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MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

Editorial..............................................................................................................4<br />

Prof. Dr. Martin Morlok/ Prof. Dr. Ulrich von Alemann<br />

Aufsätze<br />

Radikaldemokratisches Denken im Vormärz: zur Aktualität der<br />

Parteientheorie Julius Fröbels.............................................................................5<br />

Philipp Erbentraut, M.A.<br />

Politische Korruption im staatlichen Bereich der Mitgliedstaaten der<br />

Europäischen Union .........................................................................................16<br />

Prof. Dr. Ulrich von Alemann, Alexandra Bäcker, Christian K. Schmidt, M.A.<br />

Formalisierbare Gleichheit...............................................................................41<br />

Marcus Hahn, LL.M.<br />

Die NPD in ihrem ersten parlamentarischen Jahr im Landtag von<br />

Mecklenburg-Vorpommern...............................................................................50<br />

Laura Niemann, M.A.<br />

1


Inhaltsverzeichnis<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Von der visuellen zur virtuellen Partei..............................................................60<br />

Antje Sadowski<br />

Die Auswirkungen des Landtagswahlsystems von Baden-Württemberg auf<br />

die Wahlkampfaktivität ausgewählter Parteien................................................67<br />

Jens Walther, M.A.<br />

Einigkeit macht schwach – das Europäische Parlament opfert seine Rechte<br />

zugunsten des Klimaschutzes............................................................................80<br />

Philipp Krieg<br />

„Aufgespießt“<br />

Fünf (Partei-)Freunde sollt ihr sein!..................................................................85<br />

Sebastian Roßner, M.A.<br />

Grundsätzliches zu Abberufung und Entlastung des Parteivorstands..............88<br />

Alexandra Bäcker<br />

Rechtsprechung und Literatur<br />

Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung...................................................90<br />

1. Grundlagen zum Parteienrecht.............................................................................................90<br />

2. Chancengleichheit................................................................................................................92<br />

3. Parteienfinanzierung..........................................................................................................102<br />

2


MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

4. Parteien und Parlamentsrecht............................................................................................104<br />

5. Wahlrecht...........................................................................................................................113<br />

Rezensionen.....................................................................................................116<br />

Rechtsprechungsübersicht..............................................................................137<br />

Neuerscheinungen zu Parteienrecht und Parteienforschung...........................141<br />

<strong>PRuF</strong> intern<br />

Vortragstätigkeiten der Institutsmitarbeiter...................................................145<br />

Veröffentlichungen der Institutsmitarbeiter...................................................147<br />

3


Editorial<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Editorial<br />

Prof. Dr. Martin Morlok/<br />

Prof. Dr. Ulrich von Alemann<br />

Das wissenschaftliche Jahr 2008 war für das Institut<br />

für Deutsches und Europäisches Parteienrecht<br />

und Parteienforschung (<strong>PRuF</strong>) ein Jahr<br />

voller Herausforderungen, Neuigkeiten und Erfolge.<br />

Zu den Höhepunkten zählte dabei einmal<br />

mehr das parteienwissenschaftliche Symposion,<br />

das Mitte April unter dem Titel „(Partei-)Politik<br />

im Zeichen des Marketing“ an der Heinrich-Heine-Universität<br />

Düsseldorf veranstaltet wurde. In<br />

Zusammenarbeit mit dem Forum für staatswissenschaftliche<br />

Forschung e. V. und mit Unterstützung<br />

der Staatskanzlei Nordrhein-Westfalen<br />

konnte Ende Oktober eine weitere Tagung zum<br />

Thema „Politische Parteien in Deutschland und<br />

Frankreich“ auf die Beine gestellt werden. Die<br />

Referate und anschließenden Diskussionen beleuchteten<br />

verschiedene Aspekte der gegenwärtigen<br />

und historischen Funktion und Bedeutung<br />

politischer Parteien. Die Tagung fand statt im<br />

Rahmen der von der Landesregierung NRW gestarteten<br />

Initiative „Frankreich-Nordrhein-Westfalen-Jahr<br />

2008/2009“. Wir möchten die Gelegenheit<br />

nutzen, um uns noch einmal besonders<br />

bei unseren ausländischen Gastrednern zu bedanken.<br />

Die europäische Dimension bleibt für<br />

das <strong>PRuF</strong> stets Aufgabe und Ansporn zugleich.<br />

Im Bereich der Forschung sind uns in diesem<br />

Jahr mit der Einwerbung von Drittmittelprojekten<br />

glücklicherweise gleich zwei große Erfolge<br />

gelungen. Zum einen finanziert die Deutsche<br />

Forschungsgemeinschaft die „Deutsche Parteimitgliederstudie<br />

2009“ (PaMiS), die unser Institut<br />

gemeinsam mit dem Arbeitsbereich für politische<br />

Soziologie der Leibniz-Universität Hannover<br />

(Prof. Dr. Markus Klein) durchführt. Die<br />

Studie untersucht die sozialstrukturelle, psychographische<br />

und aktivitätsbezogene Zusammensetzung<br />

der Mitgliedschaft der deutschen Parteien<br />

sowie die Motive des Parteibeitritts, der innerparteilichen<br />

Aktivität und des Parteiaustritts.<br />

Zum anderen hat Dr. Torben Lütjen sein von der<br />

Volkswagenstiftung durch ein Schumpeter-Fellowship<br />

getragenes Forschungsprojekt „Das<br />

Ende vom Ende der Ideologien?“ am <strong>PRuF</strong> angesiedelt.<br />

Darin wird der Politikwissenschaftler,<br />

der zuvor in Göttingen, Berkeley und Freiburg<br />

studiert und gearbeitet hat, die ideologische Polarisierung<br />

in den USA im Kontext westeuropäischer<br />

Entideologisierungsprozesse analysieren.<br />

Eine Fragestellung, die gerade angesichts des<br />

grassierenden Obama-Fiebers hochaktuell ist.<br />

Mit diesen exzellenten Untersuchungen unterstreicht<br />

das Institut für Parteienrecht und Parteienforschung<br />

seine Ambitionen, keine rein theoretische<br />

Forschung im Elfenbeinturm zu betreiben,<br />

sondern stets den Finger am Puls der politischen<br />

und gesellschaftlichen Praxis zu haben.<br />

Neue Anregungen erfährt das <strong>PRuF</strong> dabei zukünftig<br />

auch durch sein neu zusammengesetztes<br />

Mitarbeiterteam. So wird der politikwissenschaftliche<br />

Flügel der Parteienforschung seit<br />

kurzem durch die Kollegen Annika Laux, Philipp<br />

Erbentraut und Jens Walther verstärkt. Die<br />

Parteienrechtler erhalten Zuwachs durch Christina<br />

Hientzsch, die vom Lehrstuhl Prof. Dr. Morloks<br />

herüber kommt. Tim Spier als verdienter<br />

Mitarbeiter ist dagegen an den Lehrstuhl von<br />

Prof. Dr. von Alemann gewechselt. Er bleibt<br />

dem <strong>PRuF</strong> jedoch als Research Fellow erhalten.<br />

Ähnliches gilt für Antje Sadowski, die unserem<br />

Haus trotz ihres in Kürze beginnenden Referendariats<br />

treu bleibt. Verabschieden mussten wir<br />

uns leider von Urs Lesse, dem noch einmal für<br />

seine wertvolle Unterstützung bei der Formulierung<br />

von Projektanträgen sowie seinem Engagement<br />

im Bereich der Lehre gedankt sei.<br />

Noch ein letzter Hinweis in eigener Sache sei gestattet:<br />

Mit dieser „Doppelausgabe“ 2008/09<br />

stellen die Mitteilungen des Instituts für Deutsches<br />

und Europäisches Parteienrecht und Parteienforschung<br />

(MIP) ihre Zählweise auf das jeweils<br />

laufende Kalenderjahr der Erscheinung<br />

um. Der Aktualität der hier versammelten Beiträge<br />

soll so in Zukunft noch mehr Rechnung getragen<br />

werden. Dies ist auch als Anerkennung<br />

für den unermüdlichen Fleiß unserer zahlreichen<br />

Autoren zu verstehen. Ihnen haben wir vielmals<br />

zu danken.<br />

4


MIP 2008/09 15. Jhrg. Philipp Erbentraut – Radikaldemokratisches Denken im Vormärz: zur Aktualität der Parteientheorie Julius Fröbels<br />

Aufsätze<br />

Radikaldemokratisches Denken<br />

im Vormärz: zur Aktualität der<br />

Parteientheorie Julius Fröbels<br />

Philipp Erbentraut, M.A. 1<br />

Einleitung<br />

Die Arbeiten Julius Fröbels (1805–1893) gelten<br />

als wegweisend für die Idee der Volkssouveränität<br />

im 19. Jahrhundert. 2<br />

1<br />

Philipp Erbentraut ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter<br />

am Institut für Deutsches und Europäisches<br />

Parteienrecht und Parteienforschung, (<strong>PRuF</strong>).<br />

2<br />

Sehr instruktiv und kritisch ist die Darstellung von<br />

GÖHLER, Gerhard/ KLEIN, Ansgar: Politische Theorien<br />

des 19. Jahrhunderts. Die demokratische Position mit<br />

ihren Ambivalenzen: Julius Fröbel, in: Hans-Joachim<br />

Lieber (Hrsg.), Politische Theorien von der Antike bis<br />

zur Gegenwart, München 1991, S. 411–435. Neu belebt<br />

wurden Fröbels Überlegungen vor allem von<br />

HABERMAS, Jürgen: Volkssouveränität als Verfahren<br />

(1988), in: Ders., Faktizität und Geltung: Beiträge zur<br />

Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen<br />

Rechtsstaats, Frankfurt am Main 3 1993, S. 600–631.<br />

Zuerst erschienen in: Forum für Philosophie Bad Homburg<br />

(Hrsg.), Die Ideen von 1789, Frankfurt am Main<br />

1989, S. 7–36. Fröbels Haltung zum Liberalismus und<br />

zur Deutschen Frage thematisiert SCHULER, Dietmar: Julius<br />

Fröbel (1805–1893). Ein Leben zwischen liberalem<br />

Anspruch und nationaler „Realpolitik“, in: Innsbrucker<br />

Historische Studien 7/8 (1985), S. 179–261.<br />

Eine kurze, aber äußerst scharfsinnige Analyse liefert<br />

BERMBACH, Udo: Julius Fröbel, in: Iring Fetscher und<br />

Herfried Münkler (Hrsg.), Pipers Handbuch der politischen<br />

Ideen. Neuzeit: Von der Französischen Revolution<br />

bis zum europäischen Nationalismus, Bd. 4, München<br />

1986, S. 361–364. Die aktuellste Monographie ist<br />

die ausgesprochen kenntnisreiche und theoriegeleitete<br />

Dissertation von KOCH, Rainer: Demokratie und Staat<br />

bei Julius Fröbel: 1805–1893. Liberales Denken zwischen<br />

Naturrecht und Sozialdarwinismus, Wiesbaden<br />

1978. Für eine neuere, paraphrasierte Version dieser<br />

Arbeit vgl. DERS.: Julius Fröbel (1805–1893), in:<br />

Bernd Heidenreich (Hrsg.), Politische Theorien des 19.<br />

Jahrhunderts. Konservatismus Liberalismus Sozialismus,<br />

Berlin 2 2002, S. 383–397. Fröbels Ausführungen<br />

zur deutschen Außen- und Trias-Politik stehen im Mittelpunkt<br />

des Aufsatzes von MOMMSEN, Wilhelm: Julius<br />

Fröbel. Wirrnis und Weitsicht, in: HZ 181 (1956), S.<br />

497–532. Teilaspekte seines Lebens und Wirkens behandeln<br />

die älteren Darstellungen von FEUZ, Ernst: Ju-<br />

In seinem Hauptwerk 3 erhebt der spätere Paulskirchen-Abgeordnete<br />

ein Jahr vor der Revolution<br />

in Deutschland die Volkssouveränität zum<br />

„Staatsrechtsprinzip der Demokratie“ und erklärt<br />

Demokratie und Staat für „gleichbedeutende Begriffe“<br />

4 . Oberstes Ziel seiner Theorie ist es, den<br />

Rousseauschen Akt des Gesellschaftsvertrages<br />

in Form einer „legalen und permanenten Revolution“<br />

5 auf Dauer zu stellen. Im Gegensatz zum<br />

konservativen Mainstream – nicht nur der damaligen<br />

Staatsrechtslehre – weist er damit die Ansicht<br />

zurück, wonach sich der pouvoir constituant<br />

des Volkes in einem einmaligen revolutionären<br />

Akt der Verfassungsgebung erschöpft. 6<br />

Die Verfassung müsse vielmehr ein offenes Prolius<br />

Fröbel. Seine politische Entwicklung bis 1849. Ein<br />

Beitrag zur Geschichte des Vormärz, Bern 1932; NÄF,<br />

Werner: Das Literarische Comptoir Zürich und Winterthur,<br />

Bern 1929 und BÖRNER, Clara: Julius Fröbel<br />

und das österreichische Bundesreformprojekt aus dem<br />

Jahre 1863, Marburg 1919. Eine Quelle, deren Wert in<br />

der Forschung unterschiedlich – zuletzt aber als hoch –<br />

veranschlagt wurde, sind FRÖBELS Memoiren: Ein Lebenslauf.<br />

Aufzeichnungen, Erinnerungen, Bekenntnisse,<br />

2 Bde, Stuttgart 1890–91. Der schriftliche Nachlass<br />

Julius Fröbels wird in der Handschriftenabteilung der<br />

Zentralbibliothek Zürich unter der Signatur Ms. Z II<br />

83–93 verwaltet. Für diesen Aufsatz habe ich die dort<br />

lagernden Dokumente aber nicht benutzt.<br />

3<br />

FRÖBEL, Julius: System der sozialen Politik, 2 Bde,<br />

Mannheim 1847, Reprint Aalen 1975. Insgesamt hat<br />

Fröbel neben zahlreichen wissenschaftlichen, politischen<br />

und selbst literarischen Schriften drei große „Politiken“<br />

verfasst. Neben dem bereits genannten und für<br />

unsere Fragestellung maßgeblichen Werk erschienen<br />

weiterhin: DERS.: Theorie der Politik als Ergebnis einer<br />

erneuerten Prüfung demokratischer Lehrmeinungen,<br />

Bd. 1: Die Forderungen der Gerechtigkeit und Freiheit<br />

im Staate, Wien 1861, Bd. 2: Die Thatsachen der Natur,<br />

der Geschichte und der gegenwärtigen Weltlage,<br />

als Bedingungen und Beweggründe der Politik, Wien<br />

1864, Neudruck Aalen 1975 und DERS.: Gesichtspunkte<br />

und Aufgaben der Politik. Eine Streitschrift nach<br />

verschiedenen Richtungen, Leipzig 1878, Neudruck<br />

Aalen 1971. Bei wörtlichen Zitaten folge ich durchgängig<br />

der alten Schreibweise und Interpunktion Fröbels.<br />

Hervorhebungen des Autors sind ebenfalls kenntlich<br />

gemacht.<br />

4<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 7.<br />

5<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 274.<br />

6<br />

So etwa prominent bei KRIELE, Martin: Einführung in<br />

die Staatslehre: die geschichtlichen Legitimitätsgrundlagen<br />

des demokratischen Verfassungsstaates, Stuttgart<br />

[u.a.] 6 2003. S. 239.<br />

5


Aufsätze Philipp Erbentraut - Radikaldemokratisches Denken im Vormärz: zur Aktualität der Parteientheorie Julius Fröbels<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

jekt bleiben und dürfe keinesfalls durch die Festsetzung<br />

ihrer Unveränderlichkeit die eigene Entwicklung<br />

und Verbesserung unmöglich machen. 7<br />

Viel beachtet und gerühmt wurde gleichzeitig<br />

die Aufnahme der Parteien in die Verfassung. In<br />

der Tat stellt der Entwurf eines Parteiensystems<br />

für das politische Denken der ersten Hälfte des<br />

19. Jahrhunderts in Deutschland ein Novum dar. 8<br />

Das Ziel dieses Aufsatzes ist die kritische Rekonstruktion<br />

der Parteientheorie Julius Fröbels.<br />

Damit wird ein doppeltes Erkenntnisinteresse<br />

verfolgt. Zum einen geht es um Wissensarchäologie.<br />

(Im Archiv der Ideengeschichte hat die<br />

Akte Julius Fröbel etwas Staub angesetzt.) Zum<br />

anderen ist mit der Ausgrabung auch eine auf die<br />

Zukunft gerichtete Fragestellung verknüpft: Ließe<br />

sich über die engere Parteienlehre Fröbels<br />

hinausgehend nicht ein Reformvorhaben skizzieren,<br />

das – im Sinne der Selbstgesetzgebung der<br />

Staatsbürger – die Entscheidungskompetenzen<br />

an der Basis wieder stärkt? Die Beantwortung<br />

der beiden Fragen erfolgt in mehreren Schritten:<br />

Zunächst gebe ich eine bündige Einführung in<br />

Leben und Werk des Autors (I). Danach zeichne<br />

ich mit groben Strichen die allgemeine Parteientheorie<br />

des Vormärz nach, um die Originalität<br />

der Fröbelschen Gedankenarchitektur zu untermauern<br />

(II). Schließlich und am ausführlichsten<br />

erfolgt die eigentliche Rekonstruktion der Parteientheorie<br />

(III), bevor ich ganz am Ende mit der<br />

Skizze eines Kompromissmodells zwischen Rätedemokratie<br />

und Parlamentarismus einen Ausblick<br />

wage, der den Anschluss an Julius Fröbels<br />

radikaldemokratische Ideale im Vormärz sucht.<br />

I. Leben und Werk<br />

Leben und Denken Julius Fröbels haben manch<br />

eigenartige Wendung genommen. 9 Geboren<br />

1805 in einem Pfarrhaus im thüringischen Gries-<br />

7<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 114f.<br />

8<br />

GÖHLER/ KLEIN, Julius Fröbel, S. 428.<br />

9<br />

Die Darstellung folgt – soweit nicht anders kenntlich<br />

gemacht – im Wesentlichen den Ausführungen von<br />

KOCH, GÖHLER/ KLEIN und MOMMSEN – teilweise auch<br />

den Beschreibungen aus FRÖBELS Autobiographie, sofern<br />

die Informationen durch andere Quellen abgesichert<br />

sind.<br />

heim und aufgewachsen unter dem Einfluss seines<br />

Onkels, des bekannten Reformpädagogen<br />

Friedrich Fröbel, beschäftigt sich Julius zunächst<br />

intensiv mit der Geographie. 1841 gibt er jedoch<br />

eine Dozentenstelle an der Universität Zürich<br />

auf, um sich als Verleger in der Schweiz politischen<br />

Themen zuzuwenden. Zu seinen Autoren<br />

zählen damals u. a. Herwegh, Ruge, Bakunin<br />

und Weitling.<br />

1847 veröffentlicht er dann selbst das zweibändige<br />

„System der sozialen Politik“. Der Titel ist<br />

allerdings etwas irreführend, da es Fröbel hier<br />

nicht in erster Linie um die Lösung der sozialen<br />

Frage, sondern in einem weiteren Verständnis<br />

des Wortes „sozial“ um eine umfassende Theorie<br />

des Staates und der Gesellschaft geht. Dabei<br />

argumentiert er aus der Position eines nicht-sozialistischen<br />

radikaldemokratischen Denkens,<br />

das zwar von seinem Ausgangspunkt her – der<br />

Autonomie des Individuums – noch in Verbindung<br />

mit dem Liberalismus steht, zugleich aber<br />

in der daraus abgeleiteten Forderung nach allgemeiner,<br />

umfassender und unmittelbarer politischer<br />

Teilhabe aller Bürger – unabhängig von<br />

Bildung, Besitz und sogar Geschlecht – weit<br />

über die damaligen liberalen Intentionen hinaus<br />

geht. 10 So setzt er sich neben einem umfangreichen<br />

Volksbildungsprogramm beispielsweise<br />

auch für die vollständige „Emancipation des<br />

Weibes“ 11 , sozialstaatlichen Interventionismus 12<br />

sowie die Akzeptanz alternativer Lebensmodelle<br />

unter Einschluss der freien Liebe 13 ein.<br />

In der Frankfurter Paulskirche agiert er auf der<br />

äußersten Linken des Parlaments<br />

(„Donnersberg“). An der Wiener Oktoberrevolution<br />

nimmt er als Straßenkämpfer teil und wird<br />

nach deren Niederschlagung zum Tode verurteilt<br />

– anders als sein Kampfgefährte Robert Blum<br />

aber in sprichwörtlich letzter Minute verschont. 14<br />

10<br />

GÖHLER/ KLEIN, Julius Fröbel, S. 411f.<br />

11<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 426, 446ff.<br />

12<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 400f. Gefordert werden zum<br />

Beispiel die Einführung einer progressiven Erwerbssteuer<br />

sowie die komplette Abschaffung des Erbrechts.<br />

13<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 442.<br />

14<br />

Eine besonders plastische Nacherzählung der Wiener<br />

Ereignisse findet sich bei VALENTIN, Veit: Geschichte<br />

der deutschen Revolution von 1848–1849, Bd. 2: Bis<br />

6


MIP 2008/09 15. Jhrg. Philipp Erbentraut – Radikaldemokratisches Denken im Vormärz: zur Aktualität der Parteientheorie Julius Fröbels<br />

Aufsätze<br />

Das Scheitern der Revolution von 1848/ 49 stellt<br />

in Fröbels Leben in jeglicher Hinsicht die entscheidende<br />

Zäsur dar. Er muss das Land verlassen<br />

und lebt fast ein Jahrzehnt lang als Flüchtling<br />

in Nord- und Mittelamerika. Unter dem Eindruck<br />

des Exils vollzieht er eine konservativ-autoritäre<br />

Wendung zum „Realismus“. Er sagt sich<br />

von früheren Weggefährten los und tritt – zurück<br />

in Europa – 1862 sogar in den Dienst der österreichischen<br />

Regierung – nicht einmal 15 Jahre<br />

nachdem diese ihn um ein Haar füsiliert hätte.<br />

In der 1861-64 erschienenen „Theorie der Politik“<br />

rechnet er daraufhin mit seiner eigenen politischen<br />

Vergangenheit ab. Das Prinzip der<br />

Volkssouveränität wird nun zugunsten einer entpersonalisierten<br />

Staatssouveränität zurückgestellt.<br />

15 Auch in Fragen des Wahlrechts und der<br />

Gleichberechtigung der Geschlechter bezieht<br />

Fröbel deutlich konservativere Positionen. Alles<br />

in allem lässt sich von jetzt an ein charakteristischer<br />

Zug in seinem Denken ausmachen, den<br />

Koch als „Anbetung der Macht“, ja als „Angriff<br />

gegen die demokratische Theorie selbst und gegen<br />

das dahinter stehende Menschenbild der<br />

Aufklärung“ geißelt. 16 „Nicht wer recht hat, sonzum<br />

Ende der Volksbewegung von 1849, Weinheim<br />

[u. a.] 1998, S. 203–216. Demnach seien die Verurteilung<br />

der Frankfurter Abgeordneten und die Hinrichtung<br />

Blums politische Akte gewesen, „erwachsen nach<br />

altösterreichischer Manier aus einer Verbindung von<br />

Menschenverachtung, Staatsräson, Intrige und Schlamperei“<br />

(S. 213). Koch vermutet allerdings, Fröbel habe<br />

eine österreichfreundliche Schrift aus dem September<br />

1848 das Leben gerettet. Vgl. DERS., Julius Fröbel<br />

(2002), S. 391f. Es scheinen aber Zweifel angebracht,<br />

ob tatsächlich derart subtile Gründe den Ausschlag gaben.<br />

Schließlich sollte auf eine spätere Anweisung<br />

Schwarzenbergs auch Blum – nicht nur nicht erschossen,<br />

sondern sogar – auf freien Fuß gesetzt werden.<br />

Leider war er da schon tot. Vgl. VALENTIN, S. 213.<br />

15<br />

FRÖBEL, Theorie der Politik, Bd. 1, S. 91f.: „Der Grundirrthum<br />

der ganzen ultrademokratischen Anschauungsweise<br />

liegt in der Verkennung der Wahrheit daß<br />

die Rechtsvollkommenheit des Staatsganzen, welche in<br />

der Suveränetät ausgesprochen liegt, nicht durch eine<br />

Zusammensetzung aus den Rechten der Individuen entstehen<br />

kann, sondern eben nur als Attribut des Statsganzen<br />

denkbar ist [...]“.<br />

16<br />

KOCH, Julius Fröbel, S. 258, 240. GÖHLER/ KLEIN bemerken<br />

allerdings, das Denkmuster habe sich vom<br />

„System der sozialen Politik“ hin zur „Theorie der Politik“<br />

gar nicht so weit verschoben. Bereits Fröbels früdern<br />

wer recht behält, ist die große Frage in der<br />

Politik“ 17 , schreibt Fröbel später in seiner Autobiographie<br />

und rechtfertigt damit einen weiteren<br />

Kurswechsel, der ihn 1866 in die Dienste Bismarcks<br />

führt. Für die auswärtige Politik des Kaiserreiches<br />

wirkt er ab 1873 als Konsul in Smyrna,<br />

ab 1876 in Algier. In die Jahre als Diplomat<br />

fällt 1878 auch die Fertigstellung der letzten<br />

großen Schrift „Gesichtspunkte und Aufgaben<br />

der Politik“. Neben einem bedingungslosen Bekenntnis<br />

zum Machtstaat rückt hier die Rassenfrage<br />

in den Fokus seines Denkens. Die Übertragung<br />

der neuen Evolutionslehre auf die Politik<br />

gipfelt in einem Versuch der rassentheoretischen<br />

Legitimation von Herrschaft und dem Vorschlag<br />

gezielter Ein- und Auswanderungspolitik zur Lösung<br />

der sozialen Frage. 18 Von den radikaldemokratischen<br />

Idealen, die die Grundlage seiner revolutionären<br />

Parteientheorie bildeten, hat Julius<br />

Fröbel sich zu diesem Zeitpunkt längst verabschiedet.<br />

In weltmännisch-sarkastischer Geste<br />

widmet er sein Buch den Parteien, denen er sich<br />

nun als Sachwalter eines „politischen Darwinismus“<br />

überhoben fühlt. 19<br />

here Arbeit sei durch einen „latent totalitären Charakter“<br />

seines Verständnisses des Individuums in der Demokratie<br />

geprägt, das ein höheres Allgemeines für den<br />

einzelnen maßgebend mache. Vgl.: S. 434. MOMMSEN<br />

meint gar, es könne kein Zweifel daran bestehen, dass<br />

Fröbel in seinem späteren Werk über das „System“ und<br />

auch seine Haltung in der Paulskirche „hinausgewachsen“<br />

sei: „Er war reifer und abgeklärter, zum Teil auch<br />

wirklichkeitsnäher.“ Vgl.: S. 515.<br />

17<br />

FRÖBEL, Lebenslauf, Bd. 2, S. 450.<br />

18<br />

FRÖBEL, Gesichtspunkte, S. 64.: „Für den Kenner der<br />

Weltverhältnisse im Grossen unterliegt es keinem<br />

Zweifel dass mit der Zeit die soziale Frage in die Rassenfrage<br />

übergehen und durch Aus- und Einwanderung<br />

beantwortet werden wird. Die höheren Menschenrassen<br />

sind berufen, auf allen Schauplätzen der Erde die<br />

Führung und Herrschaft zu übernehmen. Ihr Posten ist<br />

überall da wo Unternehmer, Führer, Lehrer, Ordner,<br />

Aufseher, Befehlshaber, kurz wo Menschen von höheren<br />

Fähigkeiten nöthig sind. Die niederen sollen von<br />

den Geschäften der Menschheit diejenigen verrichten<br />

zu welchen jene – sobald ihre Ablösung möglich geworden<br />

– zu gut sind.“<br />

19<br />

FRÖBEL, Vorrede, in: Gesichtspunkte, S. V–VIII.<br />

7


Aufsätze Philipp Erbentraut - Radikaldemokratisches Denken im Vormärz: zur Aktualität der Parteientheorie Julius Fröbels<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

II. Allgemeine Parteientheorie des Vormärz<br />

Bekanntermaßen zählt das Wort „Partei“ 20 zu jenen<br />

Begriffen, die – und zwar relativ unabhängig<br />

vom jeweiligen politischen Standpunkt des Betrachters<br />

aus – ungewöhnlich lange negativ konnotiert<br />

waren. 21 Antike Gemeinwohl- und Ordnungsvorstellungen<br />

sowie mittelalterliche Concordia-Lehren<br />

wirkten bis tief in die Neuzeit hinein<br />

und ließen wenig Spielraum für eine positive<br />

Bewertung des Parteienwesens. Klaus von Beyme<br />

hat in diesem Zusammenhang treffend von<br />

der „Geschichte eines diskriminierenden Begriffs“<br />

22 gesprochen. Erst im 18. Jahrhundert – in<br />

England bereits etwas früher – taucht das Wort<br />

in Korrelation zum Entwicklungsstand des Parlamentarismus<br />

zunehmend auch in positiver Bedeutung<br />

auf 23 , während der Begriff „Faktion“<br />

weiterhin negativ besetzt bleibt. Madison verwendet<br />

im berühmten 10. Artikel der Federalist<br />

Papers beide Begriffe noch synonym und in denunziatorischer<br />

Absicht. 24 Auch in der Französischen<br />

Revolution haben die Parteien keine Lobby,<br />

da sie ganz überwiegend als Gegensatz zu<br />

der von Rousseau propagierten volonté générale<br />

begriffen werden. 25<br />

20<br />

Gemeint ist im Folgenden ausschließlich die politische<br />

Partei. Andere Formen und Bedeutungen, wie etwa die<br />

juristische Vertrags- oder Prozesspartei, werden hier<br />

nicht verhandelt.<br />

21<br />

Vgl.: ALEMANN, Ulrich von: Das Parteiensystem der<br />

Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2003, S. 9ff.<br />

22<br />

BEYME, Klaus von: Partei, Faktion, in: Otto Brunner/<br />

Werner Conze/ Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche<br />

Grundbegriffe: historisches Lexikon zur politisch-sozialen<br />

Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart<br />

1978, S. 677–733 (732).<br />

23<br />

Gern zitiert wird Burke: “Party is a body of men<br />

united, for promoting by their joint endeavours the national<br />

interest, upon some particular principle in which<br />

they are all agreed.” Vgl.: BURKE, Edmund: thoughts on<br />

the cause of the present discontents (1770), in: Langford,<br />

Paul (Hrsg.), The writings and speeches of Edmund<br />

Burke, Bd. 2, Party, parliament and the American<br />

Crisis 1766–1774, Oxford 1981. S. 241–323 (317).<br />

24<br />

HAMILTON, Alexander/ MADISON, James/ JAY, John: Die<br />

Federalist-Artikel. Politische Theorie und Verfassungskommentar<br />

der amerikanischen Gründerväter, herausgegeben,<br />

übersetzt, eingeleitet und kommentiert von<br />

Angela Adams und Willi Paul Adams, Paderborn [u.a.]<br />

1994. S. 50–58.<br />

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts sickert das Wort<br />

„Partei“ dann langsam und unter erheblichen<br />

Vorbehalten auch in den deutschen Sprachgebrauch<br />

ein. Nicht nur wird in der Zeit des Vormärz<br />

die praktische Entwicklung eines Parteienwesens<br />

durch die fehlenden konstitutionellen<br />

Andockmöglichkeiten behindert. Auch die herrschende<br />

Theorie in der Staatslehre wirkt einer<br />

Aufnahme organisierter Parteien in die Verfassungswirklichkeit<br />

entgegen. Hegel nennt als<br />

„vermittelndes Organ zwischen Regierung und<br />

Volk“ 26 die Stände, nicht die Parteien. Dennoch<br />

liefert Hegels Philosophie durch das Prinzip der<br />

Dialektik für seine Schüler einen Anknüpfungspunkt<br />

zur Begründung und Rechtfertigung des<br />

Parteibegriffs. Der Rechtshegelianer Karl Rosenkranz<br />

etwa definiert 1843 die Partei als „die<br />

selbstbewußte Einseitigkeit, welche das praktische<br />

Verhalten des Gemeinwesens bei seinen<br />

Gliedern in der Ungleichheit und dem aus ihr<br />

entstehenden Conflict der Bedürfnisse hervorruft“<br />

27 . In klarem Gegensatz zu seinem Meister<br />

wird außerdem die Ansicht vertreten, dass die<br />

Partei über den Stand hervorragt. Das dialektische<br />

Ringen der Parteien miteinander setze die<br />

Regierung in die komfortable Lage, „das wahrhafte<br />

Bedürfniß des Volkes zu erkennen“ 28 . Das<br />

Konzept einer Partei-Regierung verwirft jedoch<br />

auch Rosenkranz. Die Regierung, die den Staat<br />

in seiner Ganzheit und Einheit vertreten soll,<br />

habe „über den Parteien zu stehen“ 29 .<br />

Förmlich zu greifen ist hier ein für das liberale<br />

Denken im Vormärz typisches Verständnis von<br />

Partei im Sinne einer „Vertretung eines dem Ge-<br />

25<br />

Zur Abschaffung der Zünfte im März 1791 sowie zum<br />

Koalitions- und Streikverbot (Loi Le Chapelier) im<br />

Juni desselben Jahres vgl.: FURET, François/ RICHET,<br />

Denis: Die Französische Revolution, Frankfurt am<br />

Main 1997, S. 157f.<br />

26<br />

HEGEL, Georg Wilhelm Friedrich: Die „Rechtsphilosophie“<br />

von 1820. Mit Hegels Vorlesungsnotizen 1821–<br />

1825, in: Karl-Heinz Ilting (Hrsg.), Georg Wilhelm<br />

Friedrich Hegel. Vorlesungen über Rechtsphilosophie<br />

1818–1831, Bd. 2, Stuttgart 1974. S. 770 (§ 302).<br />

27<br />

ROSENKRANZ, Karl: Über den Begriff der politischen<br />

Partei, in: Hermann Lübbe (Hrsg.), Die Hegelsche<br />

Rechte, Stuttgart 1962. S. 65–85 (65).<br />

28<br />

ROSENKRANZ, Über den Begriff..., S. 72.<br />

29<br />

ROSENKRANZ, Über den Begriff..., S. 82.<br />

8


MIP 2008/09 15. Jhrg. Philipp Erbentraut – Radikaldemokratisches Denken im Vormärz: zur Aktualität der Parteientheorie Julius Fröbels<br />

