwägungen, die nicht selten in den Vordergrund geschoben<br />
werden, sind nur ein unbewußtes Umgehen des Wesens der Sache, eben<br />
dieser Ablösung.<br />
Die vorherrschende Form der Leibeigenschaftsverhältnisse in der heutigen<br />
russischen Landwirtschaft ist die Schuldknechtschaft und die Abarbeit.<br />
Die verhältnismäßig stark erhaltene Naturalwirtschaft - die Existenz<br />
des kleinen Landwirts, der auf keinen grünen Zweig kommt, der<br />
ein winziges Stückchen schlechten Bodens mit alten, kümmerlich ärmlichen<br />
Geräten und Produktionsmethoden bewirtschaftet, die ökonomische Abhängigkeit<br />
dieses kleinen Landwirts von dem benachbarten Latifundienbesitzer,<br />
der ihn nicht nur als Lohnarbeiter ausbeutet (das ist schon beginnender<br />
Kapitalismus), sondern gerade als kleinen Landwirt (das ist<br />
Fortsetzung der Fronarbeit) - das sind die Bedingungen, die die Schuldknechtschaft<br />
und die Abarbeit hervorrufen, oder vielmehr: das eine wie<br />
das andere kennzeichnen.<br />
Auf die 30 000 größten Gutsbesitzer im Europäischen Rußland kommen<br />
10 000 000 arme Bauernhöfe. Im Durchschnitt ergibt das annähernd<br />
folgendes Bild: Neben einem Gutsbesitzer mit über 2000 Desjatinen existieren<br />
etwa 300 Bauernhöfe mit etwa 7 Desjatinen schlechten und ausgemergelten<br />
Bodens je Hof und unglaublich rückständigem, primitivem<br />
(vom europäischen Standpunkt, vom amerikanischen ganz zu schweigen)<br />
Inventar.<br />
Ein Teil der wohlhabenden Bauern „steigt auf", d. h. wird zum Kleinbürgertum,<br />
und bearbeitet den Boden unter Verwendung von Lohnarbeit.<br />
Zur Lohnarbeit greift auf einem bestimmten Teil seiner Ländereien und
T>as letzte Ventil 239<br />
für bestimmte landwirtschaftliche Arbeiten auch der Gutsbesitzer, der<br />
nicht selten der gestrige Fronherr oder dessen Söhnchen ist.<br />
Aber außer diesen kapitalistischen Verhältnissen, diese in allen russischen<br />
Stammgouvemements des Europäischen Rußlands in den Hinteigrund<br />
drängend, gibt es die Bearbeitung des gutsherrlichen Bodens mit<br />
bäuerlichem Inventar, d. h. die Abarbeit, die Fortsetzung der gestrigen<br />
Fronarbeit, gibt es die „Ausnutzung" des ausweglosen Elends des kleinen<br />
Landwirts (gerade weil er Landwirt, Kleinbesitzer ist) zur „Dienstleistung"<br />
in der benachbarten gutsherrlichen „Ökonomie", d. h. die Sdbuldknedhtsdhaft,<br />
Gelddarlehen gegen Arbeit, Getreidedarlehen, Verdingung im<br />
Winter, Verpachtung von Land, Gewährung der Nutzung von Wegen,<br />
Tränken, Wiesen, Weideplätzen, Wald, Verleihung von Gerätschaften<br />
usw. usf. - all das sind die unendlich vielfältigen Formen der modernen<br />
Schuldknechtschaft.<br />
Das geht mitunter so weit, daß sich der Bauer verpflichten muß, mit<br />
seinem Dung die herrschaftlichen Felder zu düngen, und die „Hausfrau",<br />
Eier zu bringen - und das nicht im achtzehnten, sondern im zwanzigsten<br />
Jahrhundert nach Christi Geburt!<br />
Es genügt, die Frage dieser Überreste des Mittelalters und der Leibeigenschaft<br />
in der heutigen russischen Landwirtschaft klar und exakt<br />
zu stellen, um die Bedeutung der Stolypinschen „Refonn" einschätzen<br />
zu können. Diese „Reform" gab natürlich der untergehenden Leibeigenschaft<br />
einen Aufschub - ebenso wie die vielgerühmte, von den Liberalen<br />
und den Volkstümlern laut gepriesene, sogenannte „Bauern"- (in Wahrheit<br />
aber Qutsbesitzer-) Refonn von <strong>18</strong>61 dem Frondienst einen Aufsdhub gab,<br />
indem sie ihn unter einer anderen Hülle bis hin zum Jahre 1905 verewigte.<br />
Der „Aufschub", den Stolypin der alten Ordnung und der alten, feudalen<br />
Landwirtschaft verschafft hat, besteht darin, daß ein weiteres und<br />
dabei das letzte Ventil geöffnet wurde, das man öffnen konnte, ohne den<br />
ganzen gutsherrlichen Grundbesitz zu enteignen. Ein Ventil wurde geöffnet<br />
und etwas Dampf abgelassen, indem einige völlig verelendete<br />
Bauern sich ihre Anteile als persönliches Eigentum „überschreiben" ließen<br />
und verkauften, womit aus Proletariern mit Anteilland reine Proletarier<br />
wurden, indem ferner einige wohlhabende Bauern, die ihre Anteile überschrieben<br />
bekamen und sich manchmal auf Sonderland einrichteten, eine<br />
noch stabilere kapitalistische Wirtschaft aufbauten als vorher.
240 l/ff. J.<strong>Lenin</strong><br />
Schließlich wurde ein Ventil geöffnet und Dampf abgelassen, indem<br />
mancherorts die besonders unerträgliche Gemengelage beseitigt und die<br />
im Kapitalismus unumgängliche Mobilisierung des Bauemlandes erleichtert<br />
wurde.<br />
Wurde aber durch diesen Aufschub die Summe der Widersprüche im<br />
Dorfe verringert oder vergrößert? Wurde das Joch der feudalen Latifundien<br />
verringert oder vergrößert? Wurde die Gesamtmenge des<br />
„Dampfes" verringert. oder vergrößert? Diese Fragen kann man nicht<br />
anders als im letzteren Sinne beantworten.<br />
Die Hungersnot von 30 Millionen hat in der Praxis bewiesen, daß heute<br />
nur diese letzte Antwort möglich ist. Es ist eine Hungersnot der Kleinbesitzer.<br />
Es ist das Bild der Krise eben dieser alten, geknechteten, elenden<br />
und von den feudalen Latifundien unterdrückten Bauernwirtschaft. Solche<br />
Hungersnöte gibt es bei den großen nt'cMfeudalen Gütern, den kapitalistischen<br />
Latifundien Westeuropas nicht und kann es dort nicht geben.<br />
Die Masse der Bauern, ausgenommen die vom Boden völlig befreiten<br />
Proletarier (die sich den Boden „überschreiben" ließen, um ihn zu verkaufen)<br />
und die geringe Minderheit der wohlhabenderen Bauern, verbleibt<br />
in der alten und in einer noch schlechteren Lage. Keinerlei Uberschreibung<br />
des Bodens als persönliches Eigentum, keinerlei Maßnahmen<br />
gegen die Gemengelage können aus den Massen der armen Bauern, die<br />
auf schlechtem, ausgemergeltem Boden sitzen, die nur über urväterliches,<br />
gänzlich abgenutztes Inventar verfügen und deren Zug- und Hornvieh<br />
hungert, einigermaßen kultivierte, einigermaßen selbständige Landwirte<br />
machen.<br />
Neben dem Gutsbesitzer (vom Typ eines Markow oder Purischkewitsch)<br />
mit 2000 Desjatinen Land werden die Besitzer von sieben Desjatinen, von<br />
kümmerlichen Landfetzen, unausbleiblich geknechtete Habenichtse bleiben,<br />
mag man sie noch so sehr auseinandersiedeln, mag man sie noch so<br />
sehr von den Bindungen an die Dorfgemeinde befreien, mag man ihnen<br />
noch so sehr ihre ärmlichen Bodenfetzen als persönliches Eigentum „überschreiben".<br />
Die Stolypinsche Reform kann weder die Schuldknechtschaft und die<br />
Abarbeit der Masse der Bauern nodb auch ihre Hungersnot beseitigen.<br />
Jahrzehnte und aber Jahrzehnte solcher periodisch wiederkehrenden Hungersnöte<br />
sind erforderlich, damit die Masse der jetzigen Wirtschaften
Das letzte Ventil 241<br />
qualvoll ausstirbt, damit die Stolypinsdie Reform „Erfolg" hat, d. h., damit<br />
in unserem Dorf der Typus der bürgerlichen Ordnung, wie er sich in<br />
ganz Europa herausgebildet hat, entsteht. Heute aber, nach sechsjähriger<br />
Erprobung der Stolypinschen „Reform" und den in sechs Jahren erzielten<br />
„glänzenden" Fortschritten hinsichtlich der Zahl derer, die sich „den<br />
Boden überschreiben ließen" usw., kann nicht der geringste Zweifel<br />
bestehen, daß diese Reform die Krise nicht beseitigt hat und nicht beseitigen<br />
kann.<br />
Im gegenwärtigen Augenblick wie für die nächste Zukunft Rußlands<br />
bleibt es völlig unbestreitbar, daß wir die alte Krise einer auf eine ganze<br />
Reihe von Überresten der Leibeigenschaft gestützten Wirtschaft vor uns<br />
haben, die alte Krise des verelendeten landwirtschaftlichen Kleinbetriebs,<br />
der von den Latifundien Markowscher und Purischkewitscher Prägung geknechtet<br />
wird.<br />
Und diese Krise, die durch die Hungersnot der 30 Millionen so anschaulich<br />
dokumentiert wird, sehen wir vor uns, obwohl Stolypin das<br />
letzte Ventil geöffnet hat, über das die Markow und Purischkewitsch<br />
überhaupt noch verfügen. Nichts anderes konnten sie (und mit ihnen der<br />
Rat des vereinigten Adels) sich ausdenken, nichts anderes mehr kann man<br />
sich ausdenken*, um den Purischkewitsch den Boden und die Macht zu<br />
erhalten, als daß eben diese Purischkewitsda eine bürgerliche Politik betreiben.<br />
Darauf läuft denn auch die Gesamtheit der Widersprüche im heutigen<br />
russischen Dorf hinaus: Die alten Fronherren betreiben eine bürgerliche<br />
Agrarpolitik bei vollständiger Erhaltung ihres Grundbesitzes und ihrer<br />
Macht. Auf agrarischem Gebiet ist auch das ein „Schritt voran auf dem<br />
Wege der Umwandlung in eine bürgerliche Monarchie"**.<br />
Dieser Schritt zum Neuen ist getan worden von dem Alten, das<br />
seine Allmacht, seinen Grund und Boden, seine äußere Gestalt und sein<br />
* Selbstverständlich muß man das Wort „sich ausdenken" „mit einem<br />
Körnchen Salz" verstehen: die „Erfindung" der tonangebenden Klasse war<br />
durch den ganzen Verlauf der kapitalistischen Entwicklung Rußlands und der<br />
ganzen Welt eingeschränkt und bestimmt. Bei dem bestehenden Klassenverhältnis<br />
in dem sich kapitalistisch entwickelnden Rußland konnte der Rat des<br />
vereinigten Adels nicht anders handeln, wenn er seine Macht erhalten wollte.<br />
** Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 15, S. 348/349. Die <strong>Red</strong>.
242 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />
Milieu erhalten hat. Es ist der letzte Schritt, den das Alte überhaupt noch<br />
tun kann. Es ist das letzte Ventil. Andere Ventile stehen den Purischkewitsch,<br />
die ein bürgerliches Land kommandieren, nicht mehr zur Verfügung<br />
und können es auch gar nicht.<br />
Und gerade weil dieser Schritt zum Neuen von dem seine Allmacht<br />
erhaltenden Alten getan wurde, konnte und wird dieser Schritt zu nichts<br />
Beständigem führen. Im Gegenteil, er führt, das zeigen uns deutlich alle<br />
Symptome der gegenwärtigen Situation, zu einem Anwachsen der alten<br />
Krise auf einer anderen, höheren Stufe der kapitalistischen Entwicklung<br />
Rußlands.<br />
Die alte Krise wächst auf neue Art heran, unter neuen Bedingungen,<br />
bei viel bestimmteren Beziehungen zwischen den Klassen, aber sie wächst<br />
heran, und ihr sozialökonomischer (und nicht nur ökonomischer) Charakter<br />
bleibt im Grunde genommen der alte.<br />
Eine winzige Anzahl guter Sonderland-Wirtschaften der Dorfbourgeoisie<br />
bei sinkender Zahl der an Anteilland gebundenen Proletarier, bei Erhaltung<br />
der Allmacht der Purischkewitsch, bei einer Riesenmasse verelendeter<br />
und verhungernder geknechteter Mittelbauern, bei zunehmender<br />
Zahl der an kein Anteilland gebundenen Proletarier - das ist das Bild des<br />
heutigen russischen Dorfes.<br />
Muß man da noch beweisen, daß das Stolypinsche Agrarprogramm<br />
die Schuldknechtschaft und die Abarbeit nicht beseitigen kann, während<br />
das der Volkstümler (in der historisch-klassenmäßigen Bedeutung dieses<br />
Wortes) dazu imstande ist? Ist die gegenwärtige Lage des Dorfes nicht<br />
dazu angetan, Gedanken der Art zu nähren, daß die guten Sonderland-<br />
Wirtschaften bei völlig freier Mobilisierung des Grund und Bodens unbedingt<br />
und sofort allen mittelalterlichen Hungersnöten, aller Schuldknechtschaft<br />
und jeglicher Abarbeit ein Ende machen würden, wenn diese<br />
Wirtschaften nach freier Wahl der Bauern alle die. siebzig Millionen<br />
Desjatinen Gutsbesitzerlandes einbeziehen würden, die einstweilen von<br />
der „Flurbereinigung" nicht berührt sind? Und wird uns die Ironie der<br />
Geschichte nicht das Eingeständnis abringen, daß die Stolypinschen Landvermesser<br />
für ein „trudowikisches" Rußland die passenden Leute waren?<br />
„Newskaja Swesda" "Nr. 20, TJadh dem Jext der<br />
5. August i9i2. „TJewskaja Swesda".<br />
Unterschrift: R. S.
KLEINE INFORMATION<br />
243<br />
Die Frage, ob unsere Kadetten Demokraten sind oder eine Partei der<br />
liberal-monarchistischen Bourgeoisie, ist von großem wissenschaftlichem<br />
Interesse.<br />
Erinnern wir uns daran, daß sogar der Trudowik (bürgerliche Demokrat)<br />
Wodowosow in dieser Frage Schwankungen gezeigt hat.<br />
Die „Prawda" berief sich im Zusammenhang mit dieser Frage auf die<br />
unlängst abgegebenen Erklärungen des Wenn Qredeskul, die in der<br />
„Retsdb" wiederholt wurden*<br />
Die „Retsch" antwortet: „Von welchen Erklärungen des Herrn Gredeskul<br />
die ,Prawda' spricht, wissen wir nicht."<br />
Nicht wahr, wie nett das ist? Die „Prawda" sagte Hipp und klar, daß sie<br />
von Erklärungen spricht, die in der „Retsch" wiederholt wurden. Wie<br />
denn nun? Weiß die „Retsch" etwa nicht, was in der „Retsch" gedruckt<br />
steht?? Oder ist es nicht natürlicher, anzunehmen, daß die Liberalen manches<br />
aus ihrer jüngsten Vergangenheit vergessen mödhten, um vor den<br />
Wahlen die Demokraten zu spielen?<br />
Auf jeden Fall will ich, zur Klärung dieser wichtigen wissenschaftlichen<br />
Frage, die Worte anführen, die Herr Gredeskul in einer Reihe öffentlicher<br />
Vorlesungen gesagt und, ohne einen einzigen Vorbehalt der <strong>Red</strong>aktion,<br />
in Nr. 117 (2071) der „Retsch" wiederholt hat:<br />
„Ganz zum Schluß meiner Vorlesung", schrieb Herr Gredeskul, „als ich<br />
gegen die Behauptung der ,Wechi' polemisierte, daß die russische Befreiungsbewegung<br />
(angeblich durch die Schuld der Intelligenz) gescheitert sei, und diese<br />
Behauptung mit der Meinung derer verglich, die viel weiter links stehen als<br />
* Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 235. Die <strong>Red</strong>.
244 W.1. <strong>Lenin</strong><br />
P. B. Struve, aber ebenfalls glauben, daß die Bewegung uns überhaupt nichts<br />
gebracht habe, verteidigte ich, im Gegensatz dazu, die These, daß umgekehrt<br />
sehr viel getan worden ist, daß das Fundament des künftigen Verfassungsgebäudes<br />
gelegt wurde, und zwar sehr tief verankert und fest, mitten in der<br />
Masse des Volkes. Um für die kritische Betrachtung dieser beiden Behauptungen<br />
ein Kriterium zu geben und zugleich einen Gedanken zu äußern, den<br />
ich für unsere Zeit gleichfalls für politisch außerordentlich wichtig halte, betrachtete<br />
ich beide Behauptungen unter dem Gesichtspunkt der Zukunft und<br />
sagte, daß man vom Standpunkt der ersten Behauptung (wenn 1905/1906<br />
nichts getan worden ist) alles von vom anfangen, d. h., mit anderen Worten,<br />
eine zweite Bewegung in Gang setzen müsse, während umgekehrt vom Standpunkt<br />
der zweiten Behauptung (daß 1905/1906 das Fundament der russischen<br />
Verfassung gelegt wurde) keine zweite Volksbewegung vonnöten ist, sondern<br />
lediglich eine ruhige, beharrliche und zielbewußte konstitutionelle Arbeit.<br />
An dieser Stelle war es, wo mich der Libauer Polizeichef (die Sache geschah<br />
in Libau) unterbrach. Somit gab es in Libau eine Demonstration der Polizei<br />
gegen die öffentliche Leugnung der Notwendigkeit einer neuen Revolution in<br />
Rußland." („Retsch" Nr. 117 [2071] von 1912.)<br />
Herr Gredeskul hat vollauf bewiesen, daß sich der Herr Libauer Polizeichef<br />
geirrt hatte. Außerdem aber hat Herr Gredeskul zwei weitere wichtige<br />
Dinge bewiesen: 1. daß die Polemik von Herrn Gredeskul und Co. gegen<br />
die „Wechi" geheuchelt, gegenstandslos ist; in Wirklichkeit ist die ganze<br />
Kadettenpartei in allem Wesentlichen „•wechistisch", and 2. daß die marxistische<br />
Charakterisierung der Kadettenpartei wissenschaftlich, ökonomisch<br />
und politisch unbedingt richtig ist<br />
.Vrawäa" Wr. 85, TJflcfc dem Jext der ,?rawda".<br />
8. August 1912.<br />
Unterschrift: 3V. B.
DIE LÖHNE DER ARBEITER UND<br />
DIE PROFITE DER KAPITALISTEN<br />
IN RUSSLAND<br />
245<br />
Im Jahre 1908 wurde eine Erhebung über die Fabriken und <strong>Werke</strong><br />
Rußlands angestellt. 70 Diese Erhebung ergab zweifellos zu hohe Zahlen<br />
über die Höhe der Löhne der Arbeiter und zu niedrige Zahlen über den<br />
Umfang der Produktion und die Höhe der Profite der Kapitalisten, denn<br />
bei uns werden alle derartigen Erhebungen auf rein bürokratischem Wege<br />
durdigeführt, wobei man lediglich die Kapitalisten befragt, die Arbeiter<br />
zu fragen aber nicht für notwendig erachtet.<br />
Sehen wir uns an, was diese für die Kapitalisten so günstige Statistik<br />
gezeigt hat.<br />
Nach vorläufigen Angaben, die bisher allein veröffentlicht sind, gab<br />
es in Rußland insgesamt fast 20 000 Fabriken und <strong>Werke</strong> (die genaue<br />
Zahl: 19 983; wir bringen in Klammem die genauen Zahlen, runden<br />
sie aber im Text etwas ab, damit sich der Leser die Hauptdaten leichter<br />
vorstellen und merken kann).<br />
Die Gesamtzahl der Arbeiter beiderlei Geschlechts betrug 2*/4 Millionen<br />
(2 253 787). Darin einbegriffen sind auch die Bergarbeiter und die<br />
Arbeiter in den mit einer Akzise belegten Produktionszweigen.<br />
Der Arbeitslohn all dieser Arbeiter betrug zusammen über eine halbe<br />
Milliarde Rubel (555,7 MiU.).<br />
Um den Durchschnittslohn eines Arbeiters zn ermitteln, muß man die<br />
Gesamtsumme des Arbeitslohnes durch die Zahl der Arbeiter dividieren.<br />
Nach dieser Division erhalten wir die Zahl von 246 Rubel.<br />
Somit verdienten 1908 in Rußland zweieinviertel ^Millionen Fabrikarbeiter<br />
im allgemeinen Durchschnitt, d. h. rund gerechnet, insgesamt je<br />
zwanzig Rubel 50 Kopeken im Monat!
246 IV. 7. £enin<br />
Zieht man in Betracht, daß mit dieser Summe eine Familie unterhalten<br />
werden muß — und das bei den jetzigen hohen Mieten und Lebensmittelpreisen<br />
-, so kann man nidit umhin, einen solchen Lohn als armselig zu<br />
bezeichnen.<br />
Sehen wir uns mm an, wie hoch die Profite der Kapitalisten waren. Zur<br />
Bestimmung der Profite muß man von der Gesamtsumme der Produktion,<br />
d. h. dem Bruttogewinn aller Fabriken und <strong>Werke</strong>, alle Ausgaben der<br />
Kapitalisten abziehen.<br />
Die Gesamtsumme der Produktion beträgt über 4V2 Milliarden Rubel<br />
(4651 Mill. Rbl.). Sämtliche Ausgaben der Kapitalisten betragen 4 Milliarden<br />
(4082 Mill. Rbl.).<br />
Die Profite der Kapitalisten machen also über eine halbe Milliarde<br />
XwfceJ aus (568,7 Mill. Rbl.).<br />
Der durchschnittliche Profit eines Unternehmens beträgt 28 500 Rubel.<br />
Jeder Arbeiter bringt dem Kapitalisten einen Profit von 252 Rubel<br />
jäbrlidh.<br />
Vergleichen wir jetzt den .Lohn der Arbeiter mit dem Profit der Kapitalisten.<br />
Jeder Arbeiter erhält im Jahr durchschnittlich (d. h. ungefähr<br />
gerechnet) einen Arbeitslohn von 246 Rubel und bringt dem Kapitalisten<br />
einen Profit von 252 Rubel.*<br />
Hieraus folgt, daß der Arbeiter die kleinere Hälfte des Tages für sich<br />
arbeitet, die größere "Hälfte des Jages aber für den Kapitalisten. Nehmen<br />
wir zum Beispiel einen durchschnittlichen Arbeitstag von 11 Stunden an,<br />
so erhält der Arbeiter einen Lohn für insgesamt nur 5V2 Stunden, ja sogar<br />
etwas weniger als für 572 Stunden. Die übrigen 572 Stunden hingegen<br />
arbeitet er umsonst, ohne dafür irgendwie entlohnt zu werden, und der<br />
gesamte vom Arbeiter an diesem halben Tag geschaffene Wert macht den<br />
Profit der Kapitalisten aus.<br />
„Vrawda" SVr. 85, Tiadb dem 7ext der „"Praioda".<br />
S. August i9i2.<br />
Untersdhrift-. 7.<br />
Insgesamt schafft der Arbeiter für 498 Rubel Neuwerte im Jahr.
STREIKKAMPF UND ARBEITSLOHN<br />
247<br />
Wie allgemein bekannt, zeitigte der berühmte Streikkampf der russischen<br />
Arbeiter im Jahre 1905 nicht nur auf politischem, sondern auch auf<br />
wirtschaftlichem Gebiet außerordentlich große Erfolge. Die Angaben aus<br />
den Berichten der Fabrikinspektoren 71 gestatten es heute, sich von der<br />
Größe dieser Erfolge eine ziemlich genaue Vorstellung zu machen.<br />
Der durchschnittliche Arbeitslohn eines russischen Fabrikarbeiters betrug<br />
nach diesen Angaben:<br />
1901<br />
1902<br />
1903<br />
1904<br />
1905<br />
im Durchschnitt<br />
von 5 Jahren<br />
201<br />
202<br />
208<br />
213<br />
205<br />
206<br />
Rubel<br />
II<br />
II<br />
n<br />
n<br />
Rubel<br />
1906<br />
1907<br />
1908<br />
1909<br />
1910<br />
im Durchschnitt<br />
von 5 Jahren<br />
231<br />
241<br />
242<br />
236<br />
242<br />
238<br />
Rubel<br />
n<br />
II<br />
n<br />
n<br />
Rubel<br />
Wir sehen hieraus, daß das Jahr 1905 eine Wendung brachte. Eben<br />
nach 1905 steigt der Lohn mit einem Schlage von 205 auf 231 Rubel im<br />
Jahr, d. h. um 26 Rubel, um mehr als 10%.<br />
Was das Jahr 1905 anbelangt, das im Vergleich zu 1904 ein Sinken<br />
des Arbeitslohnes um 8 Rubel zeigt, muß man folgendes beachten: Erstens<br />
war das Jahr 1905 ein Jahr der wirtschaftlichen Depression, d.h. des<br />
Niedergangs der Industrie; zweitens verloren die Arbeiter nach den<br />
Angaben des Handelsministeriums in diesem Jahr durch Lohnausfall<br />
während der Streiktage 17,5 Millionen Rubel, d. h. durchschnittlich pro<br />
Arbeiter über 10 Rubel im Jahr.
248 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />
Folglich kann man rechnen, daß der tatsächliche Lohn im Jahre 1905<br />
215 Rbl. betrag, wobei jedoch die Arbeiter von diesen 215 Rbl. je 10 Rbl.<br />
für den Streikkampf opferten, der sich 1905 durch eine außerordentliche,<br />
bislang in der Welt unbekannte Beharrlichkeit und Breite auszeichnete.<br />
Aus alldem ergibt sich, daß wir jetzt, wenn wir die Angaben für das<br />
ganze Jahrzehnt von 1901 bis 1910 betrachten, deutlich einen erstaunlidben<br />
Unterschied zwischen der vorrevolutionären und der nadirevolutionären<br />
Epoche feststellen können.<br />
Bis zum Jahre 1905 betrug der Durchschnittslohn eines russischen<br />
Fabrikarbeiters 206 Rbl., nach 1905 238 Rbl., d. h. jährlich 32 Rbl. mehr.<br />
Das ist eine Erhöhung um 15,5%.<br />
Innerhalb eines Jahres stieg der Lohn so ruckartig an, daß in der<br />
Folge keinerlei Bemühungen der Kapitalisten (die bekanntlich alle Errungenschaften<br />
des Jahres 1905, eine nach der anderen, zunichte machten)<br />
den Arbeiter auf das frühere niedrige Lebensniveau zurückführen konnten.<br />
Das Jahr 1905 hat das Lebensniveau des russischen Arbeiters so gehoben,<br />
wie es in normalen Zeiten nicht in einigen Jahrzehnten geschieht.<br />
Die Arbeiter verloren bei den Streiks von 1905 nach der offiziellen<br />
Statistik 17,5 Mill. Rbl. durch Lohnausfall während der Streiktage. Nach<br />
der gleichen Statistik betrug der Produktionsausfall der Kapitalisten 1905<br />
127,3 Mill. Rbl.<br />
Durch die Lohnerhöhung nach 1905 aber gewannen die Arbeiter in<br />
fünf Jahren (1906-1910) durchschnittlich 32 Rubel je Arbeiter, d. h. insgesamt,<br />
bei 1,8 Millionen Arbeitern, 57,6 Millionen Rubel im Jahr oder<br />
286 Millionen Kübel im ganzen "Jahrfünft.<br />
.Vrawda" "Mr. 86, TJadi dem 7ext der .Vrawda".<br />
9. August 1912.
DER ARBEITSTAG<br />
IN DEN FABRIKEN DES GOUVERNEMENTS<br />
MOSKAU<br />
249<br />
Der Ingenieur I. M. Kosminydi-Lanin hat ein Buch über die Länge des<br />
Arbeitstages und des Arbeitsjahres in den Fabriken und <strong>Werke</strong>n des<br />
Gouvernements Moskau herausgegeben.<br />
Das vom Verfasser gesammelte Material bezieht sich auf das Ende des<br />
Jahres 1908 und erfaßt 219 669 Arbeiter, d. h. etwas mehr als 7 /io aller<br />
Fabrikarbeiter des Gouvernements Moskau (307 773).<br />
Der Verfasser errechnet auf Grund dieser Unterlagen einen durchschnittlichen<br />
Arbeitstag von 9 l k Stunden für Erwachsene und Jugendliche<br />
und von 7Va Stunden für Minderjährige.<br />
Es muß bemerkt werden, daß diese Angaben die Überstundenarbeit<br />
völlig unberücksichtigt lassen (über diese hat der Verfasser eine besondere<br />
Schrift zum Druck vorbereitet), und zweitens, daß die Angaben des Verfassers<br />
ausschließlich auf den „für Unternehmer und Arbeiter verbindlichen<br />
Bestimmungen der Betriebsordnung" beruhen.<br />
Ob diese Bestimmungen in der Praxis eingehalten werden, ist eine<br />
Frage, die unser Ingenieur nicht einmal stellt. Nur die Arbeiterverbände<br />
könnten, wenn sie eine eigene Statistik führten, Unterlagen auch zu dieser<br />
Frage zusammentragen.<br />
In den einzelnen Unternehmen unterliegt dieser Arbeitstag von 972<br />
Stunden großen Schwankungen.<br />
Aus den Tabellen des Verfassers geht hervor, daß 33 466 Arbeiter mehr<br />
als iO Stunden täglidh arbeiten! Das sind über 15% aller hier erfaßten<br />
Arbeiter.<br />
13 <strong>18</strong>9 Arbeiter arbeiten mehr als 11 Stunden täglidh und 75 Arbeiter<br />
mehr als 12 Stunden täglich. Die Hauptmasse der Arbeiter, die die Last<br />
17 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>
250 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />
eines so unmäßig langen Arbeitstages zu tragen haben, entfällt auf die<br />
Textilindustrie.<br />
Zieht man in Betracht, daß etwa ein Drittel der Arbeiter nicht in die<br />
Untersuchungen des Verfassers einbezogen wurde, so ergibt sich die<br />
Schlußfolgerung, daß über zwanzigtausend Fabrikarbeiter des Gouvernements<br />
Moskau einen unerhört langen Arbeitstag haben.<br />
Schließlich zeigen die Angaben des Ingenieurs Kosminydi-Lanin, daß<br />
selbst das gänzlich veraltete russische Gesetz von <strong>18</strong>97, das einen Arbeitstag<br />
von 1IV2 Stunden (!!!) zuläßt, von den "Fabrikanten nidht eingehalten<br />
wird. Nach diesem Gesetz darf bei Arbeit in zwei Schichten die Arbeitszeit<br />
eines Arbeiters, berechnet für einen Zeitraum von 2 Wochen, nicht<br />
9 Stunden täglich überschreiten.<br />
In Wirklichkeit aber haben von den vom Verfasser erfaßten 83 990 in<br />
zwei Schichten tätigen Arbeitern 14376 mehr als 9 Stunden gearbeitet.<br />
Das sind 17% aller zweischichtig tätigen Arbeiter. Und von den 3733 mit<br />
Reparatur- und Hilfsarbeiten beschäftigten zweischichtig tätigen Arbeitern<br />
haben 2173, d. h. fast %, mehr als 9 Stunden täglich gearbeitet! Insgesamt<br />
also sind es 16 500 Arbeiter, die - sogar nach offiziellen Angaben - gezwungen<br />
werden, länger zu arbeiten, als gesetzlich zulässig ist!<br />
Der Achtstundentag existierte 1908 im Gouvernement Moskau nur für<br />
4398 Arbeiter - von insgesamt 219 669 erfaßten Arbeitern. Der Achtstundentag<br />
ist also auch jetzt durchaus möglich, die 215 000 Arbeiter<br />
brauchen nur diese viertausend einzuholen.<br />
„Vrawda" 5Vr. 88, TJadi dem 7ext der „Trawda".<br />
H. August \912.<br />
Unterschrift: W.
ARBEITSTAG UND ARBEITSJAHR<br />
IM GOUVERNEMENT MOSKAU<br />
25 t<br />
Die unter diesem Titel erschienene Arbeit des Ingenieurs Kosminych-<br />
Lanin (Moskau 1912, Verlag der Ständigen Kommission des Museums<br />
zur Förderung der Arbeit bei der Mosk. Abt. der Kaiserl. Russ. Techn.<br />
Ges., Preis 1 Rubel 75 Kop.) stellt eine Sammlung von Materialien dar,<br />
die sich auf das Ende des Jahres 1908 beziehen.<br />
Die Angaben erfassen 219669 Arbeiter, d.h. 71,37% aller Fabrikarbeiter<br />
des Gouvernements (307 773). Der Verfasser sagt, daß er das<br />
Material „sorgfältig, gesondert für jedes Industrieunternehmen" untersucht<br />
hat und daß „in die Zusammenfassung nur der Teil des Materials<br />
aufgenommen wurde, der keinerlei Zweifel erweckte".<br />
Eine derartige Statistik könnte — trotz der großen Verspätung - von<br />
außerordentlichem Interesse sein, wenn nur die Zusammenstellung der<br />
Unterlagen sinnvoller vorgenommen worden wäre. Leider muß man gerade<br />
dieses Wort gebraudien, denn die Tabellen des Herrn Kosminydi-<br />
Lanin sind zwar äußerst sorgfältig zusammengestellt, und er hat sehr viel<br />
Mühe auf die Errechnung aller möglichen Summen und Prozentverhältnisse<br />
verwandt, ist aber dabei sehr unrationell verfahren.<br />
Das reichhaltige Material hat den Verfasser gleichsam erdrückt. Er hat<br />
Hunderte und Tausende Rechenoperationen durchgeführt, die völlig<br />
überflüssig sind und die Arbeit nur überladen, und gleichzeitig einige<br />
Dutzend Berechnungen unterlassen, die ganz unerläßlich sind, da man<br />
ohne sie kein Gesamtbild der Erscheinungen erhält.<br />
In der Tat bringen die Haupttabellen des Verfassers, die fast das ganze<br />
Buch ausmachen, derartig detaillierte Angaben, daß zum Beispiel die Arbeiter,<br />
die 9 bis 10 Stunden täglich arbeiten, in 16 Vntergruppen unterteilt
252 TV. 1. <strong>Lenin</strong><br />
sind - je nach der Zahl der Arbeitsstunden in zwei aufeinanderfolgenden<br />
Wochen (109 bis 120 Stunden) -und für jede Untergruppe ist der Durchschnitt<br />
der täglichen Arbeitsstunden errechnet! Und das alles ist zweimal<br />
gemacht: einmal für die Produktionsarbeiter und einmal für die Hilfsarbeiter.<br />
Man wird zugeben müssen, daß eine solche Detaillisierung erstens völlig<br />
überflüssig ist, daß hier mit Begeisterung Statistik um der Statistik willen,<br />
eine Art Zahlenspielerei getrieben wird, und das auf Kosten der Klarheit<br />
des Bildes und der Brauchbarkeit des Materials für Studienzwecke. Und<br />
zweitens sind neun Zehntel dieser vom Verfasser mit einer Genauigkeit<br />
von einem Hundertstel errechneten „Durchschnittswerte'" geradezu vergeudete<br />
Arbeit, denn man kann wetten, daß von tausend Lesern des<br />
Buches (das wohl kaum tausend Leser finden wird) höchstens einer einen<br />
solchen „Durchschnittswert" benötigen wird (zudem könnte dieser eine<br />
ihn selbst ausrechnen, wenn schon ein solch außerordentliches Unglück<br />
über ihn hereinbrechen sollte!).<br />
Indessen fehlen in dem Buch völlig absolut notwendige Zusammenstellungen,<br />
die der Verfasser mit weit geringerem Arbeitsaufwand hätte'<br />
vornehmen können und ohne die nicht auszukommen ist, wenn man in<br />
den Zahlen der Untersuchung den Sinn erkennen will. Es fehlen Aufstellungen,<br />
die 1. die einschichtig, zweischichtig und dreischichtig tätigen<br />
Arbeiter nach Produktionsgruppen zusammenfassen; 2. dabei die Produktionsarbeiter<br />
und die Hilfsarbeiter voneinander abheben; 3. die durchschnittlichen<br />
Arbeitsstunden unterteilt nach Produktionsgruppen angeben;<br />
4. eine Gesamtbilanz der Arbeitszeit der Erwachsenen und der Minderjährigen<br />
vermitteln; 5. die Fabriken nach der unterschiedlichen Beschäftigtenzahl<br />
unterteilen.<br />
Verweilen wir bei diesem letzten Punkt. Der Verfasser der Arbeit ist<br />
offensichtlich so arbeitsam - nach der Liste der Arbeiten zu urteilen, die<br />
er veröffentlicht und zum Druck vorbereitet hat —, er verfügt über so reichhaltiges<br />
und interessantes Material, daß eine kritische Analyse seiner<br />
Methoden vielleicht nicht nur theoretischen, sondern auch unmittelbar<br />
praktischen Nutzen bringen kann. Wir haben bereits die Worte des Verfassers<br />
zitiert, wonach er das zusammengetragene Material „sorgfältig,<br />
gesondert für jedes Industrieunternehmen" untersucht hat.<br />
Die Zusammenfassung dieses Materials wenigstens nach denjenigen
Arbeitstag und Arbeitsjahr im Qouvernement Moskau 253<br />
Fabrikgruppen, die sogar unsere offizielle Statistik eingeführt hat (bis zu<br />
20 Arbeitern, 21-50, 51-100, 101-500, 501-1000 und über 1000),<br />
war also durchaus möglich. War sie notwendig?<br />
Unbedingt. Eine Statistik soll nicht willkürlich zusammengestellte Zahlenkolonnen<br />
liefern, sondern mit Hilfe von Zahlen die verschiedenen sozialen<br />
Typen der zu untersuchenden Erscheinung beleuchten, die das<br />
Leben hervorgebracht hat oder hervorbringt. Kann man daran zweifein,<br />
daß Betriebe mit 50 Arbeitern und Betriebe mit 500 Arbeitern zu wesentlich<br />
anderen sozialen Üypen der uns interessierenden Erscheinung ge j<br />
hören? daß die gesamte gesellschaftliche Entwickkmg aller zivilisierten<br />
Länder den "Unterschied zwischen diesen Typen verstärkt und zur Verdrängung<br />
des einen durch den anderen führt?<br />
Nehmen wir eben die Angaben über den Arbeitstag. Aus der zusammenfassenden<br />
Ergebnistabelle des Verfassers können wir - wenn wir<br />
selber eine gewisse notwendige statistische Arbeit durchführen, die wir in<br />
dem Buch nicht finden - die Schlußfolgerung ziehen, daß 33 000 Arbeiter<br />
(von 220 000 erfaßten) länger als iO Stunden täglich arbeiten. Die<br />
durchschnittliche Länge des Arbeitstages für alle 220 000 Arbeiter aber<br />
beträgt 972 Stunden. Es fragt sich nun: Sind diese Arbeiter, die die Last<br />
des übermäßig langen Arbeitstages zu tragen haben, nicht in Kleinbetrieben<br />
beschäftigt?<br />
Diese Frage ergibt sich ganz natürlich und unausbleiblich. Sie ist keineswegs<br />
willkürlich herausgegriffen. Die politische Ökonomie und die Statistik<br />
aller Länder der Welt verpflichten uns, eben diese Frage zu stellen,<br />
denn die Verlängerung des Arbeitstages durch die Kleinbetriebe ist nur<br />
allzuoft zu beobachten gewesen. Die Bedingungen der kapitalistischen<br />
Wirtschaft bringen notwendigerweise eine solche Verlängerung bei den<br />
kleinen Unternehmern mit sich.<br />
Und da stellt sich heraus, daß der Verfasser die Unterlagen für die<br />
Beantwortung dieser überaus wichtigen Frage in seinen Materialien gehabt<br />
hat, daß sie aber in seiner Zusammenstellung verlorengegangen sind! In<br />
der Zusammenstellung gibt uns der Verfasser unnütze überaus lange Kolonnen<br />
detaillierter „Durchschnittswerte", aber er gibt nicht die notwendige<br />
Unterteilung der Fabriken nach der Anzahl der beschäftigten<br />
Arbeiter.<br />
Im Gouvernement Moskau ist eine solche Unterteilung noch notwen-
254 IV. 1. <strong>Lenin</strong><br />
diger (wenn es erlaubt ist, hier den Komparativ zu gebrauchen) als sonst,<br />
denn im Gouvernement Moskau finden wir neben einer riesigen Konzentration<br />
der Produktion eine verhältnismäßig sehr große Zahl von Kleinbetrieben.<br />
Nach der Statistik von 1910 gab es hier insgesamt 1440 Betriebe<br />
mit 335 190 Arbeitern. Die Hälfte dieser Arbeiter (167199) ist in<br />
66 Fabriken konzentriert - und auf der anderen Seite haben wir 669 Betriebe<br />
mit insgesamt <strong>18</strong> 277 Arbeitern. Es ist klar, daß wir es mit völlig<br />
verschiedenen sozialen Typen zn tun haben und daß eine Statistik, die<br />
zwischen ihnen keinen Unterschied macht, rein gar nichts taugt.<br />
Der Verfasser hat sich so sehr in seine Zahlenreihen über die Zahl der<br />
Arbeiter verrannt, die 94,95 usw. bis zu 144 Stunden in zwei aufeinanderfolgenden<br />
Wochen beschäftigt sind, daß er die Angaben über die Zahl der<br />
Betriebe völlig weggelassen hat. Diese Zahl wird für den zweiten Teil seiner<br />
Arbeit angekündigt, in dem es um die Länge des Arbeitsjahres geht,<br />
aber im ersten Teil, der den Arbeitstag behandelt, werden keinerlei Angaben<br />
über die Zahl der Betriebe gemacht - obwohl dem Verfasser diese<br />
Angaben zweifellos zur Verfügung standen.<br />
Die größten Fabriken des Gouvernements Moskau sind nicht nur eigenartige<br />
Typen von Industriebetrieben, sondern auch eigenartige Typen von<br />
Menschenzusammenballungen mit besonderen Lebensverhältnissen und<br />
besonderen kulturellen (oder richtiger nnkulturellen) Bedingungen. Die<br />
Heraushebung dieser Fabriken, die eingehende Bearbeitung der Angaben,<br />
getrennt für jede Kategorie von Betrieben je nach der Anzahl der Arbeiter,<br />
ist eine notwendige Voraussetzung für eine rationelle Wirtschaftsstatistik.<br />
Führen wir die Hauptergebnisse aus der Arbeit des Herrn Kosminyrih-<br />
Lanin auf.<br />
Seine Untersuchung über die Länge des Arbeitstages umfaßt, wie wir<br />
bereits sagten, 219669 Moskauer Fabrikarbeiter, d. h. 71,37% der Gesamtzahl,<br />
wobei seine Statistik die Textilarbeiter zu einem etwas höheren<br />
Prozentsatz erfaßt als die Arbeiter der anderen Produktionszweige. Statistisch<br />
erfaßt wurden 74,6% aller Textilarbeiter und nur 49-71% der<br />
Arbeiter der übrigen Produktionszweige. Oftensidhtlidh in geringerem<br />
Maße erstreckt sich die Untersuchung auf die Kleinbetriebe: zumindest<br />
erfaßt die Statistik über die Zahl der jährlichen Arbeitstage 58% der<br />
Betriebe (811 von den 1394 im Jahre 1908 vorhandenen) und 75% der
Arbeitstag und Arbeitsjabr im Qouvernement Moskau 255<br />
Arbeiter (231130 von 307773). Es ist klar, daß hier gerade die kleineren<br />
Betriebe ausgelassen worden sind.<br />
Zusammenfassende Zahlen über die Länge des Arbeitstages gibt der<br />
Verfasser nur für alle Arbeiter insgesamt. Es ergibt sich ein Durchschnitt<br />
von 9V2 Stunden täglich für Erwachsene und von 7 l A Stunden für Minderjährige.<br />
Die Anzahl der Minderjährigen, das muß bemerkt werden, ist<br />
niedrig: 1363 gegenüber 2<strong>18</strong>306 Erwachsenen. Das legt den Gedanken<br />
nahe, ob nicht insbesondere minderjährige Arbeiter den Augen der Inspektoren<br />
„entzogen" wurden.<br />
Von den insgesamt 219669 Arbeitern arbeiteten 128628 (58,56%) in<br />
einer Schicht, 88552 (40,31%) in zwei Schichten und 2489 (1,13%) in<br />
drei Schichten. In der Textilindustrie überwiegt die zweischichtige Arbeit<br />
gegenüber der einschichtigen: 75391 Zweischichtarbeiter („Produktionsarbeiter",<br />
d. h. ohne Hilfsarbeiter) und 68 604 Einschichtarbeiter. Zählt<br />
man die Reparatur- und Hilfsarbeiter hinzu, so erhält man die Summe<br />
von 78 107 Zweischicht- und 78 321 Einschichtarbeitern. Bei den Metallarbeitern<br />
dagegen überwiegt die einschichtige Arbeit (17 821 erwachsene<br />
Arbeiter) bedeutend gegenüber der zweischichtigen (7673).<br />
Fassen wir die Gesamtzahl der Arbeiter nach der verschiedenen Länge<br />
ihrer täglichen Arbeitszeit zusammen, so erhalten wir die folgende Aufstellung:<br />
Anzahl der täglichen<br />
Arbeitsstunden Anzahl der Arbeiter<br />
Bis zu 8 Stunden<br />
8 bis 9 „<br />
9 „ 10 „<br />
10 „ 11 „<br />
11 „ 12 „<br />
12 und mehr „<br />
4 398<br />
87 402<br />
94403<br />
20 202<br />
13<strong>18</strong>9<br />
75<br />
Insgesamt 219 669<br />
33 466<br />
Hieraus ist ersichtlich, wie niedrig in Rußland noch die Anzahl der Arbeiter<br />
ist, die nicht mehr als 8 Stunden täglich arbeiten: insgesamt 4398<br />
von 219669. Demgegenüber ist die Anzahl der Arbeiter mit einem übermäßig,<br />
unerhört langen Arbeitstag sehr hoch: 33 466 von 220 000, d. h.<br />
über 15% der Arbeiter arbeiten mehr als iO Stunden täglidil Und dabei<br />
sind noch nicht die Überstunden berücksichtigt.
256 TV. 3. <strong>Lenin</strong><br />
Weiter. Die unterschiedliche Länge des Arbeitstages der Einscfaichtund<br />
der Zweischicfatarbeiter geht aus den folgenden Angaben hervor, die<br />
nur die erwachsenen „Produktionsarbeiter" umfassen, d. h. die Reparaturund<br />
Hilfsarbeiter, die 8% aller Arbeiter ausmachen, unberücksichtigt<br />
lassen.<br />
Länge des Arbeitstages<br />
Bis zu 8 Stunden<br />
8 bis 9 „<br />
9 „ 10 „<br />
10 „ 11 „<br />
11 „ 12 „<br />
12 und mehr „<br />
Insgesamt<br />
Stundenzahl beschäftigten)<br />
Einschichtarbeiter<br />
1,3<br />
13,3<br />
60,7<br />
15,2<br />
9,5<br />
—<br />
100,0<br />
Zweischiditarbeiter<br />
1,0<br />
81,9<br />
14,7<br />
1,4<br />
1,0<br />
—<br />
100,0<br />
Hieraus ist unter anderem ersichtlich, daß 17% der zweischichtig tätigen<br />
Arbeiter mehr als 9 Stunden täglich arbeiten, d. h. mehr als selbst unser<br />
Gesetz von <strong>18</strong>97 erlaubt, das Herr Lanin mit Recht als längst überholt<br />
bezeichnet. Nach diesem Gesetz darf bei zweischichtiger Arbeit die Anzahl<br />
der täglichen Arbeitsstunden, berechnet für einen Zeitraum von zwei<br />
Wochen, neun Stunden nicht überschreiten. Und Herr Lanin legt allen<br />
seinen Berechnungen und Tabellen gerade den Zeitabschnitt von „2 aufeinanderfolgenden<br />
Wochen'' zugrunde.<br />
Wenn ein so bestimmtes und exaktes Gesetz so offensichtlich übertreten<br />
wird, dann kann man sich vorstellen, was mit den meisten übrigen Bestimmungen<br />
unserer Fabrikgesetzgebung geschieht.<br />
Der Durchschnitt der täglichen Arbeitsstunden für einen einschichtig<br />
tätigen Arbeiter (nur für Erwachsene und nur für „Produktionsarbeiter")<br />
beträgt 9,89 Stunden. Es herrscht also ein Zebnstundentag ohne irgendwelche<br />
Einschränkung, sogar an Sonnabenden und ungerechnet der Oberstunden.<br />
Es erübrigt sich zu sagen, daß eine solche Arbeitszeit unbedingt<br />
zu lang ist und daß man sich damit nicht abfinden kann.<br />
Der Durchschnitt der täglichen Arbeitsstonden für einen zweischichtig<br />
tätigen Arbeiter beträgt 8,97 Stunden, d. h. in der Praxis überwiegt der<br />
vom Gesetz in diesen Fällen geforderte Neunstundentag. Ihn auf acht
Arbeitstag und Arbeitsjahr im Qouvernement Moskau 257<br />
Standen zu senken ist besonders dringend erforderlich, da bei zwei Schichten<br />
als „Nacht" die Zeit von 10 Uhr abends bis 4 (!!) Uhr morgens gilt,<br />
d. h. in Wirklichkeit ein sehr, sehr großer Teil der Nadot für den Arbeiter<br />
als „ lag" gelten soll. Ein neunstündiger Arbeitstag, wobei die Nacht zum<br />
Tag gemacht, wobei ständig Nachtarbeit geleistet wird — so sieht es im<br />
Gouvernement Moskau aus!<br />
Zum Abschluß unseres Überblicks über die Angaben des Herrn Kosminych-Lanin<br />
verweisen wir darauf, daß er die durchschnittliche Länge<br />
des Arbeitsjahres mit 270 Tagen angibt. Bei den Textilarbeitern liegt die<br />
Zahl etwas niedriger - 268,8 Tage — und bei den Metallarbeitern etwas<br />
höher - 272,3 Tage.<br />
Wie Kosminych-Lanin die Angaben über'die Länge des Arbeitsjahres<br />
verarbeitet, ist ebenfalls ganz unbefriedigend. Auf der einen Seite eine<br />
übermäßige, ganz widersinnige Detaillisierung: in der zusammenfassenden<br />
Tabelle über die Länge des Arbeitsjahres zählen wir volle 130 horizontale<br />
Spalten! Die Angaben über die Anzahl der Betriebe, der Arbeiter usw.<br />
werden hier getrennt für jede vorkommende Zahl von Arbeitstagen (im<br />
Jahr), von 22 bis 366, gegeben. Eine solche „Detaillisierung" macht eher<br />
den Eindruck, daß der Verfasser das Rohmaterial überhaupt „nicht verdaut"<br />
hat.<br />
Auf der anderen Seite fehlen auch hier die unbedingt notwendigen Zusammenstellungen<br />
sowohl über die Anzahl der Arbeiter in den Fabriken<br />
als auch über die verschiedenen Antriebssysteme (Handbetrieb und mechanische<br />
Fabriken). Ein Bild, das einem gestatten würde, die Abhängigkeit<br />
der Länge des Arbeitsjahres von den verschiedenen Bedingungen zu begreifen,<br />
kann man sich daher nicht machen. Das vom Verfasser zusammengetragene<br />
überaus reichhaltige Material geht wegen der ganz miserabel<br />
angelegten Gruppierung verloren.<br />
Die Bedeutung des Unterschieds zwischen dem Großbetrieb und dem<br />
Kleinbetrieb können wir - annähernd und bei weitem nicht exakt! - sogar<br />
an Hand der Angaben des Verfassers verfolgen, wenn wir sie etwas überarbeiten.<br />
Nehmen wir die vier Hauptgruppen der Betriebe nach der Länge<br />
des Arbeitsjahres: 1. Betriebe, die bis zu 200 Tagen im Jahr arbeiten,<br />
2. - von 200 bis 250, 3. - von 250 bis 270 und 4. - 270 Tage und<br />
länger.<br />
Stellen wir für jede dieser Kategorien die Anzahl der Fabriken und die
258 TV.1.£enm<br />
Anzahl der Arbeiter -beiderlei Geschlechts zusammen, so<br />
folgende Bild:<br />
Länge des Dmdisdinittlidie<br />
Arbeitsjahres Zahl der Arbeitstage<br />
im Jahr<br />
Bis zu 200 Tagen 96<br />
200-250 Tage 236<br />
250-270 Tage 262<br />
270 und mehr Tage 282<br />
Anzahl der<br />
Fabriken<br />
74<br />
91<br />
196<br />
450<br />
erhalten wir das<br />
Arbeiter<br />
Dunisdinittliche<br />
Anzahl der Arbeiter<br />
pro Fabrik<br />
5 676 76<br />
14400 158<br />
58 313 297<br />
152 741 339<br />
Insgesamt 270 811 231 130 285<br />
Hieraus ist klar ersichtlich: je größer die Fabriken, desto länger (im allgemeinen)<br />
das Arbeitsjahr. Folglich ist die sozialökonomische Bedeutung<br />
der kleinen Unternehmen in Wirklichkeit noch weitaus geringer, als man<br />
nach dem Anteil dieser Unternehmen zum Beispiel an der Gesamtzahl der<br />
Arbeiter schließen könnte. Das Arbeitsjahr in diesen Unternehmen ist<br />
gegenüber den großen ran so viel kürzer, daß der auf sie entfallende Produktionsanteil<br />
ganz gering sein muß. Und außerdem können diese (kleinen)<br />
Fabriken bei dem kurzen Arbeitsjahr nicht beständige Kader des<br />
Proletariats schaff en, d. h., die Arbeiter sind hier mehr „bodenverbundeh",<br />
wahrscheinlich schlechter bezahlt, weniger kultiviert usw.<br />
Die große Fabrik verstärkt die Ausbeutung, indem sie das Arbeitsjahr<br />
bis zum äußersten verlängert und so ein Proletariat erzeugt, das völlig mit<br />
dem Dorfe bricht.<br />
Ginge man den Unterschieden in der Länge des Arbeitsjahres in Abhängigkeit<br />
von der technischen Ausrüstung der Fabriken (Handbetrieb,<br />
mechanische Antriebe usw.) nach, so könnte man ohne Zweifel eine ganze<br />
Anzahl sehr interessanter Hinweise auf die Lebensbedingungen der Bevölkerung,<br />
die Lage der Arbeiter, die Entwicklung unseres Kapitalismus<br />
usw. finden. Aber der Verfasser, das kann man sagen, hat alle diese Fragen<br />
nicht einmal berührt.<br />
Er brachte nur die Zahlen für die durchschnittliche Länge des Arbeitsjahres<br />
in den Fabriken der verschiedenen Produktionsgruppen. Hinsichtlich<br />
des Gesamtdurdischmtts ergaben sich nur sehr geringe Schwankungen:<br />
von 246 Arbeitstagen im Jahr in Gruppe IX (Bearbeitung von Mineralien)<br />
bis zu 291 Arbeitstagen im Jahr in Gruppe XII (chemische<br />
Produktionszweige).
Arbeitstag und Arbeitsjabr im Qouvernement Moskau 259<br />
Diese Differenzen sind, wie der Leser sieht, viel geringer als die Unterschiede,<br />
die in der Länge des Arbeitsjahres zwischen den kleinen und den<br />
großen Fabriken überhaupt bestehen, unabhängig davon, zu welchem<br />
Produktionszweig sie gehören.<br />
Die Unterschiede in der Art der Produktion sind für die sozialökonomische<br />
Statistik weniger charakteristisch und weniger wesentlich als die<br />
Unterschiede in bezug auf den Umfang der Produktion. Das bedeutet<br />
natürlich nicht, daß man die erstgenannten Unterschiede ignorieren könnte.<br />
Das bedeutet aber, daß eine sinnvolle Statistik ohne die Berücksichtigung<br />
der letztgenannten Unterschiede absolut unmöglich ist.<br />
„TJaoskaja Swesda' 7$r. 21, Nadb dem Text der<br />
i2, August 1912. „Tfewshxja Swesda".<br />
Unterschrift: W. 1.
260<br />
IN ENGLAND<br />
Der englische Liberalismus befindet sich sechseinhalb Jahre an der<br />
Macht. Die Arbeiterbewegung in England wird immer stärker. Die Streiks<br />
werden zu Massenstreiks und sind außerdem nicht mehr rein wirtschaftlicher<br />
Natur, sie verwandeln sich in politische Streiks.<br />
Robert Smillie, der Führer der schottischen Grubenarbeiter, die vor<br />
kurzem im Massenkampf eine solche Kraft bewiesen haben, erklärt, daß<br />
die Grubenarbeiter in ihrer nächsten großen Schlacht die Verstaatlichung<br />
der Kohlengruben fordern werden. Und diese nächste große Schlacht<br />
rückt unausbleiblich näher, denn alle Grubenarbeiter in England wissen<br />
sehr gut, daß das berüchtigte Gesetz über den Minimalarbeitslohn ihre<br />
Lage nicht ernstlich verbessern kann.<br />
Und nun ersinnt der englische Liberalismus, der den Boden unter den<br />
Füßen verliert, eine neue Kampfparole, um bei den Wählermassen erneut<br />
für eine gewisse Zeit Vertrauen zu den Liberalen zu erwecken. Ohne<br />
Betrug - kein Verkauf, das ist die Losung des Kapitalismus im Handel.<br />
Ohne Betrug - keine Sitze im Parlament, das ist die Losung der kapitalistischen<br />
Politik in den freien Ländern.<br />
Die von den Liberalen zu diesem Zweck ersonnene „Mode"losung ist<br />
die Forderung nach einer „Bodenreform". Was die Liberalen und ihr<br />
Spezialist für Massenverdummung, Lloyd George, eigentlich darunter verstehen,<br />
bleibt unklar. Offenbar handelt es sich um die Erhöhung der<br />
Grundsteuer, um weiter nichts. Eintreibung neuer Millionen für Kriegsabenteuer,<br />
für die Flotte - das steckt in Wirklichkeit hinter den marktschreierischen<br />
Phrasen von der „Rückgabe des Bodens an das Volk"<br />
u. dgl. m.
In England 261<br />
In England wird der Ackerbau völlig kapitalistisch betrieben: die kapitalistischen<br />
Fanner pachten das Land in mittleren Parzellen von den Landlords<br />
(den Grundeigentümern) und bestellen es mit Hilfe von Lohnarbeitern.<br />
Keinerlei „Bodenreform" kann unter diesen Umständen etwas an der<br />
Lage der Landarbeiter ändern. Ein Loskauf der gutsherrlichen Ländereien<br />
in England könnte sich sogar in eine neue Schröpfung des Proletariats<br />
verwandeln, denn die Gutsbesitzer und Kapitalisten, die die Macht im<br />
Staate behalten, würden ihre Ländereien zum dreifachen Preis verkaufen.<br />
Und zu zahlen hätte der Steuerzahler, d. h. wiederum der Arbeiter.<br />
Der Lärm, den die Liberalen um die Agrarfrage erhoben haben, war in<br />
einer Hinsicht nützlich: er weckte das Interesse für die Landarbeiterorganisation.<br />
Wenn nun die Landarbeiter in England erwachen und sich zu Verbänden<br />
zusammenschließen, dann werden die Liberalen nicht mit hochstaplerischen<br />
„Reformversprediungen 1 ' oder Versprechungen von Bodenanteilen<br />
für die Landarbeiter und Tagelöhner davonkommen.<br />
Vor kurzem besuchte ein Mitarbeiter einer englischen Arbeiterzeitung<br />
Joseph Arch, den alten Führer der Landarbeiter, der viel getan hat, um sie<br />
zu bewußtem Leben zu erwecken. Das gelang nicht sofort — und die<br />
Losung von Arch war auch naiv: jedem Landarbeiter „drei Acres (ein Acre<br />
ist etwas mehr als V3 Desjatine) Land und eine Kuh" -, der von ihm<br />
gegründete Verband ist eingegangen, aber seine Sache ist nicht verloren,<br />
und die Organisierung der englischen Landarbeiter rückt wieder auf die<br />
Tagesordnung.<br />
Arch ist jetzt 83 Jahre alt Er lebt in demselben Dorf und in demselben<br />
Haus, in dem er geboren wurde. In der Unterredung mit seinem Gesprächspartner<br />
sagte er, daß es dem Landarbeiterverband gelungen ist, den<br />
Wochenlohn bis auf 15,16 bzw. 17 Shilling zu erhöhen (ein Shilling sind<br />
etwa 48 Kop.). Jetzt ist aber der Wochenlohn der englischen Landarbeiter<br />
wiederum gesunken - in Norfolk, dort, wo Arch lebt, bis auf 12—13<br />
Shilling.<br />
.Trawda" Nr. 89, Nach dem Jext der ,?rawda".<br />
i2. August i9i2.<br />
Unterschrift: "P.
262<br />
DIE KONZENTRATION DER PRODUKTION<br />
IN RUSSLAND<br />
In Rußland vollzieht sich ebenso wie in allen anderen kapitalistischen<br />
Ländern eine Konzentration der Produktion, d. h. ihre immer stärkere<br />
Zusammenballung in einer kleinen Anzahl von großen und größten Unternehmen.<br />
Im kapitalistischen System ist jedes einzelne Unternehmen völlig vom<br />
Markt abhängig. Und bei dieser Abhängigkeit kann ein Unternehmen<br />
seine Produkte um so billiger verkaufen, je größer es ist. Der Großkapitalist<br />
kauft die Rohstoffe billiger ein, verwendet sie wirtschaftlicher, benutzt<br />
bessere Maschinen usw. Die kleinen Unternehmer werden ruiniert und<br />
gehen zugrunde. Die Produktion ballt sich immer mehr zusammen, konzentriert<br />
sich in den Händen weniger Millionäre. Die Millionäre verstärken<br />
ihre Macht gewöhnlich noch durch die Aktiengesellschaften, die ihnen die<br />
Kapitalien der mittleren Unternehmer und der „Kleinen" in die Hände<br />
spielen.<br />
Hier zum Beispiel die Angaben über die Fabrik- und Werkindustrie in<br />
Rußland für das Jahr 1910 im Vergleich zu 1901. 72<br />
Größenklassen der Betriebe Zahl der Betriebe Zahl der Arbeiter<br />
nach der Arbeiterzahl in 1000<br />
1901<br />
1910<br />
1901 1910<br />
Bis zu 50<br />
12 740 9909 244 220<br />
51- 100 2 428 2 201 171 159<br />
101- 500 2 288 2213 492 508<br />
501-1000 403 433 269 303<br />
über 1000<br />
243 324 526 713<br />
Insgesamt <strong>18</strong>102 15 080 1702 1903
Die Xonzentration der Produktion in Rußland 263<br />
Das ist das gewöhnliche Bild in allen kapitalistischen Ländern. Die Zahl<br />
der kleinen Betriebe verringert sidb: das Kleinbürgertum, die kleinen<br />
Unternehmer werden ruiniert und gehen zugrunde, werden zu Angestellten,<br />
manchmal zu Proletariern.<br />
Die Zahl der größten Betriebe nimmt rasch zu, und noch schneller<br />
wächst ihr Anteil an der gesamten Produktion.<br />
Von 1901 bis 1910 ist die Zahl der größten Fabriken mit mehr als 1000<br />
Arbeitern anf fast das Anderthalbfache angestiegen: von 243 auf 324.<br />
In ihnen waren 1901 rund eine halbe Million (526000) Arbeiter beschäftigt,<br />
d.h. weniger als ein Drittel der Gesamtzahl, 1910 aber über<br />
700 000, also mehr als ein Drittel der Gesamtzahl.<br />
Die größten Fabriken erdrücken die kleinen und konzentrieren die<br />
Produktion immer mehr. Immer größere Arbeitermassen werden in wenigen<br />
Unternehmungen zusammengeballt, während der ganze Profit aus<br />
der Arbeit der vereinigten Millionen Arbeiter einer Handyoll von Millionären<br />
zufließt.<br />
„Vrawda" Nr. 89, Tfadb dem 7ext der „Vrawda".<br />
f2. August i9i2.<br />
Unterschrift: 7.
264<br />
KARRIERE<br />
Die Lebensgeschichte A. S. Strworins, des kürzlich verstorbenen Millionärs<br />
und Herausgebers des „Nowoje Wremja", spiegelt eine sehr interessante<br />
Periode in der Geschichte der ganzen russischen bürgerlichen Gesellschaft<br />
wider und verleiht ihr beredten Ausdruck.<br />
Ein armer Schlucker, Liberaler und sogar Demokrat am Beginn seines<br />
Lebensweges - Millionär, selbstzufriedener und schamloser Apologet der<br />
Bourgeoisie, der jede Wende in der Politik der Machthabenden kriecherisch<br />
mitmacht, am Ende dieses Weges. Ist das etwa nicht typisch für die<br />
Masse der „gebildeten" und „intellektuellen" Vertreter der sogenannten<br />
Gesellschaft? Nicht jeder natürlich, der zum Renegaten wird, hat einen so<br />
tollen Erfolg, daß er es zum Millionär bringt, aber neun Zehntel, wenn<br />
nicht neunundneunzig vom Hundert, werden eben Renegaten, beginnen<br />
als radikale Studenten und enden auf „einträglichen Pöstchen" in dieser<br />
oder jener Stellung, bei diesem oder jenem dunklen Geschäft.<br />
Ein armer Student, der aus Geldmangel nicht auf die Universität kommt;<br />
Lehrer an einer Kreislehranstalt, der außerdem als Sekretär des Adelsmarschalls<br />
fungiert oder bei reichen adligen Gutsbesitzern Privatstunden<br />
gibt; angehender liberaler und sogar demokratischer Journalist mit Sympathien<br />
für Belinski und Tschernyschewski und Gegner der Reaktion - so<br />
hat Suworin in den fünfziger, sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts<br />
begonnen.<br />
Der liberale, mit der englischen Bourgeoisie und der englischen Verfassung<br />
sympathisierende Gutsbesitzer Katkow vollzog während des<br />
ersten demokratischen Aufschwungs in Rußland (zu Beginn der sechziger<br />
Jahre des 19. Jahrhunderts) eine Wendung zum Nationalismus, zum<br />
Chauvinismus und zu einem zügellosen Schwarzhundertertum.
Karriere 265<br />
Der liberale Journalist Suworin vollzog während des zweiten demokratischen<br />
Aufschwungs in Rußland (Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts)<br />
eine Wendung zum Nationalismus, zum Chauvinismus, zu einer<br />
skrupellosen Liebedienerei vor den Machthabenden. Der Russisch-Türkische<br />
Krieg half diesem Karrieristen, „sich zu finden", seinen Weg als<br />
Lakai zu finden, der mit riesigen Einkünften aus seiner Zeitung „ Wetterfahne"<br />
belohnt wurde.<br />
Suworins „Nowoje Wremja" hat viele Jahrzehnte lang diesen Spitznamen<br />
„Weiterfahne" behalten. Diese Zeitung wurde in Rußland zum<br />
Musterbeispiel für käufliche Zeitungen. „Nowowremenstwo" wurde zu<br />
einem Ausdruck, gleichbedeutend mit den Begriffen: Abtrünnigkeit, Renegatentum,<br />
Speichelleckerei. Suworins „Nowoje Wremja" wurde zum<br />
Muster flotten Handels „in und außer dem Hause". Hier wird alles gehandelt,<br />
von politischen Überzeugungen bis zu pornographischen Inseraten.<br />
Und wie viele Liberale noch haben jetzt, nach dem dritten demokratischen<br />
Aufschwung in Rußland (zu Beginn des 20. Jahrhunderts), auf den<br />
Bahnen der „Wechi" eine Wendung zum Nationalismus, zum Chauvinismus<br />
vollzogen, spucken auf die Demokratie und kriechen vor der Reaktion!<br />
Katkow — Suworin - die „Wechi"-Leute, das sind alles historische<br />
Etappen der Wendung der russischen liberalen Bourgeoisie von der "Demokratie<br />
zur Verteidigung der Reaktion, zum Chauvinismus und Antisemitismus.<br />
Die klassenbewußten Arbeiter festigen ihre Überzeugungen, denn sie<br />
begreifen die Unvermeidlichkeit einer solchen Wendung der Bourgeoisie -<br />
wie auch der Wendung der werktätigen Massen zu den Ideen der Arbeiterdemokratie.<br />
.Vrawda" 7ir. 94, TJadb dem 7ext der „Prawda".<br />
<strong>18</strong>. August 1912.<br />
lintersöirift-.J.'W,<br />
<strong>18</strong> <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>
266<br />
AN DAS SEKRETARIAT<br />
DES INTERNATIONALEN<br />
SOZIALISTISCHEN BÜROS<br />
31. August 1912<br />
Werter Genosse!<br />
Ich habe von Ihnen das Zirkular Nr. 15 (vom Juli 1912) erhalten, in<br />
dem der Hauptvorstand der SDPnL von der Spaltung in dieser Organisation<br />
Mitteilung macht.<br />
Als Vertreter der SDAPR im Internationalen Sozialistischen Büro bin<br />
ich gezwungen, gegen diese Mitteilung aus folgenden Gründen kategorisch<br />
zu protestieren. -<br />
1. Der Hauptvorstand der SDPuL erklärt, daß das Warschauer Komitee<br />
„nicht zur SDAPR gehört, deren autonomer Bestandteil die SDPuL<br />
ist".<br />
Der Hauptvorstand der SDPuL hat jedoch keinerlei Recht zu entscheiden<br />
oder zu erklären, wer zur SDAPR gehört, die ich vertrete.<br />
Der Hauptvorstand der SDPuL gehört heute selbst nicht zu unserer<br />
Partei, denn er steht weder mit dem von mir vertretenen Zentralkomitee,<br />
das auf der Januarkonferenz 1912 gewählt worden ist, noch mit dem entgegengesetzten<br />
Zentrum der Liquidatoren (dem sogenannten „Organisationskomitee'')<br />
in organisatorischer Verbindung.<br />
2. Die Behauptung des Hauptvorstands der SDPuL, die Spaltung sei<br />
„plötzlich unmittelbar vor den Wahlen zur Reichsduma" erfolgt, entspricht<br />
nicht der Wahrheit.<br />
Mir ist persönlich bekannt, daß dieser selbe Hauptvorstand der SDPuL<br />
schon vor zwei Jahren, als sein Vorgehen einen heftigen Konflikt mit seinen<br />
ehemaligen Mitgliedern Maledci und Hanecki heraufbeschwor und er<br />
Hanecki aus dem Vorstand ausschloß - daß der Hauptvorstand die Spaltung<br />
schon damals voraussehen mußte.
An das Sekretariat des Internationalen Sozialistischen Büros 167<br />
3. Heuchelei ist die Erklärung des Hauptvorstands, daß sich erstens in<br />
die Warschauer Organisation „ebenso wie in alle anderen revolutionären<br />
Organisationen im zaristischen Rußland" Spitzel eingeschlichen<br />
hätten,<br />
daß zweitens die Spaltung unter „aktiver Mitwirkung der Ochrana"<br />
erfolgt sei, obwohl der Hauptvorstand außerstande ist, einen einzigen<br />
Namen zu nennen, es nicht wagt, irgendeinen bestimmten Verdacht zu<br />
äußern! •<br />
Wieviel Heuchelei gehört dazu, um zwecks moralischer Vernichtung<br />
politischer Gegner öffentlich die gewissenlose Beschuldigung der „Mitwirkung<br />
der Ochrana" zu erheben, obwohl es an Mut gebricht, auch nur<br />
einen einzigen Namen zu nennen, irgendeinen bestimmten Verdacht zu<br />
äußern!<br />
Ich bin überzeugt, daß jedes Mitglied der Internationale diese unerhörten<br />
Kampf methoden mit Empörung zurückweisen wird.<br />
Ich kenne die beiden ehemaligen Mitglieder des Hauptvorstands der<br />
SDPuL, Maledci und Hanecki, seit einer Reihe von Jahren, und sie gehen<br />
offen mit dem Warschauer Komitee zusammen. Das Warschauer Komitee<br />
hat mir gerade eine offizielle Mitteilung geschickt, die diese Tatsache bestätigt.<br />
J<br />
Bei dieser Lage der Dinge halte ich es für meine Pflicht, dem Internationalen<br />
Sozialistischen Büro den beiliegenden Protest des Warschauer Komitees<br />
der SDPuL zur Kenntnis zu bringen.<br />
Da die Erklärung des Hauptvorstands allen Mitgliedern des Internationalen<br />
Sozialistischen Büros zugeleitet worden ist, sehe ich mich genötigt,<br />
Sie, werter Genosse, zu bitten, den Vertretern aller zur Internationale<br />
gehörenden Parteien auch diese meine Erklärung, zusammen mit dem<br />
Protest des Warschauer Komitees, zuzuleiten.<br />
Mit Parteigruß %. <strong>Lenin</strong><br />
„ Qazeta Robotnicza" Nr. 19, Nad) dem 7 ext der<br />
2i.November 1912. .Qazeta Robotnicza".<br />
Aus dem Polnisdhen.
268<br />
DIE KADETTEN<br />
UND DIE AGRARFRAGE<br />
In der Polemik gegen die „Prawda" konnten die Kadetten, wie sie sich<br />
auch bemühten, nicht um die Frage herumkommen, ob sie eine demokratische<br />
oder eine liberal-monarchistische Partei sind.<br />
Die Frage ist äußerst wichtig. Sie ist nicht nur von allgemein-prinzipieller<br />
Bedeutung, weil sie hilft, die politischen Grundbegriffe zu klären. Die<br />
Frage nach dem Wesen der Kadettenpartei, die den Anspruch erhebt,<br />
Führerin der gesamten Opposition zu sein, ist darüber hinaus auf das<br />
engste mit allen Grundfragen der russischen Befreiungsbewegung über-<br />
1 haupt verknüpft. Deshalb muß jeder, der der Wahlkampagne nicht gleichgültig<br />
gegenübersteht, der sich ihrer Bedeutung für die politische<br />
Aufklärung der Massen bewußt ist, diesen Streit über das Wesen der<br />
Kadettenpartei mit größter Aufmerksamkeit verfolgen.<br />
Die kadettische „Retsch" sucht jetzt diesen Streit zu vertuschen, die<br />
prinzipiellen Fragen durch Ausflüchte und zänkische Ausfälle („Lüge",<br />
„Entstellung" u. dgl. m.) in den Hintergrund zu drängen, diese oder jene<br />
Beschimpfungen hervorzukramen, die die Liquidatoren gegen uns in Augenblicken<br />
höchster persönlicher Erregung, bei heftigen Konflikten in Organisationsfragen,<br />
vom Stapel ließen. Alles das sind bekannte und abgedroschene<br />
Methoden von Leuten, die fühlen, wie schwach sie in einem<br />
prinzipiellen Streit sind. Und deshalb muß unsere Antwort an die Kadetten<br />
in einer abermaligen Erläuterung der prinzipiellen Fragen bestehen.<br />
Welches sind die Unterschiede zwischen Demokratismus und Liberalismus<br />
schlechthin? Der bürgerliche Demokrat wie der Liberale (alle<br />
Liberalen sind bürgerliche Liberale, aber nicht alle Demokraten sind<br />
bürgerliche Demokraten) sind gegen die alte Ordnung, den Absolutismus,
Die Kadetten und die Agrarfrage 269<br />
die Leibeigenschaft, die Privilegien des höheren Standes usw., und für die<br />
politische Freiheit und eine konstitutionelle „<strong>Red</strong>its"ordnung. Darin gleichen<br />
sie sich.<br />
Der Unterschied zwischen ihnen: Der Demokrat vertritt die Masse der<br />
Bevölkerung. Er teilt ihre kleinbürgerlichen Vorurteile, indem er zum Beispiel<br />
von einer neuen, „ausgleichenden" Verteilung des gesamten Bodens<br />
nicht nur die Beseitigung aller Spuren der Leibeigenschaft erwartet (eine<br />
solche Erwartung wäre begründet), sondern auch die Untergrabung der<br />
Grundlagen des Kapitalismus (was völlig unbegründet ist, denn keine<br />
Neuverteilung des Bodens kann die Macht des Marktes und des Geldes,<br />
die Macht und Allmacht des Kapitals beseitigen). Aber der Demokrat<br />
glaubt an die Bewegung der Massen, an ihre Kraft, an ihre Gerechtigkeit<br />
und fürchtet diese Bewegung keineswegs. Der Demokrat tritt für die Aufhebung<br />
ausnahmslos aller mittelalterlichen Privilegien ein.<br />
Der Liberale vertritt nicht die Masse der Bevölkerung, sondern ihre<br />
Minderheit, und zwar die große und die mittlere liberale Bourgeoisie. Der<br />
Liberale fürchtet die Bewegung der Massen und die konsequente Demokratie<br />
mehr als die Reaktion. Der Liberale erstrebt nicht nur nicht die<br />
völlige Aufhebung aller mittelalterlichen Privilegien, sondern verteidigt<br />
geradezu einige, und zwar ziemlich wesentliche Privilegien, in dem Bestreben,<br />
diese Privilegien zwischen den Purischkewitsdi und den Miljukow<br />
aufzuteilen, nicht aber, sie überhaupt zu beseitigen.<br />
Der Liberale verteidigt die politische Freiheit und die Verfassung stets<br />
mit Einschränkungen (wie Zweikammersystem und vieles andere mehr),<br />
wobei jede Einschränkung die Erhaltung eines Privilegs der Fronherren<br />
bedeutet. Somit schwankt der Liberale ständig zwischen den Fronherren<br />
und der Demokratie; daher die äußerste, nahezu unglaubliche Ohnmacht<br />
des Liberalismus in allen irgendwie ernst zu nehmenden Fragen.<br />
Die russische Demokratie, das sind die Arbeiterklasse (die* proletarische<br />
Demokratie) und die Volkstümler und Trudowiki aller Schattierungen (die<br />
bürgerliche Demokratie). Der russische Liberalismus, das sind die Partei<br />
der Kadetten sowie die „Progressisten" and die Mehrzahl der nationalen<br />
Gruppen in der III. Duma.<br />
Die russische Demokratie hat ernst zu nehmende Siege errungen, der<br />
russische Liberalismus keinen einzigen. Die erste verstand zu kämpfen,<br />
und ihre Niederlagen waren stets bedeutungsvolle, historische Nieder-
270 W. J. <strong>Lenin</strong><br />
lagen ganz Rußlands, wobei selbst nach einer Niederlage stets ein Teil der<br />
Forderungen der Demokratie erfüllt wurde. Der zweite, d.h. der Liberalismus,<br />
verstand nidbt zu kämpfen, und er hat in der russischen Geschichte<br />
weiter nichts erreicht, als daß die Fronherren die Liberalen immer<br />
verächtlich behandelten - wie die Herren die Knechte.<br />
überprüfen wir diese allgemeinen Überlegungen und prinzipiellen<br />
Grundvoraussetzungen an Hand des kadettischen Agrarprogramms. Die<br />
„Prawda" erklärte den Kadetten, daß ihre undemokratische Einstellung<br />
durch die <strong>Red</strong>en des Kadetten Beresowski 2 zur Agrarfrage in der<br />
III. Duma bewiesen werde.*<br />
Die kadettische „Retsch" antwortete in Nr. 208: „Die <strong>Red</strong>e von Beresowski<br />
2 war bekanntlich eine Bestätigung des Programms der Kadetten<br />
zur Agrarfrage."<br />
Seht, wie schlau diese Antwort ist! Wir erklärten, daß die <strong>Red</strong>e von<br />
Beresowski 1** ein Musterbeispiel «ndemokratischer Fragestellung ist.<br />
Die „Retsch" weiß sehr wohl, was nach unserer Auffassung das Merkmal<br />
des Liberalismus im Gegensatz zum Demokratismus ist. Aber sie denkt<br />
gar nicht daran, die Frage ernsthaft zu untersuchen, festzustellen, welche<br />
Unterscheidungsmerkmale zwischen Liberalismus und Demokratismus sie,<br />
die „Retsch", für richtig hält, und zu prüfen, ob diese Merkmale in der<br />
<strong>Red</strong>e von Beresowski 1 erkennbar sind. Nichts davon tut die „Retsch".<br />
Sie weicht der Frage aus und zeigt dadurch prinzipielle Schwäche und ein<br />
schlechtes Gewissen.<br />
Die Verantwortlichkeit der ganzen Kadettenpartei für die <strong>Red</strong>e von<br />
Beresowski 1 aber wagte nicht einmal die „Retsch" zu leugnen. Sie gab<br />
diese Verantwortlichkeit zu, mußte sie zugeben, indem sie die <strong>Red</strong>e von<br />
Beresowski 1 als „Bestätigung des Programms der Kadetten zur Agrarfrage"<br />
bezeichnete.<br />
Ausgezeichnet. So zitieren wir denn die wichtigsten Stellen aus dieser<br />
unstreitig und offiziell kadettischen <strong>Red</strong>e des Mitglieds der III. Duma<br />
A. J. Beresowski, eines Gutsbesitzers aus Simbirsk. Wir wollen, indem wir<br />
die Äußerungen des <strong>Red</strong>ners analysieren, prüfen, ob er auf einem demo-<br />
* Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 235. Die Jled.<br />
** Sowohl die „Prawda" als auch die „Retsch" irrten, als sie von Beresowski 2<br />
sprachen. Der Kadett ist Beresowski i, Alexander Jeleasarowitsch, Gutsbesitzer<br />
aus Simbirsk.
Die Kadetten und die Agrarfrage 271<br />
kratischen oder einem liberalen Standpunkt steht. Und wir werden sehen,<br />
ob es den Herren Kadetten in ihrer umfangreichen Presse oder in Versammlungen<br />
gelingen wird, uns zu widerlegen.<br />
„Meiner tiefen Oberzeugung nach", sagte A. J. Beresowski im Oktober 1908<br />
in der III. Duma (wir zitieren nach dem stenografischen Bericht der „Rossija" 73 ),<br />
„ist dieser Entwurf" (der Agrarentwurf der Kadetten) „viel vorteilhafter auch<br />
für die Grundbesitzer" (und nicht nur für die Bauern), „und ich sage das,<br />
meine Herren, weil ich die Landwirtschaft kenne, weil ich mich mein Leben lang<br />
damit beschäftigt habe und selbst Land besitze. Für eine hochentwickelte<br />
Landwirtschaft wäre der Entwurf der Partei der Volksfreiheit zweifellos von<br />
größerem Nutzen als die jetzige Ordnung. Man darf nicht die nackte Tatsache<br />
der zwangsweisen Enteignung herausgreifen, sich darüber empören und sagen,<br />
das sei Gewalt, sondern man muß sehen und beurteilen, worauf das hinausläuft,<br />
was in unserem Entwurf vorgeschlagen wird, und wie diese zwangsweise<br />
Enteignung durdbgefübrt wird..."<br />
Wir haben diese dank ihrer seltenen Wahrhaftigkeit wirklich goldenen<br />
Worte des Herrn A. J. Beresowski hervorgehoben. Wer sich an die <strong>Red</strong>en<br />
und Artikel der bolschewistischen Marxisten gegen die Kadetten in der<br />
Zeit der I. Reichsduma erinnert oder sich die Mühe macht, diese Artikel<br />
jetzt zu lesen, der wird zugeben müssen, daß Herr A. J. Beresowski im<br />
Jahre 1908 glänzend die Bolschewild von 1906 bestätigte. Und wir nehmen<br />
es auf uns, vorauszusagen, daß jede einigermaßen objektive Geschichtsschreibung<br />
ihre Politik dreifach bestätigen wird.<br />
Wir sagten im Jahre 1906: Glaubt nicht dem Klang des Wortes<br />
„Zwangsenteignung". Die ganze Frage ist die, wer wen zwingen wird.<br />
Wenn die Gutsbesitzer die Bauern zwingen werden, für schlechten Boden<br />
den dreifachen Preis zu zahlen, nach dem Muster der berüchtigten Ablösung<br />
von <strong>18</strong>61, dann wird eine solche „Zwangsenteignung" eine Qutsherrlidbe<br />
Reform sein, vorteilhaft für die Gutsbesitzer und verheerend<br />
für die Bauern.*<br />
Die Liberalen, die Kadetten, stellten die Frage der zwangsweisen Enteignung,<br />
indem sie zwischen den Gutsbesitzern und den Bauern, zwischen<br />
den Schwarzhundertern und der Demokratie lavierten. Im Jahre f906<br />
wandten sie sich an die Demokratie in dem Bestreben, ihre „Zwangsenteignung"<br />
für etwas Demokratisches auszugeben. Im Jahre 1908 wen-<br />
• Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 10, S. 4<strong>18</strong>-421. Die %ed.
272 W. J. <strong>Lenin</strong><br />
den sie sich an die Erzreaktionäre der III. Reichsduma und erklären ihnen,<br />
daß man sehen müsse, „worauf das hinausläuft und wie diese zwangsweise<br />
Enteignung durchgeführt wird".<br />
Hören wir uns den offiziellen Sprecher der Kadettenpartei an:<br />
„Nehmen Sie den Entwurf der 42 Mitglieder der I. Reichsduma", sagte<br />
A. J. Beresowski, „er enthielt lediglich" (eben, Herr Beresowski!) „die Anerkennung<br />
der Notwendigkeit, in erster Linie jenen Boden zu enteignen, den<br />
seine Besitzer nicht selbst bestellen. Ferner unterstützte die Partei der Volksfreiheit<br />
die Bildung örtlicher Kommissionen, die binnen einer bestimmten Frist<br />
feststellen sollten, welche Ländereien zu enteignen sind und welche nicht und<br />
wieviel Boden die Bauern brauchen, um zufriedengestellt zu sein. Diese Kommissionen<br />
sollten zur Hälfte aus Bauern und zur anderen Hälfte aus Nicht-<br />
Bauern bestehen."<br />
Herr A, J. Beresowski hat eine Kleinigkeit nicht gesagt. Jeder, der in<br />
dem Agrarentwnrf Kutlers (des anerkannten Repräsentanten der Kadettenpartei<br />
in der Agrarfrage), veröffentlicht in <strong>Band</strong> II der von den Kadetten<br />
herausgegebenen „Agrarfrage", nachlesen will, wird feststellen, daß<br />
die Vorsitzenden der Kommissionen nach diesem Entwurf von der Regierung<br />
eingesetzt werden sollten, d. h. ebenfalls Vertreter der Gutsbesitzer<br />
gewesen wären.<br />
Aber nehmen wir sogar an, A. J. Beresowski habe die Anschauungen<br />
der Kadetten präziser ausgedrückt als Kutler. Nehmen wir an, A. J. Beresowski<br />
habe alles ausgesprodien, und die Kadetten wären tatsächlich für<br />
Kommissionen, die paritätisdb aus Bauern und „Nicht-Bauern" ohne Vertreter<br />
der Klassenregierung zusammengesetzt sind. Würde dann etwa<br />
irgend jemand behaupten wollen, daß ein solcher Entwurf demokratisch<br />
sei??<br />
Demokratie ist Herrschaft der Mehrheit. Als demokratisch können nur<br />
allgemeine, direkte und gleiche Wahlen bezeichnet werden. Demokratisch<br />
sind nur solche Kommissionen, die von der gesamten Bevölkerung auf der<br />
Grundlage des allgemeinen Wahlrechts gewählt worden sind. Das ergibt<br />
sich aus den allgemeinen, grundlegenden, elementaren Wahrheiten des<br />
Demokratismus so unbestreitbar, daß es sogar sonderbar anmutet, alles<br />
das den Herren Kadetten vorzukauen.<br />
Auf dem Papier erkennen die Kadetten das allgemeine Wahlrecht an.<br />
In der Praxis erkennen sie in einer der wichtigsten Fragen der russischen
Die Xadelten und die Agrarfrage 273<br />
Befreiungsbewegung, der Agrarfrage, das allgemeine Wahlrecht nidrt an!<br />
Keinerlei Ausflüchte und Vorbehalte schaffen diese Tatsache, die von erstrangiger<br />
Bedeutung ist, aus der Welt.<br />
Aber man glaube nicht, daß das nur eine Abweichung der Kadetten<br />
vom Prinzip des allgemeinen Wahlrechts, vom Prinzip der Demokratie<br />
sei. Nein. Sie legen ein anderes Prinzip zugrunde, das Prinzip der .Vereinbarung"<br />
des Alten mit dem Neuen, des Gutsbesitzers mit dem Bauern,<br />
der Schwarzhunderter mit der Demokratie. Die eine Hälfte den einen und<br />
die andere Hälfte den anderen - das ist die Parole der Kadetten.<br />
Und das eben ist ein typisches Prinzip der schwankenden liberal-monarchistischen<br />
Bourgeoisie. Sie will nicht die Aufhebung der Privilegien des<br />
Mittelalters, sondern ihre Aufteilung unter den Gutsbesitzern und der<br />
Bourgeoisie. Kann man denn wirklich bestreiten, daß es Erhaltung und<br />
Bestätigung eines mittelalterlichen Privilegs bedeutet, wenn man den<br />
„Nicht-Bauern" (d. h. den Gutsbesitzern, um es geradeheraus zu sagen)<br />
die Gjleidabeit mit den Bauern, mit 7 /io der Bevölkerung, einräumt? Worin<br />
denn sonst bestanden die mittelalterlichen Privilegien, wenn nicht darin,<br />
daß ein einziger Gutsbesitzer in der Politik ebensoviel zu sagen hatte wie<br />
Hunderte und Tausende Bauern?<br />
Die Qleidbheit der Gutsbesitzer und der Bauern ermöglicht objektiv<br />
keinen anderen Ausweg als die Aufteilung der Privilegien unter den Gutsbesitzern<br />
und der Bourgeoisie. Gerade so war es im Jahre <strong>18</strong>61: Die<br />
Gutsbesitzer gestanden Viooo ihrer Privilegien der aufkommenden Bourgeoisie<br />
zu, während die Masse der Bauern für ein halbes Jahrhundert<br />
(<strong>18</strong>61 + 50 = 1911) zum Elend, zu Rechtlosigkeit, Erniedrigung, langsamem<br />
Hungertod, zur Leistung erpreßter Abgaben u. dgl. m. verurteilt<br />
wurde. Man darf außerdem nicht vergessen, daß die Gutsbesitzer, als sie<br />
<strong>18</strong>61 der Bourgeoisie Viooo ihrer politischen Privilegien zugestanden (die<br />
Semstwo-, die Städte-, die Gerichtsreform usw.), selbst begannen, sich<br />
ökonomisch in Bourgeois zu verwandeln, indem sie Branntweinbrennereien<br />
und Zuckerfabriken aufbauten, in die Vorstände von Aktiengesellschaften<br />
gingen usw.<br />
Wir werden gleich sehen, welchen endgültigen Ausweg Herr A. J. Beresowski<br />
selber aus dieser „Gleichheit" zwischen der geringen Zahl von<br />
Gutsbesitzern und der riesigen Zahl von Bauern gewiesen hat. Zuvor aber<br />
müssen wir noch die ganze Bedeutung der Worte Beresowskis hervor-
274 W. J. <strong>Lenin</strong><br />
heben, daß diese berüchtigten Kommissionen „feststellen" sollten, „welche<br />
Ländereien zu enteignen sind und weldbe nidht und wieviel Boden die<br />
Bauern braudien, um zufriedengestellt zu sein".<br />
Alles Gerede von verschiedenen „Nonnen" der Landzuteilung an die<br />
Bauern usw. - alles das sind dieselben leeren Worte, mit denen, nebenbei<br />
bemerkt, nidit selten unsere volkstümlerischen Intellektuellen, auch<br />
die am weitesten „links" stehenden nicht ausgenommen, sich und die<br />
Bauern betäuben. Von ernster Bedeutung ist nur eine Frage:" werden alle<br />
Ländereien der Enteignung unterliegen oder nicht alle? und im letzteren<br />
Falle: wer wird bestimmen, „weldie nicht"? (Ich spreche schon gar nicht<br />
davon, wer die Höhe der Loskaufzahlung bestimmen wird, denn die<br />
Ablösung der mittelalterlichen Privilegien selbst ist eine zwar bürgerlichliberale,<br />
in ihrem Kern, in ihrer Grundlage aber absolut undemokratische,<br />
antidemokratische Sache.)<br />
All die bis ins einzelne geprüften, beamtenmäßig ausgefeilten Paragraphen<br />
der kadettischen Agrarentwürfe sind leerer Formelkram. Ernst<br />
zu nehmen ist nur eine Frage: wer wird bestimmen, weldie Ländereien<br />
unter weldien Bedingungen der Enteignung unterliegen? Ein noch so<br />
idealer Gesetzentwurf ist, wenn er diese Frage umgeht, bloße Scharlatanerie,<br />
nichts weiter.<br />
Wie löst nun Herr Beresowski diese einzige ernsthafte Frage? Es ist<br />
doch klar, daß es bei einer Gleichheit zwischen Bauern und „Nicht-Bauern"<br />
in den meisten Fällen zu keiner Vereinbarung kommen wird - und über<br />
eine gütliche Vereinbarung der Fronherren mit den gestrigen Leibeigenen<br />
braucht man keine Gesetze zu schreiben. Zu einer „güllidien Vereinbarung"<br />
mit ihnen sind die Fronherren auch ohne alle Gesetze immer bereit.<br />
Herr Beresowski hat den Erzreaktionären der III. Reichsduma auf diese<br />
brennende Frage eine klare Antwort gegeben. Hören Sie weiter seine<br />
<strong>Red</strong>e:<br />
„Dadurch hätte man natürlich in gemeinsamer konkreter Arbeit an den<br />
einzelnen Orten sowohl den Umfang des für die" Enteignung ,in JraQe kommenden'<br />
Bodens" (hört!) „als auch die Menge des für die Bauern notwendigen<br />
Bodens feststellen können" (notwendig wozu? zur Leistung der Abgaben? damit<br />
waren die Fronherren schon immer einverstanden!), „und letztlich würden<br />
sich auch die Bauern davon überzeugt haben, in welchem Maße ihren gerechten"<br />
(hm! hm! Gott bewahre uns vor der Herrschaft Liebe, der Herrschaft
Die Kadetten und die Agrarfrage 275<br />
Zorn und vor der „Gerechtigkeit der Gutsbesitzer") „Forderungen entsprochen<br />
werden kann. Dann hätte dieses ganze Material durch die Reichsduma und"<br />
(hört! hört!) „den Reichsrat seinen Weg genommen und nach Überarbeitung"<br />
(hm! hm!) „endgültige Sanktion erhalten" (d. h. Gesetzeskraft). „Das Resultat<br />
dieser planmäßigen Arbeit" (wahrlich, was könnte „planmäßiger" sein!) „wäre<br />
zweifellos eine wirkliche Befriedigung der tatsächlichen Bedürfnisse der Bevölkerung,<br />
eine damit verbundene Beruhigung und die Erhaltung der hochentwickelten<br />
Wirtschaften, deren Zerstörung ohne zwingende Notwendigkeit die Partei<br />
der Volksfreibeit niemals beabsichtigt hat."<br />
So sprach der Vertreter der „Partei der Volksfreiheit", die man von<br />
Rechts wegen Partei zur Beruhigung der Gutsbesitzer nennen sollte.<br />
Hier ist deutlich genug zu erkennen, daß die kadettische „Zwangsenteignung"<br />
Zwang der Qutsbesitzer gegen die dauern bedeutet. Wer das<br />
leugnen wollte, der müßte beweisen, daß im Reichsrat die Bauern die<br />
Gutsbesitzer überwiegen! „Gleichheit" der Gutsbesitzer mit den Bauern<br />
zu Anfang, und am Schluß - wenn eine gütliche Vereinbarung nicht erfolgt<br />
ist - „Überarbeitung" des Entwurfs durch den Reichsrat.<br />
„Eine Zerstörung der hochentwickelten Wirtschaften ohne zwingende<br />
Notwendigkeit hat die Partei der Volksfreiheit niemals beabsichtigt", erklärte<br />
der Herr Gutsbesitzer A. J. Beresowski, der sicherlich seine Wirtschaft<br />
für „hochentwickelt" hält. Wir aber fragen: Wer wird bestimmen,<br />
wessen Wirtschaft in welchen Teilen „hochentwickelt" ist und wo die<br />
„zwingende Notwendigkeit" beginnt? Die Antwort: Das werden zunächst<br />
die paritätisch aus Gutsbesitzern und Bauern zusammengesetzten Kommissionen<br />
bestimmen und dann der Reichsrat...<br />
Wie nun? Sind die Kadetten eine demokratische Partei oder eine<br />
konterrevolutionäre Partei der liberal-monarchistischen Bourgeoisie? Sind<br />
sie eine Partei der „Volksfreiheit" oder eine Partei zur Beruhigung der<br />
Gutsbesitzer?<br />
Die russische bürgerliche Demokratie, d. h. die Trudowiki und die Volkstümler<br />
aller Schattierungen, beging einen großen Fehler, als sie vom<br />
Übergang der Gutsbesitzerländereien an die Bauern die „Ausgleichung",<br />
die Verbreitung der „Arbeitsprinzipien" usw. erwartete, ein Fehler war<br />
auch, daß sie durch leeres Gerede über verschiedene „Normen" des<br />
Grundbesitzes die Frage verwischte, ob es einen mittelalterlichen Grundbesitz<br />
geben soll oder nicht, aber diese Demokratie half dem Neuen, das
276 W.I. Centn<br />
Alte zu verdrängen, und sie fabrizierte nicht Entwürfe zur Erhaltung<br />
einer Reihe von Privilegien für das Alte.<br />
Nein, zu leugnen, daß die Kadetten keine demokratische Partei, sondern<br />
eine konterrevolutionäre Partei der liberal-monarchistischen Bourgeoisie<br />
sind, heißt geradezu, allgemein bekannte Tatsachen verhöhnen.<br />
Abschließend wollen wir kurz eine Frage erörtern, die vielleicht manche<br />
naive Kadetten stellen könnten. Wenn die kadettische „Zwangsenteignung"<br />
Zwang der Gutsbesitzer gegen die Bauern bedeutete, warum hat<br />
dann die Mehrheit der Gutsbesitzer sie abgelehnt?<br />
Die Antwort auf diese Frage gab, ohne es selbst zu wollen, Herr Miljukow<br />
in seiner <strong>Red</strong>e am 31. Oktober 1908 in der III. Reichsduma, in der<br />
er als Historiker sprach. Der Historiker Miljukow mußte zugeben, daß bis<br />
Ende 1905 sowohl die Staatsmacht als auch die Qutsbesitzer die Bauernschaft<br />
für eine konservative Kraft gehalten haben. In der Peterhofer Beratung<br />
vom 19. bis 26. Juli 1905 - diese Beratung bereitete die Bulyginsche<br />
Duma vor - waren die Säulen des künftigen Rates des vereinigten Adels,<br />
A. A. Bobrinski, Naryschkin usw., dafür, in der Duma das Übergewicht<br />
den "Bauern zu geben. Witte stellte sich damals auf den Standpunkt, daß<br />
die Stütze der Selbstherrschaft nicht der Adel und nicht die Bourgeoisie<br />
sein soll (und sein kann), sondern die „bäuerliche Demokratie".*<br />
„Meine Herren", sagte Herr Miljukow, „das ist eine interessante Situation,<br />
weil nämlich in diesem Augenblick die Regierang an die Zwangsenteignung<br />
denkt (Stimmen: Kutler). Ja, Kotier, meine Herren ... Xutler hatte sidh an die<br />
Ausarbeitung eines Entwurfs über die Zwangsenteignung gemadot.<br />
...Er hat gearbeitet, meine Herren: die Arbeit dauerte, ich weiß nicht,<br />
einen oder zwei Monate - bis Ende i905. Sie wurde ungehindert fortgesetzt<br />
bis zu den bekannten Moskauer Ereignissen, nach denen sich die Stimmung<br />
spürbar änderte."<br />
Am 4. Januar 1906 trat der Kongreß der Adelsmarschälle zusammen.<br />
Er lehnte Kuders Entwurf, den er nur vom Hörensagen und auf Grund<br />
privater Mitteilungen kannte, ab. Der Kongreß nahm sein eigenes Agrar-<br />
• Siehe den „Bericht der Fraktion der Volksfreiheit" über die 2. Sitzungsperiode<br />
der III. Reichsduma (St. Petersburg 1909), S. 43. Zu unserem Bedauern,<br />
zu unserem großen Bedauern, haben die Kadetten die <strong>Red</strong>en Beresowskis<br />
nidht nachgedruckt...
Die "Kadetten und die Agrarfrage 177<br />
Programm an (das künftige „Stolypinsche"). Im Februar 1906 demissioniert<br />
Minister Kutler. Am 30. März 1906 wird das Kabinett Witte (mit<br />
dem ,,Bauern"programm) durch das Kabinett Gurko-Goremykin (mit dem<br />
„Stolypinsdien", adlig-bürgerlichen Programm) abgelöst.<br />
So sehen die Tatsachen aus, die der Historiker Miljukow zugeben<br />
mußte.<br />
Aus diesen Tatsachen ergibt sich eine klare Schlußfolgerung. Der „kadettische"<br />
Entwurf über die Zwangsenteignung war ein Entwurf des<br />
Ministers Kutler im Kabinett Witte, der von einer sich auf die Bauern<br />
stützenden Selbstherrschaft träumte! Als die Bauerndemokratie im Aufschwung<br />
begriffen war, suchte man sie, diese Demokratie, mit dem Entwurf<br />
über die „friedliche" Enteignung, die „Zwangsenteignung", die<br />
„zweite Befreiung" - mit dem Entwurf des bürokratischen „Zwangs der<br />
Gutsbesitzer gegen die Bauern" zu kaufen, zu korrumpieren, zu betrügen.<br />
Das also sagen uns die historischen Tatsachen. Der kadettische Agrarentwurf<br />
ist das Projekt eines Ministers unter Witte, in Bauerncäsarismus<br />
zu „machen".<br />
Die Bauerndemokratie hat die Hoffnungen nicht gerechtfertigt. Sie hat<br />
gezeigt - in der I. Reichsduma wohl noch klarer als im Jahre 1905 -, daß<br />
sie seit <strong>18</strong>61 Bewußtsein erlangt hat. Bei einer solchen Bauernschaft wurde<br />
der Kutlerisch-kadettisdie Entwurf unsinnig: die Bauern würden sich nicht<br />
nur nicht auf alte Weise betrügen lassen, sondern würden sogar die kadettischen<br />
örtlichen Bodenkommissionen benutzen, um einen neuen Vorstoß<br />
zu organisieren.<br />
Die Adelsmarschälle entschieden am 4. Januar 1906 richtig, daß die<br />
Vorlage der liberalen Gutsbesitzer (Kutler und Co.) eine hoffnungslose<br />
Sache ist, und verwarfen sie. Der Bürgerkrieg ist über die liberal-bürokratische<br />
Projektemadierei binausgewadhsen. Der Klassenkampf hat die<br />
Träumereien von einem „sozialen Frieden" hinweggefegt und die Frage in<br />
aller Schärfe gestellt: „Entweder nach Stolypinsdier Art - oder nach trudowikischer<br />
Art".<br />
„Newskaja Swesda" Nr. 22, Nadb dem Jext der<br />
i9. August 1912. .Newskaja Swesda".<br />
Untersdhrift-.'W.Trey.
278<br />
EINE SCHLECHTE VERTEIDIGUNG<br />
In Nummer 86 der „Prawda" vom 9. August haben wir in dem Artikel<br />
„Streikkampf und Arbeitslohn"* die Angaben unserer offiziellen Statistik<br />
über den durchschnittlichen Arbeitslohn der russischen Fabrikarbeiter im<br />
ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts angeführt.<br />
Es ergab sich, daß die Arbeiter durch den berühmten Streikkampf des<br />
Jahres 1905 eine Erhöhung ihres Arbeitslohns von 206 Rubel (im Jahresdurchschnitt<br />
pro Arbeiter) auf 238, das heißt um 32 Rubel oder um<br />
15,5%, erreichten.<br />
Unsere Schlußfolgerung gefiel der amtlichen Zeitung „Rossija" nicht.<br />
bi der Nummer vom 15. August widmet sie ihren Leitartikel der ausführlichen<br />
Wiedergabe der von uns angeführten Daten (wobei sie die<br />
Zeitung, der diese Daten entnommen wurden, aus irgendeinem Grunde<br />
nicht genau bezeichnet) und versucht, unsere Schlußfolgerungen zu widerlegen.<br />
„Daß der Arbeitslohn im Jahre 1906 einen entschiedenen Sprung nach<br />
oben gemacht hat, ist natürlich wahr", schreibt die „Rossija", „aber wahr<br />
ist auch, daß im Zusammenhang damit und zur selben Zeit auch alle<br />
Waren und Lebensmittel sofort im Preise stiegen..." Und die „Rossija"<br />
bringt weiter ihre Berechnung, wonach der Arbeitslohn um 20% stieg,<br />
während sich die Steigerung der Lebenshaltungskosten auf 24% belief.<br />
Die Berechnung der „Rossija" ist in jeder Beziehung sehr falsch. In Wirklichkeit<br />
ist das Ansteigen des Arbeitslohns weniger groß, die Steigerung<br />
der Lebenshaltungskosten aber größer.<br />
Doch wir wollen jetzt nicht die Fehler der „Rossija" korrigieren. Nehmen<br />
wir ihre Zahlen.<br />
* Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 247/248. Dse <strong>Red</strong>.
Eine sdoledite Verteidigung 279<br />
„Sie sprechen durchaus nicht dafür", schreibt die „Rossija", „daß die Arbeiter<br />
etwas gewonnen haben. Und wenn man nach ihren häufigen Klagen über die<br />
schweren Zeiten urteilt, kann man sogar eher zu der umgekehrten Schlußfolgerung<br />
kommen: nämlich, daß sie kaum etwas gewonnen haben."<br />
Sonderbare Überlegungen, die die „Rossija" da anstellt, nicht wahr?<br />
Wenn der Arbeitslohn weniger bedeutend stieg als die Preise für Lebensmittel,<br />
so ist also eine noch bedeutendere Erhöhung des Arbeitlohns<br />
notwendig! Ist dies denn nicht offensichtlich?<br />
Auf welche Weise können die Arbeiter denn eine Erhöhung des Arbeitslohns<br />
erreichen, wenn nicht durch wirtschaftlichen Kampf und durch<br />
Streiks? Hat die „Rossija" je Kapitalisten gesehen, die bei einem Ansteigen<br />
der Lebensmittelpreise von sidb aus den Arbeitern eine Erhöhung ihres<br />
Lohns angeboten hätten?<br />
Die „Rossija" erkennt an, daß der Arbeitslohn im Jahre 1906 einen<br />
entschiedenen Sprung nach oben gemacht hat, d. h. dank dem ausgedehnten,<br />
mit beispielloser Hartnäckigkeit geführten Streikkampf der Massen.<br />
Die Preise für Lebensmittel aber begannen schon vor 1905 zu steigen.<br />
Die Getreidepreise zum Beispiel sind in Rußland seit 1903 nicht gefallen,<br />
sondern nur gestiegen. Die Preise für tierische Produkte sind seit 1901<br />
nicht gefallen, sondern nur gestiegen.<br />
Demnach haben die Arbeiter ausschließlich durch den Streikkampf erreicht,<br />
daß der Arbeitslohn nach dem Ansteigen der Preise für Brot und<br />
andere Produkte ebenfalls zu steigen begann. Wenn die Erhöhung des<br />
Arbeitslohns ungenügend ist - und dies gibt sogar die „Rossija" zu -, so<br />
ist notwendig, ihn weiter zu erhöhen.<br />
„Trawda" Nr. 96, Tiadb dem Text der „Trawda".<br />
21. August 1912.<br />
Unterschrift: 'W.
280<br />
DIE LIQUIDATOREN<br />
UND DIE „EINHEIT" 74<br />
Die in diesen Tagen erschienene siebente Nummer des „Newski Golos"<br />
kann man nicht anders als hysterisch nennen. Fast zwei Seiten der Zeitung<br />
enthalten statt einer Chronik des Arbeiterlebens gemeinstes Geschimpfe<br />
über die „Prawda" und die „Newskaja Swesda". Und das Kuriose ist,<br />
daß dieses Geschimpfe unter der Losung der „Einheit" der Arbeiterklasse,<br />
der „Einheit" der Wahlkampagne steht.<br />
Meine Herren - antworten -wir den Liquidatoren -, die Einheit der<br />
Arbeiterklasse ist ein hohes Prinzip. Aber es ist wirklich lächerlich, -wenn<br />
ihr der Arbeiterklasse mit eurem Geschrei nach „Einheit" die Plattform<br />
und die Kandidaten der Gruppe liberaler liquidatorischer Intellektueller<br />
aufzwingen wollt.<br />
Die „Prawda" hat an Hand exakter Zahlen nachgewiesen: „Das Iiquidatorentum<br />
ist in der Arbeiterbewegung ein Nichts; stark ist es nur unter<br />
der liberalen Intelligenz" („Prawda" Nr. 80 vom 1. August 1912*). Jetzt<br />
schimpft der „Newski Golos" Nr. 7 vom 17. August über diese Artikel<br />
der „Prawda" und nennt sie „feuilletonistische", „Chlestakowsche"** usw.<br />
Artikel. Die einfache Tatsache jedoch, daß die „Prawda" in einem halben<br />
Jahr 504 Sammlungen von Arbeitergruppen für sich verbuchen kann, die<br />
Liquidatorenzeitungen aber nur ganze 15, versucht der „Newski Golos"<br />
gar nicht erst zu bestreiten.<br />
Welche andere Schlußfolgerung aber kann man daraus ziehen als die,<br />
daß das Geschrei, der. Lärm, das Geschimpfe und die Rufe nach Einheit,<br />
daß all das nur die absolute und endgültige Ohnmacht der Liquidatoren in<br />
der Arbeiterklasse verdecken soll?<br />
* Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. <strong>18</strong>4-<strong>18</strong>8. Die <strong>Red</strong>.<br />
** Chlestakow - Hauptgestalt in Gogols „Revisor". Der Tibers.
Die Liquidatoren und die Einheit 281<br />
Wie sehr uns der „Newski Golos" auch beschimpfen mag, wir werden<br />
' die Arbeiter ruhig auf unwiderlegbare Tatsachen verweisen. Man sehe sich<br />
die Sammlungen an, die in Nr. 7 des „Newski Golos" angeführt sind und<br />
im Juli und August „zur materiellen Unterstützung der Zeitung" aufgebracht<br />
wurden (d. h. - geradezu gesagt - für die Neuherausgabe der<br />
Liquidatorenzeitung, die infolge mangelnder Unterstützung durch die<br />
Arbeitermassen eingegangen war). Der Bericht über diese Sammlungen<br />
weist 52 Beiträge mit einer Gesamtsumme von 827 Rbl. 11 Kop. aus.<br />
Davon sind nur zwei Grnppensammlungen: die eine von einer „Moskauer<br />
Initiativgruppe" - 35 Rbl., die andere von einer „ Qruppe von freunden<br />
aus Paris" - 8 Rbl. 54 Kop. Von den übrigen 50 Einzelbeiträgen haben 35<br />
eine Summe von 708 Rbl. erbracht, das heißt, imDurdbsdbnitt kommen<br />
über 20 Rubel auf jeden "Beitrag.<br />
Soviel auch der „Newski -Golos" zürnen und schimpfen mag, Tatsachen<br />
bleiben Tatsachen. Daß die „Initiativgruppen" Liquidatorengrappen<br />
sind, die sich von der Partei der Arbeiterklasse abgespalten haben, ist<br />
allgemein bekannt. Das hat sogar Plechanow schon im April 1912 offen<br />
und unumwunden zugegeben.<br />
Die Gruppe der abgespaltenen Liquidatoren hat mit Hilfe von Spenden<br />
bürgerlich-liberaler Intellektueller ihre Zeitung für den Kampf gegen die<br />
Arbeiterpresse wieder herausgeben können!! Und diese Gruppe schreit<br />
nach „Einheit". Wie soll man da nicht lachen!<br />
„Trawda" Nr. 99, TJad) dem 7ext der „Prawda".<br />
24. August 1912.<br />
<strong>Lenin</strong>, Werte, Bd. <strong>18</strong>
282<br />
LEKTION<br />
OBER DIE „KADETTENFRESSERET<br />
Die „Prawda" und die „Newskaja Swesda" haben den Herrschaften<br />
Blank, Korobka, Kuskowa und Co. im Zusammenhang mit ihren schmutzigen<br />
liberalen Ausfällen gegen die Arbeiterpresse eine harte, aber durchaus<br />
verdiente Abfuhr erteilt.<br />
Mögen jedoch die Antworten an die „Herrschaften, die die Arbeiter<br />
boykottieren", noch so gut gewesen sein, übriggeblieben ist noch eine<br />
äußerst wichtige prinzipielle Frage, die einer Untersuchung bedarf. Die<br />
Herrschaften Blank und Kuskowa suchten sie mit ihren groben Lügen zu<br />
übergehen, zu verschleiern. Aber wir dürfen es nicht zulassen, daß prinzipielle<br />
Fragen vertuscht werden, wir müssen ihre ganze Bedeutung aufdecken<br />
und unter dem Haufen der von den Blank und Kuskowa besorgten<br />
Entstellungen, Verleumdungen und Beschimpfungen die Wurzeln der<br />
einen jeden klassenbewußten Arbeiter interessierenden Meinungsverschiedenheiten<br />
hervorholen.<br />
Eine dieser Wurzeln kann man mit dem Wort „Kadettenfresserei" ausdrücken.<br />
Man höre sich die einsamen, aber beharrlichen Stimmen der<br />
Liquidatoren an, die Bemerkungen der Öffentlichkeit, die in parteilicher<br />
Hinsicht noch nicht endgültig Stellung bezogen hat - und man wird häufig,<br />
wenn nicht einen Vorwurf gegenüber der „Prawda" und der „Newskaja<br />
Swesda", so doch ein Kopf schütteln über ihre „Kadettenfresserei" finden.<br />
Untersuchen wir also die prinzipielle Frage der „Kadettenfresserei".<br />
Zwei Umstände erklären vor allem und in erster Linie das Auftauchen<br />
eines solchen Vorwurfs gegenüber der „Prawda": 1. das mangelnde Verständnis<br />
für das Wesen der Frage der „zwei bzw. drei Lager" in der<br />
Wahlkampagne und in der gegenwärtigen Politik schlechthin und 2. das
Lektion über die „Xadettenfresserei" 283<br />
Außerachtlassen jener besonderen Bedingungen, die heute für die marxistische<br />
Presse, für die Zeitungen der Arbeiterdemokratie, bestehen.<br />
Beginnen wir bei der ersten Frage.<br />
Alle Liberalen stehen auf dem Boden der Theorie der zwei Lager, von<br />
denen das eine für die Verfassung und das andere gegen die Verfassung<br />
ist. Von JMiljukow bis Isgojew, von Prokopowitsch bis M. M. Kowalewsld<br />
stimmen alle darin überein. Und man darf nicht vergessen, daß die<br />
Theorie der zwei Lager zwangsläufig dem Klassenwesen unseres ganzen<br />
Liberalismus entspringt.<br />
Worin besteht dieses Wesen vom ökonomischen Standpunkt aus gesehen?<br />
Darin, daß der Liberalismus eine Partei der Bourgeoisie ist, die die<br />
Bewegung der bäuerlichen Massen und noch mehr die Bewegung der<br />
Arbeiter fürchtet, denn diese Bewegung ist imstande (schon jetzt, in<br />
nächster Zukunft, ohne Änderung der ganzen kapitalistischen Ordnung),<br />
den Umfang und die Formen der Ökonomisten Privilegien der Bourgeoisie<br />
einzuschränken. Ein ökonomisches Privileg der Bourgeoisie aber ist das<br />
Eigentum am Kapital, das in Rußland zwei- bis dreimal mehr Profit abwirft<br />
als in Westeuropa.<br />
Will man diesen „russischen" Extraprofit aufrechterhalten, so darf man<br />
die Selbständigkeit des dritten Lagers nicht zulassen.<br />
Die Bourgeoisie vermag zum Beispiel durchaus auch beim Achtstundentag<br />
zu herrschen. Ihre Herrschaft wäre dann sogar vollständiger, reiner,<br />
ausgedehnter, freier als beim Zehn- bzw. Elfstundentag. Aber die Dialektik<br />
des Klassenkampfes läßt die Bourgeoisie niemals ohne äußerste Notwendigkeit,<br />
ohne die letzte Notwendigkeit den ruhigen, zur Gewohnheit<br />
gewordenen, einträglichen- (in Oblomowscher* Weise einträglichen) Zehnstundentag<br />
durch den Achtstundentag ersetzen.<br />
Das vom Achtstundentag Gesagte gilt ebenso auch für die obere Kammer,<br />
für den gutsherrlichen Grundbesitz und vieles andere.<br />
Die Bourgeoisie wird auf die altrussischen ruhigen, bequemen, einträglichen<br />
Ausbeutungsformen nicht verzichten, um sie durch aussdhließlidj<br />
europäische, ausschließlich demokratische zu ersetzen (denn die Demokratie<br />
ist - die hitzigen Helden von den „Sawety" mögen es mir nicht übelnehmen<br />
- ebenfalls eine Form der bürgerlichen Herrschaft), sie wird nicht<br />
verzichten, sagen wir, ohne die äußerste, die letzte Notwendigkeit.<br />
* Oblomow - Titelheld eines Romans von I. A. Gontscharow. Der Tibers.
284 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />
Diese Notwendigkeit kann nur geschaffen werden durch die Bewegung<br />
der Massen, die ein gewisses System angenommen und eine gewisse Kraft<br />
erreicht hat. Und die Bourgeoisie, die ihre ökonomischen Interessen verteidigt,<br />
kämpft gegen diese Bewegung, das heißt gegen die Selbständigkeit<br />
des dritten Lagers.<br />
Worin besteht das Klassenwesen des Liberalismus vom politischen<br />
Standpunkt aus gesehen? In der Furcht vor der Bewegung eben dieser<br />
sozialen Elemente, denn diese Bewegung ist imstande, die von der Bourgeoisie<br />
so geschätzten politischen Privilegien zu untergraben. Der Liberalismus<br />
fürchtet die Demokratie mehr als die Reaktion. Das haben die<br />
Jahre 1905,1906 und 1907 bewiesen.<br />
Will man die politischen Privilegien in diesem oder jenem ihrer Teile<br />
aufrechterhalten, so darf man die Selbständigkeit des dritten Lagers nicht<br />
zulassen, muß man die ganze Opposition in der und nur in der Position<br />
halten, die durch die Formel für oder gegen die Verfassung ausgedrückt<br />
wird.<br />
Diese Formel drückt eine aussdhließlidb konstitutionelle Position aus. Sie<br />
sprengt nidht den Rahmen konstitutioneller Reformen. Das Wesen dieser<br />
Formel brachte Herr Gredeskul - der versehentlich ins Schwatzen geriet -<br />
ausgezeichnet und richtig in den Erklärungen zum Ausdruck, die die<br />
„Retsch" ohne jeden Vorbehalt wiedergab und die die „Prawda" vor kurzem<br />
zitiert hat.*<br />
Das Wesen dieser Formel ist ganz und gar „wechistisch", denn mehr<br />
brauchen die „Wechi" ja auch nicht, etwas anderes haben sie eigentlich<br />
auch nicht gepredigt. Die „Wechi" sind keineswegs gegen die Verfassung,<br />
gegen konstitutionelle Reformen. Sie sind „nur" gegen die Demokratie<br />
mit ihrer Kritik an konstitutionellen Illusionen jeglicher Art.<br />
Der russische Liberalismus erwies sich als genügend „gewiegter" Politikaster,<br />
um sich „demokratisch" zn nennen und so die Demokratie zu bekämpfen<br />
und ihre Selbständigkeit zu unterdrücken. Das ist die übliche<br />
und normale Handlungsweise jeder liberalen Bourgeoisie in allen kapitalistischen<br />
Ländern: mit dem Aushängeschild des Demokratismus die<br />
Massen täuschen, um ihnen die wirklich demokratische Theorie und die<br />
wirklich demokratische Praxis abzugewöhnen.<br />
Die Erfahrungen aller Länder, darunter auch Rußlands, haben unwider-<br />
• Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 243/244. Die <strong>Red</strong>.
Lektion über die „Xadettenfresserei" 285<br />
legbar gezeigt, daß nur eine solche Praxis eine wirkliche Vorwärtsbewegung<br />
zustande bringen kann, während der Liberalismus durch seine Furcht<br />
vor der Demokratie, durch seine wediistisch-Gredeskulschen Theorien<br />
unvermeidlich zur Ohnmacht verurteilt ist: zur Ohnmacht des russischen<br />
Liberalismus in den Jahren <strong>18</strong>61-1904, des deutschen Liberalismus in den<br />
Jahren <strong>18</strong>49-1912.<br />
Das dritte Lager, das Lager der Demokratie, die die Beschränktheit<br />
des Liberalismus begreift und frei ist von seiner Unentschlossenheit und<br />
Kraftlosigkeit, von seinen Schwankungen und seinem ängstlichen Zurückblicken,<br />
dieses Lager kann nicht Gestalt annehmen, kann nicht bestehen<br />
ohne systematische, unablässige, tagtägliche Kritik am Liberalismus.<br />
Schimpft man diese Kritik verächtlich oder feindselig „Kadettenfresserei",<br />
so vertritt man damit bewußt oder unbewußt gerade liberale Auffassungen.<br />
Denn in Wirklichkeit ist die ganze Kritik am Kadettismus an<br />
siö), allein schon durch die Fragestellung, Kritik an der Reaktion, Kritik an<br />
den Rechten. Unsere Polemik gegen die Liberalen, sagte die „Newskaja<br />
Swesda" (Nr. 12)* völlig richtig, „geht mehr in die 7ieje, ist inhaltsreicher<br />
als der Kampf gegen die Rechten" .*•<br />
In Wirklichkeit kommt auf hundert liberale Zeitungen in Rußland<br />
kaum eine marxistische, so daß es einfach lächerlich ist, von einer „Übertreibung"<br />
unserer Kritik an den Kadetten za sprechen. Wir tun noch<br />
nicht einmal den hundertsten Teil dessen, was nötig wäre, damit die in<br />
der Gesellschaft und im Volke herrschende „allgemein oppositionelle"<br />
Stimmung von einer antiliberalen, definitiv und bewußt demokratischen<br />
Stimmung abgelöst wird.<br />
* Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 114-116. "Die<strong>Red</strong>.<br />
** Die „Retsch" erwidert darauf: Wenn dem so ist, warum zitieren dann<br />
die Rechten wohlwollend die „Prawda" gegen die „Retsch"? Die „Retsch"<br />
begeht hier eine Fälschung: Gäben die Rechten der „Prawda" mehr Freiheit<br />
als der „Retsch", so wäre das ein ernstes Argument gegen die Sozialdemokraten.<br />
Aber jedermann weiß, daß sich die Sache gerade umgekehrt verhält. Freiheit<br />
hat unsere Presse hundertmal weniger als die „Retsch", Stabilität tausendmal<br />
weniger, „konstitutionellen" Schutz zehntausendmal weniger. Jeder, der lesen<br />
kann, begreift, daß die „Rossija" und das „Nowoje Wremja" die „Retsch"<br />
mit der „Prawda" reizen wollen, wobei sie die „Prawda" unterdrücken und die<br />
„Retsch" ankläffen und beschimpfen. Das aber sind „zwei ganz verschiedene<br />
Dinge".
286 W. 7. <strong>Lenin</strong><br />
Ohne eine solche „Ablösung" hat es in Rußland nichts Vernünftiges und<br />
Brauchbares gegeben und kann es nichts Vernünftiges und Brauchbares<br />
geben.<br />
Wenn man uns der „Kadettenfresserei" beschuldigt oder geringschätzig<br />
über „Kadettenfresserei" spottet, so ist das nichts anderes als eine facpn<br />
de parier*, eine bestimmte Art und Weise, liberale Auffassungen zu vertreten,<br />
und zwar, wenn man vor Arbeitern oder über die Arbeiter spricht,<br />
eben Auffassungen der liberalen Arbeiterpolitik.<br />
Vom Standpunkt eines einigermaßen konsequenten und durchdachten<br />
Liquidatorentums sind die Beschuldigungen der „Kadettenfresserei" begreiflich<br />
und notwendig. Sie bringen gerade das Wesen des Liquidatorentums<br />
zum Ausdruck.<br />
Man werfe einen Blick auf die Auffassungen der Liquidatoren in ihrer<br />
Gesamtheit, auf die innere Logik dieser Auffassungen, auf ihren Zusammenhang<br />
und die wechselseitige Abhängigkeit der einzelnen Thesen:<br />
„Koalitionsfreiheit", das ist eine konstitutionelle Reform; zu den wirtschaftlichen<br />
Streiks kommt die „politische Belebung" hinzu, weiter nichts;<br />
eine weitreichende Wahlplattfonn wird für „Verrücktheit" erklärt; als<br />
Aufgabe wird der Kampf für die legale Existenz der Partei - d. h. wiederum<br />
als konstitutionelle Reform - formuliert; die Macht in Rußknd<br />
wird für sdbon bürgerlich erklärt (Larin), die Handels- und Industriebourgeoisie<br />
wird zur bereits herrschenden Klasse erklärt; den Arbeitern<br />
wird gesagt, daß es „genüge", bei dem Widerspruch zwischen Absolutismus<br />
und Konstitutionalismus anzusetzen (Martow).<br />
Im ganzen ist das eben Reformismus, ist dar eben das System der Auffassungen<br />
der liberalen Arbeiterpolitik. Die Sache ändert sich keineswegs<br />
dadurch, daß Hans oder Peter, wenn sie diese Auffassungen verfechten<br />
(in diesem oder jenem ihrer Teile — denn das Liquidatorentum befindet<br />
sich im „Prozeß des Wachstums der immer größer werdenden Aufgaben"),<br />
sich selbst für Marxisten halten.<br />
Es geht nicht um ihre guten Vorsätze (wer solche hat), sondern um die<br />
objektive Bedeutung ihrer Politik, d.h. darum, was sich aus ihr ergibt,<br />
cui prodest, wem sie nützt, welche Mühle in Wirklichkeit von diesem Wasser<br />
getrieben wird.<br />
Das ist die Verteidigung der Arbeiterinteressen auf einer Qrundlage,<br />
* Ausdrucksweise. "Die "<strong>Red</strong>.
Lektion über die „Xadettenfresserei" 287<br />
die durch den „Kampf" (oder den Zank?) der Liberalen mit den Rechten<br />
entsteht, nicht aber ein Kampf um die demokratische, antiliberale Qrundlage<br />
zur Entmachtung der Rechten. Die Liquidatoren sind Anhänger der<br />
Arbeiter, das steht außer Zweifel. Aber sie verstehen die Interessen der<br />
Arbeiter so, daß sie diese Interessen im Rahmen des Rußlands vertreten,<br />
das aufzubauen die Liberalen versprechen, nicht aber des Rußlands, das<br />
die "Demokraten entgegen den Liberalen gestern bauten und morgen<br />
bauen werden (in unsichtbarer Weise auch heute bauen).<br />
Das ist der Kern der ganzen Frage. Das neue Rußland ist noch nicht da.<br />
Es ist noch nicht errichtet. Sollen sich die Arbeiter ein „Klassen"- (in<br />
Wirklichkeit zünftlerisches) Nestchen in dem Rußland, in einem solchen<br />
Rußland bauen, das die Miljukow und die Purischkewitsch errichten, oder<br />
sollen die Arbeiter selbst, auf eigene Art, ein neues Rußland ganz ohne die<br />
Purisdikewitsch und entgegen den Miljukow errichten?<br />
Dieses neue Rußland wird auf jeden Fall bürgerlich sein, aber zwischen<br />
der bürgerlichen (Agrar- und Nicht-Agrar-) Politik Stolypins und der<br />
bürgerlichen Politik Sun Yat-sens besteht ein beträchtlicher Unterschied.<br />
Das ganze Wesen der gegenwärtigen Epoche in Rußland besteht in der<br />
Bestimmung des Umfangs dieses Unterschieds.<br />
„Entgegen den Miljukow", sagten wir. Dieses „entgegen" ist eben die<br />
„Kadettenfresserei". Deshalb bleiben wir prinzipiell „Kadettenfresser",<br />
werden wir es bleiben, ohne uns vor Worten zu fürchten, ohne auch nur<br />
eine Minute lang die besonderen Aufgaben der Arbeiterklasse sowohl<br />
gegenüber Miljukow als auch gegenüber den Sun Yat-sen zu vergessen.<br />
Die Beschuldigung der „Kadettenfresserei" bringt lediglich den (ganz<br />
gleich ob bewußten oder unbewußten) Wunsch zum Ausdruck, daß die<br />
Arbeiter bei der Errichtung eines neuen Rußlands hinter den Miljukow<br />
einhertrotten, nicht aber entgegen den Miljukow an der Spitze unserer<br />
kleinen Sun Yat-sen marschieren mögen...<br />
Wir müssen noch einige Worte über den zweiten Umstand sagen, den<br />
die von „Kadettenfresserei" Sprechenden unbeachtet lassen.<br />
Man sagt: Warum seine Auffassungen nicht positiv entwickeln? Wozu<br />
die übertriebene Polemik? Wer so spricht, denkt gleichsam folgendermaßen:<br />
Wir sind nicht gegen eine besondere, von der kadettischen völlig<br />
verschiedene Linie, wir sind nicht gegen die drei Lager, wir sind nur gegen
288 IV. 3. <strong>Lenin</strong><br />
die „Ersetzung der Politik durch die Polemik", um ein treffendes Wort<br />
eines Freundes der Liquidatoren zu gebrauchen.<br />
Denen, die so reden, zu antworten ist nicht schwer: Erstens kann man<br />
neue Auffassungen nicht anders als polemisch entwickeln (die marxistischen<br />
Auffassungen aber sind im Vergleich zu den liberalen neu sowohl<br />
in bezug auf die Zeit ihrer Entstehung als auch nach dem Ausmaß ihrer<br />
Verbreitung). Zweitens ist die Arena, in der die „Newskaja Swesda" und<br />
die „Prawda" wirken, die Arena der ausschließlich theoretischen marxistischen<br />
Propaganda. Irrig wäre die Annahme, diese Arena sei irgend etwas<br />
mehr: sie ist nur das theoretische „Abc..", das Alphabet, der theoretische<br />
Anfang, der Wegweiser für die Arbeit, aber noch nicht die Arbeit<br />
selbst.<br />
Die Marxisten sind kraft „höherer Gewalt" nicht in der Lage, in der<br />
genannten Arena ihre praktischen Schlußfolgerungen in „positiver" Form<br />
darzulegen. Die Bedeutung dieser Arena zu übertreiben, wäre daher ein<br />
Ucfuidatorisdber Fehler. Das Höchste-, was hier möglich ist, das ist die Angabe<br />
der Richtung, und dabei nur in der Form der Kritik an den Kadetten.<br />
Das „Nowoje Wremja" and die „Semschtschina" 75 wollen die Kadetten<br />
reizen und stellen die Sache so dar, als würden sie, die Kadetten, gefressen,<br />
und weiter nichts. Die „Retsch" gibt sich, aus sehr begreiflichen Gründen,<br />
den Anschein, als erkenne sie eine solche „Auslegung" an. Die Korobka<br />
und Kuskowa, die einen auf Grund äußersten Stumpfsinns, die anderen<br />
auf Grund äußerster „Kadettenliebedienerei", tun ebenfalls so.<br />
Jeder politisch Kundige sieht jedoch ganz klar, daß die marxistische<br />
„Kadettenfresserei" entschieden in jedem Punkt der Kritik an den Kadetten<br />
in die Richtung einer anderen „Opposition" weist, wenn mir der<br />
Gebrauch dieses unpassenden Wortes erlaubt ist.<br />
Wenn der Marxist den Kadetten „frißt" wegen der „frommen" <strong>Red</strong>en<br />
Karaulows, dann ist der Marxist nicht imstande, seinen positiven Standpunkt<br />
zu entwickeln. Aber jeder des Lesens und Schreibens Kundige versteht:<br />
Die Demokratie kann nicht Demokratie sein, wenn sie fromm ist.<br />
Wenn der Marxist den Kadetten „frißt" wegen der <strong>Red</strong>en Gredeskuls,<br />
dann ist der Marxist nicht imstande, seinen positiven Standpunkt zu entwickeln.<br />
Aber jeder des Lesens und Schreibens Kundige versteht: Die<br />
Demokratie kann nicht Demokratie sein, wenn sie die Ansichten Gredeskuls<br />
teilt.
Lektion über die „Xadettenjresserei" 289<br />
Wenn der Marxist... aber wir würden überhaupt kein Ende finden,<br />
wenn wir auf diese Weise alle Fragen und Punkte unserer „Kadettenfresserei"<br />
durchnehmen wollten. Es genügen auch zwei Beispiele, um unsere<br />
These in bezug auf den zweiten Umstand ganz klar darzulegen: Dfe<br />
"Beschuldigung der Kadettenfresserei ist eine Ausdrucks] orm jenes spießbürgerlichen,<br />
schädlichen, schlimmen Vorurteils, die bekannte Arena sei<br />
eine hinlängliche Arena.<br />
Wir werden unter anderem gerade deshalb „Kadettenfresser" bleiben,<br />
um dieses schädliche Vorurteil zu bekämpfen.<br />
„Newskaja Swesda" Nr. 23, THadb dem 7ext der<br />
26. August i9i2. „Newskaja Swesda".<br />
Unterschrift :X.S-i.
290<br />
DIE ARBEITER UND DIE „PRAWDA"<br />
Die „Prawda" hat bereits einige Ergebnisse der Arbeit eines halben<br />
Jahres untersucht.<br />
Diese Ergebnisse haben vor allem und in erster Linie gezeigt: Nur die<br />
Anstrengungen der Arbeiter selbst, nur der gewaltige Aufsdivrang ihres<br />
Enthusiasmus, ihrer Entschlossenheit und Beharrlichkeit im Kampf konnten<br />
die Petersburger Arbeiterzeitung „Prawda" hervorbringen, und zwar<br />
nur nach der AprÜ-Mai-Bewegung.<br />
In ihrer Untersuchung hat sich die „Prawda" zunächst auf Angaben<br />
über Beiträge von Arbeitergruppen für die Arbeitertageszeitung beschränkt.<br />
Diese Angaben offenbaren uns nur einen geringen 7eü der<br />
Unterstützung durch die Arbeiter, sie lassen nicht unmittelbar die viel<br />
wertvollere und viel schwierigere Unterstützung erkennen: die moralische<br />
Unterstützung, die Unterstützung durch persönliche Mitwirkung,<br />
die Unterstützung der Richtung der Zeitung, die Unterstützung durch<br />
Materialien, durch Diskussion, durch Verbreitung usw.<br />
Aber auch die begrenzten Angaben, die der „Prawda" zur Verfügung<br />
standen, zeigten eine sehr eindrucksvolle Anzahl von Arbeitergruppen, die<br />
mit ihr direkt Verbindung aufgenommen haben. Werfen wir einen Blick<br />
auf die allgemeinen Ergebnisse:<br />
Zahl der Beiträge von Arbeitergruppen für die „Prawda"<br />
Im Januar 1912 14<br />
„ Februar 1912 <strong>18</strong><br />
„ März 1912 76<br />
„ April 1912 227<br />
„ Mai 1912 135<br />
„ Juni 1912 34<br />
„ Juli 1912 26<br />
„ August (bis zum 19. Aug.) 1912 21<br />
Insgesamt 551
Die Arbeiter und die .Prawda" 291<br />
Also haben insgesamt fünjhunderteinundjünizig Arbeitergruppen die<br />
„Prawda" durch ihre Beiträge unterstützt.<br />
Es wäre interessant, die Ergebnisse einer ganzen Reihe anderer Sammlungen<br />
und Beiträge der Arbeiter festzustellen. In der „Prawda" haben<br />
wir ständig Berichte über Spenden zur Unterstützung dieses oder jenes<br />
Streiks gelesen. Wir haben Berichte gelesen über Sammlungen für die<br />
„Verfolgten", für die „Lena-Opfer", für einzelne „Prawda"-<strong>Red</strong>akteure,<br />
über Sammlungen für die Wahlkampagne, zur Unterstützung der von<br />
der Hungersnot Betroffenen usw. usf.<br />
Angesichts der Mannigfaltigkeit dieser Sammlungen ist es hier weitaus<br />
schwieriger, die Ergebnisse festzustellen, und wir können noch nicht sagen,<br />
ob eine statistische Berechnung ein befriedigendes Bild zu vermitteln vermag.<br />
Aber auf jeden Fall ist es offensichtlich, daß diese mannigfaltigen<br />
Sammlungen einen sehr bedeutenden Teil des Arbeiterlebens ausmachen.<br />
Wenn die Leser der „Prawda" die Berichte über die Arbeitersammlungen<br />
in Verbindung mit den Briefen von Arbeitern und Angestellten aus<br />
allen Ecken und Enden Rußlands durchsehen, dann erhalten sie, die auf<br />
Grund der schweren äußeren Lebensbedingungen in Rußland größtenteils<br />
voneinander getrennt und isoliert sind, eine gewisse Vorstellung davon,<br />
wie die Proletarier dieses oder jenes Berufes, dieser oder jener Gegend<br />
kämpfen, wie sie darangehen, die Interessen der Arbeiterdemokratie zu<br />
verteidigen.<br />
Die Chronik des Arbeiterlebens in der „Prawda" beginnt sich erst zu<br />
entwickeln und festen Fuß zu fassen. Von nun an wird die Arbeiterzeitung<br />
zweifellos neben Mitteilungen über Mißstände in den Fabriken, über das<br />
Erwachen einer neuen proletarischen Schicht, über Sammlungen für diesen<br />
oder jenen Zweig der Arbeitersache auch Mitteilungen über die Ansichten<br />
und Stimmungen der Arbeiter, über die Wahlkampagne, über die<br />
Wahl von Arbeiterbevollmächtigten, über das, was die Arbeiter lesen, was<br />
sie besonders interessiert usw., erhalten.<br />
Die Arbeiterzeitung ist eine Tribüne der Arbeiter. Vor ganz Rußland<br />
muß hier Frage für Frage des Arbeiterlebens im allgemeinen und der<br />
Arbeiterdemokratie im besondern aufgeworfen werden. Die Arbeiter von<br />
Petersburg haben den Anfang gemacht. Ihrer Energie verdankt das Proletariat<br />
Rußlands die erste Arbeitertageszeitung nach den schweren, bösen<br />
Jahren. Laßt tms ihr Werk fortsetzen, indem wir die Arbeiterzeitung der
292 IV. 1. <strong>Lenin</strong><br />
Hauptstadt einträchtig unterstützen und entwickeln - diese erste Schwalbe<br />
jenes Frühlings, da sich ganz Rußland mit einem Netz von Arbeiterorganisationen,<br />
die über Arbeiterzeitungen verfügen, überziehen wird.<br />
Dieses Rußland zu errichten, stebt uns Arbeitern noch bevor! und wir<br />
werden es erridoten.<br />
.Trawda" TJr. 103, Nadb dem 7ext der „Vrawda".<br />
29. August 1912.<br />
Unterschrift: St
EINST UND JETZT<br />
293<br />
Vor achtzehn Jahren, im Jahre <strong>18</strong>94, war die Arbeiterbewegung in<br />
Petersburg in ihrer neuesten, die Massen ergreifenden und von der marxistischen<br />
Lehre erhellten Form gerade eben erst im Entstehen begriffen.<br />
Die siebziger Jahre hatten nur eine ganz winzige Oberschicht der Arbeiterklasse<br />
erfaßt. Ihre Vorkämpfer erwiesen sich schon damals als große<br />
Persönlichkeiten der Arbeiterdemokratie, aber die Masse schlief noch.<br />
Erst zu Anfang der neunziger Jahre begann ihr Erwachen und setzte zugleich<br />
eine neue und ruhmvollere Periode in der Geschichte der gesamten<br />
russischen Demokratie ein.<br />
Leider müssen wir uns hier, in unserer kleinen Parallele, auf nur eine<br />
Seite, eine der Erscheinungsformen der Arbeiterbewegung beschränken:<br />
auf den wirtschaftlichen Kampf und die wirtschaftlichen „Enthüllungen".<br />
Damals, im Jahre <strong>18</strong>94, erörterten ganz wenige Zirkel fortgeschrittener<br />
Arbeiter eifrig, wie man Enthüllungen aus dem Fabrikleben organisieren<br />
könne. Ein gewichtiges Wort, von den Arbeitern selber an ihre Kollegen<br />
gerichtet, das aufgezeigt hätte, in welch unerhörter Weise das Kapital seine<br />
Macht mißbraucht, war damals eine große Seltenheit. An die Möglichkeit,<br />
über solche Dinge offen zu sprechen, war nicht einmal zu denken.<br />
Aber ungeachtet aller Schwierigkeiten und trotz aller Hemmnisse drangen<br />
die für die Arbeiter bestimmten Enthüllungen aus dem Fabrikleben in<br />
die erwachende Arbeitennasse. Der Streikkampf nahm zu, unaufhaltsam<br />
entwickelte sich die Verbindung zwischen dem wirtschaftlichen Kampf der<br />
Arbeiterklasse und den anderen, höheren Kampfformen. Die Vorhut der<br />
Demokratie Rußlands war im Erwachen begriffen - und zehn Jahre später<br />
zeigte sie ihre ganze Größe. Nur dieser Kraft verdankt Rußland, daß die<br />
alte Hülle gesprengt wurde.
294 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />
Für den, der sich an die ersten Enthüllungen aus dem Fabrikleben erinnert,<br />
mit denen sich die fortgeschrittensten Petersburger Arbeiter im<br />
Jahre <strong>18</strong>94 an die Massen wandten, ist es höchst interessant und lehrreich,<br />
sie mit denen der „Prawda" zu vergleichen. Dieser kleine Vergleich, angestellt<br />
in bezug auf eine der Erscheinungsformen des Arbeiterkampfes,;<br />
zeigt anschaulich, wie sehr sein ganzes Ausmaß, seine Breite, Tiefe, Stärke<br />
usw. zugenommen haben.<br />
Damals - ganze fünf, sechs Enthüllungen aus dem Fabrikleben, die von<br />
den Arbeitern heimlich in einigen Dutzend Flugblättern verbreitet wurden.<br />
Heute - Zehntausende von Exemplaren der täglich erscheinenden<br />
„Prawda", die immer mehrere Enthüllungen aus den verschiedensten<br />
Berufszweigen bringt.<br />
Damals - ganze fünf, sechs sogenannte „Zirkel", die, natürlich im geheimen,<br />
unter Mitwirkung des einen oder anderen marxistischen Intellektuellen<br />
über die Zustände in der Fabrik diskutierten und festlegten, was<br />
„publiziert" werden sollte.<br />
Heute - Hunderte und Tausende spontan entstehender Arbeitergruppen,<br />
die über ihre brennenden Nöte diskutieren und ihre Briefe, ihre Enthüllungen,<br />
ihre Aufrufe zum Widerstand und zur Vereinigung selbständig<br />
der „Prawda" zuleiten.<br />
Nur achtzehn Jahre - und vom ersten Lichtschimmer, von den ersten<br />
schüchternen Anfängen haben die Arbeiter den Schritt zu einer "Massenbewegung<br />
in der exaktesten Bedeutung dieses Wortes getan.<br />
Leider müssen wir uns aussdhließiöb auf die Parallelen der Enthüllungen<br />
aus dem Fabrikleben beschränken. Aber auch sie zeigen uns, wie groß<br />
der zurückgelegte Weg ist und wohin er führt.<br />
Achtzehn Jahre sind ein kurzer Zeitraum in der Geschichte einer ganzen<br />
Klasse, die die große welthistorische Aufgabe hat, die Menschheit zu<br />
befreien.<br />
Ein großes Stück dieses Weges ist im Dunkeln zurückgelegt worden.<br />
Jetzt ist die Richtung klar. - Kühner und einmütiger vorwärts!<br />
„Trawda" Nr. 104, Nadb dem 7ext der „Vrawda".<br />
30. August i9i2.
DER INTERNATIONALE RICHTERTAG<br />
295<br />
In Wien tagt gegenwärtig der erste internationale Richtertag sowie der<br />
31. Deutsche Juristentag.<br />
In den <strong>Red</strong>en der würdevollen Delegierten herrscht ein überaus reaktionärer<br />
Geist vor. Die Herren bürgerlichen Juristen und Richter proklamierten<br />
den Feldzug gegen die Teilnahme des Volkes an der Rechtsprechung.<br />
Zwei Hauptformen einer solchen Teilnahme sind in den modernen<br />
Staaten gebräuchlich: 1. das Geschworenengericht, bei dem die Geschworenen<br />
nur die Schuldfrage entscheiden; die Kronrichter allein setzen das<br />
Urteil fest und leiten den Prozeß; 2. das Schöffengericht, bei dem die<br />
Schöffen ähnlich unseren „Ständevertretern" auf gleicher Grundlage wie<br />
die Kronrichter an der Entscheidung aller Fragen teilnehmen.<br />
Und die „aufgeklärten" Richter der konstitutionellen Staaten halten<br />
donnernde <strong>Red</strong>en gegen jegliche Teilnahme von Volksvertretern an der<br />
Rechtsprechung. Einer der Delegierten, Eisner, wetterte gegen das Geschworenen-<br />
und Schöffengericht, das angeblich zur „Gesetzesanarchie"<br />
führe, und verfocht statt dessen die tlnabsetzbarkeit der Richter.<br />
Wir bemerken dazu, daß hier eine liberale Forderung an die Stelle<br />
einer demokratischen gesetzt wird, um das völlige Abgehen vom Demokratismus<br />
zu tarnen. Die Teilnahme von Volksvertretern am Gericht ist<br />
zweifellos ein demokratisches Prinzip. Die konsequente Anwendung dieses<br />
Prinzips besteht erstens darin, daß es für die Wahl der Geschworenen<br />
keinen Zensus gibt, d. h. keine Einschränkung des Wahlrechts durch eine<br />
Bildungsklausel, Eigentumsklausel, Ansässigkeitsklausel usw.<br />
Unter den Geschworenen ist gegenwärtig, infolge des Ausschlusses der
296 ü>. 1 <strong>Lenin</strong><br />
Arbeiter, das reaktionäre Spießbürgertum ganz besonders stark vertreten.<br />
Die Arznei gegen dieses Übel muß in der Entwicklung des Demokratismus<br />
bis zu seiner konsequenten und uneingeschränkten Form bestehen, keineswegs<br />
aber in niederträchtiger Lossagung vom Demokratismus. Bekanntlich<br />
wird in allen zivilisierten Ländern als zweite Vorbedingung für einen konsequenten<br />
Demokratismus in der Gerichtsverfassung die Wählbarkeit der<br />
Richter durch das Volk angesehen.<br />
Die Unabsetzbarkeit der Richter aber, von der die liberalen Bourgeois<br />
im allgemeinen und unsere russischen im besonderen so viel Aufhebens<br />
machen, ist nur eine Aufteilung der Privilegien des Mittelalters zwischen<br />
den Purischkewitsch und den Miljukow, zwischen den Fronherren und der<br />
Bourgeoisie. In Wrfeltdbfeett kann man die Unabsetzbarkeit in vollem Umfang<br />
nicht durchführen, und es ist überhaupt unsinnig, sie in bezug auf<br />
untaugliche, unzuverlässige und schlechte Richter zu verteidigen. Im Mittelalter<br />
lag die Einsetzung der Richter ausschließlich in den Händen der Feudalherren<br />
und des Absolutismus. Die Bourgeoisie, die jetzt breiten Zugang<br />
zu den Kreisen der Richter erhalten hat, verteidigt sidh gegen die<br />
Feudalherren mit Hilfe des „Prinzips der Unabsetzbarkeit" (denn die ernannten<br />
Richter werden, da die meisten „gebildeten Richter" zur Bourgeoisie<br />
gehören, in ihrer Mehrheit unvermeidlich aus der Bourgeoisie<br />
stammen). Die Bourgeoisie, die sich so gegen die Feudalherren verteidigt,<br />
schützt sich gleichzeitig vor der "Demokratie! wenn sie die Ersetzbarkeit<br />
der Richter verteidigt.<br />
Es ist weiterhin interessant, folgende Stellen aus der <strong>Red</strong>e eines<br />
Dr. Ginsberg, eines Richters aus Dresden, zu vermerken. Er hatte es übernommen,<br />
über die Klassenjustiz zu sprechen, d. h. über die Erscheinungsformen<br />
der Klassenunterdrückung und des Klassenkampfes in der modernen<br />
Rechtsprechung.<br />
„Wer aber glaubt", ruft Dr. Ginsberg aus, „daß durch die Beteiligung der<br />
Laien die Klassenjustiz beseitigt wird, der ist in einem großen Irrtum."<br />
Ganz recht, Herr Richter! Die Demokratie beseitigt den Klassenkampf<br />
überhaupt nicht, sondern macht ihn nur bewußt, frei, offen. Aber das ist<br />
kein Argument gegen die Demokratie. Das ist ein Argument für ihre konsequente<br />
Weiterentwicklung.<br />
„Es existiert gewiß eine Klassenjustiz", fuhr der Richter aus Sachsen fort<br />
(und die sächsischen Richter haben sich in Deutschland durch brutale Urteile
Der internationale Jlidbtertag 297<br />
gegen die Arbeiter traurigen Ruhm erworben), „aber nicht in dem Sinne der<br />
Sozialdemokraten, im Sinne einer Bevorzugung der Reichen zuungunsten der<br />
Armen; vielmehr eine Klassenjustiz nach entgegengesetzter Seite. Ich hatte<br />
einen Schöffen neben mir sitzen, der ein ausgesprochener Sozialdemokrat war,<br />
und der andre war beinahe einer. Ein Streikender hatte einen Streikbrecher<br />
verprügelt" („einen Arbeitswilligen", sagte der sächsische Herr Richter wörtlich),<br />
„an der Gurgel gepackt und ihm zugerufen: .Verfluchte Kanaille, jetzt<br />
haben wir dich!'<br />
Darauf setzt es regelmäßig bei uns 4 bis 6 Wochen Gefängnis, und das ist<br />
nicht zuwenig für eine derartige Roheit. Ich hatte in diesem Fall meine große<br />
Not, eine Freisprechung des Streikenden zu hintertreiben. Der sozialdemokratische<br />
Schöffe sagte mir, ich verstünde die Leute nicht. Ich erwiderte, ich könnte<br />
mich sehr wohl in die Lage des Verprügelten hineindenken ..."<br />
Die deutschen Zeitungen, die den Wortlaut der <strong>Red</strong>e des Richters Ginsberg<br />
bringen, bemerken an dieser Stelle „Heiterkeit". Die Herren Juristen<br />
und Herren Richter haben gelacht. Zugegeben, wenn wir diesen sächsischen<br />
Richter gehört hätten, hätten wir auch aus vollem Halse gelacht<br />
Die Lehre vom Klassenkampf - das ist eine Sache, bei der man noch<br />
versteht, daß es Anstrengungen erfordert, gegen sie auf Gelehrtenart (auf<br />
angebliche Gelehrtenart) zu streiten. Aber man braucht nur die Frage<br />
praktisch zu nehmen, die alltäglichen Erscheinungen des Lebens zu betrachten<br />
und - siehe da! - der wütendste Gegner dieser Lehre kann sich<br />
als ein ebenso begabter Propagandist des Klassenkampfes erweisen wie<br />
der sächsische Herr Richter Ginsberg.<br />
„Prawda" 7Jr. iO4, SVacfc dem Jext der .Prawda".<br />
30. August 1912.<br />
Untersdhrift: 1. W.<br />
10 <strong>Lenin</strong>, Weite, Bd. <strong>18</strong>
298<br />
INDER SCHWEIZ<br />
In der „Prawda" Nr. 63 vom 12. Juli* berichteten wir unseren Lesern<br />
von dem Generalstreik in Zürich am 29. Juni (12. Juli n. St.). Erinnern<br />
wir uns, daß der Streik gegen den Willen der Führer der politischen Organisationen<br />
beschlossen worden war. Die Versammlung der 425 Vertreter<br />
aller Arbeiterorganisationen von Zürich, die sich für den Streik ausgesprochen<br />
hatte, quittierte die Erklärung der Buchdrucker, die gegen den<br />
Streik waren, mit „Pfui V -Rufen.<br />
Jetzt sind in der Presse Materialien erschienen, die diesen Opportunismus<br />
entlarven.<br />
Es stellt sich heraus, daß die politischen Führer der schweizerischen<br />
Arbeiter in ihrem Opportunismus bis zu direktem Verrat an der Partei<br />
gegangen sind. Mit eben diesen scharfen, aber zutreffenden Worten kennzeichnen<br />
die besten Organe der schweizerischen und der deutschen Arbeiterpresse<br />
das Verhalten der Sozialdemokraten im Züricher Magistrat<br />
(Stadtrat). Der Züricher Stadtrat hatte, im Interesse der JQtpitalisten,<br />
Streikposten verboten (woraufhin die Arbeiter beschlossen hatten, mit<br />
einem vierundzwanzigstündigen Generalstreik zu protestieren).<br />
Der Magistrat von Zürich besteht aus neun Mitgliedern, von ihnen sind<br />
vier Sozialdemokraten: Erismann, Pflüger, Vogelsangerund Klöti.<br />
Und jetzt wird bekannt, daß das Streikpostenverbot vom Stadtrat einstimmig<br />
angenommen worden war, daß also Erismann und seine drei<br />
sozialdemokratischen Kollegen dajür gestimmt haben!!! Der Regierungsrat<br />
des Kantons Zürich hatte vom Stadtrat das Verbot von Streikposten<br />
* Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 149-151. Die <strong>Red</strong>.
In der Sdiweiz 299<br />
Überhaupt verlangt, und die vier neunmalweisen Gründlinge*, ich meine<br />
die Züricher Sozialdemokraten, stellten den „Vermittlurujsantrag", die<br />
Streikposten nur in der Umgebung der zwei bestreikten Schlossereien zu<br />
verbieten.<br />
Natürlich war ein solches partielles Streikpostenverbot in der Praxis<br />
gerade das, was die Bourgeoisie gewollt hatte, und der Vorschlag der „Sozialdemokraten"<br />
(?!) wurde von der bürgerlichen Mehrheit des Stadtrats<br />
angenommen!<br />
Mehr noch. Vor kurzem veröffentlichte der Stadtrat von Zürich einen<br />
Bericht über die mit dem Generalstreik in Zusammenhang stehenden Ereignisse.<br />
Die Kapitalisten verfügten, um sich für den Streik zu rächen,<br />
eine dreitägige Aussperrung. Der Stadtrat von Zürich beschloß einstimmig,<br />
also auch mit den Stimmen aller seiner vier sozialdemokratischen Mitglieder,<br />
zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung die Polizeikräfte<br />
durch den Einsatz von Militär zu verstärken.<br />
Aber auch das ist noch nicht alles. Rachedürstend beschloß der bürgerliche<br />
Stadtrat von Zürich die Maßregelung einer Reihe von Angestellten<br />
und Arbeitern städtischer Unternehmungen, die am Streik teilgenommen<br />
hatten. 13 Arbeiter wurden entlassen, gegen 116 Disziplinarstrafen verhängt<br />
(Rückversetzung, Lohnabzug). Diese Beschlüsse faßte der Stadtrat<br />
ebenfalls einstimmig! mit den Stimmen Erismanns und von zwei seiner<br />
Kollegen.<br />
Anders als Verrat an der Partei kann das Verhalten von Erismann und<br />
Co. nicht genannt werden.<br />
Man braucht sich nicht zu wundem, daß die Anarchosyndikalisten in<br />
der Schweiz gewissen Erfolg haben, wenn sie vor den Arbeitern eine sozialistische<br />
Partei kritisieren müssen, die in ihren Reihen solche opportunistischen<br />
Verräter duldet. Der Verrat von Erismann und Co. ist gerade deshalb<br />
von großer internationaler Bedeutung, weil er uns veranschaulicht,<br />
wober und auf welche Weise der Arbeiterbewegung die Gefahr innerer<br />
Zersetzung droht.<br />
Erismann und Co. sind keineswegs gewöhnliche Überläufer in das Lager<br />
des Feindes, sie sind einfach friedliche Spießer, Opportunisten, die sich<br />
an den parlamentarischen „Kleinkram" gewöhnt haben und mit konstf-<br />
• „Der neunmalweise Gründling" - Titel eines Märchens des Satirikers<br />
M. J. Saltykow-Schtschedrin. Der 'übers.
300 W. 1 <strong>Lenin</strong><br />
tutionell-demokratisdien Illusionen belastet sind. Als sich der Klassenkampf<br />
jäh zuspitzte, zerstoben mit einem Schlage die Illusionen von einer<br />
konstitutionellen „Ordnung" und einer „demokratischen Republik", gerieten<br />
unsere Spießer im Amte sozialdemokratischer Magistratsmitglieder<br />
in Verwirrung und glitten in den Sumpf ab.<br />
Die klassenbewußten Arbeiter können an diesem traurigen Beispiel<br />
sehen, wohin die Verbreitung des Opportunismus in der Arbeiterpartei<br />
führen muß.<br />
„Vrawäa" 7}r. 105, Tladi dem Text der „Prawda".<br />
3i. August I9i2.<br />
Unterschrift: P. ?.
DIE GEISTLICHKEIT<br />
UND DIE POLITIK<br />
301<br />
Bekanntlich macht man gegenwärtig verzweifelte Anstrengungen mit<br />
dem Ziel, die gesamte Geistlichkeit für die Wahlen zur IV. Reichsduma zu<br />
mobilisieren und zu einer in sich geschlossenen Kraft der Sdiwarzhunderter<br />
zu organisieren.<br />
Höchst lehrreich ist es zu sehen, daß die gesamte russische Bourgeoisie,<br />
die regierungstreue, oktobristisdie wie auch die oppositionelle, kadettische,<br />
gleichermaßen eifrig und beunruhigt diese Pläne der Regierung entlarvt<br />
und sie verurteilt.<br />
Der russische Kaufmann und der russische liberale (richtiger wohl: liberalisierende)<br />
Gutsbesitzer fürchten eine Stärkung der nicht rechenschaftspflichtigen<br />
Regierung, die die Stimmen folgsamer Geistlicher „sammeln"<br />
möchte. Selbstverständlich steht die Demokratie in diesem Punkt noch viel<br />
entschiedener als der Liberalismus in Opposition (drückt man sich gelinde<br />
und ungenau aus).<br />
Wir haben schon in der „Prawda" darauf hingewiesen, daß die Liberalen<br />
in der Frage der Geistlichkeit einen undemokratischen Standpunkt<br />
einnehmen, daß sie die erzreaktionäre Theorie der „Nichteinmischung"<br />
der Geistlichkeit in die Politik entweder direkt verfechten oder aber sich<br />
mit dieser Theorie abfinden.*<br />
Der Demokrat ist unbedingt gegen die geringste Verfalsdmng des Wahlrechts<br />
und der Wahlen, aber er ist unbedingt für die direkte und offene Einbeziehung<br />
der breitesten Massen der Geistlichkeit jeder Kategorie in die<br />
Politik. Die Nichtteilnahme der Geistlichkeit am politischen Kampf ist eine<br />
äußerst schädliche Heuchelei. In Wirklichkeit hat die Geistlichkeit stets<br />
*~Sfehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 216/217. Die "<strong>Red</strong>.
302 W. 7. <strong>Lenin</strong><br />
versteckt an der Politik teilgenommen, und das Volk wird nur Nutzen davon<br />
haben, -wenn die Geistlichkeit zu einer offenen Politik übergeht.<br />
Von besonderem Interesse in dieser Frage ist der kürzlich in der<br />
„Retsch" erschienene Artikel des altgläubigen Bischofs Michail. Die Ansichten<br />
dieses Schreibers sind sehr naiv: er glaubt zum Beispiel, daß „der<br />
Klerikalismus uns (Rußland) unbekannt" ist, daß vor der Revolution ihre<br />
(der Geistlichkeit) Sache nur auf das Jenseitige gerichtet war usw.<br />
Aufschlußreich ist jedoch, wie dieser sichtlich gut informierte Mann die<br />
Geschehnisse faktisch einschätzt.<br />
„Daß ein Triumph der Wahlen nicht ein Triumph des Klerikalismus sein<br />
wird", schreibt Bischof Michail, „scheint mir unbestreitbar. Die, wenn auch<br />
künstlich, vereinigte, zugleich natürlich wegen dieses willkürlichen Umgangs<br />
mit ihren Stimmen und ihrem Gewissen beleidigte Geistlichkeit wird sich mitten<br />
zwischen zwei Kräfte gestellt sehen ... Und daher die notwendige Wende, die<br />
Krisis, die Rückkehr zu dem natürlichen Bündnis mit dem Volk. Gelänge es der<br />
klerikalen und reaktionären Strömung... zu erstarken und selbständig auszureifen,<br />
so würde es vielleicht auch anders sein. Jetzt, wo die Geistlichkeit,<br />
noch mit den Resten früherer Verwirrung belastet, aus der Ruhe gerissen ist,<br />
wird sie ihren geschichtlichen Weg fortsetzen. Und der Demokratismus der<br />
Geistlichkeit ist die notwendige und letzte Etappe dieses geschichtlichen Weges,<br />
die mit dem Kampf der Geistlichkeit für sich selbst verbunden sein wird."<br />
In Wirklichkeit kann nicht von einer „Rückkehr zu dem natürlichen<br />
Bündnis" die <strong>Red</strong>e sein, wie der Verfasser naiv glaubt, sondern nur von<br />
einer Aufteilung unter die kämpfenden Klassen. Die Klarheit, Breite und<br />
Bewußtheit einer solchen Aufteilung würde von der Einbeziehung der<br />
Geistlichkeit in die Politik sicherlich gewinnen.<br />
Der Umstand aber, daß informierte Beobachter das Vorhandensein, die<br />
Wirksamkeit und die Kraft der „Reste früherer Verwirrung" sogar in<br />
einer solchen sozialen Schicht Rußlands wie der Geistlichkeit zugeben, ist<br />
sehr beachtenswert.<br />
„Vrawda" 7^r. 106, Nadi dem Text der „Trawda".<br />
i. September 1912.<br />
~Untersdbrift:1. W.
NOCH EIN FELDZUG<br />
GEGEN DIE DEMOKRATIE<br />
303<br />
Der unrühmlich bekannte Sammelband „Wechi", der riesigen Erfolg<br />
unter der ganz und gar von Renegatentum erfüllten bürgerlich-liberalen<br />
Gesellschaft gehabt hat, ist im Lager der Demokratie auf ungenügenden<br />
Widerstand gestoßen und nicht genügend gründlich eingeschätzt worden.<br />
Teilweise erklärt sich das daraus, daß die Erfolge der „Wechi" in eine<br />
Zeit fielen, da die „legale" Presse der Demokratie fast völlig unterdrückt<br />
war.<br />
Jetzt tritt Herr Schtschepetew in der „Russkaja Mysl" 76 (August) mit<br />
einer Neuauflage der „Wechiade" an die Öffentlichkeit. Das ist ganz<br />
natürlich bei einem Organ der „Wechi"-Leute, das von dem Anführer der<br />
Renegaten, Herrn P. B. Struve, redigiert wird. Aber ebenso natürlich wird<br />
es sein, wenn die Demokratie, besonders die Arbeiterdemokratie, jetzt<br />
wenigstens etwas von dem aufholt, was sie den „Wechi"-Leuten schuldig<br />
geblieben ist.<br />
I<br />
Herr Schtschepetew wählt für sein Auftreten die Form eines bescheidenen<br />
„Briefes aus Frankreich" - über die Russen in Paris. Aber hinter dieser<br />
bescheidenen Form verbirgt sich in Wirklichkeit eine sehr bestimmte<br />
„Beurteilung" der russischen Revolution von 1905 und der russischen<br />
Demokratie.<br />
„Alle erinnern sich noch", schreibt der „Wechi"-Mann, „dieses beängstigenden"<br />
(sieh einer an! für wen beängstigend, hochverehrter Herr Liberaler?),<br />
„unruhigen und von Anfang bis zu Ende verworrenen Jahres<br />
1905..."<br />
„Unruhig und von Anfang bis zu Ende verworren"! Wieviel Schmutz
304 19.1 <strong>Lenin</strong><br />
und Morast muß in der Seele eines Menschen sein, der es fertigbringt,<br />
solche Worte zu schreiben. Die deutschen Gegner der Revolution von<br />
<strong>18</strong>48 nannten dieses Jahr das „tolle" Jahr. Den gleichen Gedanken oder<br />
richtiger, die gleiche stumpfsinnige, niederträchtige Angst bringt der russische<br />
Kadett von der „Russkaja Mysl" zum Ausdruck.<br />
Wir stellen ihm nur einige wenige, nur die objektivsten und „bescheidensten"<br />
Fakten entgegen. Die Löhne der Arbeiter stiegen in diesem Jahr<br />
wie nie zuvor. Der Pachtzins fiel. Immer mehr Arbeiter - bis zu den<br />
Dienstboten - schlössen sich in allen möglichen Formen und mit bisher<br />
nicht dagewesenem Erfolg zusammen. Millionen billiger Schriften über<br />
politische Themen wurden vom Volk, von der Masse, von der Menge,<br />
von den „unteren" Schichten so begierig gelesen, wie man noch nie zuvor<br />
in Rußland gelesen hatte.<br />
Nekrassow hatte in längst vergangenen Zeiten ausgerufen:<br />
Wann endlich kommt die Zeit,<br />
Wann? (Komme, dn erwünschte, komm!),<br />
Da unser Volk nicht Blücher mehr<br />
Und nicht den albernen Mylord,<br />
Da Gogol und Belinski es<br />
Vom Jahrmarkt heimwärts trägt? 77<br />
Die von einem der alten russischen Demokraten ersehnte „große Zeit"<br />
war gekommen. Die Kaufleute hörten auf, mit Hafer zu handeln, und begannen<br />
einen einträglicheren Handel - den mit der billigen demokratischen<br />
Broschüre. Das demokratische Buch war zu einem Produkt geworden,<br />
das man auf dem Jahrmarkt kaufen konnte. Und die Ideen Belinskis<br />
und Gogols, um derentwillen diese Schriftsteller Nekrassow - wie jedem<br />
anständigen Menschen in Rußland - teuer waren, bestimmten den Inhalt<br />
dieser neuen Jahrmarktsliteratur...<br />
... Welche „Beunruhigung"! rief das sich gebildet dünkende, in Wahrheit<br />
aber dreckige, widerliche, verfettete, selbstzufriedene liberale Schwein,<br />
als es in der Wirklichkeit dieses „Volk" erblickte, wie es ... den Brief Belinskis<br />
an Gogol vom Jahrmarkt heimwärts trägt.<br />
Im Grunde genommen übrigens ist das doch ein „intelligenzlerischer"<br />
Brief, verkündeten die „Wechi" unter dem donnernden Applaus des<br />
„Nowoje-Wremja"-Mannes Rosanow und Antonius' von Wolhynien.<br />
Welch schmähliches Schauspiel! wird der Demokrat aus den Kreisen der
ein 7eldzug gegen die Demokratie 305<br />
besten Volkstümler sagen. Welch lehrreiches Schauspiel! fügen wir hinzu.<br />
Wie ernüchtert es diejenigen, die an die Fragen der Demokratie sentimental<br />
herangingen, wie stählt es alles Lebendige und Starke innerhalb der<br />
Demokratie, indem es schonungslos die faulen, herrschaftlich-Oblomowschen<br />
Illusionen hinwegfegt!<br />
Vom Liberalismus enttäuscht sein ist außerordentlich nützlich für den,<br />
der irgendwann einmal von ihm begeistert war. Und wer sich der älteren<br />
Geschichte des russischen Liberalismus erinnern will, wird schon in der<br />
Stellnng des Liberalen Kawelin zu dem Demokraten Tschemyschewski das<br />
genaue Musterbeispiel für die Stellung der Kadettenjwte» der liberalen<br />
Bourgeois zur russischen demokratischen Massenbewegung sehen. Die<br />
liberale Bourgeoisie in Rußland „hat sich gefunden" oder, richtiger, sie hat<br />
ihren Schwanz gefunden. Sollte es da nicht an der Zeit sein, daß die<br />
Demokratie in Rußland ihren Kopf findet?<br />
Besonders widerlich ist der Anblick, wenn solche Subjekte wie Schtschepetew,<br />
Struve, Gredeskul, Isgojew und die übrige Kadettenkumpanei sich<br />
an die Rockschöße Nekrassows, Schtschedrins usw. hängen. Nekrassow<br />
schwankte aus persönlicher Schwäche zwischen Tschernyschewski und den<br />
Liberalen, aber seine ganzen Sympathien waren bei Tschemyschewski<br />
Nekrassow zeigte aus der gleichen persönlichen Schwäche heraus Anflüge<br />
von liberaler Liebedienerei, er hat seine „Sünden" jedoch bitterlich beweint<br />
und sie ö/fentliefe bereut-.<br />
Nicht Handel trieb ich mit der Leier, doch zuweilen,<br />
Wenn mich bedrohte unerbittliches Geschick,<br />
Kam es wohl vor, daß meine Hand der Leier<br />
Den falsdljen Jon entlockt...<br />
Ein .falscher Jon" - so nannte Nekrassow selbst seine liberal-liebedienerischen<br />
Sünden. Und Schtschedrin verspottete schonungslos die Liberalen,<br />
er brandmarkte sie für immer mit der Formel: „der Niedertracht<br />
angepaßt" 78 .<br />
Wie veraltet ist doch diese Formel, angewandt auf die Schtschepetew,<br />
Gredeskul. und sonstigen* „Wechi"-Leute! Jetzt geht es ganz und gar<br />
* Da wird es wohl Protest geben - Gredeskul wie auch Miljukow und Co.<br />
haben sich mit den „Wechi" gestritten. Gewiß, aber sie sind dabei „Wechi"-<br />
Leute geblieben. Siehe unter anderm Nr. 85 der „Prawda". (Siehe den vorliegenden<br />
<strong>Band</strong>, S. 243/244. Die <strong>Red</strong>)
306 W.J.<strong>Lenin</strong><br />
nicht darum, daß diese Herrschaften sich der Niedertracht anpassen. Woher<br />
auch! Sie haben selbst, auf der Grundlage des Neukantianertums und<br />
anderer modischer „europäischer" Theorien, aus eigener Initiative, auf<br />
eigene Art eine eigene Jheorie der „Niedertracht" begründet.<br />
II<br />
„Das von Anfang bis zu Ende verworrene Jahr 1905", schreibt Herr<br />
Schtschepetew. „Alles vermischte und verwirrte sich in allgemeinem Wirrwarr<br />
und sinnlosem Durcheinander."<br />
Auch zu diesem Punkt können wir nur einige wenige theoretische Einwände<br />
bringen. Wir sind der Meinung, daß man historische Ereignisse<br />
nach den Bewegungen der Massen und der Klassen in ihrer Gesamtheit<br />
beurteilen muß, nicht aber nach den Stimmungen einzelner Personen und<br />
Grüppdien.<br />
Die große Masse der Bevölkerung Rußlands bilden die Bauern und<br />
Arbeiter. Worin könnte man, was diese Masse der Bevölkerung betrifft,<br />
„völlige Verwirrung und sinnloses Durcheinander" erblicken? Ganz im<br />
Gegenteil, die objektiven Tatsachen beweisen unwiderleglich, daß gerade<br />
in den Massen der Bevölkerung eine unerhört breite und erfolgreiche<br />
Orientierung sich durchsetzte, die „Verwirrung und Durcheinander" für<br />
immer beendete.<br />
Bis dahin waren im „einfachen Volk" tatsächlich Elemente patriarchalischer<br />
Geducktheit und Elemente des Demokratismus „in dem allgemeinen<br />
Durcheinander" „verwirrt und vermischt". Davon zeugen solch objektive<br />
Tatsachen wie die, daß es zur Subatowiade und zur „Gaponiade" kommen<br />
konnte.<br />
Gerade das Jahr 1905 machte mit diesem „sinnlosen Durcheinander"<br />
ein für allemal Schluß. In der Geschichte Rußlands gab es noch keine<br />
Epoche, die mit so erschöpfender Klarheit, nicht mit Worten, sondern mit<br />
Taten, die durch jahrhundertelange Stagnation und jahrhundertealte Überreste<br />
der Leibeigenschaft verwirrten Verhältnisse entwirrte-, gab es keine<br />
Epoche, wo so deutlich und „sinnvoll" die Klassen sich voneinander abgrenzten,<br />
die Massen der Bevölkerung ihren Platz fanden, die Theorien<br />
und Programme der „Intelligenz" durch Aktionen der Millionen überprüft<br />
wurden.
Nodb ein Teldzug gegen die Demokratie 307<br />
Wie konnten nun die unbestreitbaren geschichtlichen Tatsachen im<br />
Kopfe eines gebildeten und liberalen Publizisten von der „RusskajaMysl"<br />
eine derart verzerrte Gestalt annehmen? Die Sache ist sehr einfach zu erklären:<br />
Dieser „Wechi"-Mann überträgt seine subjektiven Stimmungen<br />
auf das ganze Volk. Er persönlich und seine ganze Gruppe - die bürgerlich-liberale<br />
Intelligenz - befanden sich zu jener Zeit in einer besonders<br />
„sinnlosen", „von Anfang bis zu Ende verworrenen" Lage. Und von sich<br />
auf andere schließend, überträgt der Liberale seine eigene Unzufriedenheit,<br />
die ganz natürlich aus dieser Verworrenheit und daraus entstanden<br />
ist, daß die ganze Armseligkeit des Liberalismus von den Massen entlarvt<br />
wurde, auf die 7\iassen.<br />
Und in der Tat, war die Lage der Liberalen im Juni 1905 nicht wirklich<br />
sinnlos verworren? oder nach dem 6. August, als sie zum Eintritt in<br />
die Bulyginsche Duma aufriefen, das Volk aber in der Praxis an der Duma<br />
vorbei- und über die Duma hinausging? oder im Oktober 1905, als die<br />
Liberalen „hinterhertrippeln" und den Streik für „glorreich" erklären<br />
mußten, obwohl sie ihn gestern noch bekämpft hatten? oder im November<br />
1905, als die ganze klägliche Ohnmacht des Liberalismus, demonstriert an<br />
einer so markanten Tatsache wie dem Besuch Struves bei Witte, ans Tageslicht<br />
kam?<br />
Wenn der „Wechi"-Mann Schtschepetew einmal das Büchlein des<br />
„Wechi"-Mannes Isgojew über Stolypin lesen wollte, so könnte er feststellen,<br />
wie Isgojew diese „Verworrenheit" in der Lage der „zwischen zwei<br />
Feuern" stehenden Kadetten in der I. und II. Reichsduma zugeben mußte.<br />
Und diese „Verworrenheit" und Ohnmacht des Liberalismus war unvermeidlich,<br />
denn er hatte keine Massenbasis, weder in der Bourgeoisie oben<br />
noch in der Bauernschaft unten.<br />
Die Betrachtungen des Herrn Schtschepetew über die Geschichte der<br />
Revolution in Rußland schließen mit folgender Perle:<br />
„übrigens dauerte dieses ganze Durcheinander sehr kurze Zeit. Die führenden<br />
Kreise machten sich nach und nach von dem geradezu panischen Schrecken<br />
frei, der sie befallen hatte, und nachdem sie zu der einfachen Schlußfolgerung<br />
gekommen waren, daß eine gute Kompanie Soldaten wirkungsvoller sei als das<br />
ganze revolutionäre Gerede zusammengenommen, rüsteten sie ,Strafexpeditionen'<br />
aus und setzten die Schnelljustiz in Gang. Die Resultate übertrafen<br />
alle Erwartungen. In kaum zwei, drei Jahren war die Revolution in einem
308 IV. J. <strong>Lenin</strong><br />
Maße liquidiert and ausgemerzt, daß einige Institutionen der Ochrana stellenweise<br />
gezwungen waren, sie zu inszenieren ..."<br />
Wenn wir die vorangegangenen Betrachtungen des Verfassers wenigstens<br />
mit einigen theoretischen Kommenteren versehen konnten, so fehlt<br />
uns jetzt auch diese Möglichkeit. Wir müssen uns darauf beschränken,<br />
diese ruhmwürdigen Äußerungen fester und höher an den Schandpfahl<br />
zu nageln, auf daß sie länger und weiter sichtbar seien ...<br />
übrigens, wir können den Leser noch fragen: Ist es verwunderlich, daß<br />
der oktobristische „Golos Moskwy" wie auch das niederträchtige nationalistische<br />
„Nowoje Wremja" Sdrtsdiepetew zitierten und sich dabei vor<br />
Begeisterung geradezu überschlugen? In der Tat, wodurch unterscheidet<br />
sich die „historische" Einschätzung der „konstitutionell-demokratischen"<br />
Zeitschrift von der Einschätzung durch die zwei genannten Zeitungen?<br />
III<br />
Den meisten Raum nehmen bei Herrn Sditschepetew Skizzen über das<br />
Emigrantenleben ein. Um etwas diesen Skizzen Analoges zu finden,<br />
müßte man den „Russld Westnik" 79 aus der Zeit Katkows ausgraben und<br />
sich dort die Romane ansehen, in denen hochwohllöbliche Adelsmarschälle,<br />
gutherzige und zufriedene Bauern, unzufriedene Scheusale, Taugenichtse<br />
und Ungeheuer von Revolutionären geschildert werden.<br />
Herr Schtschepetew sah Paris (wenn er es überhaupt sah) mit den Augen<br />
des über die Demokratie erbosten Spießbürgers, der im ersten Erscheinen<br />
von demokratischer .Massenliteratur in Rußland einzig und allein „Beunruhigung"<br />
erblicken konnte.<br />
Bekanntlich sieht jeder im Ausland das, was er sehen will. Oder mit<br />
anderen Worten: Jeder sieht in den neuen Verhältnissen stcfo selbst. Der<br />
Schwarzhunderter sieht im Ausland hervorragende Gutsbesitzer, Generale<br />
und Diplomaten. Der Polizeispitzel sieht dort die edelmütigsten Polizisten.<br />
Der liberale russische Renegat sieht in Paris wohlmeinende Concierges<br />
und „tüchtige"* Krämer,die den russischen Revolutionären beibringen, daß<br />
bei ihnen „humanitäre und altruistische Gefühle schon gar zu sehr die<br />
Belange der Persönlichkeit erdrückt haben, und dies oft zum Schaden des<br />
* S. 139 des Artikels von Herrn Schtschepetew („Russkaja Mysl" 1912,<br />
Nr. 8).
!Afod) ein 7e\dzug gegen die "Demokratie 309<br />
allgemeinen Fortschritts und der kulturellen Entwicklung unseres ganzen<br />
Landes"*.<br />
Eine Lakaienseele interessiert sich natürlich vor allem für den in den<br />
Gesindestuben herrschenden Klatsch und für Skandale. Die ideologischen<br />
Fragen, die in Paris in Referaten und in den in russischer Sprache erscheinenden<br />
Zeitungen behandelt werden, bemerkt der Krämer und der<br />
liebedienernde Concierge selbstverständlich nicht. Wie sollte er auch sehen,<br />
daß in dieser Presse zum Beispiel schon 1908 die gleichen Fragen nach dem<br />
sozialen Charakter des Regimes des 3. Juni, nach den klassenmäßigen<br />
Wurzeln der neuen Strömungen im Demokratismus usw. aufgeworfen<br />
wurden**, die viel später, enger gefaßt, verzerrter (gestutzt) Eingang<br />
in die von einer verstärkten Ochrana „geschützte" Presse gefunden<br />
haben?<br />
Krämer und Lakai sind, wie sehr sich auch Leute mit einer solchen<br />
Seele ein „intellektuelles" Mäntelchen umhängen mögen, nicht imstande,<br />
diese Fragen zu sehen und zu verstehen. Wenn dieser Lakai sich „Publizist"<br />
einer liberalen Zeitschrift nennt, so übergeht dieser „Publizist" die<br />
großen ideologischen Fragen, die nirgendwo anders als in Paris offen und<br />
unumwunden gestellt worden sind, mit völligem Stillschweigen. Dafür<br />
aber wird ein solcher „Publizist" ausführlich über das berichten, worüber<br />
man in den Gesindestuben ausgezeichnet informiert ist.<br />
Er, dieser wohllöbliche Kadett von der Zeitschrift des hochwohllöblichen<br />
Herrn Struve, wird berichten, daß man aus der „Wohnung einer in Paris<br />
sehr bekannten Revolutionärin" „nicht ohne Hilfe der Polizei" eine unglückliche<br />
Prostituierte aus Emigrantenkreisen hinausbefördert hat; daß<br />
„Arbeitslose" auf einem Wohltätigkeitsball wiederum einen Skandal inszeniert<br />
haben,- daß ein Schreiber in einem Herrn Schtschepetew bekannten<br />
.Hause „eine recht beträchtliche Geldsumme im voraus eingesteckt hat<br />
und dann die Arbeit vernachlässigte" - daß die Emigranten „um 12 Uhr<br />
aufstehen, um 2-3 Uhr nachts schlafen gehen, den ganzen Tag Gäste,<br />
Lärm, Streit, Unordnung".<br />
über all dies wird die Lakaienzeitschrift des Kadetten Herrn Struve<br />
ausführlich berichten, mit Illustrationen, genießerisch, mit Würze - um<br />
nichts schlechter als Menschikow und Rosanow vom „Nowoje Wremja".<br />
* S. 153 ebenda.<br />
** Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 15, S. 264-277. Die <strong>Red</strong>.
310 W.J.Cenin<br />
„Geld her, oder ich hau dir in die Schnauze, diese unzweideutig feindselige<br />
Form haben die Beziehungen zwischen den oberen und den unteren Schichten<br />
der Emigration angenommen. Zwar hat diese Formel keine weite Verbreitung<br />
gefunden, und die .extremste Strömung unten* stellt sich dar" (so schreibt der<br />
gebildete Kadett in der Zeitschrift des Herrn Struve!) „alles in allem nur in<br />
ein, zwei Dutzend äußerst zweifelhafter Elemente, die vielleicht sogar von<br />
geschickter Hand von außen gelenkt werden ..."<br />
Verweilen Sie bei diesen Betrachtungen, lieber Leser, und denken Sie<br />
nach über den Unterschied zwischen einem gewöhnlichen Lakaien and<br />
einem als Publizist tätigen Lakaien. Der einfache Lakai ist - natürlich in<br />
der Masse, abgesehen von den bewußten Elementen, die bereits den<br />
Klassenstandpunkt bezogen haben und einen Ausweg aus ihrer Lage als<br />
Lakaien suchen - naiv, ungebildet, häufig primitiv und oft nicht des Lesens<br />
und Schreibens kundig; ihm ist die naive Sucht, alles weiterzuschwätzen,<br />
was ihm am leichtesten eingeht, was ihm am verständlichsten und vertrautesten<br />
ist, zu verzeihen. Der als Publizist tätige Lakai ist ein „gebildeter"<br />
Mensch, der in den besten Salons Aufnahme findet. Er erkennt, daß der<br />
kriminellen Hochstapler in der Emigration verschwindend wenige sind<br />
(„ein, zwei Dutzend" auf Jausende von Emigranten). Er erkennt sogar,<br />
daß diese Hochstapler „vielleicht von gesdhidkter "Hand" - aus einer Teestube<br />
des Bundes des russischen Volkes - „gelenkt werden".<br />
All das erkennt der als Publizist tätige Lakai und handelt „auf gebildete<br />
Art". Oh, er versteht es, Spuren zu verwischen und alles von der besten<br />
Seite zu zeigen! Er ist kein käuflicher Schreiberling der Schwarzhunderter,<br />
keineswegs. Er hat sogar „selbst" darauf hingewiesen, daß vielleidjt<br />
irgend jemand die ein, zwei Dutzend Hochstapler lenkt, aber gleichzeitig<br />
berichtet er über nidbls anderes als eben über diese Hochstapler, diese<br />
Skandale und das Bummeln von Schreibern!<br />
Die Schule des „Nowoje Wremja" ist für die „Publizisten" der „Russkaja<br />
Mysl" nicht umsonst gewesen. Der „Nowoje-Wremja"-Mann Suworin<br />
rühmte sich, niemals Subsidien erhalten zu haben - er habe nur „selbst<br />
vermocht", den richtigen Ton zu finden.<br />
Die „Russkaja Mysl" erhält keine Subsidien - gottbewahre! Nur „vermag<br />
sie selbst" den richtigen Ton zu finden, der den „Nowoje-Wremja"-<br />
Leuten und Gutschkows „Mordskerlen" genehm ist.
SVocfe ein Jeldzug gegen die Demokratie 311<br />
rv<br />
Ja, es gibt viel Schweres in den Emigrantenkreisen. Hier, und nur hier,<br />
wurden in den düsteren Jahren, in den Jahren der Stagnation, die wichtigsten<br />
prinzipiellen Fragen der gesamten russischen Demokratie gestellt.<br />
In diesen Kreisen gibt es mehr Elend und Not als irgendwo anders. Hier<br />
ist der Prozentsatz der Selbstmorde besonders groß, hier ist der Prozentsatz<br />
der Menschen, die nur ein einziges Bündel kranker Nerven sind, unwahrscheinlich,<br />
grauenhaft hoch. Kann es anders sein inmitten solch gepeinigter<br />
Menschen?<br />
Verschiedene Menschen interessieren sich für verschiedene Dinge, wenn<br />
sie in Emigrantenkreise geraten. Die einen interessiert die offene Behandlung<br />
der wichtigsten prinzipiellen Fragen der Politik. Andere interessieren<br />
sich für Berichte über einen Ballskandal, über einen pflichtvergessenen<br />
Schreiber, über die Unzufriedenheit der Conderges und Krämer mit der<br />
Lebensweise der Emigranten... Jedem das Seine.<br />
Und doch, wenn man die ganze Schwere des aufreibenden, verhaßten,<br />
krankhaft nervösen Emigrantenlebens durchmacht, und wenn man dann<br />
an das Leben der Herren Schtschepetew, Struve, Golowin, Isgojew und<br />
Co. denkt, dann kann man nur sagen: Welch unermeßliches Glück, daß<br />
wir nicht zu dieser Gesellschaft der „anständigen Leute" gehören, zu einer<br />
Gesellschaft, wo diese Herrschaften verkehren, wo man ihnen die Hand<br />
reicht!<br />
In dieser „anständigen Gesellschaft" gibt es sicherlich keine Skandale.<br />
Die Prostituierten geraten nicht, fast als wären sie ihresgleichen, in die<br />
Wohnungen dieser Herrschaften. Nein. Sie bleiben in anderen Wohnungen.<br />
Die Arbeitslosen inszenieren keine Skandale auf den Bällen dieser<br />
Gesellschaft. Auf ihren Bällen geht es manierlich zu. Bei ihnen ist das getrennt:<br />
die Prostituierten (aus den Reihen der Arbeitslosen) in der einen<br />
Wohnung, die Bälle in der anderen. Und wenn sie Schreiber engagieren,<br />
so lassen sie niemals eine solche Liederlichkeit zu, daß der Schreiber Geld<br />
im voraus einsteckt und es dann noch wagt, zu bummeln.<br />
Skandale um Geld sind bei ihnen unmöglich. In ihrer Umgebung befinden<br />
sich keine hungrigen, gequälten, zum Selbstmord bereiten Leute<br />
mit zerrütteten Nerven. Wenn aber „die Millionen sich verbrüdern" -
312 19.1. <strong>Lenin</strong><br />
heute mit der „Wissenschaft" in der Person der Herren Stnrve und Co.,<br />
morgen mit dem Abgeordnetenmandat in der Person der Herren Golowin<br />
und Co., übermorgen mit dem Abgeordneten- und Advokatentitel in der<br />
Person der Herren Maklakow und Co. 80 -, was ist daran schon Skandalöses??<br />
Hier ist alles purer Edelmut. Wenn die Schriften der Herren Struve,<br />
Gredeskul, Scbtschepetew und Co. gegen die Demokratie den Rjabuschinski<br />
usw. Vergnügen bereiten, was ist daran Schlimmes? Struve erhält ja<br />
keine Subsidien, er findet „selbst" den richtigen Ton! Niemand kann<br />
sagen, daß die „Russkaja Mysl" eine Mätresse der Herren Rjabuschinski<br />
ist. Niemand kommt auf den Gedanken, das Vergnügen, das den Herren<br />
Rjabuschinski gewisse „Publizisten" bereiten, mit dem Vergnügen zu vergleichen,<br />
das in alten Zeiten die Gutsherren empfanden, wenn ihnen leibeigene<br />
Mädchen die Fußsohlen kitzelten.<br />
In der Tat, was können denn die Herren Struve oder Gredeskul,<br />
Schtschepetew usw. dafür, wenn ihre Schriften und <strong>Red</strong>en, in denen sie<br />
ihre Überzeugungen darstellen, für den über die Revolution erbosten<br />
russischen Kaufmann und Gutsbesitzer eine Art Fußsohlenkitzel sind?<br />
Was ist daran skandalös, daß der frühere Abgeordnete Herr Golowin<br />
sich eine einträgliche Konzession gesichert hat? Er hat ja sein Abgeordnetenmandat<br />
niedergelegt!! Das heißt, als er Abgeordneter war, hatte er<br />
noch keine Konzession, sie wurde erst vorbereitet. Als er aber die Konzession<br />
hatte, war er kein Abgeordneter mehr. Ist es nicht klar, daß die Sache<br />
sauber ist?<br />
Ist es nicht offenkundig, daß nur Verleumder mit Fingern auf Maklakow<br />
zeigen können? Er hat Tagijew doch - wie er selbst in einem Brief in<br />
der „Retsch" erklärte - „im Einklang mit seinen Überzeugungen" verteidigt!<br />
Es steht ohne jeden Zweifel fest, daß eine Pariser Concierge oder<br />
ein Pariser Krämer rein nichts, aber auch absolut gar nichts Anstößiges,<br />
Peinliches, Skandalöses in der Lebensweise und in den Handlungen dieser<br />
ganzen ehrenwerten Kadettengesellschaft finden wird.<br />
Die allgemeinen prinzipiellen Betrachtungen des Herrn Schtschepetew<br />
verdienen vollständig wiedergegeben zu werden:
'Nodh ein JeUzug gegen die Demokratie ' 313<br />
„Bis jetzt haben, besonders in den Kreisen, die an der Revolution teilgenommen<br />
haben, humanitäre und altruistische Gefühle schon gar zu sehr die<br />
Belange der Persönlichkeit erdrückt, und dies oft zum Schaden des allgemeinen<br />
Fortschritts and der kulturellen Entwicklung unseres ganzen Landes. Das<br />
Streben nach .gesellschaftlichem Nutzen' und nach dem ,Wohlergehen des<br />
ganzen Volkes' hat die Menschen gar zu sehr sich selbst, ihre persönlichen Bedürfnisse<br />
und Belange vergessen lassen, so sehr, daß die gesellschaftlichen<br />
Gefühle und Bestrebungen als solche nicht in Gestalt positiver (!!) schöpferischer<br />
und vollauf bewußter Arbeit realisiert werden konnten, sondern verhängnisvoll<br />
zu passiven Formen der Selbstaufopferung führten. Und nicht nur<br />
speziell auf diesem Gebiet, sondern auch in der Sphäre der alltäglichsten Beziehungen<br />
wurden die Belange der Persönlichkeit ständig und auf jede nur<br />
mögliche Art erdrückt, einerseits durch das ,kranke Gewissen', das diesen Drang<br />
nach Heldentaten und Selbstaufopferung häufig zu gigantischen Ausmaßen<br />
anwachsen ließ, anderseits durch ungenügende Achtung vor dem Leben selbst,<br />
die durch unser niedriges Kulturniveau bedingt ist. Und das Ergebnis: ein<br />
ständiger Zwiespalt, das ständige Bewußtsein der Unzulänglichkeit und sogar<br />
.Sündhaftigkeit' des eigenen Lebens, das ständige Bestreben, sich zu opfern,<br />
den Besitzlosen und Elenden Hilfe zu bringen, schließlich ,ins Lager der dem<br />
Tode Geweihten' zu gehen - eine Tatsache, die in unserer Literatur so vollkommene<br />
und so deutliche Widerspiegelung gefunden hat.<br />
Nichts dergleichen findet sich in den Anschauungen und Sitten des französischen<br />
Volkes..."<br />
Das ist... der Kommentar zu den politischen and programmatischen Erklärungen<br />
des Herrn Gredeskul, die die „Retsch" ohne einen einzigen<br />
Vorbehalt abgedruckt hat und an die die „Prawda" (Nr. 85) erinnerte,<br />
als die „Retsch" sie zu vergessen wünschte.<br />
Das ist... die Fortsetzung und Wiederholung der „Wechi". Wieder<br />
und wieder kann und muß man sich am Beispiel dieser Betrachtungen<br />
davon überzeugen, daß die „Wechi" nur scheinbar gegen die „Intelligenz"<br />
kämpfen, daß sie in Wirklichkeit gegen die "Demokratie kämpfen, sich<br />
vollständig von der Demokratie lossagen.<br />
Die Einheit der „Wechi", Gredeskuls und der „Retsch" muß besonders<br />
jetzt, in den Tagen der Wahlen unterstrichen werden, wo die Kadetten<br />
durch ein falsches Spiel mit dem Demokratismus mit aller Kraft versuchen,<br />
alle wirklich wichtigen und grundlegenden prinzipiellen Fragen der<br />
Politik zu vertuschen und zu verwischen. Eine der dringendsten praktischen<br />
Aufgaben der Demokratie ist es, diese Fragen in den Wahlversammlungen<br />
21 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>
314 TV. 3. <strong>Lenin</strong><br />
auf zuwerfen, einem möglichst breiten Publikum Sinn und Bedeutung der<br />
<strong>Red</strong>en der Herren Schtschepetew und aller „Wedii"-Leute zu erklären,<br />
die Heuchelei der „Retsch" und der Miljukow aufzudecken, wenn sie versuchen,<br />
die Verantwortung für die „Russkaja Mysl" von sich abzuwälzen,<br />
obgleich in ihr Mitglieder der Partei der Kadetten schreiben.<br />
Der „Streit" mit den „Wechi"-Leuten, die „Polemik" der Herren<br />
Gredeskul, Miljukow und anderer gegen sie sind nur Täuschungsmanöver,<br />
nur heuchlerische Maskierung der tiefreichenden prinzipiellen Solidarität<br />
der ganzen Kadettenpartei mit den „Wechi". Kann man sich denn in der<br />
Tat um die grundsätzlichen Behauptungen aus dem angeführten Zitat<br />
„streiten" ? Kann man denn mit Menschen, die solche Anschauungen vertreten,<br />
in einer Partei bleiben, ohne die volle Verantwortung für diese<br />
Propaganda des entschiedenen Bruchs mit den elementarsten Prinzipien<br />
jeglicher Demokratie zu tragen?<br />
Die Frage wird von denen verdunkelt, die sich darauf einlassen, sie ä la<br />
„Wechi" zu stellen, indem sie Begriffe wie „Individualismus", „Altruismus"<br />
usw. einander entgegensetzen. Der politische Sinn dieser Phrasen ist<br />
sonnenklar: das ist die Wendung gegen die Demokratie, das ist die Wendung<br />
zum konterrevolutionären Liberalismus.<br />
Es gilt zu begreifen, daß diese Wendung kein Zufall ist, sondern Resultat<br />
der Klassenlage der Bourgeoisie. Es gilt, hieraus die notwendigen politischen<br />
Schlußfolgerungen hinsichtlich einer klaren Abgrenzung der Demokratie<br />
vom Liberalismus zu ziehen. Ohne Erkenntnis dieser Wahrheiten,<br />
ohne ihre weite Verbreitung unter der Masse der Bevölkerung kann von<br />
einem ernsthaften Schritt nach vom nicht die <strong>Red</strong>e sein.<br />
„Newskaja Swesda" JJr. 24 und 25, Naä) dem Jext der<br />
2. und 9. September i9i2. „Newskaja Swesda".<br />
VntersdbriSt:W.J.
EINTRACHT ZWISCHEN DEN KADETTEN<br />
UND DEN LEUTEN VOM „NOWOJE WREMJA"<br />
315<br />
Bei uns ist man allzu häufig geneigt, in der Wahlkampagne einen Kampf<br />
um Mandate, d. h. um Abgeordnetensitze in der Duma, zu sehen.<br />
Für die klassenbewußten Arbeiter ist diese Kampagne vor allem und in<br />
erster Linie ein Kampf um Prinzipien, d. h. um grundlegende Auffassungen,<br />
politische Überzeugungen. Ein solcher Kampf, der vor den Augen der<br />
Massen geführt wird und der die Massen in die Politik einbezieht, bildet<br />
einen der wichtigsten Vorzüge des Repräsentativsystems.<br />
Unsere Kadetten aber weichen, was die von uns aufgeworfenen prinzipiellen<br />
Fragen des Liberalismus und des Demokratismus, der Politik des<br />
„Friedens" und der Politik des Klassenkampfes angeht, einer grundsätzlichen<br />
Polemik aus und fauchen nur nach rechts und nach links wegen<br />
unserer angeblichen „Kadettenfresserei".<br />
Indessen springen die Tatsachen ins Auge, die auf eine rührende prinzipielle<br />
Eintracht zwischen den Kadetten und den Leuten vom „Nowoje<br />
Wremja" bei der Beurteilung erstrangiger Fragen des russischen Lebens<br />
schließen lassen.<br />
Erschienen ist Heft 8 der „Russkaja Mysl". Diese Zeitschrift wird von<br />
dem Kadetten Struve redigiert, und es schreiben für sie die Kadetten<br />
Isgojew, Sewerjanin, Galitsch und viele andere.<br />
Herr A. Schtschepetew bringt hier unter dem Titel „Die Russen in<br />
Paris" ein schmutziges, im Geiste der Schwarzhunderter gehaltenes Pasquill<br />
auf die Revolution und die Revolutionäre. Das „Nowoje Wremja"<br />
nimmt das von der „Russkaja Mysl" angestimmte Lied sofort auf, zitiert<br />
daraus eine ganze Reihe von „Perlen" und ruft außer sich vor Begeisterung:<br />
„Man bedenke nur, daß diese armseligen Menschheitsvertreter (d. h.
316 W.']. <strong>Lenin</strong><br />
die Revolutionäre in der Darstellung der „Russkaja Mysl") „Anspruch auf<br />
die Rolle der Erneuerer des russischen Lebens erheben."<br />
Was wird uns wohl die offiziell-kadettische „Retsdi" sagen? Das „betrifft<br />
nicht" die Wahlen, d. h. den Kampf um die Abgeordnetensitze?<br />
Oder sie sei „nicht verantwortlich" für die „Russkaja Mysl", d. h., die<br />
Partei sei nicht verantwortlich für ihre Mitglieder, die von keiner einzigen<br />
Kadettenkonferenz auch nur ein einziges Mal verurteilt worden sind?<br />
Mag sich die „Retsdi" drehen und wenden, mögen prinzipien- und<br />
charakterlose Leute über unsere „Kadettenfresserei" die Achseln zucken,<br />
wir werden nicht müde werden, den Bürgern Rußlands zu sagen: Befaßt<br />
euch mit den Prinzipien der Kadetten und bleibt nicht schimpflich gleichgültig,<br />
wenn die „konstitutionellen Demokraten" die Demokratie mit<br />
Schmutz bewerfen.<br />
Hier einige wenige, aber sehr plastische und dabei prinzipielle, sich<br />
nicht auf Klatscherei beschränkende, Stellen aus dem Artikel des Schwarzhunderter-Kadetten<br />
Herrn Schtschepetew:<br />
„Bis jetzt haben, besonders in den Kreisen, die an der Revolution teilgenommen<br />
haben, humanitäre" (d.h. menschenfreundliche) „und altruistische"<br />
(uneigennützige, nicht der Sorge ran die eigene Haut entspringende)<br />
„Gefühle schon gar zu sehr die Belange der Persönlichkeit erdrückt,<br />
und dies oft zum Schaden des allgemeinen Fortschritts und der kulturellen<br />
Entwicklung unseres ganzen Landes. Das Streben nach gesellschaftlichem<br />
Nutzen' und nach dem ,Wohlergehen des ganzen Volkes'" (die ironischen<br />
Anführungszeichen stammen von der „Russkaja Mysl") „hat die Menschen<br />
gar zu sehr sich selbst, ihre persönlichen Bedürfnisse und Belange<br />
vergessen lassen... Und das Ergebnis: ein ständiger Zwiespalt, das ständige<br />
Bewußtsein der Unzulänglichkeit und sogar ,Sündhaftigkeif des eigenen<br />
Lebens, das ständige Bestreben, sich zu opfern, den Besitzlosen und<br />
Elenden Wlje zu bringen, schließlich ,ins Lager der dem Tode Geweihten'<br />
zu gehen - eine Tatsache, die in unserer Literatur so vollkommene und so<br />
deutliche Widerspiegelung gefunden hat". („Russkaja Mysl" Nr. 8,<br />
S. 152/153.)<br />
Welche Verachtung verdient eine demokratisch sein wollende Partei,<br />
die in ihren Reihen diese Herrschaften duldet; die die grundlegendsten, elementarsten<br />
Prämissen, Überzeugungen, Prinzipien der ganzen Demokratie<br />
mit Schmutz bewerfen.
Eintradbt zwisdben den Kadetten und den Leuten vom „Nowoje Wremja" 317<br />
Die liberale Bourgeoisie haßt die Demokratie - das bewies der Sammelband<br />
„Wechi", das beweist allmonatlich die „Russkaja Mysl", das haben<br />
die Karaulow und Gredeskul bewiesen.<br />
Die Liberalen selbst errichten eine Trennwand zwischen sich und der<br />
Demokratie.<br />
.Vrawda" "Nr. 109, Tiado dem Jext der .Vrawda".<br />
5. September i912.<br />
r Untersd}rift:1.'W.
3<strong>18</strong><br />
ZU DEM BRIEF VON N. S. POLJANSKI<br />
Der in der vorliegenden Nummer der „Prawda" veröffentlichte Brief<br />
ans dem Dorfe von N. S. Poljanski wirft eine sehr interessante Frage auf.<br />
Es wäre zu wünschen, daß sich die Bauern selbst häufiger zu dieser Frage<br />
äußerten.<br />
Wir unserseits halten es für notwendig, folgendes zu bemerken.<br />
N. S. Poljanski hat durchaus recht, wenn er sagt, daß nur ein „Müßiggänger"<br />
annehmen könne, daß in der Amtsbezirksversammlung nur Narren<br />
säßen. Nur die Bauern selber können entscheiden, welche Form der<br />
Bodennutzung und des Bodenbesitzes in dieser oder jener Gegend geeigneter<br />
ist. Jegliche Einmischung des Gesetzes oder der Verwaltung in die<br />
freie Verfügung der Bauern über den Boden ist ein Oberrest der Leibeigenschaft.<br />
Etwas anderes als Schaden für die Sache, als Erniedrigung<br />
und Beleidigung des Bauern kann bei einer solchen Einmischung nicht herauskommen.<br />
Ein Landarbeiter hat in seinem Brief in Nr. 38 der „Prawda" sehr<br />
schön dargelegt, welch sinnloser Bürokratismus durch eine solche Einr<br />
mischung entsteht.<br />
Untersuchen wir nun, wie die Frage: Einzelhof oder Dorfgemeinde?<br />
von den Millionen und aber Millionen Menschen gesehen werden muß, die<br />
sich ewig mühen und die ewig ausgebeutet werden.<br />
Aufgabe dieser Menschen kann es keineswegs sein, darüber nachzudenken,<br />
was sie wählen sollen.- Einzelhof oder Dorfgemeinde. Sie müssen<br />
darüber nachdenken, wer sie ausbeutet und wie man diese Ausbeutung<br />
mildern und abschaffen kann.<br />
Im Europäischen Rußland zum Beispiel haben 30 000 Großgrund-
Zu dem "Brief von 3V. S. Poljanski 319<br />
besitzer 70 000 000 Desjatinen Land, und ebensoviel Land haben<br />
10000000 arme Bauern. Ob diese Bauern auf Einzelhöfen oder in der<br />
Dorfgemeinde sitzen, ihr elendes Dasein wird sich dadurch um keinen<br />
Deut verändern. Habe ich mit meiner Familie sieben Desjatinen schlechten<br />
Bodens und der Gutsbesitzer nebenan 2000 Desjatinen ausgezeichnete<br />
Ländereien, so wird es, gleich ob auf dem Einzelhof oder in der Dorfgemeinde,<br />
fast so sein wie unter der Leibeigenschaft.<br />
Die Hungernden täuscht man mit der Frage: Einzelhof oder Dorfgemeinde,<br />
Grützepastete oder Kohlpastete. Aber wir essen Melde, leben<br />
auf sumpfigem Boden oder auf Sandboden, und für die Tränke, die Weide<br />
und den Acker leisten wir Frondienste.<br />
Mit Hilfe der Einzelhöfe will man „kleine Gutsbesitzer" schaffen - um<br />
die großen Gutsbesitzer zu schützen. Aber Millionen und aber Millionen<br />
Bauern werden dadurch nur noch mehr Hunger leiden.<br />
In Westeuropa hat sich die Landwirtschaft wirklich rasch und erfolgreich<br />
nur dort entwickelt, wo jegliche Überreste des Leibeigenschaftsjodhs<br />
gänzlich beseitigt waren.<br />
In den wirklich freien Ländern, in denen die Landwirtschaft gute Bedingungen<br />
hat, gibt es nur noch eine Macht, die den Bauern und den<br />
Arbeiter unterdrückt - die Macht des Kapitals. Gegen diese Macht kann<br />
nur eins helfen: das freie Bündnis der Lohnarbeiter und der ruinierten<br />
Bauern. Aus solchen Bündnissen erwächst eine neue gesellschaftliche Ordnung,<br />
in der hochkultivierte Ländereien, kunstvolle Maschinen, Dampf<br />
und Elektrizität dazu dienen werden, das Leben der Werktätigen selbst<br />
zu verbessern, nicht aber eine Handvoll Millionäre zu bereichern.<br />
.Prawda" Nr. ii8, "Naä] dem 7ext der „Prawda".<br />
15. September i9i2.<br />
tlntersd>rift:7r.
320<br />
ÜBER DIE POLITISCHE LINIE<br />
Die „Newskaja Swesda" und die „Prawda" haben zweifellos eine klar<br />
ausgeprägte Physiognomie, die nicht nur den Arbeitern, sondern auch allen<br />
politischen Parteien Rußlands bekannt ist - dank den Angriffen auf die<br />
„Prawda" und die „Newskaja Swesda" von sehen sowohl der Schwarzhunderter<br />
und Oktobristen („Rossija", „Nowoje Wremja", „Golos<br />
Moskwy" usw.) als auch der Liberalen („Retsdi", „Saprossy Shisni" u. a.).<br />
Die Beurteilung der politischen Linie, die die genannten Zeitungen verfolgen,<br />
ist vom Standpunkt der Wahlkampagne von besonderem Interesse,<br />
denn eine solche Beurteilung ist unausbleiblich mit einer Überprüfung<br />
der Ansichten über die grundsätzlichen, prinzipiellen Fragen verbunden.<br />
Aus diesem Grunde wollen wir auf den Artikel von N. Nikolin im „Newski<br />
Golos" Nr. 9 über die Linie der „Prawda" und der „Newskaja<br />
Swesda" eingehen. Der Artikel enthält, wie der Leser sehen wird, nicht<br />
wenige ausnehmend böse Worte, aber darüber kann man (und muß man)<br />
hinwegsehen, weil der Verfasser versucht, auf den Kern überaus wichtiger<br />
Fragen einzugehen.<br />
„Ich muß zugeben", schreibt N. Nikolin, „daß die .Prawda' in vieler Hin J<br />
sieht ziemlich zufriedenstellend die Aufgabe löst, den Wünschen, Nöten, Bedürfnissen<br />
und Interessen des russischen Proletariats Ausdruck zu geben.<br />
Leider entwertet sie diese ihre nützliche Arbeit stark durch eine völlig törichte,<br />
von der Wahrheit weit entfernte und im Hinblick auf die sich daraus ergebenden<br />
Folgen äußerst schädliche Darstellung der politischen Wirklichkeit."<br />
Lassen wir die bösen Worte beiseite und nehmen wir die Hauptsache:<br />
die Darstellung der politischen Wirklichkeit. Für diese direkte, wirklich<br />
grundsätzliche Fragestellung wollen wir dem Verfasser gern seine Gereiztheit<br />
verzeihen. Streiten wir um das Wesentliche. In der Tat kann man in
über die politische Linie 321<br />
der praktischen Arbeit keinen Schritt tun ohne feste Ansichten darüber,<br />
wie denn unsere „politische Wirklichkeit" beschaffen ist.<br />
Nachdem N. Nikolin die Frage direkt gestellt hat, beantwortet er sie so:<br />
„Die .Prawda' bemüht sich, in diesem Falle dem Beispiel der .Newskaja<br />
Swesdä' folgend, ihren Lesern zu versichern, daß die Arbeiterklasse das neue<br />
Rußland entgegen den Liberalen errichten müsse. Das klingt natürlich stolz,<br />
enthält aber nichts weiter als Unsinn. Das neue Rußland errichtet niemand, es<br />
wird erridbtet (hervorgehoben von N. Nikolin selbst) in dem komplizierten<br />
Prozeß des Kampfes der verschiedenen Interessen, und die Aufgabe der Arbeiterklasse<br />
besteht nicht darin, trügerische Pläne zur Errichtung eines neuen<br />
Rußlands für andere und entgegen all diesen anderen zu schmieden, sondern<br />
darin, im Rahmen dieses letzteren die günstigsten Bedingungen für die eigene<br />
weitere Entwicklung zu schaffen."<br />
Audi hier verzeihen wir dem Verfasser gern seinen „Überschwang",<br />
seine äußerste Gereiztheit, weil er versucht, den Stier bei den Hörnern zu<br />
packen. N. Nikolin geht hier offener, aufrichtiger und überlegter als viele<br />
Liquidatoren an eine der tiefsten Quellen unserer grundlegenden Meinungsverschiedenheiten<br />
heran.<br />
„Das neue Rußland errichtet niemand, es wird erridbtet in dem Prozeß<br />
..." - wer erkennt in dieser vortrefflichen Betrachtung nicht das<br />
grundlegende und immer wiederkehrende Leitmotiv der ganzen liquidatorischen<br />
(ja noch breiter: der ganzen opportunistischen) Musik?<br />
Nehmen wir diese Betrachtung unter die Lupe.<br />
Wird das neue Rußland in dem Prozeß des Kampfes der verschiedenen<br />
Interessen errichtet, so heißt das, daß die Klassen, die verschiedene<br />
Interessen haben, das neue Rußland auf verschiedene Weise errichten. Das<br />
ist so klar wie der lichte Tag. Welchen Sinn hat dann N. Nikolins Qegenüberstellung:<br />
„Das neue Rußland errichtet niemand, es wird erridbtet<br />
usw."?<br />
Sie hat überhaupt keinen Sinn. Sie ist Unsinn vom Standpunkt der elementarsten<br />
Logik.<br />
Aber dieser Unsinn hat seine eigene Logik: die Logik des Opportunismus,<br />
der notwendig, nicht zufällig, in Nikolinsche Fehler verfällt, wenn er<br />
versucht, seine Position „marxistisch" zu verteidigen. Bei dieser „Logik<br />
des Opportunismus" gilt es denn auch zu verweilen.<br />
Wer sagt: das neue Rußland errichten die und die Klassen, der steht so
322 19.1. <strong>Lenin</strong><br />
fest auf dem Boden des Marxismus, daß nicht nur die bösen Worte N. Nikolins,<br />
sondern sogar... sogar die liquidatorischen „Vereinigungs"konferenzen<br />
samt ihrem noch so heftigen Wort„gedonner" außerstande sind,<br />
ihn zu erschüttern.<br />
Wer sagt: „Das neue Rußland errichtet niemand, es wird erridbtet<br />
usw.", der gleitet von der Objektivität des Klassenkampfes (d.h. vom<br />
Marxismus) zur „Objektivität" bürgerlicher Rechtfertigung der Wirklichkeit<br />
ab. Eben hier liegt die Quelle des Sündenfalls aus dem Marxismus in<br />
den Opportunismus^den Herr Nikolin (ohne es selbst zu bemerken) vollzieht.<br />
Sage ich: das neue Rußland muß man so und so, vom Standpunkt, sagen<br />
wir, der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der ausgleichenden Verteilung nach<br />
dem Arbeitsprinzip u. dgl. m. errichten, so ist das Subjektivismus, der mich<br />
in das Gebiet von Hirngespinsten führt. In Wirklichkeit werden die<br />
Kämpfe der Klassen, und nicht meine guten Wünsche, die Errichtung<br />
eines neuen Rußlands bestimmen. Meine Ideale von der Errichtung eines<br />
neuen Rußlands werden nur dann keine Hirngespinste sein, wenn sie<br />
wirklich die Interessen einer existierenden Klasse ausdrücken, deren<br />
Lebensbedingungen dazu zwingen, in einer bestimmten Richtung tätig zu<br />
sein. Stelle ich mich auf diesen Standpunkt der Objektivität des Klassenkampfes,<br />
so rechtfertige ich keineswegs die Wirklichkeit, sondern zeige im<br />
Gegenteil in dieser Wirklichkeit selbst die tiefsten (wenn auch auf den<br />
ersten Blick nicht sichtbaren) Quellen und Kräfte ihrer Umgestaltung.<br />
Sage ich aber: „Das neue Rußland errichtet niemand, es wird erridbtet<br />
im Kampf der Interessen", so werfe ich sofort einen gewissen Schleier<br />
über das klare Bild des Kampfes bestimmter Klassen, mache ich denjenigen<br />
Zugeständnisse, die nur die an der Oberfläche sichtbaren Handlungen der<br />
herrschenden Klassen, d. h. besonders der Bourgeoisie, sehen. Ich verfalle<br />
unwillkürlich in eine Rechtfertigung der Bourgeoisie, statt der Objektivität<br />
des Klassenkampfes nehme ich die auffälligste oder die zeitweilig<br />
erfolgreiche bürgerliche Richtung zum Kriterium.<br />
Erläutern wir das durch ein Beispiel aus der Geschichte. Das neue<br />
Deutschland (das Deutschland der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts)<br />
wurde „errichtet" im Prozeß des Kampfes der verschiedenen Interessen.<br />
Kein einziger gebildeter Bourgeois wird das bestreiten - und er wird auch<br />
nicht darüber hinausgehen.
Tiber die politisdhe Linie 323<br />
Hier Marx' Urteil in der „kritischsten" Periode der Errichtung des<br />
neuen Deutschlands:<br />
„Die hohe Bourgeoisie", schrieb Marx im Jahre <strong>18</strong>48, „von jeher antirevolutionär,<br />
schloß aus Furcht vor dem Volk, d. h. vor den Arbeitern und<br />
der demokratischen Bürgerschaft, ein Schutz- und Trutzbündnis mit der<br />
Reaktion." „Die französische Bourgeoisie von 1789 ließ ihre Bundesgenossen,<br />
die Bauern, keinen Augenblick im Stich. Sie wußte, die Grundlage<br />
ihrer Herrschaft war Zertrümmerung des Feudalismus auf dem Lande,<br />
Herstellung der freien, grundbesitzenden Bauernklasse. Die deutsche<br />
Bourgeoisie von <strong>18</strong>48 verrät ohne allen Anstand diese Bauern, die ihre<br />
natürlichsten Bundesgenossen, die Fleisch von ihrem Fleisch sind, und<br />
ohne die sie machtlos ist gegenüber dem Adel. Die Fortdauer... der<br />
Feudalrechte..., das ist also das Resultat der deutseben Revolution von<br />
<strong>18</strong>48. Das ist die wenige Wolle von dem vielen Geschrei!" 81<br />
Bei Marx treten sofort und lebensvoll die Nassen hervor, die das neue<br />
Deutschland erridbteten.<br />
Der bürgerliche Gelehrte, der im Namen der „Objektivität" die Wirklichkeit<br />
zu rechtfertigen sucht, sagt: Bismardc hat Marx besiegt, Bismarck<br />
hat in Rechnung gestellt, wie „das neue Deutschland in dem komplizierten<br />
Prozeß des Kampfes der verschiedenen Interessen erridrtet wurde". Marx<br />
aber schmiedete „trügerische Pläne zur Errichtung" einer großdeutschen<br />
demokratischen Republik, entgegen den Liberalen, mit den Kräften der<br />
Arbeiter und der demokratischen (kein Bündnis mit der Reaktion eingehenden)<br />
Bourgeoisie.<br />
Eben das behaupten in tausend Zungen die bürgerlichen Gelehrten. Betrachten<br />
wir diese Frage rein theoretisch, so fragen wir uns: Worin besteht<br />
ihr Fehler? In der Verschleierung und Vertuschung des Klassenkampfes.<br />
Darin, daß sie (vermittels der schembar tiefsinnigen <strong>Red</strong>eweise: Deutschland<br />
wurde in dem Prozeß usw. erriöhtet) die Wahrheit vertuschen, daß<br />
das Bismarcksche Deutschland von der Bourgeoisie errichtet wurde, die<br />
durch ihren „Verrat und Treubruch" „machtlos gegenüber dem Adel" war.<br />
Marx dagegen erlaubte die Objektivität des Klassenkampfes, die<br />
potitisdbe "Wirkiidhkeit hundertmal tiefer und genauer zu verstehen, wobei<br />
er sie keineswegs zu rechtfertigen suchte, sondern umgekehrt gerade die<br />
Klassen in ihr aufzeigte und hervorhob, die das demokratische Deutschland<br />
errichteten, die es vermochten, selbst angesichts der ausschließlich für
324 W. J. <strong>Lenin</strong><br />
Bismardc vorteilhaften Wende der Ereignisse zum Bollwerk des Demokratismus<br />
und des Sozialismus zu werden.<br />
Marx verstand die politische Wirklichkeit so richtig und so tief, daß er<br />
im Jahre <strong>18</strong>48 für ein halbes Jahrhundert im voraus das "Wesen des Bismarcksdien<br />
Deutschlands einschätzen konnte-, es ist das ein Deutschland<br />
der Bourgeoisie, die „machtlos ist gegenüber dem Adel". 64 Jahre später<br />
bei den Wahlen im Jahre 1912, erfahr diese Marxsche Einschätzung ihre<br />
völlige Bestätigung in dem Verhalten der Liberalen.<br />
In ihrem schonungslosen, unerhört scharfen und ein allgemeines Geheul<br />
der Liberalen (entschuldigen Sie die scharfe Ausdrucksweise, verehrter<br />
Nikolin!) hervorrufenden Kampf gegen die Liberalen seit <strong>18</strong>48 gaben sich<br />
Marx und die Marxisten keineswegs „Trugbildern" hin, wenn sie für den<br />
„Plan" eines großdeutschen demokratischen Staates eintraten.<br />
Im Gegenteil, indem sie für diesen „Plan" eintraten und ihn unentwegt<br />
propagierten, indem sie die Liberalen und die Demokraten geißelten, die<br />
ihn verrieten, erzogen Marx und die Marxisten eben jene Klasse, in der<br />
die lebendigen Kräfte des „neuen Deutschlands" liegen und die jetzt -<br />
dank der konsequenten, aufopferungsvollen und entschlossenen Propaganda<br />
von Marx - für ihre historische Rolle des Totengräbers nicht nur<br />
der Bismarckschen Bourgeoisie, sondern der Bourgeoisie überhaupt wohlgerüstet<br />
und geschult ist.<br />
*<br />
Das Beispiel aus der Geschichte Deutschlands zeigt uns die Cogik des<br />
Opportunismus in den Ansichten Nikolins, der uns gerade deshalb so<br />
aufgebracht wegen „ausgesprochner Kadettenfresserei" tadelt, weil er<br />
nidbt siebt, wie er selber zu den liquidatorischen Ideen der liberalen<br />
Arbeiterpolitik hinabgleitet.<br />
Je mehr sich N. Nikolin (und er ist nicht allein!) ärgert und um die<br />
Sache herumdrückt, um so nachdrücklicher und eingehender werden wir<br />
ihm in unserer Eigenschaft als Publizisten immer wieder klarmachen, daß<br />
unser Kampf gegen die Kadetten und gegen die Liquidatoren in Erwägungen<br />
wurzelt, die gründlich durchdacht und im Laufe von mehr als fünf<br />
Jahren (eigentlich vor mehr als zehn Jahren) viele Male in den offiziellen<br />
Beschlüssen aller Marxisten verankert worden sind. N. Nikolin hat ebenso<br />
wie die Liquidatoren, die er in Schutz nimmt, das Pech, daß sie diesen<br />
alten, zahlreichen, exakten, in aller Form gefaßten taktischen Beschlüssen
Tiber die politische Linie 325<br />
nidhts gegenüberstellen können, was auch nur annähernd so präzis, bestimmt<br />
und klar wäre.<br />
Daß „die Arbeiter das neue Rußland entgegen den Liberalen errichten<br />
müssen", ist keineswegs eine „stolze" Phrase. N. Nikolin weiß sehr gut,<br />
daß dieser Gedanke in einer Reihe taktischer Beschlüsse ausgesprochen<br />
wird, die von der Mehrheit der Marxisten anerkannt werden. An und für<br />
sich ist das nichts anderes als eine Zusammenfassung der in Rußland während<br />
der letzten, sagen wir, zehn Jahre gesammelten politischen Erfahrungen.<br />
Es ist eine ganz unbestreitbare historische Tatsache, daß die Arbeiterklasse<br />
Rußlands in den letzten zehn Jahren daranging, das neue Rußland<br />
„entgegen den Liberalen" zu erridhten. Ein solches „Errichten" bleibt niemals<br />
ohne Konsequenzen, mögen die zeitweiligen „Erfolge" der russischen<br />
Bismarck-Anwärter noch so groß sein.<br />
Der russische Opportunismus, der schwammig ist und schlüpfrig wie<br />
eine Natter, ist ebenso wie der Opportunismus der anderen Länder<br />
außerstande, seine Auffassungen bestimmt und klar auszudrücken, in<br />
aller Form zu sagen, daß die Arbeiterklasse das neue Rußland nicht entgegen<br />
den Liberalen errichten dürfe, sondern das und das tun müsse. Der<br />
Opportunismus wäre kein Opportunismus, wenn er imstande wäre, klare<br />
und direkte Antworten zu geben. Aber seine Unzufriedenheit mit der<br />
Politik der Arbeiter, sein Tendieren zur Bourgeoisie drückt der Opportunismus<br />
mit dem Satz aus: „Das neue Rußland errichtet niemand, es<br />
wird errichtet im Prozeß des Kampfes der Interessen."<br />
Und von dem, was errichtet wird, ist am ehesten sichtbar, springt am<br />
meisten in die Augen, hat den größten Augenblickserfolg und die Verehrung<br />
der „Menge" das, was vom Adel und von der Bourgeoisie „errichtet"<br />
und von den Liberalen korrigiert wird. „Was soll man da noch untersuchen,<br />
welche Klassen etwas und wie sie es errichten, das sind<br />
Hirngespinste; man muß das nehmen, was errichtet wird" - das ist die<br />
wirkliche Bedeutung der Betrachtungen Nikolins, das ist die wirkliche<br />
„Logik des Opportunismus".<br />
Das eben heißt den Klassenkampf vergessen. Das eben ist die prinzipielle<br />
Basis der liberalen Arbeiterpolitik. Eben eine solche „Logik" führt<br />
dazu, daß die Arbeiterklasse statt der Rolle des Hegemons, d. h. des<br />
Führers der echten, konsequenten, selbstlosen Demokratie, die Rolle eines<br />
Hilfsarbeiters der Liberalen ausübt.
326 W. 7. <strong>Lenin</strong><br />
Daher die uns Russen wohlbekannte Tatsache, daß die Opportunisten<br />
in Worten zugeben, daß audi die Partei des Proletariats eine „selbständige"<br />
Linie verfolgen müsse, was natürlich auch Nikolin anerkennt. Jn<br />
Wirklidbkeit aber verficht er eben keine selbständige Linie, sondern die<br />
Linie der liberalen Arbeiterpolitik.<br />
Nikolin macht uns klar, zeigt uns, von wie geringer Bedeutung die<br />
Verkündigung der Selbständigkeit der Arbeiterklasse ist. Auch die im<br />
„Newski Golos" Nr. 8 veröffentlichte Plattform der Liquidatoren hat sie<br />
verkündigt, auch Nikolin selbst hat sie verkündigt, aber in demselben<br />
Augenblick, wo er die „Selbständigkeit" verkündigt, predigt er eine unselbständige<br />
Politik.<br />
Mit dem Verzicht darauf, daß die Arbeiterklasse in der heutigen Politik,<br />
in allen Fragen des Demokratismus ihre eigene Linie — entgegen den<br />
Liberalen - verfolgt (oder, was dasselbe ist, „das neue Rußland errichtet"),<br />
fordert Nikolin faktisch die Arbeiterklasse auf, hinter den Liberalen einherzutrotten.<br />
Das ist der Kern der Sache. So sieht die „Logik des Opportunismus"<br />
aus. Und Argumente wie die, daß man die Arbeiterklasse nicht „isolieren"<br />
solle, daß „die Last des Kampfes für die politische Freiheit nicht auf den<br />
Schultern der Arbeiter liegen darf", daß „eine Koordinierung, und nicht<br />
eine Zersplitterung der Kräfte" nötig sei usw., all das ist doch nur leere<br />
Deklamation. In Wirklichkeit ist all das eine Umschreibung und Paraphrasierung<br />
ein und desselben: isoliert euch nicht (von den Liberalen),<br />
„koordiniert eure Kräfte" (mit der Politik der Liberalen), erblickt in der<br />
liberalen Politik den wirklichen Kampf für die politische Freiheit, nicht<br />
aber einen Kuhhandel mit den Purischkewitsch, usw. usf.<br />
Wir sind nicht auf diese Deklamationen eingegangen, weil man, will<br />
man um das Wesen der Sache streiten, die wirklichen Ausgangspunkte,<br />
die Wurzeln der Meinungsverschiedenheiten nehmen muß, nicht aber die<br />
deklamatorischen Verzierungen einer grundsätzlich falschen Linie.<br />
„Newskaja Swesda" 7$r. 26, Nach dem "Jen der<br />
16. September 1912. .Newskaja Swesda".<br />
Untersdhrift: 7A. "M.
ERFOLGE<br />
DER AMERIKANISCHEN ARBEITER<br />
327<br />
Die letzte in Europa eingetroffene Nummer der amerikanischen Arbeiterwochenzeitung<br />
„Appeal to Reason" teilt mit, daß die Auflage dieser<br />
Zeitung 984000 Exemplare erreicht hat. Briefe und Anforderungen von<br />
überallher - schreibt die <strong>Red</strong>aktion (Nr. 875 vom 7. September) - lassen<br />
keinen Zweifel daran, daß wir in den nächsten Wochen die Million überschreiten<br />
werden.<br />
Diese Ziffer - eine Million Exemplare einer sozialistischen Zeitung, die<br />
von den amerikanischen Gerichten schamlos verleumdet und verfolgt wird<br />
und die bei allen Verfolgungen wächst und stärker wird - veranschaulicht<br />
besser als lange Abhandlungen, welche Umwälzung in Amerika heranreift.<br />
Kürzlich schrieb die liebedienernde Zeitung „Nowoje Wremja", dieses<br />
Organ käuflicher Schmierfinken, über die „Macht des Geldes" in Amerika,<br />
sie berichtete schadenfroh von der außerordentlichen Bestechlichkeit Tafts,<br />
Roosevelts, Wilsons, aller Kandidaten der bürgerlichen Parteien für den<br />
Posten des Präsidenten der Republik. Hier habt ihr die freie, demokratische<br />
Republik - zischte die russische käufliche Zeitung.<br />
Die klassenbewußten Arbeiter antworten darauf ruhig und stolz: Was<br />
die Bedeutung einer breiten Demokratie anbelangt, so irren wir uns nicht<br />
im geringsten. Keinerlei Demokratie in der Welt beseitigt den Klassenkampf<br />
und die Allmacht des Geldes. Durchaus nicht darin bestehen die<br />
Bedeutung und der Nutzen der Demokratie. Ihre Bedeutung besteht darin,<br />
daß sie den Klassenkampf zu einem breiten, offenen und bewußten Kampf<br />
macht. Und das ist keine Mutmaßung, kein Wunsch, sondern eine Tatsache.<br />
Wenn in Deutschland die Zahl der Mitglieder der sozialdemokratischen
328 W.I.<strong>Lenin</strong><br />
Partei 970000 erreicht hat, wenn in Amerika eine sozialistische Wodienzeitung<br />
eine Auflage von 984000 Exemplaren erreicht hat - dann muß<br />
jeder, der Augen hat zn sehen, zugeben: Ein einzelner Proletarier ist<br />
machtlos; die proletarischen Millionen sind allmächtig.<br />
„Trawda" ?Jr. i20, TJadj dem Text der .Prawda".<br />
<strong>18</strong>. September i9i2.<br />
Unterschrift: 7A. 5V.
DAS ENDE DES KRIEGES<br />
ZWISCHEN ITALIEN UND DER TÜRKEI<br />
329<br />
Telegrafischen Meldungen zufolge haben die Bevollmächtigten Italiens<br />
und der Türkei die vorläufigen Friedensbedingungen unterzeichnet.<br />
Italien „hat gesiegt". Vor einem Jahr ist es wie ein Räuber in die türkischen<br />
Gebiete in Afrika eingefallen, und von nun an wird Tripolis zu<br />
Italien gehören. Es wird nicht unangebracht sein, diesen typischen Kolonialkrieg<br />
eines „zivilisierten" Staates des 20. Jahrhunderts einmal näher<br />
zu betrachten.<br />
Wodurch war dieser Krieg hervorgerufen worden? Durch die Habgier<br />
der italienischen Finanzmagnaten und Kapitalisten, die einen neuen Markt,<br />
die Erfolge des italienischen Imperialismus brauchen.<br />
Was war das für ein Krieg? Ein vervollkommnetes, zivilisiertes Massaker,<br />
ein Abschlachten der Araber mit „neuzeitlichsten" Waffen.<br />
Die Araber setzten sich verzweifelt zur Wehr. Als die italienischen Admirale<br />
zu Beginn des Krieges unvorsichtigerweise 1200 Matrosen landeten,<br />
haben die Araber sie überfallen und etwa 600 Mann niedergemacht. „Zur<br />
Strafe" wurden etwa 3000 Araber getötet, ganze Familien ausgerottet,<br />
Frauen und Kinder hingemetzelt. Die Italiener sind eine zivilisierte, konstitutionelle<br />
Nation.<br />
Nahezu 1000 Araber wurden gehängt.<br />
Die Verluste der Italiener beliefen sich auf mehr als 20000 Mann,- darunter<br />
17429 Kranke, 600 Vermißte und 1405 Tote.<br />
Dieser Krieg hat die Italiener über 800 Millionen Lire, d. h. über 320<br />
Millionen Rubel, gekostet. Furchtbare Arbeitslosigkeit, Stagnation der Industrie,<br />
das sind die Folgen des Krieges.<br />
Die Araber haben etwa 14800 Tote. Trotz des „Friedens" wird der<br />
22 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>
330 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />
Krieg in Wirklichkeit weiter fortdauern, denn die Araberstämme im Innern<br />
des afrikanischen Kontinents, weitab von der Küste, werden sich nicht<br />
unterwerfen. Man wird sie noch lange „zivilisieren" - mit dem Bajonett,<br />
mit der Kugel, mit dem Strick, mit Feuer, durdi die Vergewaltigung ihrer<br />
Frauen.<br />
Italien ist natürlich nicht besser und nicht schlechter als die übrigen kapitalistischen<br />
Länder. Sie alle werden gleichermaßen von der Bourgeoisie<br />
regiert, die vor keinem Gemetzel zurückschreckt, wenn es gilt, eine neue<br />
Profitquelle zu erschließen.<br />
„Vrawda" 7!r. 129, "Nado dem 7ext der „Trawda".<br />
28. September 1912.<br />
Unterschrift: 1.
EIN HASARDSPIEL<br />
331<br />
Das „Nowoje Wremja" gibt einen genauen Einblick in die Pläne der<br />
russischen Nationalisten. Liest man dieses in den genannten Kreisen und<br />
auch unter den Oktobristen „einflußreiche" Blatt, so erkennt man ganz<br />
klar ihren konsequent betriebenen Plan zur Ausplünderung der Türkei.<br />
Wie es einmal üblich ist, wird die Politik des Chauvinismus und der<br />
Eroberung fremder Gebiete vor allem betrieben, indem man die Öffentlichkeit<br />
gegen Österreich aufhetzt. „Die Balkanvölker", schreibt das „Nowoje<br />
Wremja", „haben sich zum heiligen Kampf für ihre Unabhängigkeit<br />
erhoben. Der österreichische Diplomat lauert auf den Augenblick, da man<br />
sie wird ausplündern können."<br />
Österreich hat einen Happen geschnappt (Bosnien und die Herzegowina),<br />
Italien hat einen Happen geschnappt (Tripolis), jetzt ist es an uns,<br />
unser Schäflein ins trockne zu bringen - das ist die Politik des „Nowoje<br />
Wremja". Der „heilige Kampf für die Unabhängigkeit" ist lediglich eine<br />
Phrase, durch die sich nur Dummköpfe täuschen lassen, denn niemand hat<br />
hier bei uns in Rußland die wirklich demokratischen Prinzipien einer wahren<br />
Unabhängigkeit dller Völker so mit Füßen getreten wie die Nationalisten<br />
und Oktobristen.<br />
Warum aber meinen die Nationalisten, der Zeitpunkt für eine Raubpolitik<br />
sei günstig? Auch dies ist aus dem „Nowoje Wremja" klar ersichtlich.<br />
Italien, meint man, wird nicht Krieg führen, für Österreich ist es riskant,<br />
die Balkanslawen mit Krieg zu überziehen, da es selber eine mehrere<br />
Millionen zählende ihnen verwandte Bevölkerung hat, Deutschland aber<br />
wird sich wegen der Niederwerfung der Türkei nicht in einen europäischen<br />
Krieg einlassen.
332 IV. J. <strong>Lenin</strong><br />
Die Rechnung der Nationalisten ist in höchstem Maße unverblümt und<br />
schamlos. Sie halten hochtrabende <strong>Red</strong>en über den „heiligen Unabhängigkeitskampf"<br />
der Völker und spielen selbst auf kaltblütigste Weise mit dem<br />
Leben von Millionen, führen die Völker um der Profite einiger weniger<br />
Geschäftsleute und Industrieller willen zur Schlachtbank.<br />
Der Dreibund (Deutschland, Österreich, Italien) ist augenblicklich geschwächt,<br />
denn der Krieg gegen die Türken hat Italien 800 Millionen<br />
Francs gekostet, und auf dem Balkan gehen die „Interessen" Italiens und<br />
Österreichs auseinander. Italien möchte noch einen Happen schnappen,<br />
nämlich Albanien, Österreich aber will das nicht zulassen. Dies in Rechnung<br />
stellend treiben unsere Nationalisten ein verzweifeltes Hasardspiel,<br />
sie setzen auf die Stärke und den Reichrum zweier Mächte der Triple-<br />
Entente (England und Frankreich) und darauf, daß „Europa" nicht gewillt<br />
sein wird, wegen der Meerengen oder der „Abrundung" „unserer" Gebiete<br />
auf Kosten der asiatischen Türkei einen allgemeinen Krieg auszulösen.<br />
In der Gesellschaft der Lohnsklaverei spielt jeder Geschäftsmann, jeder<br />
Eigentümer ein Hasardspiel: „Entweder ich gehe zugrunde, oder ich mache<br />
mich gesund und richte andere zugrunde." Von Jahr zu Jahr gehen Hunderte<br />
Kapitalisten bankrott, werden Millionen Bauern, Kleingewerbetreibende<br />
und Handwerker ruiniert. Das gleiche Hasardspiel treiben die kapitalistischen<br />
Staaten, ein Spiel mit dem Blut von Millionen, die bald hier,<br />
bald da um der Eroberung fremder Gebiete und der Ausplünderung<br />
schwacher Nachbarn willen zur Schlachtbank getrieben werden.<br />
„Prawda" 5Vr. 134, SVacfo dem Text der „Vrawda"'.<br />
4. Oktober 1912.
DIE GEISTLICHKEIT BEI DEN WAHLEN<br />
UND DIE WAHLEN MIT DER GEISTLICHKEIT<br />
333<br />
Pressemeldungen zufolge wurden auf den Kongressen der kleinen<br />
Grundbesitzer und der Kirchendekane in 46 Gouvernements des Europäischen<br />
Rußlands 7990 Bevollmächtigte gewählt, von denen 6516 Geistliche<br />
sind. Letztere bilden 82 Prozent.<br />
Das vollständige Ergebnis aus den 50 Gouvernements kann dieses Resultat<br />
nur wenig verändern.<br />
Betrachten wir die Bedeutung solcher Wahlen.<br />
Von den kleinen Grundbesitzern und den Kirchspielen wird laut Gesetz<br />
ein Bevollmächtigter auf der Grundlage des vollen Wahlzensus, der<br />
für die Teilnahme am Kongreß der Grundbesitzer festgelegt ist, gewählt.<br />
Die Zahl der Bevollmächtigten muß also der Menge des Grund und Bodens<br />
entsprechen, den die Wähler besitzen.<br />
Laut Statistik von 1905 stehen uns für die 50 Gouvernements des Europäischen<br />
Rußlands die folgenden Angaben zur Verfügung:<br />
Kirchenländereien 1,9 Mill. Desjatinen<br />
Ländereien in Privateigentum von Geistlichen 0,3 „ „<br />
Insgesamt im Besitz der Qeistlidhkeit 2,2 Mill. Desjatinen<br />
Ländereien in Privateigentum von Kleinbürgern 3,7 „ „<br />
„ „ „ von Bauern 13,2 „<br />
„ von übrigen 2,2 „<br />
„Weltlicher" kleiner Qrundbesitz insgesamt 19,1 Mill. Desjatinen<br />
Hierbei ist der kleine Grundbesitz •wahrscheinlich weniger vollständig<br />
erfaßt als die Ländereien der Geistlichkeit. Und trotzdem ergibt sich, daß
334 TV. J. £enin<br />
der private kleine Grundbesitz insgesamt 21,3 Mill. Desjatinen umfaßt,<br />
wovon die Geistlichkeit 2,2 Mill. Desjatinen besitzt, d. h. wenig mehr als<br />
Vio! Bevollmächtigte aber hat die Geistlichkeit über acht Zehntel gewählt!!<br />
Wie konnte das geschehen? Sehr einfach. Die kleinen Grundbesitzer<br />
fahren höchst selten zu den Wahlen: sie haben weder die Mittel dazu noch<br />
auch großes Interesse daran, und Tausende polizeilicher Behinderungen<br />
beschränken die Freiheit der Wahlen. Den Popen aber ist „nahegelegt"<br />
worden, vollzählig zu erscheinen.<br />
Die Popen werden für die der Regierung genehmen Kandidaten stimmen.<br />
Aus diesem Grunde murren sogar die §utsbesitzer, ganz zu schweigen<br />
von der Bourgeoisie. Auch die Oktobristen und die Nationalisten<br />
murren. Alle beschuldigen die Regierung, daß sie die Wahlen „mache".<br />
Die Gutsbesitzer und die Großbourgeoisie indessen möchten die Wahlen<br />
selber machen.<br />
Aneinandergeraten sind also der Absolutismus auf der einen Seite und<br />
die Gutsbesitzer und großen Bourgeois auf der andern. Die Regierung<br />
wollte sich auf die Gutsbesitzer und die Spitzen der Bourgeoisie stützen;<br />
darauf basiert bekanntlich das ganze Gesetz vom 3. Juni 1907.<br />
Es stellt sich heraus, daß die Regierung nicht einmal mit den Oktobristen<br />
auskommen kann. Es ist nicht einmal gelungen, eine feudal-bürgerliche<br />
Monarchie von einer für diese Klassen „befriedigenden" Qualität zustande<br />
zu bringen.<br />
Diesen Mißerfolg hat die Regierung zweifellos faktisch zugegeben:<br />
sie hat begonnen, in Gestalt der untergeordneten, der Obrigkeit unterstellten<br />
Geistlichkeit ihre eigenen Beamten zu organisieren!<br />
In der Geschichtswissenschaft bezeichnet man diese Methode einer Regierung,<br />
die wesentliche Merkmale des Absolutismus beibehalten hat, als<br />
Bonapartismus. Stütze sind in diesem Falle nicht bestimmte Klassen oder<br />
nicht sie allein, nicht hauptsächlich sie, sondern künstlich ausgewählte, vornehmlich<br />
aus verschiedenen abhängigen Schichten angeworbene Elemente.<br />
Wodurch erklärt sich die Möglichkeit einer solchen Erscheinung in „soziologischem"<br />
Sinne, d. h. vom Standpunkt des Klassenkampfes?<br />
- Durch die Herausbildung eines Gleichgewichts der Kräfte einander<br />
feindlicher oder miteinander konkurrierender Klassen. Konkurrieren zum<br />
Beispiel die Purischkewitsch mit den Gutschkow und den Rjabuschinski,<br />
so kann die Regierung, bei einem gewissen Ausgleich der Kräfte dieser
Die geistUdikeit bei den "Wahlen 335<br />
Konkurrenten, mehr Selbständigkeit erhalten (natürlich in einem gewissen,<br />
ziemlich engen Rahmen) als bei entschiedenem Übergewicht einer dieser<br />
Klassen. Ist aber diese Regierung historisch durch Erbfolge u. dgl. m. an<br />
besonders „klare" Formen des Absolutismus gebunden, sind im Lande die<br />
Traditionen des Militarismus und des Bürokratismus im Sinne der Nichtwählbarkeit<br />
der Richter und Beamten stark ausgeprägt, so sind die Grenzen<br />
dieser Selbständigkeit noch weiter, ihre Erscheinungsformen noch ...<br />
offener, die Methoden der „Auswahl" der Wähler und der auf Befehl abstimmenden<br />
Wahlmänner noch gröber, die Willkür noch spürbarer.<br />
Etwas Ähnliches macht auch das heutige Rußland durch. Der „Schritt<br />
voran auf dem Wege der Umwandlung in eine bürgerliche Monarchie"*<br />
wird durch die Übernahme bonapartistischer Methoden kompliziert. Wenn<br />
sich in Frankreich bürgerliche Monarchie und bonapartistisches Kaiserreich<br />
klar und scharf voneinander unterschieden, so gab in Deutschland<br />
bereits Bismarck Musterbeispiele für die „Vereinigung" des einen und des<br />
anderen Typs, bei klarem überwiegen der Züge, die Marx als „Militärdespotismus"<br />
bezeichnete 82 - schon ganz abgesehen vom Bonapartismus.<br />
Die Karausche, sagt man, läßt sich gern in saurer Sahne braten. Wir<br />
wissen nicht, ob sich der Spießbürger gem in bürgerlicher Monarchie,<br />
altem feudalem Absolutismus, in „modernem" Bonapartismus oder in<br />
Militärdespotismus oder schließlich in einer gewissen Mischung all dieser<br />
„Methoden" „braten" läßt. Erscheint aber möglicherweise der Unterschied<br />
vom Standpunkt des Spießbürgers und vom Standpunkt der sogenannten<br />
„Rechtsordnung", d.h. vom rein juristischen, formal konstitutionellen<br />
Standpunkt sehr gering, so gibt es hier vom Standpunkt des<br />
Klassenkampfes einen wesentlichen Unterschied.<br />
Der Spießbürger hat es nicht leichter, wenn er erfährt, daß er nicht nur<br />
auf alte, sondern auch auf neue Weise geprügelt wird. Aber die Testigkeit<br />
des die Spießer knechtenden Regimes, die Bedingungen der Sntwidklung<br />
und der Auflösung dieses Regimes, die Fähigkeit dieses Regimes zu schnellem<br />
... Fiasko - all das hängt in hohem Grade davon ab, ob wir mehr<br />
oder weniger ausgeprägte, offene, beständige, direkte Formen der Herrschaft<br />
bestimmter Klassen oder verschiedene mittelbare, unbeständige<br />
Jormen einer solchen Herrschaft vor uns haben.<br />
Die Herrschaft von Klassen ist schwieriger zu beseitigen als die vom<br />
* Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 15, S. 348/349. Die <strong>Red</strong>.
336 TV. 1. <strong>Lenin</strong><br />
abgelebten Geist des Alten durchdrungenen, unbeständigen, von ausgesuchten<br />
„Wählern" unterstützten Formen des Überbaus.<br />
Das Experiment Sablers und Makarows mit der „Organisierung" der<br />
Geistlichkeit bei den Wahlen zur IV. Duma ist für jeden von nicht geringem<br />
Interesse sowohl in „soziologischer" als auch in praktisch-politischer<br />
Hinsicht.<br />
„TJewskaja Swesda" Nr. 27, Tiadb dem Jext der<br />
5. Oktober 1912. .Newshaja Swesda".
DIE „POSITION" DES HERRN MILJUKOW<br />
337<br />
Der Führer der Kadettenpartei hat sidi völlig verrannt. Er sdireibt<br />
Artikel von Mensdiikowsdier Länge über die „drei Positionen", über die<br />
„eine Position", und je mehr er schreibt, desto klarer wird, daß er den<br />
Leser in die Irre führt, daß er das Wesen der Sache durch langweiliges und<br />
leeres Geschwätz vertusdit.<br />
Armer gelehrter Historiker! Er muß so tun, als verstehe er nicht den<br />
Unterschied zwischen Liberalismus und Demokratie. Das ganze Wesen<br />
der Sache liegt in diesem Unterschied, meine Herren! Sowohl in den Abstimmungen<br />
in der Duma schlechthin als auch in der Stellung zu den „Reformen",<br />
sowohl in der Stimmabgabe für das Budget als auch in der Frage<br />
der „außerparlamentarischen Taktik" zeigt sich in verschiedenen formen<br />
ein und dasselbe "Wesen der Sache, der große Unterschied zwischen der<br />
liberal-monarchistischen Bourgeoisie und der Demokratie.<br />
Zum tausendundersten Male wollen wir den „nicht verstehenden" Herren<br />
Miljukow kurz wiederholen, worin dieser Unterschied besteht.<br />
Die Liberalen verteidigen eine Anzahl feudal-absolutistischer Privilegien<br />
(die zweite Kammer usw.). Die Demokratie kämpft unversöhnlich<br />
gegen alle Privilegien.<br />
Die Liberalen paktieren mit den Kräften des Alten im gesellschaftlichen<br />
Leben, die Demokratie verfolgt eine Taktik der Beseitigung dieser<br />
Kräfte.<br />
Die Liberalen fürchten die Selbsttätigkeit der Massen, glauben nicht an<br />
sie, leugnen sie; die Demokratie sympathisiert mit dieser Selbsttätigkeit,<br />
glaubt an sie, unterstützt und entwickelt sie.<br />
Das mag vorläufig genügen.
338 19. •}. <strong>Lenin</strong><br />
Sollte Herr Miljukow diesen Unterschied, der sogar aus den Geschichtsbüchern<br />
bekannt ist, tatsächlich „nicht verstehen" ?<br />
Sollte er „nicht verstehen", daß schon das Programm der Kadetten kein<br />
Programm von Demokraten, sondern ein Programm der liberal-monarchistischen<br />
Bourgeoisie ist, daß nur die Liberalen (und zwar die schlechten<br />
Liberalen) in der III. Duma für das Budget stimmen konnten, sich als<br />
loyale Opposition bezeichnen konnten? usw.<br />
Herr Miljukow versteht das ausgezeichnet, und er macht uns „ein X für<br />
ein U" vor, wenn er so tut, als habe er den elementarsten Unterschied<br />
zwischen Liberalismus und Demokratie vergessen.<br />
Um diese erbärmlichen Ausflüchte der Kadetten schwarz auf weiß festzuhalten,<br />
wollen wir Herrn Miljukow sagen, daß wir in der gesamten<br />
offiziellen Presse der Sozialdemokraten (nicht mitgezählt natürlich die<br />
Liquidatoren, die wir gern an Herrn Miljukow abtreten), in allen Resolutionen<br />
der führenden Instanzen der Sozialdemokratie, in der gesamten<br />
Linie der Sozialdemokraten in der III. Duma stets und ständig in tausenderlei<br />
Formen ein Eintreten für die alte Taktik feststellen können, von der<br />
sich die Sozialdemokraten, nach den Worten Herrn Miljukows, angeblich<br />
abgekehrt haben.<br />
Das ist eine unbestreitbare historische Tatsache, gelehrter Herr Historiker!<br />
Wir müssen schwarz auf weiß festhalten, wie tief die Kadetten gesunken<br />
sind, wenn sie die Öffentlichkeit in so elementaren und durch die Geschichte<br />
der politischen Parteien in Rußland so eindeutig bestimmten Fragen<br />
zu täuschen suchen.<br />
Zum Schluß eine kleine Frage an Herrn Miljukow, um das Gesagte<br />
zusammenzufassen und kurz zu wiederholen: Handelten Sie, meine Herren<br />
Kadetten, als Sie zustimmten, Woiloschnikow für fünf Sitzungen<br />
auszuschließen 83 , wie Liberale oder wie Demokraten?<br />
„Vrawda" JVr. i36, Nadh dem 7ext der „Vrawda".<br />
6. Oktober 1912.<br />
•Urrterscfori/t.-'W.J.