Aufsätze<br />

meinwohl widersprechenden partikularen Sonderinteresses“<br />

30 , als einer – wenn auch bereits<br />

politischen, so doch noch vorparlamentarischen,<br />

unorganisierten – „Gesinnungsgemeinschaft“ 31 .<br />

So argumentiert denn auch Schieder, die Parteientheorie<br />

in Deutschland vor 1848 habe sich<br />

mangels Anschauung und Erfahrung zwangsläufig<br />

im luftleeren Raum bewegen müssen: „Parteien<br />

waren für sie mehr oder weniger Gedankengebilde,<br />

dialektische Momente im Prozeß der<br />

Geistesgeschichte, aber keine realen politischen<br />

Gruppen.“ 32<br />

So richtig die Einschätzung Schieders im Allgemeinen<br />

sein mag, auf die Parteientheorie Julius<br />

Fröbels im Speziellen trifft sie nur bedingt zu.<br />

Schließlich erkennt Fröbel die Parteien 1847 im<br />

„System der sozialen Politik“ als reale politische<br />

Handlungseinheiten und Faktoren der Willensbildung<br />

ausdrücklich an. Seiner Ansicht nach<br />

sollen diese Organisationen nicht allein im Gesellschaftlichen<br />

wirken, sondern um die tatsächliche<br />

Macht im Staat streiten.<br />

III. Fröbels neuartige Parteienlehre<br />

a. Parteien „verfassungsmäßiger Existenz“<br />

Die stärkere Betonung der Parteien ergibt sich<br />

bei Julius Fröbel aus einer entscheidenden Modifikation<br />

des Gesellschaftsvertrages der Naturrechtsphilosophie.<br />

„Man muß sich zunächst klar<br />

machen“, fordert der Autor: „daß der Vertrag,<br />

welcher den factischen Zustand in einen rechtlichen<br />

umwandeln soll, nicht zwischen Individuen<br />

sondern zwischen Volksparteien geschlossen<br />

wird. Das Rechtsverhältnis geht nicht, wie Hobbes<br />

und Rousseau es sich gedacht haben, aus<br />

dem Kampfe Aller gegen Alle, sondern aus dem<br />

Kampfe von Massen gegen Massen hervor; und<br />

30<br />

BOTZENHART, Manfred: Die Parlamentarismusmodelle<br />

der deutschen Parteien 1848/49, in: Dieter Langewiesche<br />

(Hrsg.), Die Deutsche Revolution von 1848/49,<br />

Darmstadt 1983. S. 291–321 (293).<br />

31<br />

BEYME, Partei, S. 697.<br />

32<br />

SCHIEDER, Theodor: Die Theorie der Partei im älteren<br />

deutschen Liberalismus, in: Ders., Staat und Gesellschaft<br />

im Wandel unserer Zeit, München 3 1974. S.<br />

110–132 (117).<br />

Massen sind es also welche pacisciren<br />

müssen.“ 33<br />

Der Parteienbegriff ist hier – auf dieser ersten<br />

Entwicklungsstufe des Parteiensystems – soziologisch<br />

noch sehr weit gefasst und entspricht<br />

durchaus der gängigen Vorstellung des Vormärz.<br />

Fröbel spricht auch von „factischen Parteien“ 34 ,<br />

die man sich wohl am ehesten als rivalisierende,<br />

um Macht und Deutungshoheit kämpfende Interessengruppen<br />

vorstellen kann. Durch den historischen<br />

Abschluss einen Rechtsvertrages dieser<br />

Prototypen untereinander über die Organisation<br />

des Staates entstehen jedoch – in einem zweiten<br />

Entwicklungsschritt – „Parteien von verfassungsmäßiger<br />

Existenz“ 35 , auch „freie Personen“<br />

genannt, die unter allen Umständen die „Rechtsfähigkeit<br />

zum Abschlusse aller beliebigen Verträge<br />

haben“.<br />

Somit gelangt Fröbel zu einer äußerst modern<br />

anmutenden Auffassung, die in Deutschland erst<br />

rund 100 Jahre später in Artikel 21 Abs. 1 des<br />

Grundgesetzes positiviert wurde. Ausdrücklich<br />

akzeptiert er das Faktum, dass es im Staat einen<br />

Pluralismus vernünftiger Interessen und Konzeptionen<br />

zur Gestaltung von Politik gibt. Teilen<br />

und verfolgen mehrere Bürger diese sogenannten<br />

„Partikular“- oder „Separatzwecke“ entstehen<br />

Parteien und es bildet sich „der Gegensatz und<br />

Wettstreit der Parteizwecke“. Die Parteien sind<br />

„Fractionen der Staatsgesellschaft deren Glieder<br />

innerhalb der Einheit des Staatszweckes gemeinsame<br />

Separatzwecke verfolgen“ 36 . Fröbel legt allerdings<br />

Wert auf die Ergänzung, dass der Separatzweck<br />

der Partei „auf das Ganze des Staates<br />

geht, also daß der Separatismus nur ein subjectiver<br />

ist“ 37 .<br />

33<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 88f.<br />

34<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 90.<br />

35<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 91.<br />

36<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 84 (Hervorhebung bei Fröbel).<br />

37<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 274.<br />

9


Aufsätze Philipp Erbentraut - Radikaldemokratisches Denken im Vormärz: zur Aktualität der Parteientheorie Julius Fröbels<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

b. Politische Sekten versus<br />

legitime Opposition<br />

In einer auch stilistisch beeindruckenden Passage<br />

unterscheidet er daraufhin die Parteien verfassungsmäßiger<br />

Existenz von den „politischen<br />

Sekten“, die den staatszersetzenden factions der<br />

Federalists oder den sociétés partielles Rousseaus<br />

ähneln:<br />

„Die Partei will ihren Separatzweck im Staate geltend machen,<br />

die Secte den Staat mit ihrem Separatzweck überwinden.<br />

Die Partei will im Staate zur Herrschaft kommen,<br />

die Secte den Staat ihrer Existenzform unterwerfen. Indem<br />

sie im Staate zur Herrschaft kommt will die Partei sich in<br />

ihm auflösen, die Secte will indem sie den Staat in sich<br />

auflöst zur Herrschaft kommen.“ 38<br />

Die hier vorgenommene Begrenzung der Parteizwecke<br />

erinnert stark an die Beschreibung verfassungswidriger<br />

Parteien im Grundgesetz (Art.<br />

21 Abs. 2). 39 Allerdings setzt Fröbel gleichzeitig<br />

„auf die vollkommene Freiheit der persönlichen<br />

Meinungsäußerung und die Freiheit der theoretischen<br />

Propaganda“ 40 . Verfassungsgegner soll der<br />

Staat zunächst durch den zwanglosen Zwang des<br />

besseren Arguments einzufangen suchen:<br />

„Selbst wenn der Zweck gegen die Existenz des Staates<br />

gerichtet wäre, sollte der theoretische Betrieb frei sein.<br />

Man kann der Meinung sein daß es besser wäre der Staat<br />

dessen Glied man ist bestünde gar nicht, [...] – und diese<br />

Meinung muß erlaubt sein, und für sie muß man Theilhaber<br />

suchen dürfen. Eine Partei mit solchen Tendenzen<br />

wäre freilich ein innerer Feind, aber nur ein theoretischer,<br />

der also auch nur theoretisch zu bekämpfen wäre.“ 41<br />

Freilich tritt eine Organisation, die zur Durchsetzung<br />

ihrer Ziele zum praktischen Mittel der Gewalt<br />

greift, dadurch in das Verhältnis „eines<br />

Staatsfeindes und muß als solcher behandelt<br />

werden“ 42 . Einzige Ausnahme von dieser Regel<br />

bildet das Widerstandsrecht zur Wahrung der<br />

Freiheit, falls einer Partei „die theoretischen Mittel<br />

der Ueberzeugung und die praktischen Mittel<br />

einer verfassungsmäßigen Einwirkung auf die<br />

Gesetzgebung und die Wahlen abgeschnitten<br />

sind“ 43 . In jedem Fall sei der Staat gut beraten,<br />

„durch die theoretische Freiheit und die allgemeine<br />

Theilnahme an der Gesetzgebung den Parteien<br />

eine legale, in den Staatsorganismus eingereihte<br />

Existenz und Bewegung zu geben, und so<br />

die Revolution durch ihre Legalität und Permanenz<br />

unschädlich zu machen“ 44 .<br />

Als einer der ersten erkennt Fröbel hier die verfassungspolitische<br />

Bedeutung legitimer Opposition<br />

und des Wahlkampfes um die Mehrheit der<br />

Stimmen. Von der unterlegenen Minderheit verlangt<br />

er nicht etwa, dass sie ihre Meinung aufgebe,<br />

sondern nur „daß sie auf die praktische Anwendung<br />

ihrer Ueberzeugung so lange verzichte<br />

bis es ihr gelungen ist, ihre Gründe besser geltend<br />

zu machen und sich die nöthige Zahl von<br />

Beistimmenden zu verschaffen“ 45 . In der Funktionsbestimmung<br />

der im Gegensatz zum Mehrheitswillen<br />

stehenden Opposition erblickt Fröbel<br />

die eigentliche Stärke demokratischer Herrschaftsorganisation<br />

und überwindet damit nach<br />

Einschätzung Rainer Kochs nicht nur überzeugend<br />

den neuralgischen Punkt der politischen<br />

Theorie Rousseaus, nämlich die Problematik einer<br />

möglichen Diskrepanz zwischen volonté<br />

générale und volonté de tous, sondern erklärt<br />

und begründet gleichzeitig ein für den demokratischen<br />

Verfassungsstaat konstitutives Element:<br />

„Das Bemühen der Opposition, die Mehrheit zu<br />

überzeugen, selbst also die Majorität zu werden,<br />

Herrschaft auszuüben.“ 46 Aus der Antithetik von<br />

Mehrheit und Opposition geht das Staatsganze<br />

als Synthese hervor. Denn – so argumentiert Fröbel<br />

– in einem System verfassungsgemäßer Regierung<br />

geschehe in gewissem Sinne immer auch<br />

der Wille der „regierten Gegenpartei“, selbst<br />

wenn sie sich in einer bestimmten Sachfrage<br />

nicht durchsetzen kann, „da sie selbst die Verfassung<br />

nach der sie regiert wird, mit gemacht<br />

hat“ 47 .<br />

38<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 277.<br />

39<br />

GÖHLER/ KLEIN, Julius Fröbel, S. 429.<br />

40<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 114.<br />

41<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 282.<br />

42<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 283.<br />

43<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 291.<br />

44<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 292.<br />

45<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 109 (Hervorhebung bei Fröbel).<br />

46<br />

KOCH, Julius Fröbel, S. 97.<br />

47<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 86.<br />

10


MIP 2008/09 15. Jhrg. Philipp Erbentraut – Radikaldemokratisches Denken im Vormärz: zur Aktualität der Parteientheorie Julius Fröbels<br />

Aufsätze<br />

c. Das Ende der Parteikämpfe<br />

Die teils verblüffende Aktualität dieser Passagen<br />

darf aber nicht über einen gewissen utopischen<br />

Charakter, über die Vermischung realer und<br />

idealer Elemente in der Parteienlehre Julius Fröbels<br />

hinwegtäuschen. Zu Recht haben Göhler<br />

und Klein darauf hingewiesen, dass Fröbels Parteien<br />

entsprechend seiner Gesamtkonzeption zugleich<br />

„in eine teleologische Perspektive eingebettet“<br />

48 sind. Als weltanschaulich fundierte Organisationen<br />

der politischen Interessenvertretung<br />

sind sie in der Tat nur ein Sonderfall einer bestimmten<br />

Entwicklungsstufe der Kultur. Insofern<br />

ist das „System der sozialen Politik“ nicht als<br />

präzise Diagnose des zeitgenössischen, vormärzlichen<br />

Parteienwesens zu deuten, eher schon als<br />

Prognose. 49 Der Autor geht nämlich davon aus,<br />

dass sich an die beiden ersten Entwicklungsstufen<br />

des Parteiensystems eine dritte anschließen<br />

wird, die durch das Abklingen der Meinungskämpfe<br />

gekennzeichnet ist und somit gleichzeitig<br />

das Ende des Pluralismus’ markiert:<br />

„Sind diese Veränderungen ein wahrer Fortschritt in der<br />

Gerechtigkeit, so müssen sie die Grenzen des Widerstreites<br />

der Parteizwecke mehr und mehr einschränken, die der<br />

Zweck- und Rechtsgemeinschaft erweitern, und endlich<br />

alle Opposition im Staate in eine schöne Mannigfaltigkeit<br />

der Bewegung des Willens und der Erkenntnis auflösen.“ 50<br />

Die Parteien im modernen Verstande ließen sich<br />

also lediglich in die mittlere Stufe eines als Höherentwicklung<br />

gedachten und auf einen sittlichen<br />

Endzweck hin ausgerichteten Dreischritts<br />

einordnen.<br />

Zudem hat Fröbel ohnehin nur zwei „Hauptparteien“<br />

im Sinn, eine „gute“ und eine „schlechte“:<br />

„die Partei der Freiheit und die der Autorität<br />

48<br />

GÖHLER/ KLEIN, Julius Fröbel, S. 429.<br />

49<br />

So räumt der Verfasser selbst ein, „nicht auf einen unmittelbaren<br />

und damit unvermeidlich unreifen Erfolg“<br />

hingearbeitet, sondern „die principielle Perspective auf<br />

die Zukunft“ gerichtet zu haben. FRÖBEL, System, Bd.<br />

1, Vorwort, S. IV. Dagegen vermutet KOCH, Fröbels<br />

Blick richte sich eher wehmütig in die Vergangenheit<br />

und suche die Lösungen für die Fragen der Zeit vergeblich<br />

„in der rückwärtsgewandten Utopie einer klassenlosen<br />

Bürgergesellschaft ökonomisch selbständiger<br />

Individuen“. Vgl.: S. 31.<br />

50<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 91f.<br />

und Gewalt“ 51 . Zwischen beiden soll die Regierung<br />

als konservatives, erhaltendes Element in<br />

der Mitte stehen – kurioserweise ohne Ansehen,<br />

von welcher Partei sie jeweils gerade gestellt<br />

wird. Fröbel selbst lässt aber keinen Zweifel daran,<br />

dass er für die Kräfte von Fortschritt und<br />

Veränderung bis hin zum Einsatz von Gewalt<br />

eintritt. Dabei setzt er unter anderem auf die<br />

Strategie, den politischen Gegner durch Entzug<br />

des Parteienstatus’ zu delegitimieren:<br />

„Unsere Demokraten sind eine Partei, unsere Kommunisten<br />

eine Secte. Eine Partei, wenn auch zuweilen eine armselige,<br />

sind unsere neuen Liberalen, eine Secte war die<br />

deutsche Burschenschaft und zersprengte Sectirer sind ihre<br />

wunderlichen Ueberreste. Eine Partei ist es welche in<br />

Preußen eine Verfassung will, eine Secte welche gegenwärtig<br />

in Berlin die Gewalt in den Händen hat.“ 52<br />

d. Repräsentationskritik, Mehrheitsregel und<br />

Aufbau der Legislative<br />

Neben der fast schon heilsgeschichtlichen Inanspruchnahme<br />

der Parteien lässt ebenfalls aufhorchen,<br />

dass Fröbel – genau wie Rousseau – starke<br />

Kritik am Repräsentationsprinzip übt. Besonders<br />

fatal und widersinnig erscheint ihm die Vorstellung,<br />

wonach das Volk nur „alle vier Jahre einmal<br />

auf einige Stunden“ souverän sei: „Man<br />

glaubt an die Möglichkeit einer ,Repräsentativdemokratie’,<br />

wie wenn dieser Begriff mehr Verstand<br />

in sich hätte als der eines viereckigen Kreises.<br />

Aber nicht nur Demokratie und Repräsentation,<br />

auch Politik und Repräsentation sind sich<br />

ausschließende Begriffe.“ 53 Lediglich als Übergangssystem<br />

auf dem Weg zur direkten Demokratie<br />

scheint sich Fröbel mit der Repräsentation<br />

notfalls anfreunden zu können – allerdings nur<br />

so lange, wie sich das Volk noch auf einer niederen<br />

Stufe der Kultur befinde. Das Parlament<br />

wäre dann ein „Collegium von Advocaten oder<br />

Vormündern“, das vorübergehend nach eigenem<br />

Ermessen, aber zum Vorteil des Mündels handelt.<br />

Die Anhänger der repräsentativen Demokratie<br />

versuchten freilich, diesen Zustand zu ze-<br />

51<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 279 (Hervorhebungen bei<br />

Fröbel).<br />

52<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 278.<br />

53<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 140f. (Hervorhebung bei<br />

Fröbel).<br />

11


Aufsätze Philipp Erbentraut - Radikaldemokratisches Denken im Vormärz: zur Aktualität der Parteientheorie Julius Fröbels<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

mentieren: „Das Volk ist für diese scharfsinnigen<br />

Politiker immer zur Freiheit bestimmt, und<br />

niemals zur Freiheit reif. Es ist der Besitzer der<br />

Souveränität, aber niemals darf es selbst diese<br />

ausüben.“ 54<br />

Der Tradition der französischen Aufklärung folgend<br />

liegt die Essenz der Souveränität für Fröbel<br />

in der Selbstgesetzgebung des Volkes. „Kurz gesagt:<br />

ein Gesetz gibt es immer nur für den der es<br />

selbst gemacht oder der ihm beigestimmt hat; für<br />

jeden Anderen ist es ein Gebot oder ein Befehl.“<br />

55 Obwohl die Gesetze also theoretisch der<br />

Zustimmung aller betroffenen Individuen bedürfen,<br />

entscheidet der demokratische Gesetzgeber<br />

bei Fröbel durchweg mit Stimmenmehrheit. 56<br />

Dabei stehen das Ideal der Selbstbestimmung<br />

und die Anwendung der Majoritätsregel ganz offenkundig<br />

in einem Spannungsverhältnis. 57 Ein<br />

Anhänger der überstimmten Minderheit befindet<br />

sich nämlich durchaus nicht in der von Rousseau<br />

in Aussicht gestellten günstigen Lage, nur sich<br />

selbst zu gehorchen 58 .<br />

54<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 144 (Hervorhebungen bei<br />

Fröbel).<br />

55<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 97 (Hervorhebungen bei<br />

Fröbel).<br />

56<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 95ff. Zur inneren Logik des<br />

Mehrheitsentscheids bei Fröbel vgl.: KOCH, S. 94ff.<br />

57<br />

Vgl.: GOSEPATH, Stefan: Das Verhältnis von Demokratie<br />

und Menschenrecht, in: Hauke Brunkhorst (Hrsg.),<br />

Demokratischer Experimentalismus. Politik in der<br />

komplexen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1998, S.<br />

201-240 (226ff.) Gosepath möchte aus pragmatischen<br />

Erwägungen aber ebenfalls am Majoritätsprinzip festhalten.<br />

Er hält das Argument der Selbstbestimmung daher<br />

für ungeeignet, die Demokratie zu begründen und<br />

setzt stattdessen auf das moralische „Argument der<br />

gleichen Ressourcen“ (S. 231), also auf eine egalitäre<br />

Rechtfertigungsstrategie.<br />

58<br />

ROUSSEAU, Jean-Jacques: Vom Gesellschaftsvertrag<br />

oder Grundsätze des Staatsrechts. In Zusammenarbeit<br />

mit Eva Pietzcker neu übersetzt und herausgegeben<br />

von Hans Brockard, Stuttgart 2004. S. 17. In einem<br />

viel beachteten Gedenkartikel anlässlich des 200. Jahrestages<br />

der Französischen Revolution hat Jürgen Habermas<br />

versucht, die Dialektik von aufklärerischem<br />

Autonomieversprechen und der Notwendigkeit eines<br />

demokratischen Durchführungsprinzips aufzulösen, indem<br />

er Fröbel als frühen Denker der deliberativen Demokratietheorie<br />

reklamiert, der „das Prinzip der freien<br />

Diskussion mit dem Mehrheitsprinzip auf eine interessante<br />

Weise verbindet“. Ein Majoritätsbeschluss dür-<br />

Wie die Problematik des Mehrheitsbeschlusses<br />

bereits andeutet, stellt sich die institutionelle und<br />

organisatorische Ausgestaltung der Legislative<br />

in Fröbels Verfassungsentwurf bei weitem komplizierter<br />

dar, als es der Impetus radikaldemokratischer<br />

und parlamentarismuskritischer Programmatik<br />

vermuten ließe. Tatsächlich erfolgen Beratung<br />

und Beschlussfassung der Gesetze nur zu<br />

einem Teil unmittelbar durch das Volk selbst.<br />

Darüber hinaus existieren gleich zwei weitere,<br />

relativ autonome Gesetzgebungsgremien, die erheblichen<br />

Einfluss ausüben. Fröbel unterscheidet<br />

zwischen zwei Arten der Legislative – der Aufstellung<br />

und Fortbildung der Verfassung<br />

(„Grundgesetz“) einerseits und der Aufstellung<br />

der Spezialgesetze, welche aus der Verfassung<br />

folgen („Folgegesetze“), andererseits. 59 Die Entwicklung<br />

der Verfassung treiben die Bürger in<br />

sogenannten „Urversammlungen“ 60 auf Bezirksebene<br />

direkt und dauerhaft voran. Aus diesen<br />

werden dann Abgeordnete in den „Volksrath“<br />

entsandt, der als „Geschäftsausschuß aller<br />

Staatsgesetzgebungsbezirke“ 61 konzipiert ist und<br />

die Vorbereitung und Formulierung von Grundgesetzanträgen<br />

übernimmt. 62 Mit dem „Senat“<br />

gibt es schließlich eine dritte Versammlung „von<br />

vorzüglich fachkundigen Bürgern“, die sich um<br />

die Spezialgesetzgebung kümmert und nur indirekt<br />

durch Wahlmänner der einzelnen Bezirke<br />

beschickt wird. 63 Bemerkenswerterweise sind<br />

fe hier nur so zustandekommen, dass sein Inhalt zwar<br />

als das rational motivierte, „aber fehlbare Ergebnis einer<br />

unter Entscheidungsdruck vorläufig beendeten Diskussion<br />

über das, was das Richtige ist, gelten darf“.<br />

Vgl.: HABERMAS, Volkssouveränität als Verfahren, S.<br />

613. Weiterhin glaubt Habermas in Fröbels Definition<br />

des Parteibegriffs die wesentlichen Merkmale sogenannter<br />

„freiwilliger Assoziationen“ (S. 619) zu erkennen,<br />

die nur einen minimalen Grad an Institutionalisierung<br />

aufweisen und darauf spezialisiert sind, auf den<br />

Prozess der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung<br />

in erster Linie durch Argumente Einfluss zu nehmen.<br />

59<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 122 (Hervorhebungen bei<br />

Fröbel).<br />

60<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 127.<br />

61<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 302 (Hervorhebung bei Fröbel).<br />

62<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 130.<br />

63<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 303.<br />

12


MIP 2008/09 15. Jhrg. Philipp Erbentraut – Radikaldemokratisches Denken im Vormärz: zur Aktualität der Parteientheorie Julius Fröbels<br />

Aufsätze<br />

weder die Abgeordneten des Volksrats noch diejenigen<br />

des Senats durch ein imperatives Mandat<br />

an die Weisungen der Urversammlungen gebunden.<br />

64<br />

Insofern relativiert sich Fröbels Repräsentationskritik<br />

im Nachhinein. Sie ist trotz kerniger Parolen<br />

nicht als generelle Ablehnung des Parlamentarismus<br />

zu deuten 65 , sondern als Warnung vor<br />

einer Verselbständigung von Amt und Würden.<br />

Die Repräsentanten sollen ihre Rolle nicht dahingehend<br />

missverstehen, als seien sie tatsächlich<br />

Stellvertreter des Volkes, während sie doch<br />

in Wahrheit nur Beauftragte desselben sind:<br />

„solange Staatsämter etwas Anderes sind als die auf das<br />

Gemeinwesen gehenden Geschäftskreise der Bürger, – solange<br />

Titel als Ehrenzeichen gebraucht werden, und die<br />

Anrede mit Du nicht wieder die einzige gebräuchliche geworden<br />

ist, – hat man die sittliche Grundlage eines freien<br />

Staatslebens noch nicht einmal begriffen.“ 66<br />

Fazit und Ausblick<br />

Die kritische Rekonstruktion der Parteientheorie<br />

Julius Fröbels hat zu einem ambivalenten Befund<br />

geführt. Fest steht, dass die Aufnahme politischer<br />

Parteien in den Verfassungsaufbau für die<br />

deutsche Staatslehre des Vormärz einen ideengeschichtlich<br />

revolutionären Durchbruch markiert.<br />

Der Hauptunterschied zum Denken seiner Zeitgenossen<br />

besteht bei Fröbel darin, dass er Parteien<br />

nicht als rein soziologische Integrationsgrößen<br />

fasst, sondern sie – auch gegen die konstitutionelle<br />

Wirklichkeit seiner Zeit – als reale, politische<br />

Organisationseinheiten begreift. Durch die<br />

64<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 305. Zur Begründung KOCH,<br />

S. 134. GÖHLER/ KLEIN sehen hier allerdings eine Verbindung<br />

der Prinzipien des imperativen und des freien<br />

Mandats, da die Mitglieder des Volksrats zwar nicht an<br />

die Instruktionen der Urversammlungen gebunden, ihnen<br />

aber dennoch rechenschaftspflichtig sind und im<br />

Falle von Dissens auch abberufen und durch andere<br />

Abgeordnete ersetzt werden können. Vgl.: S. 426.<br />

65<br />

Anders DURNER, Wolfgang: Antiparlamentarismus in<br />

Deutschland, Würzburg 1997. S. 43. Der Autor sieht in<br />

Fröbels Ausführungen die „früheste linke Radikalkritik<br />

am Parlamentarismus und das erste konsequente Gegenmodell“.<br />

66<br />

FRÖBEL, System, Bd. 2, S. 149 (Hervorhebung bei Fröbel).<br />

Dazu auch KOCH, S. 134 und GÖHLER/ KLEIN, S.<br />

428.<br />

Anerkennung der Parteien als de facto Staatsorgane<br />

wird die Hegelsche Trennung von Staat<br />

und Gesellschaft überwunden. Die Einheit des<br />

Staatsganzen sieht Fröbel durch vernünftigen Interessenpluralismus<br />

nicht gefährdet. Im Gegenteil:<br />

Es ist die vornehmliche Aufgabe legitimer<br />

Opposition, die Regierung herauszufordern, für<br />

die eigenen Ziele Werbung zu betreiben und um<br />

Wählerstimmen zu kämpfen. Dabei äußert sich<br />

der Autor auch zu Fragen, die für Forschung und<br />

Öffentlichkeit nach wie vor brandaktuell sind, so<br />

etwa zur Möglichkeit des Verbots verfassungswidriger<br />

Parteien. Zieht man dann noch in Betracht,<br />

dass viele seiner Forderungen heute im<br />

Grund- und Parteiengesetz der Bundesrepublik<br />

Deutschland verwirklicht sind, könnte man mit<br />

einigem Recht zu der Einschätzung gelangen,<br />

Julius Fröbel sei ein „Wegbereiter des modernen<br />

Parteienstaates“ 67 .<br />

Gleichwohl ist seine Konzeption – das hat die<br />

Lektüre ebenfalls gezeigt – mit Vorsicht zu genießen.<br />

Sie erweist sich bei näherer Betrachtung<br />

als vielschichtig und mehrdeutig und ist nicht<br />

einfach eine Theorie des modernen Parteienstaates<br />

– „eher fast das Gegenteil“ 68 . Eingebettet in<br />

höhere Zwecke und eine utopische Fortschrittserzählung<br />

der Geschichte sind die modernen<br />

Parteien der heutigen Verfassungsstaaten nämlich<br />

nur als Übergangsstufe konzipiert. Sie werden<br />

zu Auslaufmodellen, sobald alle gesellschaftlichen<br />

und politischen Konflikte befriedet<br />

sind. Fragt man zudem, wo auf der Ebene konkreter<br />

Ausgestaltung der Staatsorgane die Parteien<br />

letztlich bleiben, so muss man etwas ratlos<br />

konstatieren, dass sie verschwunden sind. In Fröbels<br />

Gesamtentwurf eines auf der Grundlage der<br />

direkten Demokratie organisierten Gemeinwesens<br />

wirken sie ohnehin seltsam fremd und spielen<br />

im weiteren Verlauf der konzeptionellen Entwicklung<br />

auch keine Rolle mehr. 69 Warum er die<br />

Parteien überhaupt rechtlich verankert sehen<br />

wollte und so viel Mühe darauf verwendet, sie<br />

seinem Verfassungsentwurf einzupassen, ist –<br />

soweit ich es überblicke – noch ein blinder Fleck<br />

der Fröbel-Forschung.<br />

67<br />

KOCH, S. 108.<br />

68<br />

GÖHLER/ KLEIN, Julius Fröbel, S. 428.<br />

69<br />

BERMBACH, Julius Fröbel, S. 363.<br />

13


Aufsätze Philipp Erbentraut - Radikaldemokratisches Denken im Vormärz: zur Aktualität der Parteientheorie Julius Fröbels<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Die Frage ist nun, wie sich diese erheblichen<br />

Widersprüche ins Konstruktive wenden lassen.<br />

Dazu schlage ich vor, über Fröbels Parteientheorie<br />

hinauszugehen und seine radikaldemokratischen<br />

Ideale als Denkanstoß für ein institutionelles<br />

Reformprojekt des bestehenden politischen<br />

Systems in Deutschland zu nutzen, das dem Postulat<br />

staatsbürgerlicher Selbstbestimmung gerecht<br />

wird, mehr Entscheidungskompetenzen an<br />

der Basis bündelt und somit zugleich auf die seit<br />

Jahren massiv geübte Kritik an den politischen<br />

Parteien in der Bundesrepublik 70 reagiert. Dabei<br />

kann es natürlich nicht darum gehen, die von<br />

Fröbel für das 19. Jahrhundert ausbuchstabierten<br />

Lösungen ohne Umstand auf die heute völlig<br />

veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse zu<br />

übertragen. Man muss aber nach den Ideen und<br />

Grundüberzeugungen fahnden, die den damaligen<br />

Optionen zu Grunde lagen. Genau wie<br />

Rousseau hat Fröbel im Namen der Volkssouveränität<br />

ein striktes Autonomiekonzept verfochten.<br />

Anders als die Rousseau-Kritik im Anschluss<br />

an Carl Schmitt behauptet, ging es bei<br />

dieser Form „identitärer Demokratie“ aber niemals<br />

um die „Identität von Herrschenden und<br />

Beherrschten“ 71 , sondern um die Identität von<br />

Gesetzgebenden und Gesetzesadressaten 72 . Hier<br />

wäre der Hebel anzusetzen, indem man die Bürger<br />

daran erinnert, nur diejenigen Gesetze als le-<br />

70<br />

Zum Stand der normativen Debatte vgl.: ALEMANN, Ulrich<br />

von: Brauchen wir noch politische Parteien?, in:<br />

Peter Häberle u. a. (Hrsg.), Festschrift für Dimitris Th.<br />

Tsatsos zum 70. Geburtstag, Baden-Baden 2003. S. 1–<br />

10 sowie MORLOK, Martin: Lob der Parteien, in: Jahrbuch<br />

der Juristischen Gesellschaft Bremen, Bd. 2, Bremen<br />

2001. S. 53–75.<br />

71<br />

So immer noch KRIELE, Einführung in die Staatslehre,<br />

S. 237.<br />

72<br />

Rousseau weist ausdrücklich und von sich aus auf die<br />

Schwierigkeiten und Gefahren der Selbstregierung hin.<br />

Die Hindernisse sind aus seiner Sicht so groß, dass die<br />

demokratische Regierungsform „ein Volk von Göttern“<br />

erfordert. Vgl.: ROUSSEAU, Gesellschaftsvertrag, S. 74.<br />

An seinem generellen Plädoyer für die republikanische<br />

Staatsform ändert diese Einschätzung natürlich nichts.<br />

Eine Autorin, die diese Lesart seit Jahren energisch<br />

vertritt, ist die Frankfurter Politikwissenschaftlerin Ingeborg<br />

Maus. Vgl: MAUS, Ingeborg: Zur Aufklärung<br />

der Demokratietheorie: rechts- und demokratietheoretische<br />

Überlegungen im Anschluß an Kant, Frankfurt am<br />

Main 1994. S. 201.<br />

gitim anzuerkennen, die sie sich selbst gegeben<br />

haben.<br />

Herrschaft über Menschen abzubauen und durch<br />

die Selbstbestimmung des Individuums zu ersetzen,<br />

ist seit Karl Marx’ berühmter Beschreibung<br />

der Pariser Kommune auch der Grundgedanke<br />

aller rätedemokratischen Entwürfe. 73 Derartige<br />

Überlegungen sehen sich allerdings mit einer<br />

ganzen Reihe von teils vernünftigen Einwänden<br />

konfrontiert, die vor allem auf die generelle Organisationslogik<br />

des Rätesystems und negative<br />

historische Erfahrungen abheben. Der Blick in<br />

die Geschichte kann aber nicht an die Stelle systematischer<br />

Widerlegung treten. Zudem beziehen<br />

die erstgenannten Bedenken ihre Triftigkeit<br />

oft aus allgemeinen Strukturproblemen industrieller<br />

Gesellschaften und können deshalb in ähnlicher<br />

Weise auch gegenüber parlamentarischen<br />

Regierungssystemen in Stellung gebracht werden.<br />

74<br />

Abstrahiert man einmal vom Grundsatz des ursprünglich<br />

proletarischen Charakters der Basisorganisationen,<br />

lassen sich die immer wieder genannten<br />

Hauptelemente des Rätesystems – politische<br />

Willensbildung von unten nach oben, geringer<br />

Institutionalisierungsgrad der Parteien und<br />

Verbände, imperatives Mandat usw. – auch als<br />

Maßnahmenkatalog einer auf dem Prinzip der<br />

Volkssouveränität basierenden direkten Demokratie<br />

lesen. Was spräche eigentlich dagegen,<br />

das bestehende parlamentarische System, durch<br />

das Experiment einer „dezentralisierten Gesetzgebung“<br />

75 zu ergänzen, die sich anstelle der Betriebe<br />

als unterste Organisationseinheiten auf<br />

Stadtteilversammlungen und kommunale Ortschaftsräte<br />

stützt?<br />

In der Tat gab es in Teilen der deutschen Arbeiterbewegung<br />

bereits zu Beginn der Weimarer<br />

Republik Überlegungen, die Rätedemokratie mit<br />

dem parlamentarischen Repräsentativsystem zu<br />

versöhnen – zum Beispiel durch die Einrichtung<br />

73<br />

MARX, Karl: Der Bürgerkrieg in Frankreich (1871), in:<br />

MEW, Bd. 17, Berlin 1964. S. 313–362 (338ff.)<br />

74<br />

BERMBACH, Udo: Organisationsprobleme direkter Demokratie,<br />

in: Ders. (Hrsg.), Theorie und Praxis der direkten<br />

Demokratie. Texte und Materialien zur Räte-<br />

Diskussion, Opladen 1973. S. 13–32 (27).<br />

75<br />

MAUS, Zur Aufklärung..., S. 224.<br />

14


MIP 2008/09 15. Jhrg. Philipp Erbentraut – Radikaldemokratisches Denken im Vormärz: zur Aktualität der Parteientheorie Julius Fröbels<br />

Aufsätze<br />

einer obersten Rätekörperschaft als zweiter<br />

Kammer neben dem Reichstag. 76 Ganz ähnliche<br />

Pläne zur Erweiterung der Legislative verfolgte<br />

Julius Fröbel mit der Installation eines aus regionalen<br />

Urversammlungen hervorgegangenen<br />

Volksrates. Ohne an dieser Stelle auf die organisatorischen<br />

Einzelheiten dieses Kompromissmodells<br />

von direkter Demokratie und Repräsentativsystem<br />

näher eingehen zu können, ist damit<br />

die Perspektive für ein radikaldemokratisches<br />

Reformprojekt im Anschluss an Julius Fröbel eröffnet.<br />

76<br />

KUHN, Axel: Die deutsche Arbeiterbewegung, Stuttgart<br />

2004, S. 265ff.<br />

15


Aufsätze Alemann/Bäcker/Schmidt – Politische Korruption im staatlichen Bereich der Mitgliedstaaten der EU MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Politische Korruption im staatlichen<br />

Bereich der Mitgliedstaaten<br />

der Europäischen Union:<br />

Bestandsaufnahme der Regelungen zur Korruptionsbekämpfung,<br />

Kontexte und Empfehlungen<br />

1<br />

Prof. Dr. Ulrich von Alemann, Alexandra<br />

Bäcker 2 , Christian K. Schmidt, M.A. 3<br />

Inhalt<br />

1. Einleitung.....................................................17<br />

2. Konzeptionen politischer Korruption...........18<br />

2.1. Multiple Dimensionen der Korruption......18<br />

2.2. Korruption im Blickfeld der Rechtswissenschaft..............................................18<br />

2.3. Sozialwissenschaftliche Konzeptionen<br />

politischer Korruption...............................20<br />

2.3.1. Dimensionen politischer Korruption......20<br />

2.3.2. Typen der Korruption.............................22<br />

1<br />

Der vorliegende Text gründet auf Ergebnissen der<br />

EUKorr-Studie, die durch das Institut für Deutsches<br />

und Europäisches Parteienrecht (<strong>PRuF</strong>) durchgeführt<br />

wurde. Die Autoren danken allen, die an dem Projekt<br />

mitgewirkt und mitgeholfen haben, zunächst den Projektpartnern<br />

in Athen und Rom, die den Großteil der<br />

Länderstudien zu verantworten haben, auf denen der<br />

Bericht und dieser Aufsatz gründet, also dem Centre<br />

for European Constitutional Law (CECL) unter der<br />

wissenschaftlichen Leitung von Prof. Xenophon Contiadis<br />

und seinen Mitarbeitern sowie dem Lehrstuhl<br />

für vergleichendes Verfassungsrecht an der Universität<br />

La Sapienza unter der Leitung von Prof. Paolo Ridola<br />

und seinem Mitarbeiter Dr. Andrea De Petris. Im Einzelnen<br />

soll an dieser Stelle den Projektmitarbeitern am<br />

<strong>PRuF</strong> Florian Eckert und Florence Tadros Morgane sowie<br />

für wertvolle Kommentare, Hinweise und Kritik<br />

vor allem Herrn Sebastian Roßner gedankt werden.<br />

2<br />

Die Koautorin ist Rechtsanwältin der Anwaltskanzlei<br />

Steffen & Bäcker, Hattingen, und Wissenschaftliche<br />

Mitarbeiterin des <strong>PRuF</strong> .<br />

3<br />

Der Koautor arbeitet am Lehrstuhl Prof. v. Alemanns.<br />

2.4. Ausgangsdefinition der Studie..................23<br />

3. Methoden und Vorgehen der Studie.............23<br />

3.1. Rechts- und politikwissenschaftliche<br />

Perspektiven des Vergleichs.....................23<br />

3.2. Methodisches Vorgehen............................24<br />

4. Zentrale Ergebnisse der Studie.....................26<br />

4.1. Dimensionen der Regelungen zu Korruption,<br />

ihrer Kontexte und Handlungsoptionen...........................................................26<br />

4.1.1. Integrität.................................................26<br />

4.1.2. Kontrolle................................................27<br />

4.1.3. Transparenz............................................28<br />

4.1.4. Sanktionen..............................................28<br />

4.1.5. Interdependenz der Dimensionen Integrität,<br />

Kontrolle, Transparenz, Sanktionen..........................................................29<br />

4.2. Starke Heterogenität der Bekämpfung und<br />

Prävention von Korruption.......................30<br />

5. Empfehlungen zu Strategien der Korruptionsbekämpfung<br />

und Korruptionsprävention......37<br />

5.1. Verbesserung des Kenntnisstandes...........37<br />

5.2. Intensivierung der Gesetzgebung gegen<br />

Korruption.................................................38<br />

5.3. Umsetzung von Antikorruptionsmaßnahmen...........................................................38<br />

5.4. Förderung der Korruptionsforschung........39<br />

Tabellen<br />

Tabelle 1: Spezifische Antikorruptionsmaßnahmen<br />

in den Mitgliedstaaten: Öffentlicher<br />

Dienst (1).........................................................31<br />

Tabelle 2: Spezifische Antikorruptionsmaßnahmen<br />

in den Mitgliedstaaten: Öffentlicher<br />

Dienst (2).........................................................32<br />

Tabelle 3: Spezifische Antikorruptionsmaßnahmen<br />

in den Mitgliedstaaten: Parlament/<br />

Abgeordnete (1)...............................................33<br />

Tabelle 4: Spezifische Antikorruptionsmaßnahmen<br />

in den Mitgliedstaaten: Parlament/<br />

Abgeordnete (2)...............................................34<br />

16


MIP 2008/09 15. Jhrg. Alemann/Bäcker/Schmidt – Politische Korruption im staatlichen Bereich der Mitgliedstaaten der EU Aufsätze<br />

1. Einleitung<br />

In der Zeit vom Dezember 2005 bis zum Juni<br />

2007 führte das Institut für Deutsches und Europäisches<br />

Parteienrecht und Parteienforschung<br />

(<strong>PRuF</strong>) in Kooperation mit zwei Instituten aus<br />

Griechenland und Italien – Κέντρο Ευρωπαϊκού<br />

Συνταγματικού Δικαίου (Centre for European<br />

Constitutional Law (CECL) und Università di<br />

Roma „La Sapienza“, Prof. Ridola, ordinario di<br />

diritto pubblico comparato (Lehrstuhl für vergleichendes<br />

Verfassungsrecht – LS Ridola) –<br />

eine Studie zur politischen Korruption im staatlichen<br />

Bereich der damals 25 Mitgliedsländer der<br />

Europäischen Union durch. Diese Studie soll<br />

hier in groben Zügen vorgestellt werden. Dies<br />

muss sehr eingeschränkt erfolgen, da der Abschlussbericht<br />

selbst über 500 Seiten umfasst.<br />

Das Projekt wurde durch die Europäische Kommission<br />

im AGIS-Programm gefördert. Ziel war,<br />

Antikorruptionsmaßnahmen und ihre Kontexte<br />

zu studieren und Vorschläge zur Bekämpfung<br />

der Korruption, Verbesserungen des bisherigen<br />

Bestandes an Regelungen und der Korruptionskontrolle<br />

vorzuschlagen. Um dies zu erreichen,<br />

wurde die Situation der Korruption im staatlichen<br />

Bereich der Mitgliedsländer in folgenden<br />

Dimensionen untersucht:<br />

- Systematisierung und Beurteilung der Instrumente<br />

zur Erhebung der Korruption im öffentlichen<br />

Sektor, wie statistische Erhebungen<br />

öffentlicher wie privater Stellen,<br />

- die Korruption betreffende allgemeine normative<br />

Vorgaben wie Korruptionsbekämpfungsgesetze,<br />

Legaldefinitionen des Begriffs<br />

Korruption,<br />

- Strategien und Konzeptionen der Kontrolle<br />

und Ahndung und die entsprechenden Einrichtungen,<br />

- die Analyse der Rolle und Funktion folgender<br />

Gruppen im Zusammenhang mit der<br />

Korruptionsproblematik:<br />

o<br />

o<br />

Akteure in öffentlicher Verwaltung, öffentliche<br />

Mittel- und Personalbewirtschaftung,<br />

Abgeordnete der nationalen Parlamente,<br />

o<br />

o<br />

politische Amtsträger,<br />

politische Parteien, ihre Rechtsstellung,<br />

Parteienfinanzierung, Rechenschaftslegung.<br />

Um sich der Problemstellung nähern zu können,<br />

musste zu Beginn der Begriff der Korruption<br />

und anzuwendende theoretische Ansätze und<br />

schließlich eine – wenn auch vorläufige – Definition<br />

der Korruption für diese Untersuchung<br />

festgelegt werden. Erschwert wurde dies durch<br />

den Umstand, dass Korruption einer unüberschaubaren<br />

Vielfalt von Konzeptionen unterliegt.<br />

Dies wird zunächst dadurch deutlich, dass bis<br />

vor wenigen Jahren von bedeutenden Stimmen<br />

aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft Korruption<br />

als ein Phänomen eingeschätzt wurde,<br />

das teilweise nützlich und förderlich, zumindest<br />

aber zu dulden sei. Es wurde argumentiert, dass<br />

Korruption zur Unterstützung eines erfolgreichen<br />

Modernisierungsprozesses als eine Art Kollateralschaden<br />

hingenommen werden müsse.<br />

Denn die Modernisierung der Entwicklungswelt,<br />

der Dritten Welt, verlange eine Aufgabe des Traditionalismus,<br />

der Stammeskulturen und des Klientelismus<br />

zugunsten rationaler Entscheidungsstrukturen,<br />

wie sie in einer globalisierten Welt<br />

gefordert seien. Genauso müsse nach der Auflösung<br />

der Zweiten Welt, des sozialistischen<br />

Blocks Anfang der 1990er Jahre, die kommunistische<br />

Nomenklatura mit ihrem Bürokratismus<br />

und Staatszentrismus liquidiert werden, um rationalen<br />

Wettbewerbsstrukturen des Marktes<br />

Platz zu machen. Auch hier gab es neoliberale<br />

Ökonomen, die den Wert von Privatisierungen<br />

der Staatsökonomie höher schätzten als Übergangsphänomene<br />

durch Bestechung und<br />

Schmiergeld.<br />

Solche verharmlosende Einstellungen zur Korruption<br />

haben sich spätestens seit der Mitte der<br />

1990er Jahre gewandelt. Korruption wird nicht<br />

mehr als Kavaliersdelikt oder Anpassungs- und<br />

Übergangsproblem aufgefasst. Auch empirisch<br />

ließ sich zeigen: Korruption führt nicht nur<br />

volkswirtschaftlich letztlich stets zu Kostensteigerungen<br />

und Fehlallokationen, sondern mittelund<br />

langfristig auch betriebswirtschaftlich zu<br />

17


Aufsätze Alemann/Bäcker/Schmidt – Politische Korruption im staatlichen Bereich der Mitgliedstaaten der EU MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Mehrausgaben, Qualitäts- und Vertrauensverlusten.<br />

Und sie führt – dies erscheint noch schwerwiegender<br />

– zu Akzeptanz- und Vertrauensverlusten<br />

der Bevölkerung in das politische System.<br />

4 Dies haben auch die OECD, der Europarat<br />

und die UN und auch die EU erkannt. Deshalb<br />

hat sie mit OLAF eine Institution installiert, die<br />

Betrug und Korruption innerhalb der EU-Institutionen<br />

bekämpft. OLAF leistet hier eine wichtige<br />

und erfolgreiche Arbeit, die mit dieser Studie<br />

nicht behandelt wurde.<br />

2. Konzeptionen politischer Korruption<br />

2.1. Multiple Dimensionen der Korruption<br />

Die große Vielfalt der Definitionen und Definitionsversuche<br />

des Begriffs Korruption und das<br />

Ziel der Studie, Grundlagen für die Beurteilung<br />

bestehender Regelungen und für die Entwicklung<br />

neuer Aspekte des Begriffs zu entwickeln,<br />

sprachen gegen ein starres Festlegen auf eine<br />

Definition von Korruption. So durfte und sollte<br />

sich im Laufe der Studie die Konzeption von<br />

Korruption weiterentwickeln. Dennoch bedurfte<br />

es am Anfang einer begrifflichen Eingrenzung<br />

des Untersuchungsgegenstandes Korruption;<br />

denn es musste festgelegt werden, welche Phänomene<br />

in den Blick genommen werden. Unsere<br />

operationale Definition 5 von Korruption durfte<br />

sich im Laufe der Untersuchung nach festgelegten<br />

Regeln durch die qualitativen Analysen verändern.<br />

Dass es bisher keinen ausreichend etablierten<br />

Begriff, kein vorherrschendes Konzept von Korruption<br />

gibt, durfte uns daher nicht hindern, der<br />

Korruption im Sinne einer Ausgangsdefinition<br />

einen konkret umrissenen Inhalt zuzuschreiben.<br />

Dies allerdings nicht im Sinne einer unumstößli-<br />

4<br />

Vgl. u. a. Susan Rose-Ackerman, 1999: Corruption<br />

and Government. Causes, Consequences, and Reform.<br />

Cambridge, S. 143–174.<br />

5<br />

Vgl. z.B. Jürgen Friedrichs, Methoden empirischer<br />

Sozialforschung, Opladen, 1980, S. 73-81 sowie Dieter<br />

Opp, Methodologie der Sozialwissenschaften: Einführung<br />

in Probleme ihrer Theorienbildung und praktischen<br />

Anwendung, Wiesbaden, 2006.<br />

chen Festlegung der Begriffsinhalte. Vielmehr<br />

sollte sich der Begriff im Verlauf der Studie, die<br />

in wesentlichen Zügen induktiv angelegt war,<br />

weiterentwickeln und gegebenenfalls ändern, da<br />

wir noch Unbeachtetes zu Korruption entdecken<br />

wollten. Es war ein konkreter Ausgangspunkt<br />

festzulegen und der Rahmen und die Regeln der<br />

möglichen Fortentwicklung zu beschreiben. Die<br />

nötige Grundlage für die Bestimmung eines Ausgangspunkts<br />

und die Regeln für die Weiterentwicklung<br />

sollen im Folgenden kurz umrissen<br />

werden.<br />

2.2. Korruption im Blickfeld der Rechtswissenschaft<br />

Eine einheitliche Definition des Begriffs „Korruption“<br />

hält selbst die Rechtswissenschaft nicht<br />

bereit, obwohl der Begriff durchaus Verwendung<br />

findet. Sowohl der Gesetzgeber als auch die juristische<br />

Literatur greifen auf die Bezeichnung<br />

Korruption zurück, um bestimmte Lebenssachverhalte<br />

zusammenfassend zu charakterisieren.<br />

Umso überraschender ist, dass es dennoch an einer<br />

allgemein konsentierten Begriffsbestimmung<br />

fehlt.<br />

Häufig wird der Korruptionsbegriff in einem<br />

strafrechtlichen Sinne, quasi als Oberbegriff für<br />

bestimmte Straftatbestände, etwa Vorteilsannahme,<br />

Vorteilsgewährung, Bestechlichkeit und Bestechung,<br />

gebraucht. Den Korruptionsbegriff<br />

durch eine an Strafgesetzen orientierte Definition<br />

zu verengen, wird dem mit der Studie verfolgten<br />

Zweck jedoch keinesfalls gerecht. Die<br />

Einschränkung – und zugegebenermaßen doch<br />

immerhin mögliche Präzisierung – des (juristischen)<br />

Korruptionsbegriffs auf ein gewolltes<br />

Konstrukt an Strafrechtsnormen, dessen jeweiliger<br />

Inhalt variiert in Abhängigkeit von historischen,<br />

wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und<br />

politischen Gegebenheiten, vermag nicht das allgemeine<br />

– auch rechtswissenschaftlich relevante<br />

– Spektrum möglicher missbräuchlicher Verhaltensweisen<br />

zu erfassen.<br />

Eine reine Orientierung an Strafnormen blendet<br />

das noch straflose Vorfeld korruptiver Handlungen<br />

ebenso aus wie die zwar missbräuchlichen<br />

18


MIP 2008/09 15. Jhrg. Alemann/Bäcker/Schmidt – Politische Korruption im staatlichen Bereich der Mitgliedstaaten der EU Aufsätze<br />

und verbotenen, aber – noch – nicht strafbaren<br />

Verhaltensweisen. Darüber hinaus können die<br />

Übergänge von der Legalität zur Illegalität sehr<br />

unscharf sein. Ob ein bestimmter Sachverhalt<br />

einen gesetzlichen Tatbestand erfüllt, kann mitunter<br />

in der Rechtswissenschaft und der Rechtsprechung<br />

streitig sein. 6 Unabhängig davon, ob<br />

sich diese Unsicherheiten auf konkrete Umstände<br />

des zur Entscheidung anstehenden Einzelfalles<br />

zurückführen lassen oder ob eine Neuregelung<br />

von Strafbarkeiten ursächlich sein mag,<br />

lässt sich jedenfalls stets ein gewisser Graubereich<br />

ausmachen, der die Einordnung eines bestimmten<br />

Verhaltens in die Kategorien legal und<br />

illegal deutlich erschwert. Eine zu enge, an<br />

Strafgesetzen orientierte Begriffsbestimmung ist<br />

daher abzulehnen; hierdurch würde der Zugang<br />

zu den verschiedenen Spielarten korruptiven<br />

Verhaltens systematisch verstellt, so dass letztlich<br />

nur eine Teilmenge dessen, was als korruptives<br />

Handeln bezeichnet werden kann, beschrieben<br />

würde.<br />

Ein weiteres Verständnis eines Korruptionsbegriffs<br />

spiegelt demgegenüber das deutsche „Gesetz<br />

zur Bekämpfung der Korruption“ 7 wider.<br />

Zwar enthält es seinem Schwerpunkt nach Änderungen,<br />

Erweiterungen und Verschärfungen<br />

strafrechtlich geregelter Korruptionsdelikte sowie<br />

damit einhergehende verfahrensrechtliche<br />

Folgeregelungen. Daneben werden jedoch auch<br />

einige dienstrechtliche Ergänzungen betreffend<br />

die Annahme von Belohnungen und Geschenken<br />

diverser Amtsträger vorgenommen. Obwohl das<br />

Gesetz den Begriff Korruption im Titel trägt,<br />

enthält es sich einer näheren Festlegung des Korruptionsbegriffs.<br />

Einerseits veranschaulicht diese<br />

gesetzgeberische Enthaltsamkeit bestehende Unsicherheiten<br />

bei der Bestimmung der Reichweite<br />

des Korruptionsbegriffs. Andererseits verdeutlichen<br />

die Regelungsinhalte des Gesetzes jedoch,<br />

dass eine strafrechtliche Verengung des Korrup-<br />

6<br />

Als aktuelles Beispiel mag hier die in Deutschland erst<br />

kürzlich geänderte Rechtsprechung bezogen auf die<br />

Strafbarkeit kommunaler Ratsmitglieder sein. Während<br />

zuvor die für Amtsträger geltenden Vorschriften für<br />

einschlägig befunden wurden, findet jetzt der Tatbestand<br />

der Abgeordnetenbestechung Anwendung.<br />

7<br />

Gesetz zur Bekämpfung der Korruption vom 13. August<br />

1997, Bundesgesetzblatt 1997 Teil I Seite 2038.<br />

tionsbegriffs unzureichend ist. Allerdings können<br />

auch die Regelungsinhalte des Korruptionsbekämpfungsgesetzes<br />

nur begrenzt Aufschluss<br />

geben über die Inhalte eines potentiellen juristischen<br />

Korruptionsbegriffs, denn auch mit dieser<br />

straf- und disziplinarrechtlich verengten Betrachtung<br />

werden wiederum nur Teilbereiche dessen<br />

erfasst, was unter den Korruptionsbegriff fallen<br />

könnte.<br />

Nehmen wir das Fallbeispiel Deutschland. Vorschriften<br />

und Regeln, die Korruption verhindern<br />

oder zumindest einschränken sollen, finden sich<br />

nicht nur in den offensichtlich korruptionsbezogenen<br />

straf- und disziplinarrechtlichen Normen,<br />

sondern darüber hinaus in vielen Bundes- und<br />

Landesgesetzen bis hin zu Verordnungen und<br />

Richtlinien, die Zuständigkeiten und Befugnisse<br />

festlegen und die Ordnungsmäßigkeit der Verfahren<br />

regeln. Wiederum gibt es unübersichtlich<br />

viele Gesetze und Vorschriften, die unter anderem<br />

als Kontrollinstrumentarien gegen die Korruption<br />

gedacht sind. So etwa das Haushaltsrecht,<br />

die Gesetze über Beamtenrechte und<br />

-pflichten, interne und externe Rechnungsprüfung,<br />

aber auch z.B. die Beschaffungsregeln.<br />

Viele Verwaltungsträger haben auch interne Regelungen<br />

zur Korruptionsprävention getroffen.<br />

Im weitesten Sinne zählen zu den korruptionsrelevanten<br />

Regelungen alle Vorschriften, die<br />

Machtteilung, die Herstellung von Transparenz,<br />

die Gewährleistung von Kontrolle und die Ahndung<br />

von Verstößen gegen vorgenannte Vorgaben<br />

zum Gegenstand haben. Eine Annäherung<br />

an einen Korruptionsbegriff im rechtlichen Sinne<br />

kann daher nicht isoliert das Straf- und Disziplinarrecht<br />

in den Blick nehmen. Stets ist der Blick<br />

auch auf die flankierenden Maßnahmen in allen<br />

anderen den öffentlichen Sektor betreffenden<br />

Rechtsmaterien zu richten.<br />

Trotz dieser bewusst in Kauf genommenen Ungenauigkeiten<br />

kann hinsichtlich der Folgen von<br />

Korruption davon ausgegangen werden, dass<br />

Korruption auf moralischer wie ökonomischer<br />

Ebene schädlich ist. Ersteres ist offensichtlich,<br />

denn man darf annehmen, dass ein vorherrschendes<br />

Regel- und Normensystem Schaden nimmt,<br />

wenn es durch Verstöße geschwächt und verdorben<br />

wird. Der ökonomische Schaden war bis vor<br />

19


Aufsätze Alemann/Bäcker/Schmidt – Politische Korruption im staatlichen Bereich der Mitgliedstaaten der EU MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

kurzem zumindest umstritten. Die Auffassung,<br />

Korruption sei in bestimmten Situationen, so<br />

während Transformationsprozessen in Entwicklungsländern,<br />

nützlich, ist nun (wie oben erwähnt)<br />

weitgehend widerlegt. Denn unverhältnismäßig<br />

hohe bürokratische Hürden wurden<br />

letztlich nicht durch Korruption überwunden,<br />

sondern wegen derselben erst errichtet oder verstärkt.<br />

Lambsdorff hat den ökonomischen Schaden<br />

sogar berechnet, der durch stärkere Korruption<br />

entsteht. 8<br />

2.3. Sozialwissenschaftliche Konzeptionen politischer<br />

Korruption<br />

2.3.1. Dimensionen politischer Korruption<br />

Die Vielfalt wird potenziert, zieht man die Sozialwissenschaften,<br />

im Besonderen politikwissenschaftliche,<br />

soziologische sowie ökonomische<br />

Konzeptionen zu Rate, um Korruption zu fassen.<br />

Das lateinische Verb corrumpere bedeutet verderben.<br />

Im sozialwissenschaftlichen Bereich, der<br />

uns neben dem juristischen interessiert, ist es die<br />

Gesellschaft, die verdorben wird, konkreter die<br />

sozialen Beziehungen und sozialen Regeln. 9 Eng<br />

verwoben sind die ökonomischen Kontexte. 10 Jeder<br />

scheint zu wissen, was Korruption ist. Dennoch<br />

liegt keine vorherrschende oder gar einheitliche<br />

Definition von Korruption vor. 11 Kor-<br />

ruption kann eine unüberschaubar große Zahl<br />

von Einzelphänomenen umfassen.<br />

Korruption ist keinesfalls nur ein Phänomen<br />

neuerer Zeit, auch wenn dieser Eindruck mitunter<br />

entstehen mag. Es ist vielmehr festzustellen,<br />

dass Korruption zu bestimmten Zeiten und in bestimmten<br />

Kontexten unterschiedlich bestimmt<br />

und mehr oder weniger stark wahrgenommen<br />

wurde. Bereits in der Bibel, im Neuen wie im<br />

Alten Testament, in der griechischen wie römischen<br />

Antike, im alten China und zu anderen<br />

Epochen an weiteren Orten war Korruption bekannt;<br />

sie wurde beschrieben und es wurde zu<br />

ihrer Bekämpfung aufgerufen. 12 Es gibt unzählige<br />

Auffassungen von Korruption in der<br />

Menschheitsgeschichte. Festzuhalten bleibt, dass<br />

zumeist beides, Handlungen und Zustände der<br />

Gesellschaft, unter Korruption verstanden wurde<br />

und dass Korruption mit Regelverstoß und gesellschaftlichem<br />

Verfall konnotiert wurde.<br />

Diese Vielfalt gründet vor allem darin, dass Definitionen<br />

und Konzepte entscheidend von der<br />

Fragestellung, vom Betrachtungswinkel abhängen.<br />

Dies wird durch folgende Typisierung bzw.<br />

Kategorisierung deutlich, welche die Korruptionsforschung<br />

in mehrere Dimensionen ordnet. 13<br />

Der Begriff „Dimension“ verdeutlicht hier besonders,<br />

dass es sich um ein aktiv betrachtetes<br />

Phänomen handelt, das durch verschiedene Perspektiven<br />

bestimmt werden kann, die sich nicht<br />

gegenseitig ausschließen sondern ergänzen aber<br />

auch ggf. relativieren können.<br />

8<br />

Johann Graf Lambsdorff, Wieso schadet Korruption?,<br />

in: Ulrich von Alemann (Hrsg.), Dimensionen politischer<br />

Korruption, Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft<br />

35, S. 233-248.<br />

9<br />

Vgl. z.B. Christian Höffling, Korruption als soziale<br />

Beziehung, Opladen, 2002.<br />

10<br />

Vgl. u.a. Johann Graf Lambsdorff, Wieso schadet Korruption?,<br />

in: Ulrich von Alemann (Hrsg.), Dimensionen<br />

politischer Korruption, Politische Vierteljahresschrift,<br />

Sonderheft 35, S. 233-248.<br />

11<br />

Vgl. Michael Johnston, Keeping the Answers, Changing<br />

the Questions: Corruption Definitions Revisited,<br />

in: Ulrich von Alemann (Hrsg.), Dimensionen politischer<br />

Korruption, Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft<br />

35, Wiesbaden 2005, S. 61-76 sowie Christian<br />

Höffling, Korruption als soziale Beziehung, Opladen<br />

2002.<br />

Korruption als sozialer Verfall<br />

Eine lange gebräuchliche, die jeweilige Gesellschaft<br />

in den Blick nehmende Auffassung betrachtet<br />

Korruption als Folge und Ursache eines<br />

zyklischen Auf- und Niedergangs einer Gesellschaft.<br />

Korruption wird als Auf und Ab normati-<br />

12<br />

Ulrich von Alemann, Politische Korruption: Ein Wegweiser<br />

zum Stand der Forschung, in: ders. (Hrsg.), Dimensionen<br />

politischer Korruption, Politische Vierteljahresschrift,<br />

Sonderheft 35, Wiesbaden 2005, S. 13-<br />

49.<br />

13<br />

Ulrich von Alemann, 2004: The unknown depths of<br />

political theory. The case for a multidimensional<br />

concept of corruption, in: Crime, Law & Social<br />

Change 42, S. 25-34.<br />

20


MIP 2008/09 15. Jhrg. Alemann/Bäcker/Schmidt – Politische Korruption im staatlichen Bereich der Mitgliedstaaten der EU Aufsätze<br />

ver Werte gesehen. Wechselnde Eliten bringen<br />

bestehende Ordnungssysteme zu Fall, um sie<br />

durch die eigene Vorherrschaft zu ersetzen. Der<br />

Wandel von politischen Systemen dieser Art beruht<br />

auf durch Saturiertheit verursachtem Verfall<br />

sozial-moralischer Qualitäten der Bürger.<br />

Schließlich bilden sich neue soziale moralische<br />

Qualitäten. 14<br />

Korruption als abweichendes Verhalten<br />

Zunächst ist zu dieser Dimension die berühmte<br />

Definition für Korruption von Senturia 15 zu nennen:<br />

"Misuse of public power for private profit“.<br />

Um sie gruppieren sich die modernen sozialwissenschaftlichen<br />

Definitionen der Korruption.<br />

An dieser Dimension wird kritisiert, dass die Kategorien<br />

zu weit seien. Dies mag allerdings zum<br />

Vorteil gereichen, wenn möglichst umfassend<br />

der Korruption verdächtige Phänomene gesammelt<br />

werden sollen, wie dies Ziel unserer Studie<br />

war.<br />

Ein mit den Prinzipal-Agenten-Konzeptionen<br />

verwandtes Modell ist durch von Alemann formuliert<br />

worden. Es erscheint vorteilhaft, da es<br />

nicht von dem Begriff der Öffentlichkeit und ihrer<br />

Trennung zum Privaten abhängt, sondern<br />

eher technischer Art ist, wenn es einen Entscheidungsträger<br />

in einer Organisation oder Behörde<br />

nennt, der gegen ein bestimmtes Gemeinwohl<br />

verstößt. So nennt das Modell der Austauschlogik<br />

notwendige Bedingungen.<br />

Das Austauschmodell von Alemann 16 umfasst<br />

sieben Komponenten:<br />

1. Der Nachfrager (der Korrumpierende) will<br />

2. ein knappes Gut (Auftrag, Konzession, Lizenz,<br />

Position),<br />

14<br />

Harald Bluhm/ Karsten Fischer, Korruption als Problem<br />

politischer Theorie, in: dies., Sichtbarkeit und<br />

Unsichtbarkeit der Macht: Theorien politischer Korruption,<br />

Baden-Baden 2002.<br />

15<br />

Joseph J. Senturia, Corruption, Political, in: Edwin<br />

R.A. Seligman (Hrsg.), Encyclopedia of the Social Sciences,<br />

New York 1931, S. 448-452.<br />

16<br />

Ulrich von Alemann, The unknown depths of political<br />

theory: The case for a multidimensional concept of<br />

corruption, in: Crime, Law and Social Change 42<br />

(2004), S. 29-31.<br />

3. das der Anbieter, der Entscheidungsträger in<br />

einer Organisation oder Behörde, also der Korrumpierte,<br />

vergeben kann.<br />

4. Er erhält einen persönlichen verdeckten Zusatzanreiz<br />

(Geld oder geldwerte Leistung) für die<br />

Vergabe über den normalen Preis hinaus und<br />

5. verstößt damit gegen öffentlich akzeptierte<br />

Normen und<br />

6. schadet damit Dritten, Konkurrenten und/oder<br />

dem Gemeinwohl.<br />

7. Deshalb findet Korruption versteckt, im Verborgenen<br />

statt.<br />

Medium des Tauschs ist bei jeder Art von Korruption<br />

Geld oder geldwerter Vorteil, über den<br />

eine formale oder informale Tauschvereinbarung,<br />

auch unausgesprochen, stattgefunden hat,<br />

zumindest aber vorstellbar ist.<br />

Da Korruption und ihre Handlungen selten direkt<br />

beobachtbar sind, wurde der Begriff der<br />

Schattenpolitik analog der Schattenwirtschaft<br />

entwickelt. 17 Wie informale Politik wird Schattenpolitik<br />

zunächst neutral betrachtet. Zur Beschreibung,<br />

Beurteilung und Bewertung von<br />

Korruption dient ein Kontinuum u.a. aus den Polen<br />

formal – informal, offen – vertraulich, legitim<br />

– illegitim, legal – illegal, regelmäßig – akzidentiell.<br />

Schattenpolitik und informale Politik<br />

sind nicht per se illegal bzw. illegitim usw. Sie<br />

umfassen wie die Schattenwirtschaft legale wie<br />

illegale Bereiche. Sie lassen sich am besten in<br />

oben Genanntem darstellen. Hierbei können<br />

durchaus Mischformen entstehen, dass heißt, bestimmte<br />

zu beurteilende Zustände oder Prozesse<br />

können auf einer Ebene auf Korruption deuten,<br />

auf einer anderen Ebene wiederum nicht.<br />

Weil Korruption selten direkt und konkret messbar<br />

ist, sind die Wahrnehmungen und deren<br />

Messung selbst oft entscheidend. Das bedeu-<br />

17<br />

Vgl. Ulrich von Alemann, Schattenpolitik: Streifzüge<br />

in die Grauzonen der Politik, in: Claus Leggewie<br />

(Hrsg.), Wozu Politikwissenschaft? Über das neue in<br />

der Politik, Darmstadt 1994; vgl. auch Ulrich von Alemann<br />

und Florian Eckert, Lobbyismus als Schattenpolitik,<br />

in: Aus Politik und Zeitgeschichte: Beilage zur<br />

Wochenzeitung Das Parlament, H. 15-16/2006, S. 3-<br />

10.<br />

21


Aufsätze Alemann/Bäcker/Schmidt – Politische Korruption im staatlichen Bereich der Mitgliedstaaten der EU MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