DER ABGEORDNETE<br />
DER PETERSBURGER ARBEITER<br />
339<br />
Das Proletariat der Hauptstadt entsendet einen seiner Auserwählten in<br />
die Duma der Schwarzhunderter, der Gutsbesitzer und der Popen. Auf<br />
einem verantwortungsvollen Posten wird dieser Auserwählte stehen. Er<br />
muß im Namen von Millionen auftreten und handeln, er muß ein ruhmvolles<br />
Banner entrollen, er muß den Auffassungen Ausdruck verleihen,<br />
die Jahre hindurch von den verantwortlichen Vertretern des Marxismus<br />
und der Arbeiterdemokratie in aller Form, mit aller Bestimmtheit und<br />
Klarheit geäußert wurden.<br />
Die Wahl eines einzigen Menschen für diesen Posten ist eine Sache<br />
von so großer Bedeutung, daß es kleinlich, feige und schändlich wäre,<br />
hätte man Angst, darüber offen und ohne Umschweife zu sprechen, hätte<br />
man Angst, die eine oder andere Person, den einen oder anderen Kreis<br />
usw. zu „kränken".<br />
Die Wahl muß dem Willen der Mehrheit der klassenbewußten, marxistischen<br />
Arbeiter entsprechen. Das liegt auf der Hand, Das wird niemand<br />
offen zu leugnen wagen.<br />
Jedermann weiß, daß sich von 1908 bis 1912 in Hunderten und Tausenden<br />
von Versammlungen, Diskussionen, Gesprächen, in den Spalten verschiedener<br />
Presseorgane unter den Petersburger Arbeitern die Gegner des<br />
Liquidatorentums und die Liquidatoren bekämpften. Es ist würdelos, den<br />
Kopf in den Sand zu stecken, wie es dumme Vögel tun, und diese Tatsache<br />
„vergessen" zu wollen.<br />
Wer jetzt, da es um die Wahl eines Abgeordneten geht, nach „Einheit"<br />
schreit, verwirrt die Sache, denn er verschiebt die Fragestellung und vertusdht<br />
mit dem Geschrei das Wesen der Sache.
340 W. 3. <strong>Lenin</strong><br />
Was hat das mit „Einheit" zu tun, wenn einer zu wählen ist und alle<br />
zustimmen, daß er den Willen der Mehrheit der klassenbewußten, marxistischen<br />
Arbeiter zum Ausdruck bringen muß??<br />
Die Liquidatoren haben Angst, offen zu sagen, daß sie die Wahl eines<br />
Liquidators oder eines „Fraktionslosen" (d. h. eines Schwankenden)<br />
möchten - und aus Angst, ihre Ansichten offen zu vertreten, wollen sie<br />
sie mit Hilfe des Betrugs, des Geschreis nach „Einheit" an den Mann<br />
bringen.<br />
Wir haben die Pflicht, dieses Durcheinander aufzudecken. Wenn unter<br />
den klassenbewußten Arbeitern die Liquidatoren die Mehrheit ausmachen,<br />
wird sie niemand in der Welt daran hindern, einen Liquidator zu wählen.<br />
Man muß so exakt, ruhig, eindeutig, umsichtig, richtig wie möglich feststellen,<br />
auf wessen Seite die Mehrheit ist, ohne sich von dem Lärm der<br />
Leute verwirren zu lassen, die, um ihre Ansichten zu verbergen, die<br />
„Einheit" predigen (wenige Tage vor den Wahlen!), nachdem fünf Jähre<br />
des Kampfes hinter uns liegen.<br />
Die Arbeiter sind keine Kinder, die ein solches Märchen glauben. Möglich<br />
ist nur eine Entscheidung von dreien: 1. die Wahl eines Liquidators,-<br />
2. die Wahl eines Gegners des Liqiridatorentums; 3. die Wahl eines<br />
Schwankenden. In fünf Jahren, von 1908 bis 1912, gab es unter den<br />
Sozialdemokraten niemand anderen, und es gibt auch jetzt niemand<br />
anderen!<br />
Die Arbeiter, die erwachsene und selbständige Menschen sein wollen,<br />
dürfen keine politischen Streikbrecher unter sich dulden. Die Arbeiter<br />
müssen dafür sorgen, daß der Wille der Mehrheit der klassenbewußten<br />
Arbeiter geachtet und erfüllt wird.<br />
Die Arbeiter brauchen einen Abgeordneten, der den Willen der Mehrheit<br />
zum Ausdruck bringt und genau weiß, was für eine Arbeit er innerhalb<br />
und außerhalb' der Duma leisten wird.<br />
Die Mehrheit hat ihren Willen erklärt, und der Abgeordnete von<br />
Petersburg muß ein entschiedener Gegner des Liquidatorentums, ein Anhänger<br />
der konsequenten Arbeiterdemokratie sein.<br />
„Prawda" Nr. 144, Tiadb dem Jext der ,T>rawda".<br />
16. Oktober 1912.<br />
TAntersdhrift: J.
DIE BALKANVÖLKER UND<br />
DIE EUROPÄISCHE DIPLOMATIE<br />
341<br />
Das allgemeine Interesse ist jetzt auf den Balkan gerichtet. Und das<br />
ist verständlich. Für ganz Osteuropa schlägt jetzt vielleicht die Stunde, in<br />
der die Völker selbst frei und energisch ihr Wort sprechen werden. Für<br />
das Spiel der bürgerlichen „Mächte" und ihrer Diplomaten, die einander<br />
in der Wissenschaft der Intrigen, des Ränkeschmiedens und des eigennützigen<br />
gegenseitigen übervorteilens überbieten, ist jetzt kein Platz.<br />
Die Balkanvölker könnten jetzt sagen, was unsere Leibeigenen in alten<br />
Zeiten gesagt haben: „Mehr als den Satan maß man meiden der Herrschaft<br />
Liebe und der Herrschaft Zorn." 84 Sowohl eine feindselige als auch<br />
eine angeblich freundschaftliche Einmischung der „Mächte" Europas bedeutet<br />
für die Bauern und Arbeiter des Balkans nichts als eine Vermehr<br />
rang aller möglichen Fesseln und Hindernisse für die freie Entwicklung zu<br />
den allgemeinen Bedingungen der kapitalistischen Ausbeutung hin.<br />
Deshalb muß man, unter anderem, sowohl gegen die regierungsamtliche<br />
als auch gegen die liberale „Diplomatie" kämpfen. Durch und durch verlogen<br />
sind zum Beispiel die Betrachtungen der „Retsch", die in diesen<br />
Tagen die „russische Gesellschaft" (d. h. die Bourgeoisie) aufgerufen hat,<br />
sich der Worte des englischen Regierungsorgans zu erinnern, wonach<br />
Europa, so heißt es dort, eine „schlechte Verwaltung" auf dem Balkan<br />
nicht zulassen wird! „Möge unsere Diplomatie die Hände nicht in den<br />
Schoß legen" - ereifert sich die „Retsch".<br />
Selbst das „liberalste" bürgerliche Europa bringt dem Balkan nichts als<br />
Unterstützung der Fäulnis und der Stagnation, als bürokratische Hindernisse<br />
für die Freiheit, antworten wir. Gerade „Europa" verhindert die<br />
Errichtung einer föderativen Balkanrepublik.
342 IV. 3. <strong>Lenin</strong><br />
Die fortgeschrittenen Arbeiter auf dem Balkan und die gesamte Balkandemokratie<br />
setzen ihre Hoffnungen ausschließlich auf die Entwiddung der<br />
Bewußtheit, des Demokratismus und der Selbsttätigkeit der Massen und<br />
nicht auf die Intrigen der bürgerlichen Diplomaten, mögen sie noch so<br />
schöne liberale Phrasen im Munde führen!<br />
„Vrawda" 7Jr. 144, TJadi dem Text der „Prawda".<br />
16. Oktober 1912.<br />
Itntersäirift: W.
DER FUCHS UND DER HÜHNERSTALL<br />
343<br />
Der Balkankrieg und die Stellung „Europas" zu ihm ist heute die<br />
aktuellste politische Frage. Für die gesamte Demokratie überhaupt und für<br />
die Arbeiterklasse im besonderen ist es wichtig zu begreifen, von welchen<br />
Klasseninteressen sich dabei diese oder jene Partei leiten läßt.<br />
Die Politik der Oktobristen, der Nationalisten, der parteilosen „Patrioten",<br />
vom „Nowoje Wremja" bis zum „Russkoje Slowo", ist klar und<br />
eindeutig. Die Hetze gegen Österreich, das Anstacheln zum Krieg gegen<br />
Österreich, das Geschrei von den „slawischen Aufgaben" Rußlands - das<br />
alles ist nichts anderes als das durchsichtige Bestreben, die Aufmerksamkeit<br />
von den inneren Angelegenheiten Rußlands abzulenken und der Türkei<br />
„ein Stückchen abzuzwacken". Unterstützung der Reaktion im Innern<br />
und des imperialistischen, kolonialen Raubs nach außen - das ist der Kern<br />
dieser plumpen „patriotischen" „slawischen" Politik.<br />
Die Politik der Kadetten ist raffinierter, ist diplomatisch verbrämt -<br />
aber im Grunde genommen ist sie gleidbfafls eine reaktionäre imperialistische<br />
Qroßmadbtpoliük. Das muß man sich besonders einschärfen, denn<br />
die Liberalen verstecken ihre Ansichten geschickt hinter demokratisch klingenden<br />
Phrasen.<br />
Da ist zum Beispiel die „Retsch". Anfangs — bis zum „Rendezvous"<br />
Miljukows mit Sasonow 85 - wurde Sasonow „Nachgiebigkeit" vorgeworfen;<br />
den Nationalisten wurde vorgeworfen, sie hätten der „großen<br />
Idee" der Eroberung Konstantinopels Abbruch getan. Jetzt, nach dem<br />
Rendezvous, erklärt sich die „Retsch" mit der „Rossija" solidarisch und<br />
zieht nach Kräften über den „blinden Eifer" des „Nowoje Wremja" her.<br />
Aber welches ist jetzt die Politik der „Retsch" ?<br />
Man dürfe nicht mit weitgespannten Forderungen anfangen, sonst verlieren<br />
wir die Unterstützung (Frankreichs und Englands) und „werden<br />
schließlich, ohne es zu wollen, sogar bescheidener als not tut" (Nr. 278)!!
344 H>. 1. <strong>Lenin</strong><br />
Also die „Retsdi" ist deshalb gegen die Chauvinisten, weil sie „schließlich<br />
bescheidener werden als not tut". Das heißt, ihr, ihr Chauvinisten,<br />
prahlt nur und erreicht nichts; wir jedoch sind dafür, still und friedlich, mit<br />
Unterstützung der französischen und der englischen Bourgeoisie, unser<br />
Sdiäflein ins trockne zu bringen!<br />
Die Unterstützung (der Triple-Entente) „brauchen wir im Interesse<br />
eben unseres Proteges auf dem Balkan", schreibt die „Retsch". Man beachte:<br />
Die „Retsch" ist ebenfalls für die „Protegierung" (den Schutz) der<br />
Slawen durch Rußland, für den Schutz des Hühnerstalls durch den Fuchs,<br />
aber für einen schlaueren Schutz!<br />
„Alles, was man erreichen kann, ist nur auf diesem einen Wege zu erreichen -<br />
durch die Zusammenarbeit der europäischen Diplomatie", erklärt die „Retsch".<br />
Die Sache ist klar: Die Politik der Kadetten läuft auf den gleichen<br />
Chauvinismus und Imperialismus hinaus wie die des „Nowoje Wremja",<br />
nur ist sie schlauer und gerissener. Das „Nowoje Wremja" droht plump<br />
und grob mit Krieg im Namen Rußlands allein. Die „Retsch" droht „geschickt<br />
und diplomatisch" ebenfalls mit "Krieg - doch im Namen der<br />
Triple-Entente; denn wenn man sagt: „Man soll nicht bescheidener sein<br />
als not tut", so ist das eben eine Kriegsdrohung. Das „Nowoje Wremja"<br />
ist für die Protegierung der Slawen durdb Rußland, die „Retsch" für die<br />
Protegierung der Slawen durch die Triple-Entente, d. h., das „Nowoje<br />
Wremja" ist für den einen, für unseren Fuchs im Hühnerstall, die „Retsch"<br />
aber für eine Entente von drei Füchsen.<br />
Die Demokratie im allgemeinen und die Arbeiter im besonderen sind<br />
gegen jede „Protegierung" der Slawen durch Füchse und Wölfe, sie sind<br />
für die volle Selbstbestimmung der Völker, für volle Demokratie, für die<br />
Befreiung der Slawen von jeder Protegierung durch die „Großmächte".<br />
Die Liberalen und die Nationalisten streiten über verschiedene Methoden<br />
zur Ausplünderung und Unterwerfung der Balkanvölker durch die<br />
Bourgeoisie Europas. Allein die Arbeiter betreiben eine Politik der wahren<br />
Demokratie - für Freiheit und Demokratie überall und bis zuletzt, gegen<br />
jegliche „Protegierung", Ausplünderung und Einmischung!<br />
„Trawda" 9Jr. U6, Tiadb dem Jext der „Trawda".<br />
<strong>18</strong>. Oktober 1912.<br />
Unterschrift: TV. 7.
EINE SCHÄNDLICHE RESOLUTION<br />
345<br />
Die Resolution der Petersburger Stadtduma vom 10. Oktober hat die<br />
Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sidi gezogen.<br />
Die Resolution betrifft den Balkankrieg, das wichtigste weltpolitische<br />
Ereignis. Die Resolution geht von einer einflußreichen, in der Bourgeoisie<br />
einflußreichen, öffentlichen Institution aus. Sie ist einstimmig von erklärten<br />
Reaktionären und Liberalen angenommen worden.<br />
Falbork, ein Liberaler, ein Kadett und fast ein „Demokrat" (!?), wies<br />
in einer „flammenden <strong>Red</strong>e" nach, daß es notwendig sei, eine solche Resolution<br />
abzufassen, er wirkte in der Kommission mit, die die Resolution<br />
ausarbeitete, und gab ihr seine Stimme.<br />
Dabei ist diese Resolution ein Musterbeispiel bürgerlichen Chauvinismus,<br />
ein Musterbeispiel würdeloser Liebedienerei der Bourgeoisie vor den<br />
„Machthabem", ein Musterbeispiel dafür, wie die Bourgeoisie jene Politik<br />
unterstützt, die die Völker zu Kanonenfutter macht.<br />
„Petersburg", so heißt es in der an die Hauptstädte der kriegführenden<br />
Balkanmächte gerichteten Resolution, „hofft gemeinsam mit euch auf jene<br />
lichte Zukunft der unterdrückten Völker in Unabhängigkeit und Freiheit, für<br />
die ihr euer Blut vergießt."<br />
Da sieht man, hinter welchen Phrasen sich der Chauvinismus verbirgt!<br />
Nie und nirgends haben unterjochte Völker durch den "Krieg des einen Volkes<br />
gegen ein anderes ihre „Freiheit" errungen. Die Völkerkriege verstärken<br />
lediglich die Knechtung der Völker. Die wahre 7reiheit des slawischen<br />
Bauern auf dem Balkan wie auch des türkischen Bauern kann nur<br />
durch die völlige Freiheit innerhalb eines jeden Landes und durch die Föderation<br />
völlig und uneingeschränkt demokratischer Staaten gesichert<br />
werden.<br />
23 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>
346 TV. 3. <strong>Lenin</strong><br />
Der slawische und der türkische Bauer auf dem Balkan sind Brüder,<br />
gleichermaßen „unterdrückt" durch ihre Gutsbesitzer und ihre Regierungen.<br />
Hier ist die wirkliche Unterdrückung, das wirkliche Hindernis für „Unabhängigkeit"<br />
und „Freiheit" zu suchen.<br />
Die reaktionären und die liberalen Chauvinisten, die sich in der Petersburger<br />
Stadtduma offen vereinigt haben (wie sie in der Presse getarnt vereinigt<br />
sind, stimmt doch das Urteil der „Retsch" und des „Nowoje<br />
Wremja" in dieser Frage im Wesen überein, unterscheidet es sich doch nur<br />
im Ton und in Details), diese Chauvinisten propagieren die Verwandlung<br />
der Völker in Kanonenfutter!<br />
„Praivda" 7ir. i46, Jiad) dem Jprt der „"Prawda".<br />
i8. Oktober i9i2.<br />
Unterschrift:?.
ZWEI UTOPIEN'<br />
347<br />
Utopie ist ein griechisches Wort: „u" bedeutet griechisch nirgends, „topos"<br />
- Land. Utopie ist also Nirgendland, eine Phantasie, etwas Erdichtetes,<br />
ein Märchen.<br />
Eine Utopie in der Politik ist eine Art Wunschtraum, der auf keinen<br />
Fall, weder jetzt noch später, verwirklicht werden kann, ein Wunschtraum,<br />
der sich nicht auf die gesellschaftlichen Kräfte stützt und der nicht durch<br />
das Wachstum, die Entwicklung der politischen Kräfte, der Klassenkräfte,<br />
gestützt wird.<br />
Je geringer die Freiheit in einem Lande ist, je dürftiger die Äußerungen<br />
des offenen Kampfes der Klassen, je niedriger das Niveau der Trtassenaufklärung,<br />
desto leichter entstehen gewöhnlich politische Utopien, und<br />
desto länger halten sie sich.<br />
Im gegenwärtigen Rußland halten sich zwei Arten von politischen Utopien<br />
am zähesten und üben durch ihre Anziehungskraft einen gewissen<br />
Einfluß auf die Massen aus. Das sind die liberale und die volkstümlerische<br />
Utopie.<br />
Die liberale Utopie besteht darin, daß es angeblich möglich wäre, schiedlich<br />
und friedlich, ohne jemanden zu kränken, ohne die Purischkewitsch zu<br />
stören, ohne erbitterten und konsequent geführten Klassenkampf irgendwelche<br />
ernsten Verbesserungen in Rußland, hinsichtlich seiner politischen<br />
Freiheit, in der Lage der werktätigen Volksmassen, zu erreichen. Es ist das<br />
die Utopie des Jriedens zwischen einem freien Rußland und den Purischkewitsch.<br />
Die volkstümlerische Utopie ist das Träumen des volkstümlerischen<br />
Intellektuellen und des trudowikischen Bauern davon, daß es möglich wäre,
348 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />
durch eine neue und gerechte Verteilung des gesamten Grund und Bodens<br />
die Macht und die Herrschaft des Kapitals zu beseitigen, die Lohnsklaverei<br />
zu beseitigen, oder daß es möglich wäre, unter der Herrschaft des Kapitals,<br />
angesichts der Macht des Geldes, angesichts der Warenproduktion<br />
eine „gerechte", „ausgleichende" Verteilung des Grund und Bodens aufrechtzuerhalten.<br />
Wodurch sind diese Utopien hervorgebracht worden? warum halten sie<br />
sich so zäh im heutigen Rußland?<br />
Sie sind hervorgebracht worden durch die Interessen der Klassen, die<br />
gegen die alte Ordnung, die Leibeigenschaft, die Rechtlosigkeit, mit einem<br />
Wort „gegen die Purischkewitsch" kämpfen und die in diesem Kampf<br />
keine selbständige Position einnehmen. Die Utopie, das Träumen ist hervorgebracht<br />
worden durch diese Unselbständigkeit, durch diese Sdhwädbe.<br />
Träumerei ist das Los der Sdiwadien.<br />
Die liberale Bourgeoisie im allgemeinen und die bürgerlich-liberale Intelligenz<br />
im besonderen kann nicht anders als nach Freiheit und Gesetzlichkeit<br />
streben, denn sonst ist die Herrschaft der Bourgeoisie nicht vollständig,<br />
nicht ungeteilt, nicht gesichert. Aber die Bourgeoisie fürchtet die Bewegung<br />
der Massen mehr als die Reaktion. Daher die erstaunliche, unglaubliche<br />
Sdowädoe des Liberalismus in der Politik, seine vollständige Machtlosigkeit.<br />
Daher die unendliche Reihe von Zweideutigkeiten, Lügen, Heuchelei,<br />
feigen Ausflüchten in der ganzen Politik der Liberalen, die in<br />
Demokratismus machen müssen, um die Massen auf ihre Seite zu ziehen,<br />
und die zugleich zutiefst antidemokratisch sind, zutiefst feindlich der Bewegung<br />
der Massen gegenüberstehen, ihrem Beginnen, ihrer Initiative,<br />
ihrer Manier, „den Himmel zn stürmen", wie sich einst Marx im Hinblick<br />
auf eine der europäischen Massenbewegungen des vergangenen Jahrhunderts<br />
ausdrückte. 86<br />
Die Utopie des Liberalismus ist die Utopie der Machtlosigkeit in der<br />
Sache der politischen Befreiung Rußlands, die Utopie des selbstsüchtigen<br />
Geldsacks, der da wünscht, „friedlich" die Privilegien mit den Purischkewitsch<br />
zu teilen, und dabei diesen edlen Wunsch als Theorie des „friedlichen"<br />
Sieges der russischen Demokratie ausgibt. Die liberale Utopie ist<br />
ein Träumen davon, wie die Purischkewitsch zu besiegen wären, ohne ihnen<br />
eine Niederlage zu bereiten, wie sie zu zerschlagen wären, ohne ihnen<br />
weh zu tun. Es ist klar, daß diese Utopie nicht nur deshalb schädlich ist,
Zwei Utopien 349<br />
weil sie eine Utopie ist, sondern auch weil sie das demokratische Bewußtsein<br />
der Massen demoralisiert. Die Massen, die an diese Utopie glauben,<br />
werden niemals die Freiheit erlangen; solche Massen sind der Freiheit<br />
nicht würdig; solche Massen haben es durchaus verdient, von den Purischkewitsch<br />
verhöhnt zu werden.<br />
Die Utopie der Volkstümler und Trudowiki ist das Träumen des Kleinbesitzers,<br />
der in der Mitte zwischen dem Kapitalisten und dem Lohnarbeiter<br />
steht, von der Vernichtung der Lohnsklaverei ohne Klassenkampf.<br />
Wenn die Frage der ökonomischen Befreiung für Rußland zu einer ebenso<br />
aktuellen, unmittelbaren, brennenden Frage geworden sein wird, wie<br />
das augenblicklich die Frage der politischen Befreiung ist, dann wird die<br />
Utopie der Volkstümler nicht weniger schädlich sein als die Utopie der<br />
Liberalen.<br />
Heute aber macht Rußland erst die Epoche seiner bürgerlichen und nicht<br />
seiner proletarischen Umgestaltung durch; nicht die Frage der ökonomischen<br />
Befreiung des Proletariats ist restlos ausgereift, sondern die<br />
Frage der politischen Freiheit, das heißt (dem Wesen der Sache nach) der<br />
vollen bürgerlichen Freiheit.<br />
Und in dieser letzten Frage spielt die Utopie der Volkstümler eine<br />
eigentümliche historische Rolle. Sie, die utopisch ist: in bezug darauf, welches<br />
die ökonomischen Folgen einer Neuaufteilung des Grund und Bodens<br />
sein müssen (und werden), ist Begleiterin und Symptom des großen demokratischen<br />
Aufschwungs der Bauemmassen, d. h. der Massen, die in dem<br />
gegenwärtigen, dem bürgerlich-feudalen Rußland die Mehrheit der Bevölkerung<br />
bilden. (In einem rein bürgerlichen Rußland wird ebenso wie im<br />
rein bürgerlichen Westeuropa die Bauernschaft nicht die Mehrheit der Bevölkerung<br />
bilden.)<br />
Die Utopie der Liberalen zersetzt das demokratische Bewußtsein der<br />
Massen. Die Utopie der Volkstümler, die ihr soziälistisdhes Bewußtsein<br />
zersetzt, ist Begleiterin, Symptom, zum Teil sogar Ausdruck ihres demokratischen<br />
Aufschwungs.<br />
Die Dialektik der Geschichte ist derart, daß die Volkstümler und Trudowiki<br />
als ein antikapitalistisches Mittel eine maximal konsequente und entschiedene<br />
kapitalistische Maßnahme auf dem Gebiet der Agrarfrage in<br />
Rußland vorschlagen und durchzuführen suchen. Die „Ausgleichung"<br />
durch eine Neuaufteilung des Grund und Bodens ist eine Utopie, aber
350 W. 3. <strong>Lenin</strong><br />
der für eine INewaufteilung notwendige vollständige Bruch mit allen alten<br />
Formen des Grundbesitzes, dem gutsherrlidien Grundbesitz, dem Besitz<br />
von Anteilland, dem „fiskalischen" Grundbesitz, ist die allernotwendigste,<br />
ökonomisch fortschrittlichste, für einen solchen Staat wie Rußland dringendste<br />
Maßnahme in bürgerlich-demokratischer Richtung.<br />
Man muß sich der bemerkenswerten Worte von Engels erinnern:<br />
„Was aber ökonomisch formell falsch, kann darum doch weltgeschichtlich<br />
richtig sein." 87<br />
Engels sprach diesen tiefschürfenden Satz aus im Hinblick auf den utopischen<br />
Sozialismus: Dieser Sozialismus war „falsch" in formell ökonomischem<br />
Sinn. Dieser Sozialismus war „falsch", da er den Mehrwert als<br />
Ungeredbtigkeit vom Standpunkt der Gesetze des Warenaustauschs erklärte.<br />
Gegen diesen Sozialismus hatten die Theoretiker der bürgerlichen<br />
politischen Ökonomie in formell ökonomischem Sinn recht, denn aus den<br />
Gesetzen des Austauschs ergibt sich der Mehrwert ganz „natürlich", ganz<br />
„gerecht".<br />
Aber der utopische Sozialismus hatte redht im weltgeschichtlichen Sinn,<br />
denn er war Symptom, Dolmetsch, Herold der Klasse, die, hervorgebracht<br />
vom Kapitalismus, hente, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, zu einer Massenkraft<br />
herangewachsen ist, die befähigt ist, mit dem Kapitalismus Schluß<br />
zu machen, und die unaufhaltsam diesem Ziel entgegenschreitet.<br />
Des tiefschürfenden Satzes von Engels muß man eingedenk sein bei der<br />
Einschätzung der gegenwärtigen volkstümlerischen oder trudowikischen<br />
Utopie in Rußland (vielleicht nicht allein in Rußland, sondern in einer ganzen<br />
Reihe asiatischer Staaten, die im 20. Jahrhundert die bürgerliche Revolution<br />
durchmachen).<br />
Falsch in formell ökonomischem Sinn, ist der volkstümlerische Demokratismus<br />
eine Wahrheit im gesdhidhtlidben Sinn; falsch als sozialistische<br />
Utopie, ist dieser Demokratismus die Wahrheit jenes eigentümlichen geschichtlich<br />
bedingten demokratischen Kampfes der Bauernmassen, der ein<br />
untrennbares Element der bürgerlichen Umbildung und die Voraussetzung<br />
ihres vollen Sieges darstellt.<br />
Die liberale Utopie entwöhnt die Bauernmassen des Kämpfens. Die<br />
volkstümlerische Utopie ist Ausdruck ihres Strebens zu kämpfen, wobei<br />
sie ihnen für den Fall des Sieges Millionen Güter der Welt verspricht,<br />
während in der Tat dieser Sieg nur hundert Güter geben wird. Aber ist es
Zwei Utopien 351<br />
nicht natürlich, daß die in den Kampf ziehenden Millionen, die Jahrhunderte<br />
in unerhörter Unwissenheit, in Not, Elend, Schmutz gelebt haben,<br />
die zersplittert und verschüchtert waren, die Früchte des möglichen Sieges<br />
zehnfach übertreiben?<br />
Die liberale Utopie ist eine Bemäntelung der selbstsüchtigen Wünsche<br />
der neuen Ausbeuter, die Privilegien mit den alten Ausbeutern zu teilen.<br />
Die volkstümlerische Utopie ist Ausdruck des Bestrebens der werktätigen<br />
Millionen des Kleinbürgertums, völlig Schluß zu machen mit den alten,<br />
feudalen Ausbeutern, wie auch der trügerischen Hoffnung, „zugleich" die<br />
neuen, kapitalistischen Ausbeuter beseitigen zu können.<br />
Es ist klar, daß die Marxisten, die allen Utopien feindlich gegenüberstehen,<br />
die Selbständigkeit der Klasse verteidigen müssen, die rückhaltlos<br />
gegen den Feudalismus zu kämpfen vermag, eben weil sie auch nicht zu<br />
einem hundertsten Teil durch jene Teilhaberschaft am Eigentum gebunden<br />
ist, die aus der Bourgeoisie einen halben Gegner, oftmals aber auch einen<br />
Bundesgenossen der Feudalen macht. Die Bauern „stecken in den Fängen"<br />
der kleinen Warenproduktion; sie können bei einer günstigen Verquikkung<br />
der historischen Umstände die vollständigste Beseitigung des Feudalismus<br />
erreichen, aber sie werden nicht zufällig, sondern unvermeidlich<br />
immer ein gewisses Schwanken zwischen Bourgeoisie und Proletariat,<br />
zwischen Liberalismus und Marxismus erkennen lassen.<br />
Es ist klar, daß die Marxisten aus der Schale der volkstümlerischen<br />
Utopien sorgfältig den gesunden und wertvollen Kern des ehrlichen, entschiedenen,<br />
kämpferischen Demokratismus der Bauernmassen herauslösen<br />
müssen.<br />
In der alten marxistischen Literatur der achtziger Jahre des vergangenen<br />
Jahrhunderts kann man das systematisch verfolgte Bestreben finden,<br />
diesen wertvollen demokratischen Kern herauszuschälen. Irgendwann werden<br />
die Historiker systematisch dieses Bestreben studieren und seinen<br />
Zusammenhang mit dem verfolgen, was im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts<br />
die Bezeichnung „Bolschewismus" erhalten hat.<br />
Qesäorieben vor dem 5. (i8.) Oktober 19H.<br />
Zuerst veröffentlicht i924 in der Nado dem Manuskript.<br />
Zeitschrift „Sbisn" [T>as Leben) ?ir. i.<br />
Unterschrift: W.l
352<br />
ENGLISCHE MEINUNGSVERSCHIEDENHEITEN<br />
OBER LIBERALE ARBEITERPOLITIK<br />
Bekanntlich gibt es in England zwei Arbeiterparteien: die Sozialdemokraten,<br />
die jetzt den Namen „Britische Sozialistische Partei" tragen, und<br />
die sogenannte „Unabhängige Arbeiterpartei".<br />
Diese Spaltung in der sozialistischen Arbeiterbewegung Englands ist<br />
kein Zufall. Ihr Ursprung geht weit zurück. Sie wurde durch die Besonderheiten<br />
der Geschichte Englands hervorgebracht. In England hat sich der<br />
Kapitalismus am frühesten entwickelt, und es war für eine lange Zeit die<br />
„Werkstätte" der Welt. Diese besondere Monopolstellung schuf in England<br />
verhältnismäßig erträgliche Lebensbedingungen für die Arbeiteraristokratie,<br />
d. h. für eine Minderheit geschulter, gut bezahlter Arbeiter.<br />
Daher der kleinbürgerliche Kastengeist in dieser Arbeiteraristokratie,<br />
die sich von ihrer Klasse losgelöst hat, sich ins Schlepptau der Liberalen<br />
begeben hat und den Sozialismus spöttisch als „Utopie" betrachtet. Die<br />
„Unabhängige Arbeiterpartei" ist eben eine Partei der liberalen Arbeiterpolitik.<br />
Man sagt mit Recht, daß diese Partei „unabhängig" nur vom Sozialismus,<br />
aber vom Liberalismus sehr abhängig ist.<br />
In der letzten Zeit wurde das Monopol Englands endgültig erschüttert.<br />
Die früheren, verhältnismäßig erträglichen Lebensbedingungen wurden<br />
infolge der Verteuerung der Lebenshaltung durch bitterste Not abgelöst.<br />
Der Klassenkampf verschärft sich in gewaltigem Ausmaß, und zugleich<br />
mit dieser Verschärfung wird der Boden für den Opportunismus untergraben,<br />
gerät die frühere Grundlage für die Verbreitung der Ideen der liberalen<br />
Arbeiterpolitik in der Arbeiterklasse ins Wanken.<br />
Solange diese Ideen in einem bedeutenden Teil der Arbeiter Englands<br />
im Schwange waren, konnte von einer Beseitigung der Spaltung unter den
Englische Meinungsverschiedenheiten über liberale Arbeiterpolitik 353<br />
Arbeitern nicht die <strong>Red</strong>e sein. Mit Phrasen und Wünschen kann man keine<br />
Einheit schaffen, solange der Kampf der Sozialdemokratie gegen die liberale<br />
Arbeiterpolitik noch nicht ausgefochten ist. Aber jetzt beginnt diese<br />
Einheit tatsächlich möglich zu werden, denn in der „Unabhängigen Arbeiterpartei"<br />
selbst wächst der Protest gegen die liberale Arbeiterpolitik.<br />
Wir haben den offiziellen Bericht dieser Partei über ihren letzten Kongreß,<br />
die „20. Jahreskonferenz", die am 27. und 28. Mai 1912 in Merthyr<br />
stattfand, vorliegen, überaus interessant sind in diesem Bericht die Diskussionen<br />
zur Frage der „parlamentarischen Taktik": im Grunde genommen,<br />
waren das Diskussionen über eine wesentlichere Frage, über die sozialdemokratische<br />
und die liberale Arbeiterpolitik, obgleich die Sprecher<br />
diese Ausdrücke nicht gebrauchten.<br />
Die Diskussion auf dem Kongreß eröffnete das Parlamentsmitglied<br />
Jowett. Er brachte eine Resolution gegen die Unterstützung der Liberalen<br />
ein, über die wir gleich ausführlicher berichten werden, und einer seiner<br />
Gesinnungsgenossen, Conway, der diese Resolution unterstützte, erklärte<br />
direkt: „Der einfache Arbeiter stellt stets die Frage, ob die Arbeiterpartei<br />
im Parlament eine selbständige Linie vertritt." Unter den Arbeitern verstärkt<br />
sich der Verdacht, daß die Arbeiterpartei von den Liberalen „am<br />
Gängelband geführt" wird. „Im Lande verbreitet sich immer mehr die<br />
Ansicht, daß die Arbeiterpartei einfach ein Hügel der Liberalen Partei<br />
ist." Man muß bemerken, daß sich die „Arbeiterpartei" im Parlament<br />
nicht nur aus Abgeordneten zusammensetzt, die der „Unabhängigen Arbeiterpartei"<br />
angehören, sondern auch aus Abgeordneten, die von den<br />
Gewerkschaften aufgestellt wurden. Solche Abgeordnete nennen sich Arbeiterabgeordnete<br />
und Mitglieder der „Arbeiterpartei", obgleich sie der<br />
„Unabhängigen Arbeiterpartei" nicht angehören. Die englischen Opportunisten<br />
haben das verwirklicht, wozu die Opportunisten der anderen Länder<br />
so oft tendieren: die Vereinigung der opportunistischen „sozialistischen"<br />
Abgeordneten mit den Abgeordneten der „parteilosen" Gewerkschaftsverbände.<br />
Die berüchtigte „breite Arbeiterpartei", von der bei uns<br />
in den Jahren 1906/1907 manche Menschewiki sprachen, wurde in England<br />
und nur in England realisiert.<br />
Um seinen Anschauungen praktischen Ausdruck zu verleihen, brachte<br />
Jowett eine Resolution ein. Sie ist typisch „englisch" abgefaßt: keinerlei<br />
allgemeine Prinzipien (die Engländer rühmen sich ihres „Praktizismus"
354 W. J. <strong>Lenin</strong><br />
und ihrer Abneigung gegenüber allgemeinen Prinzipien; das ist ein Ausdrude<br />
desselben Kastengeistes in der Arbeiterbewegung). Die Resolution<br />
forderte die Arbeitergruppe im Unterhaus auf, jeglidbe "Drohungen zu<br />
ignorieren (unbeachtet zu lassen), daß sich das liberale Kabinett in der<br />
Minderheit befinden und folglich zum Rücktritt gezwungen sein könne,<br />
und zu jeder Trage standhaft (steadfastly) abzustimmen, wie es die Saöie<br />
verdient (on the merits of the questions).<br />
Jowett hat mit seiner Resolution „den Stier bei den Hörnern gepackt".<br />
Das liberale Kabinett in England, wie die ganze Liberale Partei, flößt den<br />
Arbeitern mit allen Mitteln ein: man muß die Kräfte gegen die Reaktion<br />
(d. h. gegen die Konservative Partei) vereinigen; man muß die liberale<br />
Mehrheit erhalten, die verlorengehen kann, wenn die Arbeiter nicht mit<br />
den Liberalen stimmen; die Arbeiter dürfen sich nicht isolieren, sie müssen<br />
die Liberalen unterstützen. Und Jowett stellt die Frage ganz klar: Stimmt<br />
„standhaft", beachtet nicht die Drohungen, daß das liberale Kabinett fallen<br />
könnte, stimmt nicht so, wie es das Interesse der Liberalen Partei verlangt,<br />
sondern so, wie es die Sache verdient, d. h. - in der Sprache des<br />
Marxismus - betreibt eine selbständige proletarische Klassenpolitik und<br />
nicht eine liberale Arbeiterpolitik.<br />
(Innerhalb der „Unabhängigen Arbeiterpartei" wird der Marxismus<br />
prinzipiell abgelehnt, die Sprache des Marxismus ist deshalb überhaupt<br />
nicht in Gebrauch.)<br />
über Jowett fielen sofort die in der Partei herrschenden Opportunisten<br />
her. Sie fielen über ihn her — und das ist charakteristisch! - eben wie Opportunisten,<br />
mit Schlichen und Ausflüchten. Sie wollten nicht direkt sagen,<br />
daß sie für die Unterstützung der Liberalen sind. Sie kleideten ihre Gedanken<br />
in die Form allgemeiner "Phrasen, drapierten sie mit dem obligatorischen<br />
Hinweis auf die „Selbständigkeit" der Arbeiterklasse. Sie handeln<br />
ganz ebenso wie unsere Liquidatoren, die stets gerade dann besonders<br />
laut von der „Selbständigkeit" der Arbeiterklasse schreien, wenn sie sich<br />
in Wirklidbkeit darauf vorbereiten, diese Selbständigkeit durch die liberale<br />
Arbeiterpolitik zu ersetzen.<br />
Der Vertreter der opportunistischen Mehrheit, Murray, brachte einen<br />
„Abänderungsantrag" ein, d. h. eine Gegenresolution folgenden Inhalts:<br />
„Die Konferenz stellt fest, daß die Arbeiterpartei zwecks besserer Erlangung<br />
ihrer Ziele nach wie vor alle eventuellen Ergebnisse und Folgen ihrer
Englisdoe Meinungsversdhiedenheiten über liberale Arbeiterpolilik 355<br />
Taktik, sowohl die unmittelbaren als auch die mittelbaren, in Rechnung stellen<br />
muß, wobei sie keinen Augenblick vergessen darf, daß ihre Entschlüsse ausschließlich<br />
von ihren eigenen Interessen als Partei und von dem Bestreben<br />
bestimmt sein müssen, die Gelegenheiten zur Erlangung ihrer Ziele zu vermehren."<br />
Man vergleiche beide Resolutionen. Bei Jowett die eindeutige Forderung,<br />
mit der Politik der Unterstützung der Liberalen zu brechen, bei<br />
Murray - nichtssagende Gemeinplätze, die sehr schön aussehen und auf<br />
den ersten Blick unangreifbar scheinen, aber in Wirklichkeit gerade die<br />
Politik der Unterstützung der Liberalen bemänteln. Würde Murray Marx<br />
kennen und vor Leuten sprechen, die den Marxismus schätzen, so hätte<br />
es ihm nichts ausgemacht, seinen Opportunismus in marxistische <strong>Red</strong>ewendungen<br />
zu kleiden und zu sagen, daß der Marxismus die Berücksichtigung<br />
aller konkreten Umstände eines jeden Falls fordere, daß wir uns<br />
nicht die Hände binden, daß wir, unter Wahrung unserer Selbständigkeit,<br />
„Konflikte ausnutzen", uns „an die Achillesferse der Widersprüche" eines<br />
gegebenen Regimes „klammern" usw. usf.<br />
Den Opportunismus kann man in den Termini jeder beliebigen Doktrin<br />
ausdrücken, so audb in denen des Marxismus. Die ganze Eigenart der<br />
„Schicksale des Marxismus" in Rußland besteht eben darin, daß nicht nur<br />
der Opportunismus der Arbeiterpartei, sondern auch der Opportunismus<br />
der liberalen Partei (Isgojew und Co.) sich gern in die „Termini" des<br />
Marxismus kleidet! Aber das nebenbei. Kehren wir nach Merthyr zurück.<br />
Nach Jowett sprach McLachlan.<br />
„Worin bestehen die Interessen einer politischen Partei?" fragte er. „Etwa<br />
nur darin, sich die Abgeordnetenplätze im Unterhaus zu wahren? Wenn man<br />
tatsächlich die Interessen der Partei im Auge hat, so muß man mit den Arbeitern<br />
und Arbeiterinnen außerhalb des Parlaments ebenso rechnen wie mit den<br />
Abgeordneten im Parlament. Wir sind eine sozialistische Organisation. Wir<br />
müssen in unserer politischen Tätigkeit unsere Prinzipien vertreten."<br />
McLachlan bezog sich ferner auf die Abstimmung anläßlich eines Vorfalls<br />
in der Besserungsanstalt von Haswell. Ein Junge, der dort festgesetzt<br />
war, wurde zu Tode gequält. Es erfolgte eine Interpellation im Parlament.<br />
Dem liberalen Kabinett drohte eine Niederlage: England ist nicht Preußen,<br />
und ein Kabinett, das in der Minderheit bleibt, tritt zurück. Die Ar-
356 IV. 1. <strong>Lenin</strong><br />
beiterabgeordneten aber stimmten für die Rechtfertigung des Folterknechts<br />
und retteten das Kabinett.<br />
Die Arbeiterpartei, sagte McLachlan, stellt immer in Rechnung, welche<br />
Konsequenzen ihre Stimmabgabe für das Schicksal der Regierung hat. Man<br />
sagt, fällt das Kabinett, so wird das Parlament aufgelöst und werden Neuwahlen<br />
angesetzt. Aber davor braucht man sich nicht zu fürchten. Das<br />
Ergebnis des Falls des Kabinetts und der Ansetzung von Neuwahlen wäre<br />
die Vereinigung der beiden bürgerlichen Parteien. (McLachlan sagte einfach<br />
„der beiden Parteien" ohne das Wort „bürgerlichen": Die Engländer<br />
lieben keine marxistischen Termini!) Aber je sdhneüer sidh diese beiden<br />
Parteien vereinigen würden, um so besser wäre es für unsere Bewegung.<br />
Das, was unsere Propagandisten sagen, das muß auch von unseren Abgeordneten<br />
im Parlament in die Tat umgesetzt werden. Solange das nicht der<br />
Fall ist, wird der Arbeiter-Tory (d. h. der Konservative) niemals glauben,<br />
daß es irgendeinen Unterschied zwisdien der Liberalen Partei und der<br />
Arbeiterpartei gibt. Selbst wenn wir alle Sitze im Parlament verlören -<br />
wenn wir unsere Prinzipien verteidigen, so haben wir davon mehr Nutzen<br />
als von den Bemühungen, die liberale Regierung zu umschmeicheln, um von<br />
ihr Zugeständnisse zu erhalten!<br />
Keir Hardie, Mitglied des Parlaments, Parteiführer. Er dreht und wendet<br />
sich...<br />
„Eigentlich gibt es in unserem Parlament keine ausbalancierte Stellung: die<br />
Liberalen sind zusammen mit den Iren stärker als ein Bündnis der Tones und<br />
der Arbeiterabgeordneten... In der Angelegenheit der Folterung in Haswell<br />
habe ich für die Regierung gestimmt, weil ich von der Richtigkeit eines solchen<br />
Votums der Sache nach überzeugt war und nicht, um die Regierung zu unterstützen.<br />
Eine Mißhandlung hatte es ohne Zweifel gegeben, und wir sind alle<br />
mit dem festen Entschluß ins Parlament gegangen, gegen die Regierung zu<br />
stimmen. Aber im Parlament haben wir die Gegenseite gehört, und es hat sich<br />
gezeigt, daß, obgleich sich der Anstaltsleiter Ausschreitungen hat zuschulden<br />
kommen lassen, die Anstalt doch im allgemeinen die beste im Königreich ist.<br />
Unter solchen Bedingungen wäre es falsch gewesen, gegen die Regierung zu<br />
stimmen... (Hier sieht man, wie weit die englischen Opportunisten die Arbeiterpartei<br />
gebracht haben: ihr Führer ist für eine solche <strong>Red</strong>e nicht ausgepfiffen<br />
worden, man hat ihn ruhig angehört!)<br />
Die Schuld liegt nicht bei den Mitgliedern der .Unabhängigen Arbeiterpartei'.<br />
Der Arbeiterpartei ist die Föderation der Grubenarbeiter beigetreten,
Englische Meinungsverschiedenheiten über liberale Arbeiterpolitik 357<br />
und als die Abgeordneten der Grubenarbeiter in die Arbeitergruppe eingetreten<br />
waren, erwiesen sie sidh als Überale. Sie haben auch ihre Ansichten nicht geändert.<br />
Sie haben sich der Arbeiterpartei nur nominell angeschlossen ...<br />
Die Resolution von Jowett führt das ganze System des Parlamentarismus ad<br />
absurdum. Die Konsequenzen einer jeden Abstimmung müssen in Rechnung<br />
gestellt werden.<br />
... Ich würde empfehlen, sowohl die Resolution als auch den Abänderungsantrag<br />
zurückzustellen." (!!!)<br />
Lansbury unterstützt die Resolution Jowetts:<br />
„Keir Hardie bemühte sich vergeblich, die Resolution lächerlich zu machen<br />
mit der Behauptung, sie würde vorschlagen, zu einzelnen Fragen abzustimmen,<br />
ohne alle Umstände zu erwägen. Die Resolution schlägt vor, nicht allein<br />
von der Erwägung auszugehen, wie sich das Ergebnis einer Abstimmung auf<br />
die Stabilität der Regierung auswirkt. Ich bin znm Sozialismus gekommen,<br />
nachdem ich von Widerwillen gegen die Methoden der politischen Geschäftemacher<br />
erfaßt worden war, die das Unterhaus mit Hilfe privater Versammlungen<br />
und durch die ,Lenkung 4 der Abgeordneten in ihren Händen haben.<br />
Und meine Erfahrung Jiat mir gezeigt, daß jede aufgeworfene Frage eben von<br />
dem Standpunkt erörtert wurde, welchen Einfluß diese oder jene Abstimmung<br />
auf das Schicksal der Regierung hat.<br />
Der Arbeiterpartei ist es fast unmöglich, sich von der Liberalen Partei zu<br />
differenzieren. Mir ist keine gesetzgeberische Frage bekannt, in der es der<br />
Arbeiterpartei gelungen wäre, sich von den Liberalen zu differenzieren. Als<br />
Partei waren wir in der Frage der Arbeiterversicherung ein untrennbarer Bestandteil<br />
der Regierung. Die Arbeiterpartei stimmte stets für die Regierung und<br />
für ihren Entwarf.<br />
Die Abstimmung zur Frage der Besserungsanstalt in Haswell läßt in mir ein<br />
Gefühl der Scham aufkommen. Ein Junge ist mißhandelt worden, der Junge ist<br />
an den Mißhandlungen gestorben, und wir stimmen für die Regierung und<br />
rechtfertigen damit den Büttel. Unsere ,whips' (Ordner oder Bevollmächtigte,<br />
die die Abstimmung ihrer Fraktion beaufsichtigen) liefen im ganzen Unterhaus<br />
umher, um die Arbeiterabgeordneten zu sammeln und zu verhindern, daß die<br />
Regierung eine Niederlage erleidet Wenn man die Menschen dazu anhält,<br />
gegen ihr Gewissen abzustimmen, so heißt das, daß man der Zukunft der<br />
Demokratie in diesem Lande den Todesstoß versetzt..."<br />
Philip Snowden, Mitglied des Parlaments, einer der eifrigsten Opportunisten,<br />
windet sich wie eine Schlange.
358 W. J. <strong>Lenin</strong><br />
„Mein Kampfinstinkt läßt mich geneigt sein, für die Resolution zu stimmen,<br />
aber mein gesunder Verstand, meine Vernunft, meine Erfahrung veranlassen<br />
mich, dagegen zu stimmen. Ich bin damit einverstanden, daß das gegenwärtige<br />
parlamentarische System eine demoralisierende Wirkung auf diejenigen ausübt,<br />
die voller Idealismus und politischen Enthusiasmus ins Parlament gekommen<br />
sind, aber ich bin nicht der Meinung, daß die Annahme der Resolution von<br />
Jowett eine wesentliche Änderung herbeiführen würde. Wenn man das Wesen<br />
einer Sache erörtert, darf man sich nicht allein auf die Umstände des gegebenen<br />
Falls beschränken. Es gibt Fragen, die für die Arbeiterpartei wichtiger sind als<br />
die Frage, welche eventuellen Folgen eine Abstimmung für die Regierung<br />
haben kann (so z. B. die Frage des Wahlrechts der Frauen), aber kann man<br />
diese Folgen bei der Abstimmung über irgendeine kleine Frage ignorieren?<br />
Eine solche Politik würde es notwendig machen, oft allgemeine Wahlen durchzuführen,<br />
aber für die Öffentlichkeit gibt es nichts Unangenehmeres ... Politik<br />
ist ein Kompromiß."<br />
Bei der Abstimmung wurden für die Resolution 73 Stimmen, gegen die<br />
Resolution 195 Stimmen abgegeben.<br />
Die Opportunisten haben einen Sieg errangen. Das ist nicht verwunderlich<br />
in einer solchen opportunistischen Partei, wie es die englische<br />
„Unabhängige Arbeiterpartei" ist. Aber daß der Opportunismus Opposition<br />
in den Reihen dieser Partei selbst hervorruft, das ist jetzt eine<br />
unumstößliche Tatsache.<br />
Die Gegner des Opportunismus haben viel richtiger gehandelt, als es<br />
oftmals ihre Gesinnungsgenossen in Deutschland tun, die faule Kompromisse<br />
mit den Opportunisten verteidigen. Das offene Auftreten mit einer<br />
eigenen Resolution führte zu überaus wichtigen prinzipiellen Diskussionen,<br />
und auf die Arbeiterklasse Englands werden diese Diskussionen eine<br />
tiefe Wirkung ausüben. Die liberale Arbeiterpolitik hält sich durch die<br />
Tradition, die Routine und die Geschicklichkeit der opportunistischen Führer,<br />
aber ihr Fiasko in der Masse des Proletariats ist unausbleiblich.<br />
(geschrieben vor dem 5. fisj Oktober i9i2.<br />
Zuerst veröffentlicht im April I9i3 in der Nach dem Text der Zeitschrift.<br />
Zeitschrift „Proswesdbtsdhenije" 5Vr. 4.<br />
Unterschrift: W.
DER KADETTENPROFESSOR<br />
359<br />
Herr Professor Tugan-Baranowski, ein Kandidat der Kadettenpartei,<br />
zählt zu den Ökonomen Rußlands, die in ihrer Jugend Beinahe-Marxisten<br />
waren, dann aber rasch „gescheiter wurden", Marx durch Bruchstücke<br />
bürgerlicher Theorien „verbesserten" und sich durch große Renegatenverdienste<br />
Lehrstühle an den Universitäten erwarben zur gelehrten Ver-<br />
Jummung der Studenten.<br />
Kürzlich servierte Herr Tugan, der sich vom Marxisten zum Liberalen<br />
entwickelt hat, in der „Retsch" zu der aktuellen Frage der steigenden<br />
Lebenshaltungskosten folgende Betrachtung:.<br />
„Von meinem (?) Standpunkt aus ist die wichtigste (so, so!) Ursache der<br />
Verteuerung der Lebenshaltung völlig klar. Es ist das ungeheure Anwachsen<br />
der Bevölkerung, und zwar vor allem der städtischen. Der Bevölkerungszuwachs<br />
bewirkt den Obergang zu intensiveren Methoden der Bodenbearbeitung, was<br />
nadb dem bekannten Qesetz der sinkenden Produktivität der landwirtschaftlichen<br />
Arbeit ein Ansteigen des Arbeitswerts der Einheit des erzeugten Produkts<br />
nach sich zieht."<br />
Herr Tugan liebt es auszurufen: „ich", „mein". In Wirklichkeit wiederholt<br />
er Bruchstücke der von Marx längst widerlegten bürgerlichen Lehren.<br />
Das „bekannte Gesetz der sinkenden Produktivität" ist ein alter bürgerlicher<br />
Plunder, der Unwissenden und gedungenen Gelehrten der Bourgeoisie<br />
dazu dienen soll, den Kapitalismus zu rechtfertigen. Marx hat<br />
dieses „Gesetz", das die Schuld auf die 'Natur abwälzt (wenn die Arbeitsproduktivität<br />
sinkt, kann man eben nichts machen!), während in Wirklichkeit<br />
die kapitalistische Gesellschaftsordnung die Schuld trägt, längst<br />
widerlegt.
360 IV. 7. <strong>Lenin</strong><br />
Das „Gesetz der sinkenden Produktivität der landwirtschaftlichen Arbeit"<br />
ist eine bürgerliche Lüge. Das Gesetz der wachsenden Rente, das<br />
heißt des Gewinns der Eigentümer des Grund und Bodens, im Kapitalismus<br />
ist die Wahrheit.<br />
Eine der Ursachen für die Verteuerung der Lebenshaltung ist das Monopol<br />
am Grund und Boden, d. h. die Tatsache, daß er sich in Privateigentum<br />
befindet. Die Grundbesitzer nehmen daher einen immer größeren<br />
Tribut von der steigenden Arbeitsproduktivität. Nur die Organisierung<br />
der Arbeiter zur Wahrnehmung ihrer Interessen, nur die Beseitigung der<br />
kapitalistischen Produktionsweise werden der Teuerung ein Ende setzen.<br />
Nur Diener der Bourgeoisie, wie der Kadett Herr Tugan, können noch<br />
das Märchen vom „Gesetz" der sinkenden Produktivität der landwirtschaftlichen<br />
Arbeit nachplappern.<br />
„Vrawda" 3Vr. 147, Nadb dem Jext der „Vrawda".<br />
19. Oktober 1912.<br />
Untersdhrift-.W.l
EIN NEUES KAPITEL<br />
DER WELTGESCHICHTE<br />
36t<br />
Selbst die bürgerliche Presse von ganz Europa, die aus reaktionären<br />
und eigennützigen Beweggründen heraus für den berüchtigten Status quo<br />
(den früheren, unveränderten Zustand) auf dem Balkan eintrat, gibt jetzt<br />
einhellig zn, daß ein neaes Kapitel der Weltgeschichte begonnen hat.<br />
Die Niederlage der Türkei steht außer Zweifel. Die Siege der im Viererbund<br />
vereinigten Balkanstaaten (Serbien, Bulgarien, Montenegro nnd<br />
Griechenland) sind gewaltig. Das Bündnis dieser vier Staaten ist Tatsache<br />
geworden. „Der Balkan den Balkanvölkem": das ist sdhon erreicht.<br />
Was für eine Bedeutung aber hat das neue Kapitel der Weltgeschichte?<br />
In Osteuropa (Österreich, Balkan und Rußland) sind bis heute die starken<br />
Überreste des Mittelalters, die die gesellschaftliche Entwicklung nnd<br />
das Anwachsen des Proletariats so sehr aufhalten, noch nicht beseitigt.<br />
Diese Überreste sind: Absolutismus (unumschränkte selbstherrliche<br />
Macht), Feudalismus (Grundbesitz und Privilegien der feudalen Gutsbesitzer)<br />
und Unterdrückung der Nationalitäten.<br />
Die klassenbewußten Arbeiter der Balkanländer haben als erste die<br />
Losung der konsequenten demokratischen Lösung der nationalen Frage<br />
auf dem Balkan aufgestellt Diese Losung lautet: föderative Balkanrepublik.<br />
Die Schwäche der demokratischen Klassen in den heutigen Balkanstaaten<br />
(das Proletariat ist zahlenmäßig schwach, die Bauern sind unterdrückt,<br />
zersplittert und ungebildet) führte dazu, daß das ökonomisch und politisch<br />
notwendige Bündnis zu einem Bündnis der Balkanmonarchien wurde.<br />
Die nationale Frage auf dem Balkan ist ihrer Lösung um einen großen<br />
Schritt näher gekommen. Von ganz Osteuropa bleibt jetzt einzig und allein<br />
Rußland ein ganz und gar rückständiger Staat.<br />
24 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>
362 IV. 1. <strong>Lenin</strong><br />
Obwohl auf dem Balkan ein Bündnis der Monarchien und nicht ein<br />
Bündnis der Republiken entstanden ist, obwohl dieses Bündnis durch den<br />
Krieg und nicht durch die Revolution hergestellt wurde, ist dennoch ein<br />
großer Schritt vorwärts zur Vernichtung der Überreste des Mittelalters<br />
in ganz Osteuropa getan. Und ihr frohlockt zu früh, ihr Herren Nationalisten!<br />
Dieser Schritt ist gegen euch gerichtet, denn in Rußland gibt es<br />
die meisten Überreste des Mittelalters!<br />
In Westeuropa aber verkündet das Proletariat noch nachdrücklicher die<br />
Losung: Keinerlei Einmischung! Der Balkan den Balkanvölkern!<br />
„Prawda" 3Vr. 149, Tiad] dem 7ext der ,?rawda".<br />
21. Oktober 1912.
DIE KADETTEN<br />
UND DIE NATIONALISTEN<br />
363<br />
Als wir darauf verwiesen, daß die Kadetten im Grunde ihrer Seele<br />
Nationalliberale sind, daß sie die nationale Frage keineswegs in demokratischer<br />
Weise stellen, antwortete ans die „Retsch" aufgebracht und hochmütig,<br />
uns der Unkenntnis und der Entstellung bezichtigend.<br />
Hier ein Dokument, eines von vielen. Mögen die Leser und Wähler urteilen.<br />
Am <strong>18</strong>. Oktober tagte bei Herrn M. M. Kowalewski die zweite Versammlung<br />
des „Kreises von Personen, die sich für die slawische Frage<br />
interessieren". Es wurde eine Adresse an die Öffentlichkeit verlesen, unterzeichnet<br />
von J. Anitschkow, Karejew, L. Pantelejew (er war Kandidat<br />
der Kadetten), G. Falbork, femer natürlich von Herrn M. M. Kowalewski<br />
u. a.<br />
Wird sich wohl die „Retsch" der Verantwortung für Karejew, Pantelejew<br />
und Co. entziehen wollen?<br />
Die Adresse der Liberalen an die Öffentlichkeit läuft darauf hinaus, daß<br />
„das russische Herz im allgemeinen Hochflug der Gefühle... voller<br />
Sympathie für die Slawen und in der Hoffnung schlägt, daß das russische<br />
nationale Selbstbewußtsein dazu beitragen wird, ihnen die Früchte ihrer<br />
Siege zn sichern".<br />
Wodurch unterscheidet sich das vom Nationalismus und Chauvinismus<br />
des „Nowoje Wremja" und Co? Nur durch die weißen Handschuhe und<br />
die diplomatisch vorsichtigeren Wendungen. Aber der Chauvinismus ist<br />
auch in weißen Handschuhen und trotz der gewähltesten <strong>Red</strong>ewendungen<br />
abscheulich.
364 19. 3. <strong>Lenin</strong><br />
Die Demokratie wird niemals von „allgemeinem Hochflug der Gefühle"<br />
sprechen, wenn daneben (und obenan!) die russischen Nationalisten stehen,<br />
die eine Reihe von Völkern auf jede Weise unterdrücken.<br />
Die Demokratie wird es niemals dulden, daß einfach der Slawe dem<br />
Türken entgegengestellt wird, wenn man den slawischen und den türkischen<br />
Bauern gemeinsam den slawischen und den türkischen Gutsbesitzern<br />
und Halsabschneidern entgegenstellen muß.<br />
Die Demokratie wird es niemals zulassen, daß das Selbstbewußtsein<br />
der Freunde der Freiheit und der Feinde der Unterdrückung in allen Nationalitäten<br />
durch das „russische nationale Selbstbewußtsein" vertauscht<br />
wird - bei gleichzeitiger Unterdrückung und Verfolgung der Polen, der<br />
Juden, der „Fremdstämmigen" überhaupt.<br />
Kein einziger ehrlicher Demokrat, kein einziger aufrichtiger Freund<br />
der unterdrückten Nationalitäten darf für die Kadetten stimmen!<br />
„Prawda" 7ir. i5i, SVacfo dem Text der „Prawda".<br />
24. Oktober i9i2.<br />
Untersdbrijt-.W.l.
DIE SCHRECKEN DES KRIEGES<br />
365<br />
Die kriegführenden Parteien verbergen vor „Außenstehenden", d. h.<br />
vor der ganzen Welt, nach Kräften, was auf dem Balkan vor sich geht.<br />
Die Korrespondenten werden getäuscht, hingehalten, und erst lange Zeit<br />
nach Beendigung der jeweiligen Kampfhandlungen dürfen sie das Schlachtfeld<br />
betreten.<br />
Nur außergewöhnliche Umstände ermöglichen es daher, ab und zu die<br />
Wahrheit über den Krieg zu erfahren. Solche außergewöhnlichen Umstände<br />
waren es offenbar, die Herrn Donohoe, einem Korrespondenten<br />
der englischen Zeitung „The Daily Chronicle", zu Hilfe kamen. Ihm ist<br />
es gelungen, auf türkischer Seite die Schlacht bei Lüle-Burgas mitzuerleben,<br />
danach fuhr er in einem Automobil bis Konstantinopel und von dort<br />
per Schiff nach Konstanza (Rumänien). Aus Konstanza konnte er frei nach<br />
London telegrafieren.<br />
Die Niederlage der Türken war schrecklich. Auf ihrer Seite fielen nahezu<br />
40000 (!) Mann. Die Katastrophe ist nicht geringer als die bei Mukden,<br />
schreibt der Engländer. Drei Viertel der türkischen Geschütze fielen<br />
den Bulgaren in die Hände. Die Bulgaren ließen die Türken ganz nahe<br />
herankommen und den Nahkampf eröffnen, zogen sich dann rasch zurück<br />
und... Maschinengewehre mähten die Türken zu Hunderten, zu<br />
Tausenden nieder.<br />
Der Rückzug der Türken verwandelte sich in eine ungeordnete Flucht<br />
kopfloser, hungriger, erschöpfter, wahnsinnig gewordener Haufen. Das<br />
Automobil des Korrespondenten blieb in einem Haufen Fliehender stekken.<br />
Die hungrigen Türken baten ihn um Brot. Er mußte selbst Verbände<br />
anlegen. Ärzte sind rar. Verbandstoff fehlt. Proviant fehlt. Ich war Zeuge<br />
vieler Feldzüge, schreibt der Engländer, aber so fürchterliches Elend, solche<br />
Massenvernichtung hungriger, erschöpfter, abgekämpfter, hilfloser Bauern<br />
aus Anatolien (Kleinasien) habe ich mir niemals auch nur vorgestellt.<br />
„Trawda" TJr. i55,28. Oktober i9l2. Tlaäs dem 7ext der „Vravoda".<br />
Unterschrift: "W.ir.
366<br />
DIE KADETTEN<br />
UND DIE GROSSBOURGEOISIE<br />
Die Siege der Kadetten in der ersten städtischen Kurie von Moskau und<br />
Petersburg, dann bei der Wahl der Industrievertreter im Reichsrat, schließlich<br />
die eindeutig erwiesene Tatsache, daß die Reaktionäre die Kadetten<br />
gegen die Sozialdemokraten unterstützt haben - alles das sind Anzeichen<br />
einer sehr interessanten politischen Entwicklung aller Klassen unserer Gesellschaft.<br />
Erinnern wir uns an den wichtigen Beschluß der Sozialdemokraten über<br />
das Wesen der Kadettenpartei vom Jahre 1907: „Die Parteien der liberalmonarchistischen<br />
Bourgeoisie und die wichtigste dieser Parteien, die Kadetten,<br />
haben sich schon jetzt entschieden von der Revolution abgewandt<br />
und verfolgen das Ziel, der Revolution durch einen Kompromiß mit der<br />
Konterrevolution ein Ende zu machen; die soziale Grundlage solcher Parteien<br />
bilden die ökonomisch fortgeschritteneren Schichten der Bourgeoisie,<br />
besonders aber die bürgerliche Intelligenz, während ein Teil des städtischen<br />
und ländlichen Kleinbürgertums diesen Parteien nur noch aus Tradition<br />
(aus blinder Gewohnheit) folgt und weil er von den Liberalen direkt betrogen<br />
wird." 88<br />
Die Ereignisse haben die Richtigkeit dieser Charakteristik vollauf bestätigt.<br />
Aus der zweiten städtischen Kurie (wo es viele demokratische<br />
Wähler gibt) werden die Kadetten von der Demokratie verdrängt. Aus<br />
der ersten städtischen Kurie verdrängen die Kadetten ihrerseits die Oktobristen.<br />
Je stärker die Reaktion wütet, je offener die Wahlen verfälscht werden,<br />
um so mehr geht das Großkapital auf die Seite des Liberalismus über. Das<br />
Klassenwesen der Kadettenpartei, wie es von den Marxisten in den Jahren
Die Kadetten und die Qroßbourgeoisie 367<br />
1906 und 1907 gekennzeichnet wurde, enthüllt sidb jetzt anschaulich vor<br />
den Massen.<br />
Deutlich wird der Irrtum derer, die die Kadetten für eine Partei der<br />
städtischen Demokratie hielten. Das Bündnis der Kadetten mit den Reaktionären<br />
verwandelt sich nach und nach aus einem geheimen in ein offenes<br />
Bündnis: die Reaktionäre bringen den Kadetten Mansyrew gegen den<br />
Sozialdemokraten Predkaln, den Kadetten Nikolajew gegen den Sozialdemokraten<br />
PokrowsM durch.<br />
Die sozialdemokratische Politik ist gerade deshalb so stark und so unbesiegbar,<br />
weil ihre Richtigkeit durch die ganze Entwicklung der kapitalistischen<br />
Gesellschaft immer mehr bestätigt wird. Die Kadetten schließen<br />
sich mit der Großbourgeoisie zusammen, die, bei all ihrem konterrevolutionären<br />
Charakter, nidht zufrieden sein kann. Die Demokratie rückt<br />
von den Kadetten nadb links ab.<br />
„Vrawda" Nr. 157, Nadb dem 7ext der .Trawda".<br />
i.November 1912.
368<br />
ECHT RUSSISCHE SITTEN<br />
Die Zeitung „Semsditsdiina" brachte kürzlich, neben Versen von Purischkewitsch,<br />
einen Artikel über den „berühmten" (von nun an auch<br />
ohne Anführungszeichen berühmten) offiziösen Publizisten Gurjew von<br />
der „Rossija". Die „Semschtschina" versichert, er sei „ein Publizist mit<br />
jüdisch-liberalem Einschlag". Sonderbar! Sollte auch die offizielle „Rossija"<br />
ein jüdisch-liberales Organ sein?<br />
Aber worum geht es? Darum, daß die Generalversammlung der Aktionäre<br />
der Petersburger Zwirnmanufaktur Gurjew einstimmig seines Postens<br />
als Vorstandsmitglied enthoben hat. Außerdem hat man beschlossen,<br />
sich an den Staatsanwalt zu wenden mit dem Ersuchen, Gurjew wegen<br />
unrechtmäßiger Handlungen vor Gericht zu stellen.<br />
Es stellt sich heraus, daß Gurjew 1000 Rubel eingebracht hat und das<br />
Recht auf ein "Drittel der Profite erwarb, obwohl die beiden Fabrikanten<br />
und Kompagnons 100 000 Rubel eingebracht haben! Wofür legen die<br />
Kapitalisten gegenüber Gurjew eine solche Freigebigkeit an den Tag?<br />
Dafür, daß dieser Mann Wirklicher Staatsrat, Mitarbeiter der offiziellen<br />
Zeitung „Rossija" usw. usf. ist. Er war persönlicher Sekretär Wittes.<br />
Er hat „außergewöhnliche Beziehungen". Er versprach ... staatliche Subventionen!<br />
Die Herren Kapitalisten „bewerteten" also die „Beziehungen" zur<br />
Regierung ziemlich hoch: mit genau 49000 Rubeln. Ihre Ware gegen unser<br />
Geld. Sie haben „Beziehungen zur Regierung", die Möglichkeit, Subventionen<br />
zu beschaffen, und wir das liebe Geld. Es ist Kauf und Verkauf.<br />
Für soundso viel Tausende „Beziehungen zur Regierung", für soundso<br />
viel — Subventionsversprechungen, für soundso viel - Mitarbeit an der offiziellen<br />
„Rossija". Bitte, Herr Gurjew!
Edht russisdoe Sitten 369<br />
Gurjew hat genommen - und betrogen. Er hat die Versprechungen<br />
nicht erfüllt, dafür aber angefangen, mehr als ein Drittel der Profite zu<br />
fordern, ja sogar Erpressungsversuche zu machen, d. h. Gelder herauszupressen,<br />
indem er drohte, den Kredit des Unternehmens zu untergraben.<br />
Eine charakteristische Angelegenheit. Eine typische Angelegenheit. Eine<br />
alltägliche Erscheinung. Eine Illustration zu dem Thema: Die Beziehungen<br />
zur Regierung und die Subventionen in ihrem Verhältnis zum Kapital.<br />
Nur, was hat das mit „jüdisch-liberalem Einschlag" zu tun, meine<br />
Herren von der „Semschtschina" ? Das ist ein echt russischer, ein echt<br />
konservativer Einschlag! Seien Sie nicht so bescheiden, verehrte Freunde<br />
Purischkewitschs!<br />
.Trawda" Nr. 160, Nadh dem 7ext der „Prawda".<br />
4. November 1912.<br />
Untersdhrift:7.
370<br />
DIE PLATTFORM DER REFORMISTEN<br />
UND DIE PLATTFORM DER<br />
REVOLUTIONÄREN SOZIALDEMOKRATEN<br />
Der revolutionäre Aufschwung in Rußland trat in der ersten Hälfte<br />
des Jahres 1912 unverkennbar zutage. Die Zahl der Teilnehmer an politischen<br />
Streiks erreichte nach den Berechnungen der Fabrikanten in fünf<br />
Monaten 515000. Welches die Losungen dieser Streikenden, welches ihre<br />
Forderungen waren, welchen politischen Inhalt ihre Demonstrationen,<br />
Meetings usw. hatten, davon zeugt ein besonders wichtiges Dokument,<br />
das in Nr. 27 des Zentralorgans in vollem Wortlaut abgedruckt wurde,<br />
der Maiaufruf der Petersburger Arbeiter.<br />
Nicht mit reformistischen Losungen traten die Petersburger Arbeiter in<br />
diesen denkwürdigen Tagen auf, sondern mit den Losungen der revolutionären<br />
Sozialdemokratie: Konstituierende Versammlung, Achtstundentag,<br />
Konfiskation der Gutsbesitzerländereien, Sturz der zaristischen Regierung,<br />
demokratische Republik.<br />
Die Aufstände und Aufstandsversuche der Soldaten und Matrosen in<br />
Turkestan, in der Baltischen Flotte und am Schwarzen Meer erbrachten<br />
erneut die objektive Bestätigung dafür, daß in Rußland nach langen Jahren<br />
des Wütens der Konterrevolution und des Stillstands in der Arbeiterbewegung<br />
ein neuer revolutionärer Aufschwung eingesetzt hat.<br />
Dieser Aufschwung fiel in die Zeit der Wahlen zur IV. Reichsduma, als<br />
alle Parteien, alle politischen Richtungen in der einen oder anderen Weise<br />
mit einer allgemeinen Einschätzung der politischen Lage hervortreten<br />
mußten. Wenn wir also unsere politischen Aufgaben als Aufgaben der<br />
Arbeiterklasse, und nicht als fromme Wünsche von Gruppen, ernsthaft<br />
analysieren wollen, wenn wir die Programme und Plattformen in marxistischer<br />
Weise prüfen wollen, indem wir sie den Tatsachen des Massenkampfes<br />
und den Aktionen sämtlidber Klassen der gegebenen Gesellschaft<br />
gegenüberstellen, so müssen wir eben an dem Prüfstein dieses revolutionä-
Die Plattform der Reformisten 371<br />
ren Jufsdhwungs der Massen auch die verschiedenen Wahlplattformen<br />
erproben. Denn für die Sozialdemokratie sind die Wahlen nicht eine besondere<br />
politische Operation, eine Jagd nach Mandaten vermittels irgendwelcher<br />
Versprechungen oder Erklärungen, sondern lediglich eine besondere<br />
Gelegenheit zur Agitation für die Hauptforderungen und für die<br />
Grundlagen der politischen Weltanschauung des klassenbewußten Proletariats.<br />
Die Programme und Plattformen aller Regierungsparteien, von den<br />
Schwarzhundertern bis zu Gutschkow, erwecken keinerlei Zweifel. Ihr<br />
konterrevolutionärer Charakter springt in die Augen, tritt offen zutage.<br />
Das Fehlen jedweden irgendwie ernsthaften Rückhalts dieser Parteien<br />
nicht nur in der Arbeiterklasse und in der Bauernschaft, sondern sogar in<br />
breiten Schichten der Bourgeoisie ist allgemein bekannt. Den Oktobristen<br />
haben diese Schichten fast gänzlich den Rücken gekehrt.<br />
Die Programme und Plattformen der bürgerlich-liberalen Parteien sind<br />
zum Teil beinahe offiziell veröffentlicht worden (die Plattform der mohammedanischen<br />
Gruppe), zum Teil sind sie aus der „großen" politischen<br />
Presse genauestens bekannt (die Plattformen der „Progressisten", der Kadetten).<br />
Das "Wesen aller dieser Programme und Plattformen hat der<br />
geschwätzige Kadett Gredeskul in Erklärungen, die in der „Retsch" nachgedruckt<br />
wurden und von da aus in die marxistische Presse gelangt sind,<br />
ganz vorzüglich zum Ausdruck gebracht.<br />
„Die öffentliche Leugnung der Notwendigkeit einer neuen Revolution<br />
in Rußland", so hat Herr Gredeskul selbst seine Anschauungen formuliert<br />
(vgl. „Sozial-Demokrat" Nr. 27, S. 3), und er hat auch den Revolutionären<br />
die wirkliche Plattform des Liberalismus (mit den Kadetten an der<br />
Spitze) entgegengehalten: „Vonnöten ist lediglidh eine ruhige, beharrliche<br />
und zielbewußte konstitutionelle Arbeit."<br />
Wir betonen die Worte: wirkliche Plattform, da sowohl in Rußland wie<br />
in allen bürgerlichen Ländern die meisten Plattformen nur zur Sdbau gestellte<br />
Plattformen sind.<br />
Das Wesen der Sache besteht nun gerade in dem, was Herr Gredeskul<br />
(in einem seltenen Anfall von Wahrheitsliebe) gestanden hat. Die liberalmonarchistische<br />
Bourgeoisie ist gegen eine neue Revolution, sie tritt ledig-<br />
Hdb für konstitutionelle Reformen ein.<br />
Die Sozialdemokratie tritt konsequent, die bürgerliche Demokratie (die
372 Ti>. J. <strong>Lenin</strong><br />
Volkstümler) mit Schwankungen für die „Notwendigkeit" einer neuen<br />
Revolution ein und propagiert sie. Der Aufschwung des 2Wassenkampfes<br />
hat eingesetzt. Die revolutionären Sozialdemokraten sind bestrebt, ihn zu<br />
erweitern und zu konsolidieren, indem sie mithelfen, ihn weiter, bis zum<br />
Stadium der "Revolution, voranzutreiben. Die Reformisten dagegen betrachten<br />
den Aufschwung lediglich „als Belebung", ihre Politik ist auf die<br />
Erringung konstitutioneller Zugeständnisse, konstitutioneller Reformen<br />
gerichtet. Bourgeoisie und Proletariat sind infolgedessen auch in dieser<br />
„Etappe" der russischen Geschichte in den Kampf um den Einfluß auf<br />
das „Volk", auf die Massen eingetreten. Niemand vermag den Ausgang<br />
des Kampfes vorauszusagen, aber niemand auch vermag Zweifel daran zu<br />
hegen, welchen Platz die SDAPR in diesem Kampf einnehmen muß.<br />
So und nur so kann man an die Beurteilung der Wahlplattform der<br />
Partei und auch jener Wahlplattform herangehen, die dieser Tage durch<br />
das von der Liquidatorenkonferenz gewählte „Organisationskomitee"<br />
herausgegeben wurde.<br />
Die vom Zentralkomitee nach der Januarkonferenz veröffentlichte<br />
Wahlplattform der Partei ist noch vor den Ereignissen vom April und Mai<br />
verfaßt worden. Diese Ereignisse haben ihre Richtigkeit bestätigt. Durch<br />
die ganze Plattform zieht sich ein Gedanke hindurch: die Kritik an der<br />
Aussichtslosigkeit, an der utopischen Natur konstitutioneller Reformen<br />
im heutigen Rußland und die Propagierung der Revolution. Die Losungen<br />
der Plattform sind eben mit der Zielsetzung gewählt, mit vollster Klarheit<br />
die revolutionären Aufgaben-zum Ausdruck zu bringen und ihre Vermengung<br />
mit Versprechungen von konstitutionellen Reformen ganz unmöglich<br />
zu machen. Die Plattform der Partei ist so beschaffen, daß sie einen direkten<br />
Aufruf der revolutionären Sozialdemokraten an die Hunderttausende<br />
Teilnehmer der politischen Streiks, an die fortgeschrittensten Elemente der<br />
Millionen Bauern im Waffenrock darstellt, denen die Aufgaben des Aufstandes<br />
erläutert werden. Die revolutionäre Partei kann sich einen besseren<br />
Prüfstein für ihre Plattform, eine bessere Bestätigung dieser Plattform<br />
durch das Leben selbst nicht einmal träumen lassen, als dieses unmittelbare<br />
Echo auf ihre Erläuterungen in Gestalt der Maistreiks und der militärischen<br />
Aufstandsversuche vom Juni und Juli.<br />
Man werfe einen Blick auf die Plattform der Liquidatoren. Ihr liquidatorischer<br />
Charakter wird durch die revolutionären Phrasen Trotzkis
Die Plattform der Reformisten 373<br />
geschickt verschleiert. Naive und gänzlich unerfahrene Leute kann diese<br />
Verschleierung manchmal täuschen, ja, sie kann ihnen als „Versöhnung"<br />
der Liquidatoren mit der Partei erscheinen. Aber schon die geringste Aufmerksamkeit<br />
wird diesen Selbstbetrug rasch zerstreuen.<br />
Die Plattform der Liquidatoren ist nado den Maistreiks und den Aufstandsversuchen<br />
vom Sommer geschrieben worden. Und wenn wir eine<br />
sachliche, reale Antwort auf die Frage nach dem Wesen dieser Plattform<br />
suchen, fragen wir vor allen Dingen: Wie hat sie diese Streiks und diese<br />
Aufstandsversuche beurteilt?<br />
„Wirtschaftlicher Aufschwung..." „Durch das Anwachsen seiner<br />
Streikbewegung hat das Proletariat den herannahenden Eintritt eines<br />
neuen gesellschaftlichen Aufschwungs angezeigt " „Die machtvolle<br />
Aprilbewegung des Proletariats mit der Forderung nach Koalitionsfreiheit"<br />
— das ist alles, was die Liquidatoren in der Plattform über die Streiks<br />
vom April und Mai zu sagen haben.<br />
Aber das ist ja doch eine Unwahrheit! Das ist eine schreiende Verzerrung<br />
der Dinge! Hier ist die Hauptsache übergangen: der revolutionäre<br />
Charakter des politischen Streiks, der eben nidot auf die Durchsetzung<br />
irgendeiner konstitutionellen Reform, sondern auf den Sturz der Regierung,<br />
d. h. auf die Revolution gerichtet ist.<br />
Wie konnte es geschehen, daß in einer illegalen, revolutionären Proklamation<br />
voller „schöner" Phrasen eine derartige Unwahrheit gesagt wurde?<br />
Das mußte so sein, denn so betrachten die Liberalen und die Liquidatoren<br />
die Dinge. Sie sehen in den Streiks das, was sie in ihnen sehen wollen:<br />
einen Kampf für konstitutionelle Reformen. Sie sehen nicht, was sie nicht<br />
sehen wollen: den revolutionären Aufschwung. Für Reformen wollen wir<br />
Liberalen kämpfen, für die Revolution dagegen nicht - das ist die "Wahrheit<br />
über ihre Klassenstellung, die ihren Ausdruck in der Unwahrheit der<br />
Liquidatoren gefunden hat.<br />
über die Aufstandsversuche lesen wir: „Die Soldaten in der Kaserne<br />
werden durch Gewalt, Erniedrigungen und Hunger zu verzweifelten Protestausbrüdben<br />
getrieben, dann aber werden sie mit der Kugel, mit dem<br />
Strick usw. wieder zur Ruhe gebracht "<br />
Das ist die Einschätzung der Liberalen. Wir revolutionären Sozialdemokraten<br />
erblicken in den Aufstandsversuchen den Beginn des Aujstands der<br />
Massen, einen mißglückten, verfrühten, unrichtigen Beginn, aber wir wis-
374 19. J. £enin<br />
sen, daß die "Massen den erfolgreichen Aufstand nur an Hand der Erfahrung<br />
mißglückter Aufstände erlernen, wie die russischen Arbeiter durch<br />
eine Reihe mißglückter und manchmal sogar besonders unglücklicher politischer<br />
Streiks in den Jahren 1901-1904 den erfolgreichen Streik des Oktobers<br />
1905 erlernt haben. Die durch die Kaserne am ärgsten eingeschüchterten<br />
Arbeiter und Bauern haben begonnen, sich zu erheben - so sagen<br />
wir. Daraus ergibt sich die klare und direkte Schlußfolgerung: man muß<br />
ihnen erläutern, um welcher Ziele willen und wie der erfolgreiche Aufstand<br />
vorzubereiten ist.<br />
Die Liberalen urteilen anders: Die Soldaten werden zu „verzweifelten<br />
Protestausbrüchen" „getrieben", sagen sie. Für die Liberalen ist der aufständische<br />
Soldat nicht Subjekt der Revolution, nicht der erste Vorbote der<br />
sich erhebenden Massen, sondern ein Objekt der Regierungswillkür („man<br />
treibt ihn zur Verzweiflung"), das zur Demonstrierung dieser Willkür<br />
dient.<br />
Seht, wie schlecht unsere Regierung ist, daß sie die Soldaten zur Verzweiflung<br />
treibt und sie dann mit der Kugel zur Ruhe bringt - sagt der<br />
Liberale. (Schlußfolgerung: Seht ihr, wenn wir Liberalen an der Macht<br />
wären, so gäbe es bei uns keine Soldatenaufstände.)<br />
Seht, wie die revolutionäre Energie im Schöße der breiten Massen heranreift<br />
- sagt der Sozialdemokrat -, wenn sogar die durch den Kasernenhofdrill<br />
niedergedrückten Soldaten und Matrosen sich zu erheben beginnen<br />
und dadurch,, daß sie ihren Aufstand schlecht machen, lernen, wie<br />
man einen erfolgreichen Aufstand macht.<br />
Seht: die Liquidatoren haben den im Frühjahr und Sommer eingetretenen<br />
revolutionären Aufschwung in Rußland „erläutert" (in der Bedeutung,<br />
die dieses Wort im Senat besitzt).<br />
Sie „erläutern" im Anschluß'daran das Programm unserer Partei.<br />
Im Programm der SDAPR heißt es:<br />
„Die SDAPR... stellt sich als nädbste politische Aufgabe den Sturz der<br />
zaristischen Selbstherrschaft und ihre Ersetzung durch die demokratische Republik,<br />
deren Verfassung gewahrleisten würde: 1. die Selbstherrschaft des Volkes<br />
..." usw. - folgt die Aufzählung der „Freiheiten" und „Rechte".<br />
Man möchte glauben, daß das nicht mißzuverstehen ist. Die „nächste"<br />
Aufgabe ist der Sturz der Selbstherrschaft und ihre Ersetzung durch die<br />
Republik, die die Freiheiten gewährleistet.
Die Plattform der 'Reformisten 375<br />
Die Liquidatoren haben das alles umgemodelt:<br />
„Die Sozialdemokratie", lesen wir in ihrer Plattform, „ruft das Volk zum<br />
Kampfe für die demokratische Republik auf...<br />
Im Streben nach diesem Ziel, das das Volk lediglidh im Qefolge der Revolution<br />
zu erreichen vermag, ruft die Sozialdemokratie in der gegenwärtigen<br />
"Wahlkampagne" (Hört!) „die werktätigen Massen auf, sich auf der Basis der<br />
folgenden Ja^esforderungen zusammenzuschließen: 1. allgemeines usw. Stimmrecht<br />
... bei den Wahlen zur Reidbsduma" usw.<br />
Der Sozialrevolutionäre Liquidator Herr Peschechonow schrieb im<br />
Herbst 1906, als er an der Gründung der „legalen Partei" arbeitete (die<br />
er um ein Haar gegründet hätte ... nur die Polizei hat ihn gestört und ins<br />
Kittchen gesteckt!), daß die Republik eine „weit in die Zukunft reichende<br />
Perspektive" sei, daß „die Frage der Republik äußerste Vorsicht erfordert",<br />
daß auf der Tagesordnung als Forderung jetzt - Reformen stehen.<br />
Aber der Sozialrevolutionäre Liquidator war naiv, simpel, plump und<br />
sprach ohne Umschweife. Handeln etwa die „europäischen" Opportunisten<br />
so? Nein, sie sind schlauer, gerissener, diplomatischer...<br />
Sie geben die Losung der Republik nicht preis - welch eine Verleumdung!<br />
Sie „erläutern" sie lediglich in gebührender Weise, wobei sie sich<br />
von Erwägungen leiten lassen, wie sie für jeden Spießbürger auf der Hand<br />
liegen. Ob es zur Revolution kommen wird oder nicht, das ist noch eine<br />
Frage - sagt der Spießbürger in seiner simplen Art und wiederholt Trotzki<br />
in gelehrter Art in der „Nascha Sarja" (Nr. 5, S. 21). Die Republik<br />
„lediglich im Gefolge der Revolution", „in der gegenwärtigen Wahlkampagne"<br />
aber sind die „ Jages'forderungen konstitutionelle Reformen!<br />
Alles ging so schön glatt: die Republik war sowohl anerkannt - als auch<br />
in die Ferne gerückt. An rrrevolutionären Worten hat man nicht gespart -<br />
in Wirklichkeit aber sind „in der gegenwärtigen Wahlkampagne" (die<br />
ganze Plattform wird nur für diese gegenwärtige Kampagne geschrieben!)<br />
als „Tages"forderungen Reformforderungen aufgestellt worden.<br />
Ja, ja, große „Meister der diplomatischen Kunst" saßen in der Liquidatorenkonferenz<br />
... Und wie erbärmlich sind doch diese Meister! Aber<br />
wenn sie auch die Winkeldiplomaten in Entzücken zu versetzen, wenn sie<br />
auch einen simplen „Versöhnler" irre zu machen vermögen - ein Marxist<br />
wird ihnen anders begegnen.
376 TV. 3. <strong>Lenin</strong><br />
Der Spießbürger begnügt sich mit der unbestreitbaren, unanfechtbaren<br />
and nidhtssagenden Wahrheit, daß man nicht vorher wissen kann, ob es<br />
zur Revolution kommen wird oder nicht. Der Marxist begnügt sich nicht<br />
damit; er sagt: Unsere Propaganda und die Propaganda aller sozialdemokratischen<br />
Arbeiter ist einer der 7äktoren, die bestimmen, ob es zur<br />
Revolution kommen wird oder nicht. Hunderttausende Teilnehmer an<br />
politischen Streiks, die fortgeschrittensten Elemente der verschiedenen<br />
Truppenteile fragen uns, unsere Partei, welchen Weg sie einschlagen, im<br />
Namen welcher Sache sie sich erheben, was sie anstreben sollen, ob der<br />
beginnende Aufschwung bis zur Revolution vorangetrieben oder ob er auf<br />
den Kampf für Reformen hingelenkt werden soll.<br />
Die revolutionäre Sozialdemokratie hat Antwort auf diese Fragen gegeben,<br />
die um einiges interessanter und wichtiger sind als das spießbürgerlich-trotzldstische<br />
„Nasenbohren": Wird es zur Revolution kommen oder<br />
nicht, wer kann das wissen?<br />
Unsere Antwort ist die: Kritik an der utopischen Natur konstitutioneller<br />
Reformen, Aufklärung über die Aussichtslosigkeit der auf sie gesetzten<br />
Hoffnungen, allseitige und größtmögliche Förderung des revolutionären<br />
Aufschwungs, hierzu Ausnützung der Wahlkampagne. Ob es<br />
zur Revolution kommt oder nicht, das hängt nidbt nur von uns ab. Wir<br />
aber werden das "Unsere tun, und das wird niemals mehr ungeschehen<br />
gemacht werden können. Das wird dazu beitragen, tief in die Massen<br />
hinein die Saat des Demokratismus und der proletarischen Selbständigkeit<br />
zu streuen, und diese Saat wird unbedingt aufgehen, ob nun morgen in der<br />
demokratischen oder übermorgen in der sozialistischen Revolution.<br />
"Jene dagegen, die den Massen ihren abgeschmackten, intellektuellen,<br />
bundistisch-trotzkistischen Skeptizismus predigen: „ob es zur Revolution<br />
kommt oder nicht, weiß man nicht, auf der Tagesordnung' stehen Reformen"<br />
- diese Leute demoralisieren sdhon beute die Massen, predigen den<br />
Massen liberale Utopien.<br />
Anstatt die Wahlkampagne mit dem Geiste der gegebenen, realen<br />
„gegenwärtigen" politischen Situation zu erfüllen, wo eine halbe Million<br />
Arbeiter in revolutionäre Streiks tritt, wo die fortgeschrittensten Elemente<br />
der im Waffenrock steckenden Bauern auf die adligen Offiziere schießen<br />
- statt dessen streichen sie aus ihren angeblich „europäischen" (sie sind ja<br />
doch solche Europäer, ach, so gute Europäer, diese Liquidatoren!) „par-
Die Plattform der Reformisten 377<br />
Iamentarischen" Erwägungen diese reale Situation (in der es sehr wenig<br />
„Europäisches" und sehr viel „Chinesisches", das beißt Revolutionär-<br />
Demokratisches gibt). Und während sie sich über diese Situation mit<br />
einigen zu nichts verpflichtenden Phrasen hinwegsetzen, erklären sie die<br />
reformistische zur einzig wirklichen Wahlkampagne!<br />
Die sozialdemokratische Partei braucht die Wahlplattform zur<br />
IV. Duma, um noch einmal sowohl aus Anlaß als auch gelegentlich der<br />
Wahlen, als auch im Meinungsstreit über die Wahlen die Massen über die<br />
Notwendigkeit, die Dringlichkeit und die Vnvermeidlidbkeit der Revolution<br />
aufzuklären.<br />
Sie, die Liquidatoren, brauchen die Plattform „für" die Wahlen, d. h.,<br />
um Erwägungen über eine Revolution als unbestimmte Möglichkeit höflich<br />
beiseite zu schieben, eine Wahlkampagne zwecks Aufführung konstitutioneller<br />
Reformen aber zur einzig „wirklichen" zu erklären.<br />
Die sozialdemokratische Partei will die Wahlen dazu ausnützen, um<br />
die Massen immer und immer wieder auf den Gedanken der Notwendigkeit<br />
der Revolution, des bereits beginnenden, eben revolutionären Aufschwungs<br />
hinzulenken. Darum sagt die sozialdemokratische Partei mit<br />
ihrer Plattform den Wählern zur IV. Duma klipp und klar: Nicht konstitutionelle<br />
Reformen, sondern die Republik, nicht Reformismus, sondern<br />
die Revolution.<br />
Die Liquidatoren benutzen die Wahlen zur IV. Duma zur Propagierung<br />
konstiturioneller Reformen und zur Abschwächung des Gedankens der<br />
Revolution. Zu diesem Zweck, deshalb, werden die Soldatenaufstände als<br />
„verzweifelte Protestausbrüche" hingestellt, zu denen man die Soldaten<br />
„getrieben" habe, und nicht als der Beginn des Massenaufstands, der<br />
anwachsen oder abebben wird, unter anderem auch in Abhängigkeit davon,<br />
ob alle sozialdemokratischen Arbeiter Rußlands sofort darangehen werden,<br />
ihn mit allen Kräften, mit aller Energie, mit allem Enthusiasmus zu<br />
unterstützen.<br />
Zu diesem Zweck hat man die Maistreiks nicht als revolutionäre, sondern<br />
als reformistische „erläutert".<br />
Zu diesem Zweck hat man das Parteiprogramm „erläutert", hat man<br />
vorgeschrieben, an Stelle der „nächsten" Aufgabe, der Schaffung der<br />
Republik, die die Freiheit gewährleistet, „in der gegenwärtigen Wählkampagne"<br />
- und zwar für die IV. Reichsduma, Spaß beiseite! - die<br />
25 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Ed. <strong>18</strong>
378 "W. l <strong>Lenin</strong><br />
Forderung nach verschiedenen Freiheiten als auj der Jagesordnung stehend<br />
zu betrachten.<br />
Wieviel Altchinesisches weist doch das russische Leben auf! Wieviel<br />
Altchinesisches weist doch unser Zarismus und wieviel davon weisen<br />
unsere Liquidatoren auf, die die „Zeremonie" des parlamentarischen<br />
Kampfes und des Reformismus angesichts der Purischkewitsch und Treschtschenkow<br />
oben und der revolutionären Versuche der Massen unten<br />
aufführen möchten! Wieviel Altchinesisches weisen dodi die Anstrengungen<br />
der Intellektuellen auf, sich vor den Chwostow und Makarow<br />
durch die Vorweisung eines Empfehlungsbriefes von MacDonald und<br />
Jaures, von ßissolati und Bernstein, von Kolb und Frank zu schützen!...<br />
Die diplomatische „Aussöhnung" der liquidatorischen Anschauungen<br />
mit denjenigen der Partei, die Trotzki auf der Liquidatorenkonferenz<br />
vorgeführt hat, „versöhnt" in Wirklichkeit absolut nichts. Sie wird jene<br />
entscheidende politische Tatsache nicht aus der Welt schaffen, die die<br />
ganze soziale und politische Situation des heutigen Rußlands bestimmt.<br />
Diese Tatsache ist der Kampf zwischen der reformistischen und der revolutionär-sozialdemokratischen<br />
Plattform, ist das Auftreten der Bourgeosie<br />
in der Person ihrer liberalen Parteiführer gegen die Notwendigkeit<br />
einer neuen Revolution in Rußland und für den Weg der ausschließlich<br />
konstitutionellen „Arbeit" - als Gegengewicht gegen das Auftreten der<br />
Hunderttausende von Proletariern im revolutionären Streik, der die Massen<br />
zum wirklichen Kampf für die Freiheit ruft.<br />
Wenn man einen Kratzfuß vor den Reformisten und einen zweiten vor<br />
der revolutionären Sozialdemokratie macht, so wird damit diese objektive<br />
politische Tatsache nicht aus der Welt geschafft, wird dadurch ihre Kraftund<br />
ihr Gewicht in keiner Weise abgeschwächt. Die guten Absichten, die auf<br />
dieser Tatsache beruhenden Meinungsverschiedenheiten zu glätten, vermögen<br />
nicht - selbst wenn sie wirklich absolut „gut gemeint" und aufrichtig<br />
sind —, die durch die ganzen Verhältnisse der Konterrevolution bedingten<br />
und einander unversöhnlich feindlichen politischen Tendenzen zu<br />
ändern.<br />
Das Proletariat hat sich unter seinem revolutionär-sozialdemokratischen<br />
Banner erhoben, und es wird dieses Banner am Vorabend der IV. Duma,<br />
der Schwarzhunderterduma, nicht vor den Liberalen einrollen, wird es<br />
nicht den Reformisten zuliebe einrollen; es wird sich nicht bereit finden, seine
Die Plattform der Reformisten 379<br />
Plattform den Erwägungen der Winkeldiplomatie zuliebe abzuschwächen<br />
oder zu vertuschen.<br />
Die Plattform der revolutionären Sozialdemokratie gegen die Plattform<br />
des Reformismus - in diesem Zeichen sind die Maistreiks verlaufen, in<br />
diesem Zeichen geht die SDAPR auch in die Wahlen zur Duma der Gutsbesitzer<br />
und Pfaffen, in diesem Zeichen wird die ganze Arbeit der Partei<br />
in dieser Duma und unter den breiten Volksmassen stehen.<br />
,Sozu\\-T>emohral" TJf. 28/29, Nadb dem 7 ext des<br />
5. (i8.) November 1912. . Sozial-Demokrat".
380<br />
ILLEGALE PARTEI<br />
UND LEGALE ARBEIT<br />
Die Frage der illegalen Partei und der legalen Arbeit der Sozialdemokraten<br />
in Rußland ist eine der Hauptfragen, vor denen die Partei steht;<br />
sie beschäftigt die SDAPR in der ganzen Periode nach der Revolution, sie<br />
hat den heftigsten inneren Kampf in ihren Reihen ausgelöst.<br />
Um diese Frage ging vor allem der Kampf der Liquidatoren gegen die<br />
Antiliquidatoren, und die Heftigkeit dieses Kampfes erklärt sich ganz und<br />
gar dadurch, daß er auf die Frage binausliej, ob es unsere alte, illegale<br />
Partei geben soll oder nicht. Die Konferenz der SDAPR im Dezember<br />
1908 verurteilte entschieden das Liquidatorentum und legte in einer besonderen<br />
Resolution klar den Standpunkt der Partei in der Organisationsfrage<br />
fest: Die Partei setzt sich aus illegalen sozialdemokratischen Zellen<br />
zusammen, die sich „Stützpunkte für die Massenarbeit" in Gestalt eines<br />
möglichst breiten und weitverzweigten Netzes verschiedenartiger legaler<br />
Arbeitervereinigungen schaffen müssen.<br />
Die Beschlüsse des Plenums des ZK vom Januar 1910 wie auch die<br />
Gesamtrussische Konferenz vom Januar 1912 haben diese Auffassung der<br />
Partei in vollem Maße bestätigt. Die völlige Bestimmtheit und Beständigkeit<br />
dieser Auffassung wird wohl am anschaulichsten durch den letzten<br />
„Dnewnik" des Gen. Plechanow (Nr. 16, April 1912) charakterisiert. Wir<br />
sagen: am anschaulichsten, weil gerade Plechanow damals eine neutrale<br />
Stellung (hinsichtlich der Bedeutung der Januarkonferenz) einnahm. Und<br />
von seinem neutralen Standpunkt aus bestätigt er vollauf diesen fest<br />
umrissenen Standpunkt der Partei, wenn er sagt, daß man die sog.<br />
„Initiativgruppen" - die sich von der Parteiorganisation abgespalten<br />
haben, sie verlassen haben oder neben ihr entstanden sind - ohne beson-
Illegale Partei und legale Arbeit 381<br />
deren Beschluß eines Parteitags oder einer Konferenz der illegalen Zellen<br />
nicht als zur Partei gehörig betrachten dürfe. Es wäre Anarchismus in<br />
prinzipieller Hinsicht, Unterstützung und Legalisierung des Liquir!atorentums<br />
in praktischer Hinsicht, schreibt Gen. Plechanow, wenn es den<br />
„Initiativgruppen" überlassen bliebe, über ihre Zugehörigkeit zur Partei<br />
selbst zu bestimmen.<br />
Es scheint, durch diese letzte Erläuterung des neutralen Plechanow<br />
müßte die Frage, die von der Partei so viele Male mit aller Bestimmtheit<br />
entschieden worden ist, als erledigt gelten. Aber die Resolution der letzten<br />
Liquidatorenkonferenz zwingt uns, noch einmal darauf zurückzukommen,<br />
da es neue Versuche gibt, Entwirrtes zu verwirren und Klares zu verschleiern.<br />
Der „Newski Golos" (Nr. 9) hat mit zügellosen Beschimpfungen<br />
an die Adresse der Antiliquidatoren erklärt, die neue Konferenz sei keine<br />
Liquidatorenkonferenz. Indessen beweist ihre Resolution zu einer der<br />
wichtigsten Fragen, der Frage der illegalen Partei und der legalen Arbeit,<br />
ganz eindeutig, daß die Konferenz durch und durch liquidatorisch ist.<br />
Wir müssen also diese Resolution eingehend untersuchen und zu diesem<br />
Zweck in vollem Wortlaut zitieren.<br />
I<br />
Die Resolution der Liquidatorenkonferenz trlgt die Überschrift: „über<br />
die Organisationsformen des Parteiau/fraus", in Wirklichkeit aber zeigt<br />
schon ihr erster Punkt, daß es nicht um die „Formen" des Aufbaus geht,<br />
sondern darum, weldbe Partei man hier „aufbauen" will, die alte oder eine<br />
neue. Hier der erste Punkt:<br />
„Die Konferenz erörterte die Frage nach den Formen und Methoden des<br />
Parteiaufbaus und kam zu folgendem Schluß:<br />
1. Die Umwandlung der Sozialdemokratie in eine sich selbst verwaltende<br />
Organisation des sozialdemokratischen Proletariats kann nur insofern erfolgen,<br />
als die sozialdemokratische Organisation im Prozeß der Einbeziehung der<br />
Arbeitennassen in das offene gesellschaftlich-politische Leben in all seinen<br />
Erscheinungsformen entsteht."<br />
Das erste Wort der Resolution über den Aufbau der Partei ist also die<br />
kategorische Anerkennung der Notwendigkeit einer 'Umwandlung der<br />
Sozialdemokratie. Das ist zumindest sonderbar. Natürlich hat jedes Mit-
382 -W. 7. £enin<br />
glied der Partei das Recht, ihre „Umwandlung" anzustreben, es ist doch<br />
aber offenkundig schon vier Jahre lang die <strong>Red</strong>e von der Anerkennung<br />
oder Nichtanerkennung der alten Partei! Wer wüßte das nicht?<br />
Die Resolution der Partei (vom Dezember 1908) spricht eindeutig<br />
genug die Verurteilung der Liquidatoren aus, die die alte Partei durch<br />
eine neue „ersetzen" wollen. Plechanow fragt im April 1912 die<br />
Verteidiger der „Initiativgruppen", die eine Liquidatorenkonferenz einberufen<br />
wollten (und auch einberufen haben), Plechanow fragt sie geradeheraus:<br />
„Existiert unsere alte Partei oder nicht?" („Dnewnik Sozialdemokrata"<br />
Nr. 16, April 1912, S. 8.)<br />
Dieser Frage kann man nicht ausweichen. Der vier Jahre währende<br />
Kampf hat sie gestellt. In ihr liegt die ganze Zuspitzung der sog. Partei-<br />
„krise" beschlossen.<br />
Antwortet man uns auf eine solche Frage: „Die Umwandlung der<br />
Sozialdemokratie... kann nur insofern erfolgen...", so sehen wir sofort,<br />
daß das keine Antwort, sondern eine leere Ausflucht ist.<br />
Von einer Umwandlung der Partei können die Mitglieder der alten<br />
Partei reden. Wenn ihr, meine Herren, der Frage, ob es die alte Partei<br />
gibt, ausweicht und schlankweg (mit Beteiligung der nidit zur Partei gehörigen<br />
„Initiativgruppen") ihre „Umwandlung" dekretiert, so bestätigt<br />
ihr dadurch nur vollends, daß ihr auf dem Standpunkt des Liquidatorentums<br />
steht! Noch offenkundiger wird dieser Umstand, wenn die Resolution<br />
- nach völlig inhaltslosen, deklamatorischen Phrasen über eine „sich<br />
selbst verwaltende Organisation des sozialdemokratischen Proletariats" -<br />
darauf hinausläuft, daß die „Umwandlung" „nur insofern erfolgen kann,<br />
als die sozialdemokratische Organisation" (wir halten uns nicht mehr bei<br />
der lächerlichen, aufgebauschten und dummen Phraseologie auf) „im Prozeß<br />
der Einbeziehung der Arbeitermassen in das offene gesellsdiajtlidbpolitische<br />
Leben entsteht"!!<br />
Was heißt das? Nennen die Verfasser dieser erstaunlichen Resolution<br />
einen Streik und eine Demonstration „Einbeziehung der Massen in das<br />
offene" usw. Leben? Nach den Gesetzen der Logik, ja! In diesem Falle<br />
ist die Resolution völliger Unsinn, denn jedermann weiß sehr wohl, daß<br />
die „Organisation" auch ohne Streiks und Demonstrationen „entsteht".<br />
Eine Organisation, meine neunmalweisen Herren, existiert ständig, während<br />
die Massen nur von Zeit zu Zeit offen auftreten.
Illegale Partei und legale Arbeit 383<br />
Die Herren Liquidatoren verstehen unter „offenem gesellschaftlich-politischem<br />
Leben" (was wählen doch diese Leute für einen offiziös-liberalen<br />
Stil - wie in den „Russkije Wedomosti" vor 30 Jahren!) die legalen Formen<br />
der Arbeiterbewegung, keineswegs aber Streiks, Demonstrationen<br />
u. dgl. m. Vortrefflich. Auch in diesem Fall ist die Resolution Unsinn, denn<br />
unsere Organisation „entsteht" und ist entstanden keineswegs „nur" im<br />
Prozeß der Einbeziehung der Massen in die legale Bewegung. Wir haben<br />
eine Organisation an vielen Orten, wo keinerlei Formen legaler Bewegung<br />
geduldet werden.<br />
Der Hauptpunkt der Resolution (die Organisation entstehe „nur insofern<br />
...") taugt also überhaupt nichts. Das ist ein völliges Durcheinander.<br />
Aber in diesem Durcheinander ist deutlich der liquidatorische Inhalt<br />
zu erkennen. Die Umwandlung sei nur im Prozeß der Einbeziehung der<br />
Massen in die legale Bewegung möglich - darauf läuft in Wirklichkeit das<br />
Kauderwelsch des 1. Punktes hinaus. Und das eben ist reinstes Liquidatorentum.<br />
Die Partei sagt seit vier Jahren: Unsere Organisation besteht aus illegalen<br />
Zellen, die von einem möglichst weitverzweigten Netz legaler Vereinigungen<br />
umgeben sind.<br />
Die Liquidatoren leugnen seit vier Jahren, daß sie Liquidatoren sind,<br />
und wiederholen seit vier Jahren: Die Umwandlung ist nur möglid) im<br />
Prozeß der Einbeziehung der Massen in die legale Bewegung. Die Frage,<br />
woraus unsere Partei besteht, wie diese alte Partei beschaffen ist, umgeht<br />
man, und zwar gerade so, wie es den Legalisten paßt. Das ganze Gerede<br />
steht unter dem Motto: Und wenn man nicht mehr weiter kann, dann<br />
fängt man wieder von vorne an. Plechanow fragt im April 1912: Existiert<br />
unsere alte Partei oder nicht? Die Liqtridatorenkonferenz antwortet: „Die<br />
Umwandlung ist nur insofern möglich, als die Massen in die legale Bewegung<br />
einbezogen werden!"<br />
Das ist die Antwort von Legalisten, die sich von der Partei abgespalten<br />
haben, die gestern stark waren und die Partei reizten, heute aber (nach<br />
erlittener Niederlage) schüchtern geworden sind und sich durch schöne<br />
<strong>Red</strong>en verteidigen.
384 IV. 1. <strong>Lenin</strong><br />
Punkt 2 der Resolution besagt:<br />
II<br />
„2. Angesichts der Veränderung der gesellschaftlich-politischen Verhältnisse<br />
im Vergleich zur vorrevolutionären Epoche müssen sich die bestehenden und die<br />
neu entstehenden illegalen Parteiorganisationen den neuen Formen und Methoden<br />
der legalen Arbeiterbewegung anpassen."<br />
Wiederum eine herrliche Logik. Ans einer Veränderung der gesellschaftlichen<br />
Verhältnisse folgt nur eine Veränderung der Organisationsform,<br />
aber die Richtung dieser Veränderung wird in der Resolution durch<br />
nichts begründet.<br />
Wozu beruft sich die Resolution auf die „Veränderung der gesellschaftlich-politischen<br />
Verhältnisse"? Offenbar, um ihren praktischen Schluß zu<br />
beweisen, zu begründen, zu ziehen: die illegale Organisation müsse sich<br />
der legalen Bewegung anpassen. Aber aus der Prämisse folgt keineswegs<br />
ein solcher Schluß. „Angesichts der Veränderung der Verhältnisse" muß<br />
sich das Legale dem Illegalen anpassen — ein solcher Schluß wäre ebenso<br />
berechtigt!<br />
Woher dieses Durcheinander bei den Liquidatoren?<br />
Daher, daß sie Angst haben, die Wahrheit zu sagen, und sich die größte<br />
Mühe geben, zwischen zwei Stühlen zu sitzen.<br />
Die Wahrheit ist die, daß die Liquidatoren auf dem Standpunkt der<br />
licjuidatorisdben (von LewizH, Latin, Jeshow und anderen gegebenen)<br />
Einschätzung der „gegenwärtigen Lage" stehen, denn die Erklärung, wie<br />
sich „die gesellschaftlich-politischen Verhältnisse verändert" haben, ist<br />
eben eine Einschätzung der Lage.<br />
Sie fürchten sich jedoch, diese Einschätzung unumwunden darzulegen.<br />
Ihre Konferenz wagte es nicht einmal, diese Frage auf zuwerfen. Stillschweigend<br />
und insgeheim schmuggelt sie die Auffassung durch, daß<br />
(irgendwelche) Veränderungen vor sich gegangen seien, die eine „Anpassung"<br />
des Illegalen an das Legale erfordern.<br />
Das ist eine Auffassung, die sich durch nichts von der der Kadetten<br />
unterscheidet, wie die sozialdemokratische Parteipresse bereits wiederholt<br />
nachgewiesen hat. Die Kadetten erkennen durchaus an, daß ihre Partei<br />
„insgesamt gezwungen ist, illegal zu bleiben" (siehe Punkt 3 der Resolution<br />
der Liquidatoren), und daß, angesichts der veränderten Verhältnisse,<br />
die illegale Partei sich der legalen Bewegung anpassen müsse. Für
Illegale Partei und legale Arbeit 385<br />
die Kadetten genügt das. Für sie ist das Verbot ihrer Partei, ihr Übergang<br />
in die Illegalität ein Zufall, eine „Abnormität", ein Überbleibsel, und die<br />
Hauptsache, das Wesentliche, Grundlegende - ihre legale Arbeit. Diese<br />
ihre Auffassung ergibt sich logisdh aus der „Einschätzung der Lage", wie<br />
sie Herr Gredeskul mit den Worten zum Ausdruck brachte: vonnöten sei<br />
keine neue Revolution, sondern lediglich eine „konstitutionelle Arbeit".<br />
Die Illegalität der Kadettenpartei ist ein Zufall, ist eine Ausnahme in<br />
dem Gesamtsystem der „konstitutionellen Arbeit". Hieraus folgt logischerweise,<br />
daß sich die illegale Organisation „der legalen Bewegung anpassen"<br />
muß. So eben steht es um die Kadetten.<br />
Die sozialdemokratische Partei aber hat einen anderen Standpunkt. Die<br />
grundlegende Schlußfolgerung aus unserer, aus der von der Partei gegebenen<br />
Einschätzung der Lage besteht darin, daß die Revolution nötig ist<br />
und kommen wird. Verändert haben sich die formen der zur Revolution<br />
hinführenden Entwicklung, geblieben sind die alten Aufgaben der Revolution.<br />
Daher die Schlußfolgerung: Die Organisationsformen müssen sich<br />
ändern, die Formen der „Zellen" müssen elastisch sein, ihre Erweiterung<br />
wird häufig dadurch erfolgen, daß nicht die Zellen selbst erweitert werden,<br />
sondern ihre legale „Peripherie" usw. Alles das ist in den Resolutionen<br />
der Partei viele Male gesagt worden.<br />
Aber diese Veränderung der 7ormen der illegalen Organisation deckt<br />
sich keineswegs mit der Formel: „Anpassung" an die legale Bewegung. Das<br />
ist etwas ganz anderes! Die legalen Organisationen sind Stützpunkte für<br />
die Verbreitung der Ideen der illegalen Zellen unter den Massen. Wir verändern<br />
also die Form der Beeinflussung, um der bisherigen Beeinflussung<br />
eine illegale Richtung zu geben.<br />
Der Jortn der Organisationen nach erfolgt eine „Anpassung" des Illegalen<br />
an das Legale. Dem Inhalt der Arbeit unserer Partei nach erfolgt<br />
eine „Anpassung" der legalen Tätigkeit an die illegalen Ideen. (Daher<br />
rührt, in Parenthese gesagt, der ganze Krieg des „revolutionären<br />
Menschewismus" gegen die Liquidatoren.)<br />
Man bedenke, wie tiefsinnig unsere Liquidatoren sind, wenn sie die<br />
erste Prämisse (über die Form der Arbeit) annehmen, die zweite aber (über<br />
den Inhalt der Arbeit) vergessen!! Und sie betitelten ihre kadettische Weisheit<br />
als Betrachtung über die Organisationsformen des Parteiaw/fojus, so<br />
daß eine solche Betrachtung herauskam:
386 "W. 7. <strong>Lenin</strong><br />
„Man muß die Partei aufbauen, indem man sich die Aufgabe stellt, (sie)<br />
durch die Einbeziehung der Massen in die legale Bewegung umzuwandeln und<br />
die illegale Organisation dieser Bewegung anzupassen."<br />
Es fragt sich, sieht das der Antwort der Partei ähnlich? - (die Partei<br />
aufbauen heißt die illegalen Zellen festigen und vermehren und mit einem<br />
Netz legaler Stützpunkte umgeben).<br />
- Oder gleicht das nicht, als Wiederholung der Gedanken der Kadetten<br />
und der Volkssozialisten, der Legalisierung eines Hintertürchens für die<br />
Liquidatoren? - Der Volkssozialist Herr Peschechonow vertrat im August<br />
1906, als er die „legale Partei" begründen wollte, eben diese Gedanken;<br />
siehe „Russkoje Bogatstwo" 1906, Nr. 8, und den Artikel „Sozialrevolutionäre<br />
Menschewiki"* im „Proletari" Nr. 4.<br />
III<br />
Punkt 3 der Resolution lautet:<br />
„3. Die sozialdemokratische Partei muß schon heute, wo ihre Organisation<br />
insgesamt gezwungen ist, illegal zu bleiben, danach streben, einzelne Bereiche<br />
ihrer Parteiarbeit offen zu betreiben und dafür die entsprechenden Einrichtungen<br />
zu schaffen."<br />
Wir zeigten schon, daß dies ein völlig exaktes, vom ersten bis zum<br />
letzten Wort richtiges Konterfei der Xadettenpartei ist. Das Wort „sozialdemokratische"<br />
aber ist hier fehl am Platze.<br />
Die Partei der Kadetten ist tatsächlich „insgesamt" „gezwungen", illegal<br />
zu bleiben - ihr Streben richtet sich tatsächlich „schon" heute (wo wir,<br />
Gott sei Dank, eine Verfassung haben ...) darauf, einen Teil ihrer Parteiarbeit<br />
offen zu betreiben.<br />
Die stillschweigende Prämisse, die in jeder Zeile dieser liquidatorischen<br />
Resolution steckt, besteht gerade in der Anerkennung der „konstitutionellen<br />
Arbeit" als ausschließliche, zumindest als wichtigste, beständige,<br />
grundlegende Arbeit.<br />
Das ist grundfalsch. Das sind eben die Ansichten der liberalen Arbeiterpolitik.<br />
Die sozialdemokratische Partei ist illegal sowohl „insgesamt" als auch in<br />
jeder Zelle und - was das Wesentlichste ist - im ganzen Inhalt ihrer Arbeit,<br />
* Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 11, S. <strong>18</strong>4-194. Die <strong>Red</strong>.
Illegale Partei und legale Arbeit . 387<br />
die die Revolution propagiert und vorbereitet. Deshalb kann eine noch so<br />
offene Arbeit einer noch so offenen Zelle der sozialdemokratischen Partei<br />
nicht als „offen betriebene Parteiarbeit" bezeichnet werden.<br />
In den Jahren 1907-1912 zum Beispiel war die am weitesten „offene"<br />
Zelle der SDAPR die sozialdemokratische Dumafraktion. Sie konnte am<br />
„offensten" sprechen. Sie allein war legal und konnte legal über sehr vieles<br />
sprechen.<br />
Aber nicht über alles! Und zwar nicht nur schlechthin „nicht über alles",<br />
sondern sogar im besonderen in bezug auf die eigene Partei, die eigene<br />
Parteiarbeit „nicht über alles" und nicht über das Wichtigste. Deshalb<br />
können wir nicht einmal in bezug auf die sozialdemokratische<br />
Dumafraktion den Punkt 3 der liquidatorischen Resolution annehmen,<br />
ganz zu schweigen von den übrigen „einzelnen Bereichen" der Partei.<br />
Die Liquidatoren sind Anhänger einer „offenen", einer legalen Partei.<br />
Sie haben jetzt Angst (Angst flößten ihnen die Arbeiter ein, Angst zu<br />
haben rät ihnen Trotzki), das direkt zu sagen. Sie sagen jetzt dasselbe, nur<br />
sind sie bemüht, das ein wenig zu bemänteln. Sie schweigen von der<br />
Legalisierung der Partei. Sie propagieren die ratenweise Legalisierung<br />
der Partei!<br />
Die „Initiativgruppen" der abgespaltenen Legalisten sind parteiwidrig,<br />
sagte der neutrale Plechanow den Liquidatoren im April 1912. - Die<br />
„Initiativgruppen" der abgespaltenen Legalisten - das heißt eben, die<br />
„Parteiarbeit" in einzelnen Bereichen offen betreiben, antwortet die Liquidatorenkonferenz;<br />
das ist eben jene „legale Bewegung", der sich die illegale<br />
Partei „anpassen" muß; das ist eben jenes „offene Leben", in das<br />
„einbezogen" zu werden Kriterium und Unterpfand für die notwendige<br />
„Umwandlung" der Partei ist.<br />
Welche Tröpfe müssen die Liquidatoren gefunden haben, wenn ihre<br />
Erzählungen stimmen, daß diese Ansichten von den von Trotzki mitgebrachten<br />
„Antiliquidatoren" gebilligt worden seien!<br />
IV<br />
Der letzte Punkt der Resolution lautet:<br />
„4. Da die sozialdemokratische Organisation infolge ihrer Illegalität nicht<br />
die Möglichkeit hat, die breiten Kreise der Arbeiter, auf die sich ihr Einfluß
388 IV. 7. <strong>Lenin</strong><br />
erstredet, organisatorisch zu erfassen, muß sie sich mit den politisch aktiven<br />
Schichten des Proletariats und durch diese auch mit den Massen verbinden,<br />
indem sie verschiedenartige in mehr oder minder feste Formen gebrachte legale<br />
bzw. illegale politische Organisationen und verschiedenartige legale Tarnorgane<br />
(Wahlkomitees, politische Vereinigungen, gegründet auf der Basis des<br />
Gesetzes vom 4. März, kommunale Gesellschaften, Vereinigungen zum Kampf<br />
gegen die Teuerung u. dgl. m.) bildet und zugleich ihre Aktionen mit den unpolitischen<br />
Arbeiterorganisationen koordiniert."<br />
Auch hier verbergen 'unangreifbare Betrachtungen über legale Tarnorgane<br />
nicht nur Strittiges, sondern auch direkt Liquidatorisches.<br />
Die Bildung legaler politischer Organisationen - das eben ist es, was<br />
Lewizki und N. R-kow predigten, das eben ist die ratenweise Legalisierung<br />
der Partei.<br />
Wir sagen den Liquidatoren schon über ein Jahr lang: Genug der<br />
Worte, gründet doch eure „legalen politischen Vereinigungen" wie die<br />
„Vereinigung zur Verteidigung der Interessen der Arbeiterklasse" u. dgl. m.<br />
Genug der Phrasen, macht euch an die Arbeit!<br />
Aber sie können sich nicht an die Arbeit machen, denn im heutigen<br />
Rußland kann man keine liberale Utopie verwirklichen. Sie können auf<br />
diese versteckte Weise nur ihre „Initiativgruppen" verteidigen, die mit<br />
nützlichen Gesprächen und wechselseitigen Ermunterungen, Vorschlägen<br />
und Betrachtungen über „legale politische Organisationen" beschäftigt sind.<br />
Sie verteidigen ihre „Initiativgruppen", indem sie in der Resolution<br />
offiziell erklären, die illegalen Organisationen müßten „sich mit den f>olttisdb<br />
aktiven Schichten des Proletariats und durch diese auch mit den Massen<br />
verbinden"!!! Die „politisch aktiven" stehen also gerade außerhalb<br />
der Zellen! - ist das nicht eine bloße Wiederholung der bekannten Phrasen<br />
und Deklamationen, daß aus der „abgestorbenen Partei" alles Aktive in<br />
die „Initiativgruppen" geflüchtet sei?<br />
Das, was die „Nascha Sarja" und das „Delo Shisni" [Sache des Lebens]<br />
direkt sagten, wenn sie die illegale Partei beschimpften, das sagen Trotzki<br />
und die aus der Partei ausgeschlossenen Liquidatoren „konzilianter":<br />
gerade außerhalb der engen illegalen Partei stehe das angeblich am meisten<br />
„ Aktive", mit ihm eben müsse man „sich verbinden". Wir, die abgespaltenen<br />
Liquidatoren, sind das aktive Element; durch uns muß sich die „Partei"<br />
mit den Massen verbinden.
Wegeile Partei und legale Arbeit 389<br />
Die Partei sagte es mit aller Klarheit: Bei der Leitung des wirtschaftlichen<br />
Kampfes bedarf es der Zusammenarbeit der sozialdemokratischen<br />
Parteizellen mit den Gewerkschaften, mit den sozialdemokratischen Zellen<br />
in ihnen, mit den einzelnen Funktionären der Gewerkschaftsbewegung.<br />
Oder: In der Wahlkampagne zu den Dumawahlen müssen die Gewerkschaften<br />
mit der Partei zusammengehen. Das ist klar, exakt und verständlich.<br />
Statt dessen predigen die Liquidatoren eine nebelhafte „Koordinierung"<br />
der Arbeit der Partei schlechthin mit „unpolitischen", d. h.<br />
parteilosen Verbänden.<br />
P. B. Axelrod gab Trotzki die Ideen des Liquidatorentums. Trotzki riet<br />
Axelrod, nach dessen bitteren Mißerfolgen in der „Nasdia Sarja", diese<br />
Ideen durch Phrasen, die sie verwirren, zu tarnen.<br />
Diese Gesellschaft wird niemanden täuschen. Die Liquidatorenkonferenz<br />
wird die Arbeiter lehren, den Sinn ausweichender Phrasen besser zu<br />
erkennen. Außer dieser bitteren, wenig interessanten, aber in der bürgerlichen<br />
Gesellschaft nicht unnützen „Lehre" wird diese Konferenz den<br />
Arbeitern nichts bringen.<br />
Die Ideen der liberalen Arbeiterpolitik haben wir in Lewizlds Hausanzng<br />
studiert, sie sind auch in dem eleganten und bunten Gewand<br />
Trotzkis unschwer zu erkennen.<br />
Die Ideen der Partei von der illegalen Organisation und ihrer legalen<br />
Arbeit treten gegenüber all diesen heuchlerischen Maskeraden immer eindringlicher<br />
hervor.<br />
„Sozialdemokrat" 'Nr. 28/29, TJadi dem Text des<br />
5. (<strong>18</strong>.) November 1912. .SoziaWDemokrat".