tendste Instrument zu dieser Dimension ist der<br />

Korruptionswahrnehmungsindex (Corruption<br />

Perceptions Index) der Non-Profit-Organisation<br />

Transparency International. Im Jahre 2008 wurden<br />

180 Länder in einem Ranking nach ihrer<br />

Korruptivität beurteilt. Der methodisch umstrittene<br />

Index wird aus mehreren Quellen, insbesondere<br />

aus Einschätzungen von Experten, gespeist.<br />

Die Wahrnehmung der Korruption kann gemessen<br />

und beurteilt werden und mit ihr die Korruption.<br />

Dies hat auch zur Folge, dass mit steigendem<br />

Erfolg der Korruptionsverfolgung die Korruption<br />

statistisch gesehen steigt. 18 Daher muss<br />

der Schwerpunkt der Korruptionsforschung hier<br />

weniger auf der rein quantitativen Messung als<br />

auf der Untersuchung der Wahrnehmung selbst<br />

liegen.<br />

In der Nähe dieser Kategorien lassen sich auch<br />

systemtheoretische Konzeptionen verorten, insbesondere<br />

Forschung soziologischer Natur, wie<br />

z.B. die Analysen von Höffling 19, oder von Morlok<br />

20 die, wie viele andere in diesem Bereich, auf<br />

Überlegungen Niklas Luhmanns gründen.<br />

2.3.2. Typen der Korruption<br />

Eine oft zur Typisierung genutzte zusätzliche,<br />

von den anderen genannten Dimensionen abhängige<br />

Dimension der Unterscheidung ist die Größe,<br />

Stärke und Persistenz der Korruption und damit<br />

die quantitative Gefährlichkeit und der Grad<br />

der Abweichung. Natürlich ist diese nie getrennt<br />

von qualitativen Perspektiven zu betrachten. Zu<br />

Zwecken der Analyse erscheint sie jedoch sinnvoll.<br />

Zu nennen sind hier zunächst die Unterscheidungen<br />

petty und grand corruption.<br />

18<br />

Ulrich von Alemann, The unknown depths of political<br />

theory: The case for a multidimensional concept of<br />

corruption, in: Crime, Law & Social Change 42<br />

(2004), S. 25-34.<br />

19<br />

Christian Höffling, Korruption als soziale Beziehung,<br />

Opladen 2002.<br />

20<br />

Martin Morlok, Politische Korruption als Entdifferenzierungsphänomen,<br />

in: Ulrich von Alemann (Hrsg.),<br />

Dimensionen politischer Korruption, Politische Vierteljahresschrift,<br />

Sonderheft 35, Wiesbaden 2005, S.<br />

135-152.<br />

Grand corruption liegt vor, wenn die zentralen<br />

Regelsysteme der Gesellschaft bzw. des Staates<br />

bereits erheblich erodiert sind. Grand corruption<br />

hat damit das Wesen der jeweiligen Gesellschaft<br />

deutlich verzerrt, während petty corruption<br />

gleichsam auf der Oberfläche des noch intakten<br />

Systems liegt; denn diese betrifft geringere Geldmengen<br />

und Gegenleistungen im Bereich des<br />

Nepotismus, Klientelismus usw. 21<br />

In vergleichbarer Weise unterscheidet Bannenberg<br />

22 in der Perspektive der Persistenz und Regelhaftigkeit<br />

der Korruption:<br />

1. Bagatell- oder Gelegenheitskorruption,<br />

2. gewachsene korruptive Beziehungen<br />

und<br />

3. Netzwerke der Korruption.<br />

Eine weitere Abstufung der Persistenz nimmt<br />

Heidenheimer 23 vor. Er unterscheidet nach Stärke<br />

der Korruption zwischen petty corruption,<br />

routine corruption und aggravated corruption.<br />

Neben der Stärke der Korruption nimmt er die<br />

Tolerierung durch die Gesellschaft in den Blick.<br />

Allerdings drängen bei seiner Abstufung bereits<br />

qualitative Aspekte deutlich in den Vordergrund.<br />

All diese Abstufungen gehen letztlich auf die<br />

Unterscheidung von akzidentieller und strukturell<br />

begründeter Korruption zurück – am ehesten<br />

beschreibbar durch die genannte Unterscheidung<br />

petty und grand corruption. Erstere tritt verein-<br />

21<br />

Vgl. United Nations General Assembly, UN-Konvention<br />

gegen Korruption, Report of the Ad Hoc Committee<br />

for the Negotiation of a Convention against Corruption<br />

on the work of its first to seventh sessions, 2004, S. 10-<br />

11 (http:www.unodc.org/pdf/crime/convention_corruption/session_7/422e.pdf,<br />

8.10.2004); Susan Rose-<br />

Ackerman, Groß angelegte Korruption und die Ethik in<br />

der globalen Wirtschaft, in: Ulrich von Alemann<br />

(Hrsg.), Dimensionen politischer Korruption, Politische<br />

Vierteljahresschrift, Sonderheft 35, Wiesbaden<br />

2005.<br />

22<br />

Britta Bannenberg, Korruption in Deutschland - Ergebnisse<br />

einer kriminologisch-strafrechtlichen Untersuchung,<br />

in: Hans Herbert von Arnim (Hrsg.), Korruption:<br />

Netzwerke in Politik, Ämtern und Wirtschaft,<br />

München 2003, S. 204-234.<br />

23<br />

Arnold Heidenheimer, Perspectives on the Perception<br />

of Corruption, in: ders./ Michael Johnston (Hrsg.),<br />

Political Corruption: Concepts and Contexts, New<br />

Brunswick, New Jersey 2002, S. 141-154.<br />

22


MIP 2008/09 15. Jhrg. Alemann/Bäcker/Schmidt – Politische Korruption im staatlichen Bereich der Mitgliedstaaten der EU Aufsätze<br />

zelt auf, Letztere gründet auf stabilen zeitlich<br />

unbegrenzt angelegten informellen Regeln. 24<br />

2.4. Ausgangsdefinition der Studie<br />

Bereits in dieser verkürzten Darstellung der<br />

Vielfalt der Konzeptionen wurde deutlich, dass<br />

wir eine beträchtliche Unschärfe des Begriffs der<br />

Korruption vorgefunden hatten. Auch wenn sich<br />

die vielen Aspekte der Korruption ordnen ließen,<br />

wie dies hier und an vielen anderen Stellen versucht<br />

wurde, musste vieles offen bleiben. Es war<br />

gleichwohl unerlässlich, einen festen Ausgangspunkt<br />

zu bestimmen, Korruption also für<br />

diese Untersuchung operational zu definieren,<br />

um die zu untersuchenden Regelungen, Normen<br />

und Phänomene auszuwählen. Diese Definition<br />

musste ausreichend weite Kategorien aufweisen,<br />

um den Blick auf Neues nicht gleich zu verstellen.<br />

Aus den Daten selbst sollten also induktiv<br />

Präzisierungen der Kategorien der Definition<br />

erfolgen. Ausgangspunkt ist die oft zitierte Definition<br />

von Senturia 25 : Hiernach ist Korruption<br />

Missbrauch öffentlicher Macht zu privatem Nutzen.<br />

Als handlungs- und nicht zustandsorientiert ausgerichteter<br />

Ansatz bot sie ausreichend weite Kategorien<br />

und blieb somit offen für viele Phänomene.<br />

3. Methoden und Vorgehen der Studie<br />

3.1. Rechts- und politikwissenschaftliche Perspektiven<br />

des Vergleichs<br />

Durch die kombinierte Anwendung von Methoden<br />

der Soziologie bzw. Politikwissenschaft und<br />

der Rechtswissenschaft, konnte in dieser Studie<br />

der Vielfalt der Normen und Kontexte zur Korruption<br />

umfassend und wirkungsvoll begegnet<br />

werden. Die methodische Vorgehensweise der<br />

Rechtsvergleichung ist die des funktionalen Vergleichs.<br />

26 Unter funktionaler Methode wird hier<br />

verstanden, die interessierenden Phänomene in<br />

Bezug zu bestimmten Problemen zu setzen und<br />

unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, ob und<br />

was sie zur Lösung dieser Probleme leisten können;<br />

es geht demnach um die Lösung des in<br />

Rede stehenden Problems. 27 Um einen Einfluss<br />

ausüben zu können, muss rechtsvergleichende<br />

Arbeit auf klar definierte Fragestellungen konzentriert<br />

sein und Ideen hervorbringen, die ohne<br />

Komplikationen in den Prozess der Rechtsreform<br />

oder die Entscheidung konkreter Rechtsstreitigkeiten<br />

einfließen können. Es geht demnach<br />

bei der funktionalen Betrachtung des Vergleichs<br />

um Problemdenken. 28 Dies bedeutet, dass<br />

die Rechtsvergleichung aus ihrer funktional denkenden<br />

Betrachtung heraus, nicht von einer bestimmten<br />

Norm, sondern von einzelnen Problemen<br />

her versucht, Lösungen zu entwickeln. 29<br />

24<br />

Ulrich von Alemann, Politische Korruption: Ein Wegweiser<br />

zum Stand der Forschung, in: ders. (Hrsg.), Dimensionen<br />

politischer Korruption, Politische Vierteljahresschrift,<br />

Sonderheft 35, Wiesbaden 2005, S. 32;<br />

Christian Höffling, Korruption als soziale Beziehung,<br />

Opladen 2002; Britta Bannenberg, Korruption in<br />

Deutschland - Ergebnisse einer kriminologisch-strafrechtlichen<br />

Untersuchung, in: Hans Herbert von Arnim<br />

(Hrsg.), Korruption: Netzwerke in Politik, Ämtern und<br />

Wirtschaft, München 2003, S. 206f.<br />

25<br />

Joseph J. Senturia, Corruption, Political, in: Edwin<br />

R.A. Seligman (Hrsg.), Encyclopedia of the Social Sciences,<br />

New York 1931, S. 448-452.<br />

26<br />

Martin Morlok, Rechtsvergleichung auf dem Gebiet<br />

der politischen Parteien, in: Dimitris Th. Tsatsos u.a.<br />

(Hrsg.), Parteienrecht im europäischen Vergleich, Baden-Baden,<br />

1. Auflage 1990, S. 695 (713); Christian<br />

Starck, Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, in:<br />

JZ 1997, S. 1021 (1028); Florian Haase, Einführung<br />

in die Methodik der Rechtsvergleichung, in: JA 2005,<br />

S. 232 (235); Oliver Brand, Grundfragen der Rechtsvergleichung<br />

– Ein Leitfaden für die Wahlfachprüfung,<br />

in: JuS 2003, S. 1082 (1086).<br />

27<br />

Martin Morlok, Rechtsvergleichung auf dem Gebiet<br />

der politischen Parteien, in: Dimitris Th. Tsatsos u.a.<br />

(Hrsg.), Parteienrecht im europäischen Vergleich, Baden-Baden,<br />

1. Auflage 1990, S. 695 (713).<br />

28<br />

Martin Morlok, Rechtsvergleichung auf dem Gebiet<br />

der politischen Parteien, a. a. O.<br />

29<br />

Martin Morlok, Rechtsvergleichung auf dem Gebiet<br />

der politischen Parteien, a. a. O.<br />

23


Aufsätze Alemann/Bäcker/Schmidt – Politische Korruption im staatlichen Bereich der Mitgliedstaaten der EU MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Die Studie fokussierte auf den Vergleich konkreter<br />

korruptionsrelevanter Normen. Als unabhängige<br />

Variable des politikwissenschaftlichen Vergleichs<br />

wurde in der Studie das nationale Normenwerk<br />

und das Bewusstsein im Zusammenhang<br />

mit der Bekämpfung von Korruption operationalisiert;<br />

die Normen wirken sich wiederum<br />

auf die Möglichkeit korrupten Verhaltens aus.<br />

Demnach gilt Korruption, ihre Schwere – wahrgenommene<br />

wie tatsächlich vorhandene – als abhängige<br />

Variable.<br />

Im Zusammenhang mit der Erhebung der korruptionsrelevanten<br />

Normen wendete die Studie<br />

das Verfahren des Vergleichs auf einen Staatenverbund<br />

an, dessen Mitgliedschaft gleichermaßen<br />

die vollständige Übernahme des gesamten<br />

gemeinschaftlichen Besitzstandes (acquis communautaire)<br />

erfordert. Im Blickfeld der Studie<br />

stand eine durch einheitliche normative Ansprüche,<br />

Institutionen und Ziele geprägte Staatengemeinschaft.<br />

Zur Untersuchung der in dieser Perspektive<br />

homogenen Staatengruppe bietet sich<br />

die Differenzmethode für den Vergleich an. Zentrale<br />

Voraussetzung hierbei ist, möglichst viele<br />

konstante Umfeldvariablen zu extrahieren.<br />

Gleichwohl müssen sich die Staaten im Hinblick<br />

auf die abhängige Variable oder ihre möglichen<br />

unterschiedlichen Ausprägungen unterscheiden.<br />

Für die EU-Mitgliedstaaten können den Staatsaufbau<br />

betreffende Umfeldvariablen als konstant<br />

aufgefasst werden. Insofern hat sich die Studie in<br />

ihrem Verlauf nicht auf die konstanten Kontextvariablen<br />

konzentriert und diese nicht weiter<br />

berücksichtigt; sie bilden den Rahmen der Studie.<br />

Demnach entspricht der Untersuchungsgegenstand<br />

den Anforderungen der bereits von<br />

Mill entwickelten „Method of Difference“. 30 Somit<br />

basiert die Studie auf der Eliminierung von<br />

jenen Faktoren (unabhängige), für welche zunächst<br />

kein direkter Einfluss auf das korrupte<br />

Verhalten im öffentlichen Sektor (abhängige Variablen)<br />

postuliert wird. Als solche gelten in der<br />

Studie das politische System und die internationalen<br />

Konventionen. Demnach wird sich u.a.<br />

30<br />

Vgl. Hans Keman, Comparing political systems: Towards<br />

positive theory development, Working Papers<br />

Political Science, Universität Amsterdam 2006, S. 16<br />

(Hervorhebung im Original).<br />

nicht auf das politische System als Ganzes konzentriert,<br />

ebenso werden die von den EU-Mitgliedstaaten<br />

mehrheitlich ratifizierten internationalen<br />

Konventionen im Zusammenhang mit der<br />

Korruptionsbekämpfung nicht näher analysiert.<br />

Unterschiede bestehen hingegen im nationalstaatlichen<br />

Normenwerk bezüglich der Stellung<br />

politischer Mandatsträger, politischer Amtsträger<br />

und der Parteien. Deshalb konzentrierte sich<br />

der Fokus der Studie auf eben diese als die zentralen<br />

zu untersuchenden Akteure.<br />

3.2. Methodisches Vorgehen<br />

Um gleichzeitig deduktiv wie induktiv vorgehen<br />

zu können, einerseits Hypothesen zu prüfen und<br />

andererseits in bestimmten Gebieten neue zu generieren,<br />

wurde entschieden, eine schriftliche<br />

Befragung 31 von Experten mit vorwiegend offenen<br />

Fragen durchzuführen. Diese gemischte Methode<br />

erschien als die Angemessene. Sie ist<br />

mehr als eine Inhaltsanalyse, denn sie wird durch<br />

das Expertenwissen ergänzt. Sie ist dabei mehr<br />

als ein mündliches Experteninterview, denn<br />

durch die Schriftlichkeit und den durch sie ermöglichten<br />

größeren Zeitrahmen ist eine ausreichende<br />

Tiefe und Detailliertheit möglich. Das<br />

Instrument weist nicht die Defizite auf, die bei<br />

Anwendung der Instrumente Inhaltsanalyse bzw.<br />

Dokumentenanalyse und Expertengespräch auf<br />

unsere Fragestellung entstehen würden.<br />

Der Fragebogen an die Experten und die von ihnen<br />

erstellten Länderberichte gliederte sich zusammengefasst<br />

nach folgenden inhaltlichen<br />

Schwerpunkten:<br />

I. Erfassung der Instrumente zur Erhebung der<br />

Korruption im öffentlichen Sektor<br />

• Statistische Erhebungen öffentlicher<br />

Stellen zu Fragen der Korruption<br />

• Statistische Erhebungen privater Stellen<br />

zu Fragen der Korruption<br />

31<br />

Zum Instrument der schriftlichen Befragung vgl. z. B.<br />

Rainer Schnell u.a., Methoden empirischer Sozialforschung,<br />

7., völlig überarbeitete und erweiterte Aufl.,<br />

München/Wien 2005, S. 358-362.<br />

24


MIP 2008/09 15. Jhrg. Alemann/Bäcker/Schmidt – Politische Korruption im staatlichen Bereich der Mitgliedstaaten der EU Aufsätze<br />

II. Allgemeine korruptionsrelevante normative<br />

Vorgaben<br />

• Korruptionsbekämpfungsgesetze<br />

• Legaldefinition des Begriffs Korruption<br />

• Legalitäts-/Opportunitätsprinzip<br />

• Informationsfreiheitsrecht<br />

III. Kontrolle und Ahndung<br />

• Verwaltungseinrichtungen mit korruptionspräventiven<br />

und –bekämpfenden Aufgaben<br />

• Parlamentarische Kontrollgremien<br />

• Rolle von Medien, Wissenschaft und<br />

NGOs<br />

IV. Akteure<br />

1. Öffentliche Verwaltung<br />

a) Rechtsstellung im nationalen Normengefüge<br />

• Verwaltungsaufbau und Beschäftigungsstruktur<br />

• Besondere Rechte und Pflichten der Beschäftigten<br />

• Einkommenssituation<br />

• Privatisierung<br />

b) Öffentliche Mittelbewirtschaftung<br />

• Aufgaben und Befugnisse von Kontrolleinrichtungen<br />

• Vergabewesen<br />

c) Öffentliches Dienstrecht und Personalbewirtschaftung<br />

• Einfluss politischer Parteien auf die Beschäftigungsstruktur<br />

• Nebentätigkeiten<br />

• Innerbehördliche Antikorruptionsmaßnahmen<br />

(Institutionen, Kontrollen, Verhaltensrichtlinien)<br />

• Unzulässige Einflussnahme: Straf-, Disziplinarrecht<br />

und Sanktionen<br />

2. Abgeordnete des nationalen Parlaments<br />

a) Rechtsstellung im nationalen Normengefüge<br />

• Abgeordnetenstatus<br />

• Abgeordnetengehalt/ Einkommenssituation<br />

• Inkompatibilitäten<br />

b) Nebeneinkünfte von Abgeordneten des nationalen<br />

Parlaments<br />

• Nebentätigkeiten<br />

• Offenlegungspflichten<br />

c) Unzulässige Einflussnahme<br />

• Abgeordnetenbestechung<br />

• Andere Sanktionsmöglichkeiten<br />

• Verhaltensrichtlinien<br />

3. Politische Amtsträger<br />

a) Rechtsstellung im nationalen Normengefüge<br />

• Rechtsstellung<br />

• Einkommenssituation<br />

• Inkompatibilitäten<br />

b) Nebeneinkünfte von politischen Amtsträgern<br />

• Nebentätigkeiten<br />

• Offenlegungspflichten<br />

c) Unzulässige Einflussnahme<br />

• Strafrechtliche Sanktionsmöglichkeiten<br />

• Andere Sanktionsmöglichkeiten<br />

• Verhaltensrichtlinien<br />

4. Politische Parteien<br />

a) Rechtsstellung im nationalen Normengefüge<br />

• Rechtliche Regelungen<br />

• Rechtsform/ Organisationscharakter<br />

b) Parteienfinanzierung<br />

• Staatliche Finanzierung<br />

• Private Finanzierung/ Spendenverbote<br />

c) Rechenschaftslegung<br />

• Offenlegungspflichten<br />

• Veröffentlichungspflichten<br />

• Sanktionsmöglichkeiten bei Verletzung<br />

der Rechenschaftspflichten<br />

V. Schlussbetrachtung<br />

• Vermutete Hauptursachen für Korruption<br />

• Vermutete Hauptgebiete der Korruption<br />

• Einfluss von Korruptionsskandalen auf<br />

die Gesetzgebung<br />

• Best practice-Beispiele für Mechanismen<br />

der Korruptionsbekämpfung<br />

25


Aufsätze Alemann/Bäcker/Schmidt – Politische Korruption im staatlichen Bereich der Mitgliedstaaten der EU MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Die Ergebnisse der Experten wurden inhaltsanalytisch<br />

ausgewertet, überprüft und durch eigene<br />

Recherchen ergänzt. Die ermittelten Daten zur<br />

Korruption waren – wie zuvor erwartet worden<br />

war – in einigen Aspekten homogen in anderen<br />

heterogen. Zum einen waren viele Regelungen<br />

vorhanden, die durch die Hypothesen aus Konventionen<br />

oder vorhandenen Gesetzgebungen<br />

abgeleitet wurden. Andererseits wurden Befunde<br />

ermittelt, die nicht in das entwickelte Kategoriensystem<br />

passten, so dass dieses weiter entwickelt<br />

werden musste. Des Weiteren gab es<br />

großen Bedarf an induktiver Ermittlung von neuen<br />

Regelungen zumindest in Detailfragen.<br />

4. Zentrale Ergebnisse der Studie<br />

4.1. Dimensionen der Regelungen zu Korruption,<br />

ihrer Kontexte und Handlungsoptionen<br />

An dieser Stelle können nur die zentralen Ergebnisse<br />

und Empfehlungen wiedergegeben werden.<br />

Eine angemessen detaillierte Beschreibung bietet<br />

der über 500 Seiten starke Endbericht des Projekts.<br />

Die Kombination aus Perspektiven verschiedener<br />

Fächer und der beschriebene Methoden-Mix<br />

ermöglichte eine systematische Ordnung<br />

und Bewertung der vorhandenen Normen<br />

und ihrer Kontexte. Die Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung<br />

lassen sich, so ein zentrales<br />

Ergebnis der Studie, in vier Dimensionen bzw.<br />

Kategorien von Handlungsoptionen einordnen:<br />

Integrität, Kontrolle, Transparenz, Sanktionen.<br />

Entlang dieser durch die Studie entwickelten Kategorien<br />

konnten bestehende Regelungen und<br />

Kontexte beurteilt und neue Strategien vorgeschlagen<br />

werden.<br />

4.1.1. Integrität<br />

Integrität ist ein komplexer Begriff, der eng die<br />

Übereinstimmung zwischen abstrakt formulierten<br />

Werten und tatsächlicher Lebenspraxis bezeichnet.<br />

In dieser Sichtweise ist einerseits eine<br />

Person zum Teil selbst dafür verantwortlich, sich<br />

integer zu verhalten. Teilweise hängt Integrität<br />

aber auch von den gesellschaftlichen Lebensbedingungen<br />

ab. Ziel von Antikorruptionsmaßnahmen,<br />

die ein korruptionsresistentes Umfeld staatlicher<br />

Entscheidungsabläufe bewirken sollen, ist<br />

es daher, die Akteure innerhalb des öffentlichen<br />

Sektors frühzeitig für die Gefahren der Korruption<br />

zu sensibilisieren und gegenüber Korruption<br />

zu immunisieren sowie einen korruptionsresistenten<br />

organisatorischen Handlungsrahmen zu<br />

schaffen. In den Blick geraten hier auf der einen<br />

Seite die Werte, Normen und Denkhaltungen,<br />

die Einstellungen und das Verhalten aller Akteure<br />

sowie auf der anderen Seite die Organisationsstrukturen<br />

und die Verfahrensgestaltung innerhalb<br />

der staatlichen Institutionen, die den<br />

Handlungsrahmen der Akteure vorgeben.<br />

Der erste Aspekt zielt darauf, Korruptionspräventionsüberlegungen<br />

in das Berufsverständnis<br />

und die Arbeitskultur der Akteure zu integrieren,<br />

indem die Achtung bestimmter Werte, wie Unbestechlichkeit<br />

und Transparenz, als Forderung<br />

des eigenen Gewissens im Rahmen der Dienstethik<br />

verankert werden. Dies kann durch Information,<br />

Öffentlichkeitsarbeit, Verbesserung der<br />

Führungskultur, Mitarbeiterentwicklung, Ausbau<br />

einer Lob- und Anerkennungskultur, gezielte<br />

Ausbildungsangebote usw. positiv beeinflusst<br />

werden. In Betracht kommen hier unter anderem<br />

Bemühungen, die darauf abzielen<br />

• innerhalb der Institution unter Beteiligung<br />

möglichst vieler Zugehöriger für ethische<br />

Regeln oder Verhaltenskodizes (beispielsweise<br />

zu sensiblen Themen wie Befangenheit,<br />

Geschenkannahme, Nebenbeschäftigungen,<br />

Vortragstätigkeiten) einen Grundkonsens<br />

herzustellen und praktische Empfehlungen<br />

zu erarbeiten;<br />

• durch gewissenhafte Auswahl und ständige<br />

Weiterbildung der Mitarbeiter Kompetenz<br />

und Verantwortlichkeit zu stärken;<br />

• bereits durch frühzeitige Ausbildungsmaßnahmen<br />

in der fachlichen Grundausbildung<br />

bei neueintretenden Mitarbeitern für eine<br />

Verankerung von Korruptionspräventionsüberlegungen<br />

in dem Berufsverständnis Sorge<br />

zu tragen;<br />

26


MIP 2008/09 15. Jhrg. Alemann/Bäcker/Schmidt – Politische Korruption im staatlichen Bereich der Mitgliedstaaten der EU Aufsätze<br />

• durch Aus- und ständige Weiterbildung die<br />

Führungskräfte zu befähigen, mögliche Anzeichen<br />

für Korruption zu erkennen, dagegen<br />

wirksam aufzutreten und darin zu bestärken,<br />

in jeder Situation vorbildliches Verhalten zu<br />

zeigen;<br />

• durch Steigerung der Mitarbeiterzufriedenheit<br />

und -motivation die ethische Grundhaltung<br />

der Unbestechlichkeit in dem Bewusstsein<br />

möglichst vieler zu verankern (z.B.<br />

durch ein als gerecht empfundenes leistungsgerechtes<br />

Lohn- und Gehaltsystem, durch<br />

einen die Eigenverantwortlichkeit fördernden<br />

Aufgabenzuschnitt und selbstbestimmtes<br />

Arbeiten, durch Steigerung des Selbstwertgefühls<br />

durch Lob und Anerkennung).<br />

Der zweite Aspekt betrifft die Integritätsförderung<br />

innerhalb der Organisation, vor allem bezogen<br />

auf Verfahrensabläufe. Klare Zuständigkeitsregeln,<br />

eine effiziente, transparente und<br />

qualitätsgesicherte Ablauforganisation sowie optimale<br />

Rahmenbedingungen für die Arbeit, sowohl<br />

in der Gestaltung, als auch in der Ausstattung<br />

des Arbeitsplatzes, geraten hier in den<br />

Blick.<br />

Für das Funktionieren einer demokratisch und<br />

rechtsstaatlich organisierten Gesellschaft gilt es,<br />

die Integrität des Einzelnen wie der Institutionen<br />

zu stärken. Angesichts dessen ist Integrität nicht<br />

nur ein Frage des Wertebewusstseins, die Angelegenheit<br />

des Einzelnen, der Amtsträger, Politiker<br />

und Parlamentarier. Integrität bedarf auch<br />

notwendiger Anpassungen auf struktureller Ebene,<br />

einer Implementierung in die Organisationsund<br />

Amtskultur. Integrität muss das allgemeine<br />

Verständnis prägen und unterstützt werden durch<br />

konkrete Maßnahmen und Regeln.<br />

4.1.2. Kontrolle<br />

Kontrollinstitutionen und Kontrollmechanismen<br />

dienen der Gewährleistung und Verbesserung<br />

staatlicher Entscheidungsprozesse, die darauf<br />

zielen, recht- und zweckmäßige, im öffentlichen<br />

Interesse liegende, verhältnismäßige Entscheidungen<br />

hervorzubringen. In diesem Sinne ist<br />

Kontrolle eine nichtdelegierbare Aufgabe von<br />

Vorgesetzten, Aufsichts- und Kontrollorganen<br />

und umfasst sowohl die Überprüfung des Verfahrens<br />

als auch des Ergebnisses der Entscheidungsfindung<br />

sowie das Veranlassen von Korrekturmaßnahmen<br />

und, wenn von den Kompetenzen<br />

umfasst und notwendig, das Verhängen<br />

von Sanktionen.<br />

Es kann zwischen internen und externen Kontrollen<br />

unterschieden werden, wobei unter internen<br />

Kontrollmechanismen solche verstanden<br />

werden sollen, die innerhalb der einzelnen Behörde<br />

institutionalisiert und in die behördlichen<br />

Arbeitsabläufe integriert sind, also arbeitsbegleitend<br />

erfolgen oder dem Arbeitsvollzug unmittelbar<br />

vor- oder nachgelagert sind. Externe Kontrolle<br />

wird demgegenüber von außerhalb der zu<br />

kontrollierenden organisatorischen Einheit ausgeübt,<br />

d.h. die Kontrollaufgabe ist auf andere –<br />

hier allerdings ebenfalls staatliche – übergeordnete<br />

Rechtsträger, wie Aufsichts- und Kontrollbehörden,<br />

übertragen.<br />

Dabei bestehen sowohl interne als auch externe<br />

Kontrollsysteme aus systematisch gestalteten organisatorischen<br />

Maßnahmen und Kontrollen zur<br />

Einhaltung von Gesetzen, Richtlinien und zur<br />

Abwehr von Schäden, die durch das eigene Personal<br />

oder Dritte verursacht werden können. Die<br />

Kontrollsysteme können Aktivitäten ebenso wie<br />

Einrichtungen umfassen.<br />

Als interne Kontrollaktivitäten kommen z.B.<br />

schriftliche oder mündliche Weisungen zum<br />

Umgang mit personenbezogenen Daten oder zur<br />

Abwehr illegaler Vorgänge im Bereich der Mittelverwaltung<br />

oder auch die Einrichtung des<br />

Vieraugenprinzips bei Auftragsvergaben in Betracht.<br />

Interne Kontrolleinrichtungen sind beispielsweise<br />

die Internen Revisionen bei den einzelnen<br />

Behörden, die Korruptions- oder Ethikausschüsse<br />

der Parlamente, sofern sie der Kontrolle<br />

der parlamentsinternen Vorgänge dienen.<br />

Rechnungshöfe, zentrale Ombudsmänner, Aufsichtsbehörden<br />

und spezielle Antikorruptionsbehörden<br />

gehören demgegenüber zu den externen<br />

Kontrolleinrichtungen.<br />

Kontrollmaßnahmen erfüllen dabei generell drei<br />

Funktionen: erstens eine Vertrauensfunktion, in-<br />

27


Aufsätze Alemann/Bäcker/Schmidt – Politische Korruption im staatlichen Bereich der Mitgliedstaaten der EU MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

dem sie im Sinne der organisatorischen Entscheider,<br />

der übergeordneten Instanzen und unter<br />

Umständen auch der Öffentlichkeit ermitteln, ob<br />

und gegebenenfalls dass Prozesse ordnungsgemäß<br />

ablaufen, Gesetze und Verordnungen eingehalten<br />

werden usw.; zweitens eine Präventivfunktion,<br />

indem sie das Entdeckungsrisiko für<br />

Personen, die nicht normgerecht handeln oder zu<br />

handeln beabsichtigen, erhöhen; drittens eine Informationsfunktion,<br />

indem sie durch Schaffung<br />

von Transparenz über Prozesse und Organisationseinheiten<br />

zur Unterstützung der Entscheidungsfindung<br />

der Organisationsleitung beitragen.<br />

4.1.3. Transparenz<br />

Der Begriff der Transparenz wird im Zusammenhang<br />

mit der Bekämpfung von Korruption<br />

häufig verwendet; die wohl bekannteste private<br />

Organisation zur Bekämpfung von Korruption<br />

– Transparency International – führt ihn etwa in<br />

ihrem Namen. Ungeachtet dieser großen Verbreitung<br />

ist durchaus undeutlich, was genau mit<br />

Transparenz gemeint ist. Im hier verstandenen<br />

Sinne dienen Maßnahmen der Transparenz einer<br />

kontrollierbaren Gestaltung der Entscheidungsabläufe<br />

und -ergebnisse sowie deren Dokumentation.<br />

Auch nach diesem Verständnis bleibt der<br />

Begriff der Transparenz aber voraussetzungsreich.<br />

Transparenz ist danach von verschiedenen<br />

Faktoren abhängig: zum einen von der Auswahl<br />

der Informationen (was wird dokumentiert), von<br />

der Qualität der Informationen (vollständig,<br />

wahr, klar, adäquat) und von der Verwendung<br />

der Informationen (von wem wird in welcher<br />

Weise von der Dokumentation Gebrauch gemacht,<br />

Ermöglichung eines zeitgerechten und effektiven<br />

Zugangs).<br />

In der Ausprägung der Vorhersehbarkeit und<br />

Nachprüfbarkeit des Verwaltungshandelns für<br />

die „Normunterworfenen“ ist eine transparente<br />

Verwaltung im öffentlichen Sektor vor allem<br />

auch auf die Herstellung von Öffentlichkeit gerichtet.<br />

Dies betrifft einerseits die Fragen, in<br />

welchem Umfang und in welcher Weise die Bürger<br />

von Daten, Entscheidungsabläufen, Akten<br />

etc. Kenntnis nehmen können. Andererseits ist<br />

es aber auch wichtig, die Korruptionsbekämpfung<br />

innerhalb des öffentlichen Sektors mit interner<br />

und externer Öffentlichkeitsarbeit zu unterstützen<br />

und zu begleiten. Das Veröffentlichen<br />

der Antikorruptionsbemühungen kann Signalwirkung<br />

gegenüber Bürgern und Wirtschaft entfalten<br />

sowie Integritätsverlust und Rufschädigung<br />

des öffentlichen Sektors begrenzen helfen,<br />

indem Werte und Normen der Institution und<br />

seiner Mitglieder an die jeweilige Zielgruppe<br />

(Bürger, Wähler) kommuniziert werden, wodurch<br />

deren Einstellung zum öffentlichen Sektor<br />

allgemein sowie zur Korruption im besonderen<br />

nachhaltig beeinflusst werden kann.<br />

Allgemein kann durch Herstellung von Transparenz<br />

und Öffentlichkeit dem Versuch Einzelner,<br />

die Situation durch Korruption zu beeinflussen,<br />

Grenzen gesetzt werden. Transparenz und Öffentlichkeit<br />

helfen, inoffizielle Absprachen, die<br />

Umgehung gesetzlich vorgeschriebener Verfahren<br />

(z.B. Vergabeverfahren), die Abkürzung<br />

oder widerrechtliche Beschleunigung von Verwaltungsabläufen,<br />

das Erkaufen günstiger Entscheidungen<br />

zu verhindern: weil der Korruption<br />

als „Handeln im Verborgenen“ der Nährboden<br />

entzogen wird.<br />

4.1.4. Sanktionen<br />

Der Begriff Sanktionen bezeichnet in der Soziologie<br />

Formen der Organisation von sozialen Prozessen<br />

und hat in dieser Betrachtung eine neutrale<br />

Bedeutung, d.h. er wird sowohl für negative<br />

als auch für positive Handlungskonsequenzen<br />

verwendet. In diesem Sinne wären Belobigungen,<br />

anerkennende Bemerkungen oder eine Beförderung<br />

auch "Sanktionen". Diese Art positive<br />

Handlungskonsequenzen sollen hier allerdings<br />

nicht dem Bereich der Sanktionen, sondern – aus<br />

Sicht der Korruptionsforschung zutreffender –<br />

den Maßnahmen einer korruptionsresistenten<br />

Umfeldgestaltung zugerechnet werden.<br />

Der Begriff Sanktionen soll vielmehr, so wie in<br />

der Rechtswissenschaft üblich und es auch der<br />

allgemeine Sprachgebrauch nahe legt, als Reaktion<br />

auf einen Normbruch ausschließlich negati-<br />

28


MIP 2008/09 15. Jhrg. Alemann/Bäcker/Schmidt – Politische Korruption im staatlichen Bereich der Mitgliedstaaten der EU Aufsätze<br />

ve Handlungskonsequenzen umfassen. Diese allerdings<br />

in einem umfassenden Sinne, so dass<br />

nicht nur Strafen, Geldbußen oder Kündigungen<br />

hierunter zu verstehen sind, sondern jede Art<br />

von negativen Reaktionen der Umgebung auf<br />

das Handeln von Menschen, also auch negative<br />

Leistungsbeurteilungen, Kritik oder Missbilligung.<br />

Sanktionen sollen das Verhalten von Personen in<br />

einer Weise beeinflussen, dass nicht normgerechtes<br />

Handeln an Attraktivität verliert. Zieht<br />

ein bestimmtes Verhalten negative Reaktionen<br />

der Umgebung auf sich, wird die handelnde Person<br />

entmutigt. Deshalb steht zu erwarten, dass<br />

das unerwünschte Verhalten seltener wird, bestenfalls<br />

sogar ganz unterbleibt. Wichtiger Einflussfaktor<br />

für die erwünschte Verhaltensänderung<br />

bzw. -anpassung ist die Regelmäßigkeit,<br />

mit der von Sanktionen Gebrauch gemacht wird.<br />

An eine stete Regelmäßigkeit bei der Sanktionierung<br />

eines bestimmten Verhaltens ist die Erwartung<br />

geknüpft, dass die negativen Handlungskonsequenzen<br />

die Handelnden dauerhaft zu<br />

normgerechtem Verhalten bewegen können.<br />

4.1.5. Interdependenz der Dimensionen Integrität,<br />

Kontrolle, Transparenz, Sanktionen<br />

Die verschiedenen Handlungsoptionen stehen<br />

nicht beziehungslos nebeneinander, vielmehr bedingen<br />

sie sich teilweise gegenseitig, setzen einander<br />

voraus oder haben Auswirkungen aufeinander.<br />

So kann Kontrolle ohne Transparenz nicht<br />

stattfinden. Die Öffentlichkeit, verstanden als<br />

Adressat transparenter Verfahren und Entscheidungen,<br />

ist ihrerseits Kontrollinstitution. Kontrolle<br />

kann als Präventionsmaßnahme im Einklang<br />

mit einer zu entwickelnden Integritätskultur<br />

stehen. Sachgerechte und in vernünftigem<br />

Umfang eingeführte Kontrollen können Unverantwortlichkeiten,<br />

Leistungsabfall und eine Geringschätzung<br />

der eigenen Arbeit verhindern helfen.<br />

Andererseits vermögen Überreglementierungen<br />

und eine zu hohe Kontrolldichte zu Demotivation,<br />

einer allgemeinen Misstrauenskultur,<br />

dem Verlust an Eigenverantwortlichkeit und damit<br />

einer mangelnden Identifikation mit der eigenen<br />

Arbeit zu führen. Der Weg zu einer vernünftigen<br />

Prüfungskultur innerhalb des öffentlichen<br />

Sektors, die diese Zielkonflikte ausbalanciert,<br />

kann auch über das Ethik- und Wertemanagement<br />

führen. Die für die Integrität des Einzelnen<br />

wie der Organisation maßgeblichen Aspekte<br />

wie Wissen, Vertrauen und hohe ethische Standards<br />

ergänzen als informelle Kontrollmaßnahmen<br />

die formellen wie Rechts- und Fachaufsicht,<br />

finanzielle Kontrollen und Weisungen. Durch<br />

Kontrollen aufgedecktes Fehlverhalten zieht in<br />

aller Regel Sanktionen nach sich. Gleiches kann<br />

hinsichtlich der Nichtbeachtung von Integritätsstandards<br />

gelten.<br />

Diese Interdependenzen sind zwar bei näherer<br />

Betrachtung oft offensichtlich, scheinen bislang<br />

aber – wie auch die Auswertung der Länderberichte<br />

ergeben hat – wenig bis gar nicht in die<br />

Überlegungen, auf welche Weise den Gefahren<br />

der Korruption entgegenzuwirken ist, eingeflossen<br />

zu sein. Es entstand der Eindruck, dass die<br />

Korruptionsprävention und -bekämpfung kaum<br />

einer übergeordneten Vorstellung von einer<br />

wechselseitigen Verstärkung oder Unterstützung<br />

folgt und damit einem strukturell konsequenten<br />

Vorgehen entspricht. Vielmehr werden häufig<br />

punktuell und unübersichtlich für die verschiedensten<br />

Handlungszusammenhänge Maßnahmen<br />

ergriffen, ohne dass diese in ihren Auswirkungen<br />

aufeinander einer näheren Betrachtung unterzogen<br />

werden.<br />

Eine konsequente Einbeziehung dieser wechselseitigen<br />

Abhängigkeiten in die Maßnahmenkataloge<br />

der Korruptionsprävention und -bekämpfung<br />

der Mitgliedstaaten bedeutete einen wichtigen<br />

Schritt in Richtung der Entwicklung einer –<br />

letztlich gemeineuropäischen – Antikorruptionsstrategie.<br />

Eine zentrale, öffentlich zugängliche<br />

Erfassung der Antikorruptionsmaßnahmen der<br />

EU-Mitgliedstaaten könnte hier fruchtbar gemacht<br />

werden. Generell kommen Verflechtungen<br />

zwischen allen Handlungsoptionen in Betracht.<br />

Allerdings haben nicht alle konkreten<br />

Maßnahmen und Regeln unmittelbare Auswirkungen<br />

auf alle anderen Handlungsoptionen.<br />

Die Einführung, Ausgestaltung und konkrete<br />

Umsetzung von Antikorruptionsmaßnahmen<br />

29


Aufsätze Alemann/Bäcker/Schmidt – Politische Korruption im staatlichen Bereich der Mitgliedstaaten der EU MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

sind auf eine übergeordnete, systematische, systemisch<br />

und gleichzeitig handlungsorientierte<br />

Planung angewiesen, sollen einzelne Maßnahmen<br />

in gewünschter Weise wirken und nicht gar<br />

kontraproduktiv sein. Vor diesem Hintergrund<br />

wurden die mitgliedsstaatlichen Maßnahmen unter<br />

dem veränderten Blickwinkel von Neuem untersucht.<br />

eigene Ermittlungsbefugnisse und unter Umständen<br />

darüber hinausgehende Exekutivbefugnisse<br />

haben, entsprechend der Erläuterung zu den<br />

Handlungsoptionen, der Kontrolle zugeordnet,<br />

die Einrichtungen mit ausschließlich beratenden<br />

und unterstützenden Funktionen dagegen der Integrität.<br />

Sofern Einrichtungen explizit beide<br />

Funktionen erfüllen, werden sie auch bei beiden<br />

Handlungsoptionen aufgeführt.<br />

4.2. Starke Heterogenität der Bekämpfung<br />

und Prävention von Korruption<br />

Eine Einordnung der mitgliedstaatlichen Antikorruptionsmaßnahmen<br />

in die Kategorien der<br />

vier zuvor geschilderten Handlungsoptionen verspricht<br />

eine bessere Übersicht und erlaubt bis zu<br />

einem bestimmten Grad eine Bewertung der mitgliedstaatlichen<br />

Antikorruptionsstrategien. Die<br />

Darstellung kann hier nur sehr verkürzt erfolgen.<br />

Die Aufmerksamkeit richtet sich dabei allein auf<br />

die spezifischen Antikorruptionsmaßnahmen,<br />

wohingegen allgemeine Rechtmäßigkeitskontrollen,<br />

die zwar auch, aber eben nicht gezielt Korruption<br />

in den Blick nehmen, außer Betracht<br />

bleiben.<br />

Dabei werden die mitgliedstaatlichen Aktivitäten<br />

der Korruptionsprävention und -bekämpfung bezogen<br />

auf den öffentlichen Dienst und die Parlamente<br />

bzw. Abgeordneten näher beleuchtet. Die<br />

politischen Amtsträger werden dagegen ebenso<br />

wie die politischen Parteien nicht einbezogen:<br />

Erstere, weil sie nach den mitgliedstaatlichen<br />

Regelungen ohnehin den für den öffentlichen<br />

Dienst und/oder den Abgeordneten geltenden<br />

Bestimmungen unterworfen sind; letztere, weil<br />

ihre Sonderstellung innerhalb des staatlichen Bereichs<br />

einer vergleichenden Auswertung in einer<br />

Gesamtbetrachtung entgegensteht.<br />

Die Zuordnung der von den Experten beschriebenen<br />

Institutionen, die der Korruptionsprävention<br />

und -bekämpfung dienen, zu Maßnahmen der<br />

Kontrolle bzw. der Integrität gestaltete sich mitunter<br />

schwierig, da die Kompetenzen der Einrichtungen<br />

im Detail mitunter nur lückenhaft beschrieben<br />

und/oder nur schwer zu ermitteln waren.<br />

Generell wurden solche Einrichtungen, die<br />

30


MIP 2008/09 15. Jhrg. Alemann/Bäcker/Schmidt – Politische Korruption im staatlichen Bereich der Mitgliedstaaten der EU Aufsätze<br />

Tabelle 1 Spezifische Antikorruptionsmaßnahmen in den Mitgliedstaaten: Öffentlicher Dienst (1)<br />

Mitgliedstaat<br />

Öffentlicher Dienst<br />

Kontrolle Transparenz Integrität Sanktionen<br />

Belgien<br />

keine spezielle Behörde<br />

allgemeine Informationsfreiheit<br />

Integrity Monitoring Department<br />

Strafrecht, Disziplinarrecht<br />

Dänemark<br />

keine spezielle Behörde<br />

allgemeine Informationsfreiheit<br />

interne Verhaltensrichtlinien<br />

Strafrecht<br />

Deutschland<br />

keine spezielle Behörde (teilweise<br />

lokale Antikorruptionsbeauftragte)<br />

allgemeine Informationsfreiheit<br />

überwiegend interne Verhaltensrichtlinien<br />

Strafrecht, Disziplinarrecht<br />

Estland<br />

keine spezielle Behörde<br />

allgemeine Informationsfreiheit<br />

Public Service Code of Ethics<br />

Strafrecht, Disziplinarrecht<br />

Finnland<br />

keine spezielle Behörde<br />

allgemeine Informationsfreiheit<br />

keine speziellen Maßnahmen<br />

Strafrecht<br />

Frankreich<br />

Service central de prévention de la<br />

corruption;<br />

Brigade centrale de lutte contre la<br />

corruption<br />

allgemeine Informationsfreiheit<br />

vereinzelt interne Verhaltensrichtlinien;<br />

vereinzelt lokale Ethik-Kommissionen<br />

Strafrecht, Disziplinarrecht<br />

Griechenland<br />

keine spezielle Behörde<br />

allgemeine Informationsfreiheit<br />

Public Servants Code<br />

Strafrecht, Disziplinarrecht<br />

Großbritannien<br />

keine spezielle Behörde<br />

allgemeine Informationsfreiheit<br />

Committee on Standards in Public Life;<br />

allgemeine Verhaltensrichtlinien<br />

Strafrecht, Disziplinarrecht<br />

allgemeine Informationsfreiheit;<br />

Standards in Public Office Commission;<br />

Irland<br />

keine spezielle Behörde<br />

Offenlegung Vermögen<br />

für höhere Beamte<br />

(öffentlich);<br />

Offenlegung Verbindung<br />

zu privaten Unternehmen<br />

(nicht öffentlich)<br />

Ethics in Public Office Acts 1995 und<br />

2001;<br />

Standards in Public Office Act 2001;<br />

Civil Service Code of Standards and Behaviour<br />

2004<br />

Strafrecht, Disziplinarrecht<br />

Italien<br />

Hochkommissar für Korruptionsprävention<br />

und -verhinderung<br />

allgemeine Informationsfreiheit<br />

allgemeine Verhaltensrichtlinien (Rechtsverordnung);<br />

befristetes Beschäftigungsverbot in der Privatwirtschaft<br />

für höhere Beamte nach Beendigung<br />

der Dienstzeit<br />

Strafrecht, Disziplinarrecht<br />

Lettland<br />

Büro zur Vorbeugung und Bekämpfung<br />

der Korruption;<br />

Committee on Supervising the Prevention<br />

and Combating of Corruption<br />

allgemeine Informationsfreiheit;<br />

Offenlegung erhaltener<br />

Geschenke (nicht<br />

öffentlich)<br />

allgemeine Verhaltensrichtlinien (Gesetz);<br />

interne Verhaltensrichtlinien<br />

Strafrecht, Disziplinarrecht<br />

Litauen<br />

Special Investigation Service;<br />

Interdepartmental Commission for<br />

Coordinating the Fight against Corruption<br />

allgemeine Informationsfreiheit<br />

Internal ethics Commissions;<br />

allgemeine Verhaltensrichtlinien (Gesetz);<br />

Schulungen (Gesetz);<br />

interne Verhaltensrichtlinien<br />

Strafrecht, Disziplinarrecht<br />

Luxemburg<br />

keine spezielle Behörde<br />

(Quelle: eigene Darstellung)<br />

keine allgemeine Informationsfreiheit;<br />

Anzeigepflicht für Interessenkonflikte<br />

(nicht öffentlich)<br />

keine speziellen Maßnahmen<br />

Strafrecht, Disziplinarrecht<br />

31


Aufsätze Alemann/Bäcker/Schmidt – Politische Korruption im staatlichen Bereich der Mitgliedstaaten der EU MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Tabelle 2 Spezifische Antikorruptionsmaßnahmen in den Mitgliedstaaten: Öffentlicher Dienst (2)<br />

Mitgliedstaat<br />

Öffentlicher Dienst<br />

Kontrolle Transparenz Integrität Sanktionen<br />

Malta<br />

Ständiger Ausschuss gegen<br />

Korruption<br />

keine allgemeine Informationsfreiheit<br />

(aber weitgehende Informationsrechte<br />

der Presse);<br />

Anzeigepflicht für Interessenkonflikte<br />

(nicht öffentlich)<br />

Ständiger Ausschuss gegen Korruption;<br />

allgemeine (Gesetz) und interne Verhaltensrichtlinien;<br />

Schulungen<br />

Strafrecht, Disziplinarrecht<br />

Niederlande<br />

Integritätsbeauftragte; Integritätsstellen<br />

allgemeine Informationsfreiheit<br />

Richtlinienkataloge zu Integritätsmaßnahmen<br />

(gesetzliche Pflicht zur<br />

Erstellung für jede öffentliche Einrichtung)<br />

Strafrecht, Disziplinarrecht<br />

Österreich<br />

Büro für Interne Angelegenheiten<br />

allgemeine Informationsfreiheit;<br />

Offenlegung erhaltener Geschenke<br />

(nicht öffentlich);<br />

Büro für Interne Angelegenheiten (Schulung,<br />

Beratung, Richtlinien)<br />

Strafrecht, Disziplinarrecht<br />

Polen<br />

Zentrales Antikorruptionsbüro;<br />

lokale Ethikberater<br />

allgemeine Informationsfreiheit;<br />

teilweise Offenlegung<br />

zusätzliches Einkommen aus<br />

Nebentätigkeiten (teilweise öffentlich)<br />

allgemeine Ethikrichtlinie;<br />

teilweise interne Verhaltensrichtlinien<br />

Strafrecht, Disziplinarrecht<br />

Portugal<br />

keine spezielle Behörde<br />

(eine 1983 eingerichtete<br />

Behörde wurde 1986<br />

wieder aufgelöst)<br />

allgemeine Informationsfreiheit<br />

Disciplinary Statute of the Public Service<br />

(Gesetz);<br />

allgemeine Verhaltensrichtlinie<br />

Strafrecht, Disziplinarrecht<br />

Schweden<br />

keine spezielle Behörde<br />

allgemeine Informationsfreiheit<br />

interne Verhaltensrichtlinien;<br />

Schulungen<br />

Strafrecht, Disziplinarrecht<br />

Slowakei<br />

keine spezielle Behörde<br />

(Antikorruptions-Netzwerk<br />

von Innen-, Justizministerium<br />

und Staatsanwaltschaft)<br />

allgemeine Informationsfreiheit<br />

Nationales Programm zur Korruptionsbekämpfung;<br />

allgemeine Ethikrichtlinien;<br />

interne Ethikrichtlinien;<br />

befristetes Beschäftigungsverbot in der<br />

Privatwirtschaft für leitende Beamte nach<br />

Beendigung der Dienstzeit<br />

Strafrecht, Disziplinarrecht<br />

Prevention of Corruption Act;<br />

Slowenien<br />

Kommission für Korruptionsprävention<br />

allgemeine Informationsfreiheit<br />

Resolution on Prevention of Corruption<br />

Act;<br />

Public Servants Act;<br />

Strafrecht, Disziplinarrecht<br />

Verhaltensrichtlinien<br />

Spanien<br />

keine spezielle Behörde<br />

allgemeine Informationsfreiheit<br />

keine speziellen Maßnahmen<br />

Strafrecht, Disziplinarrecht<br />

Tschechien<br />

keine spezielle Behörde<br />

(vereinzelt lokale Antikorruptionsbeauftragte)<br />

allgemeine Informationsfreiheit<br />

allgemeine Ethikrichtlinie;<br />

vereinzelt interne Ethikrichtlinien;<br />

Civil Service Act (in Vorbereitung)<br />

Strafrecht<br />

Ungarn<br />

Keine spezielle Behörde<br />

allgemeine Informationsfreiheit;<br />

Offenlegung Vermögen<br />

und Unvereinbarkeiten<br />

(öffentlich)<br />

keine speziellen Maßnahmen<br />

Strafrecht<br />

Zypern<br />

Keine spezielle Behörde<br />

(Coordinating Body<br />

Against Corruption)<br />

(Quelle: eigene Darstellung)<br />

Keine allgemeine Informationsfreiheit<br />

Public Service Law (mit Verhaltensrichtlinien)<br />

Strafrecht, Disziplinarrecht<br />

32


MIP 2008/09 15. Jhrg. Alemann/Bäcker/Schmidt – Politische Korruption im staatlichen Bereich der Mitgliedstaaten der EU Aufsätze<br />

Tabelle 3 Spezifische Antikorruptionsmaßnahmen in den Mitgliedstaaten: Parlament/ Abgeordnete (1)<br />

Mitgliedstaat<br />

Belgien<br />

Offenlegung Nebentätigkeiten<br />

und Verdienst (nicht öffentlich)<br />

Dänemark<br />

Parlament/Abgeordnete<br />

Kontrolle Transparenz Integrität Sanktionen<br />

keine spezielle Institution<br />

Deontological Commission of the<br />

Flemish Community<br />

allgemeines Strafrecht;<br />

Kürzung Bezüge<br />

keine spezielle Institution keine speziellen Maßnahmen keine speziellen Maßnahmen allgemeines Strafrecht<br />

Deutschland<br />

keine spezielle Institution<br />

Offenlegung zusätzlicher Verdienst<br />

in der Summe (öffentlich)<br />

Verhaltensrichtlinien<br />

Abgeordnetenbestechung; Mandatsverlust<br />

Bußgeld bei Verstoß gegen Offenlegung<br />

Estland<br />

Select Committee on the<br />

Application of Anti-Corruption<br />

Act<br />

Offenlegung Nebentätigkeiten<br />

und Verdienst (öffentlich)<br />

Verhaltensrichtlinien<br />

allgemeines Strafrecht, Mandatsverlust<br />

Finnland<br />

keine spezielle Institution<br />

Offenlegung zusätzlicher Verdienst<br />

über öffentlich zugängliche<br />

Steuererklärung<br />

keine speziellen Maßnahmen<br />

Abgeordnetenbestechung<br />

Frankreich<br />

keine spezielle Institution<br />

Offenlegung Vermögen und<br />

wirtschaftliche Beteiligungen<br />

bei Beginn und Beendigung<br />

des Mandats (nicht öffentlich)<br />

keine speziellen Maßnahmen<br />

allgemeines Strafrecht, Mandatsverlust<br />

Griechenland<br />

Permanent Committee on<br />

Institutions and Transparancy<br />

Offenlegung zusätzlicher Verdienst<br />

(öffentlich)<br />

keine speziellen Maßnahmen<br />

allgemeines Strafrecht, Mandatsverlust<br />

Großbritannien<br />

Parliamentary Commissioner<br />

for Standards<br />

Offenlegung Nebentätigkeiten<br />

und Verdienst (öffentlich)<br />

Verhaltensrichtlinien<br />

Abgeordnetenbestechung<br />

allgemeines Strafrecht;<br />

Irland keine spezielle Institution<br />

Offenlegung Nebentätigkeiten<br />

und Verdienst (öffentlich)<br />

Verhaltensrichtlinien<br />

bei Verletzung der Verhaltensrichtlinien<br />

und Offenlegungspflichten<br />

Freiheits-, Geldstrafe,<br />

Streichung oder Kürzung der Bezüge<br />

Italien keine spezielle Institution<br />

Offenlegung Nebentätigkeiten<br />

und Verdienst (öffentlich)<br />

keine speziellen Maßnahmen<br />

allgemeines Strafrecht<br />

Lettland<br />

Mandate, Ethics and<br />

Submissions Committee;<br />

Defence, Internal Affairs<br />

and Corruption Prevention<br />

Committee;<br />

Committee on Supervising<br />

the Prevention and<br />

Combating of Corruption<br />

Offenlegung Vermögen, Nebentätigkeiten<br />

und Verdienst<br />

(öffentlich)<br />

Verhaltensrichtlinien (Gesetz);<br />

Beschäftigungsverbot in der Privatwirtschaft<br />

nach Beendigung<br />

der Amtszeit<br />

allgemeines Strafrecht, Mandatsverlust;<br />

bei Verletzung der Verhaltensrichtlinien<br />

Verwarnungen (öffentlich)<br />

Litauen<br />

Commission for Ethics<br />

and Procedures;<br />

Anticorruption Commission<br />

Offenlegung komplettes Einkommen<br />

(öffentlich)<br />

Verhaltensrichtlinien in Vorbereitung<br />

allgemeines Strafrecht<br />

Luxemburg<br />

keine spezielle Institution<br />

Offenlegung finanzieller Zuwendungen,<br />

Nebentätigkeiten<br />

und Verdienst (öffentlich)<br />

keine speziellen Maßnahmen<br />

Abgeordnetenbestechung; Mandatsverlust<br />

(Quelle: eigene Darstellung)<br />

33


Aufsätze Alemann/Bäcker/Schmidt – Politische Korruption im staatlichen Bereich der Mitgliedstaaten der EU MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Tabelle 4 Spezifische Antikorruptionsmaßnahmen in den Mitgliedstaaten: Parlament/ Abgeordnete (2)<br />

Mitgliedstaat<br />

Parlament/Abgeordnete<br />

Kontrolle Transparenz Integrität Sanktionen<br />

Malta keine spezielle Institution keine speziellen Maßnahmen Verhaltensrichtlinien allgemeines Strafrecht<br />

Niederlande<br />

keine spezielle Institution<br />

Offenlegung zusätzlicher Verdienst<br />

(nicht öffentlich) und<br />

Vermögen (teilweise öffentlich)<br />

keine speziellen Maßnahmen<br />

allgemeines Strafrecht, Mandatsverlust;<br />

bei Verletzung der Offenlegungspflichten<br />

Kürzung der Bezüge<br />

Österreich<br />

Unvereinbarkeitsausschuss<br />

Offenlegung zusätzlicher Verdienst<br />

(öffentlich)<br />

Bundesverfassungsgesetz über<br />

die Begrenzung von Bezügen öffentlicher<br />

Funktionäre; Unvereinbarkeitsgesetz<br />

allgemeines Strafrecht;<br />

Mandatsverlust bei Missbrauch des<br />

Amtes in gewinnsüchtiger Absicht<br />

(gesetzlicher Tatbestand)<br />

Polen<br />

Ausschuss für Ethik/Integrität<br />

Offenlegung zusätzlicher Verdienst<br />

(öffentlich)<br />

Gesetz über die Erfüllung des<br />

Mandats der Mandatsträger und<br />

des Senators<br />

allgemeines Strafrecht<br />

Portugal<br />

Parliamentary Ethics<br />

Committee<br />

Offenlegung zusätzlicher Verdienst,<br />

wirtschaftliche Beteiligungen<br />

und Zuwendungen (öffentlich)<br />

Statute of MPs<br />

Abgeordnetenbestechung<br />

Schweden<br />

keine spezielle Institution<br />

freiwillige Offenlegung Nebentätigkeiten<br />

und Verdienst (öffentlich)<br />

keine speziellen Maßnahmen<br />

Abgeordnetenbestechung; Mandatsverlust<br />

Slowakei<br />

Unvereinbarkeitsausschuss<br />

Offenlegung Vermögen, Nebentätigkeiten<br />

und Verdienst<br />

(öffentlich)<br />

Gesetz über den Schutz des öffentlichen<br />

Interesses bei der Ausübung<br />

der Funktion öffentlicher<br />

Funktionäre<br />

allgemeines Strafrecht,<br />

bei Verletzung der Offenlegungspflichten<br />

Bußgeld und/ oder<br />

Mandatsverlust<br />

Slowenien<br />

Commission under the<br />

Prevention of Corruption<br />

Act<br />

Offenlegung zusätzlicher Verdienst<br />

und Vermögen (öffentlich)<br />

Prevention of Corruption Act<br />

Abgeordnetenbestechung<br />

Spanien<br />

keine spezielle Institution<br />

keine speziellen Maßnahmen<br />

(aber weitgehende Inkompatibilitäten)<br />

Keine speziellen Maßnahmen<br />

Abgeordnetenbestechung; Mandatsverlust<br />

Tschechien<br />

keine spezielle Institution<br />

Offenlegung Zuwendungen,<br />

Vermögen, Nebentätigkeiten,<br />

Interessenverflechtungen und<br />

Verdienst (öffentlich)<br />

Act on the Conflict of Interests<br />

allgemeines Strafrecht<br />

Ungarn<br />

keine spezielle Institution<br />

Offenlegung Vermögen, Nebentätigkeiten,<br />

wirtschaftliche<br />

Beteiligungen und Verdienst<br />

(öffentlich)<br />

keine speziellen Maßnahmen<br />

allgemeines Strafrecht<br />

Zypern<br />

Special House Committee<br />

on Declaration and<br />

Examination of Financial<br />

Interests<br />

(Quelle: eigene Darstellung)<br />

Offenlegung finanzieller Verhältnisse<br />

(Gesetz) (nicht öffentlich)<br />

keine speziellen Maßnahmen<br />

Abgeordnetenbestechung;<br />

Sanktionen bei Verletzung der Offenlegungspflichten<br />

34


MIP 2008/09 15. Jhrg. Alemann/Bäcker/Schmidt – Politische Korruption im staatlichen Bereich der Mitgliedstaaten der EU Aufsätze<br />