390<br />
DIE SOZIALE BEDEUTUNG<br />
DER SERBISCH-BULGARISCHEN SIEGE<br />
„Die Eroberung Mazedoniens durch Bulgarien und Serbien bedeutet für<br />
dieses Land die bürgerliche Revolution - sein 1789 oder <strong>18</strong>48" — diese<br />
Worte des österreichischen Marxisten Otto Bauer lassen sofort das eigentliche<br />
Wesen der jetzigen Ereignisse auf dem Balkan erkennen.<br />
Die Revolutionen von 1789 in Frankreich, von <strong>18</strong>48 in Deutschland<br />
und in anderen Ländern waren bürgerliche Revolutionen, weil die Befreiung<br />
der Länder vom Absolutismus und von den Privilegien der Feudalherren<br />
tatsächlich freie Bahn für die Entwicklung des Kapitals schuf. Aber<br />
selbstverständlich entsprachen diese Revolutionen ganz und gar den Interessen<br />
der Arbeiterklasse, und sogar die „parteilosen", nicht als Klasse<br />
organisierten Arbeiter waren 1789 und <strong>18</strong>48 Vorkämpfer der französischen<br />
und der deutschen Revolution.<br />
Wie alle Balkanländer ist Mazedonien ökonomisch sehr rückständig.<br />
Dort sind noch außerordentlich starke Überreste der Leibeigenschaft, der<br />
mittelalterlichen Abhängigkeit der Bauern von den feudalen Grundherren<br />
erhalten geblieben. Zu diesen Überresten gehört der bäuerliche Fronzins<br />
an den Grundherrn (in Geld- oder Naturalform), femer die Teilpacht<br />
(gewöhnlich führt der Bauer in Mazedonien bei Teilpacht ein Drittel der<br />
Ernte, d. h. weniger als in Rußland, an den Grundherrn ab) usw.<br />
Die Grundherren in Mazedonien (die sogenannten Späbi) sind Türken<br />
und Mohammedaner, die Bauern jedoch Slawen und Christen. Die Klassengegensätze<br />
werden deshalb noch durch religiöse und nationale Gegensätze<br />
verschärft.<br />
Somit bedeuten die Siege der Serben und Bulgaren, daß der Feudalismus<br />
in Mazedonien untergraben und eine mehr oder minder freie Klasse
Die soziale Bedeutung der serbisdb-bulgarisdben Siege 391<br />
bäuerlicher Grundbesitzer geschaffen wird; sie sichern die gesamte gesellschaftliche<br />
Entwicklung der Balkanländer, die durch Absolutismus und<br />
Feudalverhältnisse gehemmt war.<br />
Die bürgerlichen Zeitungen vom „Nowoje Wremja" bis zur „Retsch"<br />
reden von der nationalen Befreiung auf dem Balkan und lassen die ökonomische<br />
Befreiung im Hintergrund. In Wirklichkeit aber ist eben diese<br />
die Hauptsache.<br />
Eine völlige Befreiung von den Grundherren und vom Absolutismus<br />
würde unausbleiblich zur nationalen Befreiung und zum vollen Selbst-<br />
# bestimmungsrecht der Völker führen. Und umgekehrt, bleibt die Unterdrückung<br />
der Völker durch die Grundherren und die Balkanmonarchien<br />
bestehen, so bleibt unbedingt auch in diesem oder jenem Maße die nationale<br />
Unterdrückung bestehen.<br />
Würde sich die Befreiung Mazedoniens auf dem Wege der Revolution<br />
vollziehen, d. h. durch den Kampf sowohl der serbischen und bulgarischen<br />
als auch der türkisdben Bauern gegen die Grundherren aller Nationalitäten<br />
(und gegen die Grundherrenregierungen des Balkans), so würde die Befreiung<br />
die Balkanvölker sicherlich hundertmal weniger Menschenleben<br />
kosten als der jetzige Kiieg. Die Befreiung würde um einen unvergleichlich<br />
niedrigeren Preis erreicht werden und wäre unvergleichlich vollkommener.<br />
Es fragt sich, welche historischen Ursachen dazu geführt haben, daß<br />
diese Frage durch einen Krieg und nicht durch eine Revolution gelöst<br />
wird. Die wichtigste historische Ursache dafür, ist die Schwäche, die Zersplitterung,<br />
die Rückständigkeit, die Unwissenheit der Bauernmassen in<br />
allen Balkanländem sowie die geringe Zahl der Arbeiter, die die Lage<br />
richtig einschätzten und die Forderung nach einer föderativen Balkanrepublik<br />
(einer Bundesrepublik) erhoben.<br />
Das erklärt den wesentlichen Unterschied in der Haltung der europäischen<br />
Bourgeoisie und der europäischen Arbeiter zur Balkanfrage. Die<br />
Bourgeoisie, sogar die liberale Bourgeoisie vom Typ unserer Kadetten,<br />
erhebt ein Geschrei über die „nationale" Befreiung der „Slawen". Damit<br />
werden der Sinn und die historische Bedeutung der gegenwärtigen Ereignisse<br />
auf dem Balkan geradezu verfälscht, damit wird die wirkliche Befreiung<br />
der Balkanvölker erschwert. Damit wird die Aufrechterhaltung<br />
der Privilegien der Grundherren, der politischen Entrechtung und der<br />
nationalen Unterdrückung in dem einen oder anderen Maße gefördert.
392 "W. 1. <strong>Lenin</strong><br />
Umgekehrt tritt allein die Arbeiterdemokratie für eine -wirkliche und<br />
vollständige Befreiung der Balkanvölker ein. Allein die bis zu Ende geführte<br />
ökonomische und politische Befreiung der Bauern aller Balkanvölkerschaften<br />
vermag jede Möglichkeit einer wie immer gearteten nationalen<br />
Unterdrückung auszuschließen.<br />
„ Trawda" 3tfr. i 62, Nadb dem 7ext der „Trawda "<br />
7. November i9i2.<br />
lAntersdbrift: 7.
DAS ERNEUERTE CHINA<br />
393<br />
Das fortgeschrittene nnd zivilisierte Europa interessiert sich nicht für<br />
die Erneuerung Chinas. Vierhundert Millionen zurückgebliebener Asiaten<br />
haben sich die Freiheit errungen, sind zum politischen Leben erwacht. Der<br />
vierte Teil der Bevölkerung des Erdballs ist sozusagen vom schläfrigen<br />
Dasein zum Licht, zur Bewegung, zum Kampf übergegangen.<br />
Dem zivilisierten Europa liegt nichts daran. Bis jetzt hat sogar die französische<br />
Republik die Republik China noch nicht offiziell anerkannt! Hierüber<br />
wird demnächst eine Interpellation in der französischen Deputiertenkammer<br />
eingebracht werden.<br />
Wodurch nun erklärt sich diese Gleichgültigkeit Europas? Dadurch, daß<br />
überall im Westen die imperialistische Bourgeoisie herrscht, die zu drei<br />
Vierteln schon verfault ist, die bereit ist, jedem beliebigen Abenteurer<br />
ihre ganze „Zivilisation" gegen „strenge" Maßnahmen gegen die Arbeiter<br />
oder gegen fünf Prozent mehr Profit zu verkaufen. China interessiert diese<br />
Bourgeoisie nur als ein Beutestück, aus dem sich jetzt - nach der „zärtlichen<br />
Umarmung" der Mongolei durch Rußland - die Japaner, Engländer,<br />
Deutschen usw. wohl die besten Bissen herausreißen werden.<br />
Aber die Erneuerung Chinas geht dennoch voran. Gegenwärtig beginnen<br />
die Wahlen zum Parlament - dem ersten Parlament der ehemaligen<br />
Despotie. Das Unterhaus wird aus 600 Mitgliedern, der „Senat" aus 274<br />
bestehen.<br />
Das Wahlrecht ist nidbt allgemein und nicht direkt. Das Wahlrecht<br />
haben nur über 21 Jahre alte Personen, wenn sie mindestens 2 Jahre im<br />
Wahlbezirk ansässig sind, wenn sie direkte Steuern in Höhe von etwa<br />
2 Rubel zahlen oder Vermögen im Wert von etwa 500 Rubel besitzen.<br />
Gewählt werden zunächst Wahlmänner, die ihrerseits die Abgeordneten<br />
wählen.<br />
Schon ein solches Wahlrecht weist auf ein Bündnis der wohlhabenden<br />
Bauernschaft mit der Bourgeoisie hin, bei einem Fehlen oder bei völliger<br />
Ohnmacht des Proletariats.<br />
26 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>
394 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />
Auf denselben Umstand weist auch der Charakter der politischen Parteien<br />
Chinas hin. Es gibt drei Hauptparteien:<br />
1. Die „radikalsozialistische" - in der es in Wirklichkeit genau wie bei<br />
unseren „Volkssozialisten" (und bei neun Zehnteln der „Sozialrevolutionäre")<br />
absolut gar keinen Sozialismus gibt. Es ist das eine Partei der kleinbürgerlichen<br />
Demokratie. Ihre Hauptforderungen sind: politische Einheit<br />
Chinas, Entwicklung des Handels und der Industrie „im sozialen Sinne"<br />
(eine ebenso nebelhafte Phrase wie das „Prinzip der Arbeit" und die „Ausgleichung"<br />
bei unseren Volkstümlern und Sozialrevolutionären), Erhaltung<br />
des Friedens.<br />
2. Die zweite Partei sind die Liberalen. Sie sind im Bunde mit der<br />
„radikalsozialistischen" Partei und bilden mit ihr zusammen die „'Nationalpartei".<br />
Aller Wahrscheinlichkeit nach wird diese Partei die Mehrheit im<br />
ersten chinesischen Parlament haben. Der Führer dieser Partei ist der<br />
bekannte Dr. Sun Yat-sen. Jetzt ist er besonders beschäftigt mit der Ausarbeitung<br />
des Planes eines ausgedehnten Eisenbahnnetzes (den russischen<br />
Volkstümlern zur Kenntnis: Sun Yat-sen tut das deshalb, damit China<br />
dem Schicksal des Kapitalismus „entgehe"!).<br />
3. Die dritte Partei nennt sich „Bund der Republikaner" - ein Musterbeispiel<br />
dafür, wie trügerisch Aushängeschilder in der Politik sind! In<br />
Wirklichkeit ist das die konservative Partei, die sich hauptsächlich auf die<br />
Beamten, die Gutsbesitzer und die Bourgeois INordchinas, d. h. des rückständigsten<br />
Landesteils, stützt. Die „National"partei ist vorwiegend die<br />
Partei des mehr industriellen, fortgeschritteneren, entwickelteren Südens<br />
von China.<br />
Die Hauptstütze der „Nationalpartei" ist die breite Bauernmasse. Ihre<br />
Führer sind im Ausland erzogene Intellektuelle.<br />
Die chinesische Freiheit ist erobert worden durch das Bündnis der bäuerlichen<br />
Demokratie und der liberalen Bourgeoisie. Ob die Bauern, die nicht<br />
von einer Partei des Proletariats geführt werden, imstande sein werden,<br />
ihre demokratische Position gegen die Liberalen zu behaupten, die nur<br />
auf den geeigneten Moment warten, um nach rechts umzufallen - das wird<br />
die nahe Zukunft zeigen.<br />
„Vrawäa"?ir.i63, T^adb dem 7ext der „T>rawäa°.<br />
8. November i9i2.<br />
Vntersdbrift: 7.
ERGEBNIS UND BEDEUTUNG<br />
DER PRÄSIDENTSCHAFTSWAHLEN IN AMERIKA<br />
395<br />
Zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Nordamerika wurde der<br />
„Demokrat" Wilson gewählt. Er erhielt über 6 Millionen Stimmen, Roosevelt<br />
(neue „Nationale Progressive Partei") über vier Millionen, Taft („Republikanische<br />
Partei") über drei Millionen. Der Sozialist Eugene Debs erhielt<br />
800000 Stimmen.<br />
Die internationale Bedeutung der Wahlen in Amerika besteht nicht so<br />
sehr in der starken Zunahme der sozialistischen Stimmen; die Bedeutung<br />
der amerikanischen Wahlen besteht in der tiefen Krise der bürgerlidien<br />
Parteien, in der erstaunlichen Klarheit, mit der ihre Zersetzung zutage<br />
trat. Schließlich liegt die Bedeutung der Wahlen in dem ungewöhnlich<br />
klaren und deutlichen Hervortreten des bür^eriidben Rejormertums als<br />
eines Mittels zur Bekämpfung des Sozialismus.<br />
In allen bürgerlichen Ländern haben sich die auf dem Standpunkt des<br />
Kapitalismus stehenden, d. h. bürgerlichen Parteien vor sehr langer Zeit<br />
herausgebildet, und sie waren um so stabiler, je größer die politische Freiheit<br />
war.<br />
In Amerika herrscht die größte Freiheit. Die zwei bürgerlichen Parteien<br />
zeichneten sich hier ganze fünf Jahrzehnte lang - nach dem <strong>18</strong>60-<strong>18</strong>65<br />
wegen der Sklaverei geführten Bürgerkrieg-durch bemerkenswerte Festigkeit<br />
und Stärke aus. Die Partei der ehemaligen Sklavenhalter ist die sogenannte<br />
„Demokratische Partei". Die Partei der Kapitalisten, die für die<br />
Befreiung der Neger eingetreten war, entwickelte sich zur „Republikanischen<br />
Partei".<br />
Nach der Befreiung der Neger wurde der Unterschied zwischen den<br />
beiden Parteien immer geringer. Der Kampf dieser Parteien ging vor-
396 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />
nehmlidi um die Frage höherer oder niedrigerer Zölle. Für die Masse des<br />
Volkes hatte dieser Kampf keinerlei ernst zu nehmende Bedeutung. Das<br />
Volk wurde hintergangen und von seinen wesentlichsten Interessen durch<br />
effekthaschende und inhaltsleere Duelle zwischen den beiden bürgerlichen<br />
Parteien abgelenkt.<br />
Dieses sogenannte „Zweiparteiensystem", das in Amerika und England<br />
herrschte, war eines der wirksamsten Mittel, um das Entstehen einer<br />
selbständigen Arbeiterpartei, d.h. einer wirklich sozialistischen Partei,<br />
zu verhindern.<br />
Und nun hat in Amerika, dem Land des fortgeschrittensten Kapitalismus,<br />
das Zweiparteiensystem ein Fiasko erlitten! Was war die Ursache<br />
dieses Fiaskos?<br />
Die Stärke der Arbeiterbewegung, das Anwachsen des Sozialismus.<br />
Die alten bürgerlichen Parteien (die „Demokratische" und die „Republikanische")<br />
waren der Vergangenheit, der Zeit der Negerbefreiung, zugewandt.<br />
Die neue bürgerliche Partei, die „Nationale Progressive Partei",<br />
ist der Zukunft zugewandt. Ihr ganzes Programm dreht sich um die Frage<br />
des Seins oder Nichtseins des Kapitalismus, nämlich um den Arbeiterschutz<br />
und um die „Trusts", wie in Amerika die Kapitalistenverbände<br />
heißen.<br />
Die alten Parteien waren das Produkt einer Zeit, die die schnellste Entwicklung<br />
des Kapitalismus zur Aufgabe hatte. Der Kampf der Parteien<br />
lief darauf hinaus, wie man diese Entwicklung am besten beschleunigen<br />
und fördern konnte.<br />
Die neue Partei ist ein Produkt der Gegenwart, die die Frage der Existenz<br />
des Kapitalismus überhaupt aufwirft. In Amerika, dem freiesten<br />
und fortgeschrittensten Land, rückt diese Frage immer klarer, in immer<br />
größerem Ausmaß auf die Tagesordnung.<br />
Das ganze Programm, die ganze Agitation Roosevelts und der „Progressisten"<br />
geht darum, wie man den "Kapitalismus retten könne vermittels<br />
bürgerlicher Reformen.<br />
Das bürgerliche Reformertum, das sich im alten Europa als Geschwätz<br />
liberaler Professoren äußert - dieses bürgerliche Reformertum trat in der<br />
freien amerikanischen Republik mit einem Schlage als eine Vier-Millionen-<br />
Partei in Erscheinung. Das ist echt amerikanisch.<br />
Diese Partei sagt: Wir werden den Kapitalismus durch Reformen ret-
Ergebnis und Bedeutung der Präsidentsöhaftswahlen in Amerika 397<br />
ten. Wir werden die fortschrittlichsten Fabrikgesetze erlassen. Wir werden<br />
die staatliche Kontrolle über alle Trusts (in Amerika heißt das: über<br />
die gesamte Industrie!) einführen. Wir werden die staatliche Kontrolle<br />
über sie einführen, damit es kein Hend gebe, damit alle einen „anständigen"<br />
Lohn erhalten. Wir werden die „soziale und industrielle Gerechtigkeit"<br />
herstellen. Wir geloben und schwören bei allen Reformen ... wir<br />
wollen nur eine „Reform" nicht: die Enteignung der Kapitalisten!<br />
Der gesamte Nationalreichtum Amerikas beläuft sich jetzt auf 120<br />
Milliarden Dollar, d. h. etwa 240 Milliarden Rubel. Davon gehört ungefähr<br />
ein Drittel, etwa 80 Milliarden Rubel, zwei Trusts, Rockefeiler und<br />
Morgan, oder wird von ihnen kontrolliert! Nicht mehr als 40 000 Familien,<br />
die diese zwei Trusts bilden, sind die Herren von 80 Millionen Lohnsklaven.<br />
Angesichts dieser modernen Sklavenhalter sind alle „Reformen" naturgemäß<br />
bloßer Betrug. Roosevelt ist von den gerissenen Milliardären wissentlich<br />
gedungen, um diesen Betrug zu propagieren. Die „staatliche Kontrolle",<br />
die er verspricht, wird sich, wenn die Kapitalisten das Kapital<br />
behalten, in ein Mittel zur Bekämpfung und Abwürgung von Streiks verwandeln.<br />
Aber der amerikanische Proletarier ist bereits erwacht und steht auf<br />
seinem Posten. Mit frischer Ironie quittiert er Roosevelts Erfolge.- Sie<br />
haben mit ihren Reformversprechungen 4 Millionen Menschen mit sich<br />
fortgerissen, verehrter Scharlatan Roosevelt? Vortrefflich! Morgen werden<br />
diese vier Millionen erkennen, daß Ihre Versprechungen Betrug sind,<br />
folgen doch diese Millionen Ihnen nur deshalb, weil sie fühlen: auf die<br />
alte Weise zu leben ist unmöglich.<br />
„Prawda" !Nr. 164, Nadh dem 7ext der „Vrawda".<br />
9. November 19i2.<br />
Unterschrift-. W. 1.
398<br />
„BRENNENDE FRAGEN" UNSERER PARTEI<br />
Die Frage der „Liquidatoren"<br />
und die „nationale" Frage<br />
Im August 1912 berief der Hauptvorstand der SDPuL eine „Landeskonferenz"<br />
der Polnischen Sozialdemokratie ein. Bekanntlich ist dieser<br />
Hauptvorstand der Polnischen Sozialdemokratie gegenwärtig ein Vorstand<br />
ohne Partei. In Warschau, der Hauptstadt Polens, verurteilte die örtliche<br />
sozialdemokratische Organisation entschieden die desorganisierende Politik<br />
des Hauptvorstands, der als Antwort darauf zu gemeinen anonymen<br />
Anschuldigungen der Provokation griff, sich eine fiktive Warschauer Organisation<br />
schuf und schleunigst „seine", entsprechend zusammengeschobene,<br />
Landeskonferenz einberief.<br />
In der Folgezeit haben die Wahlen in der Warschauer Arbeiterkurie<br />
zur Reichsduma endgültig bewiesen, welch fiktive Größe die Anhänger<br />
des Hauptvorstands sind: von den 66 Bevollmächtigten waren 34 Sozialdemokraten,<br />
unter ihnen nur 3 (und die zweifelhafte) Anhänger des<br />
Hauptvorstands.<br />
Diese Vorbemerkung war nötig, damit der Leser die Resolution der<br />
Landeskonferenz der SDPuL, von der wir sprechen wollen, nur als Resolution<br />
des Jyszkasdben Hauptvorstands betrachtet, keineswegs aber als<br />
Beschluß der polnischen sozialdemokratischen Arbeiter.<br />
I<br />
Die Frage der Stellung der Polnischen Sozialdemokratie zur SDAPR<br />
ist außerordentlich wichtig und aktuell. Daher verdient der Beschluß der<br />
Tyszkaschen Konferenz zu dieser Frage, wie schwer es auch fallen mag,<br />
ihn ernst zu nehmen, ein aufmerksameres Studium.
.Brennende fragen" unserer "Partei 399<br />
Wenn es schwerfällt, die von Geschimpfe strotzende Tyszkasdie Resolution<br />
emst zu nehmen, so allein schon wegen ihrer Einstellung zu der<br />
grundlegenden Frage des Liquidatorentums.<br />
Es ist das die Grundfrage der SDAPR in den Jahren 1908-1912. Die<br />
Partei ist durch die Konterrevolution böse zerschlagen. Sie spannt alle<br />
Kräfte an, um ihre Organisation wiederherzustellen. Und während der<br />
ganzen vier Jahre der Konterrevolution führt die Partei einen ununterbrochenen<br />
Kampf gegen jene Grüppchen unter den Sozialdemokraten, die<br />
die Partei liquidieren wollen.<br />
Folgt hieraus nicht klar, daß sich zu TAnredot Mitglied der Partei nennt,<br />
wer die Frage des Liquidatorentums nicht eindeutig entschieden hat?<br />
Auch die Tyszkasche Konferenz räumt in ihrer Resolution über die<br />
Stellung zur SDAPR den meisten Platz dem Liquidatorenram ein. Wie<br />
die Konferenz zugibt, ist das Liquidatorentum „ein großes Hindernis für<br />
die Entwicklung der SDAPR und eine ernste Gefahr für ihre Existenz<br />
überhaupt".<br />
„Offenes und konsequentes Liquidatorentum und revolutionäre Sozialdemokratie<br />
schließen einander aus", heißt es in der Resolution.<br />
Wie man sieht, packen Tyszka und Co. das Problem kühn und mit sicherer<br />
Hand an - und weichen einer Antwort aus!<br />
Wer ist denn ein „offener und konsequenter" Liquidator? Und zu<br />
welcher praktischen Schlußfolgerung haben die Erfahrungen des vierjährigen<br />
Kampfes gegen das Liquidatorentum geführt?<br />
Diese natürlichen und notwendig auftauchenden Fragen beantwortete<br />
die Januarkonferenz der SDAPR von 1912 klar, exakt und überzeugend:<br />
Die Liquidatoren, das ist die Gruppe der Organe „Nascha Sarja" und<br />
„Shiwoje Delo". Diese Gruppe hat sich außerhalb der Partei gestellt.<br />
Man kann diese Antwort für richtig oder für falsch halten, aber man<br />
kann ihr nicht die Klarheit absprechen, man kann nicht einer klaren Bestimmung<br />
der eigenen Position ausweichen!<br />
Die Tyszkasche Konferenz sucht eben dem auszuweichen, sie dreht und<br />
wendet sich wie ein kleiner Dieb. Wenn es nicht stimmt, daß die Anhänger<br />
der „Nascha Sarja" offene und konsequente Liquidatoren sind, wie wir im<br />
Januar 1912 deutlich erklärt haben, warum haben dann Tyszka und Co.<br />
im August 1912 vor den polnischen sozialdemokratischen Arbeitern unseren<br />
Irrtum nicht aufgedeckt? Wenn es nicht stimmt, daß sich die „Nascha
400 W. 7. <strong>Lenin</strong><br />
Sarja" außerhalb der Partei gestellt hat, wenn ihr, meine Herrschaften<br />
Tyszka, Rosa Luxemburg, Warski, der Meinung seid, daß sie sido in der<br />
Partei befinde, warum habt ihr das dann nicht offen gesagt? Das war eure<br />
direkte Schuldigkeit gegenüber den polnischen sozialdemokratischen Arbeitern!<br />
Und mag man noch so viel über die „<strong>Lenin</strong>sche" Januarkonferenz von<br />
1912 schimpfen, fluchen, lärmen, es wird nicht gelingen, mit diesem Lärm<br />
irgend jemanden zu betrügen außer denen, die betrogen sein wollen. Denn<br />
nach der Januarkonferenz kann man kein bewußter und ehrlicher Sozialdemokrat<br />
sein, kann man nicht von der Lage der Dinge in der SDAPR<br />
sprechen, ohne klipp und klar die Frage zu beantworten, ob die „Nascha<br />
Sarja" liquidatorisch ist und wo diese Gruppe steht-innerhalb oder außerhalb<br />
der Partei.<br />
II<br />
Das maßlose, mannigfache, wortreiche Gekeif, mit dem die Tyszkasche<br />
Konferenz die „<strong>Lenin</strong>isten" überschüttet, läuft auf eins hinaus - auf die<br />
Beschuldigung der Spaltung.<br />
Die Januarkonferenz der SDAPR hat nur im Hinblick auf die Gruppe<br />
der „Nascha Sarja" erklärt, daß sie außerhalb der Partei steht. Das ist eine<br />
allbekannte Tatsache. Daraus könnten sogar Tyszka und seine Freunde<br />
den einfachen und offenkundigen Schluß ziehen, daß die Beschuldigung<br />
der Spaltung gleichbedeutend ist mit der Anerkennung der Parteizugehörigkeit<br />
der Gruppe der „Nascha Sarja".<br />
Selbst ein Kind würde die Zwangsläufigkeit dieser Schlußfolgerung<br />
begreifen. Und Tyszka und Co. sind längst den Kinderschuhen entwachsen<br />
Wer uns der Spaltung beschuldigt, muß wenigstens so viel elementaren<br />
Mut, elementare Ehrlichkeit besitzen, um offen zu erklären: „Die Gruppe<br />
der ^asdba Sarja' ist keine Liquidatorengruppe", „sie darf nidht außerhalb<br />
der Partei stehen, ihr Platz ist innerhalb der Partei", „sie ist eine<br />
legitime Schattierung in der Partei" usw.<br />
Das ist gerade der Kern der Sache, daß die Herrschaften vom Schlage<br />
Tyszkas, die uns der Spaltung beschuldigen, das heimlido, verschämt,<br />
durch die Blume sagen (denn das steckt natürlich in dem Geheul über die<br />
Spaltung), aus Angst, es offen auszusprechen!
.Brennende "fragen" unserer Partei 401<br />
Zu sagen tmd zu beweisen, daß die „Nascha Sarja" der Partei angehören<br />
müsse, ist nidht leidbt. Wer das sagt, der nimmt eine bestimmte Verantwortung<br />
anf sich, der entscheidet eine bestimmte prinzipielle Frage, der<br />
verteidigt direkt die Anführer des Liquidatorentums. Man kann (und<br />
muß) einen solchen Menschen für einen Anhänger der Liquidatoren halten,<br />
aber man muß zugeben, daß er Überzeugungen hat, man kann ihm nicht<br />
politische Ehrlichkeit absprechen, und sei es in der engen Frage der Parteizugehörigkeit<br />
oder Nichtparteizugehörigkeit einer bestimmten Liquidatorengruppe.<br />
Tritt aber eine ganze, mit Verlaub zu sagen, Organisation oder eine<br />
Summe von Organisationen eines ganzen Landes mit allen möglichen Ausflüchten,<br />
heimlich, verschämt und ohne alles auszusprechen für die Liquidatoren<br />
ein, wobei sie diejenigen, die die Liquidatoren aus der Partei ausgeschlossen<br />
haben, der Spaltung beschuldigt, es aber nicht wagt, direkt zu<br />
sagen: „diese Liquidatorengruppe muß der Partei angehören", so drängt<br />
sich unausbleiblich die Schlußfolgerung auf: Wir haben keine Organisation<br />
von Sozialdemokraten vor uns, die die und die Auffassungen teilen,<br />
sondern eine Qruppe von Intriganten, die aus der „Ausnutzung" des<br />
Kampfes der Liquidatoren gegen die Antiliqnidatoren politisches Kapital<br />
zu schlagen suchen.<br />
Und für den, der die innere Lage in der SDAPR seit 1907 kennt, ist<br />
es schon längst kein Geheimnis mehr, daß Tyszka und Co. ebenso wie die<br />
Bundisten Musterbeispiele solcher Intriganten, „Marxisten nach Gewicht",<br />
„Tuschinoer Überläufer" sind, wie man solche Leute unter den Sozialdemokraten<br />
nennt. Tyszka gründet, wie auch manche Bundisten, seine<br />
ganze „Position" in der Partei auf das Spiel zwischen den Liquidatoren<br />
und den Antiliquidatoren, auf Vermittlerschaft, auf die Ausnutzung der<br />
Vorteile aus der Lage des „Züngleins an der Waage", ohne das weder die<br />
Liquidatoren noch die Antiliqnidatoren die Mehrheit haben!<br />
Im Herbst 1911, als dieses alte und allen überdrüssig gewordene „Spiel"<br />
Tyszkas ihn durchfallen ließ, nannten ihn die Organe beider entgegengesetzter<br />
Strömungen - die Liquidatoren wie die Antiliquidatoren - offen in<br />
der Presse einen Intriganten.<br />
In der Tat, man stelle sich auf den Standpunkt des „Züngleins an der<br />
Waage", und sofort werden die unlogischen, kindlich naiven, lächerlich<br />
ohnmächtigen und hilflosen Resolutionen der Tyszkaschen Konferenz
402 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />
völlig begreiflich. So, genau so muß ein Intrigant sprechen: Ich verurteile<br />
das Liquidatorentum ... aber ich sage nicht direkt, wer ein offener und<br />
konsequenter Liquidator ist! Ich gebe zu, daß das Liquidatorentum eine<br />
Gefahr für die Existenz der Partei überhaupt darstellt..., aber ich sage<br />
nicht offen, ob eine solche Gruppe der Partei angehören soll oder nicht!<br />
Aus einer solchen „Position" kann ich immer, unter allen Umständen, für<br />
mich einen Vorteil ziehen, für midi „politisches Kapital" schlagen, da ohne<br />
mid) der Antiliquidator den Liquidator nicht besiegen wird, ohne mid> der<br />
Liquidator keinen gesicherten Platz in der Partei haben wird!!<br />
Die „Tyszkasche" Politik ist keine zufällige, keine individuelle Erscheinung.<br />
Bei einer Spaltung und überhaupt in einem erbitterten Kampf<br />
der Richtungen ist das Aufkommen solcher Gruppen, die ihre Existenz auf<br />
dem unaufhörlichen überlaufen von der einen Seite auf die andere, auf<br />
kleinliche Intrigen gründen, unvermeidlidb. Das ist ein unschöner, unangenehmer<br />
Zug im Leben unserer Partei, der durch die Bedingungen der<br />
revolutionären Arbeit in der Emigration besonders verschärft wird. Intrigantengruppen,<br />
Züge des Intrigantentums in der Politik mancher Gruppen,<br />
besonders solcher mit schwach entwickelten Beziehungen zu Rußland, sind<br />
eine Erscheinung, die man kennen muß, ran sich nicht täuschen zu lassen,<br />
um nicht Opfer verschiedener „Mißverständnisse" zu werden.<br />
III<br />
Die Losung der „Einheit" ist natürlich in breiten Schichten der Arbeiter<br />
„populär", die nicht wissen, mit wem man diese Einheit herstellen soll,<br />
welche Zugeständnisse an eine bestimmte Gruppe diese Einheit bedeutet,<br />
auf weldben Prinzipien die Politik der Einbeziehung der Liquidatoren in<br />
die Partei oder ihres Ausschlusses aus der Partei beruht.<br />
Nichts ist natürlich leichter, als dieses WdhtDerstehen des Wesens der<br />
Sache demagogisch auszunutzen, um ein Geheul über die „Spaltung" anzustimmen.<br />
Nichts ist leichter, als die Winkeldiplomatie dadurch zu tarnen,<br />
daß man die „Einheit" von Richtungen fordert, die sich unwiderruflich<br />
voneinander getrennt haben.<br />
Mag aber die Losung der „Einheit" bei wenig klassenbewußten Leuten<br />
noch so „populär" sein, mag es gegenwärtig für verschiedene Demagogen,<br />
Intriganten, Winkeldiplomaten noch so bequem sein, sich hinter dieser
„Brennende Tragen" unserer "Partei 403<br />
Losung zu verstecken, wir werden trotzdem nicht aufhören, von jedem bewußten<br />
Sozialdemokraten eine klare und eindeutige Antwort auf die von<br />
der Konferenz derSDAPR imjanuar 1912 entschiedene Frage zuverlangen.<br />
Die im August 1912 einberufene Liquidatorenkonferenz hat klar gezeigt,<br />
daß der Brennpunkt aller Streitigkeiten gerade die Frage des Liquidatorentums,<br />
die Frage der Parteilichkeit oder Nichtparteilichkeit (ja sogar<br />
Parteifeindlichkeit) der Liquidatorengruppen ist. Wer diesen Kern der<br />
Sache umgeht, der täuscht sich und andere.<br />
Aber das Geschwätz vom „Fraktionscharakter" der Januarkonferenz<br />
u. dgl. m. ist gerade eine solche Umgehung des Kerns der Sache. Nun gut,<br />
meine Herren, kann man den Schwätzern antworten: Nehmen wir an, die<br />
Januarkonferenz sei erzfraktionär, spalterisch, inkompetent u. dgl. m. gewesen.<br />
Aber mit diesen „furchtbaren Worten" wollt ihr euch doch nur<br />
vor eudh selbst herausreden. Ein Teil der Sozialdemokraten - ganz gleich<br />
welcher - erklärte im Januar, daß die Leute von der „Nascha Sarja" parteifeindliche,<br />
außerhalb der Partei stehende Liquidatoren sind. Diese Meinung<br />
wird in einer Resolution begründet, einer ausführlichen, gründlich<br />
motivierten Resolution, die auf vierjähriger Parteigeschichte basiert.<br />
Wer den Irrtum dieser, sagen wir, „Januar"-Sozialdemokraten aufrichtig<br />
erläutern und widerlegen will, der muß diese Resolution untersuchen<br />
und widerlegen, der muß sagen und beweisen, daß die „Nascha Sarja"<br />
der Partei zugehören müsse, daß ihre Ideen für die Partei nicht verderblich<br />
seien, daß man dieser Gruppe die und die Zugeständnisse machen<br />
müsse, daß man von ihr die und die Verpflichtungen fordern müsse, daß<br />
die Garantien für die Erfüllung dieser Verpflichtungen in dem und dem<br />
bestellen sollen, daß das Maß des Einflusses dieser Gruppe in der Partei<br />
so und so bestimmt werden soll.<br />
Die Frage so stellen heißt die Überzeugung der Januar-Sozialdemokraten<br />
aufrichtig und ehrlich widerlegen wollen, heißt den Arbeitern das erläutern,<br />
was man für falsch hält. Aber der springende Punkt ist ja eben,<br />
daß kein einziger derjenigen, die heute ein billiges Geschrei über die Spaltung<br />
erheben, auch nur einen Schritt zu einer solchen Fragestellung hin<br />
getan hat!!<br />
Und deshalb gehen wir verächtlich über die Demagogen und Intriganten<br />
hinweg und wiederholen ruhig: Unsere Resolution über den Ausschluß<br />
der Liquidatoren ist nicht widerlegt worden und nicht widerlegbar.
404 W. J. <strong>Lenin</strong><br />
Die neuen Tatsachen - wie der Austritt des liquidatorisdien „Lutsch" 89 ,<br />
der sich mit der trotzkistischen Phrasendrescherei verschwägert hat -<br />
verhundertfachen nur noch die Beweiskraft unserer Resolution. Die Tatsachen<br />
- die Maiaktion, der Zusammenschluß von Hunderten von Arbeitergruppen<br />
um die antiHquidatorische Zeitung, die Wahlen zur IV. Reichsduma<br />
in der Arbeiterkurie - beweisen endgültig die Richtigkeit unserer<br />
Einstellung gegen die Liquidatoren.<br />
Das Geheul über die „Spaltimg" wird diese Überzeugung nicht erschüttern,<br />
denn dieses Geheul ist eine feige, versteckte, heuchlerische Verteidigung<br />
der Liquidatoren.<br />
IV<br />
Die Januarkonferenz der SDAPR von 1912 warf noch eine weitere<br />
ernste prinzipielle Frage auf - die Frage nach dem Aufbau unserer Partei<br />
in nationaler Beziehung. Wegen Platzmangels werde ich diese Frage nur<br />
kurz streifen.<br />
Vollständige oder unvollständige Föderation, eine „Föderation schlimmsten<br />
Typs" oder völlige Einheit? So lautet die Fragestellung.<br />
Die Tyszkasche Konferenz beantwortet auch dieses Problem nur mit<br />
Gekeif und Geschrei: „Fälschungen", „Entstellung der Tatsachen" usw.<br />
Welch hohle Schreihälse - dieser Tyszka und sein Gefolge!<br />
Die völlige Isoliertheit der lettischen, pohlischen, jüdischen („Bund")<br />
Sozialdemokraten ist eine Tatsache. Jeder polnische Sozialdemokrat weiß,<br />
daß es in Polen etwas, was einer Einheit mit dem „Bund" gleichkäme,<br />
weder gab nod) gibt. Ebenso ist es auch bei den Russen im Hinblidc auf<br />
den „Bund" usw. Die „Nationalen" haben ihre besonderen Organisationen,<br />
ihre zentralen Instanzen, Kongresse usw. Die Russen haben das nicht,<br />
und ihr ZK kann die russischen Fragen nicht lösen ohne die Teilnahme der<br />
einander bekämpfenden und mit den russischen Angelegenheiten nicht vertrauten<br />
Bundisten, Polen und Letten.<br />
Das ist eine Tatsache. Kern Gekeif kann sie überschreien. Seit 1907<br />
sehen das alle in unserer Partei. Alle fühlen das Unaufrichtige daran.<br />
Unsere Konferenz taufte es deshalb auch Föderation schlimmsten 7yps"*.<br />
Auf diese Fragestellung müssen die ehrlichen und aufrichtigen Sozialdemokraten<br />
antworten, indem sie auf das Wesen der Sache eingehen.<br />
• Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 17, S. 455/456. D»eRei.
„Brennende Tragen" unserer "Partei 40i<br />
Die Richtigkeit dieser Fragestellung bestätigte aufs überzeugendste die<br />
Augustkonferenz, die, wie sogar Pledianow zugab, mit ihrer berüchtigten<br />
Resolution über die „national-kulturelle" Autonomie „den Sozialismus<br />
dem Nationalismus angepaßt" hat.<br />
Der „Bund" wie der Tyszkasdie Hauptvorstand schwören in gleicher<br />
Weise bei allen Heiligen, daß sie für die Einheit seien, aber in Warschau,<br />
Lodz usw. sind ihre Beziehungen durch die vollständige Spaltung bestimmt!!<br />
Der Zusammenhang der '„Liquidatorenfrage" mit der „nationalen<br />
Frage" ist nicht von uns erdacht, sondern vom Leben selbst aufgedeckt<br />
worden.<br />
Mögen alle ernsthaft überlegenden Sozialdemokraten zugleich auch die<br />
„nationale Frage" stellen und erörtern. Föderation oder Einheit? Föderation<br />
für die „Nationalitäten" mit besonderen Zentren ohne besonderes<br />
Zentrum für die Russen oder völlige Einheit? Nominelle Einheit mit faktischer<br />
Spaltung (oder Abspaltung) des „Bund" allerorts oder faktische<br />
Einheit von unten bis oben?<br />
Wer da meint, daß man diesen Fragen ausweichen könne, der irrt sich<br />
gewaltig. Wer auf die einfache Wiederherstellung der „Föderation<br />
schlimmsten Typs" aus der Zeit von 1907 bis 1911 rechnet, der täusdbt<br />
sicfe und andere. Diese Föderation kann man schon nidbt mehr wiederherstellen.<br />
Dieser Bastard wird nicht mehr auferstehen. Die Partei hat ihn für<br />
immer hinter sich gelassen.<br />
Wohin sie sich begeben hat? Zur „österreichischen" Föderation? 90<br />
Oder zur völligen Aufgabe der Föderation, zur faktischen Einheit? Wir<br />
sind für das zweite. Wir sind gegen die „Anpassung des Sozialismus an<br />
den Nationalismus".<br />
Mögen alle über diese Frage gründlich nachdenken und sie endgültig<br />
entscheiden.<br />
Qesdbrieben imTJovember 1912.<br />
Zuerst veröfientlidbt im August 1913 5Vdd> dem 7ext der Zeitschrift.<br />
in der Zeitsdirift .Pismo "Dyskusyjne' -4MS dem "Polnischen.<br />
CDiskussionsblatt)?lr. 1.<br />
lintersdirift: W. £.enin.
406<br />
ÜBER EINIGE REDEN<br />
DER ARBEITERDEPUTIERTEN 91<br />
Welche Hauptgedanken müßten der ersten <strong>Red</strong>e eines Arbeitersprechers<br />
in der Duma zugrunde gelegt werden?<br />
Natürlich werden die Arbeiter der ersten <strong>Red</strong>e mit besonderer Ungeduld<br />
und Aufmerksamkeit entgegensehen. Natürlich erwarten sie gerade<br />
von der ersten <strong>Red</strong>e das Hauptsächliche und Grundlegende, eine konzentrierte<br />
Darlegung der Auffassungen in den Fragen, die alle besonders bewegen<br />
und die in der Politik des Landes überhaupt und speziell in der<br />
Praxis der Arbeiterbewegung (der politischen wie der Ökonomisten)<br />
besonders in den Vordergrund rücken.<br />
Zu solchen Fragen zählen die folgenden:<br />
1. Die Kontinuität der Tätigkeit der sozialdemokratischen Fraktion der<br />
IV. Duma. Unter Kontinuität ist die Wahrung des unlösbaren Zusammenhangs<br />
mit der Tätigkeit der früheren sozialdemokratischen Fraktionen<br />
aller vorangegangenen Dumas zu verstehen, wobei insbesondere die sozialdemokratische<br />
Fraktion der zweiten Duma hervorzuheben ist, die den<br />
bekannten Angriffen der Konterrevolution ausgesetzt war.<br />
Die Kontinuität hervorzuheben ist wichtig, denn die Arbeiterdemokratie<br />
erblickt, zum Unterschied von den bürgerlichen Parteien, in ihrer Arbeit<br />
in der I., II., III. und IV. Duma etwas Einheitliches und ganzes und läßt<br />
sich durch keinerlei Wendungen der Ereignisse (und durch keinerlei Umwälzungen<br />
wie den Staatsstreich vom 3. Juni) von ihren Aufgaben, von<br />
der Verfolgung ihrer unabänderlichen Ziele ablenken.<br />
2. Die zweite für die erste <strong>Red</strong>e eines Arbeiterdeputierten notwendige<br />
These ist der Sozialismus. Hier geht es im Grunde genommen um zwei<br />
Themen. Das eine besagt, daß die Sozialdemokratie Rußlands eine
Erste Seite von W. I. <strong>Lenin</strong>s Manuskript<br />
„über einige <strong>Red</strong>en der Arbeiterdeputierten"<br />
November 1912<br />
"Verkleinert<br />
y—s*
Tiber einige Heden der Arbeiterdeputierten 409<br />
Abteilung der internationalen Armee des sozialistischen Proletariats ist.<br />
Wörtlich so sagte es auch Pokrowski in der III. Duma. (Siehe seine Erklärung<br />
in den stenografischen Berichten, S. 328 der offiziellen Ausgabe<br />
7. Sitzung, 16. November 1907.) Dieser Hinweis ist natürlich absolut<br />
notwendig.<br />
Es gibt aber noch einen anderen, in unseren Tagen höchst wichtigen<br />
Hinweis. Das ist der Hinweis auf die gegenwärtige Lage und die Aufgaben<br />
des Sozialismus in der ganzen Welt. Wodurch ist diese Lage gekennzeichnet?<br />
a) Durch die äußerste Verschärfung des Kampfes der Arbeiterklasse<br />
gegen die Bourgeoisie (steigende Lebenshaltungskosten -<br />
Massenstreiks - der Imperialismus der Großmächte, ihre scharfe Konkurrenz<br />
um die Märkte, ihre Kriegslüsternheit) und b) durch die näher' gerückte<br />
Verwirklichung des Sozialismus. Die Arbeiterklasse der ganzen<br />
Welt kämpft nicht um die Anerkennung ihrer Rechte auf eine sozialistische<br />
Partei, sondern um die !Macbtt für eine neue Gesellschaftsordnung.<br />
Es ist höchst wichtig, das von der Dumatribüne herab zu sagen, den<br />
Arbeitern Rußlands vom Beginn der großen Schlachten für den Sozialismus<br />
in Europa und Amerika, von der Nähe des Triumphes (des unausbleiblichen<br />
Triumphes) des Sozialismus in der zivilisierten Welt zu künden.<br />
3. Die dritte These - der Balkankrieg, die internationale Lage und die<br />
Außenpolitik Rußlands.<br />
Dieses, das aktuellste Thema kann keinesfalls übergangen werden. Es<br />
gliedert sich in folgende Fragen:<br />
a) Der Balkankrieg. Auch der russische Arbeiterdeputierte muß die<br />
Losung proklamieren: Föderative Balkanrepublik. Gegen die slawischtürkische<br />
Feindschaft. 7ür Freiheit und Gleichberechtigung aller Balkanvölker.<br />
b) Gegen die Einmischung anderer Mächte in den Balkankrieg. Es ist<br />
unbedingt erforderlich, sich der Friedensdemonstration auf dem Internationalen<br />
Sozialistenkongreß in Basel anzuschließen. 92 Krieg dem Kriege!<br />
Gegen jede Einmischung! Für den Frieden! Das sind die Losungen der<br />
Arbeiter.<br />
c) Gegen die Außenpolitik der russischen Regierung überhaupt - unter<br />
besonderer Erwähnung der Eroberungs„gelüste" (und der bereits begonnenen<br />
Eroberungen): Bosporus, Türkisch-Armenien, Persien, Mongolei.<br />
27 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>
410 IV. J. <strong>Lenin</strong><br />
d) Gegen den Nationalismus der Regierungskreise, unter Hinweis auf die<br />
unterdrückten Völkerschaften: Finnland, Polen, Ukraine, die Juden usw.<br />
Es ist äußerst wichtig, die Losung der politischen Selbstbestimmung aller<br />
Nationalitäten exakt zu formulieren, entgegen allen möglichen Gemeinplätzen<br />
(wie z. B. alkin „Gleichberechtigung").<br />
e) Gegen den liberalen Nationalismus, der nicht so plump ist, aber schädlich<br />
besonders wegen seiner Heuchelei, wegen des „raffinierteren" Volksbetrugs.<br />
Worin zeigt sich dieser liberale (progressistisch-kddettisdje) Nationalismus?<br />
In den chauvinistischen <strong>Red</strong>en über die Aufgaben der „Slawen"<br />
; in den <strong>Red</strong>en über die Aufgaben der „Großmacht" Rußland; in den<br />
<strong>Red</strong>en über die Allianz zwischen Rußland, England und Frankreich zur<br />
Ausplünderung anderer Länder.<br />
4. Die vierte These - die politische Lage Rußlands. Der Kern des<br />
Themas ist hier die Darstellung der Rechtlosigkeit und Willkür, die Klarstellung<br />
der unbedingten Notwendigkeit politischer Freiheit.<br />
Besonders hervorzuheben ist hier:<br />
(a) Die unbedingte Erwähnung der Zuchthäuser: Kutomara, Algatschi<br />
usw. 93<br />
(b) Der Hinweis auf die Verfälschung der Wahlen — die bonapartistischen<br />
Methoden, darauf, daß die Regierung sogar das Vertrauen derjenigen<br />
Klassen (der Gutsbesitzer und der Bourgeoisie) verloren hat, auf die<br />
der Umsturz vom 3. Juni gesetzt hatte.<br />
Die Geistlichen wurden gezwungen, wider ihr Gewissen abzustimmen.<br />
Die Duma rückte nadi rechts, das Land nach links.<br />
(c) Insbesondere ist es wichtig, die Wechselbeziehung zwischen der berüchtigten<br />
liquidatorischen Losung der „Koalitionsfreiheit" und den Aufgaben<br />
der politischen Freiheit überhaupt richtig herauszuarbeiten. Höchst<br />
wichtig ist der Hinweis, daß die Arbeiter die Presse-, Vereins-, Versammlungs-<br />
und Streikfreiheit unbedingt brauchen, aber gerade zu ihrer<br />
Verwirklichung muß man ihren unlösbaren Zusammenhang mit<br />
den allgemeinen Grundpfeilern der politischen Freiheit, mit der radikalen<br />
Änderung des ganzen politischen Systems begreifen. Nicht die liberale<br />
Utopie der Koalitionsfreiheit unter dem Regime des 3. Juni, sondern<br />
Kampf im Namen der Freiheit im allgemeinen und der Koalitionsfreiheit<br />
im besonderen gegen dieses Regime auf der ganzen Linie, gegen die<br />
Qrundlagen dieses Regimes.
"Über einige Heden der Arbeiterdeputierten 411<br />
5. Die fünfte These: die unerträgliche Lage der Bauernschaft. Die<br />
Hungersnot von 30 Millionen im Jahre 1911. Die Ruinierung und Verelendung<br />
des Dorfes. Die „Flurbereinigung" der Regierung versdjlimmert<br />
die Sache nur. Die finanzielle Wohlfahrt ist Talmi, vorgetäuschte Wohlfahrt,<br />
begründet auf der Erpressung von Abgaben, auf der Verdummung<br />
des Volkes. Sogar der bescheidene Agrarentwurf der rechten Bauern (der<br />
„43 Bauern") der III. Duma 94 ist zu den Akten gelegt worden. Die Bauern<br />
bedürfen der Befreiung vom Joch der Gutsbesitzer und des gutsherrlichen<br />
Grundeigentums.<br />
6. Die sechste These: die drei Lager bei den Wahlen zur IV. Duma und<br />
die drei Lager im Lande:<br />
(a) Das Lager der Regierung. Ist ohnmächtig. Verfälschung der Wahlen.<br />
(b) Das Lager des Liberalismus. Hier ist es höchst wichtig, wenn auch<br />
nur in zwei Worten den konterrevolutionären Charakter der Liberalen zu<br />
erwähnen: sie sind gegen eine neue Revolution. Man kann wörtlich die<br />
Worte Gredeskuls anführen, die in Nr. 85 der „Prawda" (vom 8. August)<br />
abgedruckt wurden*: „Vonnöten ist keine zweite Volksbewegung (nämlich<br />
die zweite Revolution), sondern lediglich eine ruhige, beharrliche und<br />
zielbewußte konstitutionelle Arbeit." Wörtlich so sagte es Gredeskul, und<br />
die „Retsch" druckte das ab.<br />
Die Hoffnungen der Liberalen auf konstitutionelle Reformen b e i<br />
Erhaltung der Qrundlagen des jetzigen Systems, ohne eine breite<br />
Volksbewegung sind utopisd). .<br />
(c) Das dritte Lager ist die Demokratie. An ihrer Spitze steht die<br />
Arbeiterklasse. In der dritten Person, von der Vergangenheit, kann man<br />
sagen, was sogar der „Golos Moskwy" erklärt hat, nämlich daß die<br />
Arbeiterklasse unter drei Losungen zu den Wahlen gegangen ist: (1.) Demokratische<br />
Republik; (2.) Achtstundentag; (3.) Konfiskation aller Gutsbesitzerländereien<br />
zugunsten der Bauern.<br />
7. Die siebente These: Hinweis auf die politische Bewegung und die<br />
Streiks von 1912.<br />
(a) Höchst wichtig ist zu vermerken, daß die Zahl der Teilnehmer an<br />
politischen Streiks eine Million erreicht hat. Belebung der gesamten Befreiungsbewegung.<br />
(b) Sehr wichtig ist es, darauf hinzuweisen, daß die Arbeiter sich mit<br />
• Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 243/244. Die "<strong>Red</strong>.
412 W. 3. <strong>Lenin</strong><br />
ihren politischen Streiks Ziele gesteckt haben, die für das ganze<br />
V o 1 k. lebenswichtig sind, daß sie nicht spezifische, sondern für das ganze<br />
Volk gültige Aufgaben gestellt haben.<br />
(c) Notwendig ist zu erwähnen, daß gerade die T^e rb in düng der<br />
politischen und der wirtschaftlichen Streiks der Bewegung Stärke und<br />
Lebenskraft verleiht.<br />
(d) Zu erwähnen ist der Protest der Arbeiter gegen die Hinrichtung<br />
der Matrosen.<br />
8. Die achte und wesentlichste These, eine These, die sich aus allem<br />
Vorhergehenden ergibt und eng damit verknüpft ist, ist die Hegemonie<br />
des Proletariats. Seine führende Rolle. Seine Rolle als Führer. Es steht an<br />
der Spitze des ganzen Volkes, der gesamten Demokratie. Es fordert die<br />
Freiheit und führt in den Kampf für die Freiheit. Es gibt das Beispiel, das<br />
Vorbild. Es spornt an. Es schafft eine neue Stimmung.<br />
9. Die neunte und letzte These: kurze Wiederholung und Zusammenfassung.<br />
In der dritten Person muß man von den klassenbewußten Arbeitern<br />
sagen, daß sie drei Prinzipien „unerschütterlich treu" sind: erstens<br />
dem Sozialismus; zweitens den „Prinzipien der alten, kampferprobten<br />
Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands" - die Arbeiter sind ihr<br />
treu, diese 7atsadbe muß man vermitteln; drittens sind die Arbeiter „ihren<br />
republikanischen Überzeugungen" treu. Es handelt sich nicht um einen<br />
Appell, nicht um. eine Losung, sondern um die Treue zu den Überzeugungen.<br />
(In einer Reihe monarchistischer Länder, in England, Schweden,<br />
Italien, Belgien u. a., existieren legale republikanische Parteien.)<br />
PS. Es kann sich noch die Frage erheben, ob es notwendig sei, die<br />
„Koalitionsfreiheit" besonders hervorzuheben. Man muß in Betracht ziehen,<br />
daß die Liquidatoren unter dieser Flagge die liberale Forderung einer<br />
konstitutionellen Reform bei Unantastbarkeit der Qrundlagen<br />
des Dritten-Juni -*<br />
Qesdbrieben im November 1912,<br />
naä>demli.(24.).<br />
Zuerst veröffentlicht 1930 Nad] dem Manuskript,<br />
in der 2.-3. Ausgabe der<br />
'<strong>Werke</strong> IV. 7. Unins, Bi. XVI.<br />
* Hier bricht das Manuskript ab. Die <strong>Red</strong>.
ZUR FRAGE DER ARBEITERDEPUTIERTEN<br />
INDER DUMA<br />
UND IHRER DEKLARATION 95<br />
413<br />
Von der Tribüne der IV. Reichsduma herab erklärt die sozialdemokratische<br />
Fraktion, daß ein unlösbarer kontinuierlicher Zusammenhang<br />
besteht zwischen ihrer Tätigkeit und der Tätigkeit der früheren sozialdemokratischen<br />
Fraktionen in den einzelnen Reichsdumas, insbesondere<br />
der sozialdemokratischen Fraktion in der II. Duma, gegen die von Seiten<br />
der Konterrevolution ein unerhörter politischer Racheakt vollführt wurde.<br />
Die Sozialdemokratie Rußlands ist eine Abteilung der großen internationalen<br />
Befreiungsarmee des sozialistischen Proletariats. In der ganzen Welt<br />
wächst diese Armee jetzt besonders schnell; die allgemein steigenden<br />
Lebenshaltungskosten, der Druck des in Verbänden, Kartellen, Trusts und<br />
Syndikaten vereinigten Kapitals und die imperialistische Politik der Großmächte<br />
machen die Lage der Arbeitermassen unerträglich, verschärfen den<br />
Kampf des Kapitals gegen die Arbeit; rasch naht die Zeit, da dem Kapitalismus<br />
ein Ende bereitet wird, da die Millionen der vereinigten Proletarier<br />
eine Gesellschaftsordnung errichten werden, in der es kein Elend der<br />
Massen, keine Ausbeutung des Mensehen durch den Menschen geben<br />
wird.<br />
Die sozialdemokratische Fraktion stimmt ein in die Forderung der<br />
Arbeiter aller Länder, die auf dem Internationalen Kongreß in Basel entschiedenen<br />
Protest gegen den Krieg erhoben haben. Die Arbeiter fordern<br />
den Frieden. Die Arbeiter protestieren gegen jede Einmischung in die<br />
Balkanangelegenheiten. Nur die völlige Freiheit und Selbständigkeit der<br />
Balkanvölker, nur die Föderative Balkanrepublik vermag den besten Ausweg<br />
aus der gegenwärtigen Krise zu weisen and die wirkliche Lösung der<br />
nationalen Frage durch die Anerkennung der völligen Gleichberechtigung
414 W.l <strong>Lenin</strong><br />
und des unbedingten Rechts auf politische Selbstbestimmung für ausnahmslos<br />
alle Nationalitäten herbeizuführen.<br />
Die sozialdemokratische Fraktion der IV. Reichsduma protestiert insbesondere<br />
gegen die Außenpolitik der russischen Regierung. Sie brandmarkt<br />
die Versuche, das Territorium unseres Staates durch die Eroberung<br />
fremder Gebiete am Bosporus, in Türkisch-Armenien, in Persien, in China<br />
zu erweitern, sie brandmarkt die Eroberung der Mongolei, durch die die<br />
guten Beziehungen zur großen chinesischen Bruderrepublik gestört werden.<br />
Jeder Chauvinismus und Nationalismus wird in der sozialdemokratischen<br />
Fraktion einen unerbittlichen Feind finden, sei es nun der plumpe,<br />
bestialische Nationalismus der Regierungskreise, der Finnland, Polen, die<br />
Ukraine, die Juden und alle Nationalitäten, die nicht zur großrussischen<br />
Nationalität gehören, unterdrückt und knechtet, oder sei es der heuchlerisch<br />
getarnte, raffiniertere Nationalismus der Liberalen und Kadetten,<br />
die gern von den Aufgaben der Großmacht Rußland und seiner Allianz<br />
mit den anderen Mächten zur Ausplünderung fremder Gebiete reden.<br />
Mit dem Lärm nationalistischer <strong>Red</strong>en versuchen die herrschenden Klassen<br />
vergeblich, die Aufmerksamkeit des Volkes von der unerträglichen<br />
inneren Lage Rußlands abzulenken. Die unerhörte Verfälschung der Wahlen<br />
zur IV. Duma, die an die bonapartistisdien Methoden des Abenteurers<br />
Napoleon III. erinnert, hat zum hundertsten und tausendsten Male gezeigt,<br />
daß sich die Regierung auf keine einzige Klasse der Bevölkerung<br />
stützen kann. Sie kann nicht einmal das Bündnis mit den Gutsbesitzern<br />
und der Großbourgeoisie aufrechterhalten, um dessentwillen der Staatsstreich<br />
vom 3. Juni 1907 vollzogen wurde. Die Duma rückte nach rechts,<br />
während das ganze Land nach links rückte.<br />
Ganz Rußland erstickt unter dem Joch der Rechtlosigkeit und der Willkür.<br />
Die ganze zivilisierte Welt erfährt bebend vor Empörung von den<br />
Folterungen und Quälereien an den politischen Häftlingen in Kutomara,<br />
Algatschi und den anderen Kerkern, wo die Besten unseres Landes gepeinigt<br />
werden. Rußland braucht die politische Freiheit wie der Mensch die<br />
Luft zum Atmen. Rußland kann nicht leben und sich entfalten ohne die<br />
Presse-, Versammlungs-, Vereins- und Streikfreiheit, und vor allem, am<br />
meisten, bedarf dieser Freiheiten das Proletariat, das in dem Kampf, den<br />
es für die Erhöhung des Arbeitslohns, für die Verkürzung des Arbeitstages,<br />
für ein besseres Leben führen muß, durch die Rechtlosigkeit des
Zur Jrage der Arbeiterdeputierten in der T)uma 415<br />
russischen Lebens an Händen und Füßen gefesselt ist. Das Joch des Kapitals,<br />
die steigenden Lebenshaltungskosten, die Arbeitslosigkeit in den<br />
Städten und die Verelendung des Dorfes erfordern insbesondere die Vereinigung<br />
der Arbeiter zu Verbänden und ihren Kampf um das Recht auf<br />
Leben, das Fehlen der politischen Freiheit aber zwingt den Arbeiter,<br />
Sklave oder Leibeigener zu bleiben. Die Arbeiter werden im Kampf für<br />
die Freiheit keine Opfer scheuen, denn sie wissen gut, daß nur eine radikale<br />
Änderung aller politischen Verhältnisse des russischen Lebens, nur<br />
die völlige Sicherung der Prinzipien und der Grundpfeiler der politischen<br />
Freiheit imstande ist, die Freiheit des Kampfes der Arbeiter gegen das<br />
Kapital zu garantieren.<br />
Die Wahlen zur IV. Duma und die politischen Massenstreiks der<br />
Arbeiter von 1912, an denen sich fast eine Million Arbeiter beteiligten,<br />
haben gezeigt, daß die Zeit naht, da die Arbeiter emeut an der Spitze der<br />
ganzen Demokratie in Aktion treten werden, um die Freiheit zu erkämpfen.<br />
Drei Lager haben im Wahlkampf ihre Kräfte gemessen. Das Lager<br />
der von der Regierung; geführten Konterrevolution erwies sich als so<br />
schwach, daß man selbst die nach dem Gesetz vom 3. Juni durchgeführten<br />
Wahlen verfälschen mußte, indem man die eingeschüchterten Landgeistlichen<br />
zwang, gegen ihr Gewissen, gegen ihre Überzeugung abzustimmen.<br />
Das Lager des Liberalismus ging immer mehr von der Demokratie zur<br />
Großbourgeoisie über. Die Kadetten bewiesen ihre konterrevolutionäre<br />
Haltung durch ihr Bündnis mit den Schwarzhundertern gegen die Sozialdemokraten<br />
in Riga und Jekaterinodar, in Kostroma und in der ersten<br />
Kurie von Petersburg. Die liberale Utopie konstitutioneller Reformen<br />
unter Beibehaltung der Grundlagen des jetzigen politischen Systems, ohne<br />
machtvolle Volksbewegung - diese Utopie verliert unter der Demokratie<br />
immer mehr an Boden. Die Liberalen verkünden die Losung: Vonnöten<br />
ist keine zweite Revolution, sondern lediglich eine konstitutionelle Arbeit.<br />
Und in der Erkenntnis, daß diese Losung eine Lüge ist, führte die Arbeiterklasse<br />
ihren Wahlkampf, wobei sie die Kräfte der ganzen Demokratie um<br />
sich vereinigte.<br />
Jedermann weiß, und sogar die Regierungspresse hat erklärt, daß die<br />
Arbeiterklasse mit drei Losungen in die Wahlkampagne ging: Demokratische<br />
Republik, Achtstundentag und Konfiskation aller Gutsbesitzerländereien<br />
zugunsten der Bauern.
416 TV. 3. <strong>Lenin</strong><br />
Diese drei Forderungen sind nach der Oberzeugung des sozialdemokratischen<br />
Proletariats der notwendige Abschluß solcher von jedem Demokraten<br />
geteilten Forderungen wie allgemeines Wahlrecht, Presse-, Versammlungs-,<br />
Vereins- und Streikfreiheit, Wählbarkeit der Richter und<br />
Beamten durch das Volk, Abschaffung des stehenden Heeres und Einfährung<br />
der Volksmiliz, Trennung von Kirche und Staat, von Schule und<br />
Kirche und so weiter.<br />
Die Lage der Bauernmassen in Rußland wird immer unerträglicher. Die<br />
sog. „Flurbereinigung" der Regierung verschlimmert nur die Lage der<br />
Mehrheit: sie ruiniert das Dorf und hat im vergangenen Jahr 30 Millionen<br />
Menschen eine Hungersnot gebracht, ohne irgendwelche dauerhafte Verbesserung<br />
in der Landwirtschaft im allgemeinen zu bewirken. Die vorgetäuschte<br />
finanzielle Wohlfahrt beruht auf der Erpressung von Abgaben<br />
und der Verdummung der Bevölkerung, während die Regierung ihren<br />
Bankrott durch die Ausschreibung immer neuer Anleihen hinausschiebt.<br />
Sogar der bescheidene Agrarentwurf der 43 rechten Bauern in der<br />
III. Duma ist zu den Akten gelegt worden. Kein Wunder, daß der beste<br />
Teil der Bauernschaft seine Blicke immer mehr auf die Arbeiterklasse als<br />
den einzigen Führer des Volkes im Kampf für die Freiheit richtet. Kein<br />
Wunder, daß die ganze Demokratie in den mit der ökonomischen Bewegung<br />
der Arbeiterklasse unlösbar verbundenen politischen Streiks von<br />
1912 die Morgenröte eines neuen Lebens, die Morgenröte einer neuen,<br />
mächtigeren Befreiungsbewegung erblickt.<br />
Die sozialdemokratische Fraktion der IV. Duma wird sich für die Interessen<br />
und Erfordernisse dieser Bewegung einsetzen. Sie hält sich nicht<br />
für berechtigt, vor der Mehrheit der IV. Duma zu verheimlichen, was alle<br />
klassenbewußten Arbeiter Rußlands denken und fühlen. Die klassenbewußten<br />
Arbeiter bleiben dem Sozialismus unerschütterlich treu. Sie<br />
bleiben unerschütterlich den Prinzipien der alten, kampferprobten Sozialdemokratischen<br />
Arbeiterpartei Rußlands treu. Sie bleiben im Namen dieser<br />
Prinzipien unerschütterlich ihren republikanischen Überzeugungen<br />
treu.<br />
Qesätrieben im November i9l2,<br />
iii'drt später ah am i3. (26.).<br />
Zum erstenmal veröftentlidit. "Nach einer von 91. X. Xrupskaja<br />
angefertigten Absöirijt.
ZU DEM EREIGNIS VOM 15. NOVEMBER<br />
(Eine nichtgehaltene <strong>Red</strong>e)<br />
417<br />
Am 15. November wurde die IV. Duma eröffnet. Am 15. November<br />
fand eine Demonstration der Petersburger Arbeiter statt. 96 In Verbindung<br />
mit den vorangegangenen politischen Streiks, auf dem Boden dieser Streiks,<br />
stellt diese Demonstration ein bedeutsames historisches Ereignis dar. Die<br />
Streiks sind in Demonstrationen übergegangen. Die Bewegung der Massen<br />
hat eine höhere Stufe erklommen: von den Streiks politischen Charakters<br />
zu Straßendemonstrationen. Das ist ein großer Schritt vorwärts, den alle<br />
klassenbewußten Führer des Proletariats gebührend hervorheben, vermerken<br />
und bewerten müssen.<br />
Dieser Schritt vorwärts erlangt eine um so größere Bedeutung, als er<br />
mit der Eröffnung der IV. Duma, der Duma der Gutsbesitzer und Schwarzhunderter,<br />
der Duma des 3. Juni, zusammenfiel. Ein ausgezeichnet gewählter<br />
Zeitpunkt für eine Demonstration! Ein vortrefflicher proletarischer<br />
Instinkt, der es verstanden hat, die Eröffnung des Schwarzhunderter -<br />
„parlaments" den roten Fahnen auf den Straßen der Hauptstadt gegenüberzustellen,<br />
mit ihnen zu konfrontieren!<br />
Ein vortrefflicher proletarischer Instinkt, der es verstanden hat, der<br />
liebedienerischen, sklavischen, kadettisch-oktobristischen „Demonstration"<br />
(anläßlich der erbärmlichen Phrasen Rodsjankos über die „Konstitution"<br />
97 ) im Palast eine Demonstration echten Typs, eine wirklich vom<br />
Volke getragene, wirklich demokratische, rein proletarische Demonstration<br />
gegenüberzustellen (die Intelligenz fehlte leider, wenn man den Zeitungen<br />
glauben darf).<br />
Das liebedienerische Geschwätz von der „Konstitution" (oder von Stör<br />
mit Meerrettich ä la Rodsjanko) in der Schwarzhunderterduma - und das<br />
Beispiel des beginnenden Kampfes für die Freiheit und die Volksvertretung
4<strong>18</strong> IV. 1. <strong>Lenin</strong><br />
(ohne Anführungszeichen), für die Republik außerhalb der Duma: in dieser<br />
Gegenüberstellung zeigt sich der tiefe, der richtige Instinkt der revolutionären<br />
Massen.<br />
Daß der „Lutsch" der Liberalen und Liquidatoren vor einer solchen<br />
Demonstration „gewarnt" hat, ist Verrätern an der Sache der Arbeiter<br />
würdig.<br />
Aber wie konnte die sozialdemokratische Fraktion „warnen"? Wie<br />
konnte sie auf das Niveau der Kadetten herabsinken? - auf das Niveau<br />
von Sklaven? Wie konnten sich da ihre einzelnen Mitglieder unterordnen?<br />
- sich auf eine solche Schande einlassen??<br />
Es erhebt sich die ab raid zu „privat" geäußerte Vermutung: gab es nicht<br />
Befürchtungen, es handle sich um eine Provokation in irgendeiner der<br />
„aufrufenden" Gruppen?<br />
Nehmen wir für einen Augenblick an, eine solche Vermutung habe bestanden.<br />
Rechtfertigt sie die sozialdemokratische Fraktion? Nein. Oder<br />
genauer gesagt: Sie rechtfertigt ihren Schritt persönlich, aber sie rechtfertigt<br />
ihren Schritt nicht politisch. Sie spricht die sozialdemokratische<br />
Dumafraktion von dem Verdacht frei, Verrat an der Sache der Arbeiter<br />
zu üben, sie spricht sie aber nicht frei von dem Vorwurf, einen politischen<br />
Fehler begangen zu haben.<br />
In der Tat, wie hätte ein ^rbeiterdeputierter, ein wirklicher Arbeiterdeputierter<br />
gehandelt, wenn er drei Tage lang Nachrichten über die Vorbereitung<br />
einer solchen Demonstration erhalten und am letzten Tag das<br />
„Gerücht" (vielleicht auch ein provokatorisches?): „Ist das nicht vielleicht<br />
eine Provokation?" zu Ohren bekommen hätte?<br />
Der Arbeiterdeputierte hätte den Weg zu einigen einflußreichen Arbeitern<br />
gefunden. Der Arbeiterdeputierte hätte begriffen, daß in solchen<br />
Augenblicken sein Platz an der Seite der führenden Arbeiter ist, daß es<br />
hundertmal wichtiger ist, hier bei den Arbeitern zu sein, als an den Sitzungen<br />
der Dumafraktion teilzunehmen. Der Arbeiterdeputierte hätte von<br />
den führenden Arbeitern, von zwei, drei (wenn nicht 4—5) einflußreichen<br />
Arbeitern der Hauptstadt erfahren, wie es um die Sadbe steht, wie die<br />
Arbeiter denken, welöie Stimmung unter den Massen herrscht.<br />
Der Arbeiterdeputierte hätte sich davon unterrichtet, hätte es verstanden,<br />
sich davon zu unterrichten, hätte es verstanden, in Erfahrung zu bringen,<br />
daß der Streik (von Fünfzehn- bis Fünfzig tausend 11 nach den
7M dem Ereignis vom 15. November 419<br />
Meldungen der bürgerlichen Presse) stattfinden wird, daß die Demonstration<br />
stattfinden wird, daß die Arbeiter nicht an Gewaltakte und Unruhen<br />
denken, daß folglich die Gerüchte, es handle sich um eine Provokation,<br />
unsinnige Gerüchte sind.<br />
Der Arbeiterdeputierte hätte das in Erfahrung gebracht und sich nicht<br />
täuschen lassen von den eingeschüchterten liberalen Intelligenzlern der<br />
niederträchtigen „Initiativgruppe".<br />
Gerüchte, es handle sich um eine Provokation. Nehmen wir an, daß es<br />
sie gab. Aber gab es solche Gerüchte etwa nicht bei der Gaponiade? Das<br />
wäre ein schöner Arbeiter oder Arbeiterführer, der nicht unterscheiden<br />
würde zwischen dem begonnenen eigenartigen Erwachen der Massen bei<br />
der Gaponiade und dem Provokateur Gapon, den Lockspitzeln der Polizei,<br />
die Gapon angespornt hatten!!<br />
Nehmen wir an, daß auch bei der Vorbereitung der Demonstration vom<br />
15. November die Polizei und Lockspitzel die Hand im Spiele hatten.<br />
Nehmen wir das an (obwohl es nicht bewiesen und unwahrscheinlich ist;<br />
wahrscheinlicher ist, daß die Qerüdite über eine Provokation provökaiorisdh<br />
waren).<br />
Aber nehmen wir es an. Was folgt daraus? Man braucht sich nicht auf<br />
Gewaltakte einzulassen, wenn von ihnen gar keine <strong>Red</strong>e war. Man muß<br />
vor Gewaltakten warnen. Aber soll man vor einem friedlichen Streik<br />
warnen, wenn es in den Massen brodelt? Vor einer "Demonstration warnen??<br />
Einen traurigen, einen sehr traurigen Fehler hat die sozialdemokratische<br />
Dumafraktion als Ganzes begangen. Und es wäre angenehm zu erfahren,<br />
daß nicht alle diesen Fehler gemacht haben, daß viele, die ihn gemacht<br />
haben, ihn erkennen und nicht wiederholen werden.<br />
Die Bewegung des Proletariats in Rußland hat (welches die Machenschaften<br />
der Polizei wo immer auch sein mögen) eine höhere Stufe erklommen.<br />
Qesdbrieben in der zweiten<br />
Novemberhälfte 1912.<br />
Zuerst veröftentlidit 1930 Nadh dem Manuskript.<br />
in der 2.-3. Ausgabe der<br />
VJerke W. J. <strong>Lenin</strong>s, <strong>Band</strong> XVI.<br />
lintersdbrift: Ein "Nicht-Deputierter.
420<br />
AN J. W. STALIN 98<br />
Lieber Freund! In polnischen Lokalzeitungen wird berichtet, daß<br />
Jagiello in die Fraktion aufgenommen worden sei, jedoch mit beratender<br />
Stimme. 99 Wenn das wahr ist, so ist das ein entscheidender Sieg des Parteiprinzips.<br />
Angesichts der Agitation des „Lutsch" muß man: 1. einen<br />
Artikel im „Den" 100 bringen (einen Entwurf schicke ich heute)... im<br />
Kollegium 101 (man muß ihnen unbedingt beibringen, daß sie bei allen<br />
wichtigen Ereignissen Resolutionen abfassen und Abschriften davon unverzüglich<br />
hierherschicken müssen). Eine solche Resolution müßte etwa<br />
so lauten: „Nach Erörterung aller-mit der Aufnahme Jagiellos in die<br />
sozialdemokratische Fraktion verbundenen Umstände, nach dem Studium<br />
der Artikel, die zu dieser Frage in dem marxistischen Organ ,Prawda c<br />
und in dem Liquidatorenblatt ,Lutsdi' erschienen sind, und unter Berücksichtigung<br />
des Berichts von dem und dem über die in der sozialdemokratischen<br />
Dumafraktion hierüber geführten Debatten und über<br />
die Meinungen der verschiedenen sozialdemokratischen Organisationen<br />
in Rußland - beschließt das Kollegium: Die Ablehnung, Jagiello mit<br />
beschließender Stimme aufzunehmen, ist als der einzig richtige Ausweg<br />
vom Standpunkt des Parteiprinzips anzusehen, denn Jagiello ist Mitglied<br />
einer nichtsozialdemokratischen Partei und ist in die IV. Duma gegen den<br />
Willen der Mehrheit der Wahlmänner der Arbeiterkurie von Warschau<br />
gelangt. Das Kollegium verurteilt die gegen die Partei gerichtete Agitation<br />
des ,B un< i' und der Liquidatoren für die Aufnahme Jagiellos in die Fraktion<br />
und gibt der Hoffnung Ausdruck, daß die Gewährung der beratenden<br />
Stimme für den Abgeordneten Jagiello dazu beitragen wird, daß sich alle<br />
klassenbewußten polnischen Arbeiter um die Polnische Sozialdemokratie<br />
scharen und sich vollends mit den Arbeitern aller Nationalitäten zu einheitlichen<br />
Organisationen der SDAPR zusammenschließen."<br />
Sollten, wider Erwarten, die Liquidatoren gesiegt haben, und Jagiello<br />
ist aufgenommen, so ist dennoch eine Resolution obigen Charakters mit
An J. W. Stalin 421<br />
dem Ausdruck des Bedauerns und mit einem Appell an die ganze Partei<br />
notwendig, ja doppelt notwendig,<br />
Ferner ist es von größter Wichtigkeit, daß sich das Kollegium in bezug<br />
auf die bekannte Resolution vom 13. November „berichtigt" und eine<br />
neue annimmt. Etwa so: „Mach Erörterung aller mit dem Streik vom<br />
15. November zusammenhängenden Umstände stellt das Kollegium fest,<br />
daß die Warnungen vor einem Streik sowohl seitens der sozialdemokratischen<br />
Fraktion als auch seitens des Petersburger Komitees ausschließlich<br />
darauf beruhten, daß ein Teil der Organisation auf eine Aktion an diesem<br />
Tage nicht vorbereitet war. Die Erfahrungen haben jedoch gezeigt, daß die<br />
Bewegung des revolutionären Proletariats dennoch weit um sich gegriffen<br />
hat und zu Straßendemonstrationen für die Republik, den Achtstundentag<br />
und die Konfiskation der Gutsbesitzerländereien übergegangen ist, womit<br />
die ganze Arbeiterbewegung Rußlands eine höhere Stufe erreichte. Das<br />
Kollegium verurteilt daher entschieden die von den Liquidatoren, ihrer...<br />
Gruppe und dem ,Lutsch' gegen die revolutionären Streiks betriebene<br />
Propaganda und empfiehlt den Arbeitern, alle Anstrengungen auf die umfassendere<br />
und solidere, einmütige Vorbereitung von Straßendemonstrationen<br />
und von politischen Proteststreiks zu richten, wobei letztere möglichst<br />
kurz (eintägig) und einheitlich sein sollten. Das Kollegium wird sich<br />
bemühen, die Agitation in Gang zu bringen für einen Streik und eine<br />
Demonstration am 9. Januar 1913, verbunden mit einem besonderen Protest<br />
anläßlich der dreihundertjährigen Regierung des Hauses der Romanows,<br />
die Rußland versklaven und mit Blut überschwemmen."<br />
Sodann ist es äußerst wichtig und notwendig, daß die fünf Abgeordneten<br />
(von der Kurie) eine begründete Resolution in der Angelegenheit<br />
Badajew aufsetzen. Etwa so: „In Anbetracht der Hetze der Liquidatoren<br />
im ,Lutsdi' und unter den Petersburger Arbeitern gegen den Gen.<br />
Badajew haben die fünf Abgeordneten der Arbeiterkurie beschlossen:<br />
1. diese Frage nicht der Dumafraktion vorzulegen, denn diese hat Badajew<br />
aufgenommen, und innerhalb der Fraktion hat es keinen einzigen Protest<br />
gegen die Aufnahme Badajews gegeben; 2. die Umstände bei der Wahl<br />
Badajews zu untersuchen, wobei vorausgesetzt wird, daß er sich in dieser<br />
Frage der Stimme enthält; 3. angesichts der von den fünf Abgeordneten<br />
festgestellten und überprüften Tatsachen - a) der Wählerauftrag antiliquidatorischen<br />
Inhalts war vorher veröffentlicht und in der Versammlung
422 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />
der Bevolhnäditigten einstimmig angenommen worden, alle Wahlmänner<br />
und Bevolhnäditigten, die für Badajew eintraten, haben einmütig, einhellig<br />
und als überzeugte Gesinnungsgenossen entsprediend dem Ersudien des<br />
Petersburger Komitees der SDAPR gehandelt; b) in der Versammlung<br />
der sozialdemokratisdien Bevollmäditigten waren 15 für die Liste des<br />
Petersburger Komitees und 9 für die Liquidatoren, unter den Bevollmäditigten<br />
und Wahlmännem des ,Lutsdi' haben nidit alle als Gesinnungsgenossen<br />
der Liquidatoren gehandelt, sondern ein Teil sdiwankte (Sudakow<br />
usw.); c) als 3 und 3 Wahlmänner durdikamen, taten die Anhänger<br />
Badajews ihre Pflidit, wenn sie vorsdilugen, die Frage durdi das Los<br />
zu entsdieiden, um den Streit nidit vor der Bourgeoisie auszutragen; d) die<br />
Tatsadie, daß die Anhänger Badajews diesen Vorsdilag einbraditen, und<br />
die Tatsadie, daß die Liquidatoren ihn ablehnten, ... die Frage von P.<br />
und M. (Liquidator) 102 - angesidits all dessen haben sie besdilossen:<br />
zu erklären, daß Badajew zweifellos von der Mehrheit der sozialdemokratisdien<br />
Arbeiter von St. Petersburg gewählt und Kandidat tatsädilidi<br />
auf Ersudien des Petersburger Komitees ist und daß die ganze Sdiuld für<br />
die Desorganisierung der Wahlen der sozialdemokratisdien Partei in der<br />
Arbeiterkurie von St. Petersburg die Liquidatoren trifft, die in dem Bewußtsein,<br />
in der Minderheit zu sein, den Willen der Mehrheit hintertrieben.<br />
Sie stellen fest, daß die Weigerung der Liquidatoren, einer Entsdieidung<br />
durdi das Los zuzustimmen, eine empörende und in der<br />
Arbeiterbewegung unerhörte Verletzung der Pflidit eines jeden Sozialdemokraten<br />
ist. 103 Sie haben besdilossen, diese Resolution in der Presse<br />
zu veröffentlidien und unter den Arbeitern einhellig für Badajew und<br />
gegen die liquidatorisdie Agitation aufzutreten."<br />
Diese Resolution ist notwendig. Die Frage Badajew ist bereits in die<br />
internationale Presse gedrungen. Steklow hat in,der „Neuen Zeit" unbestimmte,<br />
aber hinterhältige Phrasen veröffentlidrt. In einer deutsdien<br />
Brosdiüre, die die Liquidatoren zum Internationalen Kongreß in deutsdier<br />
Spradie herausgegeben haben, steht das tollste Zeug gesdirieben.<br />
Man darf nidit sdiweigen. Gerade die Abgeordneten der Kurie müssen<br />
die Tatsachen prüfen und eine <strong>Red</strong>itfertigung besdiließen, natürlidi bei<br />
Stimmenthaltung Badajews.<br />
Qesätrieben am i i. Dezember 1912. "Kado einer im Ardbiv des Volizeidepar-<br />
Zum erstenmal veröffentlicht. tements aufgefundenen Abschrift.
AN J.W.STALIN 104<br />
Für Wassiljew<br />
423<br />
6. XII.<br />
Lieber Freund, was den 9. Januar betrifft, so ist es sehr wichtig, daß<br />
man sich beizeiten Gedanken macht und Vorkehrungen trifft. Beizeiten<br />
fertig sein muß insbesondere ein Flugblatt mit dem Aufruf zu Kundgebungen,<br />
zu einem eintägigen Streik und zu Demonstrationen (das muß<br />
an Ort und Stelle entschieden werden, dort kann man es besser überblicken).<br />
105 Der Fehler vom 15. November muß „korrigiert" werden,<br />
korrigiert gegen die Opportunisten natürlich. Die Losungen des Flugblatts<br />
müssen die drei revolutionären Hauptlosungen sein (Republik,<br />
Achtstundentag und Konfiskation der Gutsbesitzerländereien), wobei besonders<br />
zu betonen ist, daß die Schmach der Romanowdynastie nun<br />
300 Jahre andauert. Falls nicht die völlige und restlose Gewißheit besteht,<br />
daß es möglich ist, das Flugblatt in Petersburg herzustellen, so<br />
muß es beizeiten, rechtzeitig hier hergestellt und hinbefördert werden.<br />
Die Frechheit der Liquidatoren im Falle Jagiello ist beispiellos. Wenn<br />
alle sechs der Arbeiterkurie unser sind, dürfen wir uns nicht stillschweigend<br />
irgendwelchen Sibiriern unterordnen. Die sechs müssen unbedingt<br />
schärfsten Protest erheben; wenn man sie majprisiert, müssen sie den<br />
Protest im „Den" veröffentlichen und erklären, daß sie an die unteren<br />
Organisationen, an die Arbeiterorganisationen appellieren. Die Liquidatoren<br />
wollen ihre Mehrheit aufbauschen und die Trennung von der<br />
Polnischen Sozialdemokratie durchsetzen. Wollen sich die Arbeitervertreter<br />
der sechs Arbeitergouvernements etwa den Skobelew und Co. oder<br />
dem ersten besten Sibirier 106 unterordnen? Schreiben Sie häufiger und<br />
mehr, ausführlicher.
424 W. 7. <strong>Lenin</strong><br />
Die Artikel des „Lutsch" gegen die Streiks sind der Gipfel der Niedertracht.<br />
Man muß ihnen in illegalen Publikationen scharf entgegentreten.<br />
Schreiben Sie möglichst rasch, für welchen der von Ihnen hierfür<br />
vorgesehenen Pläne Sie sich entscheiden.<br />
Mit Gruß.<br />
PS. Geben Sie den Paß zurück - es ist nicht ratsam, ihn zu benutzen,<br />
der Eigentümer könnte in Petersburg sein.<br />
Qesdbrieben am 6. Dezember 1912.<br />
Zuerst veröffentlicht 1923 "Nadi einer von SV. X. Xrupskaja<br />
in dem Buch „Aus der Epoche angefertigten Abschrift.<br />
der ,Swesda' und der ,"Prawdä<br />
i9ii-i9i4", Lieferung III.
DIE KRANKHEIT DES REFORMISMUS<br />
425<br />
„Woran kranken wir?" fragte kürzlich im „Lutsch" der Verfasser<br />
eines aufschlußreichen, unter dem Eindruck des Streiks vom 15. November<br />
geschriebenen Feuilletons mit diesem Titel.<br />
Die Antwort ergibt sich klar aus den beiden folgenden Zitaten:<br />
„Denen, die auf die Führerrolle Ansprach erheben, müßte wohl klar sein,<br />
daß die Forderung nach Aufhebung der Ausnahmezustände und nach Koalitionsfreiheit<br />
eines, Sache des Kampfes in der heutigen Zeit und in der nächsten<br />
Zukunft ist, die Änderung des bestehenden Systems aber, von dem in dem<br />
Aufruf die <strong>Red</strong>e ist, etwas anderes. Sie kann erreicht werden nicht durch die<br />
Streikspielerei, wie wir sie heute sehen, sondern nur durch beharrliche planmäßige<br />
Arbeit, durch die Eroberung einer Position nach der andern, durdi die<br />
Anspannung aller Kräfte, durch ausgezeichnete Organisiertheit und die Einbeziehung<br />
nicht allein der Arbeiterklasse, sondern der breiten Massen des<br />
Volkes in diesen Kampf...<br />
Wenn wir bewußt an unsere Aufgaben herangehen, planmäßig unsere Interessen<br />
wahrnehmen, ohne heute Feuer zu fangen, um morgen wieder abzukühlen,<br />
werden wir sowohl starke Gewerkschaftsorganisationen als auch eine<br />
legale politische Partei schaffen, an die niemand Hand anzulegen wagen wird."<br />
Diese Zitate genügen, um dem Verfasser zu sagen: Verehrtester, fragen<br />
Sie lieber, woran Sie selbst „kranken". Und wir antworten Ihnen: Sie<br />
kranken an Reformismus, das ist offenkundig. Sie leiden an einer „fixen<br />
Idee", der Idee der Stolypinschen Arbeiterpartei. Die Krankheit ist gefährlich.<br />
Die Doktoren vom „Lutsch" werden Sie vollends zu Tode<br />
kurieren.<br />
Der Verfasser propagiert ganz bestimmt und bewußt, entgegen den allgemeinen<br />
Forderungen nach politischer Freiheit, die „legale politische Par-<br />
28 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>
426<br />
r W. 1. <strong>Lenin</strong><br />
tei". Eine Gegenüberstellung der beiden angeführten Zitate läßt darüber<br />
keinen Zweifel. Ausflüchte wären hier vergeblich.<br />
Wir fragen den Verfasser: Weshalb erwies sich denn die „legale Partei"<br />
der Opportunisten der kleinbürgerlichen Demokratie (die „Volkssozialisten"<br />
von 1906) und des großbürgerlichen Liberalismus (die Kadetten<br />
von 1906/1907 und der folgenden Jahre) als Utopie, während Ihre<br />
„legale" Arbeiterpartei nicht utopisch sein soll?<br />
Sie geben zu (oder zumindest hat das „offene" Auftreten bei den Wahlen<br />
Sie gezwungen, zuzugeben), daß die Kadetten konterrevolutionär, daß<br />
sie überhaupt keine Demokraten, keine Partei der Massen sind, sondern<br />
eine Partei der wohlhabenden Bourgeoisie, eine Partei der „ersten Kurie".<br />
Und nun erheben Sie, ein „nüchterner Realpolitiker", ein Feind des<br />
„Feuerfangens" und des „Drohens mit den Fäusten", angeblich im Namen<br />
der Arbeiter eine „nächstliegende" Forderung, die sich als utopisch, als für<br />
die Kadetten unerreichbar erwiesen hat!! Als Utopist sind Sie groß, aber<br />
Ihre Utopie ist klein, nichtig, erbärmlich.<br />
Ohne es selbst zu wissen, haben Sie sich mit der Modekrankheit - es<br />
herrscht jetzt eine solche Epidemie! - der Niedergeschlagenheit, des Kleinmuts,<br />
der Verzweiflung und des Unglaubens infiziert. Und diese Krankheit<br />
treibt Sie in den Abgrund des Opportunismus, der bereits den Volkssozialisten<br />
wie auch den Kadetten das allgemeine Gelächter eingebracht<br />
hat.<br />
Sie halten die Forderung nach Aufhebung der Ausnahmezustände und<br />
nach Koalitionsfreiheit für zeitgemäß und sachlich, für „planmäßig" und<br />
„bewußt". Sie unterscheiden sich grundsätzlich von der Sozialdemokratie,<br />
denn sie begreift die allgemeinen Bedingungen für die Verwirklichung (und<br />
die Ernsthaftigkeit) solcher Reformen. Sie stimmen im wesentlichen mit<br />
den Progressiven und Oktobristen überein, denn eben diese Leute betrügen<br />
sich und andere mit dem Geschwätz ... von Reformen und „Freiheiten"<br />
auf der Basis der gegebenen Sachlage. Der italienische Reformist<br />
Bissolati verriet die Arbeiterklasse für Reformen, die der liberale Minister<br />
Giolitti bei „legaler" Existenz der Parteien aller Klassen versprochen<br />
hatte. Sie aber verraten die Arbeiterklasse für Reformen, die nicht einmal<br />
die Isgojew und Bulgakow von Makarow erwarten!<br />
Sie sprechen verächtlich von „Streikspielerei". Ich habe nicht die Möglichkeit,<br />
Ihnen hier, was diesen Punkt anbelangt, so zu antworten, wie es
Die Xrankheit des Reformismus 427<br />
nötig wäre. Ich will nur kurz darauf hinweisen, daß es einfach unklug ist,<br />
eine tiefgreifende historische Bewegung „Spielerei" zu nennen. Sie ärgern<br />
sidh über die Streiks, wie sich das „Nowoje Wremja" (siehe die Nummer<br />
vom 17. November, den Artikel von Nesnamow), die Isgojew und<br />
Bulgakow ärgern. Und Sie ärgern sich deshalb, weil das Leben Ihre liberalen<br />
Illnsionen erbarmungslos zerschlägt. Die Arbeitermassen erkennen<br />
durchaus die Notwendigkeit der Organisation, eines Systems, der Vorbereitung,<br />
der Planmäßigkeit, aber Ihren <strong>Red</strong>en begegnen sie mit Verachtung<br />
und werden sie mit Verachtung begegnen.<br />
Die schwere Krankheit, die Sie vergiftet hat, ist durch einen sehr verbreiteten<br />
Bazillus hervorgerufen worden. Es ist das der Bazillus der liberalen<br />
Arbeiterpolitik oder, anders ausgedrückt, des Liquidatorentums. Es<br />
liegt in der Luft. Wie sehr Sie sich aber auch über den Verlauf der Ereignisse<br />
überhaupt und über den 15. November im besonderen ärgern<br />
mögen, dieser Verlauf ist für einen solchen Bazillus tödlich.<br />
.Travoda" "Nr. iSO Ttadb demJextder .Trawda".<br />
29. November I9i2.<br />
Vvtersdbrift: W.Jljin.
428<br />
DIE VERELENDUNG IN DER<br />
KAPITALISTISCHEN GESELLSCHAFT<br />
Die bürgerlichen Reformisten und in ihrem Gefolge manche Opportunisten<br />
ans den Reihen der Sozialdemokratie behaupten, daß es eine Verelendung<br />
der Massen in der kapitalistischen Gesellschaft nicht gebe. Die<br />
„Verelendungstheorie" stimme nicht, der Wohlstand der Massen wachse,<br />
wenn auch langsam, die Kluft zwischen Besitzenden und Besitzlosen werde<br />
nicht größer, sondern kleiner.<br />
In letzter Zeit wird die ganze Heuchelei derartiger Behauptungen den<br />
Massen immer deutlicher klar. Die Lebenshaltungskosten steigen. Die<br />
Löhne der Arbeiter wachsen selbst bei hartnäckigsten und für die Arbeiter<br />
maximal erfolgreichen Streikkämpfen viel langsamer, als die für die Erhaltung<br />
der Arbeitskraft notwendigen Ausgaben steigen. Gleichzeitig aber<br />
wächst der Reichtum der Kapitalisten in schwindelerregendem Tempo.<br />
Hier einige Angaben über Deutschland, wo die Lage der Arbeiter infolge<br />
des höheren Kulturniveaus, dank der Streikfreibeit und Koalitionsfreiheit,<br />
dank der politischen Freiheit, den Millionen Gewerkschaftsmitgliedern<br />
und den Millionen Lesern der Arbeiterzeitungen unvergleichlich<br />
besser ist als in Rußland.<br />
Nach Angaben bürgerlicher Sozialpolitiker, die sich auf amtliche Quellen<br />
stützen, ist der Durchschnittslohn der Arbeiter in Deutschland in den<br />
letzten 30 Jahren um 25% gestiegen. Im gleichen Zeitabschnitt haben sich<br />
die Lebenshaltungskosten mindestens um 40% erhöht!!<br />
Sowohl Nahrungsmittel als auch Kleidung, Heizmaterial und Wohnungen<br />
— alles ist im Preis gestiegen. Der Arbeiter verelendet absolut, das<br />
heißt, er wird geradezu ärmer als früher, er ist gezwungen, schlechter zu<br />
leben, sich kärglicher zu ernähren, sich immer weniger satt zu essen, in<br />
Kellerräumen und in Dachstuben zu hausen.
Die Verelendung in der kapitaUstisäen Qeselhdbaft 429<br />
Noch offensichtlicher ist jedodi die relative Verelendung der Arbeiter,<br />
d. h. die Verringerung ihres Anteils am gesellschaftlichen Einkommen. Der<br />
verhältnismäßige Anteil der Arbeiter an dem rasch wachsenden Reichtum<br />
der kapitalistischen Gesellschaft wird immer geringer, denn die Millionäre<br />
werden immer schneller reich.<br />
In Rußland gibt es keine Einkommensteuer, keine Angaben über das<br />
Anwachsen des Reichtums bei den wohlhabenden Klassen der Gesellschaft.<br />
Unsere noch traurigere Wirklichkeit ist hinter einem Vorhang verborgen -<br />
hinter einem Vorhang von Unwissenheit und Schweigen.<br />
In Deutschland gibt es genaue Angaben über den Reichtum der besitzenden<br />
Klassen. In Preußen beispielsweise gehörten die ersten 10 Milliarden<br />
Mark (5 Milliarden Rubel) steuerpflichtigen Vermögens im Jahre 1902<br />
<strong>18</strong>53 Personen, im Jahre 1908 hingegen 1108 Personen.<br />
Die Anzahl der größten Krösusse hat sich verringert. Ihr Reichtum hat<br />
zugenommen: jeder von ihnen besaß im Jahre 1902 ein Vermögen von<br />
durchschnittlich 5 Millionen Mark (2,5 Millionen Rubel), im Jahre 1908<br />
aber ein Vermögen von 9 Millionen Mark (4,5 Millionen Rubel)!<br />
Man spricht von den „oberen 10 000". In Preußen hatten die „oberen<br />
21 000" ein Vermögen von 13,5 Milliarden Mark, während die übrigen<br />
1 300 000 Besitzer steuerpflichtiger Vermögen über ein Vermögen von<br />
3 Milliarden Mark verfügten.<br />
Die vier größten Millionäre Preußens (ein Fürst, ein Herzog und zwei<br />
Grafen) hatten 1907 ein Vermögen von 149 Millionen Mark, 1908 aber<br />
von 481 Millionen Mark.<br />
Der Reichtum wächst in der kapitalistischen Gesellschaft mit unwahrscheinlicher<br />
Geschwindigkeit - zugleich mit der Verelendung der Arbeitermassen.<br />
.Vrawda" 7ir. i8i, Tiadi dem 7ext der „Vrawda".<br />
3O.7Jovember 1912.
430<br />
DIE ARBEITERKLASSE UND<br />
IHRE „PARLAMENTARISCHE" VERTRETUNG<br />
Die klassenbewußten Arbeiter in Rußland haben es nicht zum erstenmal<br />
mit einer kollektiven Vertretung der Arbeiterklasse in der Reichsduma<br />
zu tun. Und jedesmal, wenn eine solche Vertretung in der II., III.<br />
und IV. Duma gebildet wurde (wir reden nicht von der I. Duma, die von<br />
der Mehrheit der Sozialdemokratie boykottiert wurde), jedesmal war<br />
eine Nichtübereinstimmung zu beobachten zwischen den Ansichten und<br />
Auffassungen, der Richtung der Mehrheit der Sozialdemokratie und ihrer<br />
Dumavertretung.<br />
Genaues Material, das diese Nichtübereinstimmung zeigt, gibt es für<br />
die zweite Reichsduma. Im Frühjahr 1907 wurde offiziell und unbestritten<br />
festgestellt, welche Auffassungen, Richtungen, Strömungen oder Fraktionen<br />
in der Sozialdemokratie überwogen und welche - in der sozialdemokratischen<br />
Dumafraktion.<br />
Es ergab sich, daß bei je einem Delegierten von jeweils 500 sozialdemokratischen<br />
Arbeitern die Bolschewiki damals 105 Delegierte hatten, die<br />
Menschewiki 97, Fraktionslose gab es 4. 1OT<br />
Ein deutliches Übergewicht auf Seiten des Bolschewismus.<br />
Von den „nationalen" Sozialdemokraten hatten die Polen 44 Delegierte,<br />
die Bundisten 57 und die Letten 29. Da unter den Letten damals<br />
die Gegner des Opportunismus, der Menschewiki und des „Bund", ein<br />
starkes Übergewicht besaßen, entsprach auch unter den „Nationalisten"<br />
im ganzen das Verhältnis der „Strömungen" ihrem Verhältnis im „russischen"<br />
Teil der Sozialdemokratie.<br />
Indessen gab es damals in der sozialdemokratischen Dumafraktion 36<br />
Menschewiki und <strong>18</strong> Bolschewiki und unter den Abgeordneten der Ar-
Die Arbeiterklasse und ihre „parlamentarische" Vertretung 431<br />
beiterkurie 12 Menschewiki und 11 Bolschewiki. 108 Es ist also klar, daß die<br />
Menschewiki das Übergewicht hatten.<br />
In der Sozialdemokratie und in der Dumafraktion waren demnach die<br />
Kräfte der „Strömungen" nicht gleichartig verteilt, sondern geradezu entgegengesetzt.<br />
Ist das ein Zufall?<br />
Nein. In allen Ländern der Welt beobachtet man in der Regel, daß die<br />
Zusammensetzung der parlamentarischen Vertretungen der Arbeiterparteien<br />
im Vergleich zur Zusammensetzung der Arbeiterparteien selbst<br />
opportunistischer ist. Die Ursache dieser Erscheinung ist nicht schwer zu<br />
erkennen: Erstens beschränken in Wirklichkeit alle Wahlsysteme der bürgerlichen<br />
Länder, selbst die demokratischsten, die Wahlrechte der Arbeiter<br />
durch Bestimmungen entweder in bezug auf das Alter (in Rußland sind<br />
25 Jahre erforderlich) oder auf die Dauer der Ansässigkeit, die Stetigkeit<br />
des Arbeitsplatzes (in Rußland ein halbes Jahr) usw. Solche Beschränkungen<br />
treffen gewöhnlich am schwersten gerade die jungen, die bewußteren<br />
und entschlosseneren Schichten des Proletariats.<br />
Zweitens haben es die nichtproletarischen Elemente der Arbeiterparteien<br />
- die Beamten der Arbeiterverbände, die kleinen Eigentümer, die<br />
Angestellten und insbesondere die „Intelligenz" - in der bürgerlichen<br />
Gesellschaft bei jedem Wahlrecht leichter, sich auf den „parlamentarischen"<br />
Beruf zu spezialisieren (kraft ihrer Berufe, ihrer Stellung in der<br />
„Gesellschaft", ihrer Vorbildung usw.).<br />
Welche Schlüsse aus dieser Tatsache zu ziehen sind und wie die Lage,<br />
im Vergleich zur II. Duma, in der dritten und vierten war - diesen Fragen<br />
werden wir den nächsten Artikel widmen.<br />
J>rawda° 7lr. 191, Na
432<br />
DIE „VERSÖHNUNG" DER NATIONALISTEN<br />
MIT DEN KADETTEN<br />
Das wichtigste politische Ergebnis der Dumadebatten über die Regierungserklärung<br />
ist -die rührende Vereinigung der Nationalisten, Oktobristen<br />
und Kadetten. Unsere russische sogenannte „Gesellschaft" erliegt so<br />
sehr der lauten und billigen Phrase, daß man besonderen Nadidrudc legen<br />
muß auf dieses wirkliche Ergebnis der Kritik aller Parteien an den prinzipiellen<br />
Fragen der Politik.<br />
„Die Parteien sind verschwunden", schrieb das nationalistische „Nowoje<br />
Wremja" (Nr. 13 199). „Die ausgezeichnete <strong>Red</strong>e des Abgeordneten Maklakow<br />
(in der Sitzung vom 7. Dezember) vereinigte die ganze Reichsduma, die<br />
ihm, alle parteilichen Rüdesichten und Meinungsverschiedenheiten vergessend,<br />
Beifall zollte."<br />
Dieses Echo einer nationalistischen Zeitung, des Hauptorgans jeglicher<br />
Liebedienerei und der Hetze gegen die Juden und „Fremdstämmigen",<br />
muß jeder im Gedächtnis behalten und gründlich durchdenken, der sich<br />
ernsthaft für die Politik interessiert.<br />
Die Oktobristen und Nationalisten, die Gutschkowleute und die Leute<br />
vom „Nowoje Wremja" zollten Maklakow nicht deshalb Beifall, weil sie<br />
die parteilidien Meinungsverschiedenheiten „vergessen" hatten, sondern<br />
weil sie die tiefe Meenharmonie zwischen der liberalen Bourgeoisie und<br />
den nationalistischen Gutsbesitzern richtig erfaßt hatten.<br />
Maklakow bewies diese Ideenharmonie in den Grundfragen der Innenund<br />
Außenpolitik. „Will Rußland keinen Krieg, so fürchtet es ihn doch<br />
nicht", rief dieser Kadett unter dem lang anhaltenden Beifall der Nationalisten<br />
aus. Wie sollten sie nidit Beifall spenden? Für jeden politisch<br />
geschulten Menschen ist klar, daß die Kadetten mit diesen Worten ihre
Die .Versöhnung" der Nationalisten mit den Kadetten 433<br />
Zustimmung zur Politik der Kriegsdrohung, zur Politik des Militarismus,<br />
der Aufrüstung zu Lande und zur See, die die Volksmassen versklavt und<br />
ruiniert, zum Ausdruck brachten.<br />
Die Liberalen, die den Militarismus unterstützen, sind für die Reaktion<br />
keine Gefahr, denn die Reaktionäre urteilen völlig richtig: Die Unterstützung<br />
des Militarismus ist eine Tat, liberale Ausrufe aber sind leere<br />
"Worte, die man unter der Herrschaft der Reaktion ohnehin nicht verwirklichen<br />
kann. „Gib uns Millionen für die Aufrüstung - und wir werden dir<br />
Beifall spenden für liberale Phrasen", das sagt und muß jeder gescheite<br />
feudale Gutsbesitzer den Balalaikins* in der Duma sagen.<br />
Und Maklakows Standpunkt in der Innenpolitik? Ist es ein Zufall,<br />
daß der rechte Geistliche, wie die „Retsch" selbst bezeugt, „vollauf zufrieden"<br />
ist - oder daß das „Nowoje Wremja" begeistert Maklakows<br />
„Leitmotiv" abdruckt: „Möge Rußland nicht in zwei Lager gespalten sein<br />
- in das Land und die Regierung" ?<br />
Nein, das ist kein Zufall, denn mit seinem Geschrei von der wünschenswerten<br />
„Versöhnung" eifert Maklakow in der 7a\ Kokowzow nach. Kokowzow<br />
wünscht ebenfalls eine „Versöhnung"!<br />
Kokowzow wünscht keine Änderung im Verhältnis der gesellschaftlichen<br />
Kräfte. Maklakow zeigte niäot im geringsten, daß er versteht, weldbe<br />
Änderung nötig ist und wodurdh sie erreicht werden kann. „Versöhnung"<br />
ist gerade das Wort, das die einzig ernsthafte Frage, die Frage nach den<br />
Bedingungen und Mitteln einer solchen Änderung, verwisdbt, verwischt<br />
durch eine faule Phrase, die nichts aussagt, das staatsbürgerliche Bewußtsein<br />
der Massen abstumpft, sie einschläfert<br />
Verachtung verdient die „Gesellschaft" die den „Versöhnungs"reden<br />
der Maklakow Beifall spenden kann.<br />
In der <strong>Red</strong>e des Arbeitervertreters Malinowski zur Minis.tererklärung<br />
aber übersahen die Nationalisten wie die Kadetten geflissentlich, wie die<br />
Demokratie die Fragen stellt. Doch hielt ja Malinowski seine <strong>Red</strong>e durdhaus<br />
nicbt für dieses Publikum.<br />
„Vrawda" 9tfr. 194, TJadh dem 7exl der .Vrawda".<br />
i5. "Dezember 1912.<br />
* Balalaikin - Gestalt aus M. J. Saltykow-Sditschedrins Werk „Eine zeitgenössische<br />
Idylle". Der Tibers.
434<br />
DIE NATIONALLIBERALEN<br />
In den letzten Jahren ist im russischen Liberalismus deutlich eine gewisse<br />
Differenzierung zu beobachten. Aus dem gesamtliberalen Lager<br />
beginnt sich die „echte" Bourgeoisie herauszulösen. Das liberale Kapital<br />
bildet seine besondere Partei, in die sich viele früher mit den Oktobristen<br />
liierte Elemente der Bourgeoisie begeben sollen (und begeben) und zu der<br />
anderseits die gemäßigtsten, großbürgerlichen, „soliden" Elemente der<br />
Kadettenpartei kommen.<br />
Die Gruppe der „Progressisten" in der III. und IV. Duma sowie die<br />
„progressive" Gruppe im Reichsrat sind sehr nahe daran, die offizielle<br />
Parteivertretung dieser nationalliberalen Bourgeoisie in der Parlamentsarena<br />
zu werden. Der kürzlich durchgeführte Kongreß der „Progressisten"<br />
umriß im Grunde eben das nationalliberale Programm, das jetzt die „Russkaja<br />
Molwa" vertritt. 109<br />
Was wollen die sogenannten „Progressisten"? Weshalb nennen wir sie<br />
Nationalliberale?<br />
Sie wollen nidbt die völlige und ungeteilte Herrschaft der Gutsbesitzer<br />
und Bürokraten. Sie erstreben - und sagen das offen - eine gemäßigte<br />
enge Zensusverfassung, mit einem Zweikammersystem, mit einem antidemokratischen<br />
Wahlrecht. Sie wollen eine „starke Macht", deren „patriotische"<br />
Politik darauf ausgeht, der „vaterländischen Industrie" mit Feuer<br />
und Schwert neue Märkte zu erobern. Sie wollen, daß die Bürokraten mit<br />
ihnen ebenso rechnen wie mit den Purischkewitsch. Und dann sind sie<br />
bereit, die Begleichung der „alten Rechnungen" mit den Reaktionären zu<br />
vergessen und mit ihnen Hand in Hand an der Errichtung eines kapitalistischen<br />
„Groß"rußlands zu arbeiten.
D
436 W. 1. Centn<br />
mieren, vielleicht wird ihre Zeitung eingehen, wie vor etwa drei Jahren<br />
die Zeitung „Slowo" 110 einging, die sich im großen und ganzen dieselben<br />
Ziele gesteckt hatte. (In der Duma jedoch sind die „Progressisten" gegenüber<br />
den Kadetten relativ stärker geworden.) Das offene Auftreten der<br />
nationalliberalen Bourgeoisie zeigt aber auf jeden Fall, daß die Klassenwidersprüche<br />
in Rußland bedeutend reifer geworden sind.<br />
Der Selbstbestimmung der kapitalistischen Bourgeoisie müssen die Arbeiter<br />
die verzehnfachte Energie bei ihrer Organisierung und ihrer klassenmäßigen<br />
Selbstbestimmung entgegenstellen.<br />
„Vrawda" Nr. 200, TJadi dem 7ext der .Prawda".<br />
22. "Dezember 1912.
ÜBER DIE STELLUNG ZUM LIQUIDATORENTUM<br />
UND ÜBER DIE EINHEIT<br />
Thesen<br />
437<br />
1. Vier Jahre Kampf gegen das Liqnidatorentttm.<br />
Definition des Liquidatorentums durch die Partei im Dezember<br />
1908. Verurteilung des Liquidatorentums, nicht weil es die legale<br />
Arbeit propagiert, sondern weil es die Partei zerstört. Sieg des Antiliquidatorentums<br />
auf legaler Ebene 1912 (die „Prawda" und die<br />
Wahlen).<br />
2. Vollzug der Spaltung durch die Liquidatoren. Die Liquidatoren<br />
haben sich von der Partei abgespalten. Ihre Initiativgruppen sind Produkt<br />
und Erscheinungsform der Spaltung.<br />
3. Die Augustkonferenz 1912 ist ihrer Zusammensetzung nach parteifeindlich,<br />
wie das sogar die Versöhnler zugeben mußten.<br />
Ausländische Grüppchen, die keine direkte Vollmacht von irgendeiner<br />
sozialdemokratischen Organisation in Rußland haben und nicht<br />
im Einverständnis mit einer solchen handeln, dürfen nicht im Namen der<br />
sozialdemokratischen Partei auftreten.<br />
4. Die Resolutionen der Augustkonferenz über die Grundfragen der Bewegung<br />
und vor allem über die grundlegende Frage der Anerkennung,<br />
der völligen und aufrichtigen Anerkennung der illegalen Partei zeichnen<br />
sich, sehr milde ausgedrückt, durch „Diplomatie" aus, d. h. durch<br />
das Ausweichen vor einer direkten Beantwortung der Frage. In Wirklichkeit<br />
sind sie liquidatorische Resolutionen.<br />
5. Das politische Verhalten der Liquidatorengruppe in der „Nascha Sarja"<br />
und im „Lutsch" nach der Konferenz (vom August) hat die unbedingte<br />
Parteifeindlichkeit dieser Gruppe gezeigt, was zum Ausdruck kam<br />
(a) in der Propagierung einer legalen Partei; (b) in der Verhöhnung
438 W. 3. <strong>Lenin</strong><br />
der „Illegalität" in der legalen Presse; (c) im Kampf gegen die revolutionären<br />
Streiks und gegen den revolutionären Massenkampf überhaupt.<br />
Die Notwendigkeit des entschlossenen Kampfes gegen diese Gruppe<br />
als eine parteifeindliche Gruppe.<br />
6. Die Propagierung der Einheit in der legalen Presse, die den Kern der<br />
Sache umgeht und verdunkelt, nämlich die Frage der tatsädbUdien Anerkennung<br />
der illegalen Partei, ist Betrug an den Arbeitern.<br />
7. Absolute Notwendigkeit der Einheit aller Strömungen und Schattierungen<br />
in der illegalen Organisation. Aufruf zu dieser Einheit.<br />
Qesdbrieben im Dezember 1912.<br />
Zuerst veröftentlidht 1939 in der "Naäj dem Manuskript.<br />
Zeitsärijt .Bohüewik" Nr. l.
MITTEILUNG UND RESOLUTIONEN<br />
EINER BERATUNG<br />
DES ZENTRALKOMITEES DER SDAPR<br />
MIT PARTEIFUNKTIONÄREN 111<br />
Veröftentlidbt im 7ebruar 1913 Nadb dem Text der "Brosdbüre,<br />
ah Broschüre im vertjlidoen-. die .Mitteilung"<br />
Verlag des ZK der STfAPR. mit dem Manuskript, die .Resolutionen"<br />
mit einer hektograpbierten<br />
Ausgabe.
MITTEILUNG<br />
441<br />
Im Februar dieses Jahres fand eine Beratung des ZK der SDAPR mit<br />
Parteifunktionären statt. Zur Beratung konnten Mitglieder der illegalen<br />
Parteiorganisationen von Petersburg (fünf), des Moskauer Gebiets (zwei),<br />
des Südens (zwei), des Urals und des Kaukasus hinzugezogen werden.<br />
Da es nicht möglich gewesen war, Wahlen in den Lokalorganisationen<br />
durchzuführen, konstituierte sich die Beratung nicht als Konferenz. Einige<br />
Mitglieder des ZK konnten wegen polizeilicher Verfolgung nicht anwesend<br />
sein.<br />
Fast alle Teilnehmer der Beratung haben führend an legalen Arbeitervereinigungen<br />
verschiedener Art und an sogenannten „legalen Möglichkeiten"<br />
teilgenommen. Dergestalt vermittelte die Zusammensetzung der<br />
Beratung ein zutreffendes Bild der gesamten Parteiarbeit in allen Hauptbezirken<br />
Rußlands.<br />
Die Beratung führte 11 Sitzungen durch und arbeitete Resolutionen zu<br />
folgenden Punkten der Tagesordnung aus: 1. Der revolutionäre Aufschwung,<br />
die Streiks und die Aufgaben der Partei. 2. Der Aufbau der illegalen<br />
Organisation. 3. Die sozialdemokratische Dumafraktion. 4. Die<br />
Parteipresse. 5. Die Versicherungskampagne. 6. Das Verhältais zum Liquidatorentum.<br />
Die Frage der Einheit. 7. über die „nationalen" sozialdemokratischen<br />
Organisationen.<br />
Die Resolutionen wurden einstimmig angenommen; eine Ausnahme bildete<br />
nur die Stimmenthaltung eines Genossen zu zwei Punkten der „Versichenmgs"resolntion<br />
und eines anderen zu Einzelheiten der „nationalen"<br />
Resolution.<br />
Die vom ZK bestätigten Resolutionen der Beratung fassen die Partei-<br />
29 <strong>Lenin</strong>, Werte, Bd. <strong>18</strong>
442 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />
erfahrnngen zusammen und geben die Richtlinie in allen wichtigen Fragen<br />
der sozialdemokratischen Arbeit im heutigen Rußland.<br />
Die systematische Auswertung der Erfahrungen des Jahres 1912 ist<br />
eine überaus wichtige Aufgabe der Sozialdemokratie, weil dieses Jahr das<br />
Jahr eines großen, historischen Umschwungs in der Arbeiterbewegung<br />
Rußlands war. Nicht nur daß der Niedergang und der Zerfall von einer<br />
Belebung abgelöst wurden. Die Arbeiterklasse ging zur Massenoffensive<br />
gegen die Kapitalisten und gegen die Zarenmonarchie über. Die Woge der<br />
wirtschaftlichen und politischen Streiks stieg so hoch, daß Rußland in diesem<br />
Hinsicht wiederum weiter vorn steht als alle, selbst die entwickeltsten<br />
Länder der Welt.<br />
Diese Tatsache wird natürlich keinen einzigen klassenbewußten Arbeiter<br />
vergessen lassen, wie weit uns die Proletarier der freien Länder in der<br />
Organisierung und klassenmäßigen Erziehung der Massen voraus sind.<br />
Aber diese Tatsache hat bewiesen, daß Rußland in die Periode des Heranreifens<br />
einer neuen Revolution eingetreten ist.<br />
Der Arbeiterklasse fällt die große Aufgabe zu, alle demokratischen<br />
Massen zur Revolution aufzurütteln und im Kampf zu erziehen^ sie anzuleiten<br />
für den machtvollen Ansturm, der die Romanowmonarchie stürzen<br />
und Rußland die Freiheit und die Republik bringen muß. Allseitige Unterstützung<br />
des offenen revolutionären Kampfes der Massen, seine Organisierung,<br />
seine Erweiterung, Vertiefung und Verstärkung — so lautet die<br />
grundlegende Aufgabe des gegenwärtigen Augenblicks. Wer diese Aufgabe<br />
nicht erkannt hat, wer nicht in dieser oder jener illegalen Organisation,<br />
Gruppe oder Zelle arbeitet, die der Entfaltung der Revolution dient,<br />
der ist kein Sozialdemokrat.<br />
*<br />
Der revolutionäre Aufschwung des Proletariats im Jahre 1912 war die<br />
Haupttriebkraft für die von allen zugegebene Wandlung in den Stimmungen<br />
der Demokratie. Sowohl bei den Wahlen zur IV. Duma als auch<br />
beim Aufbau einer legalen, wenigstens die elementaren Grundlagen der<br />
Theorie des Marxismus propagierenden Arbeiterpresse errang die Sozialdemokratie<br />
große Siege. Die Zarenregierung konnte diese Erfolge nur<br />
deshalb nicht verhindern, weil der offene revolutionäre Kampf der Massen
Erste Seite von W. I. <strong>Lenin</strong>s Manuskript der „Mitteilung"<br />
über eine Beratung des ZK der SDAPR mit Parteifunktionären<br />
Januar 1913<br />
Verkleinert
Mitteilung und Resolutionen einer Beratung des ZX der SDÄPR 445<br />
die ganze gesellschaftliche und politische Situation verändert hat. Während<br />
die SDAPR ihre unentwegte, beharrliche, systematische Arbeit zur Ausnutzung<br />
absolut aller und jeglicher „legalen Möglichkeiten", von der Tribüne<br />
der Schwarzhunderterduma bis zu jedem beliebigen Abstinenzlerverein,<br />
fortsetzt, vergißt sie keinen Augenblick, daß des Ehrentitels eines<br />
Parteimitglieds nur der würdig ist, der die gesamte Arbeit unter den Massen<br />
wirklich im Geiste der Parteibeschlüsse betreibt, die vom Standpunkt<br />
der heranreifenden Revolution und nicht vom Standpunkt der „Legalität"<br />
des 3. Juni erörtert und angenommen worden sind. Nicht jener Zerfahrenheit<br />
und Auflösung zu erliegen, die aus der Periode von 1908 bis 1911<br />
zurückgeblieben ist, sondern sie zu bekämpfen, ist unsere Aufgabe. Nicht<br />
mit dem Strom des chaotischen und prinzipienlosen Legalismus zu schwimmen,<br />
sondern alles Legale für die allmähliche Gruppierung aller aktiven<br />
Elemente um die illegale Partei auszunutzen, ist unser Ziel. Kein Frieden<br />
mit denen, die den Legalismus dazu mißbrauchen, Skeptizismus und<br />
Gleichgültigkeit gegenüber dem revolutionären Kampf der Massen zu<br />
säen oder ihn gar direkt zu behindern, das ist unsere Losung.<br />
Nicht in der Herabsetzung unserer Forderungen liegt das Unterpfand<br />
ihrer Durchführbarkeit, nicht in der Schmälerung unseres Programms,<br />
nicht in der Taktik der Gewinnung politisch wenig entwickelter Menschen<br />
mit der trügerischen Losung, daß diese oder jene konstitutionelle Reform<br />
unter dem russischen Zarismus leicht zu verwirklichen sei. Nein. Dieses<br />
Unterpfand ist die Erziehung der Massen im Geiste des konsequenten<br />
Demokratismus und der Erkenntnis der Verlogenheit der konstitutionellen<br />
Illusionen. Dieses Unterpfand sind die revolutionäre Organisation der<br />
fortgeschrittensten Klasse, des Proletariats, und der große revolutionäre<br />
Enthusiasmus der Massen.<br />
Die Epoche des Wütens der Konterrevolution hinterließ uns das Erbe<br />
der ideologischen Zerfahrenheit und Auflösung, des organisatorischen Zerfalls<br />
in vielen Zentren der Arbeiterbewegung, der Handwerklerei und der<br />
erzwungenen Isolierung von der Partei bei den einen und der geringschätzigen<br />
oder gar bösartigen Einstellung zu den das Vermächtnis der<br />
Revolution bewahrenden und die revolutionäre Taktik ausarbeitenden<br />
„Illegalen" bei den anderen. Die Abspaltung der Liquidatoren von der<br />
sozialdemokratischen Partei, die faktische Absonderung und mancherorts<br />
das Vergessen der Prinzipien der Sozialdemokratie und der Zerfall der
446 Ti>. J. <strong>Lenin</strong><br />
„nationalen" sozialdemokratischen Organisationen - all das macht die<br />
Forderung nach Einheit bis zum äußersten dringlich.<br />
Die Enheit des sozialdemokratischen Proletariats ist die notwendige<br />
Vorbedingung seiner Siege.<br />
Die Einheit des sozialdemokratischen Proletariats ist unmöglich ohne<br />
die Einheit seiner Partei, der SDAPR.<br />
Und hier sehen wir sofort, daß man die Frage dieser Einheit nicht lösen<br />
kann, ohne nicht nur in Worten, sondern auch in der Tat die Frage der<br />
Notwendigkeit einer illegalen Partei entschieden zu haben. Wer von Einheit<br />
redet und gleichzeitig die „legale Arbeiterpartei" propagiert, der betrügt<br />
sich und die Arbeiter. Wer von Einheit redet und dabei so tut, als<br />
könnte man diese Frage im Rahmen der Legalität lösen, klären, zumindest<br />
stellen, der betrügt sich und die Arbeiter.<br />
Nein. Keine leeren „Einheits"phrasen in der legalen Presse, keine Vereinbarungen<br />
mit den verschiedenen „getrennt marschierenden" Intellektuellengrüppchen,<br />
keine Diplomatie ausländischer Verhandlungen, sondern<br />
einzig und allein die Vereinigung an Ort und Stelle, die tatsächliche Verschmelzung<br />
aller zur SDAPR gehörigen Arbeiter zu einer einheitlichen<br />
illegalen Organisation — nur das allein entscheidet die Frage der Einheit.<br />
Die Arbeiter haben sich schon selbst, von unten her, an diese einzig<br />
ernsthafte, einzig sachliche Lösung der Frage der Einheit gemacht. Die<br />
Beratung ruft alle Sozialdemokraten auf, diesen Weg zu beschreiten.<br />
Die sozialdemokratischen Arbeiter stellen überall einheitliche illegale<br />
Organisationen der SDAPR in Gestalt von Betriebszellen, Betriebskomitees,<br />
Bezirksgruppen, Stadtzentren, von sozialdemokratischen Gruppen in<br />
allen möglichen legalen Institutionen usw. wieder her. Wer sich nicht selbst<br />
dazu verurteilen will, ohnmächtiger Einzelgänger zu sein, der trete diesen<br />
Organisationen bei. Die Anerkennung der illegalen Partei und die Unterstützung<br />
des revolutionären Kampfes der Massen realisieren sich hier<br />
unter der Kontrolle der Arbeiter selbst.<br />
Die Periode des Zerfalls geht zu Ende. Angebrochen ist die Zeit der<br />
Sammlung der Kräfte. Schließen wir uns zu illegalen Organisationen der<br />
SDAPR zusammen. Sie weisen keinen einzigen Sozialdemokraten zurück,<br />
der in ihnen arbeiten will, der helfen will bei der Organisierung des Pro-
Mitteilung und Resolutionen einer Beratung des ZK der SDAPJl 447<br />
letariats, bei seinem Kampf gegen das Kapital, bei seinem begonnenen<br />
revolutionären Ansturm auf die Zarenmonarchie.<br />
Die gesamtnationale politische Krise reift in Rußland langsam, aber unaufhaltsam<br />
heran. Das System des 3. Juni war der letzte Versuch, die<br />
Schwarzhundertermonarchie des Zaren zu retten, der Versuch, sie durch<br />
ein Bündnis mit den Spitzen der Bourgeoisie zu erneuern, und dieser Versuch<br />
ist gescheitert. Neue Kräfte der Demokratie wachsen und erstarken<br />
zusehends unter der Bauernschaft und der städtischen Bourgeoisie in Rußland.<br />
Rascher als früher wächst in Stadt und Land die Zahl der Proletarier,<br />
wächst ihre Organisiertheit, ihre Geschlossenheit, ihre durch die Erfahrungen<br />
der Massenstreiks gefestigte Gewißheit, daß sie unbesiegbar sind.<br />
Die SDAPR, die die fortgeschrittensten Abteilungen dieses Proletariats<br />
zu einem einheitlichen Ganzen organisiert, muß es in die revolutionären<br />
Schlachten für unsere alten revolutionären Forderungen führen.<br />
Februar 1913<br />
Zentralkomitee der SDJPH.