Vorstehende Übersichten (Tabellen 1–4) zeigen<br />

den in der vergleichenden Auswertung der Länderberichte<br />

gewonnenen Eindruck, dass die mitgliedstaatlichen<br />

Antikorruptionsbestrebungen<br />

von deutlicher Heterogenität geprägt sind. Dass<br />

sich diese Heterogenität nicht nur auf die konkreten<br />

Einzelmaßnahmen und deren Ausgestaltung<br />

im Detail erstreckt, sondern auch in Bezug<br />

auf die von den einzelnen Mitgliedstaaten verfolgte<br />

Antikorruptionsstrategie festzustellen ist,<br />

belegt den aus europäischer Sicht gegebenen<br />

Handlungsbedarf.<br />

Einige wenige Staaten sind durchgängig aktiv,<br />

so vor allem Lettland und Österreich. Während<br />

Österreich eine komprimierte und zentralisierte<br />

Vorgehensweise gewählt hat und eine konsequente<br />

Linie der Korruptionsprävention und -bekämpfung,<br />

sowohl bezogen auf den öffentlichen<br />

Dienst als auch die Abgeordneten, verfolgt, wirken<br />

die Aktivitäten in Lettland weniger komplex<br />

und ungezielter. Sowohl für den öffentlichen<br />

Dienst als auch innerhalb der Parlamente existieren<br />

gleich mehrere Kontrolleinrichtungen, deren<br />

Aufgaben speziell in der Korruptionsprävention<br />

und -bekämpfung liegen. Eine verstreute und<br />

zersplitterte Aufgabenverteilung erschwert jedoch<br />

eindeutige Kompetenzzuordnungen, erhöht<br />

die Wahrscheinlichkeit von Kompetenzlücken<br />

und kann Kooperations- und Abstimmungsprobleme<br />

zwischen den Institutionen verursachen.<br />

Eine Vielzahl an Institutionen, allgemeinen Vorschriften<br />

und Sonderregelungen könnte zu einer<br />

ineffizienten Organisationsstruktur der Verwaltungen<br />

selbst führen, die Korruption wiederum<br />

begünstigt. Im Falle Lettlands allerdings scheint<br />

sich diese Befürchtung (noch) nicht zu bestätigen.<br />

Das Ranking Lettlands im CPI von Transparency<br />

International hat sich seit dem Jahr<br />

2003, in dem es noch Platz 57 belegte, stetig verbessert<br />

(2004 Platz 57, 2005 Platz 51, 2006 Platz<br />

49) 32 . Offenbar hat Lettland mit seinen vielfältigen<br />

Aktivitäten einen Weg eingeschlagen, der<br />

im Bewusstsein der Bevölkerung zu einer positi-<br />

32<br />

In den Jahren 2007 (Platz 51) und 2008 (Platz 52) hat<br />

Lettland jedoch keine weiteren deutlichen Verbesserungen<br />

erzielen können. Doch wurden im Zeitraum von<br />

2004 bis 2008 auch immer mehr Länder in das Ranking<br />

aufgenommen (2004: 145 Länder, 2005: 158,<br />

2006: 163, 2007: 179, 2008: 180).<br />

veren Wahrnehmung des öffentlichen Sektors<br />

geführt hat. Ob es sich hierbei um einen nachhaltigen<br />

Wertewandel handelt, der die politische<br />

Kultur Lettlands auf Dauer prägen und eine allgemeine<br />

Anti-Korruptions-Ethik anstoßen kann,<br />

wird sich im Laufe der Zeit erst noch erweisen<br />

müssen.<br />

Auf einem ähnlichen Weg wie Lettland sind<br />

auch die meisten anderen osteuropäischen Mitgliedstaaten,<br />

insbesondere Litauen, Polen, die<br />

Slowakei und auch Slowenien. Die Einrichtung<br />

gleich mehrerer Institutionen, der Erlass zahlreicher<br />

auf Korruptionsprävention und -bekämpfung<br />

zielender Gesetze und Verhaltensrichtlinien<br />

erklärt sich teilweise sicherlich vor dem Hintergrund,<br />

dass es sich um junge Demokratien handelt.<br />

Der politische Umbruch bietet auf der einen<br />

Seite die Chance, den Staat und seine Institutionen<br />

zu reformieren und neu zu gestalten. Hierdurch<br />

eröffnet sich ein größerer Spielraum dahingehend,<br />

in die Gestaltung gerade auch Institutionen<br />

der Korruptionsprävention und -bekämpfung<br />

von vornherein zu integrieren. Auf der anderen<br />

Seite ist in all den reformierten oder neu<br />

geschaffenen Organisationen und Institutionen<br />

bezogen auf Aufbau, Arbeitsweisen, Öffentlichkeitsarbeit<br />

usw. ein Beratungs-, Informationsund<br />

Lernbedarf zu stillen, was sich dann in umfang-<br />

und zahlreichen Gesetzen, Richtlinien und<br />

Verordnungen niederschlägt. Gleichzeitig tragen<br />

die jungen Demokratien aus Sicht der Korruptionsforschung<br />

schwer an dem Vermächtnis der<br />

vormals sozialistischen Gesellschaftssysteme,<br />

die eine grundlegend verschiedene Rahmensituation<br />

für das Handeln von Akteuren mit sich<br />

brachten. Mangelnde Rechtsstaatlichkeit, schwache<br />

Öffentlichkeit, bürokratisch gesteuerte Planwirtschaft<br />

und das Parteienmonopol begünstigten<br />

Beziehungswirtschaft und Korruption, die<br />

Akzeptanz staatlicher Regeln war wenig ausgeprägt<br />

und die Notwendigkeit ihrer Umgehung,<br />

wollte man „zu etwas kommen“, verbreitet anerkannt.<br />

Die Überwindung dieser strukturell-institutionellen<br />

Merkmale des Staatssozialismus und<br />

der aufgrund dessen erlernten und tradierten<br />

Verhaltensmuster kann sich nicht „über Nacht“,<br />

sondern nur durch einen – langsamen – Mentalitätswandel<br />

vollziehen. Darüber hinaus bot die ra-<br />

35


Aufsätze Alemann/Bäcker/Schmidt – Politische Korruption im staatlichen Bereich der Mitgliedstaaten der EU MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

dikale Erneuerung der osteuropäischen Gesellschaften,<br />

geprägt von dem Zerfall alter Machtstrukturen<br />

und der Hinwendung zur Marktwirtschaft,<br />

neue Gelegenheitsstrukturen. Gleichwohl<br />

und gerade deshalb sind die verstärkten Antikorruptionsaktivitäten<br />

unzweifelhaft Ausdruck der<br />

unbeirrten und festen Absicht der osteuropäischen<br />

Mitgliedstaaten, den Gefahren der Korruption<br />

mit allen verfügbaren Mitteln entgegenzutreten.<br />

In auffallendem Gegensatz hierzu ergreifen einige<br />

Länder kaum spezifische Antikorruptionsmaßnahmen.<br />

Vor allem die nordischen Länder<br />

(Dänemark, Finnland und Schweden) sind hier<br />

zu nennen. Das Transparenzprinzip gilt dort in<br />

einem sehr umfassenden Sinne und bedarf zu<br />

seiner Umsetzung häufig nicht einmal einer gesetzlichen<br />

Vorgabe, wie sich anhand der in<br />

Schweden praktizierten Veröffentlichung der<br />

Nebentätigkeiten und des Einkommens der Abgeordneten<br />

ebenso wie der Rechenschaftsberichte<br />

politischer Parteien auf freiwilliger Basis<br />

zeigt. Trotz dieser Zurückhaltung beim Einsatz<br />

spezifischer Antikorruptionsmaßnahmen belegen<br />

die nordischen Länder im jährlichen Korruptionsbericht<br />

von Transparency International regelmäßig<br />

Spitzenplätze im CPI.<br />

Hierfür gibt es mehrere Erklärungsansätze. Zum<br />

einen können der Reichtum eines Landes, die<br />

Verteilung des Lebensstandards, Rechtsstaatlichkeit<br />

und Demokratie erklärend herangezogen<br />

und zu der Faustformel zusammengefasst werden:<br />

je wohlhabender, gerechter und demokratischer,<br />

umso weniger korrupt. Die nordischen<br />

Länder mit ihrem relativen Wohlstand und dem<br />

ausgebauten Sozialsystem können sich in dieser<br />

Hinsicht zur Spitzengruppe zählen. Ein weiterer<br />

Aspekt spielt hier allerdings eine nicht zu vernachlässigende<br />

Rolle: die in den nordischen Ländern<br />

gefestigte Tradition und politische Kultur,<br />

in der dem Öffentlichkeitsprinzip und der Informationsfreiheit<br />

ein besonders hoher Stellenwert<br />

zukommt. In Schweden gilt bereits seit Einführung<br />

des Pressefreiheitsgesetzes im Jahre 1766<br />

das Prinzip der Verwaltungstransparenz, dass als<br />

Öffentlichkeitsprinzip (Offentlighetsprincip)<br />

Eingang in die schwedische Verfassung gefunden<br />

hat und demzufolge alle Informationen und<br />

Dokumente, die von einer Behörde hergestellt<br />

oder empfangen wurden, für jedermann zugänglich<br />

gemacht werden müssen. Finnland folgte<br />

aus historischen Gründen (Finnland stand zu der<br />

Zeit unter schwedischer Herrschaft) der schwedischen<br />

Tradition des Pressefreiheitsgesetzes<br />

von 1766. Dänemark griff das Konzept Schwedens<br />

nach dem 2. Weltkrieg auf, nicht zuletzt<br />

aufgrund der Erfahrungen mit deutscher Besetzung<br />

und des Zusammenhanges zwischen Totalitarismus<br />

und staatlicher Geheimhaltung (Lov nr.<br />

280 af 10.juni 1970 om offentlighed i forvaltningen,<br />

das auf eine 1958 eingesetzte Kommission<br />

zurückgeht), wenn auch wesentliche Verbesserungen<br />

erst 1985 vorgenommen wurden (Lov om<br />

offentlighed i forvaltningen. Lov nr. 572 af<br />

19.december 1985, zuletzt ergänzt 1995). Diese<br />

kulturellen und traditionellen Hintergründe spielen<br />

bei der Verbreitung und gesellschaftlichen<br />

Akzeptanz von Korruption sicher eine bedeutende<br />

Rolle und in Kombination mit einem hohen<br />

Wohlstand bei relativ großer sozialer Gleichheit<br />

und Sicherheit bieten die nordischen Gesellschaften<br />

alles in allem keinen Nährboden für<br />

Korruption. Die in den letzten Jahren einsetzende<br />

Entwicklung in den anderen Mitgliedstaaten,<br />

der Empfehlung des Europarates aus dem Jahre<br />

1981 folgend (Recommendation No. R (81) 19)<br />

Informationsfreiheitsgesetze einzuführen, ist von<br />

daher zu begrüßen. Die Korruptionsfeindlichkeit<br />

einer Rechtskultur wird wesentlich von äußeren<br />

Umständen bestimmt, deren Änderung mitbestimmend<br />

für einen Wertewandel sind. Solche<br />

Entwicklungen brauchen naturgemäß aber viel<br />

Zeit.<br />

In einer Gesamtschau der Übersichten (Tabellen<br />

1–4) fällt im Übrigen auf, dass ein starkes Gefälle<br />

in der Regelungsdichte bezogen auf den öffentlichen<br />

Dienst auf der einen und den Abgeordneten<br />

auf der anderen Seite besteht. Die<br />

hieraus entnehmbare, weit verbreitete Zurückhaltung<br />

insbesondere der Parlamente dabei,<br />

sich selbst Transparenz- und Integritätsregelungen<br />

und diesbezüglicher Kontrollen zu unterwerfen,<br />

ist eine Haltung, die es angesichts der Gefahren<br />

der Korruption zu überwinden gilt. Die<br />

Mitgliedstaaten sollten sich der Vorbildfunktion,<br />

die das Parlament und der einzelne Abgeordnete<br />

36


MIP 2008/09 15. Jhrg. Alemann/Bäcker/Schmidt – Politische Korruption im staatlichen Bereich der Mitgliedstaaten der EU Aufsätze<br />

hat, stärker bewusst werden und die Chance ergreifen,<br />

durch eigene praktizierte Korruptionsprävention<br />

und -bekämpfung das öffentliche Antikorruptionsbewusstsein<br />

zu formen und zu stärken.<br />

Wenig verbreitet, aber im Sinne der Korruptionsprävention<br />

und -bekämpfung sinnvolle Maßnahmen<br />

sind die von insgesamt sieben der untersuchten<br />

Mitgliedstaaten (Irland, Lettland, Luxemburg,<br />

Malta, Österreich, Polen, Ungarn)<br />

praktizierten erweiterten Transparenzpflichten<br />

im öffentlichen Dienst. Die Transparenzregeln<br />

beziehen sich auf persönliche Abhängigkeiten<br />

bzw. mögliche Interessenkonflikte von – regelmäßig<br />

leitenden – Angehörigen des öffentlichen<br />

Dienstes. Diese Offenlegung möglicher Interessenkollisionen<br />

ist für die Abgeordneten fast<br />

durchgängig vorgesehen (mit Ausnahme von<br />

Dänemark, Spanien und – angesichts der für den<br />

öffentlichen Dienst bestehenden Regelungen erstaunlicherweise<br />

– Malta). Sie ist aber auch bei<br />

Angehörigen des öffentlichen Dienstes dazu geeignet,<br />

das Vertrauen der Bürger in die Unabhängigkeit<br />

und Integrität der öffentlichen Verwaltung<br />

zu stärken und zwar umso mehr, je öffentlichkeitswirksamer<br />

die Regelungen sind. Insbesondere<br />

die in Ungarn angeordnete und in Irland<br />

sowie Polen teilweise vorgesehene Aktivierung<br />

der Öffentlichkeit, indem die Daten öffentlich<br />

gemacht werden, könnte für die Korruptionsprävention<br />

und -bekämpfung zukunftsweisend<br />

sein.<br />

Festzustellen ist, dass Korruption mittlerweile in<br />

allen untersuchten 25 EU-Mitgliedstaaten als<br />

Übel erkannt und bekämpft wird. Die bestehende<br />

Heterogenität der Antikorruptionsmaßnahmen<br />

deutet dabei darauf hin, dass nach wie vor<br />

Lücken und Schwachstellen bei der Bekämpfung<br />

von Korruption existieren.<br />

Dies ist unter anderem auch darauf zurückzuführen,<br />

dass Korruptionsprävention und -bekämpfung<br />

erst seit relativ kurzer Zeit ins öffentliche<br />

Interesse gerückt sind. Good-Governance-Strategien<br />

und Antikorruptionsbestrebungen erfahren<br />

erst seit Anfang der neunziger Jahre besondere<br />

Aufmerksamkeit, in der Öffentlichkeit wie in der<br />

Forschung. Die Gründung von Transparency International<br />

im Jahre 1993 kann hier als Markstein<br />

gelten. Seit dieser Zeit sind die mitgliedstaatlichen<br />

Bemühungen auf diesem Gebiet<br />

ebenso wie die Förderung relevanter Projekte<br />

und Programme tendenziell, wenn auch nicht<br />

gleichermaßen dynamisch, deutlich intensiviert<br />

worden.<br />

5. Empfehlungen zu Strategien der Korruptionsbekämpfung<br />

und Korruptionsprävention<br />

Die Studie hat es erlaubt – mit vergleichsweise<br />

bescheidenen Mitteln angesichts der großen Anzahl<br />

der untersuchten Staaten und des breit angelegten<br />

Untersuchungsgegenstandes –, ein differenziertes<br />

Bild der Antikorruptionsmaßnahmen<br />

im öffentlichen Sektor in den EU-Mitgliedstaaten<br />

zu zeichnen. Ausgehend von den Ergebnissen,<br />

sollte die weitere Diskussion um die Verbesserung<br />

der Antikorruptionsbemühungen von<br />

folgenden Überlegungen und Empfehlungen ausgehen.<br />

5.1. Verbesserung des Kenntnisstandes<br />

Die tatsächlichen Verhältnisse in den 25 untersuchten<br />

Mitgliedstaaten bezogen auf die Umsetzung<br />

von Antikorruptionsmaßnahmen sind außerordentlich<br />

schwer zu fassen. Ein Fortschritt<br />

könnte hier ein Berichtssystem sein, das die Mitgliedstaaten<br />

verpflichtet, die nationalen Regeln<br />

und Maßnahmen zu benennen, die der Umsetzung<br />

von Antikorruptionsbemühungen dienen.<br />

Die einschlägigen Regelungen sollten von den<br />

Mitgliedstaaten ins Englische übersetzt werden.<br />

Ein allgemeiner Zugang zu diesen Informationen,<br />

möglichst über das Internet, wäre wünschenswert.<br />

Im Sinne einer besseren Koordinierung künftiger<br />

Antikorruptionsmaßnahmen und um eine Orientierungsfunktion<br />

zu erfüllen, sollte angestrebt<br />

werden, über die Entwicklung in den mitgliedstaatlichen<br />

Antikorruptionsbestrebungen<br />

basierend auf den mitgeteilten Daten in regelmäßigen<br />

Abständen Berichte zu erstellen und<br />

gleichfalls zu veröffentlichen.<br />

37


Aufsätze Alemann/Bäcker/Schmidt – Politische Korruption im staatlichen Bereich der Mitgliedstaaten der EU MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Angesichts der derzeitigen Vielfalt der Datensammlungen<br />

zu Korruption auf mitgliedstaatlicher<br />

Ebene, wäre es wünschenswert, hier mittelfristig<br />

eine strukturierte und standardisierte Homogenität<br />

zu erreichen. Dies kann erreicht werden,<br />

indem innerhalb der Mitgliedstaaten mehrere<br />

weisungsunabhängige staatliche Stellen mit<br />

der Aufgabe der Datensammlung beauftragt werden<br />

und eine Kooperation mit existierenden privaten<br />

Stellen etabliert wird. Dabei ist darauf hinzuwirken,<br />

dass die Mitgliedstaaten auch einen<br />

gleich strukturierten Mindestbestand an Datensammlungen<br />

zur Korruption haben. Es wird daher<br />

eine Etablierung gemeinsamer Standards<br />

empfohlen, die die Regeln festlegen, nach denen<br />

die Daten zu erheben sind. Die Daten müssen öffentlich<br />

problemlos zugänglich sein. Ideal wäre<br />

eine unabhängige Expertenkommission, welche<br />

die Datensammlungen kontinuierlich standardisiert<br />

auswertet.<br />

die Schaffung oder gegebenenfalls Änderung nationalstaatlicher<br />

Regelungen zu nehmen. Aufgrund<br />

der begrenzten Kompetenzen der Europäischen<br />

Union in diesem Bereich kommen wohl<br />

weniger Verordnungen oder Richtlinien 34 in Betracht.<br />

Verstärkt kann aber durch gemeinsame<br />

Standpunkte, Rahmenbeschlüsse zur Angleichung<br />

der Rechts- und Verwaltungsvorschriften<br />

der Mitgliedstaaten sowie Beschlüsse und Übereinkommen,<br />

die den Mitgliedstaaten zur Annahme<br />

empfohlen werden, auf die Antikorruptionsaktivitäten<br />

der Mitgliedstaaten Einfluss genommen<br />

werden.<br />

Zu dem zu diskutierenden Aufgabenspektrum<br />

gehören die Ausgestaltung der mitgliedstaatlichen<br />

Antikorruptionsmaßnahmen, die Einführung<br />

und Fortentwicklung europäischer Standards<br />

sowie das Zusammenwirken von Kontrollorganisationen<br />

in und zwischen den Mitgliedstaaten.<br />

5.2. Intensivierung der Gesetzgebung gegen<br />

Korruption<br />

Auch wenn die Europäische Union in den letzten<br />

Jahren große Anstrengungen unternommen hat,<br />

Instrumente zur Korruptionsbekämpfung für die<br />

Mitgliedstaaten zu entwickeln und diese zur<br />

Umsetzung vorzuschlagen und im Kampf gegen<br />

die Korruption zahlreiche Rechtsetzungsakte,<br />

vorbereitende und andere Rechtsakte erlassen<br />

hat 33 , ist die Korruptionsbekämpfung weiterhin<br />

als national ausgerichtet zu betrachten. Gleichwohl<br />

ist auch die Antikorruptionspolitik mit<br />

grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen,<br />

modernen Formen der Kriminalität und einer<br />

zunehmenden Internationalisierung des Verbrechens<br />

konfrontiert. Begünstigt wird diese<br />

Entwicklung durch die voranschreitende Realisierung<br />

des Binnenmarktes und die dadurch verstärkten<br />

wirtschaftlichen Verflechtungen. Dies<br />

verdeutlicht die Notwendigkeit einer Europäisierung<br />

des Kampfes gegen Korruption. Die Europäische<br />

Union ist weiterhin darauf angewiesen,<br />

kraft ihrer Anweisungskompetenz Einfluss auf<br />

33<br />

Vgl. nur http://eur-lex.europa.eu/de/dossier/dossier_<br />

19.htm#2, 17.07.2006.<br />

5.3. Umsetzung von Antikorruptionsmaßnahmen<br />

Insbesondere die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten<br />

bei der Korruptionsprävention und -bekämpfung<br />

ist für das Entstehen einer europäischen<br />

Antikorruptionskultur ein wichtiger Faktor.<br />

Die Kooperation der Mitgliedstaaten bei der<br />

Planung, Durchführung und Koordination von<br />

Antikorruptionsmaßnahmen ist daher zu fördern.<br />

Dies kann einerseits durch Berichtspflichten erfolgen.<br />

Zu denken ist aber auch daran, die Mitgliedstaaten<br />

durch europäische Institutionen zu<br />

unterstützen, so z.B. – nach dem Vorbild des Eu-<br />

34<br />

Zu nennen ist hier beispielsweise die Richtlinie<br />

2005/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates<br />

vom 26.10.2005 zur Verhinderung der Nutzung des<br />

Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der<br />

Terrorismusfinanzierung und die Richtlinie<br />

2006/70/EG der Kommission vom 1.8.2006 mit<br />

Durchführungsbestimmungen für die Richtlinie<br />

2005/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates<br />

hinsichtlich der Begriffsbestimmung von „politisch<br />

exponierte Personen“ und der Festlegung der technischen<br />

Kriterien für vereinfachte Sorgfaltspflichten sowie<br />

für die Befreiung in Fällen, in denen nur gelegentlich<br />

oder in sehr eingeschränktem Umfang Finanzgeschäfte<br />

getätigt werden.<br />

38


MIP 2008/09 15. Jhrg. Alemann/Bäcker/Schmidt – Politische Korruption im staatlichen Bereich der Mitgliedstaaten der EU Aufsätze<br />

ropäischen Justiziellen Netzes (EJN) 35 – durch<br />

Errichtung eines Europäischen Antikorruptionsnetzes,<br />

das darauf abzielt die Zusammenarbeit<br />

sowie den Austausch von Informationen und Erfahrungen<br />

der verschiedenen mitgliedstaatlichen<br />

Antikorruptionseinrichtungen zu vereinfachen.<br />

Dieser Austausch verspricht nicht nur fruchtbar<br />

zu sein für die Anpassung bzw. Änderung bestehender<br />

Regelungen der Mitgliedstaaten, so auf<br />

dem Gebiet des Straf-, Beamten- bzw. Disziplinarrechts<br />

oder der staatlichen, innerbehördlichen<br />

bzw. akteursbezogenen Verhaltensrichtlinien. Es<br />

steht auch ein positiver Effekt auf die Entwicklung<br />

und Umsetzung neuer mitgliedstaatlicher<br />

Zielvorstellungen und Maßnahmen der Korruptionsprävention<br />

und -bekämpfung zu erwarten.<br />

Um die mitgliedstaatlichen Antikorruptionsaktivitäten<br />

zu koordinieren und eine Orientierung<br />

für die inhaltliche Ausgestaltung zu geben, ist es<br />

angeraten, europäische Standards für den Umgang<br />

mit bestehenden oder zu befürchtenden Interessenkollisionen<br />

zu entwickeln und festzulegen.<br />

Beispielsweise könnte – dem Beispiel bislang<br />

weniger Staaten folgend (z.B. Irland und<br />

Ungarn) – die Einführung einer Transparenzpflicht<br />

für leitende Angestellte des öffentlichen<br />

Dienstes empfohlen werden, die sich an den für<br />

Abgeordnete weit überwiegend geltenden Offenlegungspflichten<br />

orientiert. Zur Stärkung der Öffentlichkeit<br />

als Kontrollinstitution, aber auch im<br />

Sinne einer langfristig zu erhoffenden Entstehung<br />

und Ausformung gemeineuropäischer soziokultureller<br />

Rahmenbedingungen, die ein korruptionsfeindliches<br />

Grundklima widerspiegeln,<br />

ist darauf hinzuwirken, dass die korruptionspräventiven<br />

Transparenzpflichten generell um eine<br />

Öffentlichkeitsfunktion ergänzt werden, indem<br />

die Daten auch veröffentlicht werden.<br />

Dort, wo die mitgliedstaatlichen Korruptionsbekämpfung<br />

noch vergleichsweise lückenhaft ist,<br />

35<br />

Das EJN besteht aus Justizkontaktstellen in jedem Mitgliedstaat<br />

der Europäischen Union und innerhalb der<br />

Europäischen Kommission. Es soll nationalen Richtern<br />

und Staatsanwälten helfen, grenzüberschreitende Ermittlungen<br />

und Strafverfolgungen durchzuführen und<br />

so zur Verbesserung der justiziellen Zusammenarbeit<br />

im Zusammenhang mit der grenzüberschreitenden Kriminalität<br />

beitragen.<br />

so vor allem im Bereich der innerparlamentarischen<br />

Kontrollen, sind die Mitgliedstaaten in die<br />

Pflicht zu nehmen, indem die Europäische Union<br />

von ihren Handlungsmöglichkeiten Gebrauch<br />

macht und die Umsetzung von entsprechenden<br />

Antikorruptionsmaßnahmen anregt.<br />

5.4. Förderung der Korruptionsforschung<br />

Die vergleichende Auswertung dieser Studie hat<br />

ergeben, dass die Mitgliedstaaten der EU sich<br />

der Gefahren der Korruption nicht nur bewusst<br />

sind, sie sind auch gewillt diesen Gefahren entgegenzutreten.<br />

Alle untersuchten 25 Mitgliedstaaten<br />

36 der EU haben zu diesem Zweck Maßnahmen<br />

unterschiedlichster Art eingeleitet. Erheblich<br />

gehemmt werden sie dabei allerdings<br />

durch die Tatsache, dass es nahezu keine Erkenntnisse<br />

über die Wirksamkeit von Antikorruptionsmaßnahmen<br />

gibt, sie infolge dessen<br />

auch keine gezielte Antikorruptionsstrategie verfolgen<br />

können.<br />

Forschungsergebnisse oder auch nur Forschungsbemühungen<br />

in Hinblick auf die Erfassung<br />

der Wirksamkeit von Antikorruptionsmaßnahmen<br />

existieren bisher nicht oder nur in so<br />

eng gefassten Bereichen, dass das Treffen von<br />

generellen und weiterführenden Aussagen auf<br />

diesem Gebiet nicht möglich ist. Die bereits entwickelten<br />

Methoden zur Korruptionsmessung<br />

liefern für diesen Problemkreis wenig aussagekräftige<br />

Ergebnisse. Die vorhandenen Indizes<br />

zur Korruptionserfassung, so vor allem die von<br />

Transparency International, enthalten lediglich<br />

bereichsspezifische Daten und sind daher nicht<br />

geeignet, anleitende und weiterführende Erkenntnisse<br />

für die Beantwortung der Frage nach<br />

der Wirksamkeit spezifischer Antikorruptionsmaßnahmen<br />

zu liefern. An bedeutenden Messinstrumenten<br />

für den Erfolg von Antikorruptionsmaßnahmen<br />

fehlt es gänzlich. Dies führt dazu,<br />

dass die Entwicklung gezielt wirksamer Antikorruptionsstrategien<br />

nach dem jetzigen Kenntnisstand<br />

der Forschung nicht möglich und insbesondere<br />

eine Weiter- und Neuentwicklung von<br />

Antikorruptionsmaßnahmen ausgeschlossen ist.<br />

36<br />

Stand 2007.<br />

39


Aufsätze Alemann/Bäcker/Schmidt – Politische Korruption im staatlichen Bereich der Mitgliedstaaten der EU MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Sollen die Eindämmungsversuche von Korruption<br />

nicht stagnieren, muss die Effizienz von<br />

Antikorruptionsmaßnahmen evaluiert werden.<br />

Da die Erforschung der Wirksamkeit von Korruptionsbekämpfungsmaßnahmen<br />

deshalb unverzichtbare<br />

Voraussetzung für eine gezielte und<br />

effektive Korruptionsbekämpfung ist, muss daher<br />

die wohl dringendste Empfehlung lauten, die<br />

Forschungsförderung auf diesem Gebiet zu intensivieren.<br />

Im Vordergrund hierbei sollte die Entwicklung<br />

einer funktionierenden, generalisierbaren Messmethode<br />

zum Erfolg von Korruptionsbekämpfung<br />

stehen, z.B. in Form eines neuartigen umfassenden<br />

Indexes, aufgrund dessen Empfehlungen<br />

für Prioritätensetzungen bei Antikorruptionsmaßnahmen<br />

und Anregungen für die Entwicklung<br />

verbesserter Instrumente zur Korruptionseindämmung<br />

möglich sind.<br />

40


MIP 2008/09 15. Jhrg. Marcus Hahn – Formalisierbare Gleichheit Aufsätze<br />

Formalisierbare Gleichheit<br />

Anmerkung zu VerfGH NW, Urteil v. 16.<br />

Dezember 2008, VerfGH 12/08<br />

Marcus Hahn, LL.M. *<br />

I. Einleitung<br />

Mit seinem Urteil vom 16. 12. 2008 1 hat der<br />

nordrhein-westfälische Verfassungsgerichtshof<br />

eine Entscheidung getroffen, die an die bisherige<br />

und neu in Bewegung geratene Rechtsprechung<br />

zur Zulässigkeit von Sperrklauseln 2 anknüpft. Zu<br />

entscheiden war die Verfassungsmäßigkeit des<br />

§ 33 III KWahlG NW. Dieser bestimmte eine<br />

Ausnahmeregel zu § 33 I, II KWahlG NW, der<br />

die Zuteilung kommunaler Mandate nach dem<br />

Divisorverfahren gemäß Saint-Laguë/Schepers 3<br />

vorsieht. Hiernach wird die Gesamtzahl der<br />

Stimmen durch die Zahl der zu vergebenden Sitze<br />

geteilt. Hieraus ergibt sich der Zuteilungsdivi-<br />

*<br />

Der Verfasser ist Doktorand am Lehrstuhl für Öffentliches<br />

Recht, Rechtstheorie und Rechtssoziologie,<br />

Prof. Dr. Martin Morlok, Düsseldorf und Visiting Research<br />

Student am Europa Institute of Governance,<br />

University of Edinburgh.<br />

1<br />

VerfGH NW, Urteil v. 16. Dezember 2008, VerfGH<br />

12/08, im Volltext sofort abrufbar unter http://www.-<br />

wahlrecht.de/wahlpruefung/20081216.htm.<br />

2<br />

Anknüpfend an OVGE 44, 301(304) = VerfGH NW<br />

NVwZ 1995, 579 (581 ff.) erging die richtungsweisende<br />

Entscheidung in OVGE 47, 304 = VerfGH NW<br />

DVBl. 1999, 1271 mit Anm. H. Meyer ebd., 1276 ff.<br />

Weitere Besprechungen stammen von M. Heinig, MIP<br />

1999, 25 ff.; W. Sundermann, DVP 2000, 26 sowie D.<br />

Hönig, JA 2000, 278 ff. Überdies gegen die Zulässigkeit<br />

kommunaler Sperrklauseln BVerfG NVwZ 2008,<br />

407; ThürVerfGH NVwZ-RR 2009, 1. Für die grundsätzliche<br />

Zulässigkeit der Sperrklausel im Kommunalwahlrecht<br />

noch BVerfGE 6, 121 ff., 11, 266 (277), 13,<br />

1 (19), 47, 253 (277). Zurückhaltend dann BVerfG<br />

NVwZ-RR 1995, 213 (214). Für Landtagswahlen sind<br />

Sperrklauseln verfassungsgemäß, vgl. BayVerfGH<br />

NVwZ-RR 2007, 73. – Grundlegend zur Problematik<br />

BVerfGE 1, 208 (256 ff.), 6, 84 (93 ff.), 34, 81 ff. und<br />

weiterführend E 51, 222 ff., 82, 322 (338).<br />

3<br />

Im vergleichenden Überblick K.-H. Blasweiler, VR<br />

1995, 491; F. Pukelsheim, ZfP 2000, 439 ff.<br />

sor, durch den die auf die Listenvorschläge entfallenen<br />

Stimmen geteilt werden. Zur Ermittlung<br />

der Sitzzahl wird bei Bruchteilen ab 0,5 auf-, unter<br />

0,5 abgerundet. Die streitige Norm des<br />

§ 33 III KWahlG NW sah vor, dass diese Regel<br />

nur ab einem Ergebnis von 1,0 Sitzen gilt. Erreicht<br />

eine Partei weniger als 1,0 Sitze, wird ihr<br />

folglich kein Sitz zugeteilt, und das Sitzzuteilungsverfahren<br />

nach Abs. 2 wird unter Ausschluss<br />

jener Partei erneut durchgeführt. Der<br />

VGH Münster erklärte in seinem Urteil diese<br />

„Ein-Sitz-Klausel“ auf Antrag der ÖDP für verfassungswidrig.<br />

Neu an der Entscheidung ist der Gegenstand, bekannt<br />

dagegen seine Beurteilung. Der Gegenstand<br />

ist keine rigide, sondern eine flexible<br />

Sperrklausel. Die „Ein-Sitz-Klausel“ kann daher<br />

erstens relativ zur Größe der Vertretungskörperschaft<br />

unterschiedlich intensive Auswirkungen<br />

haben, wohingegen die 5 v. H.-Sperrklausel innerhalb<br />

der Bandbreite des § 3 II KWahlG NW<br />

(≥ 20 bzw. 48 Mandate) eine von der Größe des<br />

Rates unabhängige Zugangsschranke begründet.<br />

Zweitens bewegt sich die Diskussion um die<br />

„Ein-Sitz-Klausel“ in einem Bereich, der von<br />

denkbaren Einzelfällen bei der Wahl sehr kleiner<br />

Räte (§ 3 II KwahlG NW) abgesehen, unterhalb<br />

der 5 v. H.-Sperrklausel liegt, wie auch die konkreten<br />

Beispiele der Antragsstellerin zeigen<br />

(VerfGH a. a. O. Rn. 61). Hinsichtlich der Beurteilung<br />

zeigt sich kein Unterschied zur 5 v. H.-<br />

Sperrklausel. Zutreffend knüpft der VerfGH an<br />

die frühere Rechtsprechung zur allgemeinen<br />

Sperrklauselproblematik an. Der VerfGH lehnt<br />

unmissverständlich den Versuch der Landesregierung<br />

(Rn. 32 ff.), die „Ein-Sitz-Klausel“ als<br />

bloße „Rundungsregel“ von einer „echten“,<br />

rechtfertigungsbedürftigen Sperrklausel abzugrenzen,<br />

ab (Rn. 52 ff.).<br />

Die Entscheidung belebt damit die Diskussion<br />

um die Frage, wie ein Wahl- und Sitzzuteilungsverfahren<br />

im Einklang mit der verfassungsrechtlich<br />

verankerten Wahlgleichheit ausgestaltbar<br />

ist. Das Gericht argumentiert hier im Einklang<br />

mit gefestigter Rechtsprechung 4 dreistufig: allgemeiner<br />

Maßstab der Beurteilung eines Sitzzutei-<br />

4<br />

Vgl. BVerfG NVwZ 2008, 407 (408 f.) m.w.N.<br />

41


Aufsätze Marcus Hahn – Formalisierbare Gleichheit MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

lungsverfahrens ist der Grundsatz der Chancengleichheit<br />

bei der Wahlteilnahme, Art. 21,<br />

38 I 1 GG. Hieran wird das gesetzgeberisch ausgestaltete<br />

„Wahlsystem“ gemessen (1). Die verfassungsrechtliche<br />

Rechtfertigung setzt sich in<br />

der Überprüfung seiner inneren Stimmigkeit fort<br />

(2). Modifikationen sind dann ihrerseits rechtfertigungsbedürftig<br />

(3) (vgl. Rn. 48 ff.).<br />

Hier interessiert, ob die „Ein-Sitz-Klausel“ auf<br />

den Stufen (1) bzw. (2) anzusiedeln und somit<br />

Teil der gesetzgeberischen Systemausgestaltung<br />

war oder ob sie vielmehr eine erneut zu rechtfertigende<br />

Modifikation (3) darstellte. Dies macht<br />

die Abgrenzung zwischen Systemausgestaltung<br />

und Modifikation erforderlich. Zutreffend hat<br />

der VerfGH eine Modifikation erkannt (Rn. 47).<br />

Allerdings fällt die Begründung knapp aus und<br />

kann durch eine vertiefte Abgrenzung unterstützt<br />

werden.<br />

Ein Versuch hierzu soll im Folgenden vor dem<br />

Hintergrund der Wahlgleichheit mit Hilfe mathematischer<br />

Erkenntnisse unternommen werden.<br />

Abschließen soll die Besprechung mit der These,<br />

dass sich die Ausgestaltung formaler Wahlrechtsgleichheit<br />

neben normativer auch auf „formalisierbare<br />

Gleichheit“ stützt.<br />

II. Chancengleichheit bei der Wahlteilnahme<br />

und Erfolgswertverschiebungen<br />

Die Chancengleichheit der politischen Parteien<br />

auf Sitzzuteilung ist eine Konkretisierung der<br />

allgemeinen Wahlgleichheit (Art. 20 I, 28 I 2,<br />

38 I 1 GG). Im Vorfeld der Wahl folgt hieraus<br />

eine unabdingbare Chancengleichheit der Parteien<br />

im Hinblick auf die Wahlvorbereitung 5 und<br />

den anschließenden Wahlakt. Eine konsequente<br />

Erweiterung bildet die fraktionelle Gleichheit im<br />

Parlament 6 . Es besteht eine enge Verbindung mit<br />

den Prinzipien der Demokratie und Volkssouve-<br />

5<br />

Beispiele: BVerfG NJW 2002, 2939; hierzu H. Bethge,<br />

ZUM 2003, 253 ff. (Kandidatenduell); K. Stumper,<br />

ZUM 1994, 98 ff. m.w.N. (Rundfunk). Vgl. hierzu<br />

auch C. Gusy, AK-GG, Art. 21 Rn. 91 ff. Zur Herleitung<br />

durch Grundrechtssynthesen M. Meinke, In Verbindung<br />

Mit, 2006, S. 134-143.<br />

6<br />

Vorausschauend H. Triepel, Die Staatsverfassung der<br />

politischen Parteien, 2.A. 1930, S.14-18, 20; BVerfGE<br />

10, 4 (14); 84, 304 (322 ff.), 96, 264 (279 ff.).<br />

ränität sowie der Funktion der politischen Parteien,<br />

aus dem Volk heraus und prinzipiell ungebunden<br />

die politische Willensbildung im Volk in<br />

ein zu wählendes Parlament zu transformieren 7 .<br />

Die Gewährleistung gleicher und unbeschränkter<br />

Wahlteilnahme ist wesentlicher Teil der Erfüllung<br />

dieser Funktion der Parteien 8 .<br />

Parteien-, Wahl- und Parlamentsrecht sind Wettbewerbsrecht<br />

mit formaler Gleichheit auf verschiedenen<br />

zeitlichen und räumlichen Stufen 9 .<br />

Tragend sind daher ein durchgehender, diesen<br />

Stufen angepasster, aber gleichbleibend strenger<br />

Gleichheitsgrundsatz und die Neutralität des<br />

Staates, verstanden als Identifikationsverbot 10 .<br />

1. Mathematische Gleichheit von Zählwert<br />

und Gewichtung der Stimmen<br />

Konsequent haben dann der Wahlakt und die<br />

Gewichtung der Stimmen einem strengen<br />

Gleichheitsmaßstab zu folgen. Im Hinblick auf<br />

Auszählung und Gewichtung der Stimmen ist<br />

dieser Maßstab mathematisch-formal zu verstehen<br />

11 . Unstreitig genießt jede Stimme daher den<br />

gleichen Zählwert 12 . Die kontroverse Frage, ob<br />

auch ein gleicher Erfolgswert oder nur eine „Erfolgschancengleichheit“<br />

in Relation zum gesetzgeberisch<br />

ausgestalteten Wahlsystem 13 aus dem<br />

7<br />

D. Grimm, Politische Parteien, in: E. Benda/W.<br />

Maihofer/H.-J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts<br />

der Bundesrepublik Deutschland, § 14 Rn.<br />

6, 54 ff.<br />

8<br />

D. Grimm, ebd., § 14 Rn. 15. Vgl. auch H. M. Heinig/<br />

M. Morlok, Konkurrenz belebt das Geschäft, ZG 2000,<br />

371 (371).<br />

9<br />

Vgl. H. M. Heinig/M. Morlok, ZG 2000, 371 (372 f.);<br />

weiterhin M. Morlok, in: Dreier, GG, Art. 38 Rn. 94 ff.<br />

Ferner N. Achterberg/M. Schulte, MKS, GG, Art. 38<br />

Rn. 130-132; C. Gusy, AK-GG, Art. 21 Rn. 88 f.<br />

10<br />

Hierzu U. Volkmann, BerlKomm GG, Art. 21 Rn. 50<br />

ff.<br />

11<br />

BVerfGE 51, 222 (234); 85, 264 (315); M/D-Klein,<br />

GG, Art. 38 Rn. 115.<br />

12<br />

Allg. A., statt aller M/D-Klein, GG, Art. 38 Rn. 120;<br />

13<br />

So M/D-Klein, GG, Art. 38 Rn. 120 mit Verweis auf<br />

BVerfGE 95, 335 (353 f.) und die st. Rspr. des<br />

BVerfG, die die Erfolgswertgleichheit jedenfalls für<br />

das Verhältniswahlsystem bejaht, zuletzt BVerfG<br />

DVBl. 2008, 1045 (1047). Für eine unbedingte Erfolgswertgleichheit<br />

aber mit gewichtigen Argumenten<br />

42


MIP 2008/09 15. Jhrg. Marcus Hahn – Formalisierbare Gleichheit Aufsätze<br />

Grundsatz der Wahlgleichheit folgt, kann hier<br />

noch dahinstehen. Denn beide Kriterien sind<br />

streng formal zu begreifen: weder eine Erfolgschancengleichheit<br />

noch eine echte Erfolgswertgleichheit<br />

der vom Wähler abgegebenen<br />

Stimme ist einer inhaltlichen Wertung anhand<br />

anderer als rechnerischer, durch das Wahlsystem<br />

bestimmter Kriterien zugänglich.<br />

Sobald der Gesetzgeber sich politisch, aber<br />

gleichwohl begründungsbedürftig und überprüfbar,<br />

für die Grundsätze eines Wahlsystems entschieden<br />

hat (Rn. 63) 14 , ist der Prüfungsmaßstab<br />

für Modifikationen vor dem Hintergrund der<br />

Wahlgrundsätze des Art. 38 I GG streng. Neben<br />

der hohen politischen Brisanz des Wahlrechts,<br />

insbesondere gegenüber Minderheitenparteien,<br />

ist ein Grund hierfür, dass der Gesetzgeber nach<br />

seiner grundsätzlichen Entscheidung für ein<br />

Wahlsystem keine weitreichenden politischen<br />

Wertungsentscheidungen trifft. Dem Wahlsystem<br />

entgegenstehende Abweichungen und Ungleichbehandlungen<br />

sind dann rechnerisch nachvollziehbar.<br />

2. Modifikationen<br />

Folglich sind Modifikationen nur bei einem<br />

„zwingenden Grund“, der – nach zutreffender<br />

Ansicht – nur überwiegendes kollidierendes Verfassungsrecht<br />

sein kann 15 , statthaft. Solche Modifikationen<br />

sind etwa Sperrklauseln als Ausnahme<br />

(vgl. § 6 V BWahlG) vom im deutschen<br />

Wahlrecht anerkannten Grundsatz, dass in einem<br />

Parlament möglichst alle zur Wahl stehenden<br />

Gruppierungen abzubilden sind 16 . Legitimer verfassungsrechtlicher<br />

Grund für Sperrklauseln ist<br />

die Funktionsfähigkeit der zu wählenden Vertre-<br />

M. Brenner, AöR 116 (1991), S. 537 (577); U. Mager/<br />

R. Uerpmann, DVBl. 1995, 273 ff.; H. Meyer, HStR<br />

II, 2. A. 1998, § 37 Rn. 31 ff.; M. Morlok, in: Dreier,<br />

GG, Art. 38 Rn. 97. Aus der Zeit der Weimarer Republik<br />

RStGH, RGZ 128 Anh. S. 8.<br />

14<br />

Vgl. auch BVerfG NVwZ-RR 1995, 213 m.N.<br />

15<br />

N. Achterberg/M. Schulte, MKS, GG Art. 38 Rn. 132;<br />

M. Heinig, MIP 1999, 25 (29).<br />

16<br />

„Integrationsfunktion“: M/D-Klein, GG, Art. 38 Rn.<br />

126. Gleichwohl ist gegenüber dem Integrationstopos<br />

Zurückhaltung geboten, vgl. M. Heintzen, DVBl. 1997,<br />

744 (748).<br />

tung, nicht aber reine Praktikabilität oder das<br />

Fernhalten bestimmter politischer Strömungen 17 .<br />

3. Abgrenzung von systemimmanenten Verschiebungen<br />

(Rundungseffekt)<br />

Von diesen bewussten Modifikationen sind reine<br />

Rundungseffekte abzugrenzen, die aus dem Zuteilungssystem<br />

selbst heraus auftreten und nur<br />

im Ausnahmefall rechtlich erheblich sind 18 . Ist<br />

nämlich die vorangegangene politische Entscheidung<br />

für ein bestimmtes Wahlverfahren im<br />

Grundsatz gerechtfertigt, so umfasst diese<br />

Rechtfertigung auch unvermeidbare rechnerische<br />

Verschiebungen zwischen Zähl- und Erfolgswert<br />

abgegebener Stimmen.<br />

Solche Verschiebungen lassen sich nur sinnvoll<br />

von bewussten Modifikationen des Gesamtsystems<br />

abgrenzen, wenn sie auf die Stimmen eines<br />

Wahlkreises bezogen werden. Dies gilt sowohl<br />

für die Zuteilung von Listenmandaten eines ganzen<br />

Bundeslandes als auch für die Wahl mehrerer<br />

Abgeordneter in einem Großwahlkreis und<br />

schließlich eines einzelnen Abgeordneten in einem<br />

Mehrheitswahlkreis 19 . In allen Fällen gilt,<br />

dass reine Rundungsfehler in Kauf zu nehmen<br />

sind. Abweichungen von systemisch vorgegebenen<br />

Zuteilungsregeln sind dagegen rechtfertigungsbedürftig:<br />

sie bilden eine von der ursprünglichen<br />

verfassungsmäßigen Konkretisierung<br />

abweichende Präferenz des Gesetzgebers.<br />

Dieser erhebt den Anspruch, die Modifikation<br />

sei eine gleichwohl gültige Verfassungskonkretisierung.<br />

Hierfür trägt er die Begründungslast 20 .<br />

17<br />

ThürVerfGH ThürVBl. 2008, 174 (176); M. Heinig,<br />

MIP 1999, 25 (29).<br />

18<br />

Etwa bei Überaufrundungen, die aus dem d’Hondtschen<br />

Zuteilungssystem resultieren, dazu BVerwGE<br />

119, 305 im Zusammenhang mit kommunalen Ausschussbesetzungen.<br />

19<br />

Praktisch werden in diesem letzten Fall Rundungsfehler<br />

jedoch nicht mehr. Jedenfalls deutet sich hier an,<br />

dass es sich bei Verhältnis- und Mehrheitswahl nicht<br />

um einen starren Gegensatz, sondern um ein Kontinuum<br />

handelt, vgl. M. Morlok, Demokratie und Wahlen,<br />

in: FS 50 Jahre BVerfG II, S. 559 (599-604); v.<br />

Münch/Kunig-Trute, GG, Art. 38 Rn. 14. Skeptisch<br />

dagegen M/D-Klein, GG, Art. 38 Rn. 152, beachte jedoch<br />

Fn. 1 ebd.<br />

43


Aufsätze Marcus Hahn – Formalisierbare Gleichheit MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Die Entscheidung des VerfGH befindet sich auf<br />

der Schwelle der Abgrenzung zwischen Systemprägung<br />

und Modifikation. Der VerfGH hat die<br />

„Ein-Sitz-Klausel“ als rechtfertigungsbedürftige<br />

Abweichung von dem Grundsatz einer proportional<br />

ausgestalteten Sitzzuteilung angesehen –<br />

zu Recht. Denn das in § 33 II KWahlG NW niedergelegte<br />

Zuteilungsverfahren schließt alle an<br />

der Wahl teilnehmden Gruppierungen ein, soweit<br />

sie mindestens 0,5 Sitze erreichen. Diese<br />

Zuteilungsregel nach Saint-Laguë/Schepers ist<br />

bereits über das Gesamtsystem gerechtfertigt.<br />

Die „Ein-Sitz-Klausel“ führt dagegen eine untere<br />

Hürde ein, die der VerfGH konsequent an der<br />

hierzu ergangenen Judikatur misst. Es trifft zu,<br />

dass § 33 II KWahlG NW ein Zuteilungssystem<br />

konstituiert, von dem § 33 III KWahlG NW abweicht<br />

(Rn. 62 ff.). Erhärten lässt sich dies durch<br />

über das Urteil hinaus reichende Abgrenzungskriterien.<br />

III. Abgrenzung zwischen Systemausgestaltung<br />

und Modifikation<br />

Bei der Ausgestaltung des Wahlsystems handelt<br />

es sich um eine politische Entscheidung. Daher<br />

geht die Rechtsprechung zutreffend von einem<br />

breiteren Entscheidungsspielraum aus 21 . Fraglich<br />

ist jedoch, was unter „Wahlsystem“ zu verstehen<br />

ist.<br />

1. Kein verfassungsrechtlicher Mehrwert des<br />

Gegensatzes Mehrheits- und Verhältniswahlrecht<br />

Immer noch dominiert die Auffassung, die Grundentscheidung<br />

falle entweder auf ein Mehrheitsoder<br />

ein Verhältniswahlsystem, wobei die<br />

„Kombination“ grundsätzlich offenstehe 22 . Die<br />

Entscheidung für eines der Systeme bilde den<br />

Maßstab der gesetzgeberischen Bindung. Hierge-<br />

20<br />

Vgl. R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation,<br />

1. A. 1978, S. 238 ff.<br />

21<br />

BVerfGE 3, 19 (24), 59, 119 (124); 95, 335 (349 f.);<br />

DVBl. 2008, 1045 (1047); BayVerfGH BayVBl. 1992,<br />

397 (398).<br />

22<br />

BVerfGE 1, 208 (253); 4, 31 (40); 95, 335 (354); M/<br />

D-Klein, GG, Art. 38 Rn. 162; Magiera, in: Sachs,<br />

GG, Art. 38 Rn. 109.<br />

gen lässt sich anführen, dass sich der Gesetzgeber<br />

seinen eigenen Prüfungsmaßstab schaffen<br />

könnte. Gewichtiger ist aber der Befund, dass<br />

das Wahlrecht auf einem Kontinuum zwischen<br />

der Abbildung möglichst vieler Strömungen und<br />

dem Ziel der Mehrheitssicherung liegt 23 . Entsprechend<br />

hat der Gesetzgeber die in Konflikt<br />

stehenden Ziele eines arbeitsfähigen Parlaments<br />

(Konzentrationsfunktion) und der möglichst<br />

vollständigen Abbildung des Wahlvolks (Abbildungsfunktion)<br />

in Einklang zu bringen 24 . Maßstab<br />

hierzu ist vor allem die Verfassungsnorm<br />

des Art. 38 I 1 GG in ihrer bisher erfolgten Konkretisierung<br />

selbst.<br />

Dennoch bleibt die Systementscheidung rechtlich<br />

relevant. Welches System der Gesetzgeber<br />

gewählt hat, ergibt sich nicht aus der Gegenüberstellung<br />

von Mehrheits- und Verhältniswahl,<br />

sondern aus den Grundprinzipien der im einfachen<br />

Recht auffindbaren Wahlrechtsnormen 25 in<br />

Relation zum Kontinuum möglicher Wahlsysteme.<br />

Diese sind Gegenstand der Rechtfertigung<br />

anhand des Art. 38 I 1 GG. So urteilt auch der<br />

VerfGH, der hier die erste Prüfungsstufe abschichtet<br />

(Rn. 48).<br />

2. Was ist ein verfassungsgemäßes Wahlsystem?<br />

Aus den so gerechtfertigten Grundprinzipien<br />

folgt eine allgemeingültige Mandatszuteilungsmethode.<br />

Diese ist nicht juristisch, sondern mathematisch<br />

erfassbar. Für das gesamte Spektrum<br />

möglicher Zuteilungsmethoden existieren allgemeingültige<br />

mathematische Charakteristika. Sie<br />

sind unabhängig von einer bestimmten Ausgestaltung,<br />

folgen aber aus den verfassungsrechtlichen<br />

Vorgaben der Art. 20 I, 28 I 2, 38 I 1 GG.<br />

Sie können daher bei der Abgrenzung zwischen<br />

System und Modifikation weiterhelfen. Fruchtbar<br />

erscheint dazu ein Rückgriff auf eine jüngere<br />

stochastische Untersuchung, die Kriterien für<br />

23<br />

Vgl. bereits Fn. 19.<br />

24<br />

Vgl. M/D-Klein, Art. 38 Rn. 163.<br />

25<br />

So R. Zippelius/Th. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht,<br />

32. A. 2008, § 39 Rn. 13 – dann aber auf die<br />

starre Kategorisierung zurückschwenkend in Rn. 18-<br />

20.<br />

44


MIP 2008/09 15. Jhrg. Marcus Hahn – Formalisierbare Gleichheit Aufsätze<br />

eine „brauchbare“ Mandatszuteilungsmethode<br />

nennt 26 . Einschränkend gilt, dass sich diese Kriterien<br />

immer auf einen Wahlkreis beziehen: dies<br />

kann ein Mehrheitswahlkreis mit einem zu wählenden<br />

Abgeordneten sein, aber auch ein Großwahlkreis,<br />

in dem alle Sitze vergeben werden.<br />

Dies erhellt die Relevanz für<br />

§ 33 II KWahlG NW: das Zuteilungsverfahren<br />

bezieht sich grundsätzlich auf das gesamte Gemeindegebiet<br />

anhand der aufgestellten Parteilisten.<br />

Um zu ermitteln, ob § 33 II KWahlG NW<br />

ein in sich geschlossenes Wahlsystem aufstellt,<br />

sind die folgenden Kriterien heranzuziehen.<br />

a) Systemkriterien der Statistik<br />

Erstens ist dies Homogenität: die Mandatszuteilung<br />

darf sich nicht ändern, wenn bei steigender<br />

absoluter Stimmenzahl das Stimmenverhältnis<br />

exakt gleich ist 27 . Zweitens ist dies Permutationsäquivarianz:<br />

die abgegebenen Stimmen müssen<br />

ungeachtet der Reihenfolge ihrer Abgabe<br />

austauschbar sein 28 – angereichert durch das<br />

Verbot der Stimmgewichtung ist dieses Kriterium<br />

durch den Rechtsbegriff der Zählwertgleichheit<br />

erfasst. Drittens ist das Kriterium der Monotonie<br />

29 wesentlich: es dürfen keine internen Paradoxien<br />

auftreten, wie jene des „negativen<br />

Stimmgewichts“ 30 . Schließlich bedarf es im Falle<br />

26<br />

B. Beckmann, Das Landtagswahlsystem in Nordrhein-<br />

Westfalen, Dipl.-Arbeit Statistik, Universität Dortmund,<br />

31. 08. 2006, S. 38 ff. Generell zum Ansatz eines<br />

„Diskurses zwischen Recht und Mathematik“ bereits<br />

vorher F. Pukelsheim, DÖV 2004, 405 (405).<br />

27<br />

B. Beckmann, ebd., S. 38: „MZM (v,M) = MZM<br />

(λ ∙ v,M)“ mit MZM als Mandatszuteilungsmethode, v<br />

als Stimmenvektor und M als Gesamtmandatszahl.<br />

28<br />

B. Beckmann, ebd., S. 39.<br />

29<br />

B. Beckmann, ebd., S. 39. „v i < v j → m i ≤ m j “ mit v als<br />

Stimmvektor, m als ganzzahlig zugeteilte Mandate.<br />

30<br />

„Negatives Stimmgewicht“, BVerfG DVBl. 2008,<br />

1045 (1047). Eine Norm des BWahlG führte in bestimmten<br />

Einzelfällen durch föderale Stimmenverrechnung<br />

zu der Paradoxie, dass ein steigender Stimmenanteil<br />

zu einer sinkenden Mandatszahl führen würde. – In<br />

den Zusammenhang gehören auch Verzerrungseffekte<br />

durch Überaufrundung bei der Anwendung des<br />

d’Hondtschen Höchstzahlverfahrens bei der Besetzung<br />

von Ausschüssen. Das mathematische Kriterium der<br />

Monotonie wird hier in „Spiegelbildlichkeit“ übersetzt,<br />

vgl. BVerwGE 119, 305; M. Randak, BayVBl. 2004,<br />

von Mandatsbruchteilen eines Rundungsverfahrens,<br />

das möglichst geringe Abweichungen vom<br />

rechnerischen Idealanspruch hervorbringt 31 .<br />

Diese Kriterien sind auf die gesamte Bandbreite<br />

der möglichen Wahlrechtsausgestaltungen anwendbar.<br />

Relativ zu den Wahlkreisen des Wahlgebiets<br />

sind sie allgemeingültig. Von einem<br />

„Wahlsystem“ kann folglich dann gesprochen<br />

werden, wenn sich das Wahlgesetz an den aufgestellten<br />

Kriterien ausrichtet und mathematisch<br />

lückenlos jeder denkbaren Stimmenkombination<br />

eine Mandatszuteilung zuordnet. Ein Mandatszuteilungssystem<br />

lässt sich folglich formalisieren<br />

32 .<br />

b) Idealfall: Kohärenz<br />

„Kohärent“ ist das System dann, wenn diese Kriterien<br />

überdies lückenlos durchgehalten werden<br />

und die Wahlrechtsnormen auch sonst nicht in<br />

einen formallogischen Widerspruch treten. Ein<br />

kohärentes System ist die verfassungsgemäße<br />

Fortsetzung der Wahlgrundsätze des<br />

Art. 38 I 1 GG und bildet genau dann den Maßstab<br />

für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung<br />

von Modifikationen oder Erweiterungen 33 . Auf<br />

die vermeintlich scharfkantige Zweiteilung zwischen<br />

Verhältnis- und Mehrheitswahl kommt es<br />

dann nicht mehr an.<br />

Verfassungswidrig ist folglich ein inkohärentes<br />

System, so weit die Inkohärenz reicht, weil die<br />

von Beckmann aufgezeigte mathematische Kohärenz<br />

unmittelbar mit der Formalität der in<br />

Art. 20 I, 28 I 2, 38 I 1 GG allgemein geltenden<br />

Wahlrechtsgleichheit zusammenhängt 34 .<br />

705 (707 f.). Kritisch J. Krüper, NWVBl. 2005, 97<br />

(98).<br />

31<br />

Ausführlich und mit überzeugenden Formalisierungen<br />

B. Beckmann, ebd., S. 41 ff.<br />

32<br />

Zu den einzelnen Zuteilungsverfahren B. Beckmann,<br />

S. 46 ff.<br />

33<br />

Anschaulich ist hier die Formulierung, die Proportionalität<br />

der Mandatszuteilung entspreche dem „Wesen“<br />

der Verhältniswahl, BayVerfGH BayVBl. 1992, 397<br />

(397). Mit „Wesen“ verweist der BayVerfGH auf die<br />

innere mathematische und formallogische Kohärenz<br />

der zu beurteilenden Wahlrechtsnormen.<br />

34<br />

Anschaulich ist wiederum die Entscheidung „Negatives<br />

Stimmgewicht“, BVerfG DVBl. 2008, 1045 ff.<br />

45


Aufsätze Marcus Hahn – Formalisierbare Gleichheit MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

c) Einrahmung durch Wertungen des Verfassungsrechts<br />

Weitergehende verfassungsrechtliche Anforderungen<br />

ergeben sich aus der Mathematik nicht,<br />

sondern sind, wenn sie postuliert werden, normativer<br />

Natur und dem juristischen Diskurs<br />

überlassen 35 . Die hier aufgezeigten Formalisierungen<br />

sind normativen Wertungen folglich erstens<br />

nachgelagert: sie stehen unter den Vorzeichen<br />

eines Konkretisierungsbedürfnisses der<br />

Art. 20 I, 28 I 2, 38 I 1 GG und geben Minimalanforderungen<br />

an ein Wahlsystem wieder. Es<br />

bleibt aber nicht bei einer bloßen Ableitung von<br />

Verfassungssätzen: jene Formeln sind Referenzen<br />

für eine offene Verfassungsinterpretation des<br />

Gesetzgebers durch Gestaltung einer Wahlrechtsordnung.<br />

Daher ist die Formalisierung normativen<br />

Wertungen auch vorgelagert: der Gesetzgeber<br />

setzt sein Verständnis einer verfassungsgemäßen<br />

Umsetzung dieser formalisierbaren<br />

Bedingungen und möglichen Modifikationen<br />

in die Wirklichkeit um 36 .<br />

Die zwischen normativen Wertungen angesiedelte<br />

Mathematik erscheint zwar dünn, lässt aber<br />

gerade im Hinblick auf einen Wahlgrundsatz<br />

wenig politischen Spielraum: die formale Wahlrechtsgleichheit.<br />

Deutlich wird dies wiederum an<br />

der strengen Prüfung, die der VerfGH vorgenommen<br />

hat.<br />

3. Folgerung: Abgrenzung zwischen Systemausgestaltung<br />

und Modifikation<br />

Ein Wahlsystem bestimmt sich folglich aus seiner<br />

Ausrichtung auf und Einhaltung von Kohärenzkriterien<br />

im Wechselbezug mit Konkretisierungen<br />

der Verfassung. Mathematisch ist ein<br />

35<br />

Zur Diskussion „Erfolgschancengleichheit“ / „Erfolgswertgleichheit“<br />

siehe oben, Nw. in Fn. 13.<br />

36<br />

Die Konkretisierung verfassungs- und wahlrechtlicher<br />

Grundentscheidungen ist nicht ein bloß deduktiver<br />

Schluss aus Verfassungsnormen, sondern eine dynamische<br />

Ausgestaltung vor dem Hintergrund einer von<br />

Mehrheit und Minderheit geprägten Verfassungskultur,<br />

vgl. allgemein zur Methode F. Müller, Strukturierende<br />

Rechtslehre, 1984, S. 47-69; R. Christensen/ders./M.<br />

Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, 1997, S. 90 ff.,<br />

167 ff.<br />

Wahlsystem eine monotone Funktion, sie weist<br />

also keine Sprünge auf 37 .<br />

Modifikationen des Wahlsystems schaffen dagegen<br />

Sprünge. Sie sind Normen, die von einer<br />

identifizierbaren und anhand obiger Kriterien gerechtfertigter<br />

Grundstruktur abweichen. Erstens<br />

sind sie für sich genommen nicht in der Lage,<br />

eine lückenlose Mandatszuteilung zu ermöglichen<br />

– ihr Anwendungsbereich ist auf einen bestimmten<br />

Stimmenbereich beschränkt. Zweitens<br />

führt ihre Anwendung zusammen mit der Ausgangsnorm<br />

dazu, dass die Kriterien von Homogenität,<br />

Austauschbarkeit oder möglichst geringen<br />

Abweichungen nicht einhaltbar sind. Drittens<br />

muss dieser Effekt gewollt sein: sie dürfen<br />

nicht auf die kohärente Integration der genannten<br />

Kriterien zielen.<br />

4. Richtigkeit des Urteils des VerfGH NW<br />

Im Fall des zu beurteilenden<br />

§ 33 III KWahlG NW war dies der Fall: Ausdrücklich<br />

schieden die so ergangenen Stimmen<br />

aus dem Zuteilungsverfahren aus, das nach<br />

§ 33 II KWahlG NW ohne Berücksichtigung jener<br />

Stimmen wiederholt werden musste. Während<br />

im Bereich des § 33 II 5 KWahlG NW der<br />

Grundsatz kaufmännischer Rundung mit dem<br />

Schwellenwert von 0,5 Bruchteilen galt, setzte<br />

§ 33 III KWahlG NW den Grundsatz durch die<br />

Schwelle von 1,0 außer Kraft. Im Bereich der<br />

„Ein-Sitz-Klausel“ ergab sich folglich ein<br />

Sprung in der Mandatszuteilung; die gemeinsame<br />

Anwendung von § 33 II und<br />

III KWahlG NW hätte folglich – nach den dargelegten<br />

Kriterien – kein optimales Ergebnis erzielt.<br />

a) Modifikation<br />

Somit zeigt sich die Richtigkeit des Urteils, die<br />

„Ein-Sitz-Klausel“ nicht als systeminterne Rundungsproblematik<br />

zu behandeln und somit nicht<br />

als durch die legitime gesetzgeberische Entscheidung<br />

für ein Wahlsystem gerechtfertigt anzusehen.<br />

Es handelt sich somit um eine sperrklausel-<br />

37<br />

B. Beckmann (Fn. 26), S. 57 im Zusammenhang mit<br />

Hare/Niemeyer und passim.<br />

46


MIP 2008/09 15. Jhrg. Marcus Hahn – Formalisierbare Gleichheit Aufsätze<br />

artige Modifikation; auch im Urteil finden sich<br />

mehrfach Hinweise, dass eine solche „Maßnahme<br />

gleicher Wirkung“ rechtfertigungsbedürftig<br />

ist (Rn. 52, 62, 64, 69). § 33 II und III KWahlG<br />

bildeten somit per definitionem kein „Wahlsystem“,<br />

wie die Landesregierung dies vertrat. In<br />

ein kohärentes Wahlsystem hätte die „Ein-Sitz-<br />

Klausel“ nur gepasst, wenn anders als in Saint-<br />

Laguë/Schepers eine rigide Abrundungsregel<br />

(für alle Bruchteile ≥ 0,0) allgemein gegolten<br />

hätte. Hier wäre jedoch die Abweichung vom<br />

Idealanspruch 38 größer. Unter der Voraussetzung<br />

der Annahme einer strikten Erfolgswertgleichheit<br />

aus Art. 38 I 1 GG erzeugt eine solche Gestaltung<br />

dann ein Rechtfertigungsproblem im<br />

Hinblick auf das gesamte System 39 .<br />

b) Rechtfertigung: Tauglichkeit des Kriteriums<br />

„Funktionsbeeinträchtigung“?<br />

Modifikationen sind anhand kollidierenden Verfassungsrechts<br />

zu rechtfertigen, wobei eine<br />

Funktionsstörung der Kommunalvertretungen in<br />

Betracht kam. Die rein abstrakte Möglichkeit einer<br />

Funktionsbeeinträchtigung kommunaler Vertretungen<br />

reicht jedoch nicht aus (Rn. 71) 40 . Das<br />

Urteil trifft – wie auch die anderen bisherigen<br />

Urteile zu kommunalen Sperrklauseln 41 – keine<br />

Entscheidung, wie konkret diese Möglichkeit<br />

werden muss. Bekannt ist, dass die Schwelle für<br />

die Annahme einer Funktionsbeeinträchtigung<br />

im Kommunalwahlrecht höher liegt als im Landes-<br />

oder Bundeswahlrecht, denn auf kommunaler<br />

Ebene wird keine auf parlamentarisches Vertrauen<br />

angewiesene Regierung gebildet 42 .<br />

Das Problem der Beurteilung konkreter Funktionsbeeinträchtigung<br />

scheint zusätzlich an einer<br />

anderen Stelle zu liegen, nämlich in der Perspek-<br />

38<br />

Vgl. oben, Fn. 31.<br />

39<br />

Hierfür sprechen die in Fn. 13 genannten Nachweise.<br />

Ausdrücklich krit. jedoch BW StGH, NVwZ-RR 2003,<br />

609.<br />

40<br />

Im Zusammenhang des Themas M. Heinig, MIP 1999,<br />

25 (33).<br />

41<br />

BVerfG NVwZ 2008, 407 (411); VerfGH NW DVBl.<br />

1999, 1271 (1273); ThürVerfGH NVwZ-RR 2009, 1<br />

(2).<br />

42<br />

Ebd.; BK-GG/Henke, Art. 21 Rn. 200 f. m.w.N.<br />

tive des beurteilenden Gerichts. Während ein<br />

Verfassungsgericht zum Bundes- oder Landtagswahlrecht<br />

mit dem Bundestag oder einem Landtag<br />

horizontal ein einziges Parlament beurteilt 43 ,<br />

hat der VerfGH hier mit Kommunalvertretungen<br />

eine unüberschaubare Anzahl kommunaler Vertretungen<br />

aus vertikaler Sicht zu beurteilen (Rn.<br />

72) 44 . Das Bild wird notwendig diffus; eine konkrete<br />

Funktionsbeeinträchtigung wird sich so<br />

nicht feststellen lassen. Das wirft die Frage auf,<br />

ob das Kriterium in zukünftigen Entscheidungen<br />

zu kommunalen Sperrklauseln überhaupt noch<br />

zu bemühen ist: bei der Beurteilung kommunaler<br />

Sperrklauseln wird daher gelten, dass die Modifikation<br />

einer Systemausgestaltung bereits die<br />

Verfassungswidrigkeit indiziert und dann – anders<br />

als vorliegend – eine breite Rechtfertigungsprüfung<br />

entfallen kann. Das Kriterium der Funktionsbeeinträchtigung<br />

erscheint jedenfalls für<br />

Kommunalvertretungen verzichtbar; es überwiegt<br />

der egalitäre Charakter der Wahlrechtsausgestaltung<br />

45 . Zwar mögen in Einzelfällen Funktionsbeeinträchtigungen<br />

denkbar sein 46 . Solange<br />

aber ein landesweites Kommunalwahlrecht besteht,<br />

kann aus Einzelfällen nichts gegenteiliges<br />

abgeleitet werden 47 .<br />

c) Ergebnis: Mathematik im Rahmen des<br />

Rechts<br />

Aus dem Beispiel des Urteils lässt sich ein Dreiteilungsmodell<br />

ableiten. Auf der ersten Stufe<br />

steht die Schaffung und Rechtfertigung eines<br />

Wahlsystems. Im Wechselbezug mit den normativen<br />

Vorgaben der Art. 20 I, 28 I, 38 I 1 GG ist<br />

43<br />

BVerfGE 1, 208 (248); 6, 89 (92), 95, 355 (366).<br />

44<br />

Vgl. auch VerfGH NW DVBl. 1999, 1271 (1275).<br />

45<br />

Vgl. M. Brenner, AöR 116 (1991), S. 537 (578).<br />

46<br />

Im Zusammenhang mit dem vorliegenden Urteil verweisen<br />

SPD und Grüne auf den Rat der Stadt Duisburg,<br />

vgl. www.wdr.de/themen/politik/ kommunalwahl_2009/klage/sperrklausel_090123.htm.<br />