448 IV. 3. <strong>Lenin</strong><br />
RESOLUTIONEN<br />
Der revolutionäre Aufschwung, die Streiks und die Aufgaben<br />
der Partei<br />
1. Das wichtigste Ereignis in der Geschichte der Arbeiterbewegung und<br />
der russischen Revolution des Jahres 1912 ist die enorme Entwicklung sowohl<br />
des wirtschaftlichen als auch des politischen Streikkampfes des Proletariats.<br />
Die Zahl der an politischen Streiks Beteiligten erreichte die Million.<br />
2. Besondere Beachtung verdient dabei der Charakter des Streikkampfes<br />
von 1912. Die Arbeiter erheben in einer Reihe von Fällen gleichzeitig<br />
wirtschaftliche und politische Forderungen, eine Welle wirtschaftlicher<br />
Streiks wird von einer Welle politischer Streiks abgelöst und umgekehrt.<br />
Der Kampf gegen die Kapitalisten um die von der Konterrevolution wieder<br />
rüdegängig gemachten Errungenschaften des Jahres 1905 sowie die immer<br />
mehr steigenden Lebenshaltungskosten rütteln immer wieder neue Arbeiterschichten<br />
auf, stellen sie vor die politischen Fragen in ihrer schärfsten<br />
Form. Diese ganze verschiedenartige Vereinigung und Verflechtung des<br />
wirtschaftlichen und des politischen Kampfes ist Bedingung und Unterpfand<br />
für die Kraft der Bewegung, sie ruft den revolutionären Massenstreik<br />
hervor.<br />
3. Die Ausbrüche von Unzufriedenheit und die Aufstände in Flotte und<br />
Heer, deren Beginn das Jahr 1912 kennzeichnet, stehen zweifellos in<br />
Zusammenhang mit den revolutionären Massenstreiks der Arbeiter, sie<br />
weisen auf die zunehmende Gärung und Empörung in breiten Kreisen der<br />
Demokratie und besonders unter der Bauernschaft hin, die das Hauptkontingent<br />
der Armee stellt.
Mitteilung und Resolutionen einer Beratung des ZK. der SDÄPR 449<br />
4. Alle diese Tatsachen haben zusammen mit der allgemeinen Linksschwenkung<br />
des Landes, die auf die Wahlen zur IV. Duma, trotz der<br />
schamlosen Verfälschung dieser Wahlen durch die zaristische Sdiwarzhunderterregierung,<br />
ihre Auswirkungen zeitigte, endgültig bewiesen, daß<br />
Rußland erneut in eine Periode des offenen revolutionären Massenkampfes<br />
eingetreten ist. Die neue Revolution, deren Beginn wir erleben, ist das unvermeidliche<br />
Ergebnis des Bankrotts der zaristischen Politik des 3. Juni.<br />
Diese Politik konnte nicht einmal die besonders diensteifrige Großbourgeoisie<br />
befriedigen. Die Volksmassen aber sind noch mehr entrechtet worden,<br />
besonders die unterdrückten Nationalitäten; Millionen und aber Millionen<br />
von Bauern sind erneut einer Hungersnot preisgegeben.<br />
5. Unter solchen Bedingungen sind die revolutionären Massenstreiks<br />
auch noch deshalb außerordentlich wichtig, weil sie eines der wirksamsten<br />
Mittel darstellen, um die Apathie, Verzweiflung und Zersplitterung des<br />
Landproletariats und der Bauernschaft zu überwinden, ihre politische<br />
Aktivität zu wecken und sie in möglichst einhellige, gleichzeitige und ausgedehnte<br />
revolutionäre Aktionen einzubeziehen.<br />
6. Die Parteiorganisationen müssen bei Erweiterung und Verstärkung<br />
der Agitation für die unmittelbaren Forderungen der SDAPR - demokratische<br />
Republik, Achtstundentag und Konfiskation aller Gutsbesitzerländereien<br />
zugunsten der Bauernschaft — in ihrer Tätigkeit die allseitige<br />
Unterstützung der revolutionären Massenstreiks sowie die Entwicklung<br />
und Organisierung von revolutionären Massenaktionen aller Art mit an<br />
erste Stelle rücken. Insbesondere ist es notwendig, als nächste Aufgabe die<br />
Organisierung von revolutionären Straßendemonstrationen sowohl im<br />
Zusammenhang mit politischen Streiks als auch als selbständige Aktionen<br />
in den Vordergrund zu stellen.<br />
7. Die Anwendung von Lockouts (Massenentlassungen) seitens einiger<br />
Kapitalisten gegen die streikenden Arbeiter stellt die Arbeiterklasse<br />
vor neue Aufgaben. Die ökonomischen Bedingungen für einen Streik müssen<br />
in jedem Bezirk, in jedem Industriezweig, in jedem einzelnen Fall aufmerksam<br />
berücksichtigt werden, es gilt, neue Kampfformen zur Abwehr<br />
der Aussperrungen zu suchen (z. B. italienischer Streik) und eventuell politische<br />
Streiks durch revolutionäre Kundgebungen und revolutionäre<br />
Straßendemonstrationen zu ersetzen.<br />
8. Einige Organe der legalen Presse betreiben völlig unabhängig davon,
450 TV. J. <strong>Lenin</strong><br />
wie sie diesen oder jenen Sh-eik einschätzen, eine allgemeine Agitation<br />
gegen die revolutionären Massenstreiks. Eine solche Agitation wird außer<br />
von der liberalen Presse beispielsweise von einer Liquidatorengruppe in<br />
der Zeitung „Lutsch" betrieben, und zwar entgegen dem Willen eines bedeutenden<br />
Teils derjenigen Arbeiter, die diese Zeitung auf diese oder jene<br />
Weise unterstützen. Aufgabe aller parteitreuen sozialdemokratischen Arbeiter<br />
ist es angesichts dessen: 1. einen entschiedenen Kampf gegen diese<br />
Gruppe zu führen; 2. allen Arbeitern, ganz gleich welcher Richtung sie<br />
angehören, systematisch und beharrlich die ganze Schädlichkeit dieser<br />
Propaganda zu erklären und 3. alle proletarischen Kräfte für die weitere<br />
Entwicklung der revolutionären Agitation und der revolutionären Massenaktionen<br />
zusammenzuschließen.<br />
Der Aufbau der illegalen Organisation<br />
1. Die Ergebnisse der Arbeiterbewegung und der Arbeit der Partei im<br />
Jahre 1912 zusammenfassend, stellt die Beratung fest:<br />
Die einsetzende neue Welle revolutionärer Massenaktionen hat voll und<br />
ganz die Richtigkeit der früheren Beschlüsse der SDAPR (und insbesondere<br />
der Januarkonferenz 1912) in der Frage des Parteiaufbaus bestätigt.<br />
Der Verlauf des Streikkampfes im Jahre 1912, die sozialdemokratische<br />
Wahlkampagne bei den Wahlen zur IV. Duma, der Verlauf der Versichenmgskampagne<br />
usw. haben unzweifelhaft gezeigt, daß in der gegenwärtigen<br />
Epoche die illegale Partei als Summe von Parteizellen, die von<br />
einem Netz legaler und halblegaler Arbeitervereinigungen umgeben sind,<br />
der einzig richtige Typ des Organisationsaufbaus ist.<br />
2. Unbedingt erforderlich ist die Anpassung der Organisationsformen<br />
des illegalen Aufbaus an die örtlichen Bedingungen. Vielfältige Formen<br />
zur Tarnung der iljegalen Zellen und ein möglichst elastisches Vorgehen<br />
bei der Anpassung der Arbeitsformen an die örtlichen Bedingungen und<br />
Lebensverhältnisse sind das Unterpfand für die Lebensfähigkeit einer<br />
illegalen Organisation.<br />
3. Die wichtigste unmittelbare Aufgabe auf dem Gebiet des Organisationsaufbaus<br />
besteht gegenwärtig darin, in allen Fabriken und <strong>Werke</strong>n<br />
nur auf Parteibasis gebildete illegale Betriebskomitees zu schaffen, die sich
Mitteilung und Resolutionen einer Beratung des ZK der ST>APR 451<br />
aus den aktivsten Arbeitern zusammensetzen. Der gewaltige Aufschwung<br />
der Arbeiterbewegung schafft die Bedingungen, unter denen es an den<br />
weitaus meisten Orten: möglich wird, wieder Betriebsparteikomitees zu<br />
schaffen und die bestehenden Komitees auszubauen.<br />
4. Die Beratung weist darauf hin, daß jetzt durchaus die Notwendigkeit<br />
herangereift ist, aus den verstreuten örtlichen Gruppen in jedem<br />
Zentrum eine leitende Organisation zu schaffen.<br />
Als Typ einer Stadtorganisation hat sich zum Beispiel in Petersburg<br />
das leitende Stadtkomitee herausgebildet, das mittels einer Kombination des<br />
Prinzips der Wählbarkeit durch die Bezirkszellen und des Prinzips der<br />
Kooptation gebildet wurde.<br />
Ein solcher Organisationstyp ermöglicht es, zwischen dem leitenden<br />
Organ und den unteren Zellen die engste und unmittelbarste Verbindung<br />
herzustellen und gestattet es zugleich, ein zahlenmäßig begrenztes, bewegliches<br />
und höchst konspiratives Exekutivorgan zu schaffen, das berechtigt<br />
ist, jederzeit im Namen der ganzen Organisation aufzutreten. Die Beratung<br />
empfiehlt diesen Typ, angepaßt an die örtlichen Bedingungen und<br />
Lebensverhältnisse, auch für die anderen Zentren'der Arbeiterbewegung.<br />
5. Um eine enge Verbindung zwischen den Lokalorganisationen und<br />
dem ZK herzustellen und um die Parteiarbeit anzuleiten und zu vereinigen,<br />
erachtet es die Beratung für dringend erforderlich, in den Hauptbezirken<br />
der Arbeiterbewegung regionale Zentren zu schaffen.<br />
6. Als eine der wichtigsten praktischen Aufgaben zur Herstellung einer<br />
ständigen lebendigen Verbindung zwischen dem ZK und den lokalen<br />
sozialdemokratischen Gruppen sowie zur Schaffung elastischer Formen der<br />
Anleitung der örtlichen Arbeit in den großen Zentren der Arbeiterbewegung<br />
wird empfohlen, das System der Vertrauensleute einzuführen. Die<br />
Vertrauensleute sollen sich aus den örtlichen Arbeiterführern rekrutieren.<br />
Nur die fortgeschrittenen Arbeiter können mit ihren eigenen Kräften den<br />
zentralen Apparat der Partei in den einzelnen Orten wie auch in ganz<br />
Rußland festigen und stärken.<br />
7. Die Beratung spricht den Wunsch aus, daß das ZK möglichst oft<br />
Beratungen mit den örtlichen Parteifunktionären organisiert, die auf den<br />
verschiedenen Gebieten der sozialdemokratischen Arbeit tätig sind.<br />
8. Die Beratung erinnert an die wiederholten Beschlüsse der Partei, die<br />
darauf hinweisen daß eine Arbeiterpartei nur durch regelmäßige Mit-
452 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />
gliedsbeiträge und Sammlungen der Arbeiter existieren kann. Ohne solche<br />
Sammlungen ist besonders unter den gegenwärtigen Bedingungen die Existenz<br />
auch nur der bescheidensten zentralen (örtlichen und gesamtrussischen)<br />
Parteiinstitution absolut unmöglich.<br />
9. (Wird nicht veröffentlicht.)<br />
Die sozialdemokratisdbe Dumafrdktion<br />
1. Die Beratung stellt fest, daß die SDAPR trotz der unerhörten Verfolgungen<br />
und der Verfälschung der Wahlen seitens der Regierung und<br />
trotz des vielerorts ganz klar hervorgetretenen Blocks der Schwarzhunderter<br />
und Liberalen gegen die Sozialdemokraten bei den Wahlen zur<br />
IV. Duma große Siege errungen hat. Fast überall ist in der zweiten städtischen<br />
Kurie, die die Sozialdemokratie immer mehr den Händen der<br />
Liberalen entreißt, die Zahl der für die Sozialdemokraten abgegebenen<br />
Stimmen angestiegen. Und in der Arbeiterkurie, der wichtigsten fürunsere<br />
Partei, hat die SDAPR die ungeteilte Herrschaft behalten, wobei die<br />
Arbeiterklasse durch die Wahl aller bolschewistischen Abgeordneten der<br />
Kurie ihre unerschütterliche Treue zur alten SDAPR und ihrem revolutionären<br />
Vermächtnis besonders einmütig unterstrich.<br />
2. Die Beratung begrüßt die energische Tätigkeit der sozialdemokratischen<br />
Abgeordneten der IV. Duma, die in einer Reihe von <strong>Red</strong>en in der<br />
Duma, in der Einbringung von Anfragen und in der Verlesung einer Deklaration,<br />
die im ganzen die wichtigsten Grundsätze der Sozialdemokratie<br />
richtig wiedergab, zum Ausdruck gekommen ist.<br />
3. Die Beratung erkennt die in unserer Partei entstandene Tradition,<br />
wonach die sozialdemokratische Dumafraktion ein der Partei als Ganzes<br />
in Gestalt ihrer zentralen Körperschaften untergeordnetes Organ ist, als<br />
einzig, richtig an und ist der Ansicht, daß die Partei im Interesse der<br />
politischen Erziehung der Arbeiterklasse und der richtigen Durchführung<br />
der Dumaarbeit jeden Schritt der sozialdemokratischen Fraktion aufmerksam<br />
verfolgen und so die Kontrolle der Partei über die Fraktion ausüben<br />
muß.<br />
4. Die Beratung kann nicht umhin, in der Resolution über Jagiello eine<br />
direkte Verletzung der Parteipflicht seitens der sozialdemokratischen Frak-
Mitteilung und Resolutionen einer Beratung des ZK der SVAPR 453<br />
tion zu sehen. Diese Resolution unterstützt den der Spaltung dienenden<br />
Schritt des „Bund", der mit einer nichtsozialdemokratischen Partei (PPS)<br />
einen Pakt gegen die polnischen Sozialdemokraten einging und den Nichtsozialdemokraten<br />
Jagiello gegen alle sozialdemokratischen Wahlmänner<br />
nominierte, die im Kollegium der Arbeiterwahlmänner die Mehrheit bildeten.<br />
Die Fraktion vertiefte somit die Spaltung zwischen den Arbeitern<br />
in Polen und behinderte die Sache der Einheit in der ganzen Partei.<br />
5. Die Tatsache, daß Genosse Tsdichenkeli im Namen der Fraktion die<br />
national-kulturelle Autonomie unter dem Vorwand verteidigt, daß „die<br />
notwendigen Einrichtungen für die freie Entwicklung jeder Nationalität<br />
geschaffen werden müssen", ist schon an sich eine direkte Verletzung des<br />
Parteiprogramms. 112 Eine in ihrem Wesen völlig gleichartige Formulierung<br />
war durch eine spezielle Abstimmung auf dem II. Parteitag, der das<br />
Parteiprogramm bestätigte, abgelehnt worden." 3 Ein Zugeständnis an<br />
nationalistische Stimmungen ist selbst in dieser getarnten Form für eine<br />
proletarische Partei unzulässig.<br />
6. Daß die sozialdemokratische Fraktion für den progressistischen (in<br />
Wirklichkeit aber oktobristisdien) Antrag zur Regierungserklärung gestimmt<br />
und keinen selbständigen sozialdemokratischen Antrag eingebracht<br />
hat, ist ein Versäumnis, auf das die Partei angesichts der bösartigen Kommentare<br />
der liberalen Presse hinweisen muß. 114<br />
7., 8. und 9. (Werden nicht veröffentlicht) 115<br />
Wer die illegale Literatur<br />
Nachdem die Beratung die Notwendigkeit einer allseitigen Entwicklung<br />
der illegalen Publikationstätigkeit erörtert und zu dieser Frage eine Reihe<br />
konkreter Anweisungen ausgearbeitet hat, ruft sie nachdrücklich alle örtlichen<br />
Parteiorganisationen, alle Arbeiterzellen und die einzelnen Arbeiter<br />
auf, hinsichtlich des Transports und der Verbindungen mit dem Büro des<br />
ZK größere Selbständigkeit und Initiative zur Verbreitung der illegalen<br />
Literatur zu entwickeln.
454 l/V. 3. <strong>Lenin</strong><br />
Tiber die Versicherungskampagne<br />
Die Beratung stellt fest, daß die Arbeiterklasse und ihre Partei, trotz<br />
aller Verfolgungen, bei der Vertretung der proletarischen Interessen im<br />
Zusammenhang mit der Einführung des Versicherungsgesetzes eine große<br />
Energie entwickelt haben und ist der Ansicht:<br />
1. Die Versuche der Regierung und der Kapitalisten, die Arbeiter zu<br />
veranlassen, aufs Geratewohl, ohne Arbeiterversammlungen durchführen<br />
zu dürfen, ihre Bevollmächtigten für die Krankenkassen zu wählen, müssen<br />
aufs entschiedenste und in aller Einmütigkeit bekämpft werden.<br />
2. Die Arbeiter müssen überall anstreben, auf eigene Faust Versammlungen<br />
zu organisieren, um die von ihnen gewünschten Kandidaten vorher<br />
zu bestimmen.<br />
3. Die Arbeiter müssen gegen die Gewaltmaßnahmen und die Schikanen,<br />
von denen die Einführung der Versicherungsgesetze begleitet ist,<br />
revolutionäre Protestkundgebungen organisieren.<br />
4. Auf jeden Fall muß im voraus eine Liste von Arbeiterkandidaten<br />
für die Funktion der Bevollmächtigten aufgestellt werden; in diese Liste<br />
müssen die einflußreichsten sozialdemokratischen Arbeiter aufgenommen<br />
werden, und sie muß auch dort, wc es nicht gelingt, Versammlungen zu<br />
organisieren, einmütig vertreten werden.<br />
5. Einen Boykott der Bevollmächtigtenwahlen hält die Beratung für unzweckmäßig<br />
und schädlich. Die Hauptanstrengungen der Kapitalisten sind<br />
gegenwärtig darauf gerichtet, zu verhindern, daß sich die Arbeiter gewisser<br />
bestimmter proletarischer Betriebszellen bemächtigen, zu denen<br />
die Krankenkassen der Arbeiter werden müssen. Ein Boykott, der im<br />
jetzigen Augenblick die Arbeiter spaltet, würde diesem Bestreben der Kapitalisten<br />
nur entgegenkommen.<br />
6. Der Kampf um die ordnungsgemäße Wahl der Krankenkassendelegierten<br />
darf keinen Augenblick ruhen. Es gilt, den Kampf der Arbeiter mit<br />
allen Mitteln, mit allen Kräften, unter Ausnutzung jeder sich bietenden<br />
Gelegenheit, ohne die Unternehmer auch nur für einen Augenblick in dem<br />
Glauben zu lassen, daß der normale Ablauf der Produktion gesichert sei,<br />
auszuweiten und zu entwickeln; zugleich aber darf man trotz aller Hindernisse<br />
nicht auf die Durchsetzung der sozialdemokratischen Liste verzichten.<br />
Die Wahlen schließen nicht die weitere Entwicklung des Kampfes
Mitteilung und Resolutionen einer Beratung des ZK der SDÄPR 455<br />
aus. Im Gegenteil - durch die Wahl prinzipienfester sozialdemokratischer<br />
Arbeiter zu Delegierten erleichtem wir den weiteren Kampf um ordnungsgemäße<br />
Wahlen, in dem die Delegierten den Arbeitern in jeder Weise<br />
helfen werden.<br />
7. überall, wo die Wahlen ohne Versammlungen durchgeführt werden,<br />
muß mit allen den Arbeitern zur Verfügung stehenden Mitteln für die Neuwahl<br />
der Bevollmächtigten auf der Grundlage wirklich freier Wahlen bei<br />
Abhaltung von Versammlungen agitiert werden.<br />
8. Die sozialdemokratische Dumafraktion muß sofort eine neue Anfrage<br />
einbringen, warum den Arbeitern die Abhaltung von Wahlversammlungen<br />
verweigert wird.<br />
9. Die gesamte Agitation anläßlich der Einführung der Versicherung<br />
muß in engem Zusammenhang mit der Beleuchtung der ganzen Lage der<br />
Dinge im zaristischen Rußland, bei gleichzeitiger Erläuterung unserer<br />
sozialistischen Prinzipien und revolutionären Forderungen betrieben werden.<br />
"über das Verhältnis zum Btfuidatorentutn<br />
und über die Einheit<br />
1. Der vier Jahre währende Kampf der Partei gegen das Liquidatorentum<br />
hat gezeigt, wie unbedingt richtig die Definition war, die die Parteikonferenz<br />
der SDAPR im Dezember 1908 mit den Worten gegeben hat:<br />
„ ... der Versuch eines gewissen Teils der Parteiintellektuellen, die bestehende<br />
Organisation der SDAPR zu liquidieren und sie durch eine<br />
formlose Vereinigung im Rahmen einer Legalität um jeden Preis zu ersetzen,<br />
selbst um den Preis einer offenkundigen Absage an das Programm,<br />
die Taktik und die Traditionen der Partei."<br />
Die Liquidatoren werden also durchaus nicht verurteilt, weil sie sich für<br />
die Notwendigkeit der legalen Arbeit einsetzen, sondern wefl sie sich von<br />
der illegalen Partei lossagen und sie zerstören.<br />
Die Herausgabe der ersten marxistischen Arbeitertageszeitung in Rußland<br />
und die Wahl aller bolschewistischen Abgeordneten in der Arbeiterkurie<br />
haben endgültig bewiesen, daß die Partei es verstanden hat, die<br />
Liquidatoren zurückzudrängen und zugleich die legale Tätigkeit zu meistern.
456 W. 1 Lettin<br />
1. Durch ihr Ausscheiden aus der illegalen Partei und ihre Gruppierung<br />
außerhalb der örtlichen Organisationen fährten die Liquidatoren eine<br />
Spaltung herbei, die sie organisatorisch untermauerten, indem sie an verschiedenen<br />
Orten, insbesondere in Petersburg, sogenannte Initiativgruppen<br />
bildeten. Die Januarkonferenz der SDAPR von 1912, die feststellte,<br />
daß die Liquidatorengruppe der Publizisten von der „Nascha Sarja" und<br />
vom „Delo Shisni" als Kern der Initiativgruppen „sich endgültig außerhalb<br />
der Partei gestellt hat"*, bestätigte damit nur die von den Liquidatoren<br />
vollzogene Spaltung.<br />
3. Die Augustkonferenz von 1912, die sich „Konferenz der Organisationen<br />
der SDAPR" nannte, erwies sich in Wirklichkeit als Liquidatorenkonferenz,<br />
da ihren größten und führenden Teil die von der Partei abgespaltene<br />
und von den russischen Arbeitermassen losgelöste Publizistengruppe<br />
der Liquidatoren bildete.<br />
4. Die Treue der überwiegenden Mehrheit der fortgeschrittensten<br />
Arbeiter zur illegalen Partei zwang die Augustkonferenz, scheinbare Zugeständnisse<br />
an das Parteiprinzip zu machen und die illegale Partei angeblich<br />
anzuerkennen. In Wirklichkeit sind alle Resolutionen dieser Konferenz<br />
durch und durch vom Liquidatorentum geprägt, und die „Nascha<br />
Sarja" und der „Lutsch", der erklärte, daß er sich den Augustbeschlüssen<br />
anschließe, führten sofort nach der Konferenz die liquidatorische Propaganda<br />
noch stärker fort<br />
a) für eine legale Partei;<br />
b) gegen die Illegalität;<br />
c) gegen das Parteiprogramm (Verteidigung der national-kulturellen<br />
Autonomie, Revision der Agrargesetze der III. Duma, Zurückstellung<br />
der Losung „Republik" usw.);<br />
d) gegen die revolutionären Massenstreiks;<br />
e) für eine reformistische, ausschließlich legalistische Taktik.<br />
Daher sind der entschiedene Kampf gegen die Gruppe der Liquidatoren<br />
von der „Nascha Sarja" und vom „Lutsch" und die Aufklärung der<br />
Arbeitermassen über die große Schädlichkeit der Propaganda dieser<br />
Gruppe nach wie vor eine der Aufgaben der Partei.<br />
5. Die von den Liquidatoren in der legalen Presse entfaltete Kampagne<br />
für die „Einheit" umgeht und verschleiert die Hauptfrage, die Frage<br />
* Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 17, S. 473. Die JLeä. .
Mitteilung und Resolutionen einer Beratung des ZK der SBJPR 457<br />
der Zugehörigkeit zur illegalen Partei und der Arbeit in ihr, und verwirrt<br />
somit die Arbeiter, denn in der legalen Presse kann man diese Frage nicht<br />
einmal stellen. In Wirklichkeit führen sich die Liquidatoren weiterhin wie<br />
Spalter auf, was besonders anschaulich die Wahlen in Petersburg gezeigt<br />
haben: als die Wahlmänner in zwei gleiche Gruppen zerfielen, lehnten<br />
eben die Liquidatoren den Vorschlag ab, durch Auslosung zu entscheiden,<br />
obwohl nur so die Spaltung der Arbeiter angesichts der bürgerlichen Parteien<br />
überwunden werden konnte.<br />
6. Unter Voraussetzung der Anerkennung der illegalen Organisation<br />
der SDAPR und der Zugehörigkeit zu dieser Organisation ist die Einheit<br />
der sozialdemokratischen Arbeiter aller Strömungen und Schattierungen<br />
eine unbedingte Notwendigkeit und wird gebieterisch von allen Interessen<br />
der Arbeiterbewegung diktiert.<br />
Eine Vereinigung eben auf dieser Grundlage ist bereits in der Narwaer<br />
Stadtbezirksorganisation in Petersburg und in einer Reihe von Provinzorganisationen<br />
vollzogen worden.<br />
7. Die Beratung unterstützt eine solche Vereinigung aufs energischste<br />
und empfiehlt, überall unverzüglich, mit eben dieser Vereinigung von unten,<br />
von den Betriebskomitees, den Bezirksgruppen usw. her zu beginnen,<br />
wobei die Genossen in der Praxis überprüfen müssen, ob die Bedingung<br />
der Anerkennung der illegalen Organisation eingehalten wird und die<br />
Bereitschaft vorhanden ist, den revolutionären Massenkampf und die revolutionäre<br />
Taktik zu unterstützen. Nur in dem Maße, wie diese Einheit<br />
von unten her tatsächlich geschaffen wird, wird sich der endgültige Zusammenschluß<br />
der Partei und die völlige Stabilisierung der Einheit im gesamtrussischen<br />
Maßstab vollziehen.<br />
Tiber die „nationalen" Sozialdemokratien Organisationen<br />
1. Die Erfahrungen des Jahres 1912 haben vollauf die Richtigkeit des<br />
Beschlusses der Januarkonferenz der SDAPR (1912) zu dieser Frage bestätigt.*<br />
Die Unterstützung der Kandidatur des NichtSozialdemokraten<br />
Jagiello gegen die pohlischen Sozialdemokraten durch den „Bund" und<br />
die Verletzung des Parteiprogramms im nationalistischen Sinne durch die<br />
* Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 17, S. 455/456. Die <strong>Red</strong>.<br />
30 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>
458 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />
Augustkonferenz (1912) der Liquidatoren, des „Bund" und der lettischen<br />
Sozialdemokraten zeigten besonders augenfällig den völligen Bankrott der<br />
föderalistischen Prinzipien im Aufbau der sozialdemokratischen Partei<br />
und den schweren Schaden, den die Isoliertheit der „nationalen" sozialdemokratischen<br />
Organisationen der Sache des Proletariats zufügt.<br />
2. Die Beratung richtet daher an die Arbeiter aller Nationalitäten Rußlands<br />
den nachdrücklichen Appell, dem aggressiven Nationalismus der<br />
Reaktion entschiedensten Widerstand zu leisten, alle und jegliche Erscheinungen<br />
des Nationalismus unter den werktätigen Massen zu bekämpfen,<br />
und fordert die sozialdemokratischen Arbeiter in den einzelnen Orten<br />
auf, sich aufs engste zu einheitlichen Organisationen der SDAPR zusammenzuschließen<br />
und zu vereinen, die sich in ihrer Arbeit jeder der Sprachen<br />
des örtlichen Proletariats bedienen und in der Praxis, wie das im Kaukasus<br />
seit langem der Fall ist, die Einheit von unten her verwirklichen.<br />
3. Die Beratung gibt ihrem tiefen Bedauern über die Spaltung in den<br />
Reihen der Polnischen Sozialdemokratie Ausdruck, die den Kampf der<br />
sozialdemokratischen Arbeiter Polens außerordentlich schwächt. Die Beratung<br />
sieht sich zu der Feststellung gezwungen, daß der Hauptvorstand<br />
der Polnischen Sozialdemokratie, der gegenwärtig nicht die Mehrheit der<br />
polnischen sozialdemokratischen Organisationen des polnischen Proletariats<br />
vertritt, sich im Kampf gegen diese Mehrheit unzulässiger M ttel<br />
bedient (z. B. die unmotivierte Verdächtigung der gesamten Warschauer<br />
Organisation, sie hätte eine Provokation beabsichtigt). Die Beratung<br />
appelliert an alle Parteiorganisationen, die mit den polnischen sozialdemokratischen<br />
Arbeitern in Berührung kommen, zur Herstellung einer wirklichen<br />
Einheit der Polnischen Sozialdemokratie beizutragen.<br />
4. Die Beratung verweist insbesondere auf den extremen Opportunismus<br />
und das Liquidatorentum in den Beschlüssen der letzten (der IX.)<br />
Konferenz des „Bund", die die Losung der Republik gestrichen, die illegale<br />
Arbeit in den Hintergrund gedrängt und gezeigt hat, daß sie die revolutionären<br />
Aufgaben des Proletariats vergessen hat. Ebenso muß der Widerstand<br />
des „Bund" gegen eine Vereinigung aller sozialdemokratischen<br />
Arbeiter in den einzelnen Orten (in Warschau, Lodz, Wilna usw.)<br />
verurteilt werden - eine Vereinigung, für die sich seit 1906 die SDAPR<br />
in Gestalt ihrer Parteitage und Konferenzen immer wieder eingesetzt<br />
hat.
Mitteilung und Resolutionen einer Beratung des ZK der SDAPR 459<br />
5. Die Beratung grüßt die revolutionären sozialdemokratischen Arbeiter<br />
der lettischen Organisation, die eine energische Propaganda in antiliquidatorischem<br />
Geiste betreiben, und drückt ihr Bedauern darüber aus,<br />
daß das ZK der lettischen Sozialdemokratie dazu neigt, die parteifeindlichen<br />
Schritte der Liquidatoren zu unterstützen. .<br />
6. Die Beratung gibt der festen Überzeugung Ausdrude, daß der begonnene<br />
revolutionäre Aufschwung, die wirtschaftlichen und politischen<br />
Massenstreiks, die Straßendemonstrationen und die anderen Formen des<br />
offenen revolutionären Kampfes der Massen zur völligen Vereinigung und<br />
Verschmelzung der sozialdemokratischen Arbeiter in den einzelnen Orten,<br />
ohne Unterschied der Nationalität, beitragen und damit den Druck gegen<br />
den alle Völker Rußlands knechtenden Zarismus und gegen die sich vereinigende<br />
Bourgeoisie aller Nationen Rußlands verstärken werden.
460<br />
DIE ENGLISCHE ARBEITERBEWEGUNG<br />
IM JAHRE 1912<br />
Das hervorstechendste Ereignis des vergangenen Jahres war der Streik<br />
der Bergarbeiter. Zeigte schon der Streik der Eisenbahnarbeiter im Jahre<br />
1911 den „neuen Geist" der britischen Arbeiter, so stellte der Streik der<br />
Bergarbeiter wirklich den Beginn einer neuen Etappe dar.<br />
Wie sehr auch die herrschenden Klassen zum „Krieg" gerüstet hatten,<br />
wie eifrig die Bourgeoisie auch bemüht war, den Widerstand der aufsässigen<br />
Sklaven des Kapitals zu brechen, der Streik gelang dennoch. Die Bergarbeiter<br />
waren mustergültig organisiert. Von Streikbrechern gab es keine<br />
Spur. Von einer Kohlefördenmg mit Hilfe von Soldaten oder unerfahrenen<br />
Hilfsarbeitern konnte keine <strong>Red</strong>e sein. Und nach sechswöchigem<br />
Kampf sah Englands bürgerliche Regierung, daß das ganze industrielle<br />
Leben des Landes zum Stillstand kommt, daß wahr werden die Worte des<br />
Arbeiterliedes: „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es<br />
will.. ." 116<br />
Die Regierung ließ sich zu Zugeständnissen herbei.<br />
„Der Premierminister des mächtigsten Weltreichs, das jemals existiert<br />
hat, erschien in einer Delegiertenversammlung der streikenden Sklaven<br />
der Kohlenbarone und beschwor sie, einen Kompromiß zu schließen." So<br />
stellt ein informierter Marxist das Ergebnis des Kampfes dar.<br />
Die englische, Regierung, die die Arbeiter gewöhnlich jahrelang mit<br />
ihren Reformversprechungen „abspeist", hatte es jetzt wirklich eilig. In<br />
fünf Jagen wurde im Parlament ein neues Gesetz durchgebracht! Dieses<br />
Gesetz führt den iWmimalarbeitslohn ein, d. h., es setzt Richtlinien fest<br />
für die Bestimmung der Höhe, unter die der Lohn nicht sinken darf.<br />
Wie alle bürgerlichen Reformen ist zwar auch dieses Gesetz eine er-
"Die englisdhe Arbeiterbewegung im Jahre 1912 461<br />
bärmlidhe halbe Maßnahme und zum Teil einfach ein Betrug an den<br />
Arbeitern, denn bei der Festsetzung des Mindestlohnes setzen die Unternehmer<br />
nichtsdestoweniger ihre Lohnsklaven unter Druck. Aber trotzdem<br />
bestätigen alle, die die englische Arbeiterbewegung kennen, daß das englische<br />
Proletariat nach dem Streik der Bergarbeiter nicht mehr das alte ist.<br />
Die Arbeiter haben gelernt zu kämpfen. Sie haben den Weg erkannt, der<br />
sie zum Siege führt. Sie haben die eigene Kraft verspürt. Sie sind nicht<br />
mehr jene folgsamen Schafe, die sie so lange zum Wohlgefallen all derer<br />
zu sein schienen, die die Lohnsklaverei verteidigen und loben.<br />
Im Verhältnis der gesellschaftlichen Kräfte in England hat es eine Verschiebung<br />
gegeben, die nicht in Ziffern auszudrücken ist, die aber alle<br />
empfinden.<br />
Leider ist in Parteiangelegenheiten der Fortschritt in England nicht groß.<br />
Die Spaltung zwischen der „Britischen Sozialistischen Partei" (vormals<br />
Sozialdemokratische Föderation) und der „Unabhängigen" (vom Sozialismus)<br />
„Arbeiterpartei" besteht weiter. Die opportunistische Haltung der<br />
Parlamentsmitglieder dieser zweiten Partei löst bei den Arbeitern, wie<br />
immer, syndikalistische Tendenzen aus. Zum Glück sind sie nicht stark.<br />
Die Gewerkschaften Englands schwenken langsam, aber anaufhaltsam<br />
zum Sozialismus ein - entgegen vielen proletarischen Parlamentsmitgliedern,<br />
die hartnäckig die alte liberale Arbeiterpolitik vertreten. Aber diese<br />
letzten Mohikaner werden das Alte nicht am Leben erhalten können!<br />
„Vrawda" Wr. i, Nadi dem Text der „Vrawda".<br />
i. Januar 1913.<br />
Unterschrift: W.
462<br />
BESSER SPÄT ALS NIE<br />
Das zu widerlegen, was L. Martow im „Lutsch" (Nr. 37 vom 28. Oktober<br />
1912) geschrieben hat, finde ich erst sehr spät Gelegenheit. Was<br />
aber tun? Die Unwahrheit zu sagen ist leicht. Aber um die Wahrheit<br />
herauszufinden, braucht man manchmal viel Zeit.<br />
L. Martow ließ über mich in Nr. 37 des „Lutsch" die kräftigsten<br />
Schimpfwörter mit den bei diesem Autor gewöhnlichen „dunklen" Anspielungen<br />
vom Stapel. In zehn Jahren an diese Kampfmethoden L. Martows<br />
gewöhnt, las ich seinen Artikel nicht einmal zu Ende. Aber Kollegen<br />
wiesen mich darauf hin, daß L. Martow dem Genossen Haase, einem<br />
Mitglied des deutschen sozialdemokratischen Parteivorstands, die Worte<br />
zuschreibt, <strong>Lenin</strong> würde die Internationale „irreführen".<br />
Um die Wahrheit herauszufinden, mußte die Quelle der Worte Martows<br />
gesucht werden. Er berief sich auf irgendeine „Bergarbeiterzeitung"<br />
Nr. 225. Diese fand ich nicht. Im „Vorwärts" (dem Zentralorgan der<br />
Sozialdemokratischen Partei Deutschlands) stehen solche Worte nicht.<br />
Ich fand sie lediglich in der „Bremer Bürger-Zeitung" (dem sozialdemokratischen<br />
Organ von Bremen).<br />
Man mußte Haase selbst fragen, wollte man nicht den Leichtsinn<br />
L. Martows nachahmen.<br />
Es wurde eine schriftliche Anfrage an den Parteivorstand der deutschen<br />
Sozialdemokraten gerichtet.<br />
Hier die Antwort Haases*-.<br />
Vorstand<br />
der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands<br />
Berlin, den 31. Dezember 1912<br />
Werte Genossen! In Beantwortung Ihres Schreibens teile ich Ihnen mit, daß<br />
die Darstellung, die, nach Ihren Worten, der „Lutsch" über mein Auftreten im<br />
* Rückübersetzung aus dem Russischen. Der Tibers.
Besser spät als nie 463<br />
Internationalen Sozialistischen Büro gegeben hat, nicht der Wahrheit entspricht.<br />
In der Sitzung wurde die Frage erörtert, ob das Organisationskomitee auf Vertretung<br />
im Internationalen Sozialistischen Büro Anspruch erheben könne. Ich<br />
erklärte, das sei unzulässig, denn das Organisationskomitee ist, sogar nach<br />
seiner eigenen Erklärung, nicht eine Organisation, sondern will nur ein Verband<br />
von Gruppen zwecks Wiederherstellung der Einheit der Organisation<br />
sein. In diesem Zusammenhang warf ich die Frage auf, wer denn eigentlich das<br />
Recht habe, die russische Partei bei ihrem jetzigen Zustand zu vertreten, und<br />
bemerkte, wenn die Behauptung richtig sei, daß das Zentralkomitee in seinem<br />
Verkehr mit dem Internationalen Büro als „SDAPR" auftritt, könne diese Bezeichnung<br />
Mißverständnisse hervorrufen.<br />
Hier war also keine <strong>Red</strong>e von einem Angriff auf <strong>Lenin</strong>, und überhaupt trug<br />
die Bemerkung keineswegs herabsetzenden Charakter. Ich wollte lediglich die<br />
Sachlage in Verbindung mit der obenerwähnten Behauptung klären und vor<br />
allem die Frage aufwerfen, ob nicht die Zeit gekommen sei, Schritte zur Vereinigung<br />
aller russisch-polnischen Gruppen zu unternehmen. Ich bedauerte<br />
sehr, daß <strong>Lenin</strong> nicht anwesend war.<br />
Nur der Vollständigkeit halber erwähne ich, daß das Wort „Irreführung"<br />
nicht aus meinem Munde kam.<br />
Mit Parteigruß "Haase<br />
Um also zum tausendsten Male Schimpfwörter über mich vom Stapel<br />
zu lassen, wiederholte L. Martow (irgend jemandem folgend) eine Unwahrheit<br />
über Haase.<br />
Haase war gegen das Vertretungsrecht für das OK, er bestritt nidbt das<br />
Vertretungsrecht des ZK.<br />
Haase hält das ZK nicht für den Vertreter der gesamten SDAPR, einschließlich<br />
der „Nationalen" und der Liquidatoren, aber auch das ZK<br />
selbst hat, soweit mir bekannt, niemals Anspruch darauf erhoben, die<br />
einen oder die anderen zu vertreten.<br />
Die „Nationalen" (die Polen, der „Bund", die Letten) haben ihre besonderen<br />
Vertreter.<br />
Ich beschränke mich auf diese Widerlegung an Hand der Tatsachen ...<br />
19. Januar (n. St.) 1913 "N.Cenin<br />
„Vravoda" 'Nr. 8, Nadh dem 7ext der ,T>rawda\<br />
H. Januar i9i3.
464<br />
DIE ENTWICKLUNG<br />
DES REVOLUTIONÄREN STREIKS<br />
UND DER STRASSENDEMONSTRATIONEN<br />
Es wurde schon seit langem darauf hingewiesen und ist allgemein anerkannt,<br />
daß das Jahr 1912 in der Entwicklung des Streikkampfes eine<br />
hervorragende Stellung einnimmt. Aber nicht alle haben diese Erscheinung<br />
verstanden und richtig bewertet.<br />
Nehmen wir die Angaben über die politischen Streiks in den ersten<br />
11 Monaten des Jahres. Es ergibt sich folgendes:<br />
im Jahre 1905 1 052 000<br />
„ „ 1906 642 000<br />
„ „ 1907 540 000<br />
im Jahre 1912 etwa 900 000<br />
Die Zahl der an den politischen Streiks Beteiligten wurde für die ersten<br />
9 Monate nach vorsichtigsten Berechnungen auf 700 000 geschätzt. Die<br />
Streiks anläßlich der Bevolhnächtigtenbestimmungen in Petersburg erfaßten<br />
etwa 50 000 Arbeiter, der Proteststreik gegen die Sewastopoler<br />
Hinrichtungen und der Streik vom 15. November, dem Eröffnungstag der<br />
Duma, erfaßten nach Angaben des Moskauer TAntei'nehmerverbandes<br />
<strong>18</strong>8 000 Arbeiter. Das sind die Daten bis zum 20. November. Es ist klar,<br />
daß 900 000 eine Mindestzahl ist. Selbst unter Abrechnung von 100 000<br />
Streikenden, bei denen ein Vergleich mit der Zeit von 1905-1907 kaum<br />
möglich ist (Betriebe außerhalb der Kompetenz der Fabrikinspektion),<br />
kommen 800 000 heraus.<br />
Auf jeden Fall ist die Bewegung unbedingt stärker als 1906 und 1907<br />
und bleibt nur wenig hinter 1905 zurüdkl<br />
Was bedeutet das?<br />
Natürlich ist im gegenwärtigen Zeitpunkt die Beteiligung der Gesamt-
Die Entwicklung des rev. Streiks und der Straßendemonstrationen 465<br />
bevölkerung an der Bewegung weit schwächer als 1905. Folglich liegt der<br />
Ausgangspunkt des revolutionären Aufschwungs jetzt unvergleichlich höher,<br />
als es vor der ersten Revolution der Fall war. Folglich offenbart die<br />
kommende zweite Revolution schon jetzt einen viel größeren Vorrat an<br />
revolutionärer Energie im Proletariat. Das Proletariat ist zahlenmäßig gewachsen,<br />
um mindestens 20 Prozent. Die Konzentration des Proletariats<br />
ist gestiegen. Die rein proletarische Hauptstütze der Bewegung ist durch<br />
die beschleunigte Befreiung von der Bindung an den Boden stärker geworden.<br />
Die Masse der proletarischen und halbproletarischen Bevölkerung in<br />
der „Kustar"industrie, im Handwerk und in der Landwirtschaft ist in gewaltigem,<br />
nicht zu kontrollierendem Maße gewachsen.<br />
Schließlich sind das Bewußtsein, die Erfahrung und die Entschlossenheit<br />
der führenden demokratischen Klasse größer geworden. Darin stimmen<br />
alle überein, aber nicht alle bringen es fertig, zu Ende zu denken, was sich<br />
hieraus ergibt. Nicht alle bringen es fertig, der Wahrheit ins Gesicht zu<br />
sehen und zuzugeben, daß wir es mit revolutionären Massenstreiks, mit<br />
dem Beginn des revolutionären Aufschwungs zu tun haben.<br />
Darauf weist vor allem die wichtigste und objektivste Tatsache hin, eine<br />
Tatsache, die am wenigsten subjektive Auslegungen zuläßt: das Ausmaß<br />
der Bewegung. In keinem Land der Welt könnte man — außer beim Vorhandensein<br />
einer revolutionären gesellschaftlichen Situation - Hunderttausende<br />
von Arbeitern mehrmals im Jahr aus den verschiedensten Anlässen<br />
zu politischen Aktionen mobilisieren. Bei uns aber vollzieht sich eine<br />
solche Erhebung spontan, und zwar deshalb, weil die Millionen und aber<br />
Millionen der halbproletarischen und bauerlichen Bevölkerung auf ihren<br />
Vortrupp eine Stimmung konzentrierter Empörung, wenn man sich so ausdrücken<br />
darf, übertragen, die machtvoll anschwillt und über die Ufer tritt.<br />
Der revolutionäre Streik der russischen Arbeiter im Jahre 1912 ist im<br />
vollen Sinne des Wortes eine Volksbewegung. Denn unter einer Volksbewegung<br />
ist keineswegs eine Bewegung zu verstehen, mit der - unter den<br />
Bedingungen der bürgerlich-demokratischen Revolution - die gesamte<br />
Bourgeoisie oder wenigstens die liberale Bourgeoisie solidarisch ist. So<br />
sehen es nur die Opportunisten an. Nein. Eine Volksbewegung ist eine<br />
Bewegung, die die objektiven Nöte des ganzen Landes zum Ausdruck<br />
bringt und ihre schweren Schläge gegen die zentralen Kräfte des Feindes<br />
richtet, der die Entwicklung des Landes behindert. Eine Volksbewegung
466 W. J. <strong>Lenin</strong><br />
ist eine Bewegung, die von der Sympathie der großen Mehrheit der Bevölkerung<br />
getragen ist.<br />
Eben solch eine Bewegung ist die politische Bewegung der Arbeiterschaft<br />
in diesem Jahr, die von der Sympathie aller Werktätigen und<br />
Ausgebeuteten, der ganzen Demokratie, so schwach und unterdrückt, zersplittert<br />
und hilflos sie auch immer sein mag, unterstützt wird. Die präzisere<br />
Abgrenzung zwischen Liberalismus und Demokratie (die nicht ohne<br />
Kampf gegen diejenigen erreicht wurde, die davon träumten, „die Duma<br />
den Händen der Reaktion zu entreißen") ist ein gewaltiges Plus der neuen<br />
Bewegung. Um Erfolg zu haben, muß eine Revolution möglichst genau<br />
wissen, mit wem man in den Kampf ziehen kann, wer ein unzuverlässiger<br />
Bundesgenosse ist und wo der wirkliche Feind steht.<br />
Daher haben die direkten Aktionen der Liberalen (der Kadetten) gegen<br />
die neue Revolution so große Bedeutung. Daher ist gerade jetzt die Losung<br />
der Republik in Rußland (im Vergleich zu Europa) so außerordentlich<br />
wichtig; sie läutert das Bewußtsein der kampfbereiten Demokratie<br />
von den monarchistischen (und „konstitutionellen") Illusionen, die den<br />
Anstunn von 1905 so sehr beeinträchtigt haben. Im Wachstumsprozeß der<br />
neuen Revolution in Rußland sind zwei Momente von historischer Bedeutung:<br />
erstens die Streiks im April und Mai, bei denen die Petersburger<br />
Arbeiter - sogar trotz der Verhaftung ihres leitenden Organs, des Petersburger<br />
Komitees - die Losung der Republik, des Achtstundentags und<br />
der Konfiskation des Grund und Bodens aufstellten. Zweitens die Streiks<br />
und Demonstrationen im November (siehe die Briefe aus Riga und<br />
Moskau 117 ; in Petersburg war es dasselbe, aber die Verhaftungen haben<br />
uns unsere Korrespondenten genommen). Die Losung dieser Demonstrationen<br />
war nicht nur „Fort mit der Todesstrafe! Nieder mit dem Krieg!",<br />
sonddm auch „Es lebe die revolutionäre Arbeiterklasse und die revolutionäre<br />
Armee!".<br />
Auf den Straßen von Petersburg, Riga und Moskau hat das Proletariat<br />
den Besten des Bauernheeres, die sich heldenhaft gegen die Monarchie erhoben,<br />
die Hand entgegengestreckt.<br />
Die liberale Bourgeoisie ist gegen eine neue Revolution, gegen den<br />
revolutionären Massenstreik. Aber die Liberalen sind keinesfalls über-
Die Entwiddung des rev. Streiks und der Straßendemonstrationen 467<br />
haupt gegen politische Streiks, wenn sie lediglich von einer „Belebung"<br />
zeugen und allein die liberale Losung konstitutioneller Reformen unterstützen.<br />
Und objektiv, unabhängig von ihren „frommen" Wünschen, sind<br />
unsere Liquidatoren, die die beiden historischen Momente des Aufschwungs<br />
als „Manifestationen" - gegen die revolutionären Streiks bezeichneten<br />
(!!), einfache Lakaien der konterrevolutionären Bourgeoisie.<br />
In Nr. 1 des „Newsld Golos" vom 20. Mai 1912 wandte sich der unvergeßliche<br />
und unvergleichliche W. Jeshow gegen die „Komplizierung" der<br />
wirtsdiaftlidien Streiks durch politische und umgekehrt, gegen ihre<br />
„schädliche Vermischung" (vgl. „Sozial-Demokrat" Nr. 27, S. 4*).<br />
Im November 1912 zog der liquidatorische „Lutsch" ebenfalls gegen die<br />
Streiks zu Felde. Unachtsame Leser versuchte er dann „auf die falsche<br />
Fährte" zu bringen, indem er sich darauf berief, daß die sozialdemokratische<br />
Fraktion ebenfalls gegen den Streik vom 15. November war. Wer<br />
aber ein wenig in den Sinn der Ereignisse eindringt, wird leicht die Fälschung<br />
des „Lutsch" erkennen.<br />
Jawohl, die sozialdemokratische Fraktion wie auch das Petersburger<br />
Komitee hielten den Streik am 15. November für unzeitgemäß. Vor besagtem<br />
Streik am besagten Tage hatten sie gewarnt. Pflicht der Arbeiterpresse<br />
war es, dies bekanntzugeben. Sowohl der „Lutsch" als auch die<br />
„Prawda" haben das getan.<br />
Aber der „Lutsch" hat nicht nur das getan.<br />
Nach den Ereignissen vom 15. November (als derselbe Wiborger Stadtbezirk,<br />
der bisher am stärksten mit den Menschewiki verbunden war, beherzter<br />
als die anderen streikte), nachdem sich die Bewegung zu einer<br />
Demonstration ausgewachsen hatte, erhob der überschlaue „Lutsch" in<br />
seinen Artikeln (einem Leitartikel und nach dem Leitartikel vom 17. November<br />
in einem Feuilleton vom 21. November) ein Geschrei gegen die<br />
„gefährliche Kraftvergeudung", er versicherte, daß man „wegen der häufigen<br />
Anwendung der Streiks aufhören werde, mit ihnen zu sympathisieren",<br />
er gab die Losung aus „Suchen wir nach einem anderen Weg", „Mit<br />
Feuerwerksgeprassel (!?!) läßt sich nichts erreichen" und wetterte gegen<br />
die „Streikspielerei".<br />
Diese eure „Philosophie", ihr Herren Liquidatoren, die den Petersburger<br />
Arbeitern schon längst aus dem „Newski Golos" und aus den Re-<br />
• Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 106/107. Die Rei. .
468 W. 3. <strong>Lenin</strong><br />
den der Mitglieder eurer „Initiativgruppe" bekannt ist, hat bewirkt, daß<br />
die Petersburger Arbeiter euch mit berechtigtem Haß und Verachtung<br />
begegnen. Ein einzelner Streik kann unpassend sein oder zu einem unpassenden<br />
Augenblick ausgelöst werden. Aber angesichts einer der größten<br />
Bewegungen der Welt, die fast eine Million Proletarier auf die Beine<br />
gebracht hat, von „Streikspielerei" reden, das können nur Liberale und<br />
Konterrevolutionäre!<br />
Häufige Streiks können die Arbeiter entkräften. Es ist durchaus möglich,<br />
daß man dann zu kürzeren Streiks, zu besser vorbereiteten Demonstrationen<br />
aufrufen muß. Aber die Ereignisse vom 15. November sind<br />
doch gerade darum so bemerkenswert, weil sie einen neuen Fortschritt in<br />
der Demonstrationsbewegung bedeuten!<br />
Anstatt ehrlich euren Fehler zu bekennen (denn ihr habt euch in bezug<br />
auf die Bedeutung des 15. November offensichtlich geirrt), habt ihr Liquidatoren<br />
in der Art unverfrorenster Liberaler angefangen, vom „politischen<br />
Analphabetentum" des revolutionären Aufrufs zu reden, ihr, die<br />
ihr die Anfangsgründe der liberalen Politik wiederkäut!<br />
Mögen die Arbeiter darüber urteilen, was die schmeichlerischen <strong>Red</strong>en<br />
der Liquidatoren über ihre „Einheit" mit der Partei wert sind, wenn sie<br />
in einer Zeit, in der die revolutionären Streiks und Demonstrationen beginnen<br />
und sich entwickeln, den Kampf gegen sie aufnehmen, wenn sie in<br />
der legalen Presse auf die illegalen Aufrufe schimpfen!!<br />
Es gibt übrigens einen tieferen Grund für den Feldzug der Liquidatoren<br />
gegen die Streiks. Die Liquidatoren sind Sklaven der Liberalen. Den Liberalen<br />
aber geht die Hartnäckigkeit der revolutionären Streiks tatsächlich<br />
wider den Strich. Der „progressistische" Fabrikant hat angefangen zu<br />
knurren, ja, er gerät sogar in Rage. Den Miljukow wurde es Angst um die<br />
Ungestörtheit ihres „Blödes" mit Rodsjanko.<br />
Die Politik der Liquidatoren dient der Unterordnung der Arbeiter unter<br />
die Liberalen. Die marxistische Politik erhebt die Arbeiter zu Führern<br />
der Bauernschaft. Darüber kann man nicht legal sprechen, ihr Herren<br />
Liquidatoren, aber darüber nachdenken und davon sprechen muß, wer<br />
revolutionärer Sozialdemokrat sein will.<br />
Im freien, konstitutionellen Europa dient der politische Streik bislang
Die Enttvicklung des rev. Streiks und der Straßendemonstrationen 469<br />
(solange die sozialistische Revolution noch nicht begonnen hat) dem Kampf<br />
um einzelne Reformen. Im versklavten, asiatischen, zaristischen Rußland,<br />
das der nächsten bürgerlich-demokratisdben Revolution entgegengeht, ist<br />
der politische Streik das einzige ernsthafte Mittel, die Bauernschaft und<br />
den besten Teil der bäuerlichen Armee in Bewegung zu bringen, aufzurütteln,<br />
in Aufruhr zu bringen und zum revolutionären Kampf zu mobilisieren!<br />
Zum Glück für Rußland ist die Zeit schon vorbei, da es außer heldenhaften<br />
Einzelgängern, Volkstümlern, niemanden gab, der „ins Volk<br />
ging". Es vergeht die Zeit, da auf sich gestellte Terroristen sagen konnten,<br />
sie würden das Volk durch den Terror „erwecken". Rußland ist schon aus<br />
diesen traurigen Zeiten heraus. Das revolutionäre Proletariat hat 1905<br />
einen anderen „Weg ins Volk", ein anderes Mittel gefunden, die Massen<br />
in die Bewegung einzubeziehen.<br />
Dieses Mittel ist der revolutionäre Streik, der beharrliche Streik, der<br />
von Ort zu Ort, von einem Ende des Landes aufs andere übergreift, der<br />
wiederholte Streik, der Streik, der die Zurückgebliebenen durch den<br />
Kampf um wirtschaftliche Verbesserungen zu neuem Leben emporhebt,<br />
der Streik, der jeden herausragenden Gewalt- und Willkürakt und jedes<br />
Verbrechen des Zarismus brandmarkt und geißelt, die Streikdemonstration,<br />
die in den Straßen der Hauptstadt das rote Banner entfaltet, die die<br />
revolutionären <strong>Red</strong>en und die revolutionären Losungen in die "Menge t in<br />
die Volksmassen trägt.<br />
Einen solchen Streik kann man nicht künstlich hervorrufen, aber man<br />
kann ihn auch nicht aufhalten, wenn er Hunderttausende erfaßt hat.<br />
Mag der Liberale, dadurch gerührt, daß man ihn auf einen Sessel neben<br />
Rodsjanko „persönlich" gesetzt hat, den Arbeitern sagen: „Brüder! Nur<br />
keine revolutionären Ausbrüche, sucht einen anderen Weg, widmet euch<br />
der friedlichen Gewerkschaftsbewegung, bereitet euch ernsthaft auf eine<br />
legale europäische Partei vor, wiegelt nicht die Bauern auf, vergeudet<br />
nicht eure Energie auf Streiks, sonst werden ,wir' aufhören, mit euch zu<br />
sympathisieren!"<br />
Die Arbeiter werden solche <strong>Red</strong>en einzuschätzen und sie selbst im Gewand<br />
„beinahe marxistischer" Formulierungen eines beliebigen Skribenten<br />
vom „Lutsch" zu erkennen wissen.<br />
Die Arbeiter werden ihr ganzes Augenmerk darauf richten, den spontan<br />
wachsenden revolutionären Streik zu unterstützen, zu verstärken, zu
470 19.1. <strong>Lenin</strong><br />
entwickeln, ihn bewußt voranzutreiben, um die Bauern und die Truppen<br />
auf den Aufstand vorzubereiten. Wenn die Streiks die Arbeiter entkräften,<br />
muß man sie abwechselnd durchführen, indem man die einen ausruhen<br />
läßt und die, die sich erholt haben, oder „frische" Kräfte in den<br />
Kampf führt. Man muß kürzere Streiks organisieren. Manchmal muß man<br />
Streiks durch Demonstrationen ersetzen. Aber das wichtigste ist, daß die<br />
Streiks, die Kundgebungen, die Demonstrationen nicht abreißen, daß die<br />
ganze Bauernschaft und die ganze Armee von dem beharrlichen Kampf<br />
der Arbeiter erfahren, daß das Dorf, selbst das entlegenste, sieht, daß in<br />
den Städten Unruhe herrscht, daß sich „ihre Heute" erhoben haben, daß<br />
sie auf Leben und Tod kämpfen, daß sie für ein besseres Leben kämpfen,<br />
für höheren Lohn, für die Beendigung der Ausschreitungen und der Willkür<br />
der Behörden, für die Übergabe der Gutsbesitzerländereien an die<br />
Bauern, für den Sturz der Gutsherrenmonarchie des Zaren und für die<br />
Republik. Die dumpfe Erbitterung und das verhaltene Murren des Dorfes<br />
zusammen mit der Empörung der Kaserne müssen im revolutionären<br />
Streik der Arbeiter ein Anziehungszentrum finden. Daran muß unermüdlich<br />
gearbeitet werden, und wir werden den Tag erleben, an dem das Proletariat<br />
gemeinsam mit der Bauernschaft und den Truppen die Gutsbesitzer<br />
zu Boden wirft und die Zarenmonarchie durch den Volksaufstand<br />
stürzt.<br />
PS. Der „Lutsch" macht Fortschritte: nach dem freimütigen W. A. (Nr.<br />
56) der Diplomat Th. D." 8 (Nr. 65). Aber trotz aller „Diplomatie" ist der<br />
Sinn der <strong>Red</strong>en Th. D.s derselbe: gegen den revolutionären Streik! Wir<br />
haben es mit einem reinrassigen Liberalen zu tun, dem nicht einmal der<br />
Qedanke kommt, daß die Streiks die Bauern aufrütteln, sie zum Aufstand<br />
führen, die revolutionäre Agitation unter den Massen entwickeln und die<br />
Armee aufrütteln, daß man von den Streiks (insofern sie entkräften) zu<br />
Straßendemonstrationen usw. übergehen muß.<br />
Die platten liberalen Phrasen Th. D.s vom „Kampf um das Organisationsrecht"<br />
als „nächste Aufgabe" - eine konstitutionelle Reform „auf<br />
der Tagesordnung" unter Treschtschenkow! - das ist die einzige Tarnung<br />
des Kampfes des „Lutsch" gegen die revolutionären Streiks. Das ist wenig,<br />
ihr Herren Liquidatoren!<br />
„Sozial-Ttemokrat" Nr. 30, "Na
471<br />
URSPRÜNGLICHES POSTSKRIPTUM<br />
ZU DEM ARTIKEL<br />
„DIE ENTWICKLUNG DES REVOLUTIONÄREN STREIKS<br />
UND DER STRASSENDEMONSTRATIONEN" 119<br />
Wir lenken die besondere Aufmerksamkeit der Sozialdemokraten auf<br />
die „Taktischen Notizen" von Th. D. im „Lutsch". Wie rasch hat sich<br />
der Anflug des zur Schau getragenen Versöhnlertums und der „Vereinigungs"phrasen<br />
im Geiste Trotzkis verflüchtigt! Wie deutlich zeigt sich die<br />
reale Richtung des „Lutsch" - das nackte Liquidatorentum!<br />
In dem legalen Organ bekämpft Th. D. systematisch nicht nur die revolutionären<br />
Massenstreiks (von einem Aufstand ganz zu schweigen), sondern<br />
auch jede revolutionäre Agitation unter den Massen. Im Grunde genommen<br />
geht Th. D. viel weiter als W. A. (im „Lutsch" Nr. 56), wobei eiserne<br />
nahe ideologische Verwandtschaft mit dem bundistischen „Streichen"<br />
der Revolution verrät. Dahin also führt der liquidatorische Verzicht auf<br />
die direkte, klare, förmliche „Einschätzung der Lage": in der Tat hält sich<br />
Th. D. gerade an die Larinsche Einschätzung, wenn er die objektiven Bedingungen<br />
leugnet, die von den Arbeitern die Organisation für die Revolution,<br />
für die Einbeziehung der Massen im allgemeinen und der Bauernschaft<br />
im besonderen in die revolutionäre Bewegung verlangen.<br />
Auf die Artikel von Th. D. werden wir noch zurückkommen.<br />
Qesdhrieben im Januar 1913,<br />
vor dem 12. (25.).<br />
Zum erstenmal veröfientlidbt. Tiaän dem Manuskript.
472<br />
DIE SPALTUNG IN DER<br />
POLNISCHEN SOZIALDEMOKRATIE<br />
Die gegenwärtige Spaltung in der Polnischen Sozialdemokratie ist die<br />
Frucht eines Konflikts, der schon einige Jahre herrührt. Schon auf dem<br />
VI. Parteitag im Jahre 1908 zeigte sich zwischen dem Hauptvorstand einerseits<br />
und den Organisationen von Warschau und des Bezirks Dombrowa<br />
anderseits ein so schroffer Gegensatz, daß der Parteitag den Antrag ablehnte,<br />
dem Hauptvorstand das Vertrauen auszusprechen. Der Konflikt<br />
war organisatorischer Natur, hatte aber große politische Bedeutung. Die<br />
Peripherie forderte, auf die politische Position der Partei einwirken zu<br />
können, erstrebte die breite Erörterung aller ihrer Schritte durch die Organisationen.<br />
Der Hauptvorstand blieb dennoch in den Händen derselben Leute.<br />
Und seine Mehrheit mit dem nicht unbekannten Tyszka an der Spitze,<br />
änderte nicht ihre Taktik, wobei sie sich die Schwächung der Partei, die<br />
Verhaftungen und die Bedingungen der Konterrevolution zunutze machte.<br />
In der SDAPR wirtschaftete und intrigierte Tyszka im Namen der SDPuL,<br />
ohne nach deren Willen auch nur zu fragen. In der Politik der Partei begann<br />
eine Ära der Prinzipienlosigkeit und der Schwankungen, zum Beispiel<br />
in der Frage der Gewerkschaften, der Stellung zur PPS, der Taktik der<br />
PSD innerhalb der SDAPR. Die Genossen, die die Widersprüche in der<br />
Politik des Hauptvorstands aufdeckten und eine konsequente prinzipielle<br />
Linie forderten, brachte der Hauptvorstand zum Schweigen, wobei er eine<br />
Diskussion in der Presse nicht zuließ und, was noch schlimmer ist, ständig<br />
versprach, die Diskussion „in nächster Zeit" zu eröffnen und dann auch<br />
gleichzeitig die Proteste der Genossen gegen diese Taktik zu veröffentlichen.<br />
Die Gegner Tyszkas im Hauptvorstand selbst, alles alte, der ganzen<br />
Partei gut bekannte Funktionäre, wurden einer nach dem andern<br />
hinausgedrängt. Der eine erklärte eine Zusammenarbeit mit Tyszka für
Df'e Spaltung in der Polnischen Sozialdemokratie 473<br />
unmöglich und verzichtete daher auf seine Wiederwahl schon auf dem<br />
VI. Parteitag, der andere wurde 1909 hinausgedrängt, der dritte verzichtete<br />
auf die Mitarbeit im Hauptvorstand im Jahre 1911.<br />
Aber mit dem Aufschwung der Bewegung und der Belebung seit Anfang<br />
1911 begann sich die Unzufriedenheit auch in den unteren Organisationen<br />
bemerkbar zu machen. An die Spitze der „Revolte" trat die<br />
Warschauer Organisation, die wichtigste und stärkste und, was die Hauptsache<br />
ist, die in revolutionärer Hinsicht standhafteste Organisation, die<br />
von 1905 bis heute den linken Flügel der Polnischen Sozialdemokratie<br />
einnimmt.<br />
Der Hauptvorstand wurde natürlich unruhig und traf Vorbereitungen,<br />
um eine Opposition zu „unterbinden". Das Signal zur Attacke bildete die<br />
Konferenz der Warschauer Bezirke im Dezember 1911. Sie wagte es, für<br />
die bevorstehende Parteikonferenz eine stärkere Vertretung des „Landes"<br />
zu fordern, d. h. also - welch frevelhafter Gedanke! - die Schwächung des<br />
Einflusses des Hauptvorstands auf der Konferenz. Aber das wäre noch<br />
wenig: eine solche Resolution hatte auch die Konferenz von Lodz angenommen.<br />
Die Warschauer Konferenz handelte frevelhafter: sie zeigte,<br />
daß sie das nicht von ungefähr forderte, sondern dabei einen polilisdoen<br />
Zwedk verfolgte. Sie nahm einige Tyszka nicht genehme politische Resolutionen<br />
an: sie brachte unter anderem ihre Unzufriedenheit darüber zum<br />
Ausdruck, daß der Hauptvorstand ihr keinen Rechenschaftsbericht über<br />
seine Tätigkeit erstattet hatte, forderte, daß der Hauptvorstand die Partei<br />
über seine Tätigkeit innerhalb der SDAPR unterrichte, daß er seine<br />
„russische" Politik nicht vor den polnischen Arbeitern verheimliche, usw.<br />
Ein offener Kampf brach aus. Tyszka ließ eine Reihe von „Zirkularen"<br />
und „Erklärungen" vom Stapel. Er „erklärte", daß 1. die Warschauer<br />
Organisation das Parteistatut mit Füßen trete und die Spaltung anstrebe,<br />
2. daß ihre Resolutionen Zeugnis seien von Boykottismus, Otsowismus<br />
und Anarchismus, 3. daß sie keinerlei ideologische Meinungsverschiedenheiten<br />
mit dem Hauptvorstand habe, die Spaltung also jeglicher politischen<br />
Grundlage entbehre, 4. daß eine Warschauer Organisation nicht existiere,<br />
die Konferenz fiktiv gewesen sei, es also eine Spaltung weder gebe noch<br />
gegeben habe, 5. daß die Warschauer Organisation es nicht fertiggebracht<br />
habe, auch nur ein einziges Flugblatt selbständig herauszugeben, und die<br />
ganze publizistische Arbeit dem Hauptvorstand überlasse; daß sie sich<br />
31 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>
474<br />
illegitim einen eigenen spalterisdien technischen Apparat geschaffen habe<br />
und eigene Flugblätter herausgebe. Tyszka charakterisierte auch persönlich,<br />
mit familiären Details, ein paar Warschauer „intellektuelle Intriganten"<br />
und erklärte, daß sie die Spaltung bewirkt hätten, in der Organisation<br />
aber weder arbeiteten noch arbeiten.<br />
Als Tyszka schließlich sah, daß die Warschauer Organisation nicht nachgibt,<br />
beschloß er, „heroische" Mittel ins Spiel zu bringen. Er beschloß,<br />
eine fiktive Konferenz einzuberufen und auf ihr die Opposition nicht zuzulassen<br />
- d. h. die große Mehrzahl der im Lande arbeitenden Genossen.<br />
Zu diesem Zweck erklärte Tyszka die stärkste, die Warschauer Organisation<br />
für... „aufgelöst", und mit Hilfe von zwei, drei Agenten Tyszkas<br />
wurde eine gesonderte spalterische „Warschauer Organisation" gebildet.<br />
Aber das Empörendste ist die „Motivierung", mit der Tyszka die Warschauer<br />
Organisation „aufgelöst" hat. Tyszka erklärte, diese ihm nicht<br />
willfährige Organisation sei nichts anderes als das Werkzeug einer Polizeiprovokation.<br />
Nicht eine, auch nicht die geringste, ernst zu nehmende Tatsache,<br />
die das bestätigen würde, hat Tyszka bisher anführen können.<br />
"Nicht einen einzigen "Namen auch nur einer verdächtigen Person hat er<br />
veröffentlicht. Mehr noch: um sich den Weg für einen Rückzug frei zu halten,<br />
schrieb Tyszka feige in einer Erklärung an das Internationale Büro,<br />
es sei sehr leicht möglich, daß sich in Warschau, wie audb in jeder anderen,<br />
unter den jetzigen Bedingungen arbeitenden Organisation, die Provokation<br />
eingenistet habe.<br />
Aber Tyszka erachtete es für richtig, die Warschauer Organisation<br />
„aufzulösen" und sogar zu erklären, sie stehe außerhalb der SD APR. Wie<br />
der Leser sieht, ist das schon kein Eraktionskampf mehr, sondern geradezu<br />
kriminell.<br />
Begreiflich, daß der außer Rand und <strong>Band</strong> geratene Tyszka mit diesem<br />
Schritt eine noch zehnmal größere Empörung auslöste. Die von Tyszka<br />
selbst eingesetzte Kommission, die untersuchen sollte, ob es sich um eine<br />
Provokation handle, wandte sich gegen ihn. Tyszka antwortete mit dem<br />
Ausschluß dreier ihrer Mitglieder, langjähriger und allgemeines Vertrauen<br />
genießender Funktionäre der PSD, aus der Partei. 44 alte Funktionäre<br />
veröffentlichten einen flammenden Protest gegen die jeden Revolutionär<br />
beleidigenden Handlungen des „Hauptvorstands". Im Inland wie im Ausland<br />
fordert man überall, daß sich der „Hauptvorstand" verantworten
Die Spaltung in der Polnischen Sozialdemokratie 475<br />
solle. Die Warschauer Organisation hat sich natürlich nicht Tyszka zuliebe<br />
aufgelöst, sondern setzt ihre unter den jetzigen Bedingungen so schwierige<br />
Arbeit fort. Die Wahlen in der Arbeiterkurie von Warschau wurden gerade<br />
von der „Opposition" glänzend durchgeführt. Die Wahlen brachten<br />
der Sozialdemokratie die absolute Mehrheit über alle übrigen Parteien.<br />
Von den 34 sozialdemokratischen Bevollmächtigten sind 31 Anhänger der<br />
Opposition, 2 Schwankende, und nur einer ist Tyszka-Anhänger. Dafür<br />
wurde in der Provinz, wo der Hauptvorstand und seine Anhänger „arbeiten",<br />
die Wahlkampagne allenthalben verloren.<br />
Es ist zu hoffen, daß das kleinliche, unwürdige Gezänk, das Tyszka mit<br />
seiner Haltung ausgelöst hat, bald der Vergangenheit angehören wird und<br />
die prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten klarer hervortreten werden.<br />
Konkreteren Ausdruck finden wird auch der Wunsch der polnischen sozialdemokratischen<br />
Arbeiter, engere organisatorische Verbindungen mit<br />
den russischen Genossen herzustellen. Tyszkas Haltung in der SDAPR<br />
hat dazu geführt, daß der Hauptvorstand sich vom Leben der Gesamtpartei<br />
völlig isoliert hat, daß er keinen einzigen Bundesgenossen in der<br />
SDAPR hat, wobei beide Seiten (die Liquidatoren wie die Antiliquidatoren)<br />
gleichermaßen die Achseln zucken über die sonderbare undpnnzipien-<br />
Iose „Taktik" Tyszkas und seines „Hauptvorstands".<br />
Die Polnische Sozialdemokratie macht eine schwere Zeit durch. Aber<br />
der Ausgang zeichnet sich bereits ab. Alle gesunden Elemente der PSD<br />
schließen sich zusammen. Und nicht mehr fern ist die Zeit, da die PSD<br />
eine Organisation von parteitreuen sozialdemokratischen Arbeitern sein<br />
wird, die ihre eigenen Prinzipien und ihre eigene Taktik haben, nicht aber<br />
ein Spielzeug in den Händen eines prinzipienlosen Intriganten.<br />
Wir halten es für notwendig, die Mitteilung über die Spaltung in der<br />
PSD durch einige Meldungen über die weitere Geschichte der „Provokations"beschuldigung<br />
zu ergänzen. Darüber teilt man uns folgendes mit:<br />
Rosa Luxemburg (Mitglied des Internationalen Sozialistischen Büros,<br />
Vertreterin der PSD) richtete an das ISB ein Schreiben, wonach das Warschauer<br />
Komitee aus Spaltern bestehe und sich in den Händen der Oöirana<br />
befinde, mit der Mitteilung, daß das nicht zu veröffentlichen sei!<br />
Zugleich aber veröffentlichte Tyszka selbst diese Niedertracht in der<br />
polnischen sozialdemokratischen Literatur!!
476 W. 1. Centn<br />
<strong>Lenin</strong>, der vom Sekretär des ISB, Huysmans, eine Abschrift des Schreibens<br />
Tyszkas erhielt, schickte natürlich einen Brief an Huysmans, in dem<br />
er erklärte, daß dies ein „wortbrüchiger" Racheakt sei, daß Malecki und<br />
Hanecki, ehemalige Mitglieder des ZK, allen in der Partei bekannt seien,<br />
daß die von Tyszka selbst eingesetzte Untersuchungskommission keine<br />
Provokation festgestellt habe, daß es die schmutzigste und gemeinste<br />
Sache sei, von einer Provokation im Kreise politischer Gegner zu schreiben,<br />
ohne Namen zu nennen.*<br />
Der Hauptvorstand antwortete mit bloßem Gesehimpfe.<br />
Es kam der Basler Kongreß. Die Delegation des Warschauer Komitees<br />
wurde einstimmig von allen Delegierten der SDAPR anerkannt, von den<br />
Liquidatoren, den Letten, den „Wperjod"-Leuten, den Bundisten und den<br />
Trotzkisten!<br />
Die Wahlen in Warschau haben ergeben, daß beide Arbeiterwahlmänner<br />
sozialdemokratische Anhänger des Warschauer "Komitees, Gegner<br />
Tyszkas und Co., sind.<br />
Der fiktive Charakter der Parallelorganisation Tyszkas ist vor aller<br />
A«gen erwiesen. Der ehrliche Weg - die Provokationsbeschuldigung zurückzunehmen<br />
- ist nicht Tyszkas und seines Hauptvorstands Sache.<br />
Aber am besten sind unsere Liquidatoren und ihr OK, die die „Einheit"<br />
lieben. Der „Lutsch", der sich offiziell der Augustkonferenz anschließt,<br />
hat Tyszkas niederträchtige Lüge zweimal abgedruckt!!<br />
Das erstemal tat es ein Herr, der sich hinter Initialen versteckte. Das<br />
zweitemal - Herr Aagustowski m .<br />
Schöne Helden! Sie verbreiten eine Niedertracht und - verstecken sich<br />
hinter dem Rücken des Hauptvorstands. Wir haben damit nichts zu tun,<br />
wir tragen keine Verantwortung, wir verbreiten keine Niedertracht, wir<br />
berichten „nur" über die Tatsache der Veröftentlidbung (der Niedertracht)<br />
im Namen des Hauptvorstands!!<br />
Martow, Trotzki, Liber, die Letten und Co. verbreiten die Tyszkasche<br />
Niedertracht anonym und verstecken sich hinter dem Rücken Tyszkas -<br />
in der legalen Presse, wo man keine Dokumente zitieren darf!!<br />
„Sozial-Vemokrat" SVr. 30, 5V«d> dem 7ext des<br />
12. (25J Januar 1913. „Sozial-Demohrat"<br />
* Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 266/267. Die ~R.ed.
ÜBER DEN BOLSCHEWISMUS 121<br />
477<br />
Die Entstehung des Bolschewismus hängt untrennbar mit dem Kampf<br />
des sogenannten „Ökonomismus" (Opportunismus, der. den politischen<br />
Kampf der Arbeiterklasse und ihre führende Rolle negierte) gegen die<br />
revolutionäre Sozialdemokratie in den Jahren <strong>18</strong>97-1902 zusammen. Der<br />
Ökonomismus, den der „Bund" unterstützte, wurde besiegt und verdrängt<br />
durch die bekannte Kampagne der alten „Iskra" (München, London<br />
und Genf, 1900-1903), die auf den Grundlagen des Marxismus und<br />
der revolutionären sozialdemokratischen Prinzipien die sozialdemokratische<br />
Partei (gegründet <strong>18</strong>98, dann aber durch Verhaftungen zerschlagen)<br />
wiederherstellte. Auf dem II. Parteitag der SDAPR (August 1903) spalteten<br />
sich die Iskristen: ihre Mehrheit stand zu den Prinzipien und der<br />
Taktik der alten „Iskra", die Minderheit jedoch schwenkte zum Opportunismus<br />
ein, wobei sie von den früheren Feinden der „Iskra", den Ökonomisten<br />
und Bundisten, unterstützt wurde. Daher die Bezeichnungen: Bolschewismus<br />
und Menschewismus (Bolschewiki und Menschewiki)*. In den<br />
Jahren 1903 und 1904 war der Opportunismus der Menschewiki in Organisationsfragen<br />
Hauptgegenstand des Kampfes. Von Ende 1904 an<br />
wurden die Differenzen in der Taktik zur Hauptfrage. Der „Plan derSemstwokampagne"<br />
(Herbst 1904) der neuen, an die Menschewiki übergegangenen<br />
„Iskra" vertrat die Taktik, „die Liberalen nicht einzuschüchtern".<br />
Das Jahr 1905 ließ die taktischen Meinungsverschiedenheiten sich<br />
endgültig herausbilden (der Parteitag der Bolschewiki, der III. Parteitag<br />
der SD APR im Mai 1905 in London, und zu gleicher Zeit die „Konferenz"<br />
der Menschewiki in Genf). Die Menschewiki paßten die Taktik der Arbeiterklasse<br />
dem Liberalismus an. Die Bolschewiki bezeichneten als Ziel<br />
der Arbeiterklasse in der bürgerlich-demokratischen Revolution: sie zu<br />
* Abgeleitet von russ. bolschinstwo - die Mehrheit, mensdünstwo - die<br />
Minderheit. Der Vbers.
478 W. 1 <strong>Lenin</strong><br />
Ende zu führen, die demokratische Bauernschaft mit sich zu reißen, entgegen<br />
den Verrätereien des Liberalismus. Die Hauptdifferenzen beider<br />
Strömungen in der Praxis im Herbst 1905: die Bolschewiki sind für den<br />
Boykott der Bulyginschen Duma, die Menschewiki für die Beteiligung. Im<br />
Frühjahr 1906 - dasselbe hinsichtlich der "Witteschen Duma. In der Zeit<br />
der I.Duma: die Menschewiki sind für die Unterstützung der Losung:<br />
Duma-(Kadetten-)Kabinett, die Bolschewiki für die Losung: Exekutivkomitee<br />
der Linken (Sozialdemokraten und Trudowiki) zur Organisierung<br />
des unmittelbaren Kampfes der Massen usw. Eine ausführlichere Darlegung<br />
ist nur in der ausländischen Presse möglich. Auf dem Stockholmer<br />
Parteitag (1906) siegten die Menschewiki, auf dem Londoner (1907) die<br />
Bolschewiki. 1908/1909 spalteten sich von den Bolschewiki die „Wperjod"-<br />
Leute ab (Machismus in der Philosophie und „Otsowismus" oder Boykott<br />
der III. Duma in der Politik: Bogdanow, Alexinski, Lunatscharski u. a.).<br />
In den Jahren 1909-1911, im Kampf gegen sie (vergleiche W. Iljin,<br />
„Materialismus und Empiriokritizismus", Moskau 1909*), und auch gegen<br />
die Liquidatoren (die illegale Partei negierende Menschewiki) näherten<br />
sich der Bolschewismus und die parteitreuen Mensdbewiki (Plechanow<br />
u. a.), die dem Liquidatorentum entschlossenen Kampf angesagt hatten,<br />
einander an. Die Organe der Bolschewiki: „Wperjod" und „Proletari"<br />
(Genf 1905), „Nowaja Shisn" (St. Petersburg 1905), „Wolna", „Echo"<br />
u. a. (St. Petersburg 1906), „Proletari" in Finnland (1906/1907), in Genf<br />
(1908) und Paris (1909), „Sozial-Demokrat" in Paris (1909-1912).<br />
Eine Zusammenstellung einiger Hauptwerke des Bolschewismus findet<br />
sich bei W. Iljin „12 Jahre", St. Petersburg 1908; ebenda detailliertere<br />
Literaturangaben. Die wichtigsten Publizisten der Bolschewiki: G. Sinowjew,<br />
W. Iljin, J. Kamenew, P. Orlowski u. a. In den letzten Jahren<br />
waren Bolschewiki die Hauptmitarbeiter der Zeitungen: „Swesda"<br />
(1910-1912), „Prawda" (1912) in St. Petersburg und der Zeitschriften<br />
„Mysl" (1910) in Moskau, „Prosweschtschenije" (1911-1913) in St. Petersburg.<br />
Qesdirieben im Januar 1913, vor dem 12. (25J.<br />
Zuerst veröffentlidit 1913 in dem 71aä> dem Text des Buäies.<br />
Bucfc: 5V. A. Rubakin, .'Unter Büdiern",<br />
Bd. II, 2. Auflage, Moskau.<br />
* Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 14. Die <strong>Red</strong>.
DIE BEDEUTUNG DER WAHL POINCARES<br />
479<br />
Der neue Präsident der französischen Republik wird eifrig beglückwünscht.<br />
Man blicke nur in das pogromistisdie Schwarzhunderterblatt<br />
„Nowoje Wremja" und in die liberale „Retsch", was für eine rührende<br />
Einmütigkeit in den Glückwünschen für den Präsidenten Poincare,<br />
in den Ausdrücken ihrer Befriedigung!<br />
Die Einschätzung der Fragen der Außenpolitik und der Lage der Dinge<br />
in den westlichen Ländern zeigt besonders anschaulich die tiefe innere<br />
Verwandtschaft unserer Sdrwarzhunderter und unserer Liberalen. Wenn<br />
die einen wie die anderen den „nationalen" Präsidenten Poincare begrüßen,<br />
der durch den Bund der Großbourgeoisie und der klerikal-feudalen<br />
Reaktion in Frankreich gewählt worden ist, so wird jedem klar, daß<br />
die Schwarzhunderter und die Liberalen nur in den Auffassungen über die<br />
Methoden des Kampfes gegen den Sozialismus auseinandergehen.<br />
Aber die Wahl Poincares ist von erheblich größerem Interesse als die<br />
eifrigen „Gratulanten" annehmen. Die klassenbewußten Arbeiter, die<br />
über die Bedeutung dieser Wahl nachdenken, stellen drei Umstände fest.<br />
Erstens bedeutet die Wahl Poincares noch einen Schritt vorwärts in der<br />
Verschärfung des Klassenkampfes, der Frankreich bevorsteht. Poincare'<br />
war Premierminister in einer Kammer, die eine radikale Mehrheit hatte.<br />
Aber zum Präsidenten wurde er gegen den radikalen Kandidaten Pams<br />
gewählt, wurde er mit Hilfe der klerikal-feudalen Reaktion gewählt,<br />
wurde er vom rechten Block gewählt.<br />
Was bedeutet das? In Frankreich ist die letzte bürgerliche Partei, die<br />
Radikalen, an der Macht Sie unterscheidet sich immer weniger von der<br />
„Reaktion". Gegen das sozialistische Proletariat schließt sich die gesamte
480 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />
Bourgeoisie, von der radikalen bis zur reaktionären, immer enger zusammen,<br />
und die Grenzen zwischen der einen und der anderen verwischen<br />
sich immer mehr. Besonders deutlich zeigte sich das bei der Wahl Poincares.<br />
Dieser Zusammenschluß aber ist ein untrügliches Merkmal für die<br />
äußerste Verschärfung der Klassenwidersprüche.<br />
Bezeichnend ist zweitens die Karriere Poincares - die typische Karriere<br />
eines bürgerlichen Geschäftsmannes, der sich der Reihe nach in der Politik<br />
an alle Parteien und „außerhalb" der Politik an alle Reichen verkauft. Von<br />
Beruf war Poincare mit 20 Jahren Advokat. Mit 26 Jahren war er Kabinettchef,<br />
mit 33 Jahren Minister. Die Reichen und Finanzmagnaten in<br />
allen Ländern schätzen die politischen Verbindungen solch geriebener<br />
Karrieristen sehr hoch. „Glänzender" Advokat und Abgeordneter - geriebener<br />
Politiker, das sind in den „zivilisierten" Ländern Synonyme.<br />
Bezeichnend ist drittens die Demonstration der französischen Sozialisten<br />
bei der Wahl Poincares. Die Stimmabgabe für Vaülant war eine<br />
Demonstration zu Ehren der Kommune. Vaillant ist die Verkörperung des<br />
Andenkens an sie. Man braucht nur einmal zu sehen, wie die Pariser<br />
Arbeiter den weißhaarigen Vaillant begrüßen, wenn er auf der Tribüne erscheint,<br />
um das zu verstehen.<br />
Und in dem gleichen Versailles, wo im Jahre <strong>18</strong>71 das bürgerliche<br />
Frankreich das Vaterland an Bismardc verkauft hat, um den Aufstand des<br />
Proletariats zu unterdrücken - in demselben Saal, in dem vor 42 Jahren<br />
die Schwarzhunderter-Gutsbesitzer Frankreichs laut nach dem König<br />
schrien, stimmten die Deputierten der Arbeiterklasse für den alten Kommunarden.<br />
„Trawda" SMV. i i, TJadb dem 7ext der „Trawda".<br />
15. Januar i9i3.<br />
'Untersdhrifi: W. 7.
OFFEN GESAGT<br />
481<br />
Unsere Zeitung berichtete bereits, daß der Reichsrat die Gesetzesvorlage<br />
der Duma über die Einführung des Semstwos im Gouvernement<br />
Archangelsk zu Fall brachte. Aber auf die Bedeutung dieser Tatsache, die<br />
bei all ihrer Geringfügigkeit dennoch außergewöhnlich charakteristisch<br />
ist, muß man noch näher eingehen.<br />
Fast dn halbes Jahrhundert existiert das vom Adel beherrschte Semstwo,<br />
das unbedingt dem Gutsbesitzer feudalen (fronherrlichen) Typs die Vorherrschaft<br />
sichert. Und mir in einigen Gouvernements, z. B. im Gouvernement<br />
Wjatka, wo es fast keinen Grundbesitz des Adels gibt, trägt das<br />
Semstwo einen mehr bäuerlichen Charakter; dafür ist es hier aber noch<br />
stärker als sonst in ein Netz aller möglichen bürokratischen Verbote, Behinderungen,<br />
Beschränkungen und Erläuterungen verstrickt. Ein solches,'<br />
wie es scheint unschädliches und beschnittenes Semstwo wird schon über<br />
ein halbes Jahrhundert lang auch im Gouvernement Archangelsk angestrebt.<br />
Und nun wurde der Beschluß der III. Duma, der Duma der Schwarzhunderter,<br />
der Gutsbesitzer und der Bourgeoisie über die Einführung des<br />
Archangelsker Semstwos vom Reichsrat zurückgewiesen. Welch überaus<br />
grelles Licht wirft diese „Kleinigkeit" auf das Wesen unseres „erneuerten"<br />
Systems! Welch ausgezeichnete Lektion über die Klassenwurzeln der<br />
Politik!<br />
Die Semstwogegner im Reichsrat argumentieren offen: Sehen Sie, dort<br />
gibt es keine Adligen. Im ganzen Gouvernement sind nur 2660 Desjatinen<br />
„privater" Grundbesitz - rief Herr Stisdiinsld, der Referent im Reichsrat,<br />
aus.
482 , "W. J. <strong>Lenin</strong><br />
Wenn es also keine adligen Gutsbesitzer gibt, so ist das „Volk" noch<br />
nicht einmal reif für die Ausbesserung der Straßen und die Errichtung von<br />
Krankenhäusern. Sind aber keine Gutsbesitzer da, so muß man sie auf<br />
direktem oder indirektem Wege ansiedeln.<br />
Ansiedeln - woher? Aus dem Zentrnm Rußlands, wo es ihrer zur<br />
Genüge gibt. Die Gutsbesitzer des zentralen Schwarzerdegebiets, wo die<br />
Spuren der Leibeigenschaft am frischesten sind, wo noch am stärksten die<br />
„Fron" (das auf der Abarbeit basierende Wirtschaftssystem) erhalten ist,<br />
wo Erzreaktionäre vom Schlage der Kursker ungeteilt herrschen, regieren<br />
und lenken - sie sind es, auf die man sich in staatlichen und öffentlichen<br />
Dingen stützen kann. In diesem Sinne ist die Stellung des Reichsrats zur<br />
Frage des Archangelsker Semstwos eine sehr aufschlußreiche und anschauliche<br />
Lektion über unser Staatswesen.<br />
.Vrawda" JVr. i3, Tiaäß dem 7ext der .Vrawda".<br />
i7.Januar i9i3.<br />
Unterschrift: W.
DAS KABINETT BRIAND<br />
483<br />
Der bekannte Renegat Briand, einstmals Ultrarevolutionär und Herold<br />
des „Generalstreiks", steht wiederum an der Spitze eines Ministeriums in<br />
Frankreich. Wie John Burns in England verriet er die Arbeiterklasse und<br />
verkaufte sich an die Bourgeoisie.<br />
Interessant ist die Zusammensetzung seines neuen Kabinetts. In ihm<br />
herrschen drei Mann: Jonnart - Etienne - Baudin. Was sind das für<br />
Figuren?<br />
Man werfe einen Blick in die liberalen Zeitungen, z. B. in die „Retsch"<br />
Nr. 11. Man wird einen höchst ausführlichen Bericht darüber finden, wo<br />
die Minister studiert haben and tätig gewesen sind. Man wird schamlose<br />
Reklame finden und das Bestreben zu schmeicheln: Jonnart - der Freund<br />
von König Eduard! Baudin - der Neffe eines Kommunarden!<br />
„Viel Gerede und Geschrei, aber kein Wort vom Wodka." 121 über das<br />
Wesen der Sache schweigt die „Retsch". Aber dieses Wesen ist sehr einfach:<br />
Alle drei sind eine ganz und gar durchtriebene und schamlose Gesellschaft<br />
von Finanzleuten und Abenteurern, fitienne war an allen schmutzigen<br />
Millionenskandalen beteiligt, angefangen mit "Panama. Er ist Fachmann<br />
in Finanzoperationen in den Kolonien - in der Art unserer baschkirischen<br />
Gebiete ... Jonnart beteiligte sich an dem nicht weniger „sauberen"<br />
Erwerb von Konzession für die überaus reichen Eisenerze in Ouenza<br />
(Afrika). Seine Sippschaft sitzt in den Aufsichtsräten der größten Aktiengesellschaften.<br />
Baudin ist Helfershelfer der Kapitalisten, der Unternehmer<br />
und Werftbesitzer. Er paßt gerade ins Marineministerium..., möglichst<br />
nahe den Aufträgen und Lieferungen für die Flotte!<br />
Nirgends bestätigen sich so deutlich wie in Frankreich die Worte von
484 IV. 1. <strong>Lenin</strong><br />
Marx: Die bürgerlichen Regierungen sind die Kommis der Kapitalisten-<br />
Hasse 123 . Und der große Fortschritt Frankreichs besteht darin, daß die<br />
Arbeiterklasse alle Lügenschleier weggerissen hat, daß sie das Unklare<br />
geklärt hat, daß sie „die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt hat,<br />
nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern<br />
damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche" 124 .<br />
.Vrawda" Nr. ii, Nado dem Text der „Vrawda".<br />
<strong>18</strong>. Januar i9i3.<br />
Unters&rift: J.
DIE ERGEBNISSE DER WAHLEN<br />
485<br />
Die Wahlkampagne zur IV. Duma hat die Einschätzung der historischen<br />
Situation bestätigt, die die Marxisten seit 1911 gegeben haben. Diese Einschätzung<br />
lief darauf hinaus, daß die erste Etappe in der Geschichte der<br />
russischen Konterrevolution beendet war. Angefangen hatte die zweite<br />
Etappe, die gekennzeichnet ist durch das Erwachen der „leichten Abteilungen"<br />
der bürgerlichen Demokratie (Studentenbewegung), durch eine<br />
offensive ökonomische und mehr noch nichtökonomische Arbeiterbewegung<br />
usw.<br />
ökonomische Depression, entschiedener Vorstoß der Konterrevolution,<br />
Zurückweichen und Zerfall der Kräfte der Demokratie, Entfesselung<br />
renegatenhafter, „wechistischer", liquidatorischer Ideen im „progressiven<br />
Lager" - das kennzeichnet die erste Etappe (1907-1911). Die zweite<br />
Etappe (1911-1912) hingegen ist in ökonomischer, politischer wie ideologischer<br />
Hinsicht durch entgegengesetzte Merkmale gekennzeichnet: Aufschwung<br />
der Industrie, Unfähigkeit der Konterrevolution zu weiterem<br />
Vorstoß mit der früheren Kraft oder Energie usw., Erwachen der Demokratie,<br />
das die Stimmungen des Wechismus, des Renegatentums, des Liquidatorentums<br />
sidb zu verstedken zwang.<br />
So sieht der allgemeine Hintergrund des Bildes aus, den man im Auge<br />
behalten muß, wenn man die Wahlkampagne des Jahres 1912 richtig einschätzen<br />
will.<br />
I. DIE WAHL„MACHEREI"<br />
Das am meisten in die Augen springende Merkmal der Wahlen zur<br />
IV. Duma ist die systematische Verfälschung dieser Wahlen durch die
486 l/V. 3. <strong>Lenin</strong><br />
Regierung. Wir verfolgen hier nicht das Ziel, eine Bilanz dieser „Wahlmacherei"<br />
zu ziehen; das hat völlig zur Genüge die gesamte liberale und<br />
demokratische Presse getan; davon spricht auch die ausführliche Anfrage<br />
der Kadetten in der IV. Duma; dieser Frage werden wir wahrscheinlich<br />
einen besonderen Artikel widmen können, sobald die umfangreichen und<br />
immer zahlreicher werdenden Belegmaterialien zusammengefaßt sein werden.<br />
Heute wollen wir lediglich die wichtigsten Ergebnisse der Wahl-<br />
„macherei" und ihre hauptsächliche politische Bedeutung festhalten.<br />
Mobilisierung der Geistlichkeit gegen die liberalen und oktobristischen<br />
Gutsbesitzer; Verzehnfadiung der Repressalien und skrupelloseste Gesetzesverletzung,<br />
gerichtet gegen die bürgerliche Demokratie in Stadt und<br />
Land; Versuche, der Sozialdemokratie mit denselben Mitteln die Arbeiterkurie<br />
zu entreißen - das sind die Hauptmethoden der Wahlmacherei im<br />
Jahre 1912. Das Ziel dieser ganzen Politik, die an die Politik des Bonapartismus<br />
erinnert, war die Bildung einer rechts-nationalistischen Mehrheit<br />
in der Duma, und dieses Ziel wurde bekanntlich nicht erreicht. Wir werden<br />
aber weiter unten sehen, daß es der Regierung gelungen ist, die alte<br />
Lage, wie sie in der III. Duma bestand, in unserem, man verzeihe den<br />
Ausdruck, Parlament zu „behaupten": in der IV. Duma gibt es weiterhin<br />
zwei Mehrheiten, die rechts-oktobristische und die oktobristisch-kadettische.<br />
Das Wahlgesetz vom 3. Juni 1907 „errichtete" das staatliche System<br />
der Verwaltung - und nicht nur der Verwaltung - auf dem Block der feudalen<br />
Gutsbesitzer mit den Spitzen der Bourgeoisie, wobei das erste<br />
soziale Element in diesem Block sein großes Übergewicht behielt, während<br />
über beiden Elementen die faktisch ungeschmälerte alte Macht stand. Darüber<br />
zu sprechen, welcherart die von der jahrhundertealten Geschichte der<br />
Leibeigenschaft usw. hervorgebrachte spezifische Natur dieser Macht war<br />
und bleibt, ist jetzt nicht die Gelegenheit. Jedenfalls zwangen die Umwälzung<br />
von 1905, das Fiasko des Alten und die offenen und machtvollen<br />
Aktionen der Massen und Klassen dazu, ein Bündnis mit diesen oder jenen<br />
sozialen Kräften zu suchen.<br />
Die Hoffnungen auf die „kleinen Leute", den Bauern, in den Jahren<br />
1905 und 1906 (Bulyginsches und Wittesches Wahlgesetz) waren zerstört.<br />
Das System des 3. Juni „setzte auf die Starken", auf die Gutsbesitzer und
Die Ergebnisse der Wahlen 487<br />
die Großen der Bourgeoisie. Und schon nach ganzen fünf Jahren haben<br />
die Erfahrungen der III. Duma auch diesen „Einsatz" erschüttert! Man<br />
kann sich keine größere Liebedienerei vorstellen als die der Oktobristen<br />
in den Jahren 1907-1912, und trotzdem konnten es auch die Oktobristen<br />
„nicht recht tun". Nicht einmal mit ihnen konnte die ihrer Natur nach<br />
ihnen so nahverwandte alte Macht (die sog. „Bürokratie") auskommen.<br />
Die bürgerliche Politik auf dem Lande (das Gesetz vom 9. November)<br />
und jede Förderung des Kapitalismus - alles das wurde von eben denselben<br />
Purisdikewitsch gelenkt, und die Ergebnisse waren kläglich. Das Purischkewitschregime,<br />
erneuert, repariert, aufgefrischt durch eine neue Agrarpolitik,<br />
durch ein neues System von Vertretungskörperschaften, fuhr fort,<br />
alle und jeden zu unterdrücken und die Entwicklung zu hemmen.<br />
Im System des 3. Juni hat sich ein Riß gezeigt. Die Wahl„macherei"<br />
wurde unvermeidlich, wie die Methoden des Bonapartismus historisch<br />
unvermeidlich sind, wenn eine feste, stabile, erprobte einheitliche soziale<br />
Stütze fehlt, wenn man zwischen ungleichartigen Elementen lavieren muß.<br />
Sind die demokratischen Klassen ohnmächtig oder durch zeitweilige Ursachen<br />
besonders geschwächt, so können solche Methoden einige Jahre<br />
lang von „Erfolgen" begleitet sein. Aber selbst das „klassische" Beispiel<br />
Bismarcks in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts oder Napoleons<br />
III. zeugt davon, daß es ohne die schroffsten Umwälzungen (in<br />
Preußen waren es die „Revolution von oben" und einige ausnehmend erfolgreiche<br />
Kriege) nicht abgeht.<br />
II. DIE NEUE DUMA<br />
Um die Ergebnisse der Wahlen festzustellen, wollen wir die offiziellen<br />
Angaben über die parteimäßige Zusammensetzung der IV. Duma nehmen<br />
und sie mit der III. Duma nicht nur am Ende ihres Bestehens (1912), sondern<br />
auch zu ihrem Beginn (1908) vergleichen. Wir erhalten das folgende<br />
aufschlußreiche Bild*:<br />
• Die Angaben sind folgenden Dumapublikationen entnommen: „Register"<br />
für das Jahr 1908, „Handbuch" für das Jahr 1912 und „Mitteilungsblatt der<br />
(TV.) Reichsduma", 1912, Nr. 14, vom 2. Dezember 1912, berichtigte Daten bis<br />
zum 1. Dezember 1912. - Die drei nationalen Gruppen sind: Polen, Belorussen<br />
und Mohammedaner.
488 W.1. <strong>Lenin</strong><br />
Rechte<br />
Nationalisten und gemäßigte Rechte<br />
Oktobristen<br />
Progressisten<br />
Kadetten<br />
Drei nationale Gruppen<br />
Trudowiki<br />
Sozialdemokraten<br />
Parteilose<br />
Insgesamt<br />
1908<br />
49<br />
95<br />
148<br />
25<br />
53<br />
26<br />
14<br />
19<br />
-<br />
429<br />
Dritte<br />
Duma<br />
1912<br />
46<br />
102<br />
120<br />
36<br />
52<br />
27<br />
14<br />
13<br />
27<br />
437<br />
Vierte<br />
JDmna<br />
65<br />
120<br />
98<br />
48<br />
59<br />
21<br />
10<br />
14<br />
7<br />
Die erste Schlußfolgerung aus diesen Angaben ist die, daß in der IV.<br />
Duma die früheren zwei Mehrheiten geblieben sind: die rechts-oktobristische<br />
mit 283 Stimmen (65 + 120 + 98) und die oktobristisdi-kadettische<br />
mit 226 Stimmen (98 + 48 + 59 + 21).<br />
Für die autokratische Regierung ist „ihre" Mehrheit in der Duma praktisch<br />
das Wichtigste. Der Unterschied zwischen der III. und der IV. Duma<br />
ist in dieser Hinsicht geringfügig. In der III. Duma bestand die rechtsoktobristische<br />
Mehrheit aus 292 Stimmen zu Beginn und aus 268 Stimmen<br />
am Ende. Jetzt liegt die Zahl in der Mitte zwischen beiden: 283.<br />
Doch ist der Rückgang der rechten Mehrheit vom Beginn bis zum Ende<br />
der III. Duma so bedeutend, daß die Regierung, wollte sie eine antokratische<br />
Regierung bleiben, zu den außerordentlichen Maßnahmen der<br />
Wahlmacherei greifen mußte. Diese Wahlmacherei ist kein Zufall und kein<br />
Abweichen vom System, wie es die Meiendorf, Maklakow und Co. gern<br />
darstellen, sondern eine Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung des<br />
„Systems".<br />
Ihr Herren Liberalen mit Maklakow an der Spitze, ihr redet von „Versöhnung<br />
der Macht mit dem Lande" (d. h. mit der Bourgeoisie)? Aber<br />
wenn das so ist, dann eins von beiden. Entweder sind eure Versöbnuncjsreden<br />
keine leeren Worte - dann müßt ihr auch die „Wahlmacherei" hinnehmen,<br />
denn das ist die reale Bedingung für eine Versöhnung mit der<br />
realen Macht. Ihr seid doch so große Liebhaber einer „Realpolitik"! Oder<br />
eure Proteste gegen die „Wahlmacherei" sind keine leeren Worte - dann<br />
442
Die Ergebnisse der Wahlen 489<br />
solltet ihr nicht von Versöhnung reden, sondern von etwas ganz, ganz<br />
anderem...<br />
Die zweite Mehrheit des Systems des 3. Juni, die oktobristisch-liberale,<br />
bestand aus 252 Stimmen zu Beginn und aus 235 am Ende der III. Duma<br />
und ist auf 226 in der IV. Duma gesunken. Im Grunde genommen ist also<br />
die „Wahlkampagne" der Regierung gelungen; die Regierung hat ihr Ziel<br />
erreicht, sie hat ihre Selbstherrschaft in der Praxis abermals bekräftigt.<br />
Denn das Geschrei über die rechts-nationalistische Mehrheit war nur Ausdruck<br />
des vor sich gehenden Schachers. In Wirklichkeit aber braucht die<br />
Regierung beide Mehrheiten, die beide auf konterrevolutionärem Boden<br />
stehen.<br />
Man kann nicht genügend Nachdrude legen auf diesen letzten Umstand,<br />
den die Liberalen vertuschen, um die Demokratie zu nasführen, und die<br />
liberalen Arbeiterpolitiker (Liquidatoren), weil sie nicht begreifen, was<br />
sie tun. Der Block der Kadetten mit den Oktobristen, der sich so deutlich<br />
bei der Wahl Rodsjankos abgezeichnet hat (und wohl noch deutlicher zutage<br />
getreten ist in den einfach unanständigen, sklavischen Phrasen der<br />
„Retsch" aus Anlaß der <strong>Red</strong>e Rodsjankos) - dieser Block ist keineswegs<br />
nur eine „technische" Angelegenheit. Er ist der Ausdruck der Einheit der<br />
konterrevolutionären Stimmungen der Bourgeoisie schlechthin, von Gutschkow<br />
bis Miljukow; er ist nur möglich kraft dieser Stimmungen.<br />
Anderseits braucht auch die Regierung die liberal-oktobristische Mehrheit<br />
vom Standpunkt des ganzen Systems des Regimes des 3. Juni. Denn<br />
die III. (und IV.) Duma ist keineswegs eine „Operettenduma", wie nicht<br />
selten die „linken" Volkstümler schwatzen, die hoffnungslos im Sumpf<br />
Ropschinscher Emotionen 125 und „otsowistischer" Phrasen stecken. Nein.<br />
Die III. und die IV. Duma, eine Etappe in der Entwicklung der Selbstherrschaft<br />
und in der Entwicklung der Bourgeoisie, ist ein nach den Siegen<br />
und Niederlagen von 1905 notwendiger Versuch der praktischen Annäherung<br />
beider. Und das Hasko .dieses Versuchs wird ein Fiasko nicht nur<br />
Stolypins und Makarows, nicht nur Markows 2 und Purischkewitschs sein,<br />
sondern aud) der „Versöhner" !Mdklakow und Co. 1<br />
Die Regierung braucht die liberal-oktobristische Mehrheit, um zu versuchen,<br />
Rußland bei Aufrechterhaltung der Allmacht der Purischkewitsch<br />
vorwärts zu führen. Und Mittel zur. Zügelung und Zähmung des ungewöhnlich<br />
raschen, allzu feurigen liberal-oktobristischen „Progressismus"<br />
32 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>
490 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />
hat die Regierung zur Genüge: sowohl den Reichsrat als auch vieles<br />
andere mehr...<br />
III. DIE VERÄNDERUNGEN<br />
INNERHALB DES SYSTEMS DES 3. JUNI<br />
Die oben angeführten Daten bieten interessantes Material zur Frage<br />
der Evolution der politischen Parteien, Gruppierungen und Strömungen<br />
unter den Gutsbesitzern und der Bourgeoisie in der Epoche der Konterrevolution.<br />
Über die Demokratie, die bürgerliche (bäuerliche) wie die proletarische,<br />
besagt die Zusammensetzung der III. und IV. Duma fast nichts<br />
aus dem einfachen Grunde, weil das System des 3. Juni vorsätzlich mit<br />
dem Ziel geschaffen wurde, die Demokratie auszuschließen. Gleichermaßen<br />
werden auch die „nationalen", d. h. nicht zur „herrschenden" Nationalität<br />
gehörigen Parteien durch das System des 3. Juni besonders<br />
unterdrückt und geknebelt.<br />
Deshalb wollen wir nur die Rechten, die Oktobristen und die russischen<br />
Liberalen herausheben - Parteien, die sich innerhalb des Systems des 3.<br />
Juni fest etabliert haben und durch dieses System vor der Demokratie<br />
geschützt werden - und einen Blick auf die Veränderungen innerhalb dieser<br />
Parteien werfen.<br />
Rechte<br />
Oktobristen<br />
Liberale (Progr.<br />
und Kadetten)<br />
Dritte Duma<br />
1908 1912<br />
144<br />
148<br />
78<br />
148<br />
120<br />
88<br />
Vierte<br />
Drana<br />
<strong>18</strong>5<br />
98<br />
107<br />
Vergleich der vierten<br />
Duma mit dem Beginn<br />
der dritten<br />
+ 41, d.h.+ 28%<br />
-50 „ -34%<br />
+ 29 „ +37%<br />
Hieraus ist deutlich ersichtlich, wie das sog. „Zentrum" unter den privilegierten<br />
Schichten zusammenschmilzt und sich ihr rechter und ihr liberaler<br />
Flügel verstärken. Interessant ist, daß die Liberalen unter den Gutsbesitzern<br />
und der Bourgeoisie rasdher an Boden gewinnen als die Rechten,<br />
trotz der umfangreichen Sondermaßnahmen der Regierung zur Verfälschung<br />
der Wahlen zugunsten der Rechten.<br />
Manche Leute verlieren angesichts dieser Tatsachen gern hochtrabende<br />
Worte über eine Verschärfung der Gegensätze im System des 3. Juni,
Die Ergebnisse der 'Wahlen 491<br />
über einen künftigen Trimnpli des gemäßigt-bürgerlichen Progressismus<br />
u. dgl.m. Diese Leute vergessen erstens: wenn unter den Gutsbesitzern<br />
und besonders unter der Bourgeoisie die Zahl der Liberalen wächst, so<br />
wächst am schnellsten der rechte Flügel der Liberalen, der seine ganze<br />
Politik vollständig auf der „Versöhnung" mit den Rechten aufbaut. Darauf<br />
werden wir gleich näher zu sprechen kommen. Zweitens vergessen<br />
diese Leute, daß die berüchtigte „Linksschwenkung der Bourgeoisie" nur<br />
eine Begleiterscheinung der tatsächlichen Linksschwenkung der Demokratie<br />
ist, die allein die Triebkräfte für eine ernsthafte Veränderung des<br />
Regimes zu liefern vermag. Drittens vergessen diese Leute, daß das System<br />
des 3. Juni besonders abgestimmt ist auf die Ausnutzung — und zwar<br />
in sehr weiten Grenzen - des Antagonismus zwischen der liberalen Bourgeoisie<br />
und dem reaktionären Charakter der Gutsbesitzer bei ihrem weit<br />
tieferen gemeinsamen Antagonismus zur gesamten Demokratie und insbesondere<br />
zur Arbeiterklasse.<br />
Weiter. Unsere Liberalen stellen die Sache gern dar, als sei die Zerschlagung<br />
der Oktobristen hervorgerufen durch die „Wahlmacherei"r die<br />
dieser „Partei der letzten Regierungsverordnung" die Stütze geraubt habe<br />
usw. Die Liberalen selber spielen hierbei natürlich die Rolle der ehrlichen<br />
Opposition, die Rolle unabhängiger Leute, sogar von „Demokraten",<br />
während in Wirklichkeit der Unterschied zwischen einem Maklakow und<br />
den Oktobristen etwas ganz und gar Illusorisches ist.<br />
Man betrachte die Veränderungen zwischen der III. und der IV. Duma<br />
und vergleiche sie mit den Veränderungen zwischen dem Beginn und dem<br />
Ende der III. Duma. Man wird feststellen, daß die Partei der Oktobristen<br />
in der III. Duma mehr Mitglieder verloren hat (28) als bei den Wahlen<br />
zur IV. Duma (22). Das heißt natürlich nicht, daß es keine „Wahlmacherei"<br />
gegeben habe; die gab es in den größten Ausmaßen, besonders gegenüber<br />
der Demokratie. Das heißt vielmehr, es vollzieht sich neben der verschiedensten<br />
Wahlmacherei, sogar neben der Einwirkung der Regierung<br />
und der „Politik" überhaupt ein Prozeß der parteimäßigen Differenzierung<br />
unter den besitzenden Klassen Rußlands, ein Prozeß der Abgrenzung<br />
des rechten, fronherrlich-reaktionären Flügels der Konterrevolution von<br />
dem bürgerlich-Jiberalen Flügel derselben Konterrevolution.<br />
Die Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen und Fraktionen<br />
der rechts-oktobristischen Dumamehrheit (Rechte, Nationalisten, ge-
492 1V.1. <strong>Lenin</strong><br />
mäßigte Rechte, „Zentrum", rechte Oktobristen usw.) sind ebenso unbeständig,<br />
unbestimmt, zufällig, nicht selten künstlich fabriziert wie auch die<br />
Unterschiede innerhalb der oktobristisch-liberalen Mehrheit (linke Oktobristen,<br />
Progressisten, Kadetten). Kennzeichnend für unsere heutige Zeit<br />
ist keineswegs, daß der „unabhängige" (MaklakowH) konstitutionelle Demokrat<br />
die von der Regierung abhängigen Oktobristen verdrängt. Das ist<br />
ein dummes liberales Märchen.<br />
Charakteristisch ist, daß sich ein Prozeß der Bildung wirklicher Klassenparteien<br />
vollzieht und insbesondere, getarnt durch krasses oppositionelles<br />
Geschrei und honigsüßes Gerede von der „Versöhnung der Macht mit<br />
dem Lande", der Zusammenschluß der Partei des konterrevolutionären<br />
Liberalismus.<br />
Die liberale, in Rußland am meisten verbreitete Presse macht alle Anstrengungen,<br />
um diesen Prozeß zu vertuschen. Deshalb wollen wir uns<br />
noch einmal den exakten Angaben der Dumastatistik zuwenden. Denken<br />
wir daran, daß man Parteien ebenso wie einzelne Personen nicht nach<br />
ihren Worten, sondern nach ihren Taten beurteilen muß. In der lat gehen<br />
Kadetten und Progressisten in allem Wichtigen zusammen, und die einen<br />
wie die anderen sind in der III. und in der IV. Duma wie bei den kürzlich<br />
beendeten Wahlen (Gouvernement Jekaterinoslaw: der Block Rodsjankos<br />
mit den Kadetten!) in einer ganzen Reihe von Fragen mit den Oktobristen<br />
zusammengegangen.<br />
Sehen wir uns die Angaben über diese drei Parteien an:<br />
Oktobristen<br />
Progressisten<br />
Kadetten<br />
Dritte Duma<br />
1908 1912<br />
148<br />
25<br />
53<br />
120<br />
36<br />
52<br />
Vierte<br />
Duma<br />
98<br />
48<br />
59<br />
Vergleich der vierten<br />
Duma mit dem Beginn<br />
der dritten<br />
— 50, d. h. — 34°/<br />
+ 23 „ + 92%<br />
+ 6 „ +11%<br />
Wir sehen einen starken und stetigen Rückgang bei den Oktobristen,<br />
einen geringfügigen Rückgang mit anschließendem kleinem Anstieg bei<br />
den Kadetten und einen starken und stetigen Anstieg bei den Progressisten,<br />
deren Zahl sich in fünf Jahren fast verdoppelt hat.<br />
Nähmen wir für 1908 die Daten, die Herr Miljnkow im „Jeshegodnik<br />
Retschi" [Jahrbuch der „Retsch"], 1912, S. 77, mitteilt, so ergäbe das ein<br />
noch viel plastischeres Bild. Herr Miljukow meint, daß es 1908 in der
Die Ergebnisse der Wahlen 493<br />
III. Duma 154 Oktobristen, 23 Progressisten und 56 Kadetten gegeben<br />
habe. Im Vergleich zur IV. Duma ergäbe das eine ganz geringfügige Erhöhung<br />
der Zahl der Kadetten und mehr als eine Verdoppelung der Zahl<br />
der Progressisten.<br />
Die Zahl der Progressisten betrug 1908 weniger als die Hälfte der Kadetten.<br />
Heute erreicht die Zahl der Progressisten mehr als 80 Prozent der<br />
Zahl der Kadetten.<br />
Es ergibt sich also die unbestreitbare Tatsache, daß im russischen Liberalismus<br />
in der Periode der Konterrevolution (1908-1912) das Tlauptdbarakteristikum<br />
das starke Anwachsen des Progressismus ist.<br />
Was aber sind die Progressisten?<br />
Ihrer Zusammensetzung wie ihrer Ideologie nach sind sie ein Qemisdb<br />
von Oktobristen und "Kadetten.<br />
Die Progressisten in der III. Duma nannten sich noch friedliche Erneuerer,<br />
und einer ihrer Führer, der konterrevolutionäre Kleinadlige<br />
Lwow, war in der I. Duma Kadett. In der III. Duma stieg die Zahl der<br />
Progressisten, wie wir gesehen haben, von 25 auf 36, d. h. um 11; von<br />
diesen 11 Abgeordneten kamen zu den Progressisten 9 von anderen Parteien,<br />
und zwar: einer von den Kadetten, zwei von den gemäßigten Rechten,<br />
einer von den Nationalisten und fünf von den Oktobristen.<br />
Das rasche Anwachsen der Progressisten unter den politischen Vertretern<br />
des russischen Liberalismus und der Erfolg der „Wechi" in der<br />
„Gesellschaft", das sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Die Progressisten<br />
verwirklichten in der praktischen Politik das, was die „Wechi"<br />
in der Theorie gepredigt hatten, als sie die Revolution besudelten, sich<br />
von der Demokratie lossagten, die schmutzige Bereicherung der Bourgeoisie<br />
als Gottes Sache auf Erden priesen usw. usf.<br />
Wenn sich der Kadett Maklakow über eine Versöhnung der Macht mit<br />
dem Lande verbreitet, so besingt er nur das, was die Progressisten tun.<br />
Je weiter wir uns von den Jahren 1905 und 1906 entfernen, um so<br />
klarer wird, wie recht die Bolsdhewiki damals hatten, als sie die Kadetten<br />
während ihres größten „Siegesrausches entlarvten, als sie das wirkliche<br />
Wesen dieser Partei enthüllten*, das der ganze Gang der Ereignisse jetzt<br />
immer deutlicher werden läßt.<br />
Die russische Demokratie wird keinen einzigen Sieg erringen können,<br />
• Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 10, S. 193-276. Die <strong>Red</strong>.
494 W. 1. Centn<br />
wenn sie nicht entschieden das „Prestige" der Kadetten unter den Massen<br />
erschüttert. Und umgekehrt, die faktische Verschmelzung der Kadetten<br />
mit den „Wechi"-Leuten und Progressisten ist eine der Bedingungen und<br />
eines der Symptome für den Zusammenschluß und die Festigung der<br />
Demokratie unter der Führung des Proletariats.<br />
IV. WORUM GING DER KAMPF<br />
BEI DEN WAHLEN?<br />
Diese Frage vor allem wird in den meisten Betrachtungen und Artikeln<br />
über die Wahlen in den Hintergrund gedrängt oder sogar völlig vertuscht.<br />
Indessen ist das die Frage nach dem ideologisch-politischen Inhalt der<br />
Wahlkampagne, die wichtigste Frage, ohne deren Klärung alle übrigen<br />
Fragen, alle die üblichen Angaben über die „Prozente der Opposition"<br />
usw. jede Bedeutung verlieren.<br />
Die verbreitetste Antwort auf diese Frage besteht darin, daß der Kampf<br />
darum ging, ob es eine Verfassung geben solle oder nicht. Diese Auffassung<br />
vertreten die Rechten. Diese Auffassung vertreten die Liberalen.<br />
Die ganze rechte und die ganze liberale Presse ist von der Auffassung<br />
durchdrungen, daß im Grunde genommen zwei Lager gekämpft haben,<br />
das eine für die Verfassung, das andere dagegen. Herr Miljukow, der<br />
Führer der Kadettenpartei, und die „Retsch", das offizielle Organ dieser<br />
Partei, stellten unverblümt diese Theorie der zwei Lager auf, und zwar<br />
im Namen der Konferenz der Kadettenpartei.<br />
Man betrachte jedoch diese „Theorie" vom Standpunkt des Wahlergebnisses.<br />
Wie hat sie die Prüfung durch die Wirklichkeit bestanden?<br />
Der erste Schritt der neuen Duma war gekennzeichnet durch den Block<br />
der Kadetten mit den Oktobristen (und sogar mit einem Teil der Rechten)<br />
bei der „konstitutionellen" Kandidatur Rodsjankos, dessen <strong>Red</strong>e mit einem<br />
angeblich konstitutionellen Programm die Kadetten begeistert begrüßten.*<br />
* Siehe außer den damaligen Artikeln der „Retsch" die Erklärung Herrn<br />
Miljnkows in der Duma am 13. Dezember 1912: „Der Präsident (Rodsjanko)<br />
hielt eine <strong>Red</strong>e... gab seine Deklaration ab, der wir uns vollauf ansdblossen"<br />
(„Retsch" Nr. 343 vom 14. Dezember)!! So sieht die konstitutionelle (Scherz<br />
beiseite!) Deklaration der Kadetten aus!
Die Ergebnisse der "Wahlen 495<br />
Der Führer der Oktobristen, Rodsjanko, der bekanntlich zu den rechten<br />
Oktobristen gezählt wird, hält sich für einen Konstitutionalisten, wie auch<br />
Krupenski, der Führer der „Zentrumsfraktion" oder der konservativen<br />
Konstitutionalisten.<br />
Zu sagen, daß der Kampf um die Verfassung ging, heißt gar nichts zu<br />
sagen, denn sofort erhebt sich die Frage: Um was für eine Verfassung<br />
geht es? um eine Verfassung im Geiste Krupenskis? oder Rodsjankos?<br />
oder Jefremow-Lwows? oder Maklakow-Miljukows? Und dann kommt<br />
eine noch wichtigere Frage, die Frage nicht nach den Wünschen, Erklärungen,<br />
Programmen - die auf dem Papier bleiben -, sondern nach den wirklichen<br />
Mitteln, um das Gewünschte zu erreichen.<br />
In diesem zentralen (und einzig ernst zu nehmenden) Punkt bleibt<br />
unwiderlegt und unwiderlegbar die 1912 in der „Retsch" (Nr. 117)<br />
abgedruckte Erklärung des Herrn Gredeskul, wonach es keiner neuen<br />
Revolution bedürfe, wonach „lediglich eine konstitutionelle Arbeit" vonnöten<br />
sei. Diese Erklärung vereinigt die Kadetten mit den Oktobristen<br />
ideofogisdb-politisdh viel fester und dauerhafter, als die tausendfachen Beteuerungen<br />
der Ergebenheit für die Verfassung oder gar -.. für die Demokratie<br />
sie angeblich trennen.<br />
Von allen in Rußland gelesenen Zeitungen sind wohl etwa 90 Prozent<br />
oktobristische und liberale Organe. Diese ganze Presse suggeriert den Lesern<br />
die Idee der zwei Lager, von denen das eine für die Verfassung sei,<br />
und demoralisiert dergestalt weitgehend das politische Bewußtsein der Massen.<br />
Man denke nur daran, daß am Ende dieser ganzen Kampagne Rodsjankos<br />
„konstitutionelle" Deklaration steht, der Miljukow beipflichtet!<br />
Angesichts einer solchen Sachlage kann man nicht genügend Nachdruck<br />
legen auf die Wiederholung der alten - und von vielen vergessenen -<br />
Wahrheiten der politischen Wissenschaft. Was ist eine Verfassung? - so<br />
lautet die aktuelle Frage in Rußland.<br />
Eine Verfassung ist eine Abmachung zwischen den historischen Kräften<br />
der alten (adligen, fronherrlichen, feudalen, absolutistischen) Gesellschaft<br />
und der liberalen Bourgeoisie. Die realen Bedingungen dieser Abmachung,<br />
der Umfang der Zugeständnisse des Alten oder der Siege der liberalen<br />
Bourgeoisie, werden bestimmt durch die Erfolge und Siege der Demokratie,<br />
der breiten Volksmassen (und der Arbeiter in erster Linie) über<br />
die Kräfte des Alten.
496 IV. 3. <strong>Lenin</strong><br />
Unsere Wahlkampagne konnte nur deshalb darin gipfeln, daß Miljukow<br />
Rodsjankos „Deklaration" beipflichtete, weil der Liberalismus in der<br />
Praxis nicht die Beseitigung der (ökonomischen, politischen usw.) Privilegien<br />
des Alten, sondern ihre Aufteilung unter die (kurz gesagt) Gutsbesitzer<br />
und die Bourgeoisie anstrebt. Der Liberalismus fürchtet die Volksbewegung,<br />
die Massenbewegung der Demokratie mehr als die Reaktion:<br />
daher die vom Standpunkt der ökonomischen Stärke des Kapitals überraschende<br />
Obnmaöht des Liberalismus in der Politik.<br />
Im System des 3. Juni hat^der Liberalismus das Monopol einer geduldeten,<br />
halblegalen Opposition, und der Beginn einer neuen politischen Belebung<br />
(wir verwenden ein allzu schwaches und ungenaues Wort) unterwirft<br />
breite Schichten der neuen, der heranwachsenden Demokratie dem<br />
Einfluß dieser Monopolisten. Deshalb reduziert sich jetzt der ganze "Kern<br />
der Frage nach der politischen Freiheit in Rußland gerade auf die Klarstellung,<br />
daß nicht zwei Lager im Kampfe stehen, sondern drei, denn nur<br />
dieses letzte Lager, das von den Liberalen verschwiegen wird, bat tatsächlich<br />
die "Kraft, die politische Freiheit zu verwirklichen.<br />
Bei den Wahlen von 1912 ging der Kampf keineswegs „um die Verfassung",<br />
denn die Kadetten, die führende liberale Partei, die hauptsächlich<br />
die Oktobristen angriff und ihre Schläge gegen sie richtete, stellten sich<br />
hinter Rodsjankos Deklaration. Der Kampf ging, unter dem Druck der<br />
polizeilichen Repressalien des Systems des 3. Juni, um die Erweckung, die<br />
Festigung, den Zusammenschluß einer selbständigen, von den Schwankungen<br />
und „oktobristischen Sympathien" des Liberalismus unabhängigen<br />
Demokratie.<br />
Deshalb ist es grundfalsch, den gegenwärtigen ideologisch-politischen<br />
Inhalt der Wahlkampagne von einem aussdhließlidb „parlamentarischen"<br />
Standpunkt aus zu betrachten. Hundertmal realer als alle „konstitutionellen"<br />
Programme und Plattformen ist die Frage, welche Stellung die verschiedenen<br />
Parteien und Gruppen zu der politischen Streikbewegung einnahmen,<br />
die das Jahr 1912 kennzeichnete.<br />
Für die Unterscheidung der bürgerlichen Parteien eines beliebigen Landes<br />
von den proletarischen ist einer der besten Prüfsteine die Stellung zu<br />
den wirtschaftlichen Streiks. Kämpft eine bestimmte Partei in ihrer Presse,<br />
in ihren Organisationen, in ihren Parlamentsreden bei wirtschaftlichen<br />
Streiks niöht zusammen mit den Arbeitern, so ist sie eine bürgerliche Par-
Die Ergebnisse der 'Wahlen 497<br />
tei, mag sie ihre „Volksverbundenheit", ihren „radikalen Sozialismus"<br />
usw. noch so sehr beteuern. In Rußland muß man mutatis mutandis (mit<br />
entsprechenden Änderungen) dasselbe sagen in bezug auf Parteien, die<br />
als demokratisch gelten möchten: Schwöre nicht, daß du die Verfassung,<br />
das allgemeine Wahlrecht, die Koalitionsfreiheit, die Gleichberechtigung<br />
der Nationalitäten usw. auf irgendeinem Papier niedergelegt hast, diese<br />
Worte sind keinen Pfifferling wert, sondern zeige.mir deine "Jäten in bezug<br />
auf die politische Streikbewegung von 1912! Auch dieses Kriterium ist<br />
noäo nidbt erschöpfend, es ist aber immerhin ein sachliches Kriterium und<br />
nicht eine leere Versprechung.<br />
V. DIE ÜBERPRÜFUNG DER WAHLLOSUNGEN<br />
DURCH DAS LEBEN<br />
Die Wahlkampagne ist deshalb von hervorragendem Interesse für jeden<br />
bewußten Politiker, weil sie objektives Material über die Auffassungen,<br />
Stimmungen und also auch über die Interessen der verschiedenen JQassen<br />
der Gesellschaft liefert. Man kann die Wahlen zu einer Vertretungskörperschaft<br />
in dieser Hinsicht mit einer Volkszählung vergleichen: die Wahlen<br />
bieten eine politische Statistik. Natürlich kann diese Statistik gut sein<br />
(bei allgemeinem usw. Wahlrecht) und schlecht sein (die Wahlen zu unserem,<br />
man verzeihe den Ausdruck, Parlament); natürlich muß man es lernen,<br />
diese Statistik - wie jede andere - zu kritisieren und kritisch zu verwenden.<br />
Natürlich muß man schließlich diese Statistik in Verbindung mit<br />
der gesamten sozialen Statistik schlechthin sehen, und für denjenigen, der<br />
nicht von der Krankheit des parlamentarischen Kretinismus befallen ist,<br />
wird zum Beispiel eine Streikstatistik oftmals hundertfach ernster und interessanter<br />
sein als eine Wahlstatistik.<br />
Doch trotr~äll dieser Vorbehalte bleibt außer Zweifel, daß die Wahlen<br />
objektives Material liefern. Die Überprüfung der subjektiven Wünsche,<br />
Stimmungen und Auffassungen durch die Auswertung einer Abstimmung<br />
der Bevölkerungsmassen, die verschiedenen Klassen angehören, muß ein<br />
Politiker, der einigermaßen ernsthaft als solcher gelten will, immer zu<br />
schätzen wissen. Der Kampf der Parteien in der Praxis, vor den Wählern,<br />
mit zählbaren Ergebnissen liefert stets Material, das unsere Auffassung
498 TV. J. <strong>Lenin</strong><br />
vom Verhältnis der gesellschaftlichen Kräfte im Lande sowie von der Bedeutung<br />
dieser oder jener „Losungen" Überprüft.<br />
Von diesem Standpunkt aus wollen wir den Versuch machen, einen<br />
Blick auf die Ergebnisse der Wahlen zu werfen.<br />
Was die politische Statistik betrifft, ist das Wichtigste, was hier gesagt<br />
werden muß, daß sie infolge schamlosester Anwendung administrativer<br />
„Maßnahmen" („Erläuterungen", Druck, Verhaftungen, Verbannungen<br />
usw. usf. ohne Ende) zum größten Teil offensichtlich unbrauchbar ist. Herr<br />
Tsdierewanin zum Beispiel, der in der „Nascha Sarja" Nr. 9/10 auf Grund<br />
der Angaben über einige hundert Wahlmänner verschiedener Kurien eine<br />
Bilanz zieht, muß zugeben, daß „es läcberUdb wäre", wenn man in dem<br />
sinkenden Prozentsatz der oppositionellen Wahlmänner (verglichen mit<br />
den Wahlen zur III. Duma) in der zweiten städtischen Kurie und in der<br />
bäuerlichen Kurie den Beweis für eine Rechtsschwenkung sehen wollte.<br />
Die einzige Kurie, bei der die Mymrezow, Chwostow, Tolmatschow, Muratow<br />
und Co. keine Fälschung vornehmen konnten, ist die erste städtische<br />
Kurie. Und diese zeigte ein Anwachsen der Zahl der „oppositionellen"<br />
Wahlmänner von 56% auf 67%, bei gleichzeitigem Rückgang der Oktobristen<br />
von 20% auf 12% und der Rechten von 24% auf 21%.<br />
Machten aber die „Erläuterungen" die Bedeutung der Wahlstatistik<br />
hinsichtlich der Wahhnänner zunichte, bekamen auch die demokratischen<br />
Klassen, die aus dem Kreis der Privilegierten des 3. Juni überhaupt ausgeschlossen<br />
sind, die ganze Pracht dieser Erläuterungen zu spüren, so<br />
zeigte sich bei den Wahlen dennoch die Stellung des Liberalismus zur<br />
Demokratie. In diesem Punkt ist dennoch objektives Material zusammengekommen,<br />
das es erlaubt, auf Grund der praktischen Erfahrungen das zu<br />
überprüfen, was die verschiedenen „Strömungen" vor den Wahlen dachten<br />
und sagten.<br />
Die Frage der Stellung des Liberalismus zur Demokratie ist keineswegs<br />
eine „nur die Parteien betreffende" Frage, d. h. eine Frage, die nur vom<br />
Standpunkt einer streng parteilichen Linie von Belang ist. Nein. Diese<br />
Frage ist die wesentlichste Frage für jeden, der die politische Freiheit in<br />
Rußland erstrebt. Es ist namentlich die Frage, wie das zu erreichen ist,<br />
was alle anständigen und ehrlichen Menschen in Rußland gemeinsam erstreben.<br />
Bei Eröffnung der Wahlkampagne im Jahre 1912 stellten die Marxisten
Die Ergebnisse der Wahlen 499<br />
gerade die Losungen des konsequenten Demokratismus im Gegensatz zur<br />
liberalen Arbeiterpolitik in den Vordergrund. Eine Überprüfung dieser<br />
Losungen ist in doppelter Hinsicht möglich: erstens auf Grund des Urteils<br />
und der Erfahrungen anderer Länder, zweitens auf Grund der Erfahrungen<br />
aus der Kampagne von 1912. Ob die Losungen der Marxisten richtig<br />
waren oder nicht, das muß jetzt daraus ersichtlich sein, welches Verhältnis<br />
in der 7at zwischen den Liberalen und den Demokraten entstanden ist.<br />
Der objektive Charakter dieser Überprüfung der Losungen besteht eben<br />
darin, daß nicht wir selber sie geprüft haben, sondern die Massen, und<br />
nicht nur die Massen schlechthin, sondern insbesondere unsere Qegner.<br />
Haben sich die Beziehungen zwischen den Liberalen und der Demokratie<br />
bei den Wahlen und im Ergebnis der Wahlen so gestaltet, wie' es<br />
die Marxisten erwartet hatten? oder so, wie es die Liberalen erwartet hatten?<br />
oder so, wie es die Liquidatoren erwartet hatten?<br />
Um über diese Frage Klarheit zu gewinnen, wollen wir uns zunächst<br />
dieser „Erwartungen" erinnern. Ganz zu Beginn des Jahres 1912, als die<br />
Frage der Wahlen eben erst aufgeworfen worden war und die Kadetten<br />
(auf ihrer Konferenz) das Banner der einheitlichen Opposition (d. h. der<br />
zwei Lager) und der Zalässigkeit von Blocks mit den linken Oktobristen<br />
entfalteten, stellte die Arbeiterpresse die Frage der Losungen in den Artikeln<br />
Martows und Dans im „Shiwoje Delo", F. L-kos 126 und anderer in<br />
der „Swesda" (Nr. 11 [47] und 24 [60] und „Shiwoje Delo" Nr. 2, 3<br />
und 8).<br />
Martow stellte die Losung auf: „Verdrängt die Reaktion aus ihren Positionen<br />
in der Duma"; Dan: „Entreißt die Duma den Händen der Reaktion."<br />
Martow und Dan warfen der „Swesda" vor, sie bedrohe die Liberalen<br />
und suche ihnen Dumasitze abzunötigen.<br />
Drei Positionen zeichneten sich deutlich ab:<br />
1. Die Kadetten sind für eine einheitliche Opposition (d. h. für die 2<br />
Lager) und für die Zulassung von Blocks mit den linken Oktobristen.<br />
2. Die Liquidatoren sind für die Losung: „Entreißt die Duma den Händen<br />
der Reaktion", erleichtert den Kadetten und Progressisten das „ An-die-<br />
Macht-Gelangen" (Martow in Nr. 2 des „Shiwoje Delo"). Den Liberalen<br />
sind keine Sitze für die Demokraten abzunötigen.<br />
3. Die Marxisten sind gegen die Losung „Entreißt die Duma den Händen<br />
der Reaktion", denn das heißt den Qutsbesitzer den Händen der
500 1/9.1. <strong>Lenin</strong><br />
Reaktion zu entreißen. „Die praktische Aufgabe bei den Wahlen besteht<br />
für uns durchaus nicht darin, ,die Reaktion aus ihren Positionen in der<br />
Duma zu verdrängen', sondern vielmehr darin, die Demokratie im allgemeinen<br />
und die Arbeiterdemokratie im besonderen zu stärken." (F. L-ko<br />
in Nr. 11 [47] der „Swesda".)* Den Liberalen muß man drohen, ihnen<br />
die Sitze abnötigen, den Kampf gegen sie aufnehmen, ohne sich durch<br />
das Geschrei von einer Schwarzhundertergefahr einschüchtern zu lassen<br />
(derselbe in Nr. 24 [60]**). Die Liberalen „gelangen zur Macht" nur<br />
dann, wenn die Demokratie trotz der Schwankungen des Liberalismus<br />
siegt.<br />
Die Divergenz zwischen den Marxisten und den Liquidatoren ist überaus<br />
tief und unüberbrückbar, mag manch einem gutmütigen Menschen<br />
eine Versöhnung des Unversöhnlichen in Worten noch so leicht erscheinen.<br />
„Entreißt die Duma den Händen der Reaktion" - das ist ein ganzer<br />
Ideenkreis, ein ganzes politisches System, das objektiv die Obergabe der<br />
Hegemonie an die Liberalen bedeutet. „Entreißt die Demokratie den Händen<br />
der Liberalen" ist das entgegengesetzte politische System, das darauf<br />
basiert, daß nur die Demokratie, die sich von den Liberalen unabhängig<br />
gemacht hat, fähig ist, die Reaktion tatsächlich zu erschüttern.<br />
Man sehe nur, was in der Tat bei der Schlacht herausgekommen ist,<br />
über die vor ihrem Beginn so viel gerätselt wurde.<br />
Nehmen wir als Zeugen für die Ergebnisse der Schlacht Herrn W. Lewizki<br />
aus der „Nascha Sarja" (Nr. 9/10) - diesen Zeugen wird wohl<br />
niemand der Parteinahme für die Linie der „Swesda" und der „Prawda"<br />
verdächtigen.<br />
Hören wir, was dieser Zeuge über die Ergebnisse der Schlacht in der<br />
zweiten städtischen Kurie aussagt - bekanndidi der einzigen Kurie, in<br />
der es eine wenn auch nur entfernte Ähnlichkeit mit „europäischen" Wahlen<br />
gab.und die es, wenn auch nur in ganz geringem Maße, ermöglicht, ein<br />
Fazit hinsichtlich der „Begegnungen" zwischen Liberalismus und Demokratie<br />
zu ziehen.<br />
Der Zeuge zählte 63 sozialdemokratische Kandidaturen, bei denen es<br />
in 5 Fällen einen erzwungenen Verzicht auf die Kandidatur gab, in 5 Fällen<br />
eine Vereinbarung mit anderen Parteien, während 53 Kandidaturen<br />
• Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 17, S. 482. Die <strong>Red</strong>.<br />
** Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 17, S. 553. Die <strong>Red</strong>.
Die Ergebnisse der Wahlen 501<br />
selbständig waren. Von diesen 53 Fällen kommen 4 auf 4 Großstädte,<br />
49 betreffen die Wahl der Wahlmänner.<br />
Von diesen 49 Fällen war in 9 nicht klar, gegen wen die Sozialdemokraten<br />
kämpften; in 3 Fällen gegen die Rechten (in allen drei Fällen Sieg<br />
der Sozialdemokraten); in einem Fall gegen die Trudowiki (Sieg der Sozialdemokraten);<br />
in den übrigen 36 Tällen - gegen die Liberalen (21 Siege<br />
der Sozialdemokraten; 15 Niederlagen).<br />
Greifen wir die russischen Liberalen heraus, so erhalten wir 21 Fälle<br />
des Kampfes der Sozialdemokraten gegen sie. Hier die Ergebnisse:<br />
Es siegten Summe<br />
Sozial- Qegner der der<br />
demokr. Sozialdem. Tätte<br />
Sozialdem. gegen Kadetten 7 8 15<br />
„ „ andere Liberale* 4 2 6<br />
Insgesamt 11 10 21<br />
Der Hauptgegner der Sozialdemokraten waren also die Liberalen (36<br />
Fälle gegenüber 3); die Waupfniederlagen braditen den Sozialdemokraten<br />
die Kadetten bei.<br />
Femer gab es von 5 Fällen der Vereinbarung in zwei Fällen eine allgemeine<br />
Verständigung der Opposition gegen die Rechten; in drei Fällen<br />
„kann man von einem linken Block gegen die Kadetten sprechen" (hervorgehoben<br />
von mir; „Nasdia Sarja" Nr. 9/10, S. 98). Die Vereinbarungen<br />
machen also weniger als Vio der Kandidaturen überhaupt aus. Von den<br />
Vereinbarungen waren 60% gegen die Kadetten gerichtet.<br />
Schließlich die Ergebnisse in den 4 Großstädten:<br />
Abgegebene Stimmen (Hödistzahlen)<br />
Riga<br />
St. Petersburg Moskau l.Wahl 2. WabJgang<br />
Für die Kadetten 19 376 20 310 3754 5517<br />
„ „ Sozialdemokraten 7686 9 035 4583 4570<br />
„ „ Oktobristen 4 547 2 030 3674 —<br />
„ „ Rechten 1990 1073 272<br />
„ „ Trodowild 1075 — — —<br />
In allen vier Großstädten kämpfen also die Sozialdemokraten gegen die<br />
"Kadetten, wobei in einem Fall die Kadetten im zweiten Wahlgang mit<br />
* Progressisten und Kadetten zusammen mit Progressisten oder Trudowild.
502 ' W. J. <strong>Lenin</strong><br />
Wje der Oktobristen siegen (indem sie den Kandidaten der „Baltischen<br />
Konstitutionellen Partei" zu den Oktobristen rechnen).<br />
Die Schlußfolgerungen des Zeugen selbst:<br />
„Das Monopol der Kadetten auf die Vertretung der städtischen Demokratie<br />
geht zu Ende. Die nächste Aufgabe der Sozialdemokraten auf diesem Gebiet ist<br />
es, dem Liberalismus die Vertretung in allen 5 Städten mit selbständiger Vertretung<br />
abzunehmen. Die psychologischen" (??) „und historischen" (und die<br />
ökonomischen?) „Voraussetzungen hierzu - die Linksschwenkung' des demokratischen<br />
Wählers, die Schwäche der Kadettenpolitik und das neue Erwachen<br />
der proletarischen Selbsttätigkeit - sind bereits vorhanden." („Nascha Sarja",<br />
zit. Heft, S. 97.)<br />
VI. DAS „ENDE" DER ILLUSIONEN<br />
OBER DIE KADETTENPARTEI<br />
1. Die Tatsachen haben bewiesen, daß die wirkliche Bedeutung aer kadettischen<br />
Losung von der „einheitlichen Opposition" oder den „zwei<br />
Lagern" in der Hintergehung der Demokratie bestand, darin, daß die Liberalen<br />
sich die Früchte des demokratischen Erwachens betrügerisch aneignen,<br />
daß sie dieses Erwachen der einzigen Kraft, die Rußland voranzubringen<br />
vermag, einengen, abstumpfen, schwächen.<br />
1. Die Tatsachen haben bewiesen, daß der einzige Wahlkampf, der<br />
einigermaßen einem „offenen", einem „europäischen" glich, gerade darin<br />
bestand, die Demokratie den Händen der Liberalen zu entreißen. Diese<br />
Losung war lebendiges Leben, diese Losung war der reale Ausdruck des<br />
vor sich gehenden Erwachens der neuen Demokratie zu einer neuen Bewegung.<br />
Die Losung der Liquidatoren „Entreißt die Duma den Händen der<br />
Reaktion" aber war eine faule Erfindung eines liberalen Intellektuellenzirkels.<br />
3. Die Tatsachen haben bewiesen, daß nur der „wütende" Kampf<br />
gegen die Kadetten, nur die „Kadettenfresserei", die uns die charakterlosen<br />
Diener der Liberalen, die Liquidatoren, zum Vorwurf machten, das<br />
wirkliche Erfordernis einer echten Massenkampagne ausdrückte, denn die<br />
Kadetten erwiesen sich in Wirklichkeit als noch schlechter, als wir sie dargestellt<br />
haben. Die Kadetten erwiesen sich als direkte Verbündete der
Die Ergebnisse der Wahlen 503<br />
Sdiwarzhtmderter gegen den Sozialdemokraten Predkaln, gegen den Sozialdemokraten<br />
Pokrowski! 127<br />
Das aber ist eine historische Wende in Rußland: die Schwarzhunderter,<br />
die in ihrem Kadettenhaß bis zur Verblendung gingen, den Hauptfeind in<br />
den Kadetten sahen, wurden durch den Verlauf der Ereignisse dazu gebracht,<br />
Kadetten gegen die Sozialdemokraten zu wählen. In dieser scheinbar<br />
geringfügigen Tatsache tritt eine große Verschiebung im System der<br />
Parteien zutage, die davon zeugt, wie oberflächlich im Grunde genommen<br />
die Angriffe der Schwarzhunderter auf die Kadetten waren und umgekebrtl<br />
wie leicht eigentlich Purischkewitsch und Miljukow sidb fanden,<br />
sich einig sahen gegen die Sozialdemokraten.<br />
Das Leben hat gezeigt, daß wir Bolschewiki die Möglichkeit von Blocks<br />
mit den Kadetten (im zweiten Stadium der Wahlen usw.) nicht nur nicht<br />
unterschätzten, sondern eher immer noch übersdhätztenl denn in der 7at<br />
gingen die Kadetten in einigen Fällen Blocks mit den Oktobristen gegen<br />
uns ein! Das heißt natürlich nicht, daß wir darauf verzichten sollten (wie<br />
einige unvernünftig eifrige gestrige Otsowisten und ihre Freunde es wolten),<br />
in einer Reihe von Fällen, in den Gouvernements-Wahlversammlungen<br />
zum Beispiel, unsere Blocks mit den Kadetten gegen die Rechten auszunutzen.<br />
Das bedeutet, daß unsere allgemeine Linie (3 Lager; die<br />
Demokratie gegen die Kadetten) vom Leben bestätigt und noch mehr<br />
bekräftigt worden ist.<br />
übrigens, die Herren Lewizki, Tscherewanin und andere Mitarbeiter<br />
der „Nasdha Sarja" haben mit lobenswertem Eifer und Fleiß wertvolles<br />
Material für unsere Wahlstatistik zusammengetragen. Schade, daß sie die<br />
Materialien - über die sie offenbar verfügten - über die Zahl der Fälle,<br />
in denen die Kadetten gegen die Sozialdemokraten direkte und indirekte<br />
Blocks mit den Oktobristen und den Rechten eingingen, nicht zusammengefaßt<br />
haben.<br />
Predkaln und Pokrowski stehen nicht allein da; in den Gouvernements-<br />
Wahlversammlungen gab es noch viele analoge Fälle. Man darf sie nicht<br />
vergessen. Ihnen muß man mehr Aufmerksamkeit widmen.<br />
Weiter. Unser „Zeuge", der die oben angeführten Schlußfolgerungen<br />
über die Kadetten ziehen mußte, hat überhaupt nicht bedacht, welche Einschätzung<br />
der Kadettenpartei denn durch diese Schlußfolgerungen bestätigt<br />
wird. Wer nannte die Kadetten eine Partei der städtischen Demo-
504 W. J. £eron<br />
kratie? Und wer wies seit März 1906 oder noch früher nach, daß sich diese<br />
liberale Partei durch Hintergehung des demokratischen Wählers hält?<br />
Jetzt singen die Liquidatoren wie Hans Weißnichtmehr: „Das Monopol<br />
der Kadetten geht zu Ende" ... Also gab es ein „Monopol"? Was heißt<br />
das? Monopol heißt Aufhebung der Konkurrenz. War die Konkurrenz der<br />
Sozialdemokraten gegen die Kadetten in den Jahren 1906 und 1907 in<br />
stärkerem Maße aufgehoben als im Jahre 1912??<br />
Herr W. Lewizki wiederholt eine vulgäre Phrase, ohne über den Sinn<br />
dessen nachzudenken, was er sagt. Unter Monopol versteht er „einfach",<br />
daß die Kadetten vorgeherrscht haben und daß das jetzt vorbei sei. Aber<br />
wenn ihr, ihr Herren, Marxisten sein wollt, dann müßt ihr doch wenigstens<br />
ein bißchen über die Frage des Klassencharakters der Parteien nachdenken,<br />
dann dürft ihr nicht so sorglos mit euren gestrigen Erklärungen umgehen.<br />
Sind die Kadetten eine Partei der städtischen Demokratie, dann ist ihr<br />
Vorherrschen kein „Monopol", sondern das Ergebnis der Klassenmteresseti<br />
der städtischen Demokratie! Hat sich aber ihr Vorherrschen — in einigen<br />
Jahren - als „Monopol" erwiesen, d. h. als irgend etwas vom Standpunkt<br />
der allgemeinen und grundlegenden Gesetze des Kapitalismus und<br />
des Wechselverhältnisses der Klassen in der kapitalistischen Gesellschaft<br />
Zufälliges und Anormales, dann waren also diejenigen, die die Kadetten<br />
für eine Partei der städtischen Demokratie hielten, Opportunisten, erlagen<br />
sie einem Augenblickserfolg, beugten sie sich vor dem modischen<br />
Glanz des Kadettismus, wechselten sie von der marxistischen Kritik an den<br />
Kadetten zur liberalen Liebedienerei hinüber.<br />
Die Schlußfolgerung des Herrn W. Lewizki bestätigt völlig, Wort ]ür<br />
Wort, den 1907 gefaßten Londoner Beschluß der Bolsdiewiki über die<br />
Klassennatur der Kadettenpartei, den die Menschewiki fanatisch bestritten.<br />
Wenn die städtische Demokratie den Kadetten gefolgt ist „aus 7radition<br />
und weil sie von den Liberalen direkt betrogen wird", wie es in diesem<br />
Beschluß heißt, dann ist völlig begreiflich, daß die schweren Lehren der<br />
Jahre 1908-1911 die „konstitutionellen Illusionen" zerstreut, die „Tradition"<br />
erschüttert, den „Betrug" enthüllt und dadurch das „Monopol" gebrochen<br />
haben.<br />
Heutzutage vergißt man allzuoft gewollt und ungewollt die Vergangenheit,<br />
ist man im höchsten Grade leichtfertig gegenüber den exakten, direk-
Die Ergebnisse der Wahlen 505<br />
ten, klaren Antworten auf alle wichtigen Fragen der Politik und gegenüber<br />
der Überprüfung dieser Antworten durch die reichen Erfahrungen der<br />
Jahre 1905-1907 und 1908-1912. Nichts ist für die erwachende Demokratie<br />
so verderblich wie ein solches Vergessen und eine solche Leichtfertigkeit.<br />
VII. ÜBER DIE „RIESIGE GEFAHR<br />
FÜR DEN GRUNDBESITZ DES ADELS"<br />
Das Fazit des Wahlkampfes ziehend, errechnet Herr Tscherewanin, daß<br />
die Opposition „rein künstlich, nur durch ganz und gar außerordentliche<br />
Maßnahmen um 49 Sitze gebracht worden ist". Fügt man diese Sitze den<br />
tatsächlich eroberten hinzu, so ergibt das, nach seiner Meinung, die Zahl<br />
207, d. h. insgesamt 15 weniger als die absolute Mehrheit. Die Schlußfolgerung<br />
des Autors: „Auf der Basis des Systems des 3. Juni, ohne künstliche<br />
außerordentliche Maßnahmen, hätte die adlig-fronherrliche Reaktion<br />
bei den Wahlen eine vollständige und entscheidende (??!) Niederlage<br />
erlitten."<br />
„Angesichts dieser riesigen Gefahr für den Grundbesitz des Adels", fährt der<br />
Autor fort, seien die Zusammenstöße der Popen mit den Gutsbesitzern belanglos<br />
(S. 85. des zit Hefts).<br />
Da haben wir die Folgen der Losung: „Entreißt die Duma den Händen<br />
der Reaktion"! Tscherewanin hat Martow empfindlich gestraft, indem er<br />
dessen Losung ad absurdum führt und sozusagen zusammen mit den „Ergebnissen<br />
des Wahlkampfes" die Ergebnisse der liquidatorischen Illusionen<br />
fixiert.<br />
Eine progressistisch-kadettische Mehrheit in der IV. Duma würde eine<br />
„riesige Qefabr für den Qrundbesitz des Adels" darstellen! Das ist geradezu<br />
eine Perle!<br />
Aber das ist kein Schnitzer, sondern das unausbleibliche Ergebnis des<br />
ganzen ideologischen Inhalts, den die Liberalen und die Liquidatoren der<br />
Wahlkampagne geben wollten.<br />
Gewaltige Erhöhung der Rolle der Progressisten im Vergleich zu den<br />
Kadetten, Verkörperung des ganzen Renegatentums (Wechismus) der Kadetten<br />
in der Politik durch diese Progressisten, faktischer Übergang der<br />
Kadetten selber, in aller Stille, auf die Positionen des Progressismus -<br />
33 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>
506 W. 3. <strong>Lenin</strong><br />
alles das wollten die Liquidatoren nicht sehen, und alles das brachte sie zu<br />
der „Tsdierewaninsdien" Perle. „Man soll nicht zuviel von dem konterrevolutionären<br />
Charakter der Kadetten sprechen", so öder annähernd so<br />
schrieb einst der Trudowik (Volkstümler und Liquidator) Herr Wodowosow.<br />
Ganz dieselbe Auffassung vertraten auch unsere Liquidatoren.<br />
Sie haben sogar die Lehre der III. Duma vergessen, wo der Kadett<br />
Beresowski in einer offiziellen <strong>Red</strong>e das Agrarprogramm der Kadetten<br />
„erläuterte" und nachwies, daß es für die adligen Gutsbesitzer vorteilhaft<br />
sei. Und jetzt, im Jahre 1912, von der „oppositionellen" Gutsbesitzerduma,<br />
von den Progressisten, diesen lediglich etwas verkleideten Oktobristen,<br />
eine „riesige Gefahr für den Grundbesitz des Adels" zu erwarten...<br />
Hören Sie, Herr Tscherewanin... phantasieren Sie, aber halten Sie Maß!<br />
Es gibt eine vortreffliche Illustration der Wahlergebnisse in Verbindung<br />
mit dem Tscherewaninschen Ergebnis der Liquidatorentaktik. Die IV.<br />
Duma hat mit 132 Stimmen bei 78 Gegenstimmen den von den Progressisten<br />
eingebrachten Antrag auf Übergang zur Tagesordnung angenommen.<br />
Kein anderer als der Oktobrist Antonow äußerte offiziell seine völlige<br />
Befriedigung über die höchst banale, leere Formulierung dieses Antrags,<br />
den die Oktobristen nicht anders hätten formulieren können! Natürlich<br />
hat Herr Antonow recht. Die Progressisten brachten einen rein oktobristischen<br />
Antrag ein. Die Progressisten spielten wiederum die Rolle der Versöhner<br />
zwischen Oktobristen und Kadetten.<br />
Der Oktobrismus ist zerschlagen, es lebe der Oktobrismus! „Zerschlagen"<br />
ist der Oktobrismus Gutschkows, es lebe der Oktobrismus<br />
Je^fremows und Lwows*.<br />
VIII. DIE TARNUNG DER NIEDERLAGE<br />
Uns ist noch die Aufgabe verblieben, die Ergebnisse der Wahlen in der<br />
wichtigsten Kurie, der Arbeiterkurie, zu untersuchen.<br />
• Die „Retsdi" vom 16. Dezember versichert, daß auch die Sozialdemokraten<br />
für die niederträchtige Formulierung der Progressisten gestimmt haben.<br />
Das ist kaum glaublich. Die „Prawda" bringt nichts darüber. Möglicherweise<br />
hat man die sitzengebliebenen (oder zum Weggehen auf gestandenen?) Sozialdemokraten<br />
als Ja-Stimmen „gezahlt".
Die Ergebnisse der Wahlen 507<br />
Daß diese Kurie auf Seiten der Sozialdemokraten steht, daran zweifelte<br />
und zweifelt niemand. Hier wurde schon nicht mehr gegen die Volkstümler<br />
gekämpft: sie leisteten dem volkstümlerischen Liquidatorentum (dem<br />
„Potschin" 128 in Paris und den Volkssozialisten in Petersburg) und dem<br />
volkstümlerischen Otsowismus keinen Widerstand, und dieser mangelnde<br />
Widerstand gegenüber den Zerfallstendenzen machte die linken Volkstümler<br />
zu einer W«H.<br />
Der Kampf in der Arbeiterkurie spielte sich ausschließlich zwischen den<br />
Marxisten und den liberalen Arbeiterpolitikern, den Liquidatoren, ab. Die<br />
Marxisten proklamierten im Januar 1912 klar und deutlich, offen und<br />
ohne schmähliche Ausflüchte die Unzulässigkeit von Abkommen in der<br />
Arbeiterkane (und nur in ihr) mit den Zerstörern der Arbeiterpartei.*<br />
Das ist eine allbekannte Tatsache. Allbekannt ist auch, daß sogar der<br />
Versöhner Plechanow die Augustkonferenz der Liquidatoren als „jämmerlich",<br />
als liquidatorisch (entgegen den Beteuerungen der „Nascha Sarja")<br />
und ihre Resolutionen als „Diplomatie", d. h. offener gesagt, als Betrug bezeichnet<br />
hat.<br />
Was zeigten nun die Ergebnisse der Wahlen?<br />
Haben sie objektives Material zu der Frage, in welchem Verhältnis zur<br />
Wirklichkeit die Januar- und die Augusterklärungen standen, geliefert<br />
oder nicht? Auf wessen Seite standen die Gewählten der Arbeiterklasse?<br />
Darüber liegt ganz exaktes statistisches Material vor, das die Liquidatoren<br />
(vergebens!) zu vertuschen, zu verdecken, hinter Geschrei und Geschimpfe<br />
zu verbergen suchen.<br />
Beginnend mit der zweiten Duma (die erste wurde von der Mehrheit<br />
der Sozialdemokraten boykottiert), gibt es eine genaue Aufstellung der<br />
auf die verschiedenen „Strömungen" in der sozialdemokratischen Partei<br />
verteilten Dumaabgeordneten aus der Arbeiterkurie. Hier die entsprechenden<br />
Daten:<br />
Abgeordnete der Reichsduma, hervorgegangen aus der Arbeiterkurie:<br />
II.<br />
III.<br />
rv.<br />
Duma (1907)<br />
„ (1908-1912)<br />
. (1912)<br />
Menschewiki<br />
12<br />
4<br />
3<br />
Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 17, S. 460. Die <strong>Red</strong>.<br />
BolsdiewäH<br />
11<br />
4<br />
6<br />
Prozentsatz<br />
der letzteren<br />
47<br />
50<br />
67
508 'W.I.Lettin<br />
Diese Zahlen sprechen für sich selbst!<br />
1907 hatten, nach offizieller Zählung, die Bolschewiki die Mehrheit in<br />
der Partei (105 bolschewistische Delegierte und 97 menschewistische Delegierte).<br />
Also, 47% in der Arbeiterkurie (die ganze Fraktion bestand<br />
aus <strong>18</strong> Bolschewiki + 36 Menschewiki = 54) entsprachen etwa 52% in<br />
der Arbeiterpartei.<br />
Im Jahre 1912 sind zum erstenmal alle sechs Abgeordneten der Xurien<br />
Bolschewiki. Bekanntlich sind diese 6 Gouvernements die wichtigsten Industriegouvernements.<br />
Bekanntlich ist in ihnen ein ungleich größerer Teil<br />
des Proletariats konzentriert als in den anderen Gouvernements. Daher<br />
ist zu verstehen - und durch einen Vergleich mit 1907 völlig erwiesen -,<br />
daß 67% in der Arbeiterkurie mehr als 70% in der Arbeiterpartei bedeuten.<br />
In der Zeit der dritten Duma, als die Intelligenz der Arbeiterpartei den<br />
Rücken kehrte und die Liquidatoren das rechtfertigten, wandten sich die<br />
Arbeiter von den Liquidatoren ab. Das Ausscheiden des Liquidators<br />
Beloussow aus der sozialdemokratischen Fraktion der III. Duma und das<br />
Einschwenken dieser ganzen (zu 3 /4menschewistischen) Fraktion vom Menschewismus<br />
zum Antiliqnidatorentum* waren Symptome und sichere Merkmale<br />
dafür, daß sich derselbe Prozeß in der Arbeiterschaft vollzieht. Und<br />
die Wahlen zur IV. Duma haben das bewiesen.<br />
In der „Nascha Sarja" ärgern sich deshalb Oskarow, Martow, Tscherewanin,<br />
Lewizki usw. unglaublich, und sie geben Hunderte von „Komplimenten"<br />
a la Purisdikewitsch an die Adresse des „sektiererischen", „<strong>Lenin</strong>schen"<br />
„Zirkels" von sich.<br />
Ein schöner Zirkel und ein schönes Sektierertum, deren Anteil an der<br />
Arbeiterkurie in den Jahren 1908-1912 unentwegt wächst^bis zu 67%<br />
dieser Kurie in der IV. Duma! Ungeschickte Polemiker, diese Liquidato-<br />
* Der Liquidator Oskarow gibt diese unbestreitbare Tatsache in einer erheiternden<br />
Form zu: die Bolschewiki „haben erreidbt, was sie wollten: im verantwortungsvollsten<br />
Augenblick spalteten sie faktisch, wenn nicht formell, die<br />
Fraktion" („Nascha Sarja", zit. Heft, S. 3) - die Fraktion in der III. Duma. Als<br />
„Spaltung" wird hier entweder das Ausscheiden des Liquidators Beloussow bezeichnet<br />
oder die Tatsache, daß von den Mitgliedern der Fraktion 2 in einer<br />
Liquidatorenzeitung, 8 in einer antiliquidatorischen Zeitung und die übrigen<br />
neutral waren.
Die Ergebnisse der Wahlen 509<br />
ren. Sie beschimpfen* uns, was das Zeug hält, heraus aber kommt das<br />
beste Kompliment für uns.<br />
Strittige Fragen durch vieles Geschrei, Geschimpfe und durch leere Beteuerungen<br />
lösen zu wollen ist die gewöhnliche Manier eben von Intellektuellenzirkeln.<br />
Die Arbeiter ziehen etwas anderes vor: objektioe Daten.<br />
In Rußland aber, bei seiner jetzigen politischen Lage, gibt es keinen anderen<br />
objektiven Maßstab für die Stärke und den Einfluß der einen oder der<br />
anderen Strömung in den Arbeitermassen als die Arbeiterpresse und die<br />
Arbeiterkurie der Duma, kann es keinen anderen geben.<br />
Deshalb, ihr Herren Liquidatoren, je mehr ihr in der „Nascha Sarja"<br />
und im „Lutsch" lärmen und schimpfen werdet, um so ruhiger werden<br />
wir den Arbeitern die Frage stellen: Nennt ein anderes objektives Kriterium<br />
für die Verbindung mit den Massen als die Arbeiterpresse und die<br />
Arbeiterkurie in der Duma.<br />
Mögen die Leser, die man mit Geschrei über den „sektiererischen"<br />
„Zirkel <strong>Lenin</strong>s" u. dgl. m. betäuben will, in aller Ruhe über diese objektiven<br />
Daten über die Arbeiterpresse und die Arbeiterkurie in der Duma<br />
nachdenken. Diese objektiven Daten zeigen, daß die Liquidatoren lännen,<br />
um ihre völlige Niederlage zu verbergen.<br />
Besonders lehrreich aber ist es, die Entstehung des „Lutsch", der auf<br />
Grund privater Initiative erstmals am Jage der "Wahlen erschien, und die<br />
Entstehung der „Prawda" miteinander zu vergleichen. Die Aprilwelle der<br />
Arbeiterbewegung zählt zu den größten, den historischen Wellen der proletarischen<br />
Massenbewegung in Rußland. Hunderttausende von Arbeitern<br />
haben sich, nach Berechnungen sogar der Fabrikanten, an dieser Bewegung<br />
beteiligt. Und diese Bewegung selbst bat, als ihr Nebenprodukt, die<br />
* Die Liquidatoren umgehen die Wahlergebnisse in der Arbeiterkurie und<br />
machen lieber Lärm um Petersburg: es sei eine Schande! Natürlich ist es eine<br />
Schande, ihr Herren! Schande über die, gegen die der vorher veröffentlichte,<br />
d.h. von der Organisation vertretene "Wählerauftrag angenommen wurde.<br />
Eine Person entgegen dem Wählerauftrag durchzubringen ist schändlich. Noch<br />
schändlicher war es, die Entscheidung durch das Los abzulehnen, als das Ergebnis<br />
drei zu drei stand. Der in Petersburg bekannte „Prawdist" P. forderte den<br />
Liquidator M. direkt auf, das Los entscheiden zu lassen, jener aber lehnte ab!!<br />
Schande über die Liquidatoren wegen ihres Verhaltens bei den Petersburger<br />
Wahlen!
510 IV. 1. <strong>Lenin</strong><br />
„Vrawda" geschaffen: sie stärkte zunächst die „Swesda" und machte aus<br />
dieser Wochenzeitung eine alle zwei Tage erscheinende Zeitung, dann<br />
steigerte sie die Zahl der Arbeitersammlungen für die „Prawda" auf 76<br />
im März und 227 im April (wobei nur die Sammlungen von Arbeitergruppen<br />
gerechnet sind).<br />
Wir haben ein klassisches Beispiel dafür vor uns, wie eine Bewegung,<br />
der ein reformistischer Charakter völlig fremd ist, als Nebenprodukt<br />
Reformen oder Zugeständnisse oder eine Erweiterung des Rahmens usw.<br />
ergibt.<br />
Die Reformisten begehen Verrat an der Arbeiterbewegung, wenn sie<br />
den großen Aufschwung unter reformistische Losungen stellen (wie es<br />
unsere Liquidatoren tun). Die Gegner des Reformismus aber sind nicht<br />
nur den uneingeschränkten Losungen des Proletariats treu, sie erweisen<br />
sich auch als die besten „Praktiker": gerade der allgemeine Aufschwung,<br />
gerade die uneingeschränkten Losungen gewährleisten jene Kraft, die als<br />
Nebenprodukt ein Zugeständnis, eine Reform, eine Erweiterung des Rahmens<br />
ergibt, die die oberen Schichten wenigstens zeitweilig zwingt, die unangenehme<br />
Belebung der unteren Schichten zu dulden.<br />
Als die Liquidatoren in den Jahren 1908-1912 die „Illegalität" beschimpften,<br />
die „Abkehr" von ihr zu rechtfertigen suchten, von einer<br />
„legalen Partei" faselten, kehrte ihnen die ganze Arbeiterkurie den Rükken,<br />
und sie konnten das erste und große Anschwellen der April- und Maiwelle<br />
nicht-nutzen!<br />
Herr Martow gibt in der „Nascha Sarja" diesen für ihn traurigen Umstand<br />
zu, wobei er dieses Eingeständnis in eine besonders spaßige Form<br />
kleidet. Er beschimpft die Gruppen der Plechanow- und „Wperjod"-<br />
Leute, bezeichnet sie als Nullen, diese Gruppen, die noch gestern von den<br />
Liquidatoren selbst entgegen unserer Forderung, nur mit den russischen<br />
Organisationen zu rechnen, „Zentren" und Strömungen genannt wurden.<br />
Und Martow gibt mit Bitterkeit, mit Ingrimm, mit einer Fülle giftiger (auf<br />
Bureninsche Art giftiger) Worte zu, daß der „<strong>Lenin</strong>sche" „sektiererische<br />
Zirkel" „standgehalten" habe, „sogar zum Angriff übergeht", „auf<br />
Schauplätzen erstarkt ist, die mit Illegalität nichts zu tun haben" („Nascha<br />
Sarja", zit. Heft, S. 74).<br />
Aber dieses ganze Eingeständnis Martows zwingt uns ein Lächeln ab.<br />
Die menschliche Natur ist so beschaffen, daß wir schadenfroh lachen, wenn
Die Ergebnisse der Wahlen 511<br />
der Feind einen Fehler macht, wir uns aber manchmal wie Kinder ärgern,<br />
wenn er einen richtigen Schritt tut.<br />
Wir danken für das Kompliment, das Sie, ein liberaler Liquidator, uns<br />
machen mußten! Seit Ende 1908 bestehen wir auf der Ausnutzung der<br />
legalen Formen der Bewegung, im Frühjahr 1909 haben wir deshalb mit<br />
einer Reihe von Freunden gebrochen. 129 Und wenn wir auf diesen „Schauplätzen"<br />
stark waren, so nur deshalb, weil wir nicht der Form halber den<br />
Geist opferten. Um die Form rechtzeitig auszunutzen, um den Aufschwung<br />
vom April zu erfassen, um die für einen Marxisten wichtige Sympathie<br />
der Arbeiterkurie zu gewinnen, durfte man das Alte nicht zurückweisen,<br />
durfte man nicht zum Renegaten gegenüber dem Alten werden, mußte<br />
man seine Traditionen, seine materiellen Substrate unerschütterlich verteidigen.<br />
Gerade diese Ideen durchdrangen den Aufschwung vom April,<br />
gerade sie herrschten in der Arbeiterkurie von 1912 vor, und nur wer<br />
ihnen auf allen Schauplätzen und in allen Formen treu war, konnte mit<br />
diesem Aufschwung und mit dieser Kurie Schritt halten.<br />
.Proswesdotsdhenije" Nr. l, Tiadh dem 7ext der Zeitschrift.<br />
Januar 1913.<br />
Unterschrift: TV.lljin.
512<br />
DAS LEBEN LEHRT<br />
Wer sidi ernsthaft für die Geschicke der Befreiungsbewegung in unserem<br />
Land interessiert, muß sich in erster Linie für unsere Arbeiterbewegung<br />
interessieren. Die Jahre des Aufschwungs wie auch die Jahre der<br />
Konterrevolution haben mit aller Deutlichkeit gezeigt, daß die Arbeiterklasse<br />
an der Spitze aller Kräfte der Befreiungsbewegung marschiert und<br />
daß deshalb das Schicksal der Arbeiterbewegung aufs engste mit dem<br />
Schicksal der russischen gesellschaftlichen Bewegung überhaupt verflochten<br />
ist.<br />
Man nehme die Kurve der Streikbewegung der Arbeiter während der<br />
letzten acht Jahre! Und man versuche, eine ebensolche Kurve zu zeichnen,<br />
die das Ansteigen und den Rückgang der gesamten russischen Befreiungsbewegung<br />
überhaupt in diesen Jahren darstellt. Beide Kurven werden<br />
völlig übereinstimmen. Die Befreiungsbewegung in ihrer Gesamtheit einerseits<br />
und die Arbeiterbewegung anderseits stehen in engstem, unlösbarem<br />
Zusammenhang.<br />
Schauen wir uns die Angaben über die Streikbewegung in Rußland,<br />
beginnend mit dem Jahre 1905, näher an:<br />
Jahr<br />
1905<br />
1906<br />
1907<br />
1908<br />
1909<br />
1910<br />
1911<br />
1912<br />
Anzahl der Streiks Zahl der Teilnehmer<br />
(in 1000)<br />
13 995<br />
2 863<br />
6114<br />
1108<br />
3 573<br />
740<br />
892<br />
176<br />
340<br />
64<br />
222<br />
47<br />
466<br />
105<br />
annähernd 1.5 Millionen Teilnehmei<br />
und politische Streiks).
Das Leben lehrt 513<br />
Zeigen diese Zahlen nicht auf das anschaulichste, daß die Streikbewegung<br />
der russischen Arbeiter das beste Barometer für den Befreiungskampf<br />
des ganzen Volkes in Rußland ist?<br />
Der höchste Aufschwung (1905) weist nahezu 3 Millionen Streikende<br />
auf. 1906 und 1907 geht die Bewegung zurück, bleibt aber noch auf einem<br />
sehr hohen Stand mit durchschnittlich 1 Million Streikender. Dann beginnt<br />
die Bewegung schnell abzusinken, und sie geht zurüde bis 1910 einschließlich.<br />
Das Jahr 1911 ist das Jahr des Umschwungs. Die Kurve beginnt<br />
- wenn auch noch zaghaft - zu steigen. 1912 ist das Jahr eines neuen gewaltigen<br />
Aufschwungs. Die Kurve steigt unentwegt bis zum Stand von<br />
1906 und hält offensichtlich Kurs auf jenes Jahr, da die Zahl von 3 Millionen<br />
den Weltrekord brach.<br />
Eine neue Epoche ist angebrochen. Daran kann jetzt keinerlei Zweifel<br />
bestehen. Der Beginn des Jahres 1913 ist die beste Bürgschaft hierfür. Von<br />
einzelnen Jeilfragen geht die !Masse der Arbeiter dazu über, die allgemeine<br />
Frage zu stellen. Die Aufmerksamkeit der breitesten Massen<br />
konzentriert sich schon nicht mehr nur auf einzelne Mißstände unseres<br />
russischen Lebens. Es wird die Frage nach der Qesamtbeit dieser Mißstände<br />
gestellt, es geht nicht um Reformen, sondern um die Reform.<br />
Das Leben lehrt. Der lebendige Kampf löst am besten jene Fragen,<br />
die noch vor kurzem so umstritten waren. Man betrachte jetzt, nach<br />
1912, beispielsweise unsere Streitigkeiten über die „Petitionskampagne"<br />
und über die Losung „Koalitionsfreiheit". Was hat die Erfahrung gezeigt?<br />
Auch nur einige zehntausend Unterschriften der Arbeiter für eine sehr<br />
gemäßigte Petition zu sammeln erwies sich als unmöglich. Aber eine<br />
Million Teilnehmer allein an politischen Streiks wurde zur Tatsache. Das<br />
Gerede, man dürfe nicht über die Losung „Koalitionsfreiheit" hinausgehen,<br />
weil uns die Massen sonst nicht verstünden, sie nicht zu mobilisieren<br />
seien, erwies sich als leeres und müßiges Gerede vom Leben losgelöster<br />
Menschen. Die lebendigen, wirklichen Millionenmassen ließen sich<br />
gerade unter den umfassendsten, den alten, uneingeschränkten Losungen<br />
mobilisieren. Allein diese Losungen entzündeten den Enthusiasmus der<br />
Massen. Wer tatsächlich mit den Massen zusammenging und wer ohne sie<br />
und gegen sie ging, das ist jetzt zur Genüge überzeugend bewiesen worden.
514 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />
Die lebensvolle, energische, mächtige Bewegung der Massen selbst fegt<br />
die am Schreibtisch ausgeheckten künstlichen Rezepte als untauglichen<br />
Plunder hinweg und schreitet vorwärts, immer vorwärts.<br />
Darin liegt der historische Sinn der sich vor unseren Augen abspielenden<br />
grandiosen Bewegung.<br />
.Trawäa" SVr. 15, Tfaä) dem Text der „Trawda".<br />
19. Januar 1913.
EINE NEUE DEMOKRATIE<br />
515<br />
In den „Bunten Betrachtungen" der Neujahrsnummer der „Retsch" berührte<br />
Herr Tan eine wichtige Frage, der die Arbeiter ernste Aufmerksamkeit<br />
schenken sollten. Es ist die Frage des Heranwachsens einer neuen<br />
Demokratie.<br />
„.Seit etwa einem Jahr schon oder wohl noch länger", schreibt Herr Tan,<br />
„beginnt das Flußbett des Lebens sich wieder zu wandeln und aufzutauen. Statt<br />
zu sinken, steigt das Wasser, weiß Gott woher, aus unterirdischen Adern und<br />
fernen Quellen. Drei Jahre lang war alles ruhig und leer. Jetzt tauchen Leute<br />
auf, kriechen einer nach dem anderen aus verschiedenen Spalten und Krähwinkeln<br />
hervor...<br />
Am interessantesten sind die Leute bäuerlichen Standes, die von unten her<br />
gekommen sind. Ihre Zahl ist Legion. Sie haben die mittleren Bereiche des<br />
Lebens erobert und greifen sogar nach den höheren, besonders in der Provinz.<br />
Techniker, Rechnungsführer, Agronomen, Lehrer, allerlei Semstwoangestellte.<br />
Alle gleichen einander. Grau im Gesicht, von breitem Knochenbau, ungeschlachtem<br />
Äußeren; zu Reflexionen nicht geneigt, im Gegenteil, zählebig wie<br />
Katzen ... Das Leben hat offenbar eine neue Stufe erklommen, denn wir<br />
Rasnotschinzen nehmen zu ihnen eine Stellung ein wie einstmals die Adligen<br />
zu uns."<br />
Treffend und richtig gesagt, obwohl man nicht vergessen sollte, daß die<br />
alten Rasnotschinzen wie die neuen, die Rasnotschinzen „bäuerlichen Standes",<br />
die demokratische Intelligenz und Halbintelligenz, der Bourgeoisie<br />
zugehören zum Unterschied von den adligen Fronherren.<br />
Die Bourgeoisie besteht aber aus verschiedenen Schichten, für die verschiedene<br />
historische Möglichkeiten charakteristisch sind. Die Spitzen der<br />
Bourgeoisie und die reiche bürgerliche Intelligenz, Advokaten, Professoren,
516 TV. 1. <strong>Lenin</strong><br />
Journalisten, Abgeordnete usw., tendieren fast immer zu einem Bündnis<br />
mit den Purischkewitsch. Mit ihnen ist diese Bourgeoisie durch tausend<br />
ökonomische Fäden verbunden.<br />
Umgekehrt sind die bäuerliche Bourgeoisie und die neue Intelligenz,<br />
die Intelligenz „bäuerlichen Standes", durch tausend Fäden mit den Massen<br />
der rechtlosen, unterdrückten, unwissenden, Hunger leidenden Bauernschaft<br />
verbunden und auf Grund aller ihrer Lebensbedingungen gegen<br />
jeglidies Purischkewitsdiregime, gegen jegliches Bündnis mit ihm.<br />
Diese neue, zahlreichere, dem Leben der Millionen näherstehende Demokratie<br />
lernt, erstarkt und wächst rasch. Sie ist meistenteils von unbestimmten<br />
oppositionellen Stimmungen erfüllt, nährt sich von liberalem<br />
Plunder. Den klassenbewußten Arbeitern fällt die große und verantwortungsvolle<br />
Aufgabe zu, dieser Demokratie behilflich zu sein, sich von<br />
dem Einfluß der liberalen Vorurteile zu befreien. Nur in dem Maße, wie<br />
sie diese Vorurteile überwinden, die jämmerlichen liberalen Illusionen abwerfen,<br />
mit den Liberalen brechen und die Hand den Arbeitern reichen<br />
wird, ist es ihr, der neuen Demokratie in Rußland, bescbieden, für die<br />
Sache der Freiheit etwas Ernstes zu tun.<br />
„Trawda" 9Vr. 15, Tdadj dem 7ext der .Prawda'.<br />
i9.Januar I9i3.<br />
Untersdnift: 7.
OBER DIE VOLKSTÜMLERIDEOLOGIE<br />
517<br />
Herr A. W. P. 130 hat in Nr. 12 des „Russkoje Bogatstwo" einen „Leitartikel<br />
über ein „aktuelles" Thema unter der Überschrift „Volkssozialismus<br />
oder proletarischer Sozialismus?" geschrieben.<br />
Dieser Artikel ist an sich äußerst unseriös und inhaltslos. Solch leeres<br />
Gerede, ein solches Schwelgen in ausweichenden, hohlen Phrasen, einen<br />
solchen Mischmasch von Ansichten (Eklektizismus) haben wir schon lange<br />
nicht mehr in den „Leitartikeln der als seriös geltenden Volkstümlerzeitschrift<br />
gesehen.<br />
Der Artikel ist jedoch dadurch charakteristisch, daß er die überaus ernste<br />
und aktuelle Frage des Zerfalls der Volkstümlerrichtung berührt. Die<br />
Volkstümlerideologie ist die Ideologie (das System der Anschauungen)<br />
der bäuerlichen Demokratie in Rußland. Deshalb muß jeder klassenbewußte<br />
Arbeiter aufmerksam verfolgen, wie sich diese Ideologie verändert.<br />
I<br />
Die Volkstümlerideologie ist sehr alt. Als ihre Stammväter gelten Herzen<br />
und Tschernyschewski. Ihre Blütezeit hatte die aktive Volkstümlerrichtung,<br />
als die Revolutionäre der siebziger Jahre „ins Volk" (in die<br />
Bauernschaft) gingen. Die ökonomische Theorie der Volkstümler entwickelten<br />
am geschlossensten W. W. (Woronzow) und Nikolai-on m in<br />
den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Anfang des 20. Jahrhunderts<br />
wurden die Anschauungen der linken Volkstümler am eindeutigsten<br />
von den Sozialrevolutionären zum Ausdruck gebracht.<br />
Die Revolution von 1905, die alle gesellschaftlichen Kräfte Rußlands
5<strong>18</strong> TV. J. <strong>Lenin</strong><br />
in der offenen, von den Massen getragenen Aktion der Klassen zeigte, ergab<br />
eine generelle Oberprüfung der Volkstümlerideologie und bestimmte<br />
ihren Platz. Die bäuerliche Demokratie - das ist der einzige reale Inhalt<br />
und die einzige gesellschaftliche Bedeutung der Volkstümlerrichtung.<br />
Die russische liberale Bourgeoisie ist ihrer ökonomischen Lage nach gezwungen,<br />
nicht die "Beseitigung der Privilegien von Purischkewitsch und<br />
Co., sondern deren Aufteilung unter die Fronherren und die Kapitalisten<br />
anzustreben. Umgekehrt muß die bürgerliche Demokratie in Rußland — die<br />
Bauernschaft - die "Beseitigung aller dieser Privilegien erstreben.<br />
Phrasen über „Sozialismus" im Munde der Volkstümler, über „Sozialisierung<br />
des Grund und Bodens", Ausgleichung u. dgl. m. sind bloße Worte,<br />
die die reale Tatsache verhüllen, daß die Bauern die völlige Gleichheit in<br />
der Politik und die völlige Beseitigung des fronherrlichen Grundbesitzes<br />
erstreben.<br />
Die Revolution von 1905 enthüllte vollends diesen sozialen Kern der<br />
Volkstümlerrichtung, diese ihre Klassennatur. Die Bewegung der Massen -<br />
in der Form der Bauernverbände von 1905, in der Form des Kampfes der<br />
Bauern in den Dörfern in den Jahren 1905 und 1906, in der Form der<br />
Wahlen zu den beiden ersten Dumas (Bildung der ,,Trudowiki"gruppen)<br />
- alle diese großen sozialen Tatsachen, die uns Millionen Bauern in Aktion<br />
zeigten, fegten die volkstümlerische, scheinsozialistische Phrase wie Staub<br />
hinweg und enthüllten den Kern: die bäuerliche (bürgerliche) Demokratie<br />
mit einer ungeheuren, noch nicht ausgeschöpften Kräftereserve.<br />
Wen die Erfahrungen der großen Epoche in dem neuen, modernen<br />
Rußland nicht gelehrt haben, den realen Inhalt der Volkstümlerideologie<br />
von ihrer Worthülle zu unterscheiden, dem ist nicht zu helfen, den kann<br />
man nicht ernst nehmen, der kann ein mit Worten spielender Publizist<br />
sein (wie A. W. P. vom „Russkoje Bogatstwo"), aber kein Politiker.<br />
Im nächsten Artikel werden wir den Zerfall der Volkstümlerrichtung<br />
und diesen Publizisten näher betrachten.<br />
n<br />
Die Erfahrungen des Jahres 1905 sind gerade deshalb von so großer Bedeutung,<br />
weil sie zu einer Überprüfung der Theorie der Volkstümler an<br />
Hand der "Bewegung der Massen gezwungen haben. Und diese Uberprü-
Tiber die Volkstümlerideohgie 519<br />
fung leitete sofort den Zerfall der Volkstümlerrichtung, das Fiasko ihrer<br />
Theorien ein.<br />
Schon auf dem ersten Parteitag der Sozialrevolutionäre, im Dezember<br />
1905, begannen sich von ihnen die „Volkssozialisten" abzuspalten, die sich<br />
etwa im Herbst 1906 endgültig absonderten.<br />
Diese „Volkssozialisten" waren eine Vorwegnahme unserer Liquidatoren.<br />
Ganz ebenso besangen sie die „legale Partei", ganz ebenso liquidierten<br />
sie die Losungen der konsequenten Demokratie, hielten sie renegatenhafte<br />
<strong>Red</strong>en (siehe zum Beispiel die Artikel des Herrn Pesdiechonow<br />
in Nr. 8 des „Russkoje Bogatstwo" von 1906). Es waren das bäuerliche<br />
Kadetten, und die zweite Duma (die die Volkstümler nidbt boykottierten,<br />
ja nicht einmal die Sozialrevolutionäre) bewies, daß die Mehrheit der<br />
Bauerndeputierten den Opportunisten vom „Russkoje Bogatstwo" folgte,<br />
die Minderheit aber den Sozialrevolutionären. Die zweite Duma bestätigte<br />
endgültig, was schon aus den Volkstümlerzeitungen der „Tage der Freiheit"<br />
(Herbst 1905 und Frühjahr 1906) zu erkennen war, nämlich: die<br />
Sozialrevolutionäre können nichts anderes sein als der linke Flügel der<br />
bäuerlichen Demokratie in Rußland, anders sind sie ein Nichts.<br />
Der Zerfall der Volkstümlerrichtung bestätigt das immer deutlicher. Zur<br />
Zeit des Wütens der Konterrevolution ging dieser Zerfall rasch vonstatten:<br />
die linken Volkstümler haben sich selber aus dem Kreis der trudowikischen<br />
Dumaabgeordneten „abberufen". Die alte Partei wurde faktisch liquidiert,<br />
eine neue nicht geschaffen. Das Renegatentum (bis hin zu den Ropschinschen<br />
schändlichen <strong>Werke</strong>n „Das fahle Roß" und „Was es nicht gab")<br />
fand sogar bei den „linken" Volkstümlern leichten Zugang. Einige von<br />
ihnen (die „Potschin"-Leute) verkünden den Boykott. Andere tendieren<br />
zum Marxismus (N. Suchanow, obwohl in seinem Kopf noch ein ungeheures<br />
Durcheinander herrscht). Wieder andere zum Anarchismus. Der<br />
Zerfall ist überhaupt ungleich stärker als bei den Sozialdemokraten, denn<br />
es gibt zwar offizielle Zentren, aber keine klare, konsequente, prinzipielle<br />
Linie, die die Zerfallstendenzen zu bekämpfen imstande wäre.<br />
Und nun gibt uns Herr A. W. P. ein Musterbeispiel dieses ideologischen<br />
Zerfalls. Die Volkstümler hatten einst eine Theorie. Geblieben sind jetzt<br />
nur da und dort aufgeschnappte „Vorbehalte" gegenüber dem Marxismus.<br />
Jeder prinzipienlose Feuilletonist eines findigen Bourgeoisblättdiens wird,<br />
ohne irgend etwas zu riskieren, ohne sich irgendwie zu binden, ohne sich zu
520 TV. 1. <strong>Lenin</strong><br />
irgend etwas zu bekennen, den Artikel des Herrn A. W. P. zur Verteidigung<br />
des „Volks"sozialismus unterschreiben können. Ist doch der „Volks"sozialismus<br />
eine hohle Phrase, die dazu dient, die Frage zu umgehen,<br />
weldbe Klasse oder soziale Schicht überall in der Welt für den Sozialismus<br />
kämpft.<br />
Zwei Beispiele für das Geschwätz des Herrn A. W. P. genügen.<br />
„Wie sich zeigt", schreibt er, „ist die Partei, die sich die Doktrin des proletarischen<br />
Sozialismus zu eigen gemacht hat, in Wirklichkeit bereit, ihre Kräfte<br />
auch mit Hilfe anderer, .halbproletarischer' und sogar .bürgerlicher* Schichten<br />
zu entfalten."<br />
Nicht wahr, ein Einwand, würdig eines Gymnasiasten der vierten<br />
Klasse! In den sozialistischen Parteien der ganzen Welt gibt es sowohl<br />
Halbproletarier als auch Bourgeois... also? Also, folgert Herr A. W. P.,<br />
kann man die Tatsache umgehen, daß nur das Proletariat in der ganzen<br />
Welt 1. einen systematischen Kampf gegen die Klasse der Kapitalisten<br />
führt und 2. die iWassenbasis der sozialdemokratischen Parteien ist<br />
Das zweite Beispiel:<br />
„Man nehme auch nur die Studentenschaft", schreibt der findige Herr<br />
A.W.P., „sie ist doch echteste Bourgeoisie, und die Sozialisten unter den<br />
Studenten, ich weiß nicht, wie es jetzt steht, aber noch kürzlich bildeten sie<br />
fast die Mehrheit."<br />
Nun, ist das nicht einzigartig? Ist dieses Argument nicht einer naiven<br />
Sozialrevolutionären Gymnasiastin würdig? Nach den Jahren 1905-1907<br />
nicht zu bemerken, wie auf dem Schauplatz aller politischen Aktionen eine<br />
Differenzierung von Dutzenden Millionen Bauern und Millionen von<br />
Arbeitern vor sich gegangen ist, und Bedeutung (als Argument gegen den<br />
„proletarischen Sozialismus"!) der Tatsache beizumessen, daß die liberale<br />
und die demokratische studierende Jugend in Rußland mit den Sozialrevolutionären<br />
und den Sozialdemokraten sympathisiert! Hören Sie-, Herr<br />
A. W. P., halten Sie Maß...<br />
Die klassenbewußten Arbeiter müssen in bezug auf die Volkstümler<br />
eine unverhüllte und klare Politik betreiben. Sie müssen die scheinsozialistisdien<br />
Phrasen rücksichtslos verspotten und dürfen nicht zulassen, daß<br />
die einzig ernste Frage, die Frage des konsequenten Demokratismus, in<br />
ihnen untergebt.<br />
„Volks"sozialismus, Ausgleichung, Sozialisierung des Grund und
Tiber die Volkstümlerideohgie 521<br />
Bodens, Genossenschaften, Arbeitsprinzip? Es lohnt nicht einmal, das zu<br />
widerlegen. Das Leben und die Revolution haben das schon längst aus<br />
dem Bereich ernster politischer Fragen gestridjen. Mit diesem Geschwätz<br />
umgehen Sie nur die ernste Frage des "Demokratismus. Sie müssen klipp<br />
und klar sagen, ob Sie den Losnngen der konsequenten Demokratie tren<br />
sind. Wollen Sie und können Sie diese Losungen in eine systemätisdje<br />
Arbeit unter den Massen einer fest mnrissenen sozialen Schicht umwandeln?<br />
Wenn jar dann ist der Arbeiterdemokrat Ihr Verbündeter und<br />
Freund gegen alle Feinde der Demokratie. Wenn nicht, dann treten Sie ab,<br />
dann sind Sie nichts anderes als ein Schwätzer.<br />
.Vrawda"71r. i6und 17, Tiadbdem Jextder „Vrawda'.<br />
20. und 22. 'Januar i9l3.<br />
"Untersdhrijt: W. J.<br />
34 Larin, Werte, Bd. <strong>18</strong>
522<br />
AN DIE SOZIALDEMOKRATEN 132<br />
Hier die vollständige Wiedergabe des Leitartikels der letzten Nummer<br />
der Petersburger Zeitung „Lutsch" (vom 19. Januar 1913, Nr. 15-101):<br />
DIE ARBEITERMASSEN UND DIE ILLEGALITÄT<br />
„Der Antrag der Metallarbeiter auf Registrierung ihres Verbandes ist wiederum<br />
abgelehnt worden. Trotz aller Zugeständnisse, zu denen die Arbeiter bereit<br />
waren, fand die Fabrikkammer entsdiieden alle Paragraphen unannehmbar.<br />
Ob hier die Gesellschaft der Fabrikanten und Werkbesitzer die Hand im<br />
Spiele hatte, die, wie die Zeitungen eine Zeitlang meldeten, darauf bestand,<br />
den Metallarbeitern keinen neuen Gewerkschaftsverband zu erlauben, oder die<br />
Fabrikkammer von sich aus beschlossen hatte, die Existenz eines solchen Verbandes<br />
nicht zu gestatten, ändert nichts am Wesen der Sache. Der fortgeschrittenste<br />
und kulturvollste Teil der Petersburger Arbeiter ist sogar des armseligen<br />
Rechts beraubt, das ihnen auf Grund der provisorischen Richtlinien über die<br />
Verbände und Gesellschaften zusteht! Wieviel Kräfte wurden verausgabt, wieviel<br />
Leben hingegeben im Kampf für dieses Stückchen Recht, das jetzt mit<br />
einer Handbewegung hinweggewischt wird!<br />
Und was am sonderbarsten ist - die breiten Arbeitermassen antworten überhaupt<br />
nicht auf diesen Rechtsraub. Unter dem Einfluß der Verfolgungen der<br />
legalen Organisationen in letzter Zeit werden sogar hier und da unter der<br />
Arbeiterschaft die Sympathien für die Legalität' wieder lebendiger und stärker.<br />
Wir verschließen keineswegs die Augen vor dieser unseres Erachtens betrüblichen<br />
Tatsache. Da wir aber nicht gewohnt sind, der Spontaneität zu huldigen,<br />
suchen wir uns über die Bedeutung dieser Tatsache Rechenschaft zu<br />
geben.<br />
Das jetzige Gerede über die .Illegalität' erinnert in hohem Maße an den
An die Sozialdemokraten 523<br />
alten, jetzt wohl gründlich in Vergessenheit geratenen Streit um den Terror.<br />
Dem Terror ,huldigten' ebenfalls viele, um ihre eigene Untauglichkeit zu verbergen.<br />
Es ist schön und gut, daß es Helden gibt, wir aber werden schon irgendwie<br />
hinterhertraben. So auch jetzt. Wir sind zu faul, zu denken und neue Wege<br />
zu suchen, wir warten darauf, daß die Illegalität an unserer Statt entscheide,<br />
und dann werden wir handeln, ohne verantwortlich zu sein. Gelingt die Sache -<br />
schön und gut, gelingt sie nicht, so haben wir etwas, worauf wir die Schuld<br />
schieben können.<br />
Diese Einstellung, die, wir leugnen es nicht, in unserer heutigen politischen<br />
Situation wurzelt und sich hinreichend durch die schweren Opfer erklärt, die<br />
auf dem Altar der offenen Bewegung bereits gebracht worden sind - dieses<br />
Nicht-verantwortlich-sein-WolIen, der unbewußte Wunsch, ,nicht dabei gewesen<br />
zu sein' im Falle eines Mißerfolgs, das eben ist es, was einigen Schichten<br />
der Arbeitermasse die wiedererwachende Hochachtang vor der Illegalität diktiert.<br />
Wir sagen Hochachtung vor der Illegalität, nicht Flucht in die Illegalität,<br />
weil es faktisch in der Illegalität immer nur einzelne gab - die Masse kann in<br />
der Illegalität nichts ausrichten -, diese niemandem verantwortlichen einzelnen<br />
aber die Massenaktionen befehligten.<br />
Die ,legalen Möglichkeiten' jedoch, sagt man, seien alle erschöpft, so daß<br />
wir jetzt vor einer fast vollständigen Vernichtung der legalen Organisationen<br />
stehen. Gerade das stimmt nicht,, daß alle Möglichkeiten erschöpft seien. In<br />
Wirklichkeit ist die grundlegende Möglichkeit, ohne die kein einziger Sieg der<br />
Arbeiterklasse denkbar ist, nur sehr wenig genutzt. Wir sprachen von der planmäßigen<br />
Mitwirkung der Massen an der Verteidigung ihrer Organisationen.<br />
Alles, was bisher getan wurde, geschah sowohl nicht genügend planmäßig als<br />
auch ohne genügende Mitwirkung der Massen. Tausende von Unterschriften<br />
unter einer Petition für die Koalitionsfreiheit sind nichts im Vergleich zu den<br />
Hunderttausenden Fabrikarbeitern. Die Dutzende und selten Hunderte zählenden<br />
Mitglieder unserer Gewerkschafts-, Bildungs- und aller möglichen<br />
anderen Vereinigungen sind ein kleiner Tropfen, verglichen mit der riesigen<br />
Zahl der Arbeiter, die in dem betreffenden Benrfszweig beschäftigt sind, in dem<br />
betreffenden Viertel wohnen usw. Und dabei sind faktisch Leute, die sich für<br />
die Verbände wirklich interessieren und in ihnen arbeiten, noch seltener.<br />
Die Masse, die die gefährlichsten Posten in den legalen Organisationen mit<br />
den Besten aus der Arbeiterintelligenz besetzt, läßt leicht den Mut sinken und<br />
ist bereit, die Sache selbst aufzugeben, wenn diese Vorkämpfer aus ihren Reihen<br />
gerissen werden. Gerade hierin wurzelt die Schwäche der zeitgenössischen Arbeiterbewegung,<br />
und gerade hier liegt ein noch unberührtes Feld beharrlicher<br />
und zielstrebiger sozialdemokratischer Arbeit."
524 IV. 1. <strong>Lenin</strong><br />
Man kann sich schwerlich ein vollständigeres, exakteres und beredteres<br />
Dokument zur Beleuchtung der brennenden Fragen unserer sozialdemokratischen<br />
Partei vorstellen als diesen Artikel. Der Leitartikel des „Lutsch"<br />
Nr. 101 zieht ein bemerkenswert richtiges Fazit aus allen hundert Nummern<br />
des „Lutsch" und aus der ganzen fünfjährigen Propaganda der Liquidatoren,<br />
P. B. Axelrods, Th. Dans, W. Jeshows, Lewizkis, Potressows,<br />
Martows, Martynows usw.<br />
Um diesen Leitartikel ausführlich zu kommentieren, müßte man einen<br />
<strong>Band</strong> schreiben und wiederholen, was die Marxisten aller Strömungen<br />
fn der Presse der Jahre 1909-1912 gegen die Liquidatoren gesagt<br />
haben.<br />
Wir wollen nur auf einiges eingehen. In der Arbeitermasse werden die<br />
Sympathien für die Illegalität wieder lebendiger und stärker, erwacht von<br />
neuem die Hochachtung vor ihr. Diese Tatsache als betrüblich anzusehen<br />
heißt ein Liberaler zu sein und kein Sozialdemokrat, ein Konterrevolutionär<br />
und kein Demokrat. Die Illegalität mit dem Terror zu vergleichen ist<br />
eine unerhörte Verhöhnung der revolutionären Arbeit unter den Massen.<br />
Nur die Illegalität stellt und löst die Fragen der heranreifenden Revolution,<br />
bestimmt die Richtung der revolutionären sozialdemokratischen Arbeit,<br />
gewinnt die Arbeitennassen eben durch diese Arbeit.<br />
In die Illegalität gingen und gehen immer die bewußtesten, die besten,<br />
die bei der Masse beliebtesten Arbeiterkämpfer. Die Verbindung zwischen<br />
der Illegalität und den Massen kann jetzt noch umfassender und<br />
enger sein als früher und ist es gewöhnlich auch, hauptsächlich infolge der<br />
größeren Bewußtheit der Massen, zum Teil aber auch gerade dank der<br />
„legalen Möglichkeiten". Dumm und niederträchtig ist das Gerede von<br />
einer legalen Partei, aber für unsere sozialdemokratischen Parteizellen, für<br />
ibre Arbeit unter den Massen sind die „legalen Möglichkeiten" keineswegs<br />
erschöpft, können sie nicfct „erschöpft" sein.<br />
Wird der Leitartikel der Nr. 101 des „Lutsch" nicht alle Sozialdemokraten<br />
aufrütteln? Wird sich auch nur eine „Strömung" unter den Sozialdemokraten<br />
finden, die eine solche Propaganda hinnimmt?<br />
Wird dieser resümierende Leitartikel nicht zur Lösung der brennenden<br />
Frage der Einheit der sozialdemokratischen Partei bettragen?<br />
Die Diplomaten des Liquidatorentums sind in Nr. 101 des „Lutsch"<br />
vollends entlarvt. Ihnen ist die Maske vom Gesicht gerissen. Von einer
An die Sozialdemokraten 525<br />
Einheit mit der Liqmdatorengruppe des „Lutsch" und der „Nasdia Sarja"<br />
können jetzt nur noch Heuchler reden.<br />
Es ist an der Zeit für diejenigen Sozialdemokraten, die bisher aus verschiedenen<br />
Gründen schwankten, auf eine Frage keine bestimmte Antwort<br />
gaben, in ausweichender Form eine „Vereinbarung" mit dem „Lutsch" zuließen,<br />
mit Worten über die „Einheit" die Vereinigung mit dem „Lutsch"<br />
tarnten — es ist für sie an der Zeit, endlich aufzuhören zu schwanken und<br />
offen Stellung zu beziehen.<br />
Unmöglich ist eine Einheit mit dem „Lutsch", durchaus möglich und<br />
dringend notwendig ist die Einheit gegen den „Lutsch". Denn es geht um<br />
die Einheit der .Illegalität", um die Einheit der illegalen sozialdemokratischen<br />
Partei, der SDAPR, und um die Einheit ihrer revolutionären<br />
Arbeit unter den Massen.<br />
Qesdbrieben am 22. Januar<br />
(4.7ebruar) i9i3.<br />
AlsTlugs&riftbektograpbisd) NadidemJextderWugsdjrift.<br />
vervielfältigt.
526<br />
IN DER WELT DER ASEF<br />
Die nationalistische Presse macht einen schrecklichen Lärm um den<br />
„Fall" Aljodiin. Man bedenke nur! Die Österreicher haben Rußland beleidigt,<br />
sie haben einen russischen Ingenieur wegen Spionageverdachts<br />
schuldlos verhaftet, haben den Gefangenen verhöhnt! Die „patriotischen"<br />
Ausfälle gegen Österreich fanden kein Ende.<br />
Und nun zeigt sich der ganze Mechanismus, der einfache, alte, längst<br />
bekannte Mechanismus dieser Angelegenheit. Herr Aljochin wurde das<br />
Opfer des österreichischen Polizei„mitarbeiters" Weisman, der für 2000<br />
Kronen (800 Rubel) im Monat russische Spione in Österreich aufspürte.<br />
Der russische Ingenieur, der kein Deutsch versteht und zudem offenbar<br />
noch wenig gewitzt ist, ging dem Lockspitzel, der ihn zur Besichtigung von<br />
Arsenalen mitnahm, naiv auf den Leim.<br />
Das „Nowoje Wremja" und unsere anderen Zeitungen von der Richtung<br />
der Schwarzhunderter und der Regierung stehen für die russisdien<br />
Asef mit Leib und Seele ein. Als sich aber herausstellte, daß dieser Asef<br />
in Österreichs Diensten steht, entflammten die loyalen Russen in „ehrlicher"<br />
Entrüstung.<br />
Es stellte sich aber außerdem heraus, daß Weisman einst russisdoer<br />
Spion und Lockspitzel war. Die Karriere dieses Weisman ist sehr aufschlußreich.<br />
Sein Vater unterhielt ein Bordell. Das Söhnchen wurde nach dieser Vorbildung<br />
russischer Spion in Österreich, in Wien, wobei er außerdem die<br />
russischen politischen Emigranten bespitzelte. Von 1901 bis 1905 diente<br />
Weisman also der russischen Polizei, trieb er gleichzeitig militärische und<br />
politische Spionage.
In der Welt der Asef 527<br />
Dann entzweite er sich mit der russischen Polizei und trat in den Dienst<br />
der österreichischen Polizei über.<br />
Sehr einfach.<br />
Der arme Aljochin fiel einem ehemaligen russischen Spion zum Opfer.<br />
Wie sollten sich da die russischen Lakaienzeitungen nicht über diese<br />
„Heimtücke" Österreichs entrüsten?<br />
.Trawda" 3Vr. 20, Tiadb dem 7ext der .Prawda".<br />
25.Januar 1913.<br />
VittersOirift: IV.
528<br />
BOURGEOISIE UND REFORMERTUM<br />
Die Betrachtungen der „Retsch" über die aktuelle Frage der Streiks<br />
verdienen die besondere Beachtung der Arbeiter.<br />
Die liberale Zeitung führt die offiziellen Daten über die Streikbewegung<br />
an:<br />
Jahr<br />
1905<br />
1906<br />
1907<br />
1908<br />
1909<br />
1910<br />
1911<br />
1912<br />
Streiks<br />
13 995<br />
6114<br />
3 573<br />
892<br />
340<br />
222<br />
466<br />
19<strong>18</strong><br />
Arbeiter<br />
(in 1000)<br />
2 863<br />
1108<br />
740<br />
176<br />
64<br />
47<br />
105<br />
683<br />
Wir bemerken nebenbei, daß die Zahlen für 1912 eindeutig zu niedrig<br />
angegeben sind: Teilnehmer an politischen Streiks werden insgesamt<br />
511 000 gezählt. Ihre Anzahl belief sich auf etwa das Doppelte. Erinnern<br />
wir auch daran, daß die „Retsch" noch im Mai 1912 den politischen Charakter<br />
unserer Arbeiterbewegung leugnete und beteuerte, die ganze Bewegung<br />
trage ausschließlich ökonomischen Charakter. Doch wollen wir uns<br />
jetzt mit einer anderen Seite der Sache befassen.<br />
Wie bewertet unsere liberale Bourgeoisie diese Erscheinung?<br />
„Nicht erfüllt sind die Grnndfordernngen des politischen Bewußtseins" (warum<br />
nur des Bewußtseins??) „der russischen Bürger", schreibt die „Retsch".<br />
„Die Arbeiterklasse ist überall die beweglichste und empfänglichste Schicht<br />
der städtischen Demokratie die aktivste Schicht des Volkes ... Unter konstitutionellen<br />
Bedingungen bei normalen politischen Verhältnissen<br />
wären nicht (durch den Putilow-Streik) Zehntausende Arbeitstage in einem<br />
Produktionszweig verlorengegangen, der jetzt, angesichts der außenpolitischen<br />
Komplikationen, so große Bedeutung erlangt." (Nr. 19.)
Bourgeoisie und Reformertum 529<br />
Der Standpunkt der Bourgeoisie ist klar. „Wir" wollen eine Politik des<br />
Imperialismus, der Eroberung fremder Gebiete. „Uns" behindern die<br />
Streiks. „Wir" verlieren Mehrwert infolge der „verlorengegangenen"<br />
Arbeitstage. „Wir" wollen eine ebensolche „normale" Ausbeutung der<br />
Arbeiter wie in Europa.<br />
Vortrefflich, ihr Herren Liberale! Euer Wunsch ist berechtigt, euer Bestreben<br />
wollen wir unterstützen... wenn... wenn es nicht etwas Totes,<br />
etwas Leeres ist!<br />
Die „Retsch" fährt fort: „Die preußischen Staatsmänner" (man hätte<br />
sagen müssen: die preußischen Gutsbesitzer) „haben nicht aus Sympathie<br />
für die Freiheiten die ,Cegalisierung der sozidldemokratisdhen Partei' eingeräumt.<br />
Reformen bringen entsprechende Früchte, wenn sie zur rechten<br />
Zeit gewährt werden."<br />
So sieht das vollendete Reformertum unserer Bourgeoisie aus. Sie beschränkt<br />
sich auf Seufzer, sie möchte die Purischkewitsch überzeugen, ohne<br />
sie zu verletzen, sich mit ihnen versöhnen, ohne sie zu beseitigen. Jedem<br />
denkenden Menschen muß klar sein, daß die Losung der „Legalisierung<br />
der sozialdemokratischen Partei" ihrer objektiven Bedeutung nach (d. h.<br />
unabhängig von den guten Absichten einzelner Grüppchen) ein untrennbarer<br />
Bestandteil dieses jämmerlichen und ohnmächtigen bürgerlichen<br />
Reformertums ist.<br />
Wir wollen nur eins bemerken. Bismarck konnte Reformen nur deshalb<br />
erfolgreich durchführen, weil er über den Rahmen des Reformertums<br />
hinausging: er vollzog bekanntlich eine Reihe von „Revolutionen von<br />
oben", er raubte einem der reichsten Länder der Welt fünf Milliarden<br />
Francs, er konnte dem durch den Goldstrom und die unerhörten militärischen<br />
Erfolge berauschten Volk das allgemeine Wahlrecht und eine<br />
wirkliche Gesetzlichkeit geben.<br />
Glaubt ihr nicht, ihr Herren Liberale, daß etwas Ahnliches in Rußland<br />
möglich ist?? Weshalb habt ihr sogar bei der Frage des Archangelsker<br />
Semstwos (das wäre doch eine „Reform"!) erklärt, daß Reformen in Rußland<br />
aussichtslos seien??<br />
.Vrawda'TJr.23, "Madb dem 7extder .Vravoda".<br />
29. Januar {913.<br />
Vntersdirift: 7.
530<br />
ÜBER DIE LEGALE PARTEI<br />
Die Zeitung „Lutsch", die in intellektuellen Kreisen um so mehr „Lärm"<br />
ztr machen versteht, je weniger sie von den Arbeitern gelesen wird, setzt<br />
ihre Propaganda für eine legale Arbeiterpartei mit einem Eifer fort, der<br />
einer besseren Sache wert wäre.<br />
Im Neujahrsleitartikel dieser Zeitung lesen wir die alte Unwahrheit,<br />
das Jahr 1912 habe „als aktuelle Losung und Banner des proletarischen<br />
Rußlands den Kampf für die Koalitionsfreiheit und den Kampf für die<br />
legale Existenz der sozialdemokratischen Arbeiterpartei auf die Tagesordnung<br />
gesetzt".<br />
Jeder, der mit der Massenbewegung der Arbeiter im Jahre 1912 wirklich<br />
Fühlung gehabt und ihr politisches Gesicht aufmerksam beobachtet<br />
hat, weiß sehr wohl, daß die Liquidatoren vom „Lutsch" hier die Unwahrheit<br />
sagen. Als aktuelle Losung und Banner des Kampfes proklamierten<br />
die Arbeiter etwas anderes. Das veranschaulichten besonders deutlich<br />
z. B. die Maitage, wo die fortgeschrittensten Arbeiter verschiedener<br />
Strömungen (und sogar unter Beteiligung einer Minderheit von Volkstümlern<br />
inmitten der Mehrheit von Sozialdemokraten) selbst eine andere<br />
Losung aufstellten, ein anderes „Banner" entfalteten.<br />
Die Intellektuellen vom „Lutsch" wissen das, aber sie wollen ihre<br />
Kleingläubigkeit, ihre Begriffsstutzigkeit, ihren Opportunismus den Arbeitern<br />
aufzwingen. Ein bekanntes und nicht neues Bild! In Rußland aber<br />
fällt den Autoren eine solche Verzerrung um so leichter, als sie das Monopol<br />
haben, auf bestimmten Schauplätzen „legal" in Erscheinung zu treten.<br />
Doch bleibt die Unwahrheit des „Lutsch" eine Unwahrheit. Und sie<br />
wird noch schlimmer, wenn der „Lutsch" fortfährt:
Tiber die legale Partei 531<br />
„Im Mittelpunkt der politischen Mobilisierung der Arbeitermassen des<br />
Jahres 1913 wird eben diese Losung stehen..."<br />
Mit anderen Worten: Entgegen dem Willen der Arbeitermassen, die<br />
bereits eine andere Losung ausgegeben haben, werden die Intellektuellen<br />
vom „Lutsch" sie stutzen und beschneiden! Des Menschen Wille... nur<br />
daß ihr, ihr Herren, keineswegs eine sozialdemokratische, sondern eine<br />
liberale Sache betreibt.<br />
Möge sich der Leser den kürzlichen Streit des „Lutsch" mit der „Prawda"<br />
über die legale Partei ins Gedächtnis rufen. Weshalb gelang es nicht<br />
einmal den Kadetten, die legale Partei zu schaffen? fragte die „Prawda"*.<br />
Und im „Lutsch" antwortete Th. D.:<br />
„Die Kadetten gaben zu, daß ihr Wunsch utopisch ist", als ihr Statut nicht<br />
bestätigt wurde, die Liquidatoren aber betrieben „eine beharrliche planmäßige<br />
Arbeit, die Eroberung einer Position nach der andern" (siehe Nr. 73 des<br />
„Lutsch").<br />
Man sieht: Th. D. hat sich um die Antwort gedrückt! Auch die Kadetten<br />
leisteten eine beharrliche Arbeit, auch sie „eroberten Positionen" in der<br />
legalen Literatur und in den legalen Verbänden. Aber selbst die Kadetten<br />
haben keine legale Partei.<br />
Weshalb hören denn die Kadetten nicht auf, von einer legalen Partei<br />
zu träumen und zu reden? Weil sie eine Partei der konterrevolutionären<br />
liberalen Bourgeoisie sind, die für gewisse kleine Zugeständnisse an die<br />
Liberalen, für ein kleines Zugeständnis an die „friedfertige" legale Kadettenpartei<br />
bereit ist, sich mit den Purischkewitsch auszusöhnen.<br />
Das ist die objektive, d. h. von frommen Wünschen und schönen Worten<br />
unabhängige, Bedeutung des Geredes über eine legale Partei in der<br />
Epoche des Regimes des 3. Juni. Diese <strong>Red</strong>en sind der Ausdruck für die<br />
Abkehr von der konsequenten Demokratie, für die Propagierung des<br />
7riedens mit den Purischkewitsch.<br />
Wichtig ist nicht, welche Ziele die Liquidatoren mit ihrer Propaganda<br />
für eine legale Partei verfolgen, welches ihre Vorsätze und Absichten<br />
sind. Das ist eine subjektive Frage; bekanntlich ist der Weg zur Hölle mit<br />
„guten" Vorsätzen gepflastert. Wichtig ist, was die Propagierung einer<br />
legalen Arbeiterpartei unter dem Regime des 3. Juni, angesichts der nicht<br />
legalen liberalen Partei usw. objektiv bedeutet.<br />
• Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 425-427. Die <strong>Red</strong>.
532 "W. 1. <strong>Lenin</strong><br />
Diese objektive Bedeutung des liquidatorischen Geredes über eine legale<br />
Partei besteht in der Abkehr von den gesamtnationalen und grundlegenden<br />
Bedingungen und Forderungen der Demokratie.<br />
Daher eben lehnt jeder klassenbewußte Arbeiter die Propaganda der<br />
Liquidatoren ab, denn die Frage der „legalen Partei" ist eine Kernfrage,<br />
ist eine Frage der Existenz der Partei der Arbeiterklasse überhaupt. Die<br />
liquidatorische Propaganda untergräbt von Grund auf gerade die Existenz<br />
einer wirklichen Arbeiterpartei.<br />
.Vrawda" "Nr. 24, Tlad) dem 7ext der „Vrawda".<br />
30. "Januar 1913.<br />
Untersdbrift: 7.
DIE MOBILISIERUNG<br />
DER BÄUERLICHEN LÄNDEREIEN<br />
533<br />
Mobilisierung des Bodens nennt man die Übereignung von Grundeigentum.<br />
Was unsere Bauern betrifft, so herrscht bisher im Gesetz wie<br />
in der „öffentlichen'" Meinung (selbst der liberalen, unter den Kadetten)<br />
die fronberrlidje Auffassung, daß die Mobilisierung der bäuerlichen Ländereien<br />
schädlich sei und daß man sie verbieten oder beschränken müsse.<br />
Vom Standpunkt der Demokratie ist allein schon der Gedanke, daß<br />
man den Bauern - erwachsenen Menschen und vollberechtigten Bürgern -<br />
den Verkauf ihres Grund und Bodens verbieten oder erschweren dürfe,<br />
die schamloseste Verhöhnung der Bauernschaft. Nur in einem Land wie<br />
Rußland, wo die Beamten und die Masse der Liberalen in alter Fronherrenart<br />
noch heute im Bauern nur den bevormundeten, begriffsstutzigen,<br />
nicht vollberechtigten „Mushik" sehen, kann eine solche Einstellung zur<br />
Mobilisierung fortbestehen.<br />
Vom wirtschaftlichen Standpunkt ist der Schaden, den jedes Verbot und<br />
jede Beschränkung der Mobilisierung anrichtet, ungeheuer groß. Bei<br />
einigermaßen erträglichen Lebensbedingungen wird der Bauer niemals<br />
seinen Boden verkaufen. Zwingen aber Not oder andere Umstände (Umsiedlung,<br />
Tod einer Arbeitskraft usw.) zum Verkauf, so wird das kein<br />
Qesetz verhindern können. Das Gesetz wird man immer umgehen, und<br />
Verbote werden die Bedingungen des Bodenverkaufs nur verschlechtern.<br />
Im Januarheft der „Russkaja Mysl", des Organs der am weitesten<br />
rechts stehenden Kadetten, eines Gemischs von Liberalen und Schwarzhundertern,<br />
mußte ein gewisser Fürst W. Obolenski, der offenbar die<br />
übliche Auffassung der Sdiwarzhunderter und der Liberalen über die<br />
Mobilisierung teilt, 7atsadhen anführen, die die Unsinnigkeit und Sdiäd-
534 W. 7. <strong>Lenin</strong><br />
lichkeit ihrer Beschränkung beweisen. Man verbietet Nicht-Bauern den<br />
Kauf von Anteilland. Der Käufer läßt sich als Bauer registrieren! Man<br />
verbietet dem einzelnen, mehr als sechs persönliche Bodenanteile zu<br />
kaufen. Der Käufer trifft fiktive, vorgetäuschte Abmachungen auf den<br />
Namen von Verwandten usw.! Man verbietet die Verpfändung von Anteilländereien.<br />
Das erleichtert gerade die Machenschaften der Bodenspekulanten<br />
und erschwert den Bodenerwerb für die Mittelbauern!<br />
Nur Anhänger der Fronherrschaft und Heuchler können von einer Beschränkung<br />
der Mobilisierung eine „Hilfe" für die Bauern erwarten. Die<br />
Bauern, die Bewußtsein haben, suchen den Ausweg ganz woanders.<br />
„Pratoda" Wr. 26, 5Vad> dem Jext der „Vrawda".<br />
i.JebTuar I9i3.<br />
1lntersdirift:7.
EINIGES ÜBER STREIKS<br />
535<br />
Die Zeitung „Lutsch" wandte sich in einer Reihe von Artikeln gegen<br />
die Massenstreiks.<br />
Natürlich können wir dem „Lutsch" hier nicht so antworten, wie er es<br />
verdiente.<br />
Wir beschränken uns daher auf einige wenige rein theoretische Bemerkungen<br />
über den Charakter der Propaganda des „Lutsch". Die Schreiber<br />
vom „Lutsch", die fleißig Beispiele aus westlichen Ländern bringen und<br />
auf tausenderlei Weise Wörtchen wie „Anarchosyndikalismus* usw.<br />
wiederholen, dokumentieren damit, daß sie von der historischen Eigenart<br />
der Streiks in Rußland im Jahre 1912 absolut nichts begriffen haben.<br />
Nirgends in Europa hatten und haben die Streiks des 20. Jahrhunderts<br />
eine solche Bedeutung wie im Rußland unserer Tage, nirgends können<br />
sie eine solche Bedeutung haben. Warum?<br />
Weil eben in ganz Europa die Periode der tiefgreifenden demokratischen<br />
Umgestaltungen längst völlig abgeschlossen ist, in Rußland aber<br />
gerade solche Umgestaltungen auf der Tagesordnung stehen - in der<br />
historischen Bedeutung dieses Wortes.<br />
Daher der gesamtnationale Charakter der wirtschaftlichen und noch<br />
mehr der nichtwirtschaftlichen Streiks in Rußland. Einen solchen gesamtnationalen<br />
Charakter (vom Standpunkt der demokratischen Umgestaltungen<br />
des Landes) haben die europäischen Streiks, die Vorboten ganz<br />
anderer Umwälzungen sind, nidit. Zudem ist das Verhältnis zwischen den<br />
Streiks in Rußland und der Lage der landwirtschaftlichen Kleinproduzenten<br />
(der Bauern) wiederum ein ganz anderes als in den westlichen Ländern.
536 - "W. J. <strong>Lenin</strong><br />
Fassen wir das alles zusammen, so verstehen wir, daß die Propaganda<br />
des „Latsch" gerade die gesamtnationale, die demokratische Bedeutung<br />
der wirtschaftlichen und der nichtwirtschaftlichen Streiks im Rußland des<br />
Jahres 1912 im dunkeln läßt. Das Auftreten des Proletariats als des<br />
Hegemons (Führers) entgegen den antidemokratischen Stimmungen der<br />
Liberalen - das ist das Wichtigste und historisch Besondere an unseren<br />
Streiks. Und gerade das begreifen die Schreiber vom „Lutsch" nicht, und<br />
sie können es von ihrem liquidatorischen Standpunkt aus auch nicht begreifen.<br />
Es geht natürlich keineswegs um die Beurteilung der Zweckmäßigkeit<br />
dieses oder jenes einzelnen Streiks. Es geht keineswegs darum, daß eine<br />
möglichst planmäßige Vorbereitung und manchmal sogar die Ersetzung<br />
eines Streiks durch eine gleiöjartige Aktion nötig ist. Es geht um das allgemeine<br />
Unverständnis der Liquidatoren für jene Bedeutung der Streiks<br />
überhaupt, die die Losung der „Koalitionsfreiheit" oder der „legalen<br />
Partei" zu einer untauglichen, der gegebenen Sachlage nicht entsprechenden<br />
Losung macht.<br />
Nicht im Hinblick auf Einzelfälle, sondern im Hinblick auf den ganzen<br />
Charakter der Bewegung setzen die Liquidatoren dort ein Minus, wo die<br />
Marxisten und klassenbewußten Arbeiter ein Plus setzen. Aus diesem<br />
Grunde eben empörten und empören sich die Arbeiter mit Recht über die<br />
Propagandades „Lutsch".<br />
„Prawda" 3Vr. 27, 7ia6j dem Text der .Prawda".<br />
2.7ebruar 1913.<br />
Vntersdjrift: 1.
RUSSEN UND NEGER<br />
537<br />
Welch sonderbare Gegenüberstellung! - wird der Leser denken. - Wie<br />
kann man eine bestimmte Rasse einer bestimmten Nation gegenüberstellen?<br />
Eine solche Gegenüberstellung ist möglich. Die Neger haben sich am<br />
spätesten von der Sklaverei befreit, und noch heute lasten die Spuren der<br />
Sklaverei auf ihnen am schwersten - selbst in den fortgeschrittenen Ländern,<br />
denn der Kapitalismus kann keine andere Befreiung „einräumen"<br />
als die rechtliche, und auch diese engt er in jeder Weise ein.<br />
Von den Russen sagt die Geschichte, daß sie sich von der Sklaverei der<br />
Leibeigensdhaft im Jahre <strong>18</strong>61 „fast" befreit haben. Annähernd zur<br />
gleichen Zeit, nach dem Bürgerkrieg gegen die amerikanischen Sklavenhalter,<br />
befreiten sich die Neger in Nordamerika von der Sklaverei.<br />
Die Befreiung der amerikanischen Sklaven.vollzog sich auf weniger<br />
„reformatorischem" Wege als die Befreiung der russischen Sklaven.<br />
"Deshalb sind jetzt, nach einem halben Jahrhundert, die Spuren der<br />
Sklaverei bei den Russen weit stärker erhalten als bei den Negern. Und<br />
es wäre sogar exakter, sprächen wir nicht nur von Spuren der Sklaverei,<br />
sondern auch von Institutionen ... Doch wollen wir uns in dem vorliegenden<br />
kurzen Artikel auf eine kleine Illustration des Gesagten beschränken<br />
- auf die Frage der Elementarbildung. Eine der von der Sklaverei hinterlassenen<br />
Spuren ist bekanntlich das Analphabetentum. In einem Lande,<br />
das von Paschas, den Purischkewitsch und anderen unterdrückt wird, kann<br />
die Mehrheit der Bevölkerung nicht lese- und schreibkundig sein.<br />
- In Rußland gibt es 73% Analphabeten, nicht mitgerechnet die Kinder<br />
bis zum Alter von 9 Jahren.<br />
35 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>
538 TV. 1 <strong>Lenin</strong><br />
Bei den Negern in den Vereinigten Staaten von Nordamerika machen<br />
die Analphabeten (1900) - 44 1 /2% aus.<br />
Ein so unerhört hoher Prozentsatz an Analphabeten ist eine Schande<br />
für ein zivilisiertes, fortgeschrittenes Land, für die nordamerikanisdie<br />
Republik. Und dabei weiß jedermann, daß die Lage der Neger in Amerika<br />
überhaupt eines zivilisierten Landes unwürdig ist: der Kapitalismus kann<br />
weder die völlige Befreiung noch gar völlige Gleichheit bringen.<br />
Aufschlußreich ist, daß der Prozentsatz der Analphabeten bei den<br />
Weißen in Amerika bei nur 6% liegt. Unterteilen wir jedoch Amerika in<br />
ehemalige Sklavenhaltergebiete (das amerikanische „Rußland") und in<br />
Nicht-Sklavenhaltergebiete (das amerikanische Nicht-Rußland), so erhalten<br />
wir bei den Weißen einen Prozentsatz an Analphabeten von 11 bis<br />
12% in den ersten Gebieten und von 4-6% in den zweiten!<br />
In den ehemaligen Sklavenhaltergebieten ist der Prozentsatz an Analphabeten<br />
bei den Weißen doppelt so hod>. Die Spuren der Sklaverei<br />
lasten nicht nur auf den Negern!<br />
Eine Schande für Amerika ist die Lage der Neger!<br />
Qesdbrieben Ende Januar-Anfang Jebruar i9l3.<br />
Zuerst veröffentlicht 1925 7ia
ÜBER EINE ENTDECKUNG<br />
539<br />
Die bürgerliche Gesellschaft lebt und erhält sich ausschließlich durch<br />
die Lohnarbeit von Millionen. Ohne sie wären die Einnahmen der Gutsbesitzer,<br />
die Profite der Kapitalisten, die verschiedenen „abgeleiteten"<br />
Quellen für ein üppiges Leben wie Honorare, Gehälter usw. unmöglich.<br />
Die Macht aber, die die Millionen in die Reihen der Tagelöhner preßt, ist<br />
der Hunger.<br />
Eine alte, allbekannte, abgedroschene Tatsache. Das bürgerliche Publikum<br />
gewöhnt sich daran und „bemerkt es nicht". Von Zeit zu Zeit jedoch<br />
- besonders wenn Gesundheit und Wohlergehen der Herren Bourgeois<br />
bedroht sind! - geben himmelschreiende Fälle von Not und Elend<br />
neben gleichzeitigem Luxus Veranlassung, „Entdeckungen" zu machen. In<br />
jeder großen Stadt und in jedem beliebigen dörflichen Krähwinkel „entdeckt"<br />
man ab und an schreckliche, abscheuliche, menschenunwürdige Unsauberkeit,<br />
Armut, Verwahrlosung. Man „entdeckt" das, setzt durch die<br />
„großen" Zeitungen die Leserschaft davon in Kenntnis, spricht darüber<br />
ein, zwei Tage und vergißt es wieder. Der Satte weiß nicht, wie dem Hungrigen<br />
zumute ist...<br />
Die Petersburger Leserschaft erfuhr kürzlich von einer solchen „Entdeckung"<br />
durch einen gewissen Dr. Koslowski, der 251 Nachtasyle des<br />
Roshdestwenski-Stadtteils besichtigt hatte.<br />
„Dunkle, feuchte Räume, stickige Luft, Schmutz, Schlafstätten auf Kisten,<br />
auf dem Fußboden, schreckliche Enge (3578 Mieter in 251 Wohnungen), an den<br />
Wänden zerdrückte Wanzen, ein entsetzliches Bild." („Nowoje Wremja"<br />
Nr. 13 236.)<br />
Die Gesellschaft für Volksgesundheit beschloß nach Entgegennahme
540 IV. 1. <strong>Lenin</strong><br />
dieses Berichts, sich mit dieser Frage zu befassen... die Behörden zu<br />
bemühen ... eine Untersuchung zu erwirken ... unternahm also alles,<br />
was in ihren Kräften stand.<br />
Hier einige Angaben aus der Statistik der Stadt St. Petersburg für das<br />
Jahr 1911. Der „Sonderbehörde zur Kontrolle und Unterbringung der<br />
Bettler" wurden 16 960 Bettler vorgeführt. Von ihnen wurden 1761 dem<br />
Gericht übergeben - belästige nicht die sauberen Herrschaften! -,1371 in<br />
ihre Heimatorte zurückgeschafft (das Dorf ist es „gewohnt", sich mit den<br />
Armen herumzuschlagen), <strong>18</strong>92 in Einrichtungen der Behörde untergebracht<br />
und 9694 - freigelassen.<br />
In der Behörde ist immerhin gearbeitet worden, eine „Kontrolle" wurde<br />
gemacht, die Gehälter sind nicht umsonst gezahlt worden.<br />
Im gleichen Jahr (1911) wandten sich an die städtische Arbeitsbörse<br />
(hinter der Moskauer Sastawa) 43 156 arbeitsuchende ungelernte Arbeiter.<br />
Arbeit erhalten haben 6076 Personen.<br />
Die „Freigelassenen" (die Bettler von der „Unterbringung" und die ungelernten<br />
Arbeiter von der Arbeit) übernachten auf der Straße, in Nachtasylen,<br />
in Herbergen ... Hier sind Entdeckungen zu machen.<br />
„"Prawda" "Nr. 29, Tiadb dem Hext der „Trawda".<br />
5.7ebruar I9i3.<br />
Untersdbrift: W. J.
DER PARTEITAG<br />
DER ENGLISCHEN ARBEITERPARTEI<br />
541<br />
Vom 29. bis 31. Januar tagte in London der XIII. Parteitag der britischen<br />
Arbeiterpartei. Anwesend waren 500 Delegierte.<br />
Der Parteitag nahm eine Resolution gegen den Krieg an und, mit großer<br />
Mehrheit, eine Resolution, die den Parlamentsvertretern der Partei empfiehlt,<br />
gegen jede Vorlage einer Wahlreform zu stimmen, die das Wahlrecht<br />
nicht auch auf die Frauen ausdehnt.<br />
Die englische „Arbeiterpartei", die neben der opportunistischen „Unabhängigen<br />
Arbeiterpartei" und der sozialdemokratischen „Britischen<br />
Sozialistischen Partei" existiert, ist so etwas wie eine breite Arbeiterpartei.<br />
Es ist das ein Kompromiß zwischen einer sozialistischen Partei und<br />
nichtsozialistischen Gewerkschaften.<br />
Die Ursachen dieses Kompromisses liegen in den Besonderheiten der<br />
englischen Geschichte, der Absonderung der Aristokratie der Arbeiterklasse<br />
in nichtsozialistischen, liberalen Gewerkschaftsverbänden. Die begonnene<br />
Wendung dieser Verbände zum Sozialismus hin hat eine Menge<br />
verworrener Zwischenstadien zur Folge.<br />
In der Frage der Parteidisziplin z. B. wurde eine Resolution angenommen,<br />
die den Parteiausschluß für Verletzung der Beschlüsse der Partei<br />
und der Parlamentsfraktion androht.<br />
Es kam zu Debatten, wie sie in keinem anderen Lande möglich sind:<br />
Gegen wen richtet sich diese Resolution, gegen die Liberalen oder gegen<br />
die Sozialisten?<br />
Die Sache ist die, daß von den 40 Arbeiterabgeordneten im Parlament<br />
27 "NidotsoziaMsten sind!! Die dreizehn Sozialisten, sagte Will Thorne,<br />
Sozialist, in seiner Stellungnahme gegen die Resolution, wolle man binden
542 IV. 7. <strong>Lenin</strong><br />
dardi eine Unterordnung unter die TJidhtsozialisten. Sogar Bruce Glasier,<br />
Mitglied der Unabhängigen Arbeiterpartei, der für die Resolution eintrat,<br />
gab zu, daß es etwa ein halbes Dutzend von Arbeiterabgeordneten<br />
gibt, die man zu den Konservativen zählen kann.<br />
Die Resolution wurde angenommen.<br />
Eine Resolution, wonach in Parteiräumen nicht allein Plakate der opportunistischen<br />
Tageszeitung „The Daily Herald" ausgehängt werden<br />
sollten, wurde mit einer Mehrheit von 643 000 Stimmen bei 398 000<br />
Gegenstimmen abgelehnt. Bei Abstimmungen zählt man hier die durch die<br />
Delegierten vertretenen Mitglieder.<br />
Die Mehrheit auf dem Parteitag hatten NichtSozialisten und äußerst<br />
schlechte Sozialisten. Doch waren bestimmte Stimmen zu hören, daß die<br />
Masse der Arbeiter mit einer solchen Partei unzufrieden ist, daß sie von<br />
den Abgeordneten weniger legislatorische Spielereien und mehr sozialistische<br />
Propaganda fordert.<br />
.Prawda" 5Vr. 30, Tiaäo dem Text der ,Vrawda".<br />
6.7ebruar 19 i3.
DER ZUSAMMENBRUCH DER<br />
KONSTITUTIONELLEN ILLUSIONEN<br />
543<br />
„Gott sei Dank, wir haben eine Verfassung", rief nach dem 3. Juni 1907<br />
Herr Miljukow aus. Mit solchen ergötzlichen Beteuerungen tröstete sich<br />
der Führer der liberalen Bourgeoisie, und dahinter verbarg er ihren Unglauben<br />
an das Volk, ihre Unlust, ihre Furcht, vom „konstitutionellen"<br />
Weg abzuweichen.<br />
Es ist höchst charakteristisch, daß gerade jetzt, wo derselbe Herr Miljukow<br />
oder seine prüde, offiziös-liberale „Retsch" den „Beginn eines gesellschaftlichen<br />
Aufschwungs" zugeben (Nr. 26), das Fiasko dieser konstitutionellen<br />
Illusionen deutlich wird. Der Wunsch, die unangenehme Wirklichkeit<br />
(und die unangenehme Notwendigkeit eines Weges, der wenig<br />
dem „konstitutionellen" gleicht) wegzudiskutieren, der Wunsch, sich und<br />
andere mit „konstitutionellen" Wörtchen einzuschläfern, das liegt diesen<br />
Illusionen zugrunde.<br />
Man schaue sich die Äußerungen der Liberalen über die gegenwärtige<br />
Lage an!<br />
„In der Duma ist es langweilig, weil es keinen Kampf gibt." (Nr. 25.)<br />
Niemand hat euch gezwungen, ihr Herren, zu erklären, daß wir eine<br />
Verfassung haben!<br />
„Alle Worte sind gesagt. Jetzt sind Taten nötig, dodb der Qlaube an sie<br />
febh. Daher auch die Apathie." (Ebenda.)<br />
Ihr habt euch mit dem Glauben an Worte getröstet, die vornehmlich<br />
den Oktobristen galten. Ihr gebt jetzt zu, daß ihr mit diesen Worten den<br />
fehlenden Qlauben an Taten verbergen wolltet.<br />
Ihr. selbst, ihr Herren Liberale, habt euch euer Urteil gesprochen.<br />
Die Demokratie im allgemeinen - die Arbeiter im besonderen - hatten<br />
den Glauben an Worte (über die Verfassung) nicht*<br />
Qesdhrieben Ende Januar-Anfang 7ebruar 1913.<br />
Zum erstenmal veröftentlidjt. 7ia
544<br />
WIR DANKEN FÜR DIE OFFENHEIT<br />
Wir danken der Schwarzhunderterzeitung „Nowoje Wremja" für den<br />
Abdruck der offenen Worte Kobylinskis, des Führers der Rechten im<br />
Reichsrat. Wir danken auch dem „Führer" selbst.<br />
„Immer wieder zeigt sich", rief Herr Kobylinski aus, „die Unkenntnis und<br />
das Unvermögen der Mitglieder der Reichsduma in der Gesetzgebung... So<br />
verfassen nur Xrämer Qesetze.<br />
Wir werden angegriffen, weil wir die Gesetzesvorlage über die Einführung<br />
des Semstwos im Gouvernement Archangelsk abgelehnt haben ... Die Reichsduma<br />
hat überhaupt nicht daran gedacht, daß wegen des Fehlens kulturell entwickelter<br />
Elemente und der schwachen Besiedlung des Gouvernements Archangelsk<br />
in die dortigen Semstwoverwaltungen, wie man bei uns scherzte, jeweils<br />
ein !Mushik, ein Renntier und ein Bär gewählt werden müßten.<br />
Auf jeden Fall werden wir die Bildung eines Semstwos der !Mushiks, wie es<br />
die III. Reichsduma plante, nicht zulassen."<br />
Wie sollte man dem Führer der Rechten im Reichsrat, d. h. dem Führer<br />
des Reichsrats, für eine solche Offenheit nicht dankbar sein?<br />
Statt abgedroschener, nichtssagender, liberaler Phrasen gegen den<br />
Reichsrat empfehlen wir den Lesern wärmstens diese klare, wahrheitsgetreue<br />
Stellungnahme für den Reichsrat.<br />
Krämer in der Reichsduma... Mushiks und Bären im Semstwo ...<br />
Krämer und Mushiks werden wir nicht zulassen. Das ist die offene Sprache<br />
eines Fronherrn und Gutsbesitzers.<br />
Und man beachte: Er hat recht, dieser Fronherr, wenn er sagt, daß es<br />
in der Reichsduma keine Mehrheit ohne „Krämer" gibt, d.h., in der<br />
Sprache eines klassenbewußten Arbeiters (und nicht eines ungeschlach-
Wir danken für die Offenheit 545<br />
ten Gutsbesitzers) ausgedrückt, ohne die "Bourgeoisie. Er hat recht, dieser<br />
Gutsbesitzer: eine Selbstverwaltung wäre in der Tat eine bäuerliche<br />
Selbstverwaltung (die klassenbewußten Arbeiter ziehen den Ausdruck<br />
„bäuerlich" dem bei den ungeschlachten Gutsbesitzern üblichen „der<br />
Mushiks" vor). Die Bauern bilden die Mehrheit.<br />
Der Reichsrat ist keineswegs eine zufällige politische Einrichtung, er<br />
ist das Organ einer JCasse - das eben besagt die wahrheitsgetreue <strong>Red</strong>e<br />
Kobylinskis. Diese Klasse sind die Großgrundbesitzer. Sie werden die<br />
„Krämer und Mushiks" nidbt zulassen.<br />
Lernt doch, ihr Herren russische liberale „Krämer", ihr Herren Oktobristen<br />
und Kadetten, bei Kobylinski, wie man politische Fragen ernsthaft<br />
stellt!<br />
.Trawda" Nr. 35, NadidemJextder.Trawda".<br />
\2. Jebruar I9i3.
546<br />
DIE FRAGE DER EINHEIT<br />
Der Brief des Deputierten der Arbeiter von Kostroma, Schagow, an die<br />
„Prawda" (Nr. 22/226) hat sehr deutlich gezeigt, unter welchen Bedingungen<br />
die Arbeiter die Einheit der Sozialdemokratie für realisierbar halten.<br />
Die Briefe einer ganzen Reihe anderer Abgeordneter der Arbeiterkurie<br />
(„Prawda" Nr. 21-28) haben diese Auffassung bestätigt. Die<br />
Arbeiter selber müssen die Einheit „von unten" herstellen. Die Liquidatoren<br />
sollten nicht gegen die Illegalität auftreten, sondern selber illegal<br />
arbeiten.<br />
Man kann sich nach einer so klaren und direkten Fragestellung nur<br />
wundern, im „Lutsch" Nr. 27 (113) wieder die alten, hochtrabenden, aber<br />
völlig inhaltslosen Phrasen Trotzkis vorzufinden. Kein Wort zum Kern<br />
der Frage! Nicht der geringste Versuch, exakte Takten anzuführen und sie<br />
allseitig zu untersuchen! Keine Andeutung der realen Bedingungen der<br />
Einheit! Bloße Deklamationen, hochtrabende Worte, überhebliche Ausfälle<br />
an die Adresse von Gegnern, die der Verfasser nicht nennt, imposant-wichtige<br />
Beteuerungen - das ist Trotzkis ganzes Gepäck.<br />
Das taugt zu nichts, Herrschaften. Ihr redet „mit den Arbeitern" wie<br />
mit Kindern, bald sucht ihr sie mit schrecklichen Worten einzuschüchtern<br />
(„die Fesseln des Zirkelwesens", „ungeheuerliche Polemik", „feudalfronherrliche<br />
Periode unserer Parteigeschichte"), bald wollt ihr sie „überreden",<br />
wie man kleine Kinder überredet, ohne zu überzeugen und die<br />
Sache zu erklären.<br />
Die Arbeiter werden sich weder einschüchtern noch überreden lassen.<br />
Sie werden selber den „Lutsch" mit der „Prawda" vergleichen, werden<br />
z. B. den Leitartikel in Nr. 101 des „Lutsch" („Die Arbeitermassen und<br />
die Illegalität") lesen - und bei Trotzkis Deklamationen einfach abwinken.
Die 7rage der Einheit 547<br />
„In der Praxis wird die nur scheinbar prinzipielle Frage der Illegalität<br />
von allen Teilen der Sozialdemokratie in völlig gleicher Weise gelöst...",<br />
schreibt Trotzki kursiv. Die Arbeiter von Petersburg wissen aus Erfahrung,<br />
daß das nicht stimmt. Die Arbeiter in jeder beliebigen Ecke Rußlands<br />
werden, wenn sie den genannten Leitartikel des „Lutsch" lesen,<br />
sofort erkennen, daß Trotzki der Wahrheit ausweicht.<br />
„Es ist lächerlich und töricht zu behaupten", lesen wir bei ihm, „daß<br />
zwischen den politischen Tendenzen des ,Lutsch' und der ,Prawda' ein<br />
unversöhnlicher Gegensatz bestehe." Glauben Sie mir, verehrter Autor,<br />
die Arbeiter werden sich weder durch das Wort „töricht" noch durch das<br />
Wort „lächerlich" einschüchtern lassen, sondern Sie bitten, mit ihnen wie<br />
mit Erwadbsenen sadhlidb zu reden: Legen Sie doch diese Tendenzen dar!<br />
Beweisen Sie doch die „Versöhnbarkeit" des Leitartikels in Nr. 101 des<br />
„Lutsch" mit der Sozialdemokratie!<br />
Nein. Mit Phrasen, mögen sie noch so „versöhnlerisch", noch so honigsüß<br />
sein, werden Sie die Arbeiter nicht abspeisen.<br />
„Unsere historischen Fraktionen, der Bolschewismus und der Menschewismus",<br />
schreibt Trotzki, „sind ihrem Ursprung nach rein intelligenzlerische<br />
Gebilde."<br />
Das ist die Wiederholung eines liberalen Märchens. In der Tat aber<br />
hat die ganze russische Wirklichkeit die Arbeiter vor die Frage der<br />
Stellung zu den Liberalen und zur Bauernschaft gestellt. Gäbe es gar<br />
keine Intelligeriz, so könnten die Arbeiter nidht die Frage umgehen, ob sie<br />
die Führung der Bauern im Qefolge der Liberalen oder gegen die Liberalen<br />
übernehmen sollen.<br />
Für die Liberalen ist es von Vorteil, diese Grundlage der Meinungsverschiedenheiten<br />
so darzustellen, als sei sie von den „Intellektuellen"<br />
hereingetragen worden. Doch blamiert sich Trotzki nur selbst, wenn er<br />
ein liberales Märchen nacherzählt.<br />
JPrawäa" Nr. 39, Ttaöh dem Text der „Trawda".<br />
I6.7ebruar 1913.