47<br />

Dieses Dilemma zwischen universaler Geltung einer<br />

Regel (Gleichheit und Unbedingtheit des Wahlrechts<br />

im ganzen Land) und Ausnahmebedürfnissen (bestimmter<br />

Gemeinden) lässt sich nicht auflösen, solange<br />

die Räte nicht ihr eigenes Wahlrecht bestimmen. Anschaulich<br />

S. Veitch, Doing Justice to Particulars, in: E.<br />

Christodoulidis (Hrsg.), Communitarianism and Citizenship,<br />

1998, S. 220 (223 f.).<br />

47


Aufsätze Marcus Hahn – Formalisierbare Gleichheit MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

dieses zweitens mathematisch formalisierbar.<br />

Dementsprechend sind Systemausgestaltung und<br />

Modifikation abgrenzbar. Die dritte Stufe ist die<br />

normative Rechtfertigung der Modifikation.<br />

Rechtfertigungsgründe liegen außerhalb der Mathematik<br />

– sie können allein aus dem bisherigen<br />

Bestand von Rechtsdogmatik und Rechtsprechung<br />

heraus kreiert werden. Die erste Stufe ist<br />

ein formaler, die zweite Stufe ein Prozess nicht<br />

formalisierbarer Kohärenzschaffung 48 .<br />

IV. Ausblick: Formalisierbare Gleichheit<br />

Gleichheit im Wahlrecht ist im Hinblick auf das<br />

Mandatszuteilungsverfahren nicht nur formal,<br />

sondern auch rechnerisch formalisierbar. Die<br />

Annahme einer „formalisierbaren Gleichheit“<br />

spitzt das formale Gleichheitsverständnis der<br />

Mandatszuteilung mathematisch zu und könnte<br />

daher auf Einwände stoßen.<br />

1. Mögliche Einwände<br />

Der Einwand, diese Methode, einen Gleichheitsverstoß<br />

festzustellen, sei mechanistisch und normativen<br />

Wertungen unzugänglich, kann durch<br />

Verweis auf die Rechtfertigungsebene entkräftet<br />

werden. Sobald es nicht mehr um mathematisierbare<br />

Größen geht, bleibt die Rechtfertigung einer<br />

solchen Ungleichbehandlung wertungsabhängig.<br />

Schwerer wiegt der Einwand, dass „kalte“ und<br />

inhaltsleere Mathematik nicht die staatstheoretischen<br />

und geistesgeschichtlichen Grundlagen einer<br />

Verfassung, wie etwa demokratische Repräsentation,<br />

wiedergebe 49 . Dies ist grundsätzlich<br />

richtig, jedoch ist die Formalisierbarkeit eines<br />

Mandatszuteilungsverfahrens abhängig von dem<br />

jeweiligen Wahlsystem, das insgesamt an der<br />

Verfassung in Einklang mit ihren Konkretisierungen<br />

zu rechtfertigen ist. Formalisierbarkeit ist<br />

48<br />

Vgl. K. I. Lee, Die Struktur der juristischen Entscheidung<br />

aus konstruktivistischer Sicht, Diss. iur. Düsseldorf<br />

2008, Teil 2 Abschnitt VI., mit vertiefenden<br />

Nachweisen, i. E.<br />

49<br />

J. Krüper, NWVBl. 2005, 97 (98). Grundlegend zum<br />

Begriff der Repräsentation G. Leibholz, Das Wesen der<br />

Repräsentation (1928) und der Gestaltwandel der Demokratie<br />

im 20. Jahrhundert (1960), 2. Auflage, Berlin<br />

1960, S. 26 ff.<br />

somit deklaratorisch und nicht konstitutiv für die<br />

Konkretisierung von Gleichheitssätzen. Etwa in<br />

politischen Aushandlungsprozessen, wie Koalitionen<br />

und Ausschussbesetzungen, endet ihre<br />

Überzeugungskraft 50 . Dennoch hat sie eine<br />

Scharnierfunktion: sie ist Ausdruck und Ausgangspunkt<br />

innerer Folgerichtigkeit der gesetzgeberischen<br />

Verfassungsinterpretation 51 .<br />

Daher steht das Postulat formalisierbarer Gleichheit<br />

auch im Einklang mit Geschichtsbedingtheit<br />

52 , Wandel 53 und Wirklichkeitsbezug 54 des<br />

Parteien- und Wahlrechts: verliert die Formalisierung<br />

ihre Rechtfertigung, kann sie nicht mehr<br />

einen verfassungsrechtlich legitimen Gleichheitssatz<br />

abbilden und muss ersetzt werden. Sie<br />

ist zeitlich gebundenes Abbild der Wahlrechtsgleichheit.<br />

2. Anwendung als übergreifendes Rechtskriterium<br />

und Grenzen<br />

„Formalisierbare Gleichheit“ ist genau und nur<br />

dort ein dogmatisches Kriterium, wo formale<br />

Gleichheitssätze gelten und Begünstigungen<br />

quantitativ messbar sind. Damit ist sie kein generelles<br />

Kriterium des öffentlichen Rechts – aber<br />

dennoch relevant: zu denken ist an das Steuerrecht<br />

55 oder staatliche Leistungen 56 . Hier ist<br />

ebenfalls eine neutrale Formalisierbarkeit zwischen<br />

verfassungsgemäßer Systementscheidung<br />

und Rechtfertigung von Modifikationen gegeben.<br />

Wegen dieser Möglichkeit und des Bedürfnisses<br />

zu einer normativen Rechtfertigung wird hiermit<br />

kein formalistisches Gleichheitsverständnis be-<br />

50<br />

Zutreffend J. Krüper, ebd.<br />

51<br />

Hierzu M. Herdegen, Verfassungsinterpretation als<br />

methodische Disziplin, JZ 2004, 873 (875).<br />

52<br />

Siehe M. Heinig, MIP 1999, 25 (26). Grundlegend<br />

Triepel (Fn. 6).<br />

53<br />

N. Achterberg/M. Schulte, MKS, GG, Art. 38 Rn. 138.<br />

54<br />

Grundlegend K. Hesse, Die verfassungsrechtliche<br />

Stellung der politischen Parteien im modernen Staat,<br />

VVDStRL 17 (1959), S. 11 (13 f.); M/D-Klein, Art. 38<br />

Rn. 158 f.<br />

55<br />

BVerfGE 84, 239 (282); 93, 121 (134); 110, 94 (112).<br />

56<br />

Vgl. BSG GesR 2007, 581 ff. oder die<br />

„Rentenformel“ in § 68 V SGB VI.<br />

48


MIP 2008/09 15. Jhrg. Marcus Hahn – Formalisierbare Gleichheit Aufsätze<br />

gründet. Formeln werden nicht zu Rechtsbegriffen<br />

57 – formal ist die Wahlrechtsgleichheit, aber<br />

nicht ihre Abbildung in einem Rechtssatz oder<br />

einer Formel. Formalisierbarkeit ist daher auch<br />

nicht abschließend – öffentliches Recht hat eine<br />

gestaltende Funktion und beschränkt sich auch<br />

im Wahlrecht nicht auf ein formalisierbares Minimum.<br />

Gleichwohl bilden Formalisierungen<br />

eine Referenz für gesetzgeberische Gestaltung<br />

und der Beurteilung nachträglicher Modifikationen,<br />

wie auch das Urteil des VerfGH zeigt.<br />

V. Ergebnis<br />

Im Wahlrecht hat der VerfGH für die Zweiteilung<br />

von legitimem Wahlsystem und rechtfertigungsbedürftiger<br />

Differenzierung entschieden.<br />

Durchgehend dürfte damit die Zulässigkeit von<br />

sperrklauselähnlichen Vorschriften, die mit den<br />

formalisierbaren Grundgedanken des Wahlsystems<br />

nicht in Einklang zu bringen sind, gesondert<br />

zu rechtfertigen sein. Die Schwelle hierzu<br />

liegt hoch. Im Ergebnis sind nun in Nordrhein-<br />

Westfalen Sperrklauseln bei Kommunalwahlen<br />

ausgeschlossen. Dogmatisch festigt das Urteil<br />

die praktizierte Dreistufigkeit: ein legitimes<br />

Mandatszuteilungssystem ist formalisierbar, eine<br />

Modifikation ist eine mathematische Abweichung<br />

von ihm; sie ist rechtfertigungsbedürftig.<br />

Formalisierbare Gleichheit hat zwischen der normativen<br />

Ausgestaltung des Wahlsystems und der<br />

Rechtfertigung von Abweichungen eine Scharnier-<br />

und Abbildungsfunktion.<br />

57<br />

Daher sind Formeln auch kein Charakteristikum zur<br />

Lokalisierung des öffentlichen Rechts im Allgemeinen.<br />

Zum – wenngleich nicht unangreifbaren – Versuch einer<br />

solche Abgrenzung anhand feststehender Merkmale<br />

M. Loughlin, The Idea of Public Law, 2003, S. 5 ff.<br />

et passim.<br />

49


Aufsätze Laura Niemann – Die NPD in ihrem ersten parlamentarischen Jahr im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Die NPD in ihrem ersten parlamentarischen<br />

Jahr im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern<br />

1<br />

Laura Niemann, M.A.<br />

1. Einleitung<br />

Bei der Landtagswahl am 17. September 2006 in<br />

Mecklenburg-Vorpommern wurde die NPD mit<br />

7,3 Prozent der Stimmen in das Schweriner Parlament<br />

gewählt. So ist die Partei mittlerweile in<br />

zwei Landtagen vertreten, da sie zwei Jahre zuvor<br />

bei der Landtagswahl in Sachsen 9,2 Prozent<br />

erzielte. Damit gelang es der NPD zum ersten<br />

mal seit den 1960er Jahren, als sie in sieben<br />

Landtagen gleichzeitig vertreten war, wieder in<br />

ein Landesparlament einzuziehen.<br />

Durch die Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern<br />

wurde die rot-rote Regierung abgelöst.<br />

SPD und CDU bilden mit 23 beziehungsweise<br />

22 Abgeordneten eine große Koalition, die<br />

Linkspartei.PDS 2 stellt mit 13 Mandatsträgern<br />

die größte Oppositionspartei und FDP und NPD<br />

bilden mit sieben und sechs Abgeordneten fast<br />

gleichstarke Oppositionsfraktionen.<br />

Betrachtungen bisheriger Landtagsfraktionen der<br />

aktuellen drei größeren rechtsextremen Parteien,<br />

der NPD, DVU und Republikaner, 3 ergeben kein<br />

einheitliches Bild. Die Fraktionen unterscheiden<br />

1<br />

Dieser Aufsatz ist eine Zusammenfassung einer Studie<br />

der Autorin zu diesem Thema, die über das Institut für<br />

Politik- und Kommunikationswissenschaft der Universität<br />

Greifswald bezogen werden kann.<br />

2<br />

Seit Mitte 2007: „Die Linke“. Aufgrund des Untersuchungszeitraumes<br />

wird im folgenden jedoch der alte<br />

Name verwendet.<br />

3<br />

Ob die Republikaner als rechtsextrem einzustufen<br />

sind, ist immer wieder umstritten. So ist die Partei beispielsweise<br />

nicht in dem Bundesverfassungsschutzbericht<br />

von 2007 gesondert aufgenommen worden, da es<br />

keine Anhaltspunkte dafür gebe, daß die Partei sich gegen<br />

die freiheitliche demokratische Grundordnung<br />

richte. Allerdings seien innerhalb der Partei durchaus<br />

Bestrebungen vorhanden, die rechtsextreme Ziele verfolgen<br />

oder unterstützen. Vgl. Bundesministerium des<br />

Innern 2007, S. 51.<br />

sich stark in ihrer Zusammensetzung und ihrem<br />

Verhalten, so „gibt es ‚die’ Parlamentspraxis<br />

von Rechtsextremisten überhaupt nicht“. 4 Das<br />

Auftreten dieser Parteien in den Landtagen hängt<br />

von den jeweiligen Fähigkeiten und politischen<br />

Erfahrungen ihrer Abgeordneten ab. Die NPD-<br />

Parlamentarier der 1960er Jahre waren beispielsweise<br />

geprägt durch ihre politische Biographie,<br />

also ob sie nun als „Neofaschisten“ oder „Postfaschisten“<br />

einzuordnen waren, was sich in ihrem<br />

Auftreten in den Landtagen – eher angepaßt<br />

zu agieren oder nicht – widerspiegelte. 5 Das Ziel,<br />

das die jeweilige Fraktion mit ihrer Präsenz im<br />

Parlament verfolgt, bestimmt ebenso ihr Verhalten.<br />

Liegt es nicht in ihrem Interesse, ernsthafte<br />

und kontinuierliche politische Arbeit zu leisten,<br />

wie beispielsweise bei den Fraktionen der DVU<br />

in Bremen, Schleswig-Holstein und Sachsen-Anhalt,<br />

so ist auch keine konstruktive Sacharbeit zu<br />

erwarten. 6<br />

Auch wenn keine typische Strategie rechtsextremer<br />

Landtagsfraktionen benannt werden kann,<br />

gibt es charakteristische Merkmale die ihre Zusammensetzung<br />

und Verhaltensweisen sowie die<br />

Reaktion der anderen Parteien auf diese betreffen:<br />

a.)<br />

b.)<br />

In der Regel haben Rechtsextreme<br />

Fraktionen unter ihren Parlamentariern<br />

nur einen geringen Frauenanteil.<br />

Häufig bringen diese Fraktionen eine<br />

große Anzahl von parlamentarischen<br />

4<br />

Butterwegge, Christoph, 1999: Erfahrungen mit<br />

Rechtsextremen in Parlamenten. In: Jens Mecklenburg<br />

(Hrsg.), Braune Gefahr. DVU, NPD, REP. Geschichte<br />

und Zukunft, Berlin 1999, S. 183.<br />

5<br />

Vgl. Niethammer, Lutz, 1969: Angepaßter Faschismus.<br />

Politische Praxis der NPD, Frankfurt am Main,<br />

S. 98, 268-269.<br />

6<br />

Vgl. zu den DVU-Fraktionen Schmidt, Matthias,<br />

1997: Die Parlamentsarbeit rechtsextremer Parteien<br />

und mögliche Gegenstrategien: eine Untersuchung am<br />

Beispiel der „Deutschen Volksunion“ im Schleswig-<br />

Holsteinischen Landtag, Münster sowie Hoffmann,<br />

Jürgen/Lepszy, Jürgen, 1998: Die DVU in den Landesparlamenten:<br />

inkompetent, zerstritten, politikunfähig.<br />

Eine Bilanz rechtsextremer Politik nach zehn Jahren,<br />

Sankt Augustin und Holtmann, Everhard, 2002: Die<br />

angepaßten Provokateure. Aufstieg und Niedergang<br />

der rechtsextremen DVU als Protestpartei im polarisierten<br />

Parteiensystem Sachsen-Anhalts, Opladen.<br />

50


MIP 2008/09 15. Jhrg. Laura Niemann – Die NPD in ihrem ersten parlamentarischen Jahr im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern<br />

Aufsätze<br />

c.)<br />

Initiativen in den Landtag ein und<br />

melden sich im Plenum oft zu Wort,<br />

halten sich in den Ausschüssen hingegen<br />

stark zurück. Dies hängt vermutlich<br />

mit dem Interesse zusammen, mit<br />

der parlamentarischen Arbeit die<br />

Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit<br />

zu erlangen, was in den zumeist nicht<br />

öffentlich tagenden Ausschüssen<br />

nicht erreicht werden kann.<br />

Ebenfalls kann als Kennzeichen<br />

rechtsextremer Fraktionen ihre geringe<br />

Stabilität angeführt werden. Dies<br />

liegt laut Butterwegge daran, daß ihnen<br />

eine „Rückkopplung an eine vitale<br />

Parteiorganisation und wesentliche<br />

Bedingungen einer innerparteilichen<br />

Demokratie fehlen“. 7 Konflikte können<br />

deshalb nicht ausgetragen werden<br />

und brechen dann irgendwann hervor.<br />

8 Die Fraktion der DVU in Brandenburg<br />

stellt in diesem Zusammenhang<br />

eine Ausnahme dar, da sie<br />

schon in der zweiten Legislaturperiode<br />

ohne Ausschlüsse oder Austritte<br />

ihrer Abgeordneten besteht. 9<br />

d.)<br />

e.)<br />

Die Themen, die von rechtsextremen<br />

Fraktionen behandelt werden, sind<br />

sehr unterschiedlich, Schwerpunkte<br />

liegen allerdings oft auf der Ausländer-<br />

und Asylpolitik sowie auf<br />

Aspekten, die Sicherheit und Ordnung<br />

betreffen.<br />

Die Reaktionen der anderen Parteien<br />

auf die Anwesenheit einer rechtsextremen<br />

Fraktion fallen ebenso sehr<br />

verschieden aus. Wie intensiv die politische<br />

Auseinandersetzung geführt<br />

wird, hängt in großem Maße von dem<br />

Auftreten der rechtsextremen Parlamentarier<br />

selbst ab. Mehrheitlich<br />

wird eine Ausgrenzungsstrategie verfolgt,<br />

die im Falle einer Einigkeit der<br />

übrigen Fraktionen durch eine gemeinsame<br />

Erklärung bekräftigt wird.<br />

Anträge rechtsextremer Fraktionen<br />

werden vereinzelt gleichlautend wieder<br />

eingebracht, nachdem sie mehr<br />

oder weniger geschlossen abgelehnt<br />

wurden. Änderungen der Geschäftsordnung<br />

sind ein häufiges Mittel, das<br />

zur Eindämmung der Arbeit rechtsextremer<br />

Fraktionen verwendet wird.<br />

7<br />

Butterwegge 1999: S. 180-181.<br />

8<br />

So gehören beispielsweise der NPD-Fraktion im sächsischen<br />

Landtag gegenüber den ursprünglichen zwölf<br />

Abgeordneten durch drei Parteiaustritte und einem<br />

Ausschluß eines Abgeordneten aus der Fraktion, nur<br />

noch acht Personen an. Aufgrund eines Todesfalls und<br />

eines Mandatsrücktritts aufgrund eines Strafverfahrens<br />

gegen einen NPD-Abgeordneten mußten zwei Personen<br />

für die Fraktion in den Landtag nachrücken. Vgl.<br />

Brandstetter, Marc, 2006: Die NPD im 21. Jahrhundert.<br />

Eine Analyse ihrer aktuellen Situation, ihrer Erfolgsbedingungen<br />

und Aussichten, Marburg, S. 144<br />

und Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Sächsischen<br />

Landtag (Hrsg.), 2006: Die NPD-Fraktion im Sächsischen<br />

Landtag. Strategie und Ideologie. Dokumentation<br />

eines Fachgesprächs der Fraktion Bündnis 90/Die<br />

Grünen im Sächsischen Landtag am 24. Mai 2006,<br />

Dresden, S. 19-20, 27-28.<br />

9<br />

Vgl. Mayer, Stefan, 2006: Die DVU in Brandenburg –<br />

Ein rechtsextremistisches Erfolgsmodell? In: Uwe<br />

Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus<br />

& Demokratie, Baden-Baden 2006, S. 154-170 und<br />

SPD-Landtagsfraktion Brandenburg, 2005: Die Deutsche<br />

Volksunion (DVU), Potsdam, S. 11.<br />

In der folgenden Darstellung wird zu überprüfen<br />

sein, ob die genannten Punkte auch auf die Fraktion<br />

der NPD im Schweriner Landtag zutreffen.<br />

Der Untersuchungszeitraum der Analyse reicht<br />

von der konstituierenden Sitzung des Landtages<br />

am 16. Oktober 2006 bis zur Sommerpause des<br />

Parlaments im Juli 2007. Als Quellen dienen u.a.<br />

die Auswertung von 22 Plenarprotokollen sowie<br />

sämtlicher im Untersuchungszeitraum von der<br />

NPD in den Landtag eingebrachten parlamentarischen<br />

Initiativen, der Besuch mehrerer Plenarsitzungen<br />

des Landtages, ein Leitfadeninterview<br />

mit dem Fraktionsvorsitzenden der NPD, Udo<br />

Pastörs, sowie Interviews mit jeweils einem Abgeordneten<br />

der übrigen vier Parteien.<br />

51


Aufsätze Laura Niemann – Die NPD in ihrem ersten parlamentarischen Jahr im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

2. Die NPD im Landtag von Mecklenburg-<br />

Vorpommern<br />

2.1 Die Personen<br />

Die Fraktion der NPD deckt ein breites gesellschaftliches<br />

Spektrum ab. 10 Udo Pastörs (selbständiger<br />

Kaufmann), Stefan Köster (selbständiger<br />

Werbe- und Verwaltungsberater) und Michael<br />

Andrejewski (arbeitsloser Jurist) kommen aus<br />

West- bzw. Süddeutschland, Tino Müller (Maurer),<br />

Raimund Borrmann (selbständiger Unternehmer)<br />

und Birger Lüssow (Energieelektroniker)<br />

stammen aus Mecklenburg-Vorpommern.<br />

Mit Udo Pastörs als Fraktionsvorsitzendem und<br />

Stefan Köster als Parlamentarischen Geschäftsführer<br />

und zweitem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden<br />

nehmen zwei aus Westdeutschland<br />

stammende NPD-Kader entscheidende Positionen<br />

innerhalb der Fraktion ein. Tino Müller, aus<br />

Mecklenburg-Vorpommern stammend und Vertreter<br />

der Kameradschaftsszene, hat zwar die<br />

Funktion des ersten stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden<br />

inne, jedoch ist Stefan Köster als<br />

Parlamentarischer Geschäftsführer Mitglied des<br />

Ältestenrates und gehört damit dem wichtigsten<br />

Lenkungs- und Vermittlungsgremium für parlamentarische<br />

Prozesse im Landtag an.<br />

Als Landesvorsitzender der NPD in Mecklenburg-Vorpommern<br />

und als Angehöriger des<br />

Bundesvorstandes der Partei ist Stefan Köster<br />

der einzige unter den sechs Abgeordneten, der<br />

eine Parteikarriere hinter sich hat. Inzwischen<br />

haben bis auf Raimund Borrmann alle weiteren<br />

Mandatsträger allerdings ebenfalls eine Funktion<br />

im Landesvorstand oder in einem Kreisverband<br />

der NPD inne, dies jedoch mitunter erst seit kurzer<br />

Zeit. Stefan Köster und Michael Andrejewski<br />

sind die Mandatsträger, die am längsten der<br />

NPD angehören, bzw. im Falle von Andrejewski<br />

auch in anderen Gruppierungen Erfahrungen mit<br />

parteipolitischer Arbeit sammeln konnten. Eben-<br />

10<br />

Zu den Angaben über die Abgeordneten der NPD vgl.<br />

http://www.npd-fraktion-mv.de/index.php?<br />

id=14&obj=678&vchg=2&detail=1, 22. Mai 2007 und<br />

Landtag Mecklenburg-Vorpommern (Hrsg.), 2007:<br />

Handbuch. Der Landtag Mecklenburg-Vorpommern, 5.<br />

Wahlperiode 2006-2011, Schwerin, S. 9, 15, 31, 42,<br />

48, 50.<br />

so haben diese beiden durch ihre Mandate in<br />

kommunalen Parlamenten Mecklenburg-Vorpommerns<br />

Erfahrungen mit parlamentarischer<br />

Arbeit. Dies gilt ebenso für Raimund Borrmann,<br />

der Anfang der 1990er Jahre in einem Kreistag<br />

Sachsens ein Mandat inne hatte.<br />

Die Abgeordneten der NPD im Landtag von<br />

Mecklenburg-Vorpommern sowie ihre Mitarbeiter,<br />

unter denen sich nur eine Frau befindet, sind<br />

im Durchschnitt vergleichsweise jung. 11 Damit<br />

bestätigt sich das jugendliche Gesicht der Partei,<br />

das sich insbesondere durch den massenhaften<br />

Eintritt von jungen Neonazis aus Ostdeutschland<br />

entsprechend gewandelt hat. Zu diesen neueren,<br />

jungen Mitgliedern gehören auch die Abgeordneten<br />

Tino Müller und Birger Lüssow, die aus<br />

der Kameradschaftsszene stammen und der Partei<br />

erst seit 2005 angehören. Ihre Anwesenheit<br />

unter den Mandatsträgern der NPD ist Ausdruck<br />

einer erfolgreichen Umsetzung der von der Partei<br />

postulierten „Volksfront von rechts“ in<br />

Mecklenburg-Vorpommern. Dem Mitarbeiterstab<br />

der Fraktion gehören ebenso einige der führenden<br />

Kameradschaftskader des Bundeslandes<br />

an. Obwohl nicht von allen Mitarbeitern Informationen<br />

über ihre weiteren politischen Tätigkeiten<br />

vorliegen, fällt doch auf, daß nur eine geringe<br />

Zahl originär aus der NPD stammt. Daß<br />

die Partei generell, aber besonders in Mecklenburg-Vorpommern,<br />

mit qualifiziertem Personal<br />

sehr dünn besetzt ist, macht auch die Tatsache<br />

deutlich, daß einige der Mitarbeiter der Fraktion<br />

extra aus anderen Bundesländern hinzugezogen<br />

wurden. Davon stammt jedoch lediglich Peter<br />

Marx aus den alten Bundesländern. Peter Marx<br />

ist der bekannteste unter den Mitarbeitern der<br />

NPD im Schweriner Landtag. Er war Fraktionsgeschäftsführer<br />

für die NPD in Sachsen und ist<br />

seit September 2006 in gleicher Funktion im<br />

Landtag von Mecklenburg-Vorpommern tätig.<br />

Der Mitarbeiterstab der Fraktion in Mecklenburg-Vorpommern<br />

ist allerdings nicht in dem<br />

Maße mit Parteiprominenz besetzt wie das sächsische<br />

Pendant. 12<br />

11<br />

Zu den Mitarbeitern der NPD-Fraktion vgl. http://www.endstation-rechts.de/index.php?option=com_content&task=view&id=322&Itemid=174,<br />

14. Juni 2007.<br />

52


MIP 2008/09 15. Jhrg. Laura Niemann – Die NPD in ihrem ersten parlamentarischen Jahr im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern<br />

Aufsätze<br />

2.2 Das Agieren der NPD im Landtag<br />

Bei den Plenarsitzungen des Landtages ist die<br />

NPD-Fraktion fast immer vollzählig anwesend.<br />

Die NPD-Fraktion macht von ihrem Rederecht<br />

im Plenum starken Gebrauch. Bis auf wenige<br />

Ausnahmen hat sie sich im Untersuchungszeitraum<br />

zu jedem in den Landtag eingebrachten<br />

Antrag oder Gesetzentwurf geäußert. Die Abgeordneten<br />

der NPD, wie bei anderen Fraktionen<br />

ebenfalls üblich, sind jeweils auf bestimmte Politikfelder<br />

festgelegt und halten sich auch weitgehend<br />

in ihren Redebeiträgen an diese Einteilung.<br />

Auffällig bei der Anzahl der Redebeiträge<br />

der NPD-Mandatsträger ist, daß die drei Abgeordneten<br />

Michael Andrejewski, Stefan Köster<br />

und Udo Pastörs gemeinsam einen Anteil von<br />

66,3 Prozent der Redebeiträge der NPD bestritten<br />

haben, wohingegen auf Raimund Borrmann,<br />

Birger Lüssow und Tino Müller nur 33,7 Prozent<br />

der Wortmeldungen entfallen. Demnach dominieren<br />

Michael Andrejewski, Stefan Köster und<br />

Udo Pastörs die Arbeit der NPD im Landtagsplenum.<br />

Der Duktus der Redebeiträge der NPD-Abgeordneten<br />

reicht von betont sachlich über polemisch<br />

bis hin zum kalkulierten Eklat. Bevorzugt wird<br />

von der NPD die in ihren Augen vorhandene<br />

Unfähigkeit der Landesregierung und der übrigen<br />

Parteien betont. Diese werden gerne als<br />

„Pseudodemokraten“, „Altparteien“, „Systemparteien“<br />

oder „Blockparteien“ diffamiert. Die<br />

Abgeordneten der Linkspartei.PDS werden häufig<br />

als „PDS-Kommunisten“ bezeichnet. Schon<br />

in der ersten Sitzung des Schweriner Landtages<br />

in der neuen Legislaturperiode wurde deutlich,<br />

daß die Fraktion der NPD gut vorbereitet in die<br />

Sitzungen geht, die Geschäftsordnung kennt und<br />

sie anzuwenden weiß. Die Abgeordneten der<br />

NPD sind im Landtagsplenum grundsätzlich um<br />

ein seriöses Auftreten bemüht. Im Großen und<br />

Ganzen bleibt die NPD allerdings bei Kritik stehen,<br />

ihre Beiträge sind oft oberflächlich und ihre<br />

Argumentation, wie ein bestimmtes Problem gelöst<br />

werden könnte, läuft in den meisten Fällen<br />

auf ihre Vorstellungen einer Änderung des poli-<br />

12<br />

Vgl. Brech, Franziska, 2005: Ein halbes Jahr NPD im<br />

sächsischen Landtag. Personen – Arbeitsstil – Entwicklungsperspektiven,<br />

Berlin, S. 14-18.<br />

tischen Systems hinaus. So sei beispielsweise<br />

laut Tino Müller „die soziale Frage“ nur durch<br />

eine „Neuordnung der gesamtdeutschen Lebensverhältnisse“<br />

zu lösen, worunter er sich die Errichtung<br />

einer „Volksgemeinschaft“ und einer<br />

„raumorientierten Volkswirtschaft“ vorstellt. 13<br />

Es fehlt allerdings bei der NPD auch vielfach die<br />

Bereitschaft, sich sachlich mit einem Thema zu<br />

befassen. Sie setzt vielmehr auf Polemik und öffentlichkeitswirksame<br />

Äußerungen, mit denen<br />

sie jedoch seit der konstituierenden Sitzung, in<br />

der sie durch unzählige Anträge oder durch das<br />

Nachreichen von Wahlvorschlägen die Sitzung<br />

gezielt in die Länge zog und mit polemischen<br />

Äußerungen das Parlament sowie die übrigen<br />

Parteien zu diskreditieren versuchte, kein überregionales<br />

Medieninteresse mehr erzielte. 14<br />

In den Reden der Abgeordneten der NPD im Plenum<br />

des Schweriner Landtages sind alle Elemente<br />

der Parteiideologie wiederzufinden. Neben<br />

EU-feindlichen, globalisierungsfeindlichen,<br />

völkischen, ausländerfeindlichen, rassistischen<br />

und geschichtsrevisionistischen Äußerungen sowie<br />

der Verharmlosung des Dritten Reiches,<br />

werden im besonderen Maße kapitalismuskritische<br />

Bemerkungen gepflegt. Die Fraktion der<br />

NPD nimmt auch die Strategie der Partei auf, sozialpolitische<br />

Fragen verstärkt zu thematisieren.<br />

Die Äußerung Udo Pastörs’, das erste Augenmerk<br />

habe „dem Gesunden und Starken zu gelten“,<br />

15 womit er an ideologische Vorstellungen<br />

aus dem Dritten Reich heranrückt, unterstreicht<br />

jedoch die menschenverachtende Position der<br />

Partei. Unter dem von ihr postulierten „nationalen<br />

Sozialismus“ sollen nicht alle gleichermaßen<br />

gefördert werden, sondern die NPD unterscheidet<br />

zwischen „leistungsfähig“ und „überflüssig“.<br />

Während Michael Andrejewski sich am häufigsten<br />

zu Wort gemeldet hat und insbesondere die<br />

meisten Geschäftsordnungsanträge der Fraktion<br />

stellte, ist es vor allem Udo Pastörs, der durch<br />

abweichendes parlamentarisches Verhalten auf-<br />

13<br />

Plenarprotokoll 5/18, S. 14.<br />

14<br />

„Wie man Nazis zähmt“, in: Die Zeit vom 13. September<br />

2007, S. 12.<br />

15<br />

Plenarprotokoll 5/11, S. 33.<br />

53


Aufsätze Laura Niemann – Die NPD in ihrem ersten parlamentarischen Jahr im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

fällt. So äußert sich dieser im Interview zu der<br />

Strategie der NPD im Landtag folgendermaßen:<br />

„Ich bin derjenige – nicht ausschließlich, aber<br />

maßgeblich – der für diese Blitzer zuständig<br />

ist. Also, wo ich dann sage, das heben wir mal<br />

heraus aus dem normalen Tagesgeschäft, da<br />

setzen wir mal wieder einen Stachel, der möglichst<br />

tief und auch schmerzhaft in die Blockparteienrhetorik<br />

reingeht. Kann ruhig ein Aufschrei<br />

sein. Je lauter die schreien, desto lieber<br />

ist mir das. Und auf anderer Seite haben wir<br />

die Sachebene. Wir können aber unsere Sachebene,<br />

wenn wir uns darauf beschränken<br />

würden, überhaupt nicht kommunizieren.“ 16<br />

Zur Verstärkung der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit<br />

für das Agieren der NPD-Fraktion<br />

im Landtag dient auch die Provokation von Ordnungsrufen,<br />

worin Udo Pastörs, der im Untersuchungszeitraum<br />

mit 16 die mit Abstand größte<br />

Zahl der insgesamt 39 Ordnungsrufe der NPD-<br />

Fraktion bekam, ebenso seine Aufgabe zu sehen<br />

scheint.<br />

Die Verteilung der Zwischenrufe auf die einzelnen<br />

Mandatsträger der NPD zeigt, daß ebenso<br />

wie bei den Wortmeldungen – nur in umgekehrter<br />

Reihenfolge – Udo Pastörs, Stefan Köster<br />

und Michael Andrejewski innerhalb der NPD-<br />

Fraktion am aktivsten auftreten und das Erscheinungsbild<br />

der Fraktion im Plenum entscheidend<br />

prägen. Weite Teile der Plenarsitzungen verlaufen<br />

jedoch auch von diesen drei Abgeordneten<br />

ungestört. Udo Pastörs legt mit einer Anzahl von<br />

457 Zwischenrufen ein deutlich anderes Verhalten<br />

im Plenum an den Tag als Birger Lüssow<br />

und Tino Müller mit jeweils nur zehn in den<br />

Plenarprotokollen