548<br />
WAS TUT SICH<br />
IN DER VOLKSTÜMLERRICHTUNG,<br />
UND WAS TUT SICH<br />
AUF DEM LANDE?<br />
Die Zeitschrift „Russkoje Bogatstwo" zeigt uns eben jene beiden Tendenzen<br />
in der Volkstümler- oder Trudowiki-Strömung bzw. -Richtung<br />
des rassischen Lebens, die man auch an Hand anderer, direkterer, unmittelbarerer<br />
Quellen des politischen Wissens verfolgen kann.<br />
Erinnern wir uns zum Beispiel der Debatten in der I. und II. Duma.<br />
Leider sind die stenografischen Berichte der einen wie der anderen jetzt<br />
aus dem Handel gezogen worden. Aber wie dem auch sei, mit dem m<br />
diesen Berichten enthaltenen umfangreichen politischen Material zum<br />
Studium der Auffassungen und Bestrebungen der russischen Bauern und<br />
der russischen Trudowiki ist entweder schon jetzt jeder gebildete Mensch<br />
vertraut, oder er wird es in Zukunft sein. Die wichtigste Schlußfolgerung<br />
aus diesem Material besteht darin, daß die intellektuellen Trudowiki<br />
(einschließlich der intellektuellen Sozialrevolutionäre) und die bäuerlichen<br />
Trudowiki zwei wesentlich verschiedene politische Strömungen darstellen.<br />
Die intellektuellen Volkstümler tendieren zur versöhnenden oder „allgemein-menschlichen"<br />
Phrase. In ihnen ist immer der Liberale zu spüren.<br />
Der Standpunkt des Klassenkampfes ist ihnen organisch fremd. Sie räsonieren<br />
nur. Sie zerren die demokratische Bauernschaft zurück, vom lebendigen<br />
und unmittelbaren Kampf gegen ihren Klassenfeind zur nebelhaften,<br />
gequälten, ohnmächtigen scheinsozialistischen Phrase.<br />
Die bäuerlichen Volkstümler in den ersten beiden Dumas sind Feuer<br />
und Flamme. Sie sind erfüllt von dem Streben nach unmittelbarem und<br />
entschlossenem Handeln. Sie sind unwissend, ungebildet, naiv, erheben<br />
sich aber gegen ihren Klassenfeind mit einer solchen Offenheit, Unver-
Was tut sidb in der Volkstümlerridjtung, und was tut sidb auf dem Lande! 549<br />
söhnlichkeit, einem solchen Haß, daß man in ihnen eine sehr ernst zu<br />
nehmende gesellschaftliche Kraft spürt.<br />
Anders ausgedrückt: Die intellektuellen Volkstümler sind ganz miserable<br />
Sozialisten und unsichere Demokraten. Die bäuerlichen Trudowiki<br />
spielen keineswegs Sozialismus, der ihnen absolut fremd ist, aber sie sind<br />
„innerliche", aufrichtige, glühende und starke Demokraten. Ob die bäuerliche<br />
Demokratie in Rußland siegen wird, das kann niemand vorhersagen,<br />
denn das hängt von allzu komplizierten objektiven Bedingungen ab. Doch<br />
steht völlig außer Zweifel, daß die trudowikische Bauernschaft nur entgegen<br />
den Tendenzen siegen kann, die die volkstümlerische Intelligenz in<br />
ihre Bewegung hineinträgt. Die lebensprühende, frische, aufrichtige Demokratie<br />
ist bei günstigen historischen Umständen imstande zu siegen, wohingegen<br />
die „sozialistische" Phrase, das volkstümlerische Räsonieren<br />
niemals siegen kann.<br />
Diese Schlußfolgerung erscheint mir als eine der wichtigsten Lehren aus<br />
der russischen Revolution, und ich gebe nicht die Hoffnung auf, sie irgendwann<br />
einmal durch eine ausführliche Analyse der <strong>Red</strong>en der Volkstümler<br />
in den ersten beiden Dumas und durch anderes politisches Material aus<br />
den Jahren 1905-1907 begründen zu können. Heute jedoch möchte ich<br />
hinweisen auf die großartige Bestätigung dieser Schlußfolgerung durch<br />
das letzte Heft (1912, Nr. 12) des „Russkoje Bogatstwo", des wichtigsten<br />
und solidesten Organs der Volkstümler.<br />
Zwei Artikel in diesem Heft vermitteln einen zweifellos typischen<br />
Eindruck. Der Artikel des Herrn A. W. P. („Volkssozialismus oder proletarischer<br />
Sozialismus?") ist ein Musterbeispiel für das intellektuelle Räsonieren<br />
der „Volkssozialisten" und Sozialrevolutionäre.<br />
Wäre es unvermeidlich, daß die Massenkraft der russischen Bauernschaft<br />
eine Richtung einschlüge, wie sie sich aus den Erwägungen der<br />
Herren A. W. P. und Co. „ergibt", so wäre die Sache der russischen bürgerlichen<br />
Demokratie hoffnungslos verloren. Denn aus Phrasen und Räsonieren<br />
kann keine historische Aktion hervorgehen. Die Impotenz einer<br />
soldhen Volkstümlerei steht fest.<br />
In Herrn Krjukows Artikel „Ohne Feuer" erzählt irgendein liebreiches<br />
Pfäfflein von der Bauernschaft, dem bäuerlichen Leben und der bäuerlichen<br />
Psyche, wobei es die Bauern eben so darstellt, wie sie selbst aufgetreten<br />
sind und auftreten. Wenn diese Darstellung stimmt, so ist der
550 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />
russischen bürgerlichen Demokratie - in Gestalt eben der Bauernschaft -<br />
eine große historische Aktion beschieden, die bei einigermaßen günstigen<br />
Begleitumständen alle Aussichten hat zu siegen.<br />
Um das zu erläutern, wollen wir kurz die „Ideen" des Herrn A. W. P.<br />
charakterisieren und einige Stellen aus der Beschreibung der russischen<br />
Bauernschaft durch das liebreiche Pfäfflein zitieren.<br />
Herr A. W. P. verteidigt die Grundlagen der Volkstümlerrichtung vor<br />
Suchanow, einem Mitarbeiter der „Sawety", der dem Marxismus eine<br />
ganze Reihe wichtiger theoretischer Prämissen der Volkstümlerideologie<br />
opfert und dabei so etwas wie eine Vereinigung der Marxisten mit den<br />
Volkstümlern propagiert.<br />
Herr A. W. P. ist einer Vereinigung nicht abgeneigt, will aber die Prinzipien<br />
der Volkstümlerideologie nicht „aufgeben". Und gerade diese<br />
Verteidigung der prinzipiellen Reinheit und Festigkeit der Volkstümlerideologie<br />
durch einen so zweifellos kompetenten und namhaften Volkstümler<br />
wie Herrn A. W. P. zeigt in aller Klarheit die völlige 'Hoffnungslosigkeit<br />
seiner Position, die absolute Cebensfremdbeit einer soldhen<br />
Volkstümlerideologie.<br />
Herr Suchanow kommt sogar zu der Feststellung, daß eine ihrer Natur<br />
nach sozialistische Klasse allein das Proletariat ist. Natürlich bedeutet das,<br />
wenn man nur einigermaßen konsequent weiterdenkt, den Marxismus<br />
anzuerkennen und den volkstümlerischen Sozialismus ganz zu begraben.<br />
Herr A. W. P. opponiert gegen Herrn Suchanow, doch sind seine Argumente<br />
ein Jammer ohnegleichen. Lauter Vorbehalte, unbedeutende Korrekturen,<br />
Fragezeichen, eklektische Bemerkungen darüber, daß der Revisionismus<br />
die Korrekturen des Lebens an der Theorie „übermäßig breittritt",<br />
während die Orthodoxie sie vergebens bestreite. Der von Herrn<br />
A. W. P. dargebotene Brei gleicht, wie ein Wassertropfen dem anderen,<br />
den in allen europäischen Ländern üblichen Einwänden der „humanitären"<br />
Bourgeois gegen den Klassenkampf und den Klassensozialismus.<br />
Die grundlegende und allbekannte Tatsache, daß in der ganzen Welt<br />
nur das Proletariat tagtäglich einen systematischen Kampf gegen das<br />
Kapital führt, daß gerade das Proletariat die Massenbasis der sozialistischen<br />
Parteien darstellt, wagt Herr A. W. P. nicht zu leugnen. Daß die<br />
Bauernschaft um so weniger sozialistische Züge, wenn auch nur schwach<br />
ausgeprägte, aufweist, je freier das Land politisch ist - das muß auch
"Was tut sidj in der Volkstümlerriditung, und was tut sidb auf dem Cande? 551<br />
Herr A. W. P. wissen. Und er spielt einfach mit Gedankensplittern<br />
europäischer bürgerlicher Professoren und Opportunisten, um die Sache<br />
zu verwirren, ohne auch nur den Versuch zu machen, gegen den Marxismus<br />
irgend etwas ins Feld zu führen, was einer geschlossenen, zielstrebigen,<br />
klaren sozialen Theorie auch nur ähnlich sähe.<br />
Deswegen ist nichts langweiliger als der Artikel des Herrn A. W. P.<br />
Nichts ist bezeichnender für den völligen ideologischen Tod des volkstümlerischen<br />
Sozialismus in Rußland. Er ist tot. Die „Ideen" des Herrn<br />
A. W. P. findet man in jeder beliebigen bürgerlichen sozialreformistischen<br />
Publikation im Westen vollständig wieder. Es ist uninteressant, sie widerlegen<br />
zu wollen.<br />
Ist aber der volkstümlerische Sozialismus in Rußland tot, ist er von der<br />
Revolution des Jahres 1905 getötet und von den Herren A. W. P. beerdigt<br />
worden, ist von ihm nur die faule Phrase übriggeblieben, so ist die bäuerliche<br />
Demokratie in Rußland, die keineswegs sozialistisch, sondern ebenso<br />
bürgerlich ist, wie es die Demokratie Amerikas in den sechziger Jahren,<br />
Frankreichs im ausgehenden <strong>18</strong>. Jahrhundert, Deutschlands in der ersten<br />
Hälfte des 19. Jahrhunderts usw. usf. war, ist diese Demokratie am<br />
Leben.<br />
Die von Herrn Krjukow wiedergegebene Erzählung des liebreichen<br />
Pfäffleins über das Dorf bestätigt das vollauf. Und dasselbe, was Krjukow<br />
mitteilt, ergibt sich — nebenbei bemerkt - wohl noch plastischer und<br />
exakter aus den Beobachtungen des Erzfeindes der Demokratie, des<br />
„Wechi"-Mannes Bulgakow in der „Russkaja Mysl" (1912, Nr. 11: „Bei<br />
den Wahlen").<br />
„Liebedienerei und Feigheit", sagt das Pfäfflein bei Krjukow über die rassische<br />
Geistlichkeit, „hat es immer gegeben!... Der Unterschied ist jedoch<br />
der, daß es niemals einen solch erschütternd stillen, schweigenden Abfall von<br />
der Kirche gegeben hat wie jetzt. Als sei der Geist des Lebens in der Kirche<br />
erstorben. Ich wiederhole: Nicht allein die Intelligenz ist abgefallen - das Volk<br />
ist abgefallen das muß man zugeben - war ich doch zwei Jahre lang Dorfgeistlicher."<br />
Das liebreiche Pfäfflein erinnert sich des Jahres i905. Das Pfäfflein<br />
erläuterte damals den Bauern das Manifest.<br />
„Ich erwartete", klagt er, „Erkenntnis, enges Bündnis, £iebe, Nüchternheit,<br />
gesundes Bewußtsein, Erwachen, Energie... Die Erkenntnis schien auch zu
552 W. 1. Cenin<br />
kommen, aber statt Einigkeit und Bündnis gab es nur Gehässigkeit und<br />
inneren Zwist. Und zuallererst versetzte das Dorf gerade auch mir einen Schlag,<br />
und zwar einen kräftigen. Ich war wohl ganz, mit Leib und Seele, für das<br />
Dorf... Ich erklärte eben diese Freiheiten und alles übrige. Und wie sie zuhörten!<br />
Ich dachte doch, daß man es ausführlicher, als ich es tat, nicht erklären<br />
könne, aber nein... ins Dorf drangen auch andere <strong>Red</strong>en. Und die<br />
neuen Aufklärer machten einen viel dickeren Brei zurecht: von wegen des<br />
Landstückchens, des Ausgleichs und der Herrschaften. TJatürUd) haben die<br />
Hauern das momentan begriffen und sich zu eigen gemadßt. Und schnurstracks<br />
kamen sie zu mir gelaufen und erklärten, daß sie mir an Kirchensteuern nicht<br />
zweihundert, sondern hundert zahlen würden...<br />
... Aber was mich besonders betrübte, war nicht die9e Tatsache, waren nicht<br />
die hundert Rubel, sondern die Gesamtheit all dessen, was so rasch das neue<br />
Gesicht des Dorfes ausmachte. Wirklich von allen Seiten her war man bemüht,<br />
dem Dorf die Augen zu öffnen, es sehend zu machen, seine Dunkelheit zu erhellen<br />
! Und, um die Wahrheit zu sagen, man schaffte es. Der Blinde hat ein<br />
bißchen Licht zu sehen bekommen, und seit diesem Augenblick ist er nicht mehr<br />
blind... wenn er auch noch nicht sehend geworden ist. Aber mit diesem halben<br />
Sehendwerden kam ihm eine nur sehr traurige Erkenntnis, wuchs in ihm eine<br />
Gehässigkeit, die ihm fast den Atem benimmt... Und manchmal seufzt er<br />
wohl über seine große Unwissenheit. Eine solche Gehässigkeit hat sich im Dorfe<br />
breitgemacht, eine solche Gehässigkeit, daß jetzt die ganze Luft mit ihr gesättigt<br />
zu sein scheint... Messer, Knüppel, roter Hahn. Augenfällige Ohnmacht,<br />
ätzende, nicht gerächte Beleidigungen, Zank untereinander, Haß ohne<br />
Unterschied, Neid auf alles Glücklichere, Behaglichere, Vermögendere. Auch<br />
früher gab es natürlich Neid und Gehässigkeit und Kummer und widerwärtige<br />
Sünde, doch glaubten die Menschen an den Willen Gottes und die Eitelkeit<br />
irdischer Güter, sie glaubten und fanden die Xraft zu dulden in der Hoffnung<br />
auf eine Belohnung im Jenseits. Heute gibt es diesen Glauben schon nicht mehr.<br />
Heute sieht der Glaube so aus: Wir sind die Unterdrücker, sie die Unterdrückten.<br />
Aus allem Freiheitsgerede sind auf dörflichem Boden Unkraut und<br />
Tollkirschen aufgegangen ... Und nun dieses neue Bodengesetz - der Bruder<br />
hat die Hand gegen den Bruder erhoben, der Sohn gegen den Vater, der Nachbar<br />
gegen den Nachbarn! Eine solche Gehässigkeit, ein solcher Zwist ist im<br />
Dorf eingekehrt, daß es daran ersticken wird, ganz sicher ersticken wird."<br />
Wir haben in dieser charakteristischen Beschreibung des Dorfes durch<br />
das schönrednerische Pf äfflein (das ein intellektueller Volkstümler reinsten<br />
Wassers ist!) einige besonders charakteristische Wörtchen hervorgehoben.
Was tut sid? in der Volkstümlemdbtutu), und was tut sidb auf dem Lande? 553<br />
Das Pf äfflein ist ein Anhänger der „Liebe" und ein Feind des „Hasses".<br />
In dieser Hinsicht teilt es ganz den tolstoianisdien (man kann auch sagen:<br />
christlichen) zutiefst reaktionären Standpunkt, den ständig unsere Kadetten<br />
und ihresgleichen vertreten. Von irgendeiner „Sozialisierung des<br />
Grund und Bodens" zu träumen, von der ^sozialistischen" Bedeutung der<br />
Genossenschaften und von „Normen des Bodenbesitzes" zu schwatzen ist<br />
ein solches Pfäfflein sicherlich nicht abgeneigt, sowie aber der Haß an die<br />
Stelle der „Liebe" tritt, streicht es gleich die Segel, macht schlapp und<br />
flennt.<br />
Einen „Sozialismus" in Worten, in Phrasen („Volkssozialismus, aber<br />
nicht proletarischer Sozialismus") - bitte schön, den wird auch in Westeuropa<br />
jeder einigermaßen gebildete Spießer billigen. Tritt aber der<br />
„Haß" an die Stelle-der „Liebe", so ist es aus. Geht es um einen Sozialismus<br />
der humanen Phrase, so sind wir dafür,- geht es aber um die revolutionäre<br />
Demokratie, so sind wir dagegen.<br />
Was das liebreiche Pfäfflein über das abgedroschene Thema des<br />
„Rowdytums" im Dorf sagt, ist vom Standpunkt der Tatsachen absolut<br />
nichts Neues. Doch ist aus seiner eigenen Erzählung klar ersichtlich, daß<br />
das „Rowdytum" ein von den 7ronherren eingeführter Begriff ist.<br />
„Ätzende, nicht gerächte Beleidigungen" - das konstatiert das liebreiche<br />
Pfäfflein. Aber das ist zweifellos vom „Rowdytum" sehr, sehr weit entfernt.<br />
Im Kampf gegen die Volkstümlerideologie hielten es die Marxisten<br />
seit eh und je für ihre Aufgabe, die Manilowerei, die süßlichen Phrasen,<br />
den sentimentalen, sich über die Klassen erhebenden Standpunkt, den<br />
banalen „Volks"sozialismus, würdig irgendeines in Geschäftsdingen und<br />
Schwindelgeschäften mit allen Wassern gewaschenen französischen „Radikalsozialisten",<br />
zu zerstören. Zugleich betrachteten es aber die Marxisten<br />
seit eh und je als ihre ebenso verbindliche Aufgabe, den demokratischen<br />
Kern der volkstümlerischen Ansichten herauszuschälen. Der volkstümlerische<br />
Sozialismus ist ein fauler und stinkender Leichnam. Die bäuerliche<br />
Demokratie in Rußland ist, wenn das liebreiche Pfäfflein bei Krjukow sie<br />
richtig darstellt, eine lebendige Kraft. Ja, sie muß eine lebendige Kraft<br />
sein, solange die Purischkewitsdi wirtschaften, solange dreißig Millionen<br />
Hunger leiden.<br />
36 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>
554<br />
r W. l <strong>Lenin</strong><br />
„Haß ohne Unterschied" sagt man uns. Erstens ist das nicht ganz die<br />
Wahrheit. Den „Unterschied" sehen nicht die Purischkewitsch, sehen nicht<br />
die Beamten, sehen nicht die intellektuellen Schöngeister. Zweitens gab es<br />
doch sogar zu Beginn der Arbeiterbewegung in Rußland ein gewisses Element<br />
des „Hasses ohne Unterschied" beispielsweise in der Form der<br />
Maschinenstürmerei bei den Streiks der sechziger bis achtziger Jahre des<br />
vorigen Jahrhunderts. Das war bald vorbei. Nicht das ist wesentlich. Abgeschmackt<br />
wäre es, forderte man von denen, die in der gegebenen Lage<br />
die Geduld verlieren, „Glacehandschuhe".<br />
Wesentlich ist die gründliche Abkehr von der alten, hoffnungslos reaktionären<br />
Weltanschauung, die gründliche Aneignung gerade jener Lehre<br />
von den „Unterdrückten", die das Unterpfand nicht toten Schlafs, sondern<br />
lebendigen Lebens ist.<br />
Verfault ist der volkstümlerische Sozialismus bis hin zu dem am weitesten<br />
links stehenden. Lebendig und aktuell ist die Aufgabe der Säuberung,<br />
Aufklärung, Erweckung und Festigung der Demokratie auf dem<br />
Boden der bewußten Abkehr von den Lehren der „Liebe", der „Geduld"<br />
usw. Das liebreiche Pfäfflein ist traurig. Wir aber haben allen Grund zur<br />
Freude über das reiche Betätigungsfeld für eine lebensvolle Arbeit.<br />
„J>roswesä>tsdhenije" 5Vr. 2, Tiadb dem 7ext der Zeitschrift<br />
Februar 1913. „Proswesdbtsdjenije".<br />
'Untersdirift-.'W.J.
WACHSENDES MISSVERHÄLTNIS<br />
Notizen eines Publizisten<br />
I<br />
555<br />
Kürzlich fand die fällige Beratung der Abgeordneten der Kadetten mit<br />
den örtlichen Funktionären dieser Partei statt.<br />
Wie zu erwarten war, wurden die Besonderheiten der gegenwärtigen<br />
politischen Lage erörtert. Die liberale Einschätzung dieser Lage sieht folgendermaßen<br />
aus:<br />
„Besondere Aufmerksamkeit galt dem wachsenden Mißverhältnis zwischen<br />
den Bedürfnissen des Landes in der Grundgesetzgebung und der Unmöglichkeit<br />
ihrer Befriedigung bei der gegenwärtigen Struktur der gesetzgebenden<br />
Körperschaften und bei der jetzigen Einstellung der Staatsmacht zur Volksvertretung."<br />
Die Sprache ist so verwirrt wie ein Knäuel, mit dem ein Kätzchen lange<br />
gespielt hat. Unsere armen Liberalen, nirgends können sie ihre Gedanken<br />
klar ausdrücken!<br />
Man sehe aber näher hin: Schlimm ist nicht so sehr, daß die Liberalen<br />
nirgends etwas sagen können, als vielmehr, daß sie nidois zu sagen haben.<br />
Es wächst nicht nur das Mißverhältnis zwischen den Bedürfnissen des<br />
Landes und der Unbrauchbarkeit der „gegenwärtigen Struktur" usw.,<br />
sondern auch zwischen den Bedürfnissen des Landes und der "Hilflosigkeit<br />
des Liberalismus.<br />
Weshalb kann man die Bedürfnisse des Landes nicht befriedigen, ihr<br />
Herren liberale Politiker? Die Antwort der Kadetten: Die gegenwärtige<br />
Struktur der gesetzgebenden Körperschaften und die jetzige Einstellung<br />
der Staatsmacht zur Volksvertretung stören.
556 IV. 1 <strong>Lenin</strong><br />
Schlußfolgerang: Nötig ist eine andere Struktur und eine andere Einstellung<br />
der Staatsmacht. Welche im einzelnen, werden wir sehen, wenn<br />
wir in den folgenden Artikeln die „vier Thesen" der Kadettenberatung<br />
untersuchen.<br />
Zuvor müssen wir jedoch die Hauptfrage stellen: Wodurch ist denn<br />
die „gegenwärtige" „Struktur und Einstellung" zu erklären? Woher kann<br />
man eine andere nehmen? Darüber haben die Kadetten nicht einmal nachgedacht!<br />
Ihr Schweigen in dieser grundlegenden Frage läuft auf das verknöcherte,<br />
asiatische Spießertum etwa von der Art hinaus: Die Ratgeber<br />
waren schlecht, und es kann gute Ratgeber geben ...<br />
Besteht denn kein Zusammenhang, ihr Herren Kadetten, zwischen der<br />
„Gegenwart" und den Interessen irgendeiner Klasse, zum Beispiel der<br />
Klasse der Großgrundbesitzer? Oder der reichen Bourgeois? Besteht keine<br />
völlige Übereinstimmung zwischen der „Gegenwart" und den Interessen<br />
bestimmter "Klassen? Ist es nicht klar, daß die Erörterung der politischen<br />
Lage ohne Berücksichtigung des Wechselverhältnisses zwischen allen Klassen<br />
leeres Geschwätz bedeutet?<br />
O weh! Die Kadetten haben nichts außer Geschwätz, um das „wachsende<br />
Mißverhältnis" zwischen ihrer Politik und den Bedürfnissen des<br />
Landes zu verbergen.<br />
II<br />
Unsere Liberalen überhaupt - und ihnen folgend auch die liberalen<br />
Arbeiterpolitiker (Liquidatoren) - reden gern und immer wieder von der<br />
„Europäisierung" Rußlands. Eine winzig kleine Wahrheit dient hier zur<br />
Tarnung einer großen Unwahrheit.<br />
Zweifelsohne wird Rußland, allgemein gesprochen, europäisiert, d. h.<br />
nach dem Vor- und Ebenbild Europas umgestaltet (wobei man zu „Europa",<br />
entgegen der Geographie, jetzt auch Japan und China rechnen<br />
muß). Diese Europäisierung jedoch vollzieht sich im allgemeinen seit<br />
Alexander II., wenn nicht seit Peter dem Großen, sie vollzieht sich sowohl<br />
in der Zeit des Aufschwungs (1905) als auch in der Zeit der Reaktion<br />
(1908-1911), sie vollzieht sich in der Polizei wie bei den Gutsbesitzern<br />
vom Schlage Markows, die ihre Methoden im Kampf gegen die Demokratie<br />
„eurooäisieren".
TPadisendes Mißverhältnis 557<br />
Das Wörtchen „Europäisierung" ist so allgemein, daß es zur Verwirrung<br />
der Sache, zur Verdunkelung der aktuellen Fragen der Politik<br />
dient.<br />
Die Liberalen wollen die Europäisierung Rußlands. Aber auch der Rat<br />
des vereinigten Adels erstrebt mit seinem Gesetz vom 9. November 1906<br />
(14. Juni 1910) die Europäisierung.<br />
Die Liberalen wollen eine europäische Verfassung. Die Verfassungen<br />
in den verschiedenen Ländern Europas jedoch waren das Ergebnis eines<br />
langen und schweren Klassenkampfes zwischen Feudalismus und Absolutismus<br />
einerseits und der Bourgeoisie, den Bauern und den Arbeitern<br />
anderseits. Die geschriebenen und die ungeschriebenen Verfassungen, mit<br />
denen die Liberalen unsere Reaktionäre „beschämen", sind lediglich die<br />
Fixierung der Ergebnisse des Kampfes nach einer Reihe schwer errongener<br />
Siege des Neuen über das Alte und einer Reihe von Niederlagen, die das<br />
Alte dem Neuen beigebracht hat.<br />
Die Liberalen wollen, daß wir die Ergebnisse erhalten ohne all die Plus<br />
und Minus, die sie erst ausmachen! Das liberale Programm und die liberale<br />
Taktik laufen auf folgendes hinaus: Möge die europäische Gesellschaftsordnung<br />
bei uns Eingang finden ohne den schweren Kampf, der<br />
sie in Europa hervorgebracht hat!<br />
Begreiflicherweise quittieren unsere Kobylinski die Wünsche und Argumente<br />
der Liberalen mit verächtlichen Ausfällen gegen die „Krämer" und<br />
„Mushiks". „Sie, meine Herren Liberale", sagen die Kobylinski, „wollen<br />
auf dem Papier die Siege festhalten, die Sie im Leben noch nicht errungen<br />
haben."<br />
III<br />
Die Kadettenberatung hat zur Frage der Taktik vier Thesen angenommen.<br />
Die erste lautet:<br />
„Die Taktik der vereinigten Tätigkeit der Opposition an der ganzen Front,<br />
die eine notwendige Voraussetzung für die Ausübung der laufenden sachlichen<br />
Tätigkeit der Reichsduma darstellt, garantiert jedoch weder die Erzielung einer<br />
stabilen und dauerhaften Mehrheit der Reichsduma für die Gesetzesvorlagen<br />
der Opposition noch eine wirkliche Realisierung derjenigen Gesetzesvorlagen,<br />
die die Opposition mit Hilfe des Dumazentrums in der Reichsduma durchbringen<br />
könnte."
558 Ti>. J. Cenin<br />
Dieses Kauderwelsch bedeutet in eine verständliche Sprache übersetzt<br />
folgendes:<br />
Die Liberalen können nur mit den Oktobristen eine Mehrheit in der<br />
Reichsduma bilden. Eine solche Mehrheit ist nicht beständig, und ihre Beschlüsse<br />
werden nicht realisiert.<br />
Richtig. Doch hieraus folgt, daß man sich selbst und das Volk betrügt,<br />
wenn man diese Beschlüsse als „notwendige", „laufende" und „sachliche"<br />
(!??) Tätigkeit bezeichnet.<br />
Wenn wir die Rechten durchfallen lassen durch eine Abstimmung mit<br />
den Oktobristen, so werden wir uns dennoch nicht auf den Standpunkt<br />
der Gesetzgebung im Rahmen der IV. Duma stellen, keine konstitutionellen<br />
Illusionen säen - das müßten die Kadetten dem Volk sagen, wenn<br />
sie nicht nur in Worten Demokraten sein wollten.<br />
Die erste „These" der Kadettenberatung überrascht durch ihre Unlogik.<br />
Die Annahme in Wirklichkeit unrealisierbarer Gesetzesvorlagen durch<br />
eine unbeständige und labile Mehrheit der IV. Duma wird als „sachliche"<br />
Tätigkeit bezeichnet!! Die Kadetten selber nannten das Hunderte Male -<br />
und mit Recht - Kleinkram und Langeweile.<br />
Doch wird die vom Standpunkt der Logik unerhört törichte Taktik der<br />
Kadetten begreiflich vom Standpunkt der Klasseninteressen. Erinnern wir<br />
uns, was die Sozialdemokraten seit 1907 über die III. und die IV. Duma<br />
sagten. - In der Duma gibt es zwei Mehrheiten, sagten sie: eine rechtsoktobristische<br />
und eine oktobristisch-kadettische. Beide stehen auf<br />
konterrevolutionärem Boden (vgl. „Prosweschtschenije", 1913, Nr. 1,<br />
S. 13).*<br />
Die Beratung der Kadetten vom Februar 1913 hat bestätigt, was wir in<br />
unseren offiziellen Beschlüssen seit 1907 gesagt haben.<br />
Die „Taktik der vereinigten Tätigkeit der Opposition an der ganzen<br />
Front... mit Hilfe des Dumazentrums" braudben die Kadetten eben deshalb,<br />
weil sie ebenso wie die Oktobristen auf konterrevolutionärem Boden<br />
stehen. Bei der inneren Verwandtschaft zwischen beiden ist begreiflich,<br />
daß sie zu gemeinsamer „sachlicher" Tätigkeit tendieren, ungeachtet ihrer<br />
gegenwärtigen Unzuverlässigkeit.<br />
Die Oktobristen jammern ewig in ihrer Presse, schimpfen auf die Revolution,<br />
schimpfen auf die Regierung, die Rechten, den Reichsrat - in der<br />
* Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 487-489. Die TLed.
Wadbsendes Mißverhältnis 559<br />
Duma aber beschränken sie sich auf den Wunsch nach Reformen, folgen<br />
sie der Regierung.<br />
Die Kadetten jammern in ihrer Presse noch mehr, schimpfen auf die<br />
Revolution, schimpfen auf die Regierung, die Rechten, den Reichsrat und<br />
die Oktobristen - in der Duma aber beschränken sie sich auf den Wunsch<br />
nach Reformen, sind sie bemüht, ihre oppositionelle Einstellung den Wünschen<br />
der Oktobristen anzupassen.<br />
IV<br />
Die zweite These der Kadettenberatung lautet:<br />
„Eine wesentliche Stärkung der Reichsduma als eines gesetzgeberischen und<br />
politischen Faktors kann nur über die Verwirklichung von drei Grundbedingungen<br />
erreicht werden: Demokratisierung des Wahlgesetzes (allgemeines<br />
Wahlrecht), radikale Reform des Reichsrats und Verantwortlichkeit des Kabinetts."<br />
Das Wesen der hier dargelegten Taktik kann man in einem Wort zusammenfassen:<br />
Reformertum.<br />
Die Geschichtswissenschaft sagt uns, daß sich die reformerische Veränderung<br />
einer gegebenen politischen Ordnung von der nichtreformerischen,<br />
allgemein gesprochen, dadurch unterscheidet, daß die Macht bei<br />
der ersten in den Händen der bis dahin herrschenden Klasse verbleibt, bei<br />
der zweiten aber aus den Händen der alten Klasse in die Hände einer<br />
neuen übergeht. Die Kadetten begreifen nicht die Klassengrundlage historischer<br />
Umwälzungen. Darin liegt der Hauptfehler der Kadetten vom<br />
Standpunkt der Theorie.<br />
Vom Standpunkt der Praxis läuft der genannte theoretische Unterschied<br />
darauf hinaus, ob sich das Besondere verändert bei gleichbleibendem<br />
Allgemeinen und Grundlegenden oder ob sich dieses letztere ändert.<br />
In den verschiedenen Ländern zu verschiedenen Zeitpunkten der Geschichte<br />
war die Bourgeoisie teils reformerisch, teils aber beschränkte sie<br />
sich nicht auf Reformertum. Anderseits lehnt es die Arbeiterklasse, die<br />
niemals anerkennen wird, daß Reformen wesentliche Veränderungen bringen<br />
können, unter gewissen Umständen keineswegs ab, nächstliegende<br />
Forderungen in Gestalt von Reformen zu vertreten.<br />
Es geht also darum, daß nach Ansicht der Kadetten gegen die Aufrecht-
560 IV. 1. <strong>Lenin</strong><br />
erhaltnng der Herrschaft der jetzt herrschenden Klasse, d. h. der Großgrundbesitzer<br />
feudalen Typs, nichts zu sagen ist. Die Kadetten verharren<br />
weiterhin auf dem Standpunkt der Opposition mit dem Genitiv, vertreten<br />
weiterhin die Meinung: „Rußland hat, Gott sei Dank, eine Verfassung."<br />
Anders ausgedrückt, die „drei Grundbedingungen" der Kadetten, das<br />
sind die von der liberalen Bourgeoisie vorgeschlagenen Bedingungen der<br />
gütiidben Aufteilung der ökonomischen und politischen Privilegien zwischen<br />
dem feudalen Grundbesitz und dem Kapital.<br />
Die Oktobristen stehen auf demselben Standpunkt („Versöhnung der<br />
Macht mit dem Lande" - wie es in der Sprache Maklakows heißt, der halb<br />
Oktobrist, halb Kadett ist), wobei die Oktobristen Bedingungen für die<br />
Teilung stellen, die dem Grundeigentum mehr .entgegenkommen".<br />
Die große Dienstfertigkeit der Oktobristen hat Schiffbruch erlitten.<br />
Welchen Grund hat man, von der kleinen Dienstfertigkeit der Kadetten<br />
ein anderes Ergebnis zu erwarten? Vom Standpunkt des Reformertums<br />
sind die Oktobristen viel konsequenter, denn wer diesen Standpunkt bezieht,<br />
muß die Annehmbarkeit der Reformen in Rechnung stellen, und die<br />
oktobristischen „Reformen" sind weit „annehmbarer".<br />
Die einzige Schlußfolgerung ist:Es wächst das Mißverhältnis zwischen<br />
dem liberalen Reformertum und den Bedürfnissen des Landes.<br />
Die dritte These der Kadettenberatung lautet:<br />
„Die Vorbereitung dieser Bedingungen muß zur Hauptaufgabe der Taktik<br />
der Kadetten gemacht werden, wobei die laufende gesetzgeberische Tätigkeit,<br />
zusammen mit den übrigen Gruppen der Opposition und mit dem Zentrum,<br />
ausgenutzt werden muß, sofern sie sich als durchführbar erweist, aber nicht in<br />
Widerspruch geraten darf zur Verwirklichung dieser Hauptaufgaben."<br />
(„Retsch" Nr. 34, 4. Februar.)<br />
Die vorhergehende „These" war ein Zugeständnis an die linken Kadetten<br />
oder, richtiger, ein Köder für die Demokratie: Unterstützt uns Kadetten,<br />
denn wir sind „Demokraten", wir sind für das allgemeine Wahlrecht!<br />
Nach einer Verbeugung nach links eine ernsthafte Schwenkung nach<br />
rechts: Die dritte These lautet, übersetzt aus dem Kauderwelsch in eine
Wachsendes Mißverhältnis 561<br />
verständliche Spradie: Einer laufenden gesetzgeberischen Tätigkeit gemeinsam<br />
mit den Progressisten und Oktobristen stimmen wir Kadetten<br />
zu! Aber diese „laufende" Gesetzgebung liefert doch unrealisierbare Gesetzesvorlagen,<br />
wie in der ersten These zugegeben wird? Die Kadetten<br />
machen den kleinen Vorbehalt: „sofern durchführbar". Das heißt, direkter<br />
gesagt, mit Kleinkram werden wir uns befassen, die Verantwortung<br />
dafür aber mag den Oktobristen zufallen! Spaßvögel sind unsere Kadetten,<br />
wirklich...<br />
Weiter. Weder die Progressisten noch die Oktobristen, die konsequenter<br />
als die Kadetten auf dem Standpunkt des Reformertums stehen, stimmen<br />
solchen „übermäßig" liberalen Forderungen wie allgemeines Wahlrecht,<br />
radikale Reform des Reichsrats usw. zu. Wie nur können die Kadetten,<br />
die weiterhin auf den Demokratismus Anspruch erheben, eine<br />
gemeinsame laufende gesetzgeberische Tätigkeit mit diesen notorischen<br />
Qegnern der Demokratie proklamieren?<br />
Auch hierfür haben die Kadetten einen kleinen Vorbehalt bei der Hand:<br />
Wir Kadetten sind mit der Vorbereitung des allgemeinen Wahlrechts beschäftigt,<br />
mit der Vorbereitung in einer mit den Oktobristen gemeinsamen<br />
Tätigkeit, und diese „darf nicht in Widerspruch geraten zur Verwirklichung"<br />
des allgemeinen Wahlrechts!<br />
Ein einfaches Hintertürchen: Wir erklären die <strong>Red</strong>e Rodsjankos für<br />
„konstitutionell", wir stimmen (nicht irrtümlich wie die Sozialdemokraten,<br />
sondern aus Überzeugung) für die oktobristische Formulierung des Antrags<br />
auf Übergang zur Tagesordnung nach der Regierungserklärung,<br />
denn alles das widerspridüt nidht der „Vorbereitung" des allgemeinen<br />
Wahlrechts!!<br />
Hier kann man schon nicht mehr sagen, daß die Kadetten Spaßvögel<br />
sind. Hier wäre ein anderes Wort am Platz<br />
In allen Ländern Europas beteuert die konterrevolutionäre liberale<br />
Bourgeoisie, die sich von der Demokratie abgewandt hat, immer noch,<br />
daß sie mit der Vorbereitung (in Preußen - zusammen mit den Nationalliberalen,<br />
in Frankreich - zusammen mit allen Fortschrittlern) der „wichtigsten"<br />
demokratischen Reformen beschäftigt sei.<br />
Die Bourgeoisie, die endgültig den Weg des Reformertums betreten<br />
hat, ist eine faulende Bourgeoisie, ohnmächtig in ihrem Liberalismus,
562 W. 7. <strong>Lenin</strong><br />
unzuverlässig in bezug auf demokratische Veränderungen, den Arbeitern<br />
f eind, sie ist vom Volke zu den Rechten übergegangen.<br />
VI<br />
Die letzte, die vierte These der Kadettenberatung lautet:<br />
„Die Beratung erachtet es für zeitgemäß, neben der Aufstellung der erwähnten<br />
drei Losungen die Frage der Anwendung aktiverer taktischer Maßnahmen<br />
des parlamentarischen Kampfes aufzuwerfen."<br />
Nur des parlamentarischen? Und nur die Frage aufzuwerfen?<br />
Was „aktivere taktische Maßnahmen des parlamentarischen Kampfes"<br />
bedeuten soll, weiß Allah. Es ist, als hätte die Kadettenberatung ihre<br />
Thesen vorsätzlich in der unverständlichsten Sprache abgefaßt.<br />
Wenn die Kadetten von aktiveren Maßnahmen sprechen, so wollen sie<br />
offenbar ihre Linksschwenkung demonstrieren. Doch ist das eben nur eine<br />
Demonstration, denn etwas Konkretes läßt sich daraus nicht ableiten.<br />
Welche „Maßnahmen" des parlamentarischen Kampfes können, allgemein<br />
gesprochen, als aktivere Maßnahmen bezeichnet werden?<br />
Nicht für die oktobristischen und progressistischen Anträge auf Obergang<br />
zur Tagesordnung zu stimmen.<br />
Keine <strong>Red</strong>en über die „Versöhnung der Macht mit dem Lande" zu<br />
halten.<br />
Niemals zu schweigen, wenn die rechts-oktobristische Mehrheit antidemokratische<br />
Maßnahmen durchführt.<br />
Der Schließung und Einengung allgemeiner, prinzipieller Debatten nicht<br />
zuzustimmen.<br />
Wir raten allen und jedem, der mit Kadetten zusammentrifft, nicht zu<br />
vergessen, sie zu fragen, ob sie die Frage der aktiveren Maßnahmen „aufgeworfen"<br />
haben, wie sie sie gelöst haben, wenn sie darangegangen sind,<br />
sie aufzuwerten, wie sie die „aktiveren Maßnahmen" in der Tat anwenden.<br />
Das Land rückt nach links. Eine neue Demokratie erwacht zum Leben.<br />
Die zur Schau getragene kaum merkliche Linksschwenkung der Kadetten<br />
hat ein ganz bestimmtes politisches Ziel: diese neue Demokratie zu täuschen,<br />
sie für sich zu gewinnen, sich als ihr Vertreter auszugeben.<br />
Eine dringliche Aufgabe der Demokratie ist es, diesen Betrug zu ver-
Wachsendes Mißverhältnis 563<br />
hindern. Wer aus den ernsten Lehren der Vergangenheit nicht die Schlußfolgerung<br />
gezogen hat, daß unausbleiblich Schwankungen, Verrat, unrühmliche<br />
kampflose Niederlagen die Folgen sind, wenn die Kadetten<br />
auch nur teilweise die Führung der demokratischen Elemente übernehmen,<br />
der hat nichts gelernt. Den muß man als Feind der Demokratie ansehen.<br />
VII<br />
Insgesamt genommen stellt die Kadettenberatung ein interessantes<br />
Dokument über das politische Leben unseres „Zentrums" dar. Gewöhnlich<br />
werden solche Dokumente, exakte und förmliche Beschlüsse organisierter<br />
Parteien, bei uns von der Presse wenig beachtet. Gegen „Resolutionen"<br />
hat man eine Abneigung. Interviews und Gerüchte zieht man vor.<br />
Ein ernstes Herangehen an die Fragen der Politik jedoch erfordert die<br />
sorgfältigste Analyse der Parteibeschlüsse, und die Marxisten werden alles<br />
tun, was von ihnen abhängt, um eine solche Analyse zu fördern.<br />
Wir nannten die Kadetten das „Zentrum". 'Ublidh ist, so die Oktobristen<br />
zu nennen, die zwischen den Rechten und der Opposition stehen.<br />
Jedoch darf man sich - sowohl vom Standpunkt der Klassenwurzeln der<br />
politischen Parteien wie auch vom Standpunkt des Wesens der beutigen<br />
Politik überhaupt - bei der Analyse der Parteien nicht auf die Duma beschränken,<br />
darf man nicht nur die Oktobristen für das „Zentrum" halten.<br />
Man betrachte die Klassenwurzeln unserer Parteien: Die Rechten und<br />
die Nationalisten sind, im allgemeinen, feudale Gutsbesitzer. Sie sind für<br />
die Aufrechterhaltung und „Vertiefung" des jetzigen Regimes.<br />
Bei den Oktobristen, Progressisten und Kadetten sehen wir den Gutsbesitzer<br />
von einem zweifellos mehr bürgerlichen Typus, dann aber auch<br />
eine Menge Großbourgeoisie. Alle diese Parteien wollen Reformen. Sie<br />
alle bilden das wirkliche Zentrum zwischen den feudalen Gutsbesitzern<br />
und der Demokratie (der bäuerlichen und der proletarischen).<br />
Die Bourgeoisie fürchtet die Demokratie mehr als die Reaktion; das<br />
gilt für die Progressisten ebenso wie für die Kadetten. Die oppositionelle<br />
Einstellung der beiden letztgenannten Parteien muß man bei den praktischen<br />
Aufgaben der Tagespolitik natürlich in Rechnung stellen, doch darf<br />
uns diese oppositionelle Einstellung nicht die Klassenverwandtschait dieser<br />
Parteien mit den Oktobristen vergessen lassen.
564 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />
Die feudalen Gutsbesitzer herrschen sowohl allein als auch im Block<br />
mit den Spitzen der Bourgeoisie. Die Fronherren sind gegen Reformen.<br />
Die Bourgeoisie ist, allgemein gesprochen, für Reformen, wobei sie sich<br />
auf die Position des Reformertums beschränkt, was man weder von der<br />
bäuerlichen noch auch - insbesondere - von der proletarischen Demokratie<br />
sagen kann.<br />
Die Kadettenberatung zeigt uns deutlich das Reformertum der Kadetten<br />
als ihre ausschließliche Taktik. Wichtig ist vor allem, sich den Z«sammenbang<br />
dieser Taktik mit den Klasseninteressen der Bourgeoisie und<br />
die Ilnzulänglidhkeit dieser Taktik, ihr „wachsendes Mißverhältnis" zu<br />
den Bedürfnissen des Landes vor Augen zu halten. Wichtig ist vor allem,<br />
die grundsätzliche Verwandtschaft der Kadetten mit den Oktobristen und<br />
die völlige Unmöglichkeit irgendwelcher Erfolge der Demokratie unter der<br />
Leitung der Kadetten klarzumachen.<br />
VIII<br />
Mein Artikel war bereits fertig, als ich die Nr. 30 der Zeitung „Golos<br />
Moskwy" mit dem der Kadettenberatung gewidmeten redaktionellen Artikel<br />
„Wie nun weiter?" erhielt.<br />
Dieser Artikel ist, im Zusammenhang mit den Dumaabstimmungen<br />
vom 6. Februar (Annahme des Antrags auf Übergang zur Tagesordnung<br />
nach den Erklärungen von Kasso) 133 , so wichtig und wirft ein so grelles<br />
Licht auf die Frage der Stellung der Kadetten zu den Oktobristen, daß<br />
man dazu unbedingt etwas sagen muß.<br />
„Golos Moskwy", das offizielle Organ der Oktobristen, stellt die Kadettenberatung<br />
(die Zeitung nennt sie aus irgendeinem Grunde Konferenz)<br />
als einen Sieg der linken Kadetten mit Miljukow an der Spitze über<br />
die rechten Kadetten dar.<br />
„Die gesetzgeberische Tätigkeit", so legt „Golos Moskwy" die Resolution<br />
ler Kadetten dar, „kann nur insofern genutzt werden, als sie diesen Hauptaufgaben<br />
nicht widerspricht" (d. h. dem allgemeinen Wahlrecht, der Reform<br />
des Reichsrats und der Verantwortlichkeit des Kabinetts).<br />
„Einfacher gesagt, die Annahme 'einer solchen Formel ist gleichbedeutend mit<br />
der Ablehnung jeglicher gesetzgeberischen Tätigkeit in den Grenzen der realen<br />
Möglichkeiten, und die kadettische Opposition nimmt nunmehr offen den<br />
Charakter einer nicht verantwortlichen Opposition an."
Wachsendes Mißverhältnis 565<br />
„Golos Moskwy" zieht hieraus den Schluß, daß lediglich die Auflösung<br />
der Duma übrigbleibe, da sich die Oktobristen niemals einer so<br />
„unversöhnlichen" (Scherz beiseite!) „Position" der Kadetten anschließen<br />
•werden, da es in der Duma keinerlei Mehrheit gebe, „absolute Ünzuverlässigkeit"<br />
herrsche ...<br />
So wird Geschichte geschrieben!<br />
Hier zeigt sich vortrefflich die überaus nahe Verwandtschaft der Kadetten<br />
mit den Oktobristen und der wirkliche Charakter ihrer „Zwiste":<br />
Pack schlägt sich, Pack verträgt sich ...<br />
Am 6. Februar verkündet in Moskau, wie wir sahen, das offizielle<br />
Organ der Oktobristen die völlige Auflösung des oktobristisch-kadettischen<br />
Blocks nach der Kadettenberatnng, die vor dem 4. 7ebruar stattgefunden<br />
hatte (am 4. Februar berichtete die „Retsch" über die Beratung).<br />
An demselben 6. Februar nehmen in St. Petersburg, in der IV. Reichsduma,<br />
die Oktobristen und die Kadetten zusammen mit 173 Stimmen bei<br />
153 Gegenstimmen den oktobristisdh-kadettisdhen Antrag zu den Erklärungen<br />
Kassos an - einen Antrag, der dann bei der Kontrollabstimmung<br />
zufällig abgelehnt wird!!<br />
Hübsdi, nicht wahr?<br />
Wir haben ein direkt klassisches Beispiel vor uns, wie die Oktobristen<br />
und die 'Kadetten ihre politischen „Geschäftchen" abwickeln. Sie bilden<br />
keinerlei „Block", gottbewahre! Aber sie verteilen untereinander die<br />
Rollen zur Nasführung der Öffentlichkeit so „geschickt", daß kein formeller<br />
Block ihnen solche „Bequemlichkeiten" bieten würde. Die Kadetten<br />
sehen, daß das Land nach links rückt, daß eine neue Demokratie im Entstehen<br />
ist, und deshalb machen sie in Linksradikalismus, indem sie mit<br />
Hilfe ihrer Beratung einige absolnt nichtssagende, völlig inhaltslose, aber<br />
linksklinijende Phrasen in Umlauf bringen. Die Oktobristen unterstützen<br />
in der Öffentlichkeit diese Empfindung oder diesen Eindruck, daß die<br />
Kadetten nach links gerückt seien, dadurch, daß sie offiziell, in einem<br />
redaktionellen Artikel des „Golos Moskwy", die Position der Kadetten<br />
als unversöhnlich hinstellen, die Bildung einer Dumamehrheit durch die<br />
Vereinigung der Oktobristen mit den Kadetten für unmöglich erklären,<br />
gegen die Kadetten wegen ihres Linksradikalismus wettern, Geschrei erheben<br />
um eine Auflösung der Duma usw. usf.<br />
In Wirklichkeit aber verhandeln sie insgeheim mit den Kadetten und
566 W. 1. <strong>Lenin</strong><br />
einigen sich mit ihnen auf einen gemeinsamen Antrag gerade während<br />
ihres schärfsten Ausfalls gegen den Linksradikalismus der Kadetten!!<br />
„Die Wölfe sind satt, und die Schafe sind unversehrt." Die Demokratie<br />
ist genasführt, hintergangen, in die kadettisdie Herde gelockt (sind doch<br />
die Kadetten solche Linken ... seht nur, wie die Oktobristen sie wegen<br />
ihres Linksradikalismus beschimpfen!), und der oktobristisch-kadettische<br />
Block in der Schwarzhunderterduma ist unversehrt, hat sich gefestigt, entwickelt.<br />
Da möchte man ausrufen: O Himmel! Wann endlich wird Rußlands<br />
Demokratie diesen einfachen Mechanismus der liberalen kadettischen<br />
Prellerei begreifen? Spielen doch in allen Ländern Europas die liberalen<br />
bürgerlichen Politiker, auf diese oder jene Weise, gerade dieses selbe<br />
Spiel: Vor dem Volk, für die Wahlen, in offiziellen Äußerungen schreien<br />
und schwören sie, sie seien Demokraten, Radikale (die deutschen „Freidenker",<br />
Lloyd George und Co. in England), ja sogar Sozialisten (die<br />
Radikalsozialisten in Frankreich). Und in 'Wirklichkeit, in ihrer praktischen<br />
Politik, gehen sie zusammen mit den unbedingt antidemokratischen<br />
Regierungen und Parteien, mit den Oktobristen der verschiedenen Schattierungen<br />
und verschiedenen Nationalitäten.<br />
Wie alt ist doch diese Geschichte und wie endlos häufig wird sie von<br />
den Kadetten wiederholt!<br />
IX<br />
„Golos Moskwy" beteuert, die Kadetten hätten vor den Wahlen<br />
„eine heftige Polemik gegen die Linken betrieben und dabei die Notwendigkeit<br />
der gesetzgeberischen Tätigkeit in den Grenzen der realen Bedingungen<br />
nachzuweisen gesucht. Das berechtigte auch zu der Hoffnung, daß eine Verständigung<br />
des Dumazentrums mit der Opposition möglich sein würde. Nach<br />
den Wahlen jedoch vollzog sich in den Ansichten der Führer der Kadettenpartei<br />
ein wesentlicher Wandel. Die von Miljukow vorgeschlagene und von der<br />
Konferenz angenommene Resolution zur Frage der Dumataktik unterscheidet<br />
sich grundlegend von allem, was während der Wahlen offenbar zur Gewinnung<br />
der Stimmen des städtischen Großbürgertums gesagt wurde. Das letztere wäre<br />
wohl kaum bereit gewesen, die Kadetten auf der Grundlage der jetzt von der<br />
Konferenz aufgestellten Plattform zu unterstützen."<br />
Ein Musterbeispiel von Urteilen, bei denen man nicht weiß, worüber
"Wamsendes Mißverhältnis 567<br />
man sich mehr wundern soll: über die naive Schlauheit oder über die<br />
naive Ignoranz.<br />
Keinerlei Wandel hat sich in den Auffassungen der Kadetten vollzogen.<br />
Sie waren immer und bleiben eine liberale Partei, die die Demokratie<br />
durch Betrug für sich gewinnt. Auch bei den Wahlen von 1912 stellten<br />
die Kadetten gegenüber der Großbourgeoisie ihr „wirkliches" Gesicht,<br />
ihre „Solidarität" von Geschäftsleuten, ihre „Nüchternheit" als Diener<br />
der Kapitalistenklasse in den Vordergrund. Und dem demokratischen<br />
Wähler waren dieselben Kadetten gleichzeitig eifrig bemüht zu beweisen,<br />
daß sie - Demokraten seien, daß ihre Taktik in der Duma sich in nichts<br />
Wesentlichem von der Taktik der Sozialdemokratie unterscheide.<br />
Diese beiden Seiten der Kadettenpolitik sind das notwendige „Beiwerk"<br />
jeder liberalen Partei in allen zivilisierten Ländern. Natürlich wählen nicht<br />
selten einzelne Mitglieder der Partei ihre Spezialität, die einen machen in<br />
Demokratismus, die anderen in Ernüchterung der „Begeisterten" und in<br />
„seriöser" bürgerlicher Politik. Aber das geschieht doch in allen Ländern.<br />
Englands bekannter liberaler Scharlatan Lloyd George zum Beispiel stellt<br />
sich in Volksreden geradezu als Revolutionär und beinah als Sozialisten<br />
hin, in Wirklichkeit aber folgt dieser Minister in der Politik seinem Führer<br />
Asquith, der einem Konservativen in nichts nachstellt.<br />
Wenn der Artikel im „Golos Moskwy" Herrn Miljukow als Vertreter<br />
der linken Kadetten hinstellt, so können wir nur lächeln. Herr Miljukow<br />
vertritt in Wirklichkeit die offizielle kadettische Diplomatie, die das undemokratische<br />
Wesen der Partei mit der demokratischen Phrase vereinbaren<br />
wilL<br />
„Golos Moskwy" schreibt:<br />
„Diese neue Position des Herrn Miljukow ,nach den Wahlen' wurde von der<br />
Konferenz bei weitem nicht einstimmig gebilligt. Ein großer Teil ihrer Mitglieder<br />
bestand auf der Taktik der Verständigung mit dem Dumazentrum<br />
zwecks Durchbringung einzelner Vorlagen und Kulturreformen. Die Anhänger<br />
dieses Standpunkts suchten zu beweisen, daß bei der Erörterung verschiedener<br />
Gesetzesvorlagen die Fraktion auf Kompromisse eingehen müsse, um diese<br />
Vorlagen in liberalem Geiste durchzubringen und sie auf keinen Fall unannehmbar<br />
zu machen." Es folgt ein Ausfall gegen die „berühmte kadettische<br />
Disziplin" und die „unbedingte Unterordnung" der Kadetten „unter den autokratischen<br />
Willen" des Herrn Miljukow.
568 W. 3. <strong>Lenin</strong><br />
Ein deutliches Spiel. Eine durchsichtige Sache. Die Oktobristen „reizen"<br />
die rechten Kadetten, suchen sie als besiegt hinzustellen und zu einem entschlosseneren<br />
Kampf gegen die linken Kadetten herauszufordern. Dieses<br />
Spiel der Oktobristen (das unmöglich wäre, wären die Kadetten und die<br />
Oktobristen nicht Mitglieder ein und derselben Familie) schafft jedoch<br />
nicht die unbestrittene Tatsache aus der Welt, daß sich die linken und<br />
die rechten Kadetten, die Lloyd George und die Asquith unseres Liberalismus,<br />
in den Schattierungen unterscheiden.<br />
Man werfe einen Blick auf die „Russkaja Molwa". Dieses Organ der<br />
Progressisten, das einen Kompromiß zwischen den Oktobristen und den<br />
Kadetten predigt, schart immer mehr offizielle Mitglieder der Kadettenpartei<br />
um sich. Nicht auf einmal, aber allmählich, erschienen dort, dem<br />
„wechistischen" Führer Struve folgend, Mansyrew, Maklakow, Obolenski,<br />
Gredeskul, Alexandrow. Daß eine solche Kumpanei zu einer stärkeren<br />
Annäherung an die Oktobristen tendierte, steht außer Zweifel. Das<br />
konnte nicht anders sein. Aber ebenso steht außer Zweifel, daß Miljukow<br />
sie auf einer Plattform mit demokratischem Aushängeschild und oktobristisdiem<br />
Wesen mit den „linken Kadetten" versöhnen will.<br />
X<br />
Die von den verschiedenen Parteien in der Duma zu den Erklärungen<br />
Kassos gestellten Anträge auf Übergang zur Tagesordnung sind von<br />
großem Interesse. Sie geben uns exaktes, von den Abgeordneten der verschiedenen<br />
Parteien offiziell bestätigtes Material für die politische Analyse.<br />
Gerade der Analyse bedarf dieses Material gewöhnlich am meisten.<br />
Es verliert sich in den Notizen der Tagespresse oder in der Unmenge stenografischer<br />
Berichte der Duma. Doch ist es äußerst lohnend, zur Aufhellung<br />
der wahren Natur der verschiedenen Parteien bei ihm zu verweilen.<br />
Im redaktionellen Artikel der „Retsch" am Tage nach der Annahme des<br />
Mißtrauensvotums heißt es: „Somit hat die russische Gesellschaft von der<br />
Reichsduma erhalten, was sie zu erwarten ein Recht hatte" (Nr. 37,<br />
7. Februar). Das heißt also, die „Gesellschaft" brauchte nur zu wissen:<br />
Vertraut die Duma Herrn Kasso oder nicht? Mehr ist nicht vonnöten!<br />
Das ist nicht wahr. Das Volk und die Demokratie müssen die Motive<br />
des Mißtrauens kennen, um die Ursachen einer Erscheinung zu verstehen,
Wachsendes Mißverhältnis 569<br />
die in der Politik für anomal erklärt wird, und um in der Lage zu sein,<br />
den Ausweg zum Normalen zu finden. Die Einigung der Kadetten, der<br />
Oktobristen und der Sozialdemokraten allein auf die Formel „wir vertrauen<br />
nicht" gibt in diesen überaus ernsten Fragen allzowenig.<br />
Hier die Formulierung des Antrags auf Übergang zur Tagesordnung<br />
bei den Oktobristen:<br />
„Die Reichsduma... ist der Meinung: 1. daß jede Hereinziehung der<br />
Schüler der Mittelschulen in den politischen Kampf verderblich ist für die<br />
geistige Entwicklung der jungen Kräfte Rußlands und schädlich für den normalen<br />
Ablauf des gesellschaftlichen Lebens; 2. daß es notwendig ist, in Fällen<br />
rechtzeitiger Informierung der Behörden über unerwünschte Erscheinungen in<br />
der Mittelschule vorbeugende Maßnahmen zu treffen und nicht zu warten, bis<br />
die Erscheinungen einen anomalen Charakter annehmen*; 3. sie spricht sich<br />
entschieden gegen die Polizeimaßnahmen aus, die am 10. XII. 1912 ohne Kenntnis<br />
der Schulbehörde gegen die Schüler ergriffen wurden, anstatt sich auf die<br />
natürliche pädagogische Einwirkung zu beschränken; 4. sie konstatiert die den<br />
pädagogischen Prinzipien zuwiderlaufende Langsamkeit, mit der über das<br />
Schicksal der aus den Lehranstalten entfernten Schüler entschieden wird, und in<br />
der Erwartung der unverzüglichen Liquidierung dieses Falles in einem für die<br />
Schüler wohlwollenden Sinne geht sie zur Tagesordnung über."<br />
Welche politischen Ideen liegen diesem Votum zugrunde?<br />
Die Politik in der Schule ist schädlich. Die Schüler sind schuldig. Strafen<br />
aber sollen sie die Pädagogen nnd nicht die Polizisten. Mit der Regierung<br />
sind wir unzufrieden wegen des Mangels an „Wohlwollen" und wegen<br />
der Langsamkeit.<br />
Das sind antidemokratische Ideen. Das ist eine liberale Opposition:<br />
Mag das System der alten Macht bleiben, nur soll man es milder anwenden.<br />
Prügle, aber mit Maß, und ohne daß es einen Skandal gibt.<br />
Nehmen wir die Formulierung des Antrags auf Übergang zur Tagesordnung<br />
bei den Progressisten.<br />
* Dieser Text wurde in der Sitzung vom 25. Januar eingebracht. In der<br />
Sitzung vom 1. Februar wurde Punkt 2 wie folgt geändert: „Sie vermerkt<br />
anläßlich des gegebenen Einzelfalls das in der Mittelschule herrschende formale<br />
und teilnahmslose Verhalten zu den Schülern und die Entfremdung des<br />
pädagogischen Personals von der Familie und erachtet für notwendig, daß auf<br />
die heranwachsende Generation die allgemeine wohlwollende Aufmerksamkeit<br />
gerichtet werde."<br />
37 <strong>Lenin</strong>, Weile, Bd. <strong>18</strong>
570 Ti>. J. £enin<br />
„Die Duma ... stellt fest: 1. Das über die Vorgänge, die sich in letzter Zeit<br />
in den mittleren Lehranstalten in St. Petersburg abgespielt haben, unterrichtete<br />
Ministerium für Volksbildung hat seine Pflichten vernachlässigt und die Mittelschule<br />
nicht vor dem Eindringen der Polizei geschützt; 2. die von den Polizeibeamten<br />
angewandten und vom Ministerium für Volksbildung ohne Protest<br />
hingenommenen Methoden, die Durchsuchung von Schulen, die Verhaftung<br />
und Festhaltung von Kindern in den Polizeirevieren, die unzulässigen Untersuchungsverfahren,<br />
sind in keiner Weise zu rechtfertigen, um so mehr, als es<br />
sich im gegebenen Fall nicht um den Schutz der Staatssicherheit handelte,<br />
sondern um die Wiederherstellung der Ordnung in der Mittelschule; 3. das<br />
ganze auf die Entfremdung zwischen Schule und Familie gerichtete System<br />
von Maßnahmen des Ministeriums für Volksbildung schafft durch den seelenlosen,<br />
die sittliche und geistige Entwicklung der jungen Generation unterdrückenden<br />
Formalismus Bedingungen, die der Herausbildung anomaler Erscheinungen<br />
im Leben der Schule günstig sind. Die Erklärungen des Ministeriums<br />
für Volksbildung für unbefriedigend erachtend, geht die Duma zur<br />
Tagesordnung über."<br />
Dieser Antrag war am 30. Januar eingebracht worden, und die Progressisten<br />
erklärten schon damals, daß sie für die Oktobristen stimmen<br />
würden, falls diese das Mißtrauensvotum hinzufügten. Die Resultate<br />
dieses Kuhhandels haben wir weiter oben gesehen.<br />
Auf welchem Boden war dieser Kuhhandel möglidh? Auf dem Boden<br />
der Übereinstimmung im Grundlegenden.<br />
Audi die Progressisten erachten die Politik in der Schule für anomal,<br />
auch sie fordern die „Wiederherstellung der Ordnung" (der Leibeigenschaftsordnung).<br />
Auch bei ihnen sehen wir die Opposition mit dem Genitiv,<br />
die Opposition nicht gegen das System der alten Macht, sondern<br />
gegen seine - „teilnahmslose, seelenlose" usw. - Anwendung. Pirogow<br />
war in den sechziger Jahren damit einverstanden, daß das Prügeln nötig<br />
sei, aber er forderte, daß nicht teilnahmslos, nidbt seelenlos geprügelt<br />
werde. Die Progressisten sind nicht dagegen, daß die gegenwärtigen<br />
sozialen Elemente „die Ordnung wiederherstellen", nur finden sie es ratsamer,<br />
dies „mit mehr Teilnahme" zu tun. Welcher Fortschritt bei uns in<br />
einem halben Jahrhundert!<br />
Die Formulierung des Antrags auf Übergang zur Tagesordnung bei den<br />
Kadetten:<br />
„Nach Kenntnisnahme der Erklärungen des Ministers für Volksbildung stellt
Wamsendes Mißverhältnis 571<br />
die Duma fest: 1. daß in ihnen der pädagogische Standpunkt völlig mit dem<br />
polizeilichen Standpunkt vermengt wird; 2. daß diese Erklärungen absolut die<br />
normalen Grundlagen negieren, die die Herstellung freundsdiaftlidier Beziehungen<br />
der Zusammenarbeit zwischen Schule und Familie ermöglichen; 3. daß<br />
die Politik des Ministeriums, die eine tiefgehende Unzufriedenheit unter den<br />
Schülern und eine berechtigte Gereiztheit in der Gesellschaft zur Folge hat,<br />
selbst zur Herausbildung jener Atmosphäre beiträgt, die die verfrühte Hereinziehung<br />
der lernenden Jugend in die Beschäftigung mit der Politik begünstigt<br />
und damit selbst die Bedingungen schafft, deren Entstehen verhindert werden<br />
sollte; 4. daß die Behandlung der Schüler, als wären es Staatsverbrecher, das<br />
Leben der Begabtesten unter der heranwachsenden Generation zerstört, aus<br />
ihren Reihen zahlreiche Opfer fordert und eine Gefahr für die Zukunft Rußlands<br />
darstellt - sie erachtet daher die Erklärung des Ministers für unbefriedigend<br />
und geht zur Tagesordnung über."<br />
In viel milderer und mit Phrasen umhüllter Form wird hier gleidbfatts<br />
die „verfrühte" Hereinziehung der Jugend in die Politik verurteilt. Das<br />
ist ein antidemokratischer Standpunkt. Sowohl die Oktobristen als auch<br />
die Kadetten verurteilen die Polizeimaßnahmen nur deshalb, weil sie statt<br />
ihrer vorbeugende Maßnahmen fordern. Das System soll die Versammlungen<br />
nicht auseinandertreiben, es soll ihnen vorbeugen. Es ist klar, daß<br />
das System selbst durch eine solche Reform nur überschminkt, nicht aber<br />
geändert wird. Wir sind unzufrieden mit der Politik des Ministeriums,<br />
sagen die Kadetten, und sie folgern ganz wie die Oktobristen, daß es<br />
möglidb sei, eine Änderung dieser Politik zu wünsdien, ohne sehr viel<br />
tiefer zu greifen.<br />
Die Kadetten sprechen sich gegen die Regierung viel schärfer aus als die<br />
Oktobristen, und unentwickelte politische Elemente übersehen über dieser<br />
Schärfe der Worte die absolute Identität der liberalen, antidemokratischen<br />
Jragesteüung bei den Kadetten wie bei den Oktobristen.<br />
Die Duma soll das Volk Politik ernsthaft lehren. Wer bei den Kadetten<br />
Politik lernen will, der verdirbt sein Bewußtsein, anstatt es zu entwickeln.<br />
Daß die Oktobristen, Progressisten und Kadetten miteinander feilschten<br />
und sich auf einen gemeinsamen Antrag einigten, ist kein Zufall, sondern<br />
das Resultat ihrer ideologisch-politischen Solidarität im Grundlegenden.<br />
Es gibt nichts Jämmerlicheres als die Politik der Kadetten: um die<br />
Anerkennung der Erklärungen als unbefriedigend zu erreichen, gehen sie<br />
auf die direkte Verurteilung der Politik in den Schulen ein! Doch die
572 W.!J.£enin<br />
Kadetten gingen darauf ein, weil sie selbst die „verfrühte" Hereinziehung<br />
der Jugend verurteilen.<br />
Der Antrag der Trudowikigruppe:<br />
„In Anbetracht dessen: 1. daß die am 9. XII. 1912 gegen die lernende Jagend<br />
einer Mittelschule ergriffenen groben Gewaltmaßnahmen, die infolge der<br />
schmachvollen Heranziehung einer Ochranaabteilung zur pädagogischen Beaufsichtigung<br />
der Schüler der Mittelschule in der Gesellschaft Bestürzung hervorriefen,<br />
in der Erklärung des Ministers für Volksbildung, Herrn Kassos, nur<br />
volle Billigung, begleitet von schadenfroher Verhöhnung der öffendichen Meinung,<br />
gefunden haben; 2. daß das System der Durchsuchungen und der<br />
Ochrana, dieses Resultat der ganzen Politik des vereinigten Ministeriums und<br />
insbesondere des Ministers für Volksbildung Kasso, zum endgültigen Zusammenbruch<br />
führt und die heranwachsende Generation in der Zukunft<br />
schweren Erschütterungen auszusetzen droht - fordert die Reichsduma die unverzügliche<br />
Wiederaufnahme aller am 9. XII. Ausgeschlossenen; die Erklärungen<br />
des Ministers für Volksbildung Kasso für unbefriedigend erachtend,<br />
fordert sie seinen sofortigen Rücktritt und geht zur Tagesordnung über."<br />
Diese Formulierung ist, strenggenommen, eine scharfe liberale Formulierung,<br />
doch das, was ein Demokrat sagen müßte, zum Unterschied vom<br />
Liberalen, ist in ihr nicht enthalten. Auch der Liberale kann die Heranziehung<br />
der Ochrana zur pädagogischen Aufsicht als schmachvoll bezeichnen,<br />
der Demokrat aber muß sagen (und er muß das dem Volk klarmachen),<br />
daß keinerlei „Aufsicht" berechtigt ist, die freie Organisierung<br />
von Zirkeln und von Gesprächen über politische Fragen zu verbieten.<br />
Auch der Liberale kann die „ganze Politik des vereinigten Ministeriums"<br />
verurteilen, der Demokrat in Rußland aber muß klarlegen, daß es gewisse<br />
allgemeine Bedingungen gibt, die auch jedes andere Ministerium zwingen<br />
würden, im wesentlichen dieselbe Politik zu betreiben.<br />
Der Demokratismus der Trudowikiformulienmg kommt nur in ihrem<br />
Ton, in der Stimmung der Verfasser zum Ausdruck. Die Stimmung ist ein<br />
politisches Symptom, das ist klar. Doch von einem Antrag auf Übergang<br />
zur Tagesordnung sollte man einen durchdachten Gedanken erwarten<br />
können und nicht nur eine „den Geist erhebende" Stimmung.<br />
Die Formulierung des Antrags auf Übergang zur Tagesordnung bei den<br />
Sozialdemokraten:<br />
„Die Reichsduma, die die Erklärungen des Ministers für Volksbildung zur<br />
Kenntnis genommen hat, erblickt in ihnen: 1. die Entschlossenheit, den Kampf
Wachsendes Mißverhältnis 573<br />
zu fahren gegen das natürliche und erfreuliche Streben der lernenden Jugend,<br />
ihren Gesichtskreis auf dem Wege der Selbstbildung zu erweitern und kameradschaftlichen<br />
Verkehr zu pflegen; 2. die Rechtfertigung des in den Hoch-,<br />
Mittel- und Grundschulen verbreiteten Systems des bürokratischen Formalismus,<br />
des Spitzelwesens und der polizeilichen Durchsuchungen, das zur geistigen<br />
und moralischen Verkrüppelung der Jugend führt, die geringste Andeutung<br />
selbständigen Denkens und unabhängiger Charakterbildung brutal unterdrückt<br />
und eine Selbstmordepidemie unter der lernenden Jugend nach sich zieht. Sie<br />
erachtet daher diese Erklärungen für unbefriedigend. Die Reichsduma stellt<br />
zugleich fest, daß 1. die Herrschaft des polizeilichen Standpunkts auf dem Gebiet<br />
der Volksbildung untrennbar verbunden ist mit der Herrschaft der Ochrana<br />
über das ganze Leben in Rußland, mit der Unterdrückung aller Arten organisierter<br />
Selbsttätigkeit der Bürger und mit ihrer Rechtlosigkeit, daß 2. nur die<br />
radikale Umgestaltung der Staatsordnung und des Systems der Staatsverwaltung<br />
die Bürger und auch die Schule von den polizeilichen Fesseln zu befreien<br />
vermag - und geht zur Tagesordnung über."<br />
Wir können auch diese Formulierung kaum als einwandfrei anerkennen.<br />
Wir würden sie uns populärer und ausführlicher wünschen. Wir bedauern<br />
es, daß in ihr ein Hinweis fehlt auf die Berechtigung der Beschäftigung mit<br />
der Politik usw. usf.<br />
Doch bezieht sich unsere Kritik an allen Anträgen durchaus nicht auf<br />
Einzelheiten der redaktionellen Fassung, sondern ausschließlich auf die<br />
grundlegenden politischen Ideen der Verfasser. Der Demokrat mußte die<br />
Hauptsache sagen: Die Zirkel nnd Gespräche sind natürlich und erfreulich.<br />
Hierin liegt das Wesentliche. Jede Verurteilung einer wenn auch „verfrühten"<br />
Hereinziehung in die Politik ist Heuchelei und Obskurantismus.<br />
Der Demokrat mußte die Frage vom „vereinigten Ministerium" emporheben<br />
zur Frage der Staatsordnung. Der Demokrat mußte die „untrennbare<br />
Verbindung" vermerken 1. mit der „Herrschaft der Ochrana", 2. mit<br />
der Herrschaft der Klasse der Großgrundbesitzer von feudalem Typus im<br />
ökonomischen Leben.<br />
geschrieben 6.-9. (19.-22.) lebruar i913.<br />
Veröffentlich; im Tdärz-April i913 in der "Nach dem Jext der Zeitschrift.<br />
Zeitschrift „Troswesdhtsdhenije" 7ir. 3 und 4.<br />
Unterschrift: W.Ujin.
574<br />
EINIGE ERGEBNISSE<br />
DER „FLURBEREINIGUNG'<br />
Wie sehen die Ergebnisse der neuen Agrarpolitik aas? Diese Frage<br />
interessiert - und völlig zu Recht - alle Arbeiter. Die regierungsamtliche<br />
Statistik wird so schlecht und so einseitig geführt, daß man ihr nicht<br />
trauen kann. Zweifelsohne ist die neue Agrarpolitik eine bürgerliche Politik,<br />
doch sie steht ganz und gar unter der Leitung der Herren Purischkewitsch,<br />
Markow und Co., d. h. der Fronherren alten Schlages. Von einer<br />
solchen „Leitung" kann man schwerlich etwas anderes erwarten als ein<br />
Fiasko.<br />
Erwähnen wir die Schlußfolgerungen des Herrn W. Obolenski im letzten<br />
Heft der „Russkaja Mysl" (1913, Nr. 2). Diese Zeitschrift ist eine<br />
kadettische Schwarzhunderter-Zeitschrift. Der Verfasser des Artikels ist<br />
ebenfalls konterrevolutionär, also ein Zeuge, der eher für die Gutsbesitzer<br />
Partei ergreift. Dieser Herr fand nun im Gouvernement Samara einen<br />
Kreis (Nowousensk) mit „gewaltigen" Erfolgen der „Flurbereinigung":<br />
mehr als die Hälfte der Hofbesitzer habe zusammenhängendes Land<br />
erhalten.<br />
Und dennoch sieht die Schlußfolgerung, zu der der Verfasser gelangen<br />
mußte, so aus:<br />
„Was die nächstliegenden Ergebnisse der neuen Agrarreform betrifft, so ...<br />
kann man sie wohl kaum als einigermaßen erfreulich bezeichnen Eine beträchtliche<br />
Menge von Anteilländereien ist für einen Spottpreis von den bäuerlichen<br />
Halbproletariem an die wohlhabenden Bauern und spekulierenden Aufkäufer<br />
übergegangen... Gestiegen sind die Pachtzinsen ... Der Unterschied<br />
in der Ertragsfähigkeit zwischen dem Parzellenbesitz und dem gemeindlichen<br />
Gentengelagebesitz ist ganz geringfügig... Das neue Gesetz... begünstigte
Einige Ergebnisse der „Flurbereinigung" 575<br />
die Verschärfung der Gegensätze zwischen den Bedingungen des Wirtschaftslebens<br />
und seinem inneren Gehalt... Vielleicht arbeitet das bäuerliche Denken<br />
jetzt energischer als während des Höhepunkts der vergangenen Revolution."<br />
Danach, worauf sich das tätige Denken der Bauern richtet, braucht man<br />
den Liberalen von der „Russkaja Mysl" nicht erst zu fragen. Nicht umsonst<br />
hat er die Frage der fronherrlichen Wirtschaft auf den Gutsbesitzerländereien<br />
völlig im dunkeln gelassen.<br />
Doch lohnt es sich, über die Schlußfolgerungen des liberalen Gutsbesitzers<br />
nachzudenken. Alle Gegensätze haben sich verschärft, die Ausbeutung<br />
ist gewachsen, gestiegen sind die Pachtzinsen, ganz geringfügig ist<br />
der Fortschritt der Wirtschaft. Nicht „vielleicht", sondern gewiß arbeitet<br />
das bäuerlicheDenken.<br />
„Trawda" 7ir. 45, TVadh dem 7ext der „Vrawda".<br />
23. 7ebruar 1913.<br />
Unterschrift: "W. 1.
576<br />
DIE HISTORISCHEN SCHICKSALE DER LEHRE<br />
VON KARL MARX<br />
Das Wichtigste in der Marxschen Lehre ist die Klarstellung der weltgeschichtlichen<br />
Rolle des Proletariats als des Schöpfers der sozialistischen<br />
Gesellschaft. Hat.nun der weitere Verlauf der Ereignisse in der ganzen<br />
Welt diese Lehre, wie sie von Marx dargelegt wurde, bestätigt?<br />
Zum erstenmal formulierte sie Marx im Jahre <strong>18</strong>44. Das im Jahre <strong>18</strong>48<br />
erschienene „Kommunistische Manifest" von Marx und Engels gibt bereits<br />
eine geschlossene, systematische, bis heute unübertroffene Darlegung<br />
dieser Lehre. Die Weltgeschichte läßt sich von dieser Zeit an deutlich<br />
in drei Hauptperioden einteilen: 1. von der Revolution <strong>18</strong>48 bis zur<br />
Pariser Kommune (<strong>18</strong>71); 2. von der Pariser Kommune bis zur russischen<br />
Revolution (1905); 3. von der russischen Revolution an.<br />
Werfen wir einen Blick auf das Schicksal der Marxschen Lehre in jeder<br />
dieser Perioden.<br />
Zu Beginn der ersten Periode ist die Marxsche Lehre keineswegs die<br />
herrschende Lehre. Sie ist lediglich eine der äußerst zahlreichen Fraktionen<br />
oder Strömungen des Sozialismus. Vorherrschend sind Formen des Sozialismus,<br />
die im wesentlichen mit unserer Volkstümlerrichtung verwandt<br />
sind: man erkennt nicht die materialistische Grundlage der geschichtlichen<br />
Bewegung, man versteht nicht, die Rolle und Bedeutung jeder Klasse<br />
der kapitalistischen Gesellschaft zu umreißen, man bemäntelt das bürgerliche<br />
Wesen der demokratischen Umgestaltungen mit verschiedenen<br />
scheinsozialistischen Phrasen über „Volk", „Gerechtigkeit", „Recht"<br />
u. dgl. m.
Die historischen S&idksale der Lehre von Karl Marx 577<br />
Die Revolution von <strong>18</strong>48 versetzt allen diesen lärmenden, buntschekkigen,<br />
marktschreierischen Formen des üormarxschen Sozialismus den<br />
Todesstoß. Die Revolution zeigt in allen Ländern die verschiedenen Gesellschaftsklassen<br />
in Aktion. Die Niedermetzelung der Arbeiter durch die<br />
republikanische Bourgeoisie in den Junitagen <strong>18</strong>48 in Paris zeigt endgültig,<br />
daß nur das Proletariat seiner Natur nach sozialistisch ist. Die liberale<br />
Bourgeoisie hat vor der Selbständigkeit dieser Klasse hundertmal mehr<br />
Angst als vor jeder beliebigen Reaktion. Der feige Liberalismus kriecht vor<br />
dieser auf dem Bauch. Die Bauernschaft begnügt sich mit der Beseitigung<br />
der Oberreste des Feudalismus und schlägt sich auf die Seite der Ordnung,<br />
schwankt nur hin und wieder zwischen Arbeiterdemokratie und bürgerlichem<br />
Liberalismus. Alle Lehren von einem nicht klassengebundenen<br />
Sozialismus und einer nidht klassengebundenen Politik erweisen sich als<br />
purer Unsinn.<br />
Die Pariser Kommune (<strong>18</strong>71) schließt diese Entwicklung der bürgerlichen<br />
Umgestaltungen ab; nur dem Heldenmut des Proletariats verdankt<br />
die Republik, d. h. diejenige Form der staatlichen Organisation, in der die<br />
Klassenverhältnisse am wenigsten verhüllt hervortreten, ihre Konsolidierung.<br />
In allen anderen europäischen Ländern führt eine verworrenere und<br />
weniger abgeschlossene Entwicklung ebenfalls zur ausgebildeten bürgerlichen<br />
Gesellschaft. Gegen Ende der ersten Periode (<strong>18</strong>4S-<strong>18</strong>71), der<br />
Periode der Stürme und Revolutionen, stirbt der vormarxsche Sozialismus.<br />
Es entstehen selbständige proletarische Parteien: die I. Internationale<br />
(<strong>18</strong>64-<strong>18</strong>72) und die deutsche Sozialdemokratie.<br />
II<br />
Die zweite Periode (<strong>18</strong>72-1904) unterscheidet sich von der ersten<br />
durch ihren „friedlichen" Charakter, durch das Fehlen von Revolutionen.<br />
Der Westen hat die bürgerlichen Revolutionen abgeschlossen. Der Osten<br />
ist noch nicht reif für sie.<br />
Der Westen tritt in die Phase der „friedlichen" Vorbereitung auf die<br />
Epoche künftiger Umgestaltungen, überall entstehen sozialistische, ihrer<br />
Grundlage nach proletarische Parteien, die es lernen, den bürgerlichen<br />
Parlamentarismus auszunutzen, eine eigene Tagespresse, eigene Bildungs-
578 TV.!. <strong>Lenin</strong><br />
Institutionen, eigene Gewerkschaften, eigene Genossenschaften zu schaffen.<br />
Die Marxsche Lehre trägt den vollen Sieg davon und - wächst in die<br />
Brette. Langsam, aber beharrlich geht der Prozeß der Sammlung und Zusammenfassung<br />
der Kräfte des Proletariats, seiner Vorbereitung auf die<br />
künftigen Schlachten vor sich.<br />
Die Dialektik der Geschichte ist derart, daß der theoretische Sieg des<br />
Marxismus seine Feinde zwingt, sich als Marxisten zu verkleiden. Der<br />
innerlich verfaulte Liberalismus versucht, sich als sozialistischer Opportunismus<br />
neu zu beleben. Die Periode der Vorbereitung der Kräfte auf die<br />
großen Schlachten deuten sie im Sinne des Verzichts auf diese Schlachten.<br />
Die Verbesserung der Lage der Sklaven für den Kampf gegen die Lohnsklaverei<br />
wird von ihnen so erklärt, als verkauften die Sklaven ihre <strong>Red</strong>ite<br />
auf Freiheit für ein Butterbrot. Feige predigen sie den „sozialen Frieden"<br />
(d. h. den Frieden mit den Sklavenhaltern), den Verzicht auf den Klassenkampf<br />
usw. Unter den sozialistischen Parlamentariern, den verschiedenen<br />
Bürokraten der Arbeiterbewegung und der „sympathisierenden" Intelligenz<br />
haben sie sehr viele Anhänger.<br />
III<br />
Die Opportunisten waren noch des Lobes voll darüber, daß unter der<br />
„Demokratie" „sozialer Frieden" herrsche und Stürme nicht notwendig<br />
seien, als in Asien ein neuer Herd der heftigsten Weltstürme entstand.<br />
Auf die russische Revolution folgten die türkische, die persische, die chinesische.<br />
Wir leben heute gerade in der Epoche dieser Stürme und ihrer<br />
„Rückwirkung" auf Europa. Welches immer die Schicksale der großen<br />
chinesischen Republik sein mögen, gegen die jetzt die verschiedenen „zivilisierten"<br />
Hyänen die Zähne fletschen, keine Kraft in der Welt wird die<br />
alte Fronherrschaft in Asien wiederherstellen, wird den heldenhaften<br />
demokratischen Geist der Volksmassen in den asiatischen und halbasiatischen<br />
Ländern vom Erdboden vertilgen können.<br />
Manche Leute, die den Bedingungen der Vorbereitung und Entwicklung<br />
des Massenkampfes keine Aufmerksamkeit schenkten, wurden durch den<br />
langen Aufschub des entscheidenden Kampfes gegen den Kapitalismus in<br />
Europa zur Verzweiflung und zum Anarchismus getrieben. Wir sehen<br />
heute, wie kurzsichtig und kleinmütig die anarchistische Verzweiflung ist.
"Die historischen Schicksale der Zehre von Xarl Marx. 579<br />
Nicht Verzweiflung, sondern Zuversicht müssen wir aus der Tatsache<br />
schöpfen, daß Asien mit seinen 800 Millionen in den Kampf um dieselben<br />
Ideale einbezogen wurde, um die in Europa gekämpft wird.<br />
Die asiatischen Revolutionen haben uns die gleiche Charakterlosigkeit<br />
und Niedertracht des Liberalismus gezeigt, die gleiche außerordentliche<br />
Bedeutung der Selbständigkeit der demokratischen Massen, die gleiche<br />
deutliche Abgrenzung des Proletariats von jeglicher Bourgeoisie. Wer<br />
nach den Erfahrungen sowohl Europas als auch Asiens von einer nicht<br />
klassengebundenen Politik und einem nicht klassengebundenen Sozialismus<br />
spricht, der verdient, einfach in einen Käfig gesperrt und neben<br />
irgendeinem australischen Känguruh zur Schau gestellt zu werden.<br />
Nach Asien begann sich auch Europa zu rühren - nur nicht auf asiatische<br />
Art. Die „friedliche" Periode <strong>18</strong>72-1904 gehört unwiederbringlich<br />
der Vergangenheit an. Die Teuerung und der Druck der Trusts rufen eine<br />
unerhörte Verschärfung des ökonomischen Kampfes hervor, die sogar die<br />
durch den Liberalismus am stärksten demoralisierten englischen Arbeiter<br />
in Bewegung gebracht hat. Vor unseren Augen reift die politische Krise<br />
selbst in dem „hartgesottensten" bürgerlich-junkerlichen Land, in Deutschland,<br />
heran. Die wahnsinnigen Rüstungen und die Politik des Imperialismus<br />
schaffen im heutigen Europa einen „sozialen Frieden", der am ehesten<br />
einem Pulverfaß gleicht. Und die Zersetzung aller bürgerlichen Parteien<br />
und der Reifungsprozeß des Proletariats schreiten unaufhaltsam vorwärts.<br />
Jede der drei großen Epochen der Weltgeschichte nach dem Aufkommen<br />
des Marxismus brachte ihm neue Bestätigungen und neue Triumphe.<br />
Einen noch größeren Triumph aber wird dem Marxismus als der Lehre<br />
des Proletariats die kommende geschichtliche Epoche bringen.<br />
„Prawda" Nr. 50, Nach dem Jext der „Trawda".<br />
i.!Märzi9i3.<br />
Unterschrift: W.J.
580<br />
DER GROSSGRUNDBESITZ UND DER<br />
KLEINBÄUERLICHE LANDBESITZ<br />
IN RUSSLAND<br />
Es wird nicht überflüssig sein, aus Anlaß des kürzlichen Jahrestags des<br />
19. Februar <strong>18</strong>61 an die gegenwärtige Bodenverteilung im Europäischen<br />
Rußland zu erinnern.<br />
Die letzte offizielle Statistik der Bodenverteilung im Europäischen Rußland<br />
wurde vom Innenministerium herausgegeben und betrifft das Jahr<br />
1905.<br />
1 ••••••••••<br />
•• ••••••••••<br />
•••••••••• •••••••<br />
•••••<br />
•••••<br />
••••••• ••••• • •] •<br />
•<br />
•<br />
•<br />
• ••••••••••••••1<br />
1<br />
• •<br />
•<br />
Nach den Angaben dieser Statistik gab es (abgerundet) etwa 30 000<br />
Großgrundbesitzer mit über 500 Desjatinen Land, die zusammen etwa<br />
70 000 000 Desjatinen Land besaßen.<br />
•••••••••••••••1
Der Qroßgnmdbesitz und der kleinbäuerlidbe Landbesitz in Rußland 581<br />
Etwa 10 000 000 Höfe anner Bauern besitzen ebensoviel Land.<br />
Im Durchschnitt entfallen also auf einen Großgrundbesitzer etwa<br />
330 anner Bauernfamilien, wobei jede Bauernfamilie etwa 7 (sieben) Desjatinen<br />
Land besitzt, während jeder Großgrundbesitzer über etwa 2300<br />
(zweitausenddreibundert) Desjatinen Land verfügt.<br />
Um dies anschaulich vor Augen zu führen, wurde die oben abgedruckte<br />
Zeichnung angefertigt.<br />
Das große weiße Viereck in der Mitte ist das Gut eines Großgrundbesitzers.<br />
Die es umgebenden kleinen Quadrate sind die kleinbäuerlichen<br />
Parzellen.<br />
Im ganzen gibt es 324 Quadrate, während die Fläche des weißen Vierecks<br />
320 Quadraten gleichkommt.<br />
.Vrawda" Jir. 5i, TJad) dem Jext der .Prawda".<br />
2. TAärz i9i3.
582<br />
FALSCHE TÖNE<br />
Herrn Miljukows <strong>Red</strong>e in der Reichsduma zur Frage des allgemeinen<br />
Wahlrechts ist von außerordentlichem Interesse, weil der <strong>Red</strong>ner eine<br />
ganze Reihe Themen berühren mußte, die für die Demokratie von erstrangiger<br />
Bedeutung sind.<br />
Unsere Presse überhaupt - einschließlich der liberalen - macht sich<br />
immer mehr eine abscheulich prinzipienlose Gewohnheit zu eigen, nämlich<br />
die <strong>Red</strong>en in der Duma mit lobenden (Herr Litowzew in der „Retsch")<br />
oder schmähenden Notizen abzutun und niemals den idealogisdoen Gehalt<br />
der <strong>Red</strong>en zu untersuchen!<br />
Die Arbeiter glauben nicht an bürgerliche Politikasterei. Die Arbeiter<br />
wollen die Politik studieren. Um diesem Wunsch zu entsprechen, wollen<br />
wir den Versuch machen, Herrn Miljukows <strong>Red</strong>e zu analysieren.<br />
„Sie", sagt Herr Miljukow, ständig den Oktobristen zugewandt, „Sie sind<br />
mit der Staatsmacht nicht nur durch keine bestimmten Verpflichtungen verbunden,<br />
Sie sind mit der Staatsmacht nicht einmal durch Dankbarkeit verbunden"<br />
-<br />
denn die Wahlen wurden ja zu Ihrem Schaden gefälscht.<br />
Herr Miljukow, der einer der gebildetsten Kadetten, Professor, <strong>Red</strong>akteur<br />
usw. ist, entwickelte ganz ernsthaft dieses Argument und fügte sogar<br />
hinzu:<br />
„...offenbar fehlt in Rußland jene.gesellschafdiche Schicht, die die jetzige<br />
Regierangspolitik unterstützen würde..." („Rossija" Nr. 2236.)<br />
Die Unaufrichtigkeit dieser Betrachtungen ist empörend. Derselbe Herr<br />
Miljukow zitierte weiter den Franzosen Chasles, der richtig sagt, die „zentrale<br />
Aufgabe" „ist die Agrarfrage".
7ahdbe Töne 583<br />
„Um eine konservative III. Duma zu erhalten", sagt Chasles, „mußte die<br />
Mehrheit von den Bauern auf die Gutsbesitzer übertragen werden ... Der<br />
Grundbesitz und die Aristokratie des Reichtums können einen Block von '/a der<br />
Stimmen bilden (bei der Wahl der Mitglieder der Reichsduma, nach unserem<br />
Wahlgesetz), während die Minderheit buchstäblich erdrückt wird: die Bauern,<br />
die Mittelklasse und die städtische Demokratie werden vom Gesetzgeber aufgefordert,<br />
keine Wahlen zu machen, sondern bei den Wahlen zuzuschauen,<br />
sich an ihnen nicht zu beteiligen, sondern anwesend zu sein."<br />
Klug und richtig sind die Oberlegungen des Reaktionärs Chasles. Wir<br />
danken Herrn Miljukow für die interessanten Zitate,... die Herrn Miljukows<br />
Phrasen zersdbUgen! Es ist offensichtlich, daß in Rußland eine<br />
gesellschaftliche „Schicht" existiert (die Klasse der Gutsbesitzer - der<br />
Feudal- oder Fronherren), die die Politik der Regierung unterstützt und<br />
„mit der Staatsmacht" durch die <strong>Band</strong>e der Klasseninteressen verbunden<br />
ist. Die Verbundenheit durch „Verpflichtungen" und „Dankbarkeit" aber<br />
ist überhaupt Unsinn, merken Sie sich das, gelehrter Herr Kadett!<br />
Im folgenden Artikel* werden wir zeigen, wie dieser gelehrte Kadett -<br />
wie die Katze um den heißen Brei - um die „zentrale Aufgabe" (d. h. die<br />
Agrarfrage), auf die der Reaktionär Chasles richtig hingewiesen hat, herumgegangen<br />
ist.<br />
„Prawda" 2Vr. 55, Nadh dem 7ert der „Vrawda".<br />
7.Märzi9i3.<br />
Unterschrift: TV. 1.<br />
* Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 584/585. Die <strong>Red</strong>.
584<br />
DIE „ZENTRALE AUFGABE'<br />
Wir haben gesehen, daß der von Herrn Miljukow zitierte französische<br />
Reaktionär Chasles richtig die Agrarfrage für die „zentrale Aufgabe"<br />
hält, vor der Rußland steht.*<br />
Herr Miljukow zitierte die klugen Worte eines klugen Reaktionärs, hat<br />
aber rein gar nichts von ihnen begriffen!<br />
„Den Bauern, den Sie" (d.h. die Oktobristen und die Regierung: Herr<br />
Miljukow unterhält sich mit ihnenf) „mit Ihren Händen hierhergefuhrt haben,<br />
kann man ihn abhängig machen? Spricht er doch aber den Grund und Boden<br />
von diesem Pult herab, und sagt er doch dasselbe, was der unabhängige Bauer<br />
der I. und der II. Reichsduma gesagt hat. Nein, meine Herren, es gibt kein<br />
Element im rassischen Leben, das unabhängiger und standhafter wäre als der<br />
rassische Bauer." (Beifall von links und Stimmen: Richtig.)<br />
Offensichtlich klatschten allein die heuchlerischen Kadetten, denn alle<br />
wissen, daß erstens in der III. und IV. Reichsduma die Bauern ntcfot ganz<br />
„dasselbe", sondern etwas Gemäßigteres als in der I. und II. Reichsduma<br />
sagen und daß es zweitens im russischen Leben ein unabhängigeres und<br />
standhafteres Element gibt. Herr Miljukow selber mußte in seiner <strong>Red</strong>e<br />
zugeben, daß für die politische Freiheit in Rußland „das meiste" die Arbeiter<br />
getan haben. Oder kann man die „Unabhängigkeit" mit einem anderen<br />
Maßstab messen?<br />
Aber nicht das ist das Wesentliche. Wesentlich ist, ob jetzt die Interessen<br />
der 130 000 Gutsbesitzer und der Masse der Bauern miteinander zu<br />
vereinbaren sind. Herr Miljukow schwatzte um diese Frage herum, um<br />
sidb vor der Antwort zu drücken.<br />
• Siehe den vorliegenden <strong>Band</strong>, S. 582/583. Die "<strong>Red</strong>.
"Die „zentrale Aufgabe" 585<br />
Aber Herr S. Litowzew, den die „Retsdi" znr Beweihräudierung P. Miljukows<br />
gedangen hat, schrieb: Seine <strong>Red</strong>e<br />
„zerriß den Nebel tun diese aktuelle und strittige Frage. Das allgemeine<br />
Wahlrecht ist bis heute für viele eine Art Schreckgespenst, der Gipfel revolutionärer<br />
Einstellung."<br />
Da haben wir schon wieder ein Musterbeispiel der Phrasendrescherei!<br />
Lernt von dem Reaktionär Chasles, ihr Herren liberalen Schwätzer! Die<br />
zentrale Aufgabe ist die Agrarfrage. Sind in dieser Frage jetzt die Interessen<br />
der 130000 Gutsbesitzerfamilien mit denen der 10000000 Bauernfamilien<br />
zu vereinbaren? Ja oder nein?<br />
Hier ist der „zentrale" Punkt in der Frage des allgemeinen Wahlrechts,<br />
Herr Miljukow, und Sie zersetzen das politische Bewußtsein des Volkes,<br />
wenn Sie diesen für jeden verständigen Menschen augenfälligen Kern der<br />
Sache mit Phrasen verunreinigen.<br />
Beantworten Sie die Frage mit "Ja, so werde ich Sie mit Ihrer eigenen<br />
Feststellung widerlegen, daß in der III. und IV. Reichsduma die Bauern<br />
„dasselbe" (wenn auch gemäßigter) sagen wie in der I. und II. Reichsduma.<br />
Beantworten Sie die Frage mit Nein, so wird Ihr ganzes Geschwätz vom<br />
versöhnenden, nicht „einseitigen" Charakter des allgemeinen Wahlrechts<br />
im heutigen Rußland hinfällig.<br />
Und die gelehrten Verweise auf Bismardk sind pure Kinderei, denn Bismarck<br />
„gewährte" das allgemeine Wahlrecht dann, als infolge der bürgerlichen<br />
Entwicklung Deutschlands die Interessen der Gutsbesitzer und aller<br />
wohlhabenden, teilweise sogar der mittleren Bauern bereits miteinander<br />
übereinstimmten.<br />
Vielleicht wird der scharfsinnige Leser fragen: Folgt nicht hieraus, daß<br />
in Rußland das allgemeine Wahlrecht unmöglich ist? Nein, werden wir<br />
dem scharfsinnigen Leser antworten, hieraus folgt nur, daß in Rußland ein<br />
reformerischer Standpunkt unmöglich ist.<br />
„"Prawda" Tür. 56, Nadb dem 7ext der „Prawda".<br />
8. März 1913.<br />
Untersdirift: IV. 1.<br />
38 <strong>Lenin</strong>, Werte, Bd. <strong>18</strong>
586<br />
DIE LIBERALE BESCHÖNIGUNG<br />
DER LEIBEIGENSCHAFT<br />
Der liberale Historiker Herr Miljukow, Führer der Kadettenpartei,<br />
schrieb kürzlich in einem Leitartikel der „Retsch":<br />
„Die soziale Ungleichheit in Rußland (die Leibeigenschaft) erwies sich als<br />
bruchiger und zufälliger entstanden als sonstwo in der zivilisierten Welt. Sie<br />
wich ohne Widerstand (!!!) dem ersten Federstrich. Miljutin und Solowjow<br />
realisierten ohne Mühe das, was schon unter Alexander I. Graf Stroganow als<br />
möglich vorausgesagt hatte."<br />
Wir haben uns daran gewöhnt, daß alle liberalen und einige volkstümlerische<br />
Historiker die Leibeigenschaft und die feudale Staatsmacht in<br />
Rußland beschönigen. Aber zu so schändlichen „Perlen" wie der von uns<br />
zitierten haben es nicht alle gebracht.<br />
Nicht brüchig und nicht zufällig entstanden waren die Leibeigenschaft<br />
und der feudale Gutsbesitzerstand in Rußland, sondern weitaus „kräftiger",<br />
fester, machtvoller, allmächtiger „als sonstwo in der zivilisierten<br />
Welt". Nicht „ohne Widerstand", sondern mit größtem Widerstand traten<br />
diese Leute einen kleinen Teil ihrer Privilegien ab. Oder will uns vielleicht<br />
der Herr Liberale in der „zivilisierten Welt" Beispiele nachweisen<br />
wie das Schicksal Tschernyschewskis?<br />
Miljutin und Solowjow selber verteidigten die Privilegien der Fronherren<br />
und die unerhört drückende „Ablösung" für diese Privilegien. Indem<br />
er hierüber schweigt, entstellt Herr Miljukow die Geschichte, die von<br />
einer fünfzigjährigen „Zählebigkeit" der fronherrlichen Privilegien, der<br />
Allgewalt und Allmacht nach Miljutin und Co., nach „ihrer" Leibeigenschaftsreform<br />
zeugt.<br />
Weshalb beschönigen die liberalen Historiker die Leibeigenschaft und
Die liberale Beschönigung der Leibeigettsäiaft 587<br />
die Leibeigenschaftsreformen? Weil sie bei den Verfechtern solcher Reformen<br />
die ihnen angenehme Servilität vor den Fronherren, die für sie<br />
erfreuliche Furcht vor der Demokratie, das ihnen vertraute Streben nach<br />
einem Block mit der Reaktion, das ihnen bekannte Beschönigen des Klassenkampfes<br />
wahrnehmen.<br />
Es geht um ferne Vergangenheit. Und doch ist die damalige nnd die<br />
jetzige Einstellung der Liberalen („im Äußern, im Herzen doch Beamte"<br />
134 ) zum Klassenkampf eine Erscheinung gleicher Ordnung.<br />
Mit seiner Beschönigung der Leibeigenschaft hat Herr Miljukow ausgezeichnet<br />
sich selbst, seine Partei und den ganzen russischen bürgerlichen<br />
Liberalismus charakterisiert, der sich zur Demokratie zählt, um die Einfältigen<br />
zu nasführen.<br />
.Trawda" Wr. 57, 7Had> dem Jext der „Trawda".<br />
9. März i9i3.<br />
Unterschrift: 1.
588<br />
EIN „WISSENSCHAFTLICHES" SYSTEM<br />
ZUR SCHWEISSAUSPRESSUNG<br />
Der amerikanische Kapitalismus ist allen voraus. Höchstentwickelte<br />
Technik, raschester Fortschritt - alles das zwingt das alte Europa, den<br />
Yankees nachzueifern. Aber nicht die demokratischen Einrichtungen übernimmt<br />
die europäische Bourgeoisie aus Amerika, nicht die politische Freiheit,<br />
nicht die republikanische Staatsform, sondern die neuesten Methoden<br />
zur Ausbeutung des Arbeiters.<br />
Am meisten spricht man jetzt in Europa und zum Teil auch in Rußland<br />
von dem „System" des amerikanischen Ingenieurs Frederick Taylor. Erst<br />
vor kurzem hielt in der Aula des Instituts für Ingenieure des Verkehrswesens<br />
in Petersburg Herr Semjonow einen Vortrag über dieses System.<br />
Taylor selber bezeichnete es als „wissenschaftliches" System, und sein<br />
Buch wird in Europa eifrig übersetzt und propagiert.<br />
Worin besteht dieses „wissenschaftliche System" ? Darin, aus dem Arbeiter<br />
die dreifache Arbeit in derselben Arbeitszeit herauszupressen. Man<br />
läßt den stärksten und geschicktesten Arbeiter arbeiten; mit einer besonderen<br />
Uhr mißt man - nach Sekunden und Bruchteilen von Sekunden -<br />
die Menge der Zeit, die für jeden Arbeitsgang, für jede Bewegung gebraucht<br />
wird; man ermittelt die sparsamsten und produktivsten Arbeitsmethoden;<br />
die Arbeit des besten Arbeiters wird auf einem Filmstreifen<br />
festgehalten usw.<br />
Im Ergebnis wird während der gleichen 9-10 Arbeitsstunden aus dem<br />
Arbeiter die dreifache Arbeit herausgepreßt, werden alle seine Kräfte erbarmungslos<br />
aufgebraucht, wird dem Lohnsklaven mit verdreifachter Geschwindigkeit<br />
jedes bißchen Nerven- und Muskelenergie ausgesogen. Er<br />
wird früher sterben? - Viele andere warten an den Toren! —
Ein „wissensdiaßidbes" System zur SdbweißauspressutuJ 589<br />
Fortschritt von Technik und Wissenschaft bedeutet in der kapitalistischen<br />
Gesellschaft Fortschritt in der Kunst der Sdiweißauspressung.<br />
Hier ein Beispiel aus Taylors Buch.<br />
Verglichen wird die Arbeit des Verladens von Gußeisen, das zur weiteren<br />
Bearbeitung geht, auf einen Karren, verglichen wird das alte und das<br />
neue, das „wissenschaftliche" System:<br />
Altes Neues<br />
System<br />
Zahl der mit Verladearbeiten<br />
beschäftigten Arbeiter<br />
Ein Arbeiter verlädt im Durchschnitt<br />
500 140<br />
Tonnen (je 61 Pud)<br />
Durchschnittsverdienst<br />
16 59<br />
eines Arbeiters<br />
Unkosten des Fabrikanten für das<br />
2,30 Rbl. 3,75 Rbl.<br />
Verladen einer Tonne 14,4 Kop. 6,4 Kop.<br />
Das Kapital senkt seine Unkosten um die Hälfte und mehr. Der Profit<br />
steigt. Die Bourgeoisie ist begeistert und kann die Taylor nicht genug<br />
loben!<br />
Der Arbeiter erhält zunächst einen Zuschlag. Aber Hunderte von Arbeitern<br />
sind entlassen. Wer geblieben ist, arbeitet viermal so intensiv, reibt<br />
sich bei der Arbeit auf. Alle Kräfte des Arbeiters werden ausgepreßt, und<br />
dann wird er davongejagt. Man nimmt nur die Jungen und Starken.<br />
Eine Schweißauspressung nach allen Regem der Wissenschaft...<br />
„Prawda" SVr. 60, Nadh dem Jext der „Vrawda".<br />
i3.!März i9i3.<br />
Untersdirifi: "W.
590<br />
UNSERE„ERFOLGE"<br />
Der Finanzminister in seinen Erläuterungen zum Staatshaushalt wie<br />
auch alle Regierungsparteien versichern sich und den anderen, daß unser<br />
Haushalt stabil sei. Man beruft sich hierbei unter anderem auf die „Erfolge"<br />
der Industrie, in der es in den letzten Jahren zweifellos einen Aufschwung<br />
gegeben hat.<br />
Unsere Industrie wie überhaupt die gesamte Volkswirtschaft Rußlands<br />
entwickelte und entwickelt sich kapitalistisch. Das ist unbestreitbar. Das<br />
braucht man nicht erst zu beweisen. Aber sich auf Angaben über die „Entwicklung"<br />
und auf selbstzufrieden-prahlerische Hinweise wie: „erhöht<br />
sich um soundsoviel Prozent" zu beschränken, heißt die Augen zu versdbtießen<br />
vor der unglaubUdien Rückständigkeit und Armut Rußlands, die<br />
diese Angaben erkennen lassen.<br />
Der Wert der Erzeugnisse unserer gesamten Fabrik- und Werkindustrie<br />
belief sich im Jahre 1908 auf 4307 Mill. Rbl. und im Jahre 1911 auf ca.<br />
4895 Mill. Rbl., berichtet begeistert der Finanzminister.<br />
Man betrachte aber, welche "Bedeutung diese Zahlen haben. In Amerika<br />
wird alle zehn Jahre eine Zählung durchgeführt. Um eine Zahl zu finden,<br />
die der unseren nahekommt, muß man bis ins Jahr <strong>18</strong>60 zurückgehen, als<br />
in Amerika noch die Negersklere» herrschte.<br />
Im Jahre <strong>18</strong>60 betrag in Amerika der Wert der Erzeugnisse der verarbeitenden<br />
Industrie 3771 Mill. Rbl. und im Jahre <strong>18</strong>70 bereits 8464 Mill.<br />
Rbl. Im Jahre 1910 haben wir dort bereits eine Summe von 41 344 Mill.<br />
Rbl., d. h. fast das Neunfadbe der Summe Rußlands. Die Bevölkerung Rußlands<br />
beträgt 160 Mill., die Amerikas 92 Mill. im Jahre 1910 und 31 Mill.<br />
im Jahre <strong>18</strong>60!
"Unsere „Erfolge" 591<br />
Der jährliche Durchschnittsverdienst eines russischen Fabrikarbeiters<br />
betrug im Jahre 1911 - 251 Rbl., 8,2% mehr (nach der Summe aller Arbeitslöhne)<br />
als im Jahre 1910, berichtet begeistert der Finanzminister.<br />
In Amerika betrug im Jahre 1910 der durchschnittliche Verdienst eines<br />
Industriearbeiters - 1036 "Rubel, d. h. mehr als das Vierfache des russischen.<br />
Im Jahre <strong>18</strong>60 machte dieser Verdienst 576 Rubel aus, d.h. das<br />
Doppelte des jetzigen russischen.<br />
Das Rußland des 20. Jahrhunderts, das Rußland der „Konstitution"<br />
vom 3. Juni steht auf einem niedrigeren Niveau als das Amerika der<br />
Sklaverei.<br />
Die Jahresproduktivität eines Fabrikarbeiters in Rußland betrug im<br />
Jahre 1908 - <strong>18</strong>10 Rbl., in Amerika im Jahre <strong>18</strong>60 - 2860 Rbl., im Jahre<br />
1910-6264 Rubel.<br />
Schon diese wenigen Zahlen genügen, um kurz zu erläutern, was der<br />
moderne Kapitalismus ist und was das ihn erdrückende mittelalterliche<br />
Joch der Leibeigenschaft, das die elende Lage der breiten Massen der<br />
Bauernschaft bedingt.<br />
Und aus der Lage der Bauern folgt unausbleiblich ein kläglicher Umfang<br />
des inneren Marktes, sie drückt den Arbeiter nieder, der im Jahre<br />
1911 nur halb soviel verdient wie der amerikanische Arbeiter zur Zeit der<br />
Sklaverei. Außer allem übrigen aber stellt der Weltmarkt Rußland vor<br />
die Wahl: entweder erdrückt zu werden von den Konkurrenten, bei denen<br />
der Kapitalismus mit anderem Tempo und auf wirklich breiter Basis vorwärtsmarschiert,<br />
oder sich von allen Überresten der Leibeigenschaft zu<br />
befreien.<br />
.Trawda" Nr. 61, Tiadb dem 7ext der „Vrawda".<br />
a. "März i9l3.<br />
'Unterschrift: W.
592<br />
VERSTÄNDIGUNG ODER SPALTUNG?<br />
(Zu den Meinungsverschiedenheiten in der<br />
sozialdemokratischen Dumafraktion)<br />
Die öffentliche Meinung der Sozialdemokratie ist beunruhigt durch die<br />
aus dem Brief der sieben Abgeordneten sprechende Gefahr einer Spaltung<br />
der Fraktion. Mit Recht fand diese Frage bei den Arbeitern größtes Interesse.<br />
Es gilt, sich ein klares Bild über die Lage zu verschaffen.<br />
Auf der einen Seite stehen alle sechs ans der Arbeiterkurie hervorgegangenen<br />
Abgeordneten, d. h., wie jeder versteht, die Vertreter der riesigen<br />
Mehrheit der Arbeiterklasse Rußlands. Auf der anderen - die sieben<br />
übrigen Abgeordneten, die in der Fraktion eine zufällige Mehrheit von<br />
einer Stimme haben.<br />
Seinem Äußeren nach geht der Streit darum, daß die 7 Abgeordneten<br />
die übrigen 6 zwingen wollen, Mitarbeiter der Zeitung „Lutsch" zu werden,<br />
und für die Verschmelzung der „Prawda" mit dem „Lutsch" eintreten.<br />
Diese Forderungen der sieben Abgeordneten erscheinen uns -<br />
sagen wir es offen - einfach unernst. Kann man denn jemanden durch<br />
„Stimmenmehrheit" zwingen, an einer Zeitung mitzuarbeiten, deren Auffassungen<br />
er nicht teilt? (Ganz zu schweigen davon, daß jede <strong>Red</strong>aktion,<br />
die etwas auf sich hält, von selbst auf solche mit Gewalt herbeigeschafften,<br />
unfreiwilligen „Mitarbeiter" verzichten würde.) Kann man im Ernst von<br />
einer Verschmelzung der „Prawda" mit dem „Lutsch" reden?<br />
Natürlich nidhtl Und wir erklären geradeheraus, daß wir einen Verzicht<br />
der „Prawda" auf den Kampf gegen das Liquidatorentum und also auch<br />
einen Zusammenschluß der „Prawda" mit dem „Lutsch" für Verrat an<br />
der Sache des. Proletariats ansehen würden, solange der „Lutsch" nicht<br />
seinerseits auf die Uqwdatorisdoe "Propaganda gegen die „Illegalität",<br />
gegen die politischen Streiks usw. verzichtet. Ernsthafte sozialdemokratische<br />
Funktionäre werden wohl kaum glauben, daß die „Prawda" und die
Verständigung oder Spaltung? 593<br />
6 Arbeiterdeputierten sich zum Selbstmord entschließen würden, nur weil<br />
das der „Lutsch" möchte. Davon kann gar keine <strong>Red</strong>e sein, und die 7 Abgeordneten<br />
werden gut daran tun, auf ihren völlig unannehmbaren und<br />
undurchführbaren „Plan" nicht mehr zurückzukommen.<br />
Damit ist jedoch die Frage der Meinungsverschiedenheiten in der Fraktion<br />
nicht erschöpft. Jeder fühlt, daß sich hinter dem Äußeren des Streits<br />
über die unfreiwillige Mitarbeit im „Lutsch" noch ein anderer, ernsterer<br />
und wichtigerer Streit verbirgt. Er läuft darauf hinaus, wie beide Teile<br />
der Traktion zum £icjuidatorentum stehen.<br />
Und man sollte meinen: Hier haben die Arbeiter vor allem das Recht,<br />
von den sieben Abgeordneten zu fordern, daß sie geradeheraus, klipp<br />
und klar sagen, wie sie zum Liquidatorentum stehen. Die sieben Abgeordneten<br />
sind verpflichtet, das ebenso offen zu tun, wie es die sechs Arbeiterdeputierten<br />
getan haben. In der Fraktion der III. Reichsduma waren die<br />
überwiegende Mehrheit der Abgeordneten Menschewiki. Doch verhielten<br />
sie sich zum Liquidatorentum schroff ablehnend. Wie stellen sich jetzt die<br />
7 Abgeordneten dazu? Sie selber haben die Frage des „Lutsch", d. h. des<br />
Liquidatorentums, aufgeworfen. Sie sind deshalb doppelt verpflichtet,<br />
offen und klar zu sagen, wie sie zur Propaganda des „Lutsch" gegen die<br />
Illegalität (siehe „Lutsch" Nr. 101 u. a.), gegen die politischen Streiks,<br />
gegen die Hegemonie der Arbeiterklasse in der Befreiungsbewegung usw.<br />
stehen. Ohne das kann man keinen Schritt tun, um aus der entstandenen<br />
Lage herauszukommen.<br />
Wir sagen es offen: Gäbe es in der sozialdemokratischen Fraktion auch<br />
nur einen Abgeordneten, der von der Dumatribüne herab <strong>Red</strong>en hielte in<br />
der Art des Artikels in Nr. 101 des „Lutsch" (die zunehmenden Sym- •<br />
pathien für die „Illegalität" seien eine „betrübliche" Tatsache usw.) -<br />
mit einem solchen Abgeordneten wäre der Bruch unvermeidlich. Und ein<br />
sozialdemokratischer Abgeordneter, der nicht aufstünde und sagte, daß<br />
dieser <strong>Red</strong>ner nicht die Meinung der Sozialdemokratie zum Ausdruck<br />
bringt, würde seine Pflicht vor der Arbeiterklasse verletzen.<br />
Haben wir mit dieser unserer Meinung recht oder nicht? Wir überlassen<br />
diese Frage ruhig dem Urteil der Arbeiter ...<br />
Bei vorhandenen ernsten Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden<br />
Hälften der Fraktion kann die Einheit nur dann erhalten bleiben,<br />
wenn beide Seiten in gleicher Weise eine Verständigung anstreben. Die
594 IV. 7. Centn<br />
„Entscheidung" von Programmfragen durch eine zufällige Mehrheit von<br />
einer Stimme ist die Tierausforderung einer Spaltung. Das begreift jeder.<br />
Wer ernsthaft die Einheit will, wird niemals den Weg einer solchen „Entscheidung"<br />
der Fragen einschlagen.<br />
Ist eine solche Verständigung in der Fraktion, bei ihrer jetzigen Zusammensetzung,<br />
möglich? Bisher war sie möglich. Ein Beispiel: die Deklaration<br />
der Fraktion, die bei Beginn der Arbeiten der IV. Duma verlesen<br />
wurde. Die liquidatorischen Ansprüche hat die Fraktion zurückgewiesen,und<br />
das ermöglichte eine Verständigung beider Teile. Ist der gute Wille<br />
vorhanden, bereiten die sieben Abgeordneten keine Spaltung vor, so wird<br />
das auch künftig in allen wichtigen politischen Fragen möglich sein.<br />
Das Beispiel der Deklaration veranschaulicht, was man tun muß, um<br />
eine Spaltung zu verhindern. Das Beispiel der „national-kulturellen Autonomie"<br />
wiederum veranschaulicht, was man nidbt tun darf, wenn man die<br />
Spaltung verhindern will. Diese Forderung aufzustellen, wie es Gen.<br />
Tsdichenkeli getan hat, bedeutet die Annullierung des Programms der<br />
Sozialdemokratie. Beteuerten die Liquidatoren bisher, diese Forderung<br />
„widerspreche nicht" dem Programm, so sind sie jetzt sogar durch die<br />
Bundisten selber entlarvt, die (siehe Nr. 9 der „Zait") Tsdichenkeli gerade<br />
dazu beglückwünschen, daß er „den verknöcherten Standpunkt verlassen<br />
hat, auf dem die offizielle Theorie in der nationalen Frage steht". Ein<br />
Programm mit sieben gegen sechs Stimmen annullieren beißt die Spaltung<br />
vorbereiten. Das begreift jeder klassenbewußte Arbeiter.<br />
Also - Verständigung oder Spaltung 1 So ist die Frage gestellt.<br />
Was schlagen wir vor? - Verständigung l<br />
• Ist diese Verständigung möglich? — Ja!<br />
Ist diese Verständigung wünschenswert? — Ja!<br />
Was ist erforderlich für das Zustandekommen dieser Verständigung? -<br />
Daß man das» Programm nicht annulliert, die „Illegalität" nicht verunglimpft,<br />
daß man dem alten Banner treu bleibt! Wie der Leser sieht, sind<br />
unsere Forderungen bescheiden.<br />
Für die Verständigung der Sieben und der Sechs, gegen die Spaltung!<br />
Das müssen alle klassenbewußten Arbeiter fordern.<br />
„Trawda" 7ir. 62, Tiaäo dem Jext der .Vrawda'.<br />
15.7Aärz 1913.<br />
Unterschrift :B.B.
DER „FREI VERFÜGBARE BESTAND"« 5<br />
595<br />
Die Regierungszeitungen, an ihrer Spitze das lobhudelnde „Nowoje<br />
Wremja", preisen unsere Regierung wegen der großartigen Ergebnisse der<br />
staatlichen Haushaltsführung. Man bedenke nur: „frei verfügbare"<br />
450 Millionen Rubel! Nicht Defizite, sondern überschösse - bitte schön,<br />
so wirtschaften „wir".<br />
Und das „Nowoje Wremja", die Zeitung der erzreaktionären Gutsbesitzer<br />
und oktobristischen Kaufleute, kommt zu dem Schluß, daß mit<br />
solch einer hübschen Reserve von 450 Mill. Rbl. nicht einmal Krieg zu<br />
führen schlimm sei.<br />
Betrachten wir jedoch die Erläuterungen des Finanzministers zum<br />
Staatshaushalt des Jahres 1913; - kann man darin nicht, außer Eigenlob<br />
(davon enthalten die Erläuterungen mehr als genug!), exakte Angäben über<br />
den Ursprung des vielgerühmten „frei verfügbaren Bestandes" finden?<br />
Wir schlagen die Erläuterungen des Herrn Ministers auf und lesen darin<br />
(S. 15, Teil I), daß in den fünf Jahren von 1908 bis 1912 der Staatskasse<br />
durdh Anleihen 33972 Millionen Rubel zugeflossen sind. Eingelöst wurden<br />
in derselben Zeit Anleihen im Betrage von 252,1 Mill. Rbl.<br />
Die Anleihen haben sidb also im ganzen genommen um 87,4 Mit. Rbl.<br />
erhöbt. Da haben wir die erste „Quelle" des „frei verfügbaren Bestandes".<br />
Wie man sieht, eine einfache Quelle.<br />
Aber gehen wir weiter. Bekanntlich ist ab i. Oktober 190S der Preis des<br />
Monopolbranntweins außerordentlich erhöht worden, nämlich von 8 Rbl.<br />
auf 8 Rbl. 40 Kop. das Wedro* (gewöhnlicher Branntwein, das Wedro<br />
Tischbranntwein von 11 Rbl. auf 12 Rbl.).<br />
Nach dieser „Finanzmaßnahme" lag der Durchschnittspreis des Monopolbranntweins<br />
in den fünf Jahren von 1908 bis 1912 bei 8 Rbl. 48 Kop.<br />
das Wedro, d. h., er war genau um 42 Kopeken höher als in den vorangegangenen<br />
vier Jahren (1904-1907 - 8 Rbl. 06 Kop. das Wedro).<br />
• 1 Wedro = 12,3 Liter. Der Tibers.
596 W. 3. <strong>Lenin</strong><br />
Insgesamt verkaufte der Staat in den letzten fünf Jahren (1908 bis<br />
1912) 44072 Millionen Wedro vierzigprozentigen Fusel. Die Erhöhung<br />
des Profits um 42 Kopeken je Wedro ergab <strong>18</strong>5 Millionen Rubel<br />
Da haben wir die zweite Quelle des „frei verfügbaren Bestandes"!<br />
Die dritte Quelle, die staatlichen Eisenbahnen, bradite an „Reingewinn"<br />
in vier Jahren (1908-1911) 53 Millionen Rubel, zählt man nicht mit die<br />
Zinszahlungen und Tilgungsraten für die vom Staat aufgewendeten Kapitalien,<br />
die sich auf 2V4 Milliarden Rubel belaufen!! Nehmen wir für das<br />
Jahr 1912 einen ebenso hohen „Gewinn" an wie im Jahre 1911, d.h.<br />
105 Mill. Rbl., so erhalten wir für das ganze Jahrfünft einen „Gewinn"<br />
von 158 Mill. Rbl. Begreiflicherweise gleicht eine staatliche „Haushaltsführung",<br />
die bei den Milliardenausgaben die Zinsen und Tilgungsraten<br />
„nicht mitzählt", eher einer staatlichen Tasdienspielerei. Wir bemerken<br />
dazu, daß nicht irgendein „linker Journalist" (Gott behüte!), sondern die<br />
Staatskontrotte selbst die Zinsen und Tilgungsraten für die vom Staat im<br />
Eisenbahnbau verwendeten Kapitalien mit 397,6 Millionen Rubel für vier<br />
Jahre (1908-1911) angegeben hat. Für das ganze Jahrfünft, 1908-1912,<br />
sind das 500 Millionen Rubel! Ein hübsches Beispiel für Raubwirtsdhaft.<br />
Fassen wir die Ergebnisse der drei Quellen des „frei verfügbaren Bestandes"<br />
zusammen:<br />
1. aus den Anleihen 87,4 Mill. Rbl.<br />
2. ans der Erhöhung des Preises des staatlichen Fusels <strong>18</strong>5 „ „<br />
3. aus den staatlichen Eisenbahnen<br />
(nidbt mitgezählt 500 Mill. Rbl. Zinsen und Jilgungsraten<br />
für auf gewendete Kapitalien) 158 „ „<br />
Insgesamt 430,4 Mill. Rbl.<br />
Das genügt wohl. Die kleineren „Quellen" anzuführen ist nicht nötig.<br />
Ist es nicht klar, daß unsere feudalen Gutsbesitzer die größten Finanzgenies<br />
sind? Gelder zu leihen, den Preis des Fusels zu erhöhen, die Zinsen<br />
und Tilgungsraten für die (für die „Wirtschaft") aufgewendeten Milliarden<br />
„nicht mitzuzählen" - ist das nicht genial?<br />
Ist das kein Beweis für die „Stabilität" unseres Budgets?<br />
„Prawda" 3Vr. 62, jsjadj dem 7ext der JPrawda".<br />
15. März I9i3.<br />
Untersdbrift: TV.
ANMERKUNGEN
599<br />
1 „Jlusskoje Bocjatstwo" (Russischer Reichtum) - Monatsschrift, die von <strong>18</strong>76<br />
bis 19<strong>18</strong> in Petersburg erschien. Anfang der neunziger Jahre wurde die<br />
Zeitschrift zu einem Organ der liberalen Volkstümler. Von 1906 an war<br />
das „Russkoje Bogatstwo" faktisch Organ der halbkadettischen „Volkssozialistischen<br />
Arbeitspartei". 1<br />
2 „Sowremennik" (Der Zeitgenosse) - Monatsschrift für Literatur und Politik;<br />
erschien von 1911 bis 1915 in Petersburg. Um die Zeitschrift gruppierten<br />
sich menschewistische Liquidatoren, Sozialrevolutionäre, Volkssozialisten<br />
und linke Liberale. Die Zeitschrift hatte keinerlei Verbindung mit den<br />
Arbeitermassen. <strong>Lenin</strong> nannte 1914 die in ihr vertretenen Auffassungen ein<br />
„Gemisch von Volkstümlerideologie und Marxismus" (<strong>Werke</strong>, Bd. 20,<br />
S. 295). l<br />
3 ,Saprossy Sbisni" (Anforderungen des Lebens) - Wochenschrift, die von<br />
1909 bis 1912 in Petersburg erschien. An der Zeitschrift arbeiteten Kadetten,<br />
Volkssozialisten und menschewistische Liquidatoren mit. <strong>Lenin</strong> nannte<br />
diese Zeitschrift „liquidatorisch-trudowikisch-wechistisch" (<strong>Werke</strong>, Bd. 35,<br />
S. 33). 2<br />
4 Gemeint ist der Artikel 129 des Strafgesetzbuches des Russischen Reichs,<br />
der für öffentliches Auftreten gegen die zaristische Regierung und die Verbreitung<br />
dementsprechender Schriften harte Strafen bis zur Verschickung<br />
zu Zwangsarbeit vorsah. 3<br />
5 R-kotv - N. A. Roshkow, Historiker, Sozialdemokrat, den menschewistischen<br />
Liquidatoren nahestehend: 4<br />
6 „Shiwoje De/o" (Lebendige Tat) - legale Wochenzeitung der menschewistischen<br />
Liquidatoren, die vom 20. Januar (2. Februar) bis 28. April (11. Mai)<br />
1912 in Petersburg herausgegeben wurde. Es kamen 16 Nummern heraus.<br />
4
600 Anmerkungen<br />
7 <strong>Lenin</strong> meint die „Jnitiatwgruppen sozialdemokratischer 7unktionäre der<br />
iegalen Arbeiterbewegung", die die menschewistischen Liquidatoren seit<br />
Ende 1910 als Gegengewicht zu den illegalen Parteiorganisationen bildeten.<br />
Die Liquidatoren, die sich vom revolutionären Programm und der revolutionären<br />
Taktik lossagten, wollten die illegale revolutionäre Partei des<br />
Proletariats liquidieren. Sie betrachteten die „Initiativgruppen" als Zellen<br />
einer neuen umfassenden legalen Partei, die sich dem Stolypinschen Regime<br />
anpassen sollte. Es gelang den Liquidatoren, in Petersburg, Moskau, Jekaterinoslaw<br />
und Konstantinowka (Donezbecken) „Initiativgruppen" zu<br />
bilden. Es waren das kleine Intellektuellengruppen ohne Verbindung mit der<br />
Arbeiterklasse. Sie wandten sich gegen den Streikkampf und gegen revolutionäre<br />
Arbeiterdemonstrationen und kämpften bei den Wahlen zur<br />
IV. Duma gegen die Bolschewiki. Die Zentren der „Initiativgruppen" waren:<br />
der im Ausland herausgegebene „Golos Sozial-Demokrata" und die legalen<br />
Organe der Liquidatoren in Rußland: „Nascha Sarja" und „Delo Shisni". 4<br />
8 JNasdoa Sarja" (Unsere Morgenröte) - legale Monatsschrift der menschewistischen<br />
Liquidatoren; erschien von 1910 bis 1914 in Petersburg. Um die<br />
„Nascha Sarja" gruppierte sich der Kern der Liquidatoren in Rußland. 4<br />
9 "Bulgarin, 7. W. - reaktionärer Journalist und Schriftsteller in der ersten<br />
Hälfte des 19. Jahrhunderts; bekannt durch seine Denunziationen und Verleumdungen<br />
fortschrittlicher Zeitschriften und führender Schriftsteller<br />
jener Zeit, insbesondere A. S. Puschkins.<br />
Burenin, "W. V. - Journalist, Mitarbeiter der reaktionären Zeitung „Nowoje<br />
Wremja"; er betrieb eine wüste Hetze gegen die Vertreter aller fortschrittlichen<br />
gesellschaftlichen und politischen Strömungen.<br />
<strong>Lenin</strong> gebraucht diese Namen als Gattungsnamen zur Kennzeichnung<br />
unehrenhafter Methoden in der Polemik. 6<br />
10 „Vorwärts" - Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.<br />
Der Autor der im „Vorwärts" erschienenen verleumderischen Artikel gegen<br />
die Pariser Konferenz der SDAPR war Trotzki. 6<br />
11 Gemeint ist das Organisalionskomitee, das im Januar 1912 auf einer Beratung<br />
der Liquidatoren - der Vertreter des „Bund", des Kaukasischen Gebietskomitees<br />
und der Sozialdemokratie Lettlands - gebildet wurde. Das<br />
OK war das offizielle Organ zur Einberufung der Augustkonferenz der<br />
Liquidatoren. 6<br />
" „Vrawda" (Die Wahrheit), sog. Wiener „Prawda" - Fraktionsorgan der<br />
Trotzkisten,- wurde von 1908 bis 1912 in Wien herausgegeben. Unter der<br />
Maske der „Fraktionslosigkeit" nahm die Zeitung in allen grundlegenden
Anmerkungen 601<br />
Fragen eine liquidatorische Haltung ein, unterstützte aber auch die Otsowisten<br />
und Ultirnatisten. 1912 waren Trotzki und seine Zeitung die Organisatoren<br />
des parteifeindlichen Augustblocks. 7<br />
13 „Sa Partiju" (Für die Partei) - Blatt der Pariser Gruppen der parteitreuen<br />
Menschewiki und Versöhnler; erschien unregelmäßig von April 1912 bis<br />
Februar 1914 in Paris. 8<br />
11 <strong>Lenin</strong> zitiert aus der Arbeit A. I. Herzens „Ende und Anfänge". (Siehe<br />
A. I. Herzen, Ausgewählte <strong>Werke</strong>, 1937, S. 349, russ.) 10<br />
15 <strong>Lenin</strong> zitiert aus den Briefen „An einen alten Freund" (vierter und zweiter<br />
Brief). (Siehe A. I. Herzen, Ausgewählte Philosophische Schriften, Moskau<br />
1949, S.6<strong>18</strong>, 606.) U<br />
16 JKohkol" (Die Glocke) - politische Zeitschrift, die unter der Devise „Vivos<br />
voco!" („Ich rufe die Lebenden!") erschien. Sie wurde von A. I. Herzen<br />
und N. P. Ogarjow in der von A. I. Herzen gegründeten Freien russischen<br />
Druckerei vom 1. Juli <strong>18</strong>57 bis April <strong>18</strong>65 in London und von Mai <strong>18</strong>65 bis<br />
Juli <strong>18</strong>67 in Genf monatlich oder 14täglich herausgegeben. <strong>18</strong>68 erschien<br />
die Zeitschrift in französischer Sprache, gleichzeitig wurden Beilagen in<br />
russischer Sprache gedruckt. 12<br />
17 „Potjarnaja Swesda" (Der Polarstern) - Sammelband für Literatur und<br />
Politik. Die ersten drei Hefte warden von A. I. Herzen, die folgenden von<br />
A. I. Herzen und N.P. Ogarjow von <strong>18</strong>55 bis <strong>18</strong>62 in London in der Freien<br />
russischen Druckerei herausgegeben. Das letzte Hefterschien <strong>18</strong>68 in Genf.<br />
Es kamen insgesamt acht Hefte heraus. i2<br />
<strong>18</strong> „Swesda" (Der Stern) - legale bolschewistische Zeitung, die vom 16. (29.)<br />
Dezember 1910 bis zum 22. April (5. Mai") 1912 (anfangs wöchentlich, ab<br />
Januar 1912 zweimal und ab März dreimal wöchentlich) in Petersburg erschien.<br />
N. N. Baturin, K. S. Jeremejew, M. S. Olminski, N. G. Poletajew<br />
und auch A. M. Gorki arbeiteten an der Zeitung mit Bis zum Herbst 1911<br />
waren auch die parteitreuen Menschewiki (Plechanowleute) an der Zeitung<br />
beteiligt. Ideologisch wurde die Zeitung vom Ausland her von W. L <strong>Lenin</strong><br />
geleitet. <strong>Lenin</strong> veröffentlichte in der „Swesda" etwa 30 Artikel.<br />
Die von <strong>Lenin</strong> geleitete legale „Swesda" war ein bolschewistisches<br />
Kampforgan, das das Programm und die Taktik der illegalen Partei verfocht.<br />
Die „Swesda"- räumte den Arbeiterkorrespondenten breiten Raum<br />
ein und stellte ständige feste Verbindungen mit den Arbeitern her. Die<br />
Auflage einzelner Nummern erreichte 50 000-60 000 Exemplare. Die Zeitung<br />
war ständigen Verfolgungen von Seiten der Regierung ausgesetzt: von<br />
69 Nummern wurden 30 beschlagnahmt, 8 mit Strafen belegt.<br />
39 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>
602 Anmerkungen<br />
Die „Swesda" bereitete die Herausgabe der bolschewistischen Tageszeitung<br />
„Prawda" vor. Sie wurde von der Regierung an dem Tag verboten,<br />
an dem die „Prawda" erschien. 2i<br />
19 Die Konferenz der 7rudowiki fand im März 1912 in Petersburg statt; sie<br />
befaßte sich hauptsächlich mit Fragen der Wahlkampagne zur IV. Reichs-<br />
' duma. Eine Einschätzung der Beschlüsse der Konferenz enthält <strong>Lenin</strong>s Artikel<br />
„Liberalismus und Demokratie". (Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 17, S. 561-570.) 26<br />
20 „TVedhi" (Marksteine) - Sammelband der Kadetten; erschien im Frühjahr<br />
1909 in Moskau mit Artikeln von N. Berdjajew, S. Bulgakow, P. Struve,<br />
M. Gersdienson und anderen Vertretern der konterrevolutionären liberalen<br />
Bourgeoisie. In ihren Artikeln über die russische Intelligenz versuchten<br />
die „Wechi"-Leute, die revolutionär-demokratischen Traditionen der besten<br />
Vertreter des russischen Volkes, darunter W. G. Belinskis und N. G. Tschernyschewskis,<br />
zu verunglimpfen; sie zogen die revolutionäre Bewegung von<br />
1905 in den Schmutz und sprachen der zaristischen Regierung den Dank<br />
dafür aus, daß sie die Bourgeoisie „mit ihren Bajonetten und Gefängnissen"<br />
„vor der Volkswut" rettete. Der Sammelband appellierte an die Intelligenz,<br />
sich in den Dienst der Selbstherrschaft zu stellen. W. I. <strong>Lenin</strong> verglich das<br />
Programm der „Wechi" sowohl in der Philosophie wie auch in der Publizistik<br />
mit dem Programm der Schwarzhunderterzeitung „Moskowskije<br />
Wedomosti" (Moskauer Nachrichten) und bezeichnete den Sammelband<br />
als „Enzyklopädie des liberalen Renegatentums", als eine „einzige Flut<br />
reaktionären Spülichts, das über die Demokratie ausgegossen wird". (Siehe<br />
<strong>Werke</strong>, Bd. 16, S. 117-125.) 27<br />
21<br />
Ober die Zeitung „Noivoje Wremja" (Neue Zeit) siehe den vorliegenden<br />
<strong>Band</strong>, S. 264/265.<br />
„Swet" (Das Licht) - bürgerlich-nationalistische Tageszeitung, die von<br />
<strong>18</strong>82 bis 1917 in Petersburg erschien.<br />
„Qolos TAoskwy" (Die Stimme Moskaus) - Tageszeitung, Organ der<br />
Oktobristen, der konterrevolutionären Partei der industriellen Großbourgeoisie<br />
und der Großgrundbesitzer; sie erschien von 1906 bis 1915 in Moskau.<br />
32<br />
22 Der Artikel „Eine Enquete über die Organisationen des Qroßkapitals" erschien<br />
in Nr. 5-7 der Zeitschrift „Prosweschtschenije".<br />
„Troswesdbtsdbenije" (Die Aufklärung) - theoretisches Organ der Bolschewiki;<br />
erschien monatlich von Dezember 1911 bis Juni 1914 legal in<br />
Petersburg. Die Zeitschrift, die auf Anregung <strong>Lenin</strong>s gegründet worden<br />
war, trat an die Stelle der von der zaristischen Regierung verbotenen Mos-
Anmerkungen 603<br />
kauer bolschewistischen Zeitschrift „Mysl" (Der Gedanke). <strong>Lenin</strong> leitete<br />
die Zeitschrift „Prosweschtschenije" vom Ausland her, er redigierte ihre<br />
Artikel und führte einen regelmäßigen Schriftwechsel mit den Mitgliedern<br />
des <strong>Red</strong>aktionskollegiums. In der Zeitschrift erschienen <strong>Lenin</strong>s Arbeiten:<br />
„Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus", „Kritische Bemerkungen<br />
zur nationalen Frage", „Ober das Selbstbestimmungsrecht der Nationen"<br />
und andere. Den Teil Kunst und Literatur redigierte A. M. Gorki.<br />
Die Auflage der Zeitschrift betrug nahezu 5000 Exemplare.<br />
Kurz vor dem ersten Weltkrieg wurde die Zeitschrift von der Regierung<br />
verboten. Im Herbst 1917 wurde das „Prosweschtschenije" erneut herausgegeben,-<br />
es erschien nur eine Doppelnummer der Zeitschrift, in d» die<br />
Arbeiten <strong>Lenin</strong>s „Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?"<br />
und „Zur Revision des Parteiprogramms" veröffentlicht wurden. 42<br />
23 Qusdbka, A.O., und weiter unten im Text des Artikels: A.'Jermanski -<br />
literarische Pseudonyme des menschewistischen Liquidators O. A. Kogan.<br />
42<br />
24 Der Artikel 87 der staatlichen Grundgesetze gab dem Ministerrat das<br />
Recht, in der Zeit, in der die Reichsduma nicht arbeitete, Gesetzentwürfe<br />
direkt dem Zaren zur Bestätigung vorzulegen. 49<br />
25 „Retsdb" (Die <strong>Red</strong>e) - Tageszeitung, Zentralorgan der Kadettenpartei; erschien<br />
in Petersburg ab Februar 1906. Am 26. Oktober (8. November) 1917<br />
wurde sie vom Revolutionären Militärkomitee beim Petrograder Sowjet<br />
verboten. 58<br />
26 „TJewskaja Swesda" (Der Newastern) - legale bolschewistische Zeitung,<br />
die vom 26. Februar (10. März) bis zum 5. (<strong>18</strong>.) Oktober 1912 in Petersburg<br />
erschien. Es erschienen 27 Nummern. Die „Newskaja Swesda" wurde anfangs<br />
gleichzeitig mit der Zeitung „Swesda" herausgegeben und mußte diese<br />
im Fall des Verbots oder der Konfiskation ersetzen. Nach dem 22. April<br />
(5. Mai) 1912 trat sie an die Stelle der verbotenen „Swesda". In der Zeitung<br />
erschienen 20 Artikel <strong>Lenin</strong>s.<br />
Zur <strong>Red</strong>aktion der Zeitung gehörten N. N. Baturin, M. S. Olminski und<br />
andere. 6i<br />
*» R. B. - R. M. Blank, Publizist, Kadett. 67<br />
28 <strong>Lenin</strong> meint die <strong>Red</strong>e P. N. Miljukows, die dieser anläßlich eines Frühstücks<br />
beim Lord-Mayor von London am 19. Juni (2. Juli) 1909 während<br />
des Besuchs einer Delegation der III. Reichsduma und des Reichsrats in<br />
England hielt. Miljukow erklärte, daß die Kadetten der zaristischen Selbstherrschaft<br />
die Treue halten, und hob hervor, daß die russische Opposition,
604 Anmerkungen<br />
solange es in Rußland eine Duma gibt, „eine Opposition Seiner Majestät<br />
und nicht gegen Seine Majestät bleiben wird". 68<br />
29 „Russkije Wedomosti" (Russische Nachrichten) - Zeitung, die ab <strong>18</strong>63 in<br />
Moskau erschien; sie vertrat die Anschauungen der gemäßigten liberalen<br />
Intelligenz. Anfang 1905 wurde sie zum Organ des rechten Fingeis der<br />
Kadetten. Bald nach der Sozialistischen Oktoberrevolution 1917 wurde die<br />
Zeitung verboten. 75<br />
30 „TJewski Qohs" (Die Newastimme) - legale Wodienzeitung der menschewistischen<br />
Liquidatoren, die von Mai bis August 1912 in Petersburg ersdiien.<br />
75<br />
31 Gemeint ist der Erlaß Stolypins vom 9. (22.) November 1906 über das<br />
Ausscheiden von Bauern aus der Dorfgemeinde. 79<br />
32 Eine Charakteristik des revolutionären Aufschwungs gab <strong>Lenin</strong>, der zugleich<br />
die Aufgaben der bolschewistischen Partei unter den neuen Bedingungen<br />
umriß, vor dem Erscheinen des Artikels „Der revolutionäre Aufschwung"<br />
am 26. April (9. Mai) in der Sitzung der Pariser Sektion der<br />
Auslandsorganisation der SDAPR in einem Bericht über die Ereignisse in<br />
Rußland und die im Zusammenhang damit erforderliche Taktik der Partei<br />
und weiter am.31. Mai (13. Juni) in einem Referat mit dem Thema „Der<br />
revolutionäre Aufschwung des russischen Proletariats". In der von der Pariser<br />
Sektion der Auslandsorganisation der SDAPR herausgegebenen Ankündigung<br />
des Referats ist ein Plan zum Referat enthalten, der mit den<br />
Grundthesen des vorliegenden Artikels übereinstimmt. Siehe W. I. <strong>Lenin</strong>,<br />
<strong>Werke</strong>, Ergänzungsband, <strong>18</strong>96-Oktober 1917, S. 253/254. 91<br />
JS „Sozial-Demokrat"- Zentralorgan der SDAPR; wurde als illegale Zeitung<br />
von Februar 1908 bis Januar 1917 herausgegeben. Es erschienen 58 Nummern:<br />
die erste in Rußland, die übrigen im Ausland, zunächst in Paris und<br />
später in Genf. Die <strong>Red</strong>aktion des Zentralorgans bestand laut Beschluß des<br />
ZK der SDAPR aus Vertretern der Bolschewiki, der Menschewiki und der<br />
polnischen Sozialdemokraten.<br />
Im „Sozial-Demokrat" wurden über achtzig Artikel und Notizen W. I.<br />
<strong>Lenin</strong>s veröffentlicht. Innerhalb der <strong>Red</strong>aktion des „Sozial-Demokrat"<br />
kämpfte <strong>Lenin</strong> für die konsequente bolschewistische Linie. Die menschewistischen<br />
<strong>Red</strong>akteure, Martow und Dan, sabotierten die Arbeit in der <strong>Red</strong>aktion<br />
des Zentralorgans und verteidigten gleichzeitig im „Golos Sozial-<br />
Demokrata" offen das Liquidatorentum.<br />
Der unversöhnliche Kampf <strong>Lenin</strong>s gegen die Liquidatoren führte im
Anmerkungen 605<br />
Juni 1911 zum Ausscheiden Martows und Dans ans der <strong>Red</strong>aktion. Ab<br />
Dezember 1911 wurde der„Sozial-Demokrat"von W. I. <strong>Lenin</strong> redigiert. 93<br />
34 „So war es und so wird es bleiben" - Worte des Innenministers Makarow,<br />
mit denen dieser in der Sitzung der Reidisduma am 11. (24.1 April 1912<br />
auf eine Anfrage der sozialdemokratischen Fraktion anläßlich des Blutbads<br />
an der Lena antwortete. 98<br />
35 „Buduscfetscfoe/e" - „C'Avenir" (Die Zukunft) - bürgerlich-liberale Zeitung;<br />
erschien unter der <strong>Red</strong>aktion W. L. Burzews von Oktober 1911 bis<br />
Januar 1914 in Paris in russischer Sprache (einige Materialien wurden<br />
in französischer Sprache gedruckt). An der Zeitung arbeiteten Menschewiki<br />
und Sozialrevolutionäre mit. iO3<br />
36 <strong>Lenin</strong> meint den Beschluß des Organisationskomitees der Liquidatoren<br />
über die Einladung der PPS-„Lewica" irur Augustkonferenz der Liquidatoren.<br />
PPS (Polska Partia Socjalistyczna) - Polnische Sozialistische Partei -<br />
reformistische nationalistische Partei, die im Jahre <strong>18</strong>92 gegründet wurde.<br />
Die PPS, deren Programm der Kampf für die Unabhängigkeit Polens zugrunde<br />
lag, betrieb eine separatistische, nationalistische Propaganda unter<br />
den polnischen Arbeitern und war bestrebt, sie vom gemeinsamen Kampf<br />
mit den russischen Arbeitern gegen die Selbstherrschaft und den Kapitalismus<br />
abzulenken. 1906 spaltete sich die PPS in zwei Fraktionen: die PPS-<br />
„Lewica" und die rechte, chauvinistische PPS-„Prawica" („Fracy").<br />
Die PPS-„Lewica" nahm unter dem Einfluß der SDAPR(B) sowie der<br />
SDKPuL (Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens) nach und<br />
nach eine konsequent revolutionäre Position ein.<br />
Im ersten Weltkrieg bezog ein großer Teil der PPS-„Lewica" eine internationalistische<br />
Stellung und vereinigte sich im Dezember 19<strong>18</strong> mit der<br />
SDKPuL. Die vereinigten Parteien gründeten die Kommunistische Arbeiterpartei<br />
Polens (die ab 1925 Kommunistische Partei Polens genannt wurde).<br />
Die rechte PPS, an ihrer Spitze Pilsudsld, nahm während des ersten<br />
Weltkriegs eine nationalchauvinistische Haltung ein. Nach der Bildung<br />
des polnischen bürgerlichen Staates betrieb sie eine antisowjetische Politik.<br />
Während des zweiten Weltkriegs spaltete sie sich erneut in zwei Gruppen.<br />
Der reaktionäre, chauvinistische Teil beteiligte sich an der reaktionären<br />
Londoner Exilregierung".<br />
Der linke Teil der PPS, der sich „Arbeiterpartei der Polnischen Sozialisten"<br />
nannte, schloß sich mit der 1942 gegründeten Polnischen Arbeiterpartei<br />
(Kommunisten) zur Volksfront zum Kampf gegen die Hitlerokkupan-
606 Anmerkungen<br />
ten zusammen. Im Dezember 1948 vereinigten sich beide Parteien und<br />
bildeten die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PVAP). 108<br />
31 Siehe „Die KPdSU in Resolutionen und Beschlüssen der Parteitage, Parteikonferenzen<br />
und Plenartagungen des ZK", 7. Auflage, Teil I, Moskau<br />
1954, S. 203, russ. 109<br />
38 „Dnewnik Sozidldemokrata" (Tagebuch eines Sozialdemokraten) - von<br />
G. W. Plechanow in zwangloser Folge herausgegebene Zeitschrift, die mit<br />
großen Unterbrechungen in Genf erschien. Von März 1905 bis April 1912<br />
kamen insgesamt 16 Nummern heraus. 1916 wurde der „Dnewnik" in<br />
Petrograd neu herausgegeben; es erschien aber nur eine Nummer, 1 10<br />
39 Im Februar 1912 trat der menschewistische Liquidator T. O. Beloussow,<br />
Abgeordneter des Irkutsker Gouvernements, aus der sozialdemokratischen<br />
Fraktion der III. Duma aus. Siehe W. I. <strong>Lenin</strong>s Artikel „Ober den Austritt<br />
des Abgeordneten T. O. Beloussow aus der sozialdemokratischen Dumafraktion"<br />
(<strong>Werke</strong>, Bd. 17, S. 513-5<strong>18</strong>). 110<br />
40 Unter „politisdben Säuglingen" sind hier die bolschewistischen Versöhnler<br />
zu verstehen, die ihre Grüppchen in Rußland und im Ausland hatten,- unter<br />
„gewitzte Diplomaten' 1 - die liquidatorische Gruppe der Wiener „Prawda"<br />
Trotzkis und die Führer des „Bund". 123<br />
41 <strong>Lenin</strong> meint das Qesetz vom a. (24.) Dezember 1905 über die Wahlen<br />
zur Reichsduma. Nach diesem Gesetz wurden die Wähler in vier Kurien<br />
geteilt: die Grundbesitzerkurie (die Gutsherren), die Städtekurie (die<br />
Bourgeoisie), die Bauernkurie und die Arbeiterkurie. Stimmrecht hatten<br />
Personen im Alter über 25 Jahren. Für die Gutsbesitzerkurie und die<br />
Städtekurie wurde ein Vermögenszensus festgelegt; in der Bauernkurie<br />
besaßen nur Hofbesitzer das Wahlrecht; in der Arbeiterkurie nur, wer<br />
mindestens 6 Monate in dem betreffenden Betrieb gearbeitet hatte. Es gab<br />
kein gleiches Wahlrecht: Die Stimme eines Gutsbesitzers entsprach den<br />
Stimmen von drei Kapitalisten, von 15 Bauern und von 45 Arbeitern. An<br />
den Wahlen konnten nicht teilnehmen: Frauen, Landarbeiter, ungelernte<br />
Arbeiter, Kleingewerbetreibende, Studierende und Personen im Militärdienst.<br />
Wahlrecht in der Arbeiterkurie erhielten Arbeiter von Fabriken mit<br />
mindestens fünfzig männlichen Beschäftigten. Fabriken und <strong>Werke</strong> mit<br />
einer Beschäftigtenzahl von über 1000 Arbeitern wählten je einen Bevollmächtigten<br />
auf jedes volle Tausend. Die Wahlen waren mehrstufig: für<br />
die Gutsbesitzer und Kapitalisten zweistufig, für die Arbeiter dreistufig und<br />
für die Bauern vierstufig. 130
Anmerkungen 607<br />
42 Am 3. (16.) Juni 1907 löste die Regierung die II. Reichsduma auf und erließ<br />
ein neues Gesetz für die Wahlen zur Duma. Durch das neue Gesetz<br />
wurde die Zahl der Vertreter der Gutsbesitzer und der Handels- und Industriebourgeoisie<br />
in der Duma um ein vielfaches erhöht, während die<br />
Zahl der Abgeordneten der Bauern, der Arbeiter und der nichtrussischen<br />
Nationalitäten stark verringert wurde. Die Städtekurie wurde in zwei<br />
Kurien geteilt: die Großbourgeoisie kam in die erste Städtekurie, die übrigen<br />
städtischen Wähler in die zweite. Nach dem neuen Gesetz entfiel ein<br />
Wahlmann: in der Grundbesitzerkurie (Gutsherren) auf 230 Wähler, in<br />
der ersten Städtekurie auf 1000 Wähler, in der zweiten Städtekurie auf<br />
15 000 Wähler, in der Bauernkurie auf 60 000 Wähler und in der Arbeiterkurie<br />
auf 125 000 Wähler. In den 6 Industriegouvernements Petersburg,<br />
Moskau, Wladimir, Jekaterinoslaw, Kostroma und Charkow war die Wahl<br />
je eines Arbeiterabgeordneten der Arbeiterkurien obligatorisch. Das Wahlgesetz<br />
vom 3. Juni sicherte die uneingeschränkte Herrschaft des Schwarzhunderterblocks<br />
der Gutsbesitzer und der Großbourgeoisie in der III. und<br />
IV. Reichsduma. 130<br />
13 Siehe Karl Marx, „Theorien über den Mehrwert", Teil 2, in Karl Marx<br />
Friedrich Engels, <strong>Werke</strong>, Bd. 26.2, Berlin 1967, S. 236/237. Eine Darlegung<br />
und Erläuterung dieser Marxschen Thesen gibt <strong>Lenin</strong> in der Arbeit „Die<br />
Agrarfrage in Rußland am Ausgang des 19. Jahrhunderts". (Siehe <strong>Werke</strong>,<br />
Bd. 15, S. 132-134.) 135<br />
44 „Qazeta Jiobotnicza" (Arbeiterzeitung) - illegales Organ des Warschauer<br />
Komitees der Sozialdemokratie Polens und Litauens; erschien von Mai bis<br />
Oktober 1906. Nach der Spaltung im Jahre 1912 entstanden in der Polnischen<br />
Sozialdemokratie zwei Warschauer Komitees, und es wurden zwei Organe<br />
unter dem Titel „Gazeta Robotnicza" herausgegeben: das eine von Anhängern<br />
des Hauptvorstands in Warschau (JuYi 1911—Juli 1913), das andere<br />
vom oppositionellen Warschauer Komitee (Landesvorstand) in Krakau<br />
(Juli 1911-Februar 1915). W. I. <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Lage in der SDAPR<br />
und die nächsten Aufgaben der Partei" erschien in Nr. 15/16 der Krakauer<br />
„Gazeta Robotnicza". über die Spaltung in der SDKPuL siehe W. I. <strong>Lenin</strong>s<br />
Artikel „Die Spaltung in der Polnischen Sozialdemokratie" (vorliegender<br />
<strong>Band</strong>, S. 472-476). 140<br />
iS „ Qolcs SoziaUDemokrata" (Die Stimme des Sozialdemokraten) - Auslandsorgan<br />
der Menschewiki; erschien von Februar 1908 bis Dezember 1911,<br />
zunächst in Genf, dann in Parts. Eine Charakteristik des „Golos Sozial-<br />
Demokrata" gab W. I. <strong>Lenin</strong> in seinem Artikel „Der ,Golos' der Liquidatoren<br />
gegen die Partei". (Siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 16, S. 151-159.) 142
608 Anmerkungen<br />
46 Gemeint ist die im Januar 1912 in Rußland abgehaltene Beratung der Liquidatoren,<br />
auf der das Organisationskomitee zur Einberufung der Augustkonferenz<br />
der Liquidatoren gebildet wurde. i45<br />
47 Die Notiz .Antwort an die Liquidatoren" schrieb <strong>Lenin</strong> für die „Prawda";<br />
die <strong>Red</strong>aktion erhielt sie am 11. (24.) Juli 1912. 148<br />
48 „Prawda" (Die Wahrheit) - legale bolschewistische Tageszeitung, die im<br />
April 1912 auf Initiative der Petersburger Arbeiter gegründet wurde und in<br />
Petersburg erschien.<br />
Die „Prawda" war eine Massenzeitung; das Geld für ihre Finanzierung<br />
wurde von den Arbeitern selbst gesammelt. Um die Zeitung bildete sich<br />
ein großer Kreis von Arbeiterkorrespondenten und Arbeiterpublizisten. Im<br />
Laufe eines einzigen Jahres wurden in der „Prawda" mehr als elftausend<br />
Arbeiterkorrespondenzen veröffentlicht. Die Tagesauflage der „Prawda"<br />
betrug im Durchschnitt 40 000 Exemplare und erreichte in manchen Monaten<br />
60 000 Exemplare.<br />
W.I.<strong>Lenin</strong> leitete die „Prawda" vom Ausland aus. Er schrieb fast täglich<br />
für die Zeitung, gab der <strong>Red</strong>aktion Anweisungen und gewann für die<br />
Zeitung die besten publizistischen Kräfte der Partei.<br />
An der <strong>Red</strong>aktion der Zeitung waren N. N. Baturin, K. S. Jeremejew,<br />
M.I.Kalinin, M. S. Olminski, N. G. Poletajew, K. N. Samoilowa, J. M.<br />
Swerdlow, A. I. LHjanowa-Jelisarowa u. a. aktiv beteiligt. Auch die bolschewistischen<br />
Abgeordneten der IV. Reichsduma A. J. Badajew, M. K.<br />
Muranow, G. I. Petrowsld, F. N. Samoilow und N. R. Schagow arbeiteten<br />
an der „Prawda" tatkräftig mit.<br />
Die „Prawda" war unablässigen polizeilichen Verfolgungen ausgesetzt.<br />
Im ersten Jahr ihres Bestehens wurde sie 41mal beschlagnahmt, 36 Gerichtsverfahren<br />
wurden gegen die <strong>Red</strong>akteure durchgeführt, die insgesamt 4P-/Z<br />
Monate Gefängnishaft verbüßen mußten. Innerhalb von zwei Jahren und<br />
drei Monaten war die „Prawda" von der zaristischen Regierung achtmal<br />
verboten, wurde aber jedesmal unter einem anderen Namen neu herausgegeben:<br />
„Rabotschaja Prawda" (Arbeiterprawda), „Sewernaja Prawda"<br />
(Prawda des Nordens), „Prawda Truda" (Prawda der Arbeit), „SaPrawdu"<br />
(Für die Prawda), „Proletarskaja Prawda" (Proletarische Prawda), „Put<br />
Prawdy" (Weg der Prawda), „Rabotschi" (Der Arbeiter), „Trudowaja<br />
Prawda" (Prawda der Werktätigen). Am 8. (21.) Juli 1914, kurz vor<br />
Beginn des ersten Weltkriegs, wurde die Zeitung wiederum verboten.<br />
Die Herausgabe der „Prawda" konnte erst nach der Februarrevolution<br />
wiederaufgenommen werden. Vom 5. (<strong>18</strong>.) März 1917 an erschien die<br />
„Prawda" als das Zentralorgan der SDAPR. Am 5. (<strong>18</strong>.) April begann
Anmerkungen 609<br />
<strong>Lenin</strong>, ans dem Ausland zurückgekehrt, in der <strong>Red</strong>aktion zu arbeiten und<br />
übernahm die Leitung der „Prawda". Am 5. (<strong>18</strong>.) Jnli 1917 worden die<br />
<strong>Red</strong>aktionsränme der „Prawda" von Offiziersschülern und Kosaken demoliert.<br />
Von Juli bis Oktober 1917 wechselte die „Prawda", den Verfolgungen<br />
seitens der Provisorischen Regierung ausgesetzt, mehrmals ihren Namen<br />
und erschien als „Listok ,Prawdy'" (Blatt der „Prawda"), „Proletari"<br />
(Der Proletarier), „Rabotschi" (Der Arbeiter), „Rabotschi Put" (Weg des<br />
Arbeiters). Seit dem 17. Oktober (9. November) erscheint die Zeitung<br />
unter ihrem alten Namen „Prawda". 148<br />
49 Gemeint ist: l.Karl Marx, „Das Elend der Philosophie", in Karl Marx/<br />
Friedrich Engels, <strong>Werke</strong>, Bd. 4, Berlin 1964, S. 165-175; 2. Karl Marx/<br />
Friedrich Engels, <strong>Werke</strong>, Bd. 25, Berlin 1968, S. 662-685; 3. „Theorien<br />
über den Mehrwert", 2. Teil, in Karl Marx/Friedrich Engels, <strong>Werke</strong>,<br />
Bd. 26.2, Berlin 1967, S. 145-157. 157<br />
50 Gemeint ist eine Resolution des Vorstands des Petersburger Verbandes der<br />
Brotbäcker, in der die Forderung aufgestellt wurde, eine antiliquidatorische<br />
Arbeitertageszeitung herauszugeben. Der Vorstand begrüßte das bevorstehende<br />
Erscheinen der „Prawda" and rief alle Verbandsmitglieder auf,<br />
Geldsammlungen für die „Prawda" zu organisieren. Eine Mitteilung über<br />
diese Resolution wurde in Nr. 27 der „Swesda" vom 8. (21.) April 1912<br />
veröffentlicht. 163<br />
51 .Sawety" (Das Vermächtnis) - legale Sozialrevolutionäre Monatsschrift für<br />
Literatur und Politik; erschien von April 1912 bis Juli 1914 in Petersburg.<br />
169<br />
52 Gemeint ist der Versuch portugiesischer Monarchisten im Sommer 1912,<br />
einen Aufstand zu organisieren, um die Monarchie wiederherzustellen. Der<br />
Aufstand wurde niedergeschlagen. 171<br />
53 Der Artikel .Ergebnisse der Arbeit eines halben Jahres" wurde in der<br />
ersten Julihälfte 1912 geschrieben. Der Briefwechsel <strong>Lenin</strong>s mit der <strong>Red</strong>aktion<br />
der „Prawda" zur Veröffentlichung dieses Artikels isfoerhalten geblieben.<br />
In einem Brief an die <strong>Red</strong>aktion vom 15. oder 16. (28. oder 29.) Juli<br />
1912 bat <strong>Lenin</strong>, den Artikel „Einige Ergebnisse der Arbeit eines halben<br />
Jahres" in der „Prawda" in vier Nummern als Feuilletons zu veröflfentlichen,<br />
er erklärte sich dabei nur mit Änderungen einverstanden, soweit<br />
sie aus Zensurgründen erforderlich waren. Der Artikel wurde in der<br />
,,Prawda" entsprechend dem Hinweis <strong>Lenin</strong>s veröffentlicht. 177<br />
51 <strong>Lenin</strong> meint die Drohung der menschewistischen Liquidatoren, bei den
610 Anmerkungen<br />
Wahlen zur IV. Duma in der Arbeiterkurie als Gegengewicht zu den bolschewistischen<br />
Kandidaten eigene Kandidaten aufzustellen. <strong>18</strong>6<br />
55 „Appeal to Reason" (Appell an die Vernunft) - Zeitung amerikanischer<br />
Sozialisten,- wurde im Jahre <strong>18</strong>95 im Staat Kansas (USA) gegründet; verfocht<br />
während des imperialistischen Weltkriegs 1914-19<strong>18</strong> den Standpunkt<br />
der Internationalisten. <strong>18</strong>9<br />
56 , Qaseta-Xopejka" (Kopekenzeitung) - bürgerliches Boulevardblatt; erschien<br />
ab 1908 täglich in Petersburg und wurde im Jahre 19<strong>18</strong> verboten. 190<br />
57 Die Broschüre „Zur gegenwärtigen Sachlage in der Sozidldemokratisdhen<br />
Arbeiterpartei Rußlands" schrieb <strong>Lenin</strong> in Krakau, im September 1912<br />
wurde sie in deutscher Sprache in Leipzig zum erstenmal veröffentlicht. Den<br />
Hauptinhalt der Broschüre bildet ein Brief des ZK der SDAPR vom 17.<br />
(30.) Juli. Der Brief war die Antwort auf ein Schreiben des Parteivorstands<br />
der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, in dem dieser darum ersuchte,<br />
die im Ausland bestehenden Partei„zentren" und -„gruppen"<br />
zusammenzurufen. Diese Beratung sollte der „Herstellung der Einheit"<br />
und der Aufteilung der Gelder, die die Führung der Sozialdemokratischen<br />
Partei Deutschlands für die Wahlkampagne zur IV. Duma zur Verfügung<br />
gestellt hatte, dienen. Das ZK der SDAPR lehnte es ab, an einer solchen<br />
Beratung teilzunehmen,- die Beratung fand nicht statt. Einen Teil der<br />
Gelder stellte der Parteivorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands<br />
dem liquidatorischen Organisationskomitee und Kaukasischen Gebietskomitee,<br />
dem „Bund" und dem ZK der lettischen sozialdemokratischen<br />
Partei zur Verfügung, womit er die Liquidatoren gegen die Bolschewiki<br />
unterstützte. Die Broschüre „Zur gegenwärtigen Sachlage in der Sozialdemokratischen<br />
Arbeiterpartei Rußlands" wurde von der <strong>Red</strong>aktion des<br />
„Sozial-Demokrat" an die Bezirks- und Landesvorstände der Sozialdemokratischen<br />
Partei Deutschlands, an die Delegierten des Chemnitzer Parteitags,<br />
der im September 1912 stattfand, und an die <strong>Red</strong>aktionen der wichtigsten<br />
sozialdemokratischen Zeitungen Deutschlands verschickt. 191<br />
58 „Spilka" (Verband) - ukrainische sozialdemokratische Organisation; entstand<br />
Ende 1904; sie gehörte mit den Rechten einer autonomen Gebietsorganisation<br />
zur SDAPR. Im innerparteilichen Kampf in der SDAPR schloß<br />
sie sich den Menschewiki an. In der Periode der Reaktion zerfiel die<br />
„Spilka". 1912 existierten nur noch kleine isolierte Grüppchen der<br />
„Spilka". Zu dieser Zeit wurden die meisten ihrer Mitglieder bürgerliche<br />
Nationalisten. Nur im Jahre 1908 erschien die liquidatorische Zeitung
Anmerkungen 611<br />
Trotzkis, die „Prawda" (Wiener „Prawda"), als Organ der „Spilka" (die<br />
ersten beiden Nummern). i95<br />
59 Die Einbernfang des ordentlichen (IX.) Internationalen Sozialistenkongresses<br />
der II. Internationale war für Herbst 1913 in Wien vorgesehen. Im<br />
Zusammenhang mit dem 1912 ausgebrochenen Balkankrieg wurde jedoch<br />
für November 1912 ein außerordentlicher Kongreß nach Basel einberufen.<br />
204<br />
80 Gemeint ist die sogenannte Augustkonferenz der Liquidatoren im August<br />
1912 in Wien, auf der sich der parteifeindliche, von Trotzki organisierte<br />
Augastblock formierte. An der Konferenz nahmen teil: Vertreter des<br />
„Bund", des Kaukasischen Gebietskomitees, der Sozialdemokratie Lettlands<br />
sowie liquidatorischer, trotzkistischer und otsowistischer Grüppchen im Ausland<br />
- der <strong>Red</strong>aktion des „Golos Sozial-Demokrata", der Wiener „Prawda"<br />
Trotzkis und der Gruppe „ Wperjod". Aus Rußland entsandten Delegierte:<br />
die Petersburger und die Moskauer „Initiativgruppe" der Liquidatoren,<br />
die Krasnojarsker Organisation, die „Sewastopoler sozialdemokratische<br />
Militärorganisation" sowie die <strong>Red</strong>aktionen der liquidatorischen Publikationen<br />
„Nascha Sarja" und „Newski Golos"; auch ein Vertreter des Auslandskomitees<br />
der ukrainischen Organisation „Spilka" war anwesend. Die<br />
übergroße Mehrheit der Delegierten bestand aus Personen, die im Ausland<br />
lebten und keine Verbindung mit der Arbeiterklasse Rußlands hatten.<br />
Die Konferenz nahm zu allen Fragen der sozialdemokratischen Taktik<br />
parteifeindliche liquidatorische Beschlüsse an and sprach sich gegen das Bestehen<br />
einer illegalen Partei aus.<br />
Der aus den verschiedenartigsten Elementen zusammengezimmerte<br />
Augustblock begann bereits auf der Konferenz selbst auseinanderzufalten.<br />
Die Liquidatoren vermochten kein ZK zu wählen und beschränkten sich<br />
auf die Bildung eines Organisationskomitees. Unter den Schlägen der<br />
Bolschewiki fiel der parteifeindliche Augustblock bald endgültig auseinander.<br />
206<br />
" Das Manuskript trägt keine Überschrift. Die Überschrift stammt vom<br />
Institut für Marxismus-<strong>Lenin</strong>ismus beim ZK der KPdSU in Moskau. 2iO<br />
62 „La Revue Scientificjue" (Wissenschaftliche Revue) - Zeitschrift; erscheint<br />
seit <strong>18</strong>63 in Paris. 213<br />
« <strong>Lenin</strong> zitiert die Resolution des V. Parteitags der SDAPR „über die Stellung<br />
zu den nichtproletarischen Parteien". (Siehe „Die KPdSU in Resolutionen<br />
und Beschlüssen der Parteitage, Parteikonferenzen und Plenartagungen<br />
des ZK", 7. Auflage, Teil I, Moskau 1954, S. 164, russ.) 2<strong>18</strong>
612 Anmerkungen<br />
64 Der Artikel „Aufstände in Armee und Tlotte" wurde in der „Rabotschaja<br />
Gaseta" Nr. 9 vom 30. Juli (12. August) 1912 veröffentlicht.<br />
„Rabotsdbaja Qaseta" (Arbeiterzeitung) - illegales populäres Organ der<br />
Bolsdiewild; wurde in Paris vom 30. Oktober (12. November) 1910 bis<br />
30. Juli (12. August) 1912 herausgegeben,- es erschienen 9 Nummern. An<br />
der Zeitung arbeiteten auch parteitreue Menschewiki mit. Begründer und<br />
Leiter der „Rabotschaja Gaseta" war <strong>Lenin</strong>. <strong>Lenin</strong> veröffentlichte in der<br />
Zeitung 14 Artikel. Die Prager Konferenz der SDAPR (Januar 1912)<br />
stellte fest, daß die „Rabotschaja Gaseta" die Partei und das Parteiprinzip<br />
entschieden und konsequent verteidigte, und erklärte sie zum offiziellen<br />
Organ des ZK der SDAPR (Bolschewiki). 222<br />
65 In Nr. 9 der „Rabotschaja Gaseta" ist als Ersdieinungsdatum irrtümlicherweise<br />
der 12. (30.) August angegeben; das richtige Datum ist der 30. Juli<br />
(12. August). 225<br />
•• .Die Wablplattform der SDAPR" wurde von W.I.<strong>Lenin</strong> in Paris, kurz<br />
nach der Prager Konferenz, ausgearbeitet. In Rußland brachte das Zentralkomitee<br />
der Partei die Wahlplattform als besondere Flugschrift heraus.<br />
Sie wurde in <strong>18</strong> Orte versandt, darunter in die größten proletarischen Zentren.<br />
„Die Wahlplattform der SDAPR" wurde als Nachdruck der russischen<br />
Publikation in Form einer Beilage zu Nr. 26 des „Sozial-Demokrat"<br />
veröffentlicht. Auch viele örtliche bolschewistische Organisationen druckten<br />
sie nach. In Tiflis druckte das Russische Büro des ZK der SDAPR die Plattform<br />
nach. (Den Text der Plattform siehe <strong>Werke</strong>, Bd. 17, S. 498-504.) 226<br />
57 S. W.- Stanislaw Wolski - Pseudonym A. W. Sokolows,- Otsowist, einer<br />
der Organisatoren der Gruppe „Wperjod". 229<br />
68 £. JW. - L. Martow - einer der Führer der Menschewiki. 230<br />
89 Den „Brief an die Sdoweizer Arbeiter" schrieb W. I. <strong>Lenin</strong> im Zusammenhang<br />
mit den folgenden Ereignissen. Im Juli 1912 sandte das mensdiewistisch-liquidatorische<br />
Büro der Vereinigten Organisation der SDAPR<br />
in Zürich einen Brief an den Vorstand der sozialdemokratischen Organisation<br />
„Die Eintracht" und den Schweizerischen Arbeiterbund. In dem Brief<br />
erklärte sich das Büro zum alleinigen Vertreter der Auslandsgruppen der<br />
SDAPR in Zürich. Am 27. Juli (9. August) fand in Zürich eine Beratung<br />
der bolschewistischen Schweizer Sektion der Auslandsorganisation der<br />
SDAPR statt. An der Beratung nahmen Vertreter der bolschewistischen<br />
Gruppen von Zürich, Davos, Bem, Lausanne und Genf teil. Die Beratung<br />
erörterte folgende Resolutionen und nahm sie an: 1. Ober die Sachlage in<br />
der Partei; 2. Über die Sachlage im Ausland und 3. eine Protestresolution
Anmerkungen 613<br />
gegen den Brief des liquidatorischen Büros. Die letztgenannte Resolution<br />
und der Brief W. I. <strong>Lenin</strong>s, der die Kompetenz der Züricher Sektion der<br />
Bolschewiki bestätigt, wurden in deutscher Sprache verfaßt und als hektographierte<br />
Flugschrift veröffentlicht. 234<br />
70 Gemeint ist eine Erhebung über die Fabriken und <strong>Werke</strong> Rußlands, die<br />
von der Abteilung Industrie des Finanzministeriums im Jahre 1908 durchgeführt<br />
wurde. Vorläufige Angaben über die Ergebnisse der Erhebung veröffentlichte<br />
W. J. Warsar in dem Artikel „Die verarbeitende Fabrik- und<br />
Werkindustrie des Reichs zu Beginn des Jahres 1909" im „Westnik Finansow,<br />
Promyschlennosti i Torgowli" (Finanz-, Industrie- und Handelsbote)<br />
Nr. 50, 11. (24.) Dezember 1911. <strong>Lenin</strong> benutzte die Daten der zusammenfassenden<br />
Tabelle des Artikels. 245<br />
71 Gemeint ist die „Sammlung der Berichte der Fabrikinspektoren für das<br />
Jahr 1910", St. Petersburg 1911, S. XXXVII. 247<br />
72 Die Zahlenangaben entnahm <strong>Lenin</strong> der „Sammlung der Berichte der Fabrikinspektoren<br />
für das Jahr 1910", St. Petersburg 1911, S. XV. 252<br />
73 „Hossija" (Rußland) - Tageszeitung der Schwarzhunderter, die von 1905<br />
bis 1914 in Petersburg herausgegeben wurde. Von 1906 an war sie das<br />
offizielle Organ des Innenministeriums. <strong>Lenin</strong> nannte die Zeitung „Rossija"<br />
ein „korruptes Polizeiblättchen". 271<br />
74 Der Artikel „DieLiquidatoren und die ,£inbeit" erschien in der „Prawda"<br />
zusammen mit einem besonderen Abschnitt, der sich mit den Beschuldigungen<br />
auseinandersetzte, die die Liquidatoren gegen die „Prawda" erhoben.<br />
Dieser Abschnitt des Artikels war von M. S. Olminski verfaßt. 280<br />
75 „Semsäitsdbina" (DerBauernstand) -Tageszeitung der Schwarzhunderter;<br />
Organ der extrem rechten Abgeordneten der Reichsduma; erschien von<br />
1909 bis 1917 in Petersburg. 288<br />
76 „Russkaja !Mysl" (Der russische Gedanke) - Monatsschrift für Literatur<br />
und Politik, die von <strong>18</strong>80 bis 19<strong>18</strong> in Moskau erschien. Bis zum Jahre 1905<br />
vertrat sie die liberal-volkstümlerische Richtung. Dennoch veröffentlichte<br />
sie in den neunziger Jahren verschiedentlich auch Artikel von Marxisten.<br />
Nach der Revolution von 1905 wurde sie unter der <strong>Red</strong>aktion von P. B.<br />
Struve zum Organ des rechten Flügels der Kadettenpartei. 303<br />
17 <strong>Lenin</strong> zitiert aus dem Poem Nekrassows „Wer lebt glücklich in Rußland?"<br />
(Vgl. N. A. Nekrassow, „Wer lebt glücklich in Rußland?", Reclam o. J.,<br />
S.38.)<br />
Der weiter unten im Text zitierte Vierzeiler entstammt dem Gedicht
614 Anmerkungen<br />
Nekrassows „An den unbekannten Freund, der mir das Gedicht ,Es kann<br />
nicht sein' sandte". (Siehe N. A. Nekrassow, Ausgewählte <strong>Werke</strong>, 1947,<br />
S. 135/136, russ.) 304<br />
78 Die Worte .der Niedertradbt angepaßt" entnimmt <strong>Lenin</strong> dem satirischen<br />
Märchen Saltykow-Schtschedrins „Der Liberale". (Siehe M. J. Saltykow-<br />
Schtschedrin, Ausgewählte <strong>Werke</strong>, 1947, S. 554-557, russ.) 305<br />
79 „Russki TVestntk" (Russischer Bote) - Zeitschrift für Politik und Literatur,<br />
die von <strong>18</strong>56 bis 1906 erschien. Von <strong>18</strong>56 bis <strong>18</strong>87 wurde die Zeitschrift in<br />
Moskau herausgegeben, <strong>Red</strong>akteur und Herausgeber war M. N. Katkow.<br />
Anfangs war die Richtung der Zeitschrift gemäßigt-liberal, beginnend mit<br />
den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde sie zu einem Organ der<br />
feudalen Reaktion. Nach dem Tode Katkows wurde der „Russki Westnik"<br />
von <strong>18</strong>88 bis <strong>18</strong>% in Petersburg herausgegeben, von <strong>18</strong>96 bis 1902 in<br />
Moskau und von 1902 bis 1906 wiederum in Petersburg. 3G8<br />
80 Gemeint sind folgende Fakten: Im November und Dezember 1908 fanden<br />
in Moskau „zu aktuellen Fragen" geschlossene Beratungen der Großindustriellen<br />
(Goujon, Krestownikow u. a.) mit Führern der Kadetten (Struve,<br />
Manuilow, Kiesewetter u. a.) statt.<br />
Im Oktober 1910 erklärte F. A. Golowin, Mitglied der III. Reichsduma,<br />
daß er sein Abgeordnetenmandat niederlege, und bald darauf beteiligte er<br />
sich aktiv an einer Eisenbahnkonzession.<br />
Im März 1912 fangierte W. A. Maklakow, Mitglied der III. Duma, ungeachtet<br />
seines Abgeordnetenmandats als Verteidiger in dem Prozeß gegen<br />
Tagijew, einen Erdöl-Großindustriellen aus Baku, der beschuldigt wurde,<br />
einen seiner Angestellten, den Ingenieur Bebutow, mißhandelt zu haben.<br />
312<br />
81<br />
Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, <strong>Werke</strong>, Bd. 5, Berlin 1964, S. 65 und<br />
283. 323<br />
82<br />
Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, <strong>Werke</strong>, Bd. 19, Berlin 1962, S. 29.<br />
335<br />
83<br />
Nach einer <strong>Red</strong>e des Mitglieds der sozialdemokratischen Fraktion in der<br />
III. Reichsduma A. A. Woiloschnikow über das Wehrpflichtstatut am 2.<br />
(15.) Dezember 1911 beantragte der Dumapräsident, Woiloschnikow für<br />
5 Sitzungen auszuschließen. Nach einer nochmaligen Stellungnahme Woiloschnikows<br />
auf derselben Sitzung sollte die Dauer des Ausschlusses auf<br />
15 Sitzungen erhöht werden. Die Kadetten stimmten für den ersten Antrag<br />
des Präsidenten. 338<br />
84<br />
Siehe A. S. Gribojedow, „Geist bringt Kummer", Berlin 1948, S. 12. 34 i
Anmerkungen 615<br />
85 Das Treffen Miljukows mit dem Außenminister Sasonow, in dessen Verlauf<br />
die Politik der Zarenregierung auf dem Balkan erörtert wurde, fand<br />
Ende September oder Anfang Oktober 1912 statt. 343<br />
8t Gemeint ist der Brief von Karl Marx an L. Kugelmann vom 12. April<br />
<strong>18</strong>71, der eine Einschätzung der Pariser Kommune enthält. (Siehe Karl<br />
Marx/Friedrich Engels, <strong>Werke</strong>, Bd. 33, Berlin 1966, S. 205/206.) 348<br />
87 Siehe das Vorwort von Friedrich Engels zur ersten deutschen Ausgabe von<br />
Karl Marx* Werk „Das Elend der Philosophie", in Karl Marx/Friedrich<br />
Engels, <strong>Werke</strong>, Bd. 4, Berlin 1964, S. 561. 350<br />
88 Siehe „Die KPdSU in Resolutionen und Beschlüssen der Parteitage, Parteikonferenzen<br />
und Plenartagungen des ZK", 7. Auflage, Moskau 1954,<br />
Teil I, S. 164, russ. 366<br />
89 .Lutsd}" (Der Strahl) - legale Tageszeitung der menschewistischen Liquidatoren;<br />
wurde vom 16. (29.) September 1912 bis 5. (<strong>18</strong>.) Juli 1913 in Petersburg<br />
herausgegeben. Es erschienen 237 Nummern. Die Zeitung existierte<br />
in der Hauptsache von Spenden Liberaler. Die ideologische Leitung der<br />
Zeitung lag in den Händen P. B. Axelrods, Th. Dans, L. Martows und<br />
A. S. Martynows. 404<br />
90 Unter „österreidoisdber" Jöderation ist der organisatorische Aufbau der<br />
Sozialdemokratie Österreichs nach Nationalitäten zu verstehen. Auf dem<br />
Wiener Parteitag <strong>18</strong>97 wurde die einheitliche Partei liquidiert und an ihrer<br />
Stelle ein föderativer Bund von sechs nationalen „sozialdemokratischen<br />
Gruppen" geschaffen: der deutschen, tschechischen, polnischen, ruthenischen,<br />
italienischen und südslawischen Gruppe. Alle diese Gruppen wurden<br />
lediglich durch einen Gesamtparteitag und eine Gesamtleitung vereinigt.<br />
Auf dem Brünner Parteitag <strong>18</strong>99 wurde die Gesamtleitung in ein föderatives<br />
Organ, bestehend aus den Exekutivkomitees der nationalen sozialdemokratischen<br />
Parteien, umgewandelt. Das Ergebnis des organisatorischen<br />
Föderalismus war, daß die einheitliche sozialdemokratische Partei Österreichs<br />
zerfiel. 405<br />
91 Die Thesen „Tiber einige <strong>Red</strong>en der Arbeiterdeputierten" lagen der Deklaration<br />
der sozialdemokratischen Fraktion der IV. Duma zugrunde. Das<br />
Manuskript der. Thesen ist nur unvollständig erhalten. Der Annahme der<br />
Deklaration ging ein erbitterter Kampf der bolschewistischen Abgeordneten<br />
gegen die sieben menschewistischen Abgeordneten der Fraktion voraus. Die<br />
bolschewistischen Abgeordneten setzten die Aufnahme der Grundforderungen<br />
der bolschewistischen Plattform in die Deklaration durch, es gelang
616 Anmerkungen<br />
jedoch den Menschewiki, den Punkt mit der Forderung nach nationalkultureller<br />
Autonomie hineinzubringen. Die Deklaration wurde im Namen<br />
der sozialdemokratischen Fraktion in der Sitzung der Duma am 7. (20.)<br />
November 1912 von dem Abgeordneten Malinowski (später als Spitzel<br />
entlarvt) verlesen. Beim Verlesen der Deklaration ließ Malinowski eine<br />
Reihe von Punkten aus, darunter den Punkt über das allgemeine Wahlrecht.<br />
Wegen der Veröffentlichung des Stenogramms der Dumasttzung mit<br />
dem Wortlaut der Deklaration wurde die <strong>Red</strong>aktion der „Prawda" gerichtlich<br />
zur Verantwortung gezogen, und die Zeitung wurde beschlagnahmt.<br />
40«<br />
92 Der Außerordentlidhe Internationale Kongreß der II. Internationale tagte<br />
am 24. und 25. November 1912 in Basel. Am Tage der Eröffnung des<br />
Kongresses fand eine große Antikriegsdemonstration und eine internationale<br />
Protestkundgebung gegen den Krieg statt. Auf der Sitzung des Kongresses<br />
am 25. November wurde einstimmig ein Manifest angenommen,<br />
das die Sozialisten aller Länder aufrief, einen energischen Kampf gegen die<br />
Kriegsgefahr zu führen. 409<br />
93 <strong>Lenin</strong> bezieht sich auf die Unruhen unter den politischen Gefangenen in<br />
den Zuchthäusern Kutomara und Algatschi. Anlaß für die Unruhen war<br />
eine Verfügung des Militärgouverneurs von Transbaikalien vom Ende des<br />
Sommers 19.12 über die Einführung militärischer Regeln im Umgang mit<br />
den politischen Gefangenen im Nertschinsker Verbannungsgebiet. Die<br />
politischen Gefangenen des Zuchthauses Kutomara beantworteten diese<br />
Verfügung mit einem fünfzehntägigen Hungerstreik, viele begingen Selbstmord.<br />
Zu Ereignissen desselben Charakters kam es auch im Zuchthaus<br />
Algatschi. Das Echo auf diese Ereignisse waren Proteststreiks der Arbeiter<br />
von Petersburg, Moskau, Warschau und Riga. Im Namen der sozialdemokratischen<br />
Fraktion und der Trudowiltigruppe wurde in der IV. Duma eine<br />
Interpellation über die Behandlung der politischen Gefangenen eingebracht.<br />
Die Erörterung der Interpellation wurde mit Stimmenmehrheit vertagt und<br />
später nicht wieder aufgenommen. 410<br />
94 Es handelt sich um den Agrarentwurf der Bauerndeputierten (der parteilosen<br />
und rechten), der am 10. (23.) Mai 1908 in der III. Duma zur Erörterung<br />
eingebracht wurde. Der Entwurf sah eise Zwangsenteignung des<br />
Gutsbesitzerlandes, das von den Besitzern nicht selbst bearbeitet wurde,<br />
zum durchschnittlichen Marktpreis vor. Zur Durchführung der Agrarreform<br />
wurde vorgeschlagen, örtliche Bodenkommissionen zu bilden, die durch allgemeine<br />
Abstimmung gewählt werden. Eine Einschätzung dieses Entwurfs
Anmerkungen 617<br />
gab <strong>Lenin</strong> in dem Artikel „Die Agrardebatten in der III. Duma". (Siehe<br />
<strong>Werke</strong>, Bd. 15, S. 301-315.) 41i<br />
95 Das Dokument „ Zur Trage der Arbeiierdeputierten in der Duma und ihrer<br />
Deklaration" ist der Entwurf der Deklaration der sozialdemokratischen<br />
Fraktion. N. K. Krupskaja schrieb das Dokument ab und schickte es am<br />
13. (26.) November 1912 aus Krakau an die bolschewistischen Dumaabgeordneten.<br />
Der Deklarationsentwurf wurde von der zaristischen Polizei abgefangen<br />
und im Jahre 1932 im Archiv des Polizeidepartements aufgefunden.<br />
413<br />
96 Die Demonstration wurde auf Initiative bolschewistischer Vertreter einzelner<br />
Stadtbezirke und Betriebe von Petersburg organisiert. Wenige Tage<br />
vor der Eröffnung der Duma verteilten die Bolschewik) in den Betrieben<br />
ein Flugblatt, das die Arbeiter aufrief, am 15. (28.) November einen eintägigen<br />
politischen Streik und einen Demonstrationszug zum Taurischen<br />
Palast zu organisieren. Die Liquidatoren wandten sich in der Zeitung<br />
„Lutsch" gegen eine Demonstration. Am 13. (26.) November berief die<br />
sozialdemokratische Fraktion der IV. Duma eine Beratung unter Teilnahme<br />
der Vertreter des Petersburger Komitees, der <strong>Red</strong>aktion der „Prawda", des<br />
leitenden Zentrums der Liquidatoren - des Organisationskomitees - und<br />
der Liquidatorenzeitung „Lutsch" ein. Auf der Beratung unterstützten die<br />
Bolschewiki den Vorschlag, den Tag der Eröffnung der Schwarzhunderterduma<br />
mit einem Streik und einer Demonstration zu begehen; die Liquidatoren<br />
sprachen sich kategorisch dagegen aus. Nach der Beratung gab<br />
die sozialdemokratische Fraktion in der Presse die politisch falsche Erklärung<br />
ab, sie stehe dem Streik ablehnend gegenüber. Trotz des Widerstands<br />
der Liquidatoren und der politisch falschen Haltung der sozialdemokratischen<br />
Fraktion streikten am Tage der Eröffnung der Duma Zehntausende<br />
Arbeiter. In einer Reihe von Betrieben wurden Kurzversammlungen<br />
organisiert, auf denen die Arbeiter beschlossen, den „Lutsch" zu<br />
boykottieren. Nach der Demonstration nahmen die bolschewistischen<br />
Dumaabgeordneten in Arbeiterversammlungen zu ihrem Fehler Stellung<br />
und korrigierten sich. 417<br />
97 <strong>Lenin</strong> meint Rodsjankos <strong>Red</strong>e nach seiner Wahl zum Präsidenten der<br />
IV. Duma. In seiner <strong>Red</strong>e sprach Rodsjankovon „unerschütterlicher Treue"<br />
zum Zaren und erklärte sich zum Anhänger eines konstitutionellen Repräsentativsystems,<br />
in<br />
98 Der Brief W.I.<strong>Lenin</strong>s wurde am 28. November (11.Dezember) 1912 geschrieben<br />
und am selben Tag aus Krakau nach Petersburg an J. W. Stalin<br />
40 <strong>Lenin</strong>, <strong>Werke</strong>, Bd. <strong>18</strong>
6<strong>18</strong> Anmerkungen<br />
gesandt. Er war von N. K. Krupskaja mit unsichtbarer Tinte abgeschrieben<br />
worden. Der Brief wurde vom Polizeidepartement abgefangen, dechiffriert<br />
und auf der Schreibmaschine übertragen. Eine Kopie des Briefes wurde<br />
im Archiv des Departements aufgefunden. Bei der Dechiffrierung wurden<br />
einige Worte nicht entziffert, der Brief weist Auslassungen auf. 420<br />
ss 'Jagiello, £. jf. - Mitglied der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) -<br />
wurde von der Stadt Warschau als Abgeordneter in die IV. Duma gewählt.<br />
Die Bolschewiki lehnten kategorisch die Aufnahme Jagiellos in die<br />
sozialdemokratische Fraktion ab, da Jagiello durch die Unterstützung der<br />
Bourgeoisie sowie des Blocks der PPS und des „Bund" in die Duma gelangt<br />
war. Bei der ersten Abstimmung spaltete sich die sozialdemokratische Fraktion:<br />
6 Abgeordnete (Menschewiki) stimmten für die Aufnahme Jagiellos<br />
und 6 (Bolschewiki) dagegen. Mit der Ankunft des Abgeordneten aus Irkutsk<br />
- des rechten Menschewiks Mankow - erhielten die Menschewiki das<br />
Übergewicht, und Jagiello wurde in die sozialdemokratische Fraktion aufgenommen.<br />
Unter dem Druck der bolschewistischen Abgeordneten jedoch<br />
wurden seine Rechte innerhalb der Fraktion eingeschränkt, in allen innerparteilichen<br />
Fragen hatte Jagiello nur beratendes Stimmrecht. 420<br />
100 „Den" (Der Tag) - konspirative Bezeichnung für die „Prawda". 420<br />
101 Der Text des Dokuments weist hier eine Auslassung auf. Kollegium - der<br />
bolschewistische Teil der sozialdemokratischen Fraktion der IV. Duma. 420<br />
102 Im Brief sind einige Worte ausgelassen. „P." - N. G. Poletajew, Bolschewik,<br />
Mitglied der III. Reichsduma. Der Liquidator „"M." ist anscheinend J. Majewski<br />
(Pseudonym W. A. Gutowskis), ein Mitarbeiter der Liquidatorenzeitung<br />
„Lutsch". 422<br />
5" Am 5. (<strong>18</strong>.) Oktober 1912 trat der Kongreß der Bevollmächtigten der Arbeiterkurie<br />
zusammen,- anwesend waren 50 Bevollmächtigte,- von den sechs<br />
vom Kongreß gewählten Wahlmännern waren vier Bolschewiki.<br />
Die zaristische Regierung, die einen Sieg der Sozialdemokraten in der<br />
Arbeiterkurie fürchtete, annullierte die Bevollmächtigtenwahlen in 21<br />
Petersburger Betrieben. Als Antwort darauf rief das Petersburger Komitee<br />
die Arbeiter zu einem eintägigen politischen Streik auf. Der Streik erfaßte<br />
etwa 100000 Arbeiter. Die Regierung war gezwungen nachzugeben und<br />
schrieb Ergänzungswahlen aus. Bei der abermaligen Wahl der Wahlmänner<br />
fand die Abstimmung nicht nach Plattformen statt. Das Ergebnis war,<br />
daß 3 Bolschewiki und 3 Liquidatoren gewählt wurden. Zur Bestimmung<br />
des Kandidaten der Arbeiterkurie für die Duma schlugen die Bolschewiki<br />
den Liquidatoren eine Entscheidung durch Auslosung vor. Die Liquidatoren
Anmerkungen 619<br />
lehnten die Entscheidung durch das Los ab. Auf dem Gouvernementskongreß<br />
der Wahlmänner wurde als Deputierter der Arbeiterkurie des Gouvernements<br />
Petersburg der Bolschewik A. J. Badajew gewählt. 422<br />
IM Der Brief wurde von N. K. Krupskaja mit unsichtbarer Tinte zwischen<br />
die Zeilen eines anderen Briefes geschrieben. Das Dokument wurde in<br />
den Akten des Polizeidepartements zwischen perlustrierten Briefen gefunden.<br />
TVassiljeiv - J. W, Stalin. 423<br />
105 Das 3lugb1att zum 9. Januar i913 wurde auf der Grundlage der Hinweise<br />
in diesem Brief verfaßt und mit folgenden Unterschriften herausgegeben:<br />
Petersburger Komitee der SDAPR, Zentralbüro der Gewerkschaften und<br />
Komitee des Moskauer Bezirks der SDAPR. 423<br />
106 Gemeint ist der rechte Menschewik I. N. Mankow, Abgeordneter der IV.<br />
Duma. 423<br />
107 <strong>Lenin</strong> meint die Delegierten zum V. Parteitag der SDAPR. 430<br />
103 <strong>Lenin</strong> meint die sozialdemokratische Fraktion der II. Reichsduma. 43i<br />
109 Der Kongreß der „Progressiven" fand vom 11. bis 13. (24. bis 26.) November<br />
1912 statt. Auf dem Kongreß wurde die Taktik der Fraktion in der<br />
IV. Duma erörtert. Der Kongreß nahm einen Beschluß über die organisatorische<br />
Formierung der „Progressisten"gruppen zu einer Partei an. Dem<br />
Programm der neuen Partei wurde die Forderung nach einer konstitutionellmonarchistischen<br />
Ordnung zugrunde gelegt.<br />
Organ der „Progressisten" wurde die Zeitung „Russkaja Molwa" (Russische<br />
Stimme), die von 1912 bis 1913 in Petersburg herausgegeben wurde.<br />
434<br />
"° „Slowo" (Das Wort) - Tageszeitung; erschien von 1903 bis 1909 in Petersburg.<br />
Von November 1905 bis Juli 1906 war sie Organ der Oktobristen und<br />
danach Organ der konstitutionell-monarchistischen Partei der „friedlichen<br />
Erneuerer", die <strong>Lenin</strong> die „Partei der friedlichen Ausplünderung" nannte.<br />
436<br />
111 Die Beratung des ZX der ST>JPJt. mit Parteifunktionären, die aus konspirativen<br />
Gründen als „Februar"beratung bezeichnet wurde, fand vom<br />
26. Dezember 1912 bis 1. Januar 1913 (8. bis 14. Januar 1913) in Krakau<br />
statt. An der Beratung nahmen 14 Personen teil, darunter Mitglieder des<br />
ZK und bolschewistische Abgeordnete der IV-Reichsduma. Die Beratung<br />
wurde unter <strong>Lenin</strong>s Vorsitz durchgeführt; er Sprach zu einer Reihe von<br />
Fragen, schrieb die Resolutionen und die Mitteilung über die Beratung.
620 Anmerkungen<br />
Die Beratung nahm Beschlüsse zu den. wichtigsten Fragen der Arbeiterbewegung<br />
an, sie erörterte die Berichte der lokalen Vertreter über die<br />
Lage in den Parteiorganisationen und die Arbeit der <strong>Red</strong>aktion der „Prawda"<br />
und der Zeitschrift „Prosweschtsdienije".<br />
Die Resolutionen der Beratung wurden vom ZK bestätigt und hektographiert<br />
herausgegeben. In der ersten Februarhälfte wurden die Resolutionen<br />
zusammen mit der „Mitteilung" als Broschüre in Paris veröffentlicht. Im<br />
April 1913 empfahl das Auslandsbüro des ZK der Partei in einem Rundschreiben<br />
den Parteiorganisationen, den Bevollmächtigten des ZK und den<br />
einzelnen Parteifunktionären, die Beschlüsse der „Februar"beratung in den<br />
Komitees, in den Parteizellen und Zirkeln zu erörtern. In einem Brief an<br />
A. M. Gorki bemerkte W. I. <strong>Lenin</strong>, daß die Beratung „sehr gut gewesen<br />
ist und noch eine Rolle spielen wird". 439<br />
112 Gemeint ist die Stellungnahme des menschewistischen Abgeordneten A. I.<br />
Tschchenkeli zur Regierungserklärung in der Dumasitzung vom 10. (23.)<br />
Dezember 1912. 453<br />
U3 Bei der vom II. Parteitag der SDAPR abgelehnten Formulierung handelt es<br />
sich um den Vorschlag des Bundisten Goldblatt, in den Paragraphen 8 des<br />
Parteiprogramms über das „Selbstbestimmungsrecht aller Nationen, die<br />
dem Staatsverband angehören" einen Zusatz aufzunehmen: „unddieGründung<br />
von Institutionen, die ihnen die volle Freiheit der kulturellen Entwicklung<br />
garantieren". 453<br />
i» In der Sitzung der IV. Duma am 15. (28.) Dezember 1912, nach Abbruch<br />
der Debatte über die Regierungserklärung, wurden von den Kadetten, den<br />
„Progressisten", den Trudowiki und den Nationalisten Anträge auf Übergang<br />
zur Tagesordnung eingebracht. Mit Stimmenmehrheit wurde der Antrag<br />
der „Progressisten" angenommen, in dem die Überzeugung ausgesprochen<br />
wird, daß die Regierung das Manifest vom 17. Oktober 1905 verwirklichen<br />
wird. Für diesen Antrag stimmten auch die Sozialdemokraten.<br />
Später erkannten sie ihre Stimmabgabe als falsch an. 453<br />
115 In den nicht veröffentlichten Punkten (7, 8 und 9) der Resolution über die<br />
Arbeit der sozialdemokratischen Dumafraktion forderte die Beratung die<br />
bolschewistischen Abgeordneten auf, die Gleichstellung mit den sieben menschewistischen<br />
Abgeordneten innerhalb der Fraktion anzustreben, ihre<br />
Namen aus der Mitarbeiterliste der Zeitung „Lutsch" zu streichen und sich<br />
zur Parteiarbeit zusammenzuschließen. Der Text dieser Punkte der Resolution<br />
istnicht erhaltenr453<br />
116 <strong>Lenin</strong> zitiert Worte aus dem Arbeiterlied des deutschen Dichters Georg
Anmerkungen 621<br />
Herwegh, das dieser im Jahre <strong>18</strong>64 für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein<br />
schrieb. 460<br />
117 Gemeint sind Korrespondenzen aus Riga und Moskau, die am 12. (25.)<br />
Januar 1913 in Nr. 30 des „Sozial-Demokrat" veröffentlicht wurden. Sie<br />
berichten von Streiks und Demonstrationen der Arbeiter. Am 11. (24.) November<br />
1912 organisierten die Arbeiter Rigas eine Protestdemonstration<br />
gegen die Todesurteile, die das Marinegericht von Sewastopol gegen zehn<br />
Matrosen des Panzerkreuzers „Joann Slatoust" ausgesprochen hatte, gegen<br />
die Mißhandlungen der politischen Gefangenen im Zuchthaus von Kutomara<br />
und gegen den ausgebrochenen Balkankrieg. Ober 1500 Arbeiter zogen<br />
durch die Straßen von Riga, wobei sie die Sympathie der Bevölkerung<br />
fanden. Am 12. (25.) November begann in vielen Großbetrieben Rigas ein<br />
politischer Streik. Am 8. (21.) November streikten die Arbeiter einer Reihe<br />
von Fabriken in Moskau. Es wurde der Versuch unternommen, eine Demonstration<br />
zu organisieren, aber die Polizei jagte die sich versammelnden<br />
Arbeiter auseinander. 466<br />
"» H>. A. - W.-M. Abrossimow, menschewistischer Liquidator, später als Spitzel<br />
entlarvt.<br />
Jb. T>. - Th. I. Dan, einer der Führer der Liquidatoren. 470<br />
H9 Das Manuskript trägt keine Überschrift. Die Überschrift stammt vom Institut<br />
für Marxismus-<strong>Lenin</strong>ismus beim ZK der KPdSU in Moskau. 471<br />
120 Awjustowski - Pseudonym des menschewistischen Liquidators S. O. Zeder-<br />
baum. 476<br />
121 Der Artikel „Tiber den Bohdheivismus" wurde für den zweiten <strong>Band</strong> des<br />
Sammelwerkes von N. A. Rubakin „Unter Büchern" verfaßt. <strong>Lenin</strong> schickte<br />
diesen Artikel am 12. (25.) Januar 1913 mit einem Begleitbrief ab, in dem<br />
er für die Veröffentlichung die Bedingung stellte, daß „keinerlei Änderungen<br />
irgendwelcher Art vorgenommen werden". Der Artikel wurde vollständig<br />
veröffentlicht. 477<br />
1 22 <strong>Lenin</strong> zitiert Worte aus dem Gedicht D. W. Dawydows „Lied eines alten<br />
Husaren". (Siehe D. W. Dawydow, Sämtliche Gedichte, 1933, S. 106,<br />
russ.) 483<br />
123 <strong>Lenin</strong> meint folgenden Satz aus dem „Manifest der Kommunistischen Partei"<br />
: „Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen<br />
Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet." (Siehe Karl Marx/<br />
Friedrich Engels, <strong>Werke</strong>, Bd. 4, Berlin 1964, S. 464.) 484<br />
124 <strong>Lenin</strong> zitiert in eigener Übersetzung aus der Schrift von Karl Marx „Zur
622 Anmerkungen<br />
Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung." (Siehe Karl Marx/<br />
Friedrich Engeis, <strong>Werke</strong>, Bd. 1, Berlin 1969, S. 379.) 484<br />
125 Unter „Ropsdbinsdben Emotionen" versteht <strong>Lenin</strong> die reaktionären Ideen<br />
und dekadenten Stimmungen, die in den Jahren der Reaktion weite Verbreitung<br />
unter der Sozialrevolutionären Intelligenz gefunden hatten und<br />
ihren klarsten Ausdruck in den literarischen <strong>Werke</strong>n Ropschins (B. Sawinkows)<br />
fanden. 489<br />
126 7. £-ko - Pseudonym <strong>Lenin</strong>s. 499<br />
127 Es handelt sich um die Wahlen zur IV. Reichsduma in Riga und Jekaterinodar,<br />
wo die Kadetten gemeinsam mit den Schwarzhunderterparteien gegen<br />
die sozialdemokratischen Kandidaten gestimmt hatten. 503<br />
128 .Votsdbin" („L'Initiative") - Zeitschrift liquidatorisch-volkstümlerischer<br />
Richtung; wurde von einer Gruppe von Sozialrevolutionären herausgegeben.<br />
Es erschien nur eine Nummer im Juni 1912 in Paris. 507<br />
<strong>Lenin</strong> meint die Beschlüsse der Fünften Konferenz der SDAPR im Jahre<br />
1908 und der Beratung der erweiterten <strong>Red</strong>aktion des „Proletari" im Juni<br />
1909. (Siehe „Die KPdSU in Resolutionen und Beschlüssen der Parteitage,<br />
Parteikonferenzen und Plenartagungen des ZK", 7. Auflage, Teil I, Moskau<br />
1954, S. 195-205, 212-232, russ.) 51i<br />
130 j[m w. P. - Pseudonym A. W. Peschechonows, eines Führers der Partei der<br />
„Volkssozialisten". 517<br />
131 7Jikoiai-on - Pseudonym N. F. Danielsons, eines Ideologen der liberalen<br />
Volkstümlerrichtung der achtziger und neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts.<br />
517<br />
132 Der nur für Parteimitglieder bestimmte Artikel „An die Sozialdemokraten''<br />
wurde in Krakau als hektographierte Flugschrift herausgegeben. 522<br />
133 Die Erklärungen des Ministers für Volksbildung Kasso in der Duma waren<br />
durch eine Interpellation von 44 Dumaabgeordneten am 14. (27.) Dezember<br />
1912 anläßlich der Verhaftung von 34 Schülern der Mittelschulen von<br />
Petersburg während einer Versammlung in dem privaten Gymnasium Witmer<br />
veranlaßt worden. Die Schüler wurden von der Ochranaabteilung verdächtigt,<br />
einem illegalen Zirkel anzugehören. Die Interpellation wurde in<br />
fünf Dumasitzungen erörtert. Am 6. (19.) Februar 1913 wurde mit Stimmenmehrheit<br />
ein Antrag auf Übergang zur Tagesordnung angenommen,<br />
der die Erklärungen des zaristischen Ministers als unbefriedigend bezeichnete.<br />
564
Anmerkungen 623<br />
134 £)je von ^ i <strong>Lenin</strong> zitierten Worte sind eine Abwandlung eines Zweizeilers<br />
aus dem „Wiegenlied" von N. A. Nekrassow:<br />
Wirst Beamter Du im Äußern,<br />
im Herzen doch ein Schuft.<br />
(Siehe N. A. Nekrassow, Ausgewählte <strong>Werke</strong>, 1947, S. 4, russ.) 587<br />
135 jn der vorliegenden Ausgabe ist in dem Artikel „Der ,frei verfügbare Bestand'"<br />
nach den Worten „staatliche Taschenspielerei" bis zu dem Satz<br />
„Ein hübsches Beispiel für Raubwirtsdbaft" eine 1941 entdeckte Einfügung<br />
aufgenommen, die im Text des zum erstenmal in der „Prawda" Nr. 62 vom<br />
15. März 1913 veröffentlichten Artikels und in der zweiten resp. dritten<br />
Ausgabe der <strong>Werke</strong> W. I. <strong>Lenin</strong>s nicht enthalten ist. 595
DATEN AUS DEM LEBEN UND WIRKEN<br />
W.I.LENINS<br />
(April 1912 bis März 1913)
April bis letzte<br />
"Junidekade<br />
Cn. St.)<br />
22. April<br />
(5. Mai)<br />
25. April<br />
(8. Mai)<br />
26. April<br />
(9. Mai)<br />
6. (19.) Mai<br />
1912<br />
<strong>Lenin</strong> lebt in Paris.<br />
627<br />
Es erscheint die erste Nummer der legalen bolschewistischen<br />
Tageszeitung „Prawda".<br />
<strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Wahlkampagne zur IV. Duma und die<br />
Aufgaben der revolutionären Sozialdemokratie", „Die Liquidatoren<br />
gegen die Partei" und „Dem Gedächtnis Herzens"<br />
werden in Nr. 26 des „Sozial-Demokrat" veröffentlicht.<br />
<strong>Lenin</strong> spricht in der Sitzung der Pariser Sektion der Auslandsorganisation<br />
der SDAPR über das Blutbad an der Lena,<br />
die Streiks in Rußland und die auf Grund dieser Ereignisse<br />
erforderliche Taktik der Partei.<br />
<strong>Lenin</strong>s Artikel „Der Grundbesitz im Europäischen Rußland"<br />
erscheint in Nr. 3 der „Newskaja Swesda".<br />
8. und 9. (21. <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Trudowiki und die Arbeiterdemokratie"<br />
und 22.) Mai erscheint in Nr. 13 und 14 der „Prawda".<br />
10. (23.) Mai <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die politischen Parteien in Rußland" erscheint<br />
in Nr. 5 der „Newskaja Swesda".<br />
22. Mai (4. Juni) <strong>Lenin</strong>s Artikel „Das Wesen der .Agrarfrage in Rußland'"<br />
und „Einige Ergebnisse der Mobilisierung für die Wahlen"<br />
erscheinen in Nr. 6 der „Newskaja Swesda".
628 Daten aus dem Leben und Wirken TV. 3. <strong>Lenin</strong>s<br />
31. Mai <strong>Lenin</strong> hält in der Salle de L'Alcazar auf einer von der Pariser<br />
(13. Juni) Sektion der Auslandsorganisationen der SDAPR einberufenen<br />
Versammlung ein Referat über das Thema „Der revolutionäre<br />
Aufschwung des russischen Proletariats".<br />
<strong>Lenin</strong>s Artikel „Wirtschaftlicher und politischer Streik" erscheint<br />
in Nr. 10 der „Newskaja Swesda".<br />
3. (16.) "Juni <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Frage der Umsiedlung" erscheint in<br />
Nr. 11 der „Newskaja Swesda".<br />
4. (17.) Juni <strong>Lenin</strong>s Artikel „Der revolutionäre Aufschwung", „Die Losungen<br />
der Gesamtrussischen Konferenz der SDAPR im Januar<br />
1912 und die Maibewegung", „Die Liquidatoren gegen den<br />
revolutionären Massenstreik" und „,Vereiniger'" erscheinen<br />
in Nr. 27 des „Sozial-Demokrat".<br />
<strong>Lenin</strong> hält in Leipzig ein Referat „über den revolutionären<br />
Aufschwung in Rußland".<br />
10. (23.) Juni <strong>Lenin</strong> übersiedelt von Paris nach krakau, um festere Verbindungen<br />
mit Rußland herzustellen und die Anleitung der<br />
bolschewistischen Dumafraktion und der <strong>Red</strong>aktion der<br />
„Prawda" zu verbessern.<br />
<strong>Lenin</strong>s Artikel „Ober den Charakter und die Bedeutung<br />
unserer Polemik mit den Liberalen" erscheint in Nr. 12 der<br />
„Newskaja Swesda".<br />
17. (30.) Juni <strong>Lenin</strong>s Artikel „Kapitalismus und ,Parlament'" erscheint in<br />
Nr. 13 der „Newskaja Swesda".<br />
21. Juni <strong>Lenin</strong> bezieht in Krakau in der Ulica Zwierzyniec Nr. 2<strong>18</strong><br />
(4. Juli) Quartier.<br />
24. Juni <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Wahlen und die Opposition" erscheint<br />
(7. Juli) in Nr. 14 der „Newskaja Swesda".<br />
Ende Juni <strong>Lenin</strong> schreibt den Artikel „Die Lage in der SDAPR und die<br />
nächsten Aufgaben der Partei". Der Artikel erscheint am<br />
3. (16.) Juli in Nr. 15/16 der „Gazeta Robotnicza" (Organ<br />
der Opposition der Sozialdemokratie Polens und Litauens,<br />
der „Rozlamowcy").
Daten aus dem Leben und "Wirken TV. 1. <strong>Lenin</strong>s 629<br />
I. (l4.)Juli <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Bedeutung der Wahlen in Petersburg"<br />
und „Ein Vergleich des Stolypinschen Agrarprogramms mit<br />
dem der Volkstümler" erscheinen in Nr. 15 der „Newskaja<br />
Swesda".<br />
6. (19.) Juli <strong>Lenin</strong> schreibt einen Brief an die <strong>Red</strong>aktion der „Prawda",<br />
in dem er Trotzki als niederträchtigen Lügner und Intriganten<br />
entlarvt.<br />
Vor dem <strong>Lenin</strong> schreibt an die <strong>Red</strong>aktion der „Prawda" die Notiz<br />
II. (24.) Juli „Antwort an die Liquidatoren", in der er fordert, bei den<br />
Wahlen zur IV. Duma einen entschiedeneren Kampf gegen<br />
die Liquidatoren zu führen.<br />
11. (24 JJuli <strong>Lenin</strong> schreibt einen Brief an die <strong>Red</strong>aktion der „Newskaja<br />
Swesda", in dem er die <strong>Red</strong>aktion wegen ihrer Angst vor<br />
einer Polemik mit den Liquidatoren scharf verurteilt.<br />
12. f 25 J Juli <strong>Lenin</strong>s Artikel „In der Schweiz" erscheint in Nr. 63 der<br />
„Prawda".<br />
12.-14. (25.-27.) <strong>Lenin</strong> schreibt den Artikel „Ergebnisse der Arbeit eines hal-<br />
Juli ben Jahres" und sendet ihn mit einem Hinweis über die<br />
Veröffentlichung des Artikels an die <strong>Red</strong>aktion der „Prawda".<br />
Der Artikel erscheint in den Nummern 78, 79, 80 und<br />
81 der „Prawda" vom 29. und 31. Juli (11. und 13. August)<br />
und 1. und 2. (14. und 15.) August.<br />
15. (28.) Juli <strong>Lenin</strong>s Artikel „Demokratie und Volkstümlerideologie in<br />
China" erscheint in Nr. 17 der „Newskaja Swesda".<br />
<strong>Lenin</strong>s Artikel „Der Parteitag der italienischen Sozialisten"<br />
und „Russische <strong>Red</strong>efreiheit'" erscheinen in Nr.66 der<br />
„Prawda".<br />
17. (30.) Juli <strong>Lenin</strong> verfaßt in Beantwortung eines Schreibens des Parteivorstands<br />
der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands<br />
über die Einberufung einer Beratung der im Ausland bestehenden<br />
Partei„zentren" und -„gruppen" zwecks Herstellung<br />
der Einheit und der Aufteilung der Gelder, die die<br />
Führung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands für<br />
die Wahlkampagne zur IV. Duma zur Verfügung gestellt<br />
hatte, den Te^t eines Briefes des ZK der SDAPR. Der Brief<br />
bildet den Hauptinhalt der Broschüre „Zur gegenwärtigen<br />
Sachlage in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands".
630 Daten aus dem Leben und Wirken TV. 1. <strong>Lenin</strong>s<br />
19.Juli <strong>Lenin</strong> schreibt einen Brief an die <strong>Red</strong>aktion der „Prawda", in<br />
(1. August) dem er um Mitteilung ersucht, ob die <strong>Red</strong>aktion beabsichtigt,<br />
im Zusammenhang mit den Wahlen zur IV. Duma eine<br />
gegen die Liquidatoren gerichtete Rubrik einzuführen.<br />
<strong>Lenin</strong> schreibt A. M. Gorki einen Brief, in dem er ihn über<br />
den revolutionären Aufschwung in Rußland und über das<br />
Erscheinen der Arbeitertageszeitung „Prawda" informiert.<br />
20. Juli <strong>Lenin</strong> schreibt einen Brief an die <strong>Red</strong>aktion der „Prawda", in<br />
(2. August) dem er darauf hinweist, daß es notwendig ist, vor den Wahlen<br />
zur IV. Duma gegen die kadettische Presse „den Kampf<br />
noch stärker zu entfachen".<br />
<strong>Lenin</strong>s Artikel „Kapitalismus und Volkskonsum" erscheint<br />
in Nr. 70 der „Prawda".<br />
22. und 29. Juli <strong>Lenin</strong>s Artikel „Wie P. B. Axelrod die Liquidatoren entlarvt"<br />
(4. und 11. erscheint in Nr. <strong>18</strong> und 19 der „Newskaja Swesda".<br />
August)<br />
25. Juli <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Liberalen und die Klerikalen" erscheint<br />
(7. August) in Nr. 74 der „Prawda".<br />
26. Juli <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Kadetten und die Demokratie" erscheint<br />
(8. August) in Nr. 75 der „Prawda".<br />
28. Juli <strong>Lenin</strong>s Artikel „Der Feldzug der Liberalen" erscheint in<br />
(10. August) Nr. 77 der „Prawda".<br />
30. Juli <strong>Lenin</strong>s Artikel „Aufstände in Armee und Flotte", „Am Vor-<br />
02. August) abend der Wahlen zur IV. Duma", „Kann heute die Losung<br />
der Koalitionsfreiheit' die Grundlage der Arbeiterbewegung<br />
bilden?" erscheinen in Nr. 9 der „Rabotschaja Gaseta".<br />
31. Juli <strong>Lenin</strong>s Artikel „Grundsatzfragen" erscheint in Nr. 79 der<br />
(13. August) „Prawda".<br />
Ende Juli bis <strong>Lenin</strong>s „Brief an die Schweizer Arbeiter" erscheint als hekto-<br />
Anfang August graphierte Flugschrift in deutscher Sprache in Zürich.<br />
5. (IS.) August <strong>Lenin</strong>s Artikel „Das letzte Ventil" erscheint in Nr. 20 der<br />
„Newskaja Swesda".
Daten aus dem Leben und "Wirken W. 1. <strong>Lenin</strong>s 631<br />
8. (21.) August <strong>Lenin</strong>s Artikel „Kleine Information" und „Die Löhne der<br />
Arbeiter und die Profite der Kapitalisten in Rußland" erscheinen<br />
in Nr. 85 der „Prawda".<br />
P. (22 .) August <strong>Lenin</strong>s Artikel „Streikkampf und Arbeitslohn" erscheint in<br />
Nr. 86 der „Prawda".<br />
11. und 12. <strong>Lenin</strong>s Artikel „Der Arbeitstag in den Fabriken des Gou-<br />
(24. und 25.) vernements Moskau", „In England" und „Die Konzentration<br />
August der Produktion in Rußland" erscheinen in Nr. 88 und 89<br />
der „Prawda".<br />
12. (25.) August <strong>Lenin</strong>s Artikel „Arbeitstag und Arbeitsjahr im Gouvernement<br />
Moskau" erscheint in Nr. 21 der „Newskaja Swesda".<br />
<strong>18</strong>. (31.) August <strong>Lenin</strong>s Artikel „Karriere" erscheint in Nr. 94 der „Prawda".<br />
<strong>Lenin</strong> schreibt einen Brief „An das Sekretariat des Internationalen<br />
Sozialistischen Büros", in dem er gegen das Schreiben<br />
des Hauptvorstands der Sozialdemokratie des Königreichs<br />
Polen und Litauens protestiert, das das Internationale Sozialistische<br />
Büro von der Spaltung unter den polnischen Sozialdemokraten<br />
unterrichtet.<br />
19. August <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Kadetten und die Agrarfrage" erscheint<br />
(l. September) in Nr. 22 der „Newskaja Swesda".<br />
21. August <strong>Lenin</strong>s Artikel „Eine schlechte Verteidigung" erscheint in<br />
(3. September) Nr. 96 der „Prawda".<br />
22. August <strong>Lenin</strong> bezieht in Krakau in der- Ulica Lubomirskiego Nr. 47<br />
(4. September) Quartier.<br />
24. August <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Liquidatoren und die ,Einheit'" erscheint<br />
(6. September) in Nr. 99 der „Prawda".<br />
26. August <strong>Lenin</strong>s Artikel „Lektion über die ,Kadettenfresserei'" er-<br />
(8. September) scheint in Nr. 23 der „Newskaja Swesda".<br />
29. August <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Arbeiter und die ,Prawda' " erscheint in<br />
(l 1. September) Nr. 103 der „Prawda".<br />
30. August <strong>Lenin</strong>s Artikel „Einst und jetzt" und „Der internationale<br />
(12. September) Richtertag" erscheinen in Nr. 104 der „Prawda".
632<br />
Daten aus dem Leben und Wirken TV. J. <strong>Lenin</strong>s<br />
31. August <strong>Lenin</strong>s Artikel „In der Schweiz" erscheint in Nr. 105 der<br />
(13. September) „Prawda".<br />
1. (14.) <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Geistlichkeit und die Politik" erscheint<br />
September in Nr. 106 der „Prawda".<br />
2. (15.) <strong>Lenin</strong> schreibt das Postskriptum zu der Broschüre „Zur<br />
September gegenwärtigen Sachlage in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei<br />
Rußlands".<br />
2. und 9. <strong>Lenin</strong>s Artikel „Noch ein Feldzug gegen die Demokratie"<br />
f 15. und 22.) erscheint in Nr. 24 und 25 der „Newskaja Swesda".<br />
September<br />
5. (<strong>18</strong>.) <strong>Lenin</strong>s Artikel ^Eintracht zwischen den Kadetten und den<br />
September Leuten vom ,Nowoje Wremja'" erscheint in Nr. 109 der<br />
„Prawda".<br />
15. (28.) <strong>Lenin</strong>s Artikel „Zu dem Brief von N. S. Poljanski" erscheint<br />
September in Nr. 1<strong>18</strong> der „Prawda".<br />
16.(29.) <strong>Lenin</strong>s Artikel „über die politische Linie" erscheint in Nr. 26<br />
September der „Newskaja Swesda".<br />
<strong>18</strong>. September <strong>Lenin</strong>s Artikel „Erfolge der amerikanischen Arbeiter" er-<br />
(l, Oktober) scheint in Nr. 120 der „Prawda".<br />
28. September <strong>Lenin</strong>s Artikel „Das Ende des Krieges zwischen Italien und<br />
(i 1. Oktober) der Türkei" erscheint in Nr. 129 der „Prawda".<br />
Zweite Sep- <strong>Lenin</strong>s Broschüre „Zur gegenwärtigen Sachlage in der Sotemberbälfte<br />
zialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands" erscheint in<br />
deutscher Sprache in Leipzig.<br />
Anfang <strong>Lenin</strong> schreibt einen Brief an A. M. Gorki, in dem er ihn<br />
Oktober über den Verlauf der Wahlen zur IV. Duma unterrichtet und<br />
ihn bittet, für die „Prawda" zu schreiben.<br />
4.(17.) <strong>Lenin</strong>s Artikel „Ein Hasardspiel" erscheint in Nr. 134 der<br />
Oktober „Prawda".<br />
<strong>Lenin</strong> schreibt einen Brief an A. M. Gorki, in dem er ihn<br />
bittet, ständiger Mitarbeiter der „Prawda" zu werden.
Daten aus dem Leben und Wirken IV. 1 <strong>Lenin</strong>s 633<br />
5.(<strong>18</strong>.) <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Geistlichkeit bei den Wahlen und die<br />
Oktober Wahlen mit der Geistlichkeit" erscheint in Nr. 17 der „Newskaja<br />
Swesda".<br />
6. (19.) <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die ,Position' des Herrn Milfukow" erscheint<br />
Oktober in Nr. 136 der „Prawda".<br />
12. (25.) <strong>Lenin</strong> schreibt einen Brief an N. G. Poletajew mit Hinweisen<br />
Oktober für die <strong>Red</strong>aktion der „Prawda": die Wahlplattform der<br />
Bolschewiki vor dem Kongreß der Bevollmächtigten der Arbeiterkurie<br />
Petersburgs entschiedener zu vertreten, die Listen<br />
der bolschewistischen Wahlmänner-Kandidaten vollständig<br />
zu veröffentlichen und den Wahlen zur Duma eine Sondernummer<br />
der „Prawda" zu widmen.<br />
16. (29.) <strong>Lenin</strong>s Artikel „Der Abgeordnete der Petersburger Arbei-<br />
Oktober ter" und „Die Balkanvölker und die europäische Diplomatie"<br />
erscheinen in Nr. 144 der „Prawda".<br />
<strong>18</strong>. (31.) <strong>Lenin</strong>s Artikel „Der Fuchs und der Hühnerstall" und „Eine<br />
Oktober schändliche Resolution" erscheinen in Nr. 146 der „Prawda".<br />
19. Oktober <strong>Lenin</strong>s Artikel „Der Kadettenprofessor" erscheint in Nr. 147<br />
(l. November) der „Prawda".<br />
21. Oktober <strong>Lenin</strong>s Artikel „Ein neues Kapitel der Weltgeschichte" er-<br />
(3. November) scheint in Nr. 149 der „Prawda".<br />
24. Oktober <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Kadetten und die Nationalisten" er-<br />
(6. November) scheint in Nr. 151 der „Prawda".<br />
28. Oktober <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Schrecken des Krieges" erscheint in<br />
(iO.November) Nr. 155 der „Prawda".<br />
Oktober <strong>Lenin</strong> schreibt den Artikel „Englische Meinungsverschiedenheiten<br />
über liberale Arbeiterpolitik"; der Artikel erscheint<br />
1913 in Nr. 4 der Zeitschrift „Prosweschtschenije".<br />
<strong>Lenin</strong> schreibt den Artikel „Zwei'Utopien".<br />
Anfang <strong>Lenin</strong> schreibt als Anleitung für die Ausarbeitung der De-<br />
November klaration der sozialdemokratischen Fraktion die Thesen<br />
„Ober einige <strong>Red</strong>en der Arbeiterdeputierten".<br />
i. (14.) <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Kadetten und die Großbourgeoisie" er-<br />
November scheint in Nr. 157 der „Prawda".<br />
41 <strong>Lenin</strong>, JFerke, Bd. <strong>18</strong>
634<br />
Daten aus dem Leben und Wirken W. J. <strong>Lenin</strong>s<br />
4.(il.) <strong>Lenin</strong>s Artikel „Echt russische Sitten" erscheint in Nr. 160<br />
November der „Prawda".<br />
5. (lSj <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Plattform der Reformisten und die Platt-<br />
November form der revolutionären Sozialdemokraten" und „Illegale<br />
Partei und legale Arbeit" erscheinen in Nr. 28/29 des<br />
„Sozial-Demokrat".<br />
7. (20J <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die soziale Bedeutung der serbisch-bulgari-<br />
November sehen Siege" erscheint in Nr. 162 der „Prawda".<br />
8. (21J <strong>Lenin</strong>s Artikel „Das erneuerte China" erscheint in Nr. 163<br />
November der „Prawda".<br />
9. (22J <strong>Lenin</strong>s Artikel „Ergebnis und Bedeutung der Präsident-<br />
November schaftswahlen in Amerika" erscheint in Nr. 164 der „Prawda".<br />
12. oder i3. <strong>Lenin</strong> führt eine Sitzung des ZK durch, auf der die finanzielle<br />
(25. oder 26.) Krise in der <strong>Red</strong>aktion der „Prawda" beraten wird.<br />
November<br />
13.(26.) <strong>Lenin</strong> sendet den bolschewistischen Abgeordneten der IV.<br />
November Duma den von ihm verfaßten Entwurf einer Deklaration<br />
der sozialdemokratischen Fraktion.<br />
Zweite Novem- <strong>Lenin</strong> schreibt den Artikel „Zu dem Ereignis vom 15. Noberhälfte<br />
vember (Eine nichtgehaltehe <strong>Red</strong>e)".<br />
23. November <strong>Lenin</strong> schreibt einen Brief über die Vorbereitung eines ein-<br />
(6. Dezember} tägigen Streiks und von Kundgebungen und Demonstrationen<br />
zum Jahrestag des 9. Januar sowie über die Aufgaben<br />
der bolschewistischen Abgeordneten der IV. Duma im Kampf<br />
gegen die Liquidatoren.<br />
28. November <strong>Lenin</strong> sendet über die <strong>Red</strong>aktion der Zeitschrift „Proswe-<br />
(il. Dezember) schtschenije" in Petersburg den bolschewistischen Abgeordneten<br />
einen Fragebogen zur Zusammenfassung der Wahlergebnisse<br />
in der Arbeiterkurie.<br />
<strong>Lenin</strong> schreibt einen Brief mit Resolntionsentwürfen für die<br />
bolschewistischen Abgeordneten der IV. Duma zur Frage der<br />
Aufnahme des Abgeordneten Jagiello in die sozialdemokratische<br />
Fraktion und über die Stellung zum Streik am Tage der<br />
Eröffnung der Duma.
"Daten aus dem Leben und Wirken IV. 1. <strong>Lenin</strong>s 635<br />
29. November <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Krankheit des Reformismus" erscheint<br />
(12. Dezember) in Nr. <strong>18</strong>0 der „Prawda".<br />
30. November <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Verelendung in der kapitalistischen<br />
(13. Dezember) Gesellschaft" erscheint in Nr. <strong>18</strong>1 der „Prawda".<br />
November <strong>Lenin</strong> schreibt den Artikel „ ,Brennende Fragen' unserer Partei.<br />
Die Frage der Liquidatoren' and die nationale' Frage".<br />
Der Artikel wird zum erstenmal im August 1913 in Nr. 1<br />
des vom Warschauer und Lodzer Komitee der sozialdemokratischen<br />
Partei Polens und Litauens herausgegebenen „Pismo<br />
Dyskusyjne" veröffentlicht.<br />
12. (25.) <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Arbeiterklasse und ihre ,parlamentari-<br />
Dezember sehe' Vertretung" erscheint in Nr. 191 der „Prawda".<br />
15. (28.) <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die ,Versöhnung' der Nationalisten mit den<br />
Dezember Kadetten" erscheint in Nr. 194 der „Prawda".<br />
22. Dezember <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Nationalliberalen" erscheint in Nr. 200<br />
(4. Januar 1913) der „Prawda".<br />
Dezember <strong>Lenin</strong> schreibt für die „Februar"berätung des ZK der<br />
SDAPR mit Parteifunktionären die Thesen „Ober die Stellung<br />
zum Liquidatorentum und über die Einheit".<br />
26. Dezember <strong>Lenin</strong> leitet die „Februar"beratung des ZK der SDAPR mit<br />
bis l. Januar Parteifunktionären. Die Beratung nimmt die von <strong>Lenin</strong> ver-<br />
(8.-14. Januar faßten Resolutionen an: Der revolutionäre Aufschwung, die<br />
1913) Streiks und die Aufgaben der Partei; der Aufbau der illegalen<br />
Organisation,- die sozialdemokratische Dumafraktion;<br />
über die illegale Literatur; über die Versicherungskampagne;<br />
über das Verhältnis zum Liquidatorentum und über die<br />
Einheit; über die „nationalen" sozialdemokratischen Organisationen.<br />
Auf der Beratung umreißt <strong>Lenin</strong> eine Reihe von Maßnahmen<br />
zur Verbesserung der Arbeit der „Prawda".<br />
<strong>Lenin</strong> leitet eine Sitzung des ZK unter Teilnahme der bolschewistischen<br />
Abgeordneten, auf der Fragen der Tätigkeit<br />
der bolschewistischen Fraktion der IV. Duma erörtert werden.
636 Baten aus dem Leben und Wirken IV. 1 Cenins<br />
1913<br />
Anfang Januar <strong>Lenin</strong> redigiert die Resolutionen und schreibt die „Mitteilung"<br />
über die „Februar"beratung des ZK der SDAPR mit<br />
Parteifunktionären.<br />
1.(14.) Januar <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die englische Arbeiterbewegung im Jahre<br />
1912" erscheint in Nr. 1 der „Prawda".<br />
6. (19.) Januar <strong>Lenin</strong> schreibt den Artikel „Besser spät als nie"; der Artikel<br />
erscheint am 11. (24.) Januar in Nr. 8 der „Prawda".<br />
12. (25.) Januar <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Entwicklung des revolutionären Streiks<br />
und der Straßendemonstrationen" und „Die Spaltung in der<br />
Polnischen Sozialdemokratie" erscheinen in Nr. 30 des „Sozial-Demokrat".<br />
<strong>Lenin</strong> schreibt einen Brief an die bolschewistischen Abgeordneten<br />
der IV. Reichsduma, in dem er eine Reorganisation der<br />
<strong>Red</strong>aktion der „Prawda" verlangt.<br />
<strong>Lenin</strong> schickt den Artikel „Ober den Bolschewismus" für<br />
<strong>Band</strong> II des Sammelwerkes von N. A. Rubakin „Unter Büchern"<br />
ab.<br />
TJadb dem <strong>Lenin</strong> organisiert die Heransgabe der „Mitteilung" und der<br />
12.(25.) Resolutionen der „Februar"beratung des ZK der SDAPR<br />
Januar mit Parteifunktionären.<br />
<strong>Lenin</strong> schreibt an A. M. Gorki einen Brief über den Plan, in<br />
Moskau eine legale bolschewistische Zeitung herauszugeben<br />
und die Zeitschrift „Prosweschtschenije" zu erweitern; er<br />
schickt ihm die Resolutionen der „Februar"beratung.<br />
15. (28.) Januar <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Bedeutung der Wahl PoincareV' erscheint<br />
in Nr. 11 der „Prawda".<br />
i7. (30.) Januar <strong>Lenin</strong>s Artikel „Offen gesagt" erscheint in Nr. 13 der<br />
„Prawda".<br />
i8.(3i.) Januar <strong>Lenin</strong>s Artikel „Das Kabinett Briand" erscheint in Nr. 14<br />
der „Prawda".<br />
19. Januar <strong>Lenin</strong>s Artikel „Das Leben lehrt" und „fiine neue Demokra-<br />
(l. Jebruar) tie" erscheinen in Nr. 15 der „Prawda".
Baten aus dem Leben und Wirken W. 7. <strong>Lenin</strong>s 637<br />
20. und 22. <strong>Lenin</strong>s Artikel „ober die Volkstümlerideologie" erscheint in<br />
Januar (2. und Nr. 16 nnd 17 der „Prawda".<br />
4. Jebruar)<br />
22. Januar <strong>Lenin</strong> verfaßt das gegen die Liquidatoren gerichtete Schreien.<br />
7ebruar) ben „An die Sozialdemokraten"; es wird im Januar 1913 in<br />
Krakau als hektographierte Fingschrift herausgegeben.<br />
25. Januar <strong>Lenin</strong>s Artikel „In der Welt der Asef" erscheint in Nr. 20<br />
(7.7ebruar) der „Prawda".<br />
27. Januar <strong>Lenin</strong> unterstreicht in einem Brief an J. M. Swerdlow die Be-<br />
(9. Tebruar) deutung der „Prawda", kritisiert die Mängel in der Arbeit<br />
der <strong>Red</strong>aktion und fordert die sofortige Reorganisation der<br />
<strong>Red</strong>aktion der Zeitung.<br />
29. Januar <strong>Lenin</strong>s Artikel „Bourgeoisie und Reformertum" erscheint in<br />
(i i.Jebruar) Nr. 23 der „Prawda".<br />
30. Januar <strong>Lenin</strong>s Artikel „Ober die legale Partei" wird in Nr. 24 der<br />
(i2.7ebruar) „Prawda" veröffentlicht.<br />
Januar <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Ergebnisse der Wahlen" erscheint in<br />
Nr. 1 der Zeitschrift „Prosweschtschenije".<br />
Ende Januar <strong>Lenin</strong> schreibt den Artikel „Russen und Neger".<br />
Ende Januar/ <strong>Lenin</strong> schreibt den Artikel „Der Zusammenbruch der konsti-<br />
AnfanQfebruar rationellen Illusionen".<br />
1. (i4.) Tebruar . <strong>Lenin</strong> schreibt einen Brief an die <strong>Red</strong>aktion der „Prawda",<br />
in dem er sie scharf kritisiert, weil sie in Nr. 24 einen Brief<br />
A. Bogdanows veröffentlicht hatte.<br />
<strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Mobilisierung der bäuerlichen Ländereien"-erscheint<br />
in Nr. 26 der „Prawda".<br />
2. (i5.) Jebruar <strong>Lenin</strong>s Artikel „Einiges über Streiks" erscheint in Nr. 27 der<br />
„Prawda".<br />
5.(i8.)7ebruar <strong>Lenin</strong>s Artikel „Über eine Entdeckung" erscheint in Nr. 29<br />
der „Prawda".<br />
6. (i9.) Jebruar <strong>Lenin</strong>s Artikel „Der Parteitag der englischen Arbeiterpartei"<br />
erscheint in Nr. 30 der „Prawda".
638<br />
Daten aus dem Leben und Wirken IV. 1. <strong>Lenin</strong>s<br />
6.-9. f 19.-22.) <strong>Lenin</strong> schreibt den Artikel „Wachsendes Mißverhältnis.<br />
7ebruar Notizen eines Publizisten", in dem er die Beschlüsse einer<br />
Beratung der Kadetten kritisiert; der Artikel erscheint in<br />
Nr. 3 und 4 der Zeitschrift „Prosweschtschenije".<br />
8.(2i.)7ebruar <strong>Lenin</strong> schreibt einen Brief an die <strong>Red</strong>aktion der „Prawda",<br />
in dem er sie zur Verbesserung der Zeitung beglückwünscht<br />
und vorschlägt, eine Sondernummer zum 30. Todestag von<br />
Karl Marx herauszugeben.<br />
I2.(25.)7ebruar <strong>Lenin</strong>s Artikel „Wir danken für die Offenheit" wird in<br />
Nr. 35 der „Prawda" veröffentlicht.<br />
16. Jebruar <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Frage der Einheit" erscheint in Nr. 39<br />
(i. JAärz) der „Prawda".<br />
23. Jebruar <strong>Lenin</strong>s Artikel „Einige Ergebnisse der Flurbereinigung'" er-<br />
(&. März) scheint in Nr. 45 der „Prawda".<br />
Tebruar <strong>Lenin</strong>s Artikel „Was tut sich in der Volkstümlerrichtung,<br />
und was tut sich auf dem Lande?" erscheint in Nr. 2 der<br />
Zeitschrift „Prosweschtschenije".<br />
i.(l4.)März <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die historischen Schicksale der Lehre von<br />
Karl Marx" erscheint in Nr. 50 der „Prawda".<br />
2.(15.) März <strong>Lenin</strong>s Artikel „Der Großgrundbesitz und der kleinbäuerliche<br />
Landbesitz in Rußland" erscheint in Nr. 51 der „Prawda".<br />
7. (20.) März <strong>Lenin</strong>s Artikel „Falsche Töne" erscheint in Nr. 55 der<br />
„Prawda".<br />
8. (21.) März <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die ,zentrale Aufgabe'" erscheint in Nr. 56<br />
der „Prawda".<br />
5. C22J März <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die liberale Beschönigung der Leibeigenschaft"<br />
erscheint in Nr. 57 der „Prawda".<br />
10.-13. (23.-26.) <strong>Lenin</strong> leitet eine Beratung der Mitglieder des ZK der SDAPR<br />
März in Krakau.<br />
13. (26.) März <strong>Lenin</strong>s Artikel „Ein .wissenschaftliches' System zur Schweißauspressung"<br />
erscheint in Nr. 60 der „Prawda".
Baten aus dem Leben und Wirken W. J. <strong>Lenin</strong>s 639<br />
14. (27.)!März <strong>Lenin</strong>s Artikel „Unsere ,Erfolge'" erscheint in Nr. 61 der<br />
„Prawda".<br />
15. (28.) TAärz <strong>Lenin</strong>s Artikel „Verständigung oder Spaltung? (Zu den Meinungsverschiedenheiten<br />
in der sozialdemokratischen Dumafraktion)"<br />
und „Der ,frei verfügbare Bestand'" erscheinen<br />
in Nr. 62 der „Prawda".
640<br />
INHALTSVERZEICHNIS<br />
Vorwort VII-VIII<br />
Die Wahlkampagne zur IV. Duma und die Aufgaben der revolutionären<br />
Sozialdemokratie 1-5<br />
Die Liquidatoren gegen die Partei 6-8<br />
Dem Gedächtnis Herzens 9-16<br />
Der Grundbesitz im Europäischen Rußland 17-20<br />
Die Trudowiki und die Arbeiterdemokratie 21-28<br />
I .. .. 21<br />
II 23<br />
III 26<br />
Die politischen Parteien in Rußland 29-41<br />
Eine Enquete über die Organisationen des Großkapitals 42-59<br />
I , 42<br />
II 45<br />
III 47<br />
IV 52<br />
V 55<br />
VI 58<br />
Das Wesen der „Agrarfrage in Rußland" 60-64<br />
Einige Ergebnisse der Mobilisierung für die Wahlen 65-70
Inbahsverzeidhnis 641<br />
Wirtschaftlicher und politischer Streik 71-78<br />
Die Frage der Umsiedlung 79-90<br />
Der revolutionäre Aufschwung .. 91-99<br />
Die Losungen der Gesamtrussischen Konferenz der SDAPR im<br />
Januar 1912 und die Maibewegung 100-105<br />
Die Liquidatoren gegen den revolutionären Massenstreik 106-107<br />
„Vereiniger" .. 108-111<br />
über den Charakter und die Bedeutung unserer Polemik mit den<br />
Liberalen 112-1<strong>18</strong><br />
Kapitalismus und „Parlament" 119-121<br />
Die Wahlen und die Opposition 122-125<br />
Die Bedeutung der Wahlen in Petersburg 126-132<br />
Ein Vergleich des Stolypinschen Agrarprogramms mit dem der<br />
Volkstümler 133-139<br />
Die Lage in der SDAPR und die nächsten Aufgaben der Partei .. 140-147<br />
I 140<br />
II 143<br />
III 146<br />
Antwort an die Liquidatoren 148<br />
In der Schweiz 149-151<br />
Demokratie und Volkstumlerideologie in China 152-158<br />
Der Parteitag der italienischen Sozialisten 159-161<br />
Russische „<strong>Red</strong>efreiheit" 162<br />
Wie P. B. Axelrod die Liquidatoren entlarvt 163-174<br />
I 163<br />
II 168<br />
Ergebnisse der Arbeit eines halben Jahres 177-190<br />
I .. 177<br />
II <strong>18</strong>1
642 Jnbaltsv&rzeidmis<br />
III .. .. <strong>18</strong>4<br />
IV <strong>18</strong>8<br />
Zur gegenwärtigen Sachlage in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei<br />
Rußlands 191-209<br />
An den Parteivorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands<br />
192<br />
Die Lage in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands<br />
seit Januar 1912 193<br />
In welchen Beziehungen stehen zu dem sogenannten Organisationskomitee<br />
die bisher neutralen russischen Sozialdemokraten?<br />
193<br />
Die sozialdemokratische Fraktion der dritten Duma 196<br />
öffentlich kontrollierbare Tatsachen über den Einfluß der Liquidatoren<br />
im Vergleich mit demjenigen der Partei .. ..... 198<br />
Offene, der Prüfung zugängliche Daten über die Beziehungen<br />
der Liquidatoren und der Partei in Rußland mit den Arbeitermassen<br />
200<br />
Schlußfolgerungen 203<br />
Postskriptum 207<br />
Ursprüngliches Postskriptum zu der Schrift „Zur gegenwärtigen<br />
Sachlage in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands" .. 210-212<br />
Kapitalismus und Volkskonsum 213—215<br />
Die Liberalen und die Klerikalen 216-217<br />
Die Kadetten und die Demokratie 2<strong>18</strong>-219<br />
Der Feldzug der Liberalen 220-221<br />
Aufstände in Armee und Flotte 222-225<br />
Am Vorabend der Wahlen zur IV. Duma 226-230<br />
Kann heute die Losung der „Koalitionsfreiheit" die Grundlage der<br />
Arbeiterbewegung bilden? 231-233<br />
Brief an die Schweizer Arbeiter 234<br />
Grundsatzfragen 235-236
Inhaltsverzeichnis ' 643<br />
Das letzte Ventil 237-242<br />
Kleine Information 243-244<br />
Die Löhne der Arbeiter und die Profite der Kapitalisten in Rußland 245-246<br />
Streikkampf und Arbeitslohn 247-248<br />
Der Arbeitstag in den Fabriken des Gouvernements Moskau .. .. 249-250<br />
Arbeitstag und Arbeitsjahr im Gouvernement Moskau 251-259<br />
In England 260-261<br />
Die Konzentration der Produktion in Rußland 262-263<br />
Karriere .. 264-265<br />
An das Sekretariat des Internationalen Sozialistischen Büros .. .. 266-267<br />
Die Kadetten und die Agrarfrage 268-277<br />
Eine schlechte Verteidigung 278-279<br />
Die Liquidatoren und die „Einheit" 280-281<br />
Lektion über die „Kadettenfresserei" 282-289<br />
Die Arbeiter und die „Prawda" 290-292<br />
Einst und jetzt 293-294<br />
Der internationale Richtertag 295-297<br />
In der Schweiz 298-300<br />
Die Geistlichkeit und die Politik 301-302<br />
Noch ein Feldzug gegen die Demokratie 303-314<br />
I .. 303<br />
II 306<br />
III 308<br />
IV 311<br />
V 312<br />
Eintracht zwischen den Kadetten und den Leuten vom „Nowoje<br />
Wremja" .. .... .. 315-317<br />
Zu dem Brief von N. S. Poljanski 3<strong>18</strong>-319<br />
über die politische Linie 320-326
644 Jnbdltsverzeidbnis<br />
Erfolge der amerikanischen Arbeiter 327-328<br />
Das Ende des Krieges zwischen Italien und der Türkei 329-330<br />
Ein Hasardspiel 331-332<br />
Die Geistlichkeit bei den Wahlen und die Wahlen mit der Geistlichkeit<br />
333-336<br />
Die „Position" des Herrn Miljnkow 337-338<br />
Der Abgeordnete der Petersburger Arbeiter 339-340<br />
Die Balkanvölker und die europäische Diplomatie 341-342<br />
Der Fuchs und der Hühnerstall 343-344<br />
Eine schändliche Resolution 345-346<br />
Zwei Utopien.. '. 347-351<br />
Englische Meinungsverschiedenheiten über liberale ArbeiterpoKtik.. 352-358<br />
Der Kadettenprofessor 359-360<br />
Ein neues Kapitel der Weltgeschichte 361-362<br />
Die Kadetten und die Nationalisten 363-364<br />
Die Schrecken des Krieges 365<br />
Die Kadetten und die Großbourgeoisie 366-367<br />
Echt russische Sitten 368-369<br />
Die Plattform der Reformisten und die Plattform der revolutionären<br />
Sozialdemokraten 370-379<br />
Illegale Partei und legale Arbeit 380-389<br />
I 381<br />
II 384<br />
III 386<br />
IV 387<br />
Die soziale Bedeutung der serbisch-bulgarischen Siege .... • • 390-392<br />
Das erneuerte China 393-394<br />
Ergebnis und Bedeutung der Präsidentschaftswahlen in Amerika .. 395-397
Jnhaltsverzeidbnis 645<br />
„Brennende Fragen" unserer Partei. Die Frage der „Liquidatoren"<br />
und die „nationale" Frage 398-405<br />
I 398<br />
II 400<br />
III 402<br />
IV 404<br />
über einige <strong>Red</strong>en der Arbeiterdeputierten 406-412<br />
Zur Frage der Arbeiterdeputierten in der Duma und ihrer Deklaration<br />
413-416<br />
Zu dem Ereignis vom 15. November (Eine nichtgehaltene <strong>Red</strong>e) .. 417-419<br />
An J.W. Stalin. 11. Dezember 1912 .. 420-422<br />
An J. W. Stalin. 6. Dezember 1912 .. ..' .. .. - 423-424<br />
Die Krankheit des Reformismus 425-427<br />
Die Verelendung in der kapitalistischen Gesellschaft 428-429<br />
Die Arbeiterklasse und ihre „parlamentarische" Vertretung .. .. 430-431<br />
Die „Versöhnung" der Nationalisten mit den Kadetten 432-433<br />
Die Nationalliberalen 434-436<br />
über die Stellung zum Liquidatorentum und über die Einheit.<br />
Thesen 437-438<br />
Mitteilung und Resolutionen einer Beratung des Zentralkomitees der<br />
SDAPR mit Parteifunktionären .. .. 439-459<br />
Mitteilung 441-447<br />
Resolutionen .. ., 448-459<br />
Der revolutionäre Aufschwung, die Streiks und die Aufgaben<br />
der Partei 448<br />
Der Aufbau der illegalen Organisation 450<br />
Die sozialdemokratische Dumafraktion 452<br />
Ober die illegale Literatur 453<br />
Ober die Versicherungskampagne 454<br />
Ober das Verhältnis zum Liquidatorentum und über die Einheit 455<br />
über die „nationalen" sozialdemokratischen Organisationen .. 457
646 Inhaltsverzeichnis<br />
Die englische Arbeiterbewegung im Jahre 1912 460-461<br />
Besser spät als nie 462-463<br />
Die Entwicklung des revolutionären Streiks und der Straßendemonstrationen<br />
464-470<br />
Ursprüngliches Postskriptum zu dem Artikel „Die Entwicklung des<br />
revolutionären Streiks und der Straßendemonstrationen" .. .. 471<br />
Die Spaltung in der Polnischen Sozialdemokratie 472-476<br />
Ober den Bolschewismus 477-478<br />
Die Bedeutung der Wahl PoincanSs 479-480<br />
Offen gesagt 481^82<br />
Das Kabinett Briand 483-484<br />
Die Ergebnisse der Wahlen.. .. 485-511<br />
I. Die Wahl>acherei" 485<br />
II. Die neue Duma 487<br />
III. Die Veränderungen innerhalb des Systems des 3. Juni .. 490<br />
IV. Worum ging der Kampf bei den Wahlen? .. .. .. .. 494<br />
V. Die Überprüfung der Wahllosungen durch das Leben.. .. 497<br />
VI. Das „Ende" der Illusionen über die Kadettenpartei .. .. 502<br />
VII. über die „riesige Gefahr für den Grundbesitz des Adels".. 505<br />
VIII. Die Tarnung der Niederlage 506<br />
Das Leben lehrt 512-514<br />
Eine neue Demokratie 515-516<br />
über die Volkstümlerideologie .. • 517-521<br />
I 517<br />
II 5<strong>18</strong><br />
An die Sozialdemokraten 522-525<br />
Die Arbeitermassen und die Illegalität 522<br />
In der Welt der Asef *.. .. 526-527<br />
Bourgeoisie und Reformertum 528-529
Jnbahsverzeidmis 647<br />
über die legale Partei 530-532<br />
Die Mobilisierung der bäuerlichen Ländereien 533-534<br />
Einiges über Streiks 535-536<br />
Russen und Neger 537-538<br />
über eine Entdeckung 539-540<br />
Der Parteitag der englischen Arbeiterpartei 541-542<br />
Der Zusammenbruch der konstitutionellen Illusionen 543<br />
Wir danken für die Offenheit 544-545<br />
Die Frage der Einheit 546-547<br />
Was tut sich in der Volkstümlerrichtung, und was tut sich auf dem<br />
Lande? 548-554<br />
Wachsendes Mißverhältnis. Notizen eines Publizisten 555-573<br />
I 555<br />
II .. .. 556<br />
III 557<br />
IV 559<br />
V 560<br />
VI 562<br />
VII 563<br />
VIII 564<br />
IX 566<br />
X .. .. 568<br />
Einige Ergebnisse der „Flurbereinigung" 574-575<br />
Die historischen Schicksale der Lehre von Karl Marx 576-579<br />
I 576<br />
II .. 577<br />
III 578<br />
Der Großgrundbesitz und der kleinbäuerliche Landbesitz in Rußland<br />
580-581
648 Inhaltsverzeidbnis<br />
Falsche Töne 582-583<br />
Die „zentrale Aufgabe" 584-585<br />
Die liberale Beschönigung der Leibeigenschaft .. .. 586-587<br />
Ein „wissenschaftliches" System zur Schweißauspressung 588-589<br />
Unsere „Erfolge" 590-591<br />
Verständigung oder Spaltung? (Zu den Meinungsverschiedenheiten<br />
in der sozialdemokratischen Dumafraktion) 592-594<br />
Der „frei verfügbare Bestand" 595-596<br />
Anmerkungen 597-623<br />
Daten aus dem Leben und Wirken IV. 7. <strong>Lenin</strong>s 625-639<br />
ILLUSTRATIONEN<br />
Erste Seite der „Newskaja Swesda" Nr. 15 vom 1. Juli 1912, in der<br />
W. I. <strong>Lenin</strong>s Artikel „Die Bedeutung der Wahlen in Petersburg"<br />
und „Ein Vergleich des Stolypinschen Agrarprogramms mit dem<br />
der Volkstümler" erschienen 127<br />
Erste Seite der „Prawda" Nr. 80 vom 1. August 1912 mit einer<br />
Fortsetzung von W. I. <strong>Lenin</strong>s Artikel „Ergebnisse der Arbeit eines<br />
halben Jahres" 175<br />
Erste Seite von W. I. <strong>Lenin</strong>s Manuskript „über einige <strong>Red</strong>en der<br />
Arbeiterdeputierten" - November 1912 407<br />
Erste Seite von W. I. <strong>Lenin</strong>s Manuskript der „Mitteilung" über eine<br />
Beratung des ZK der SDAPR mit Parteifunktionären - Januar<br />
1913 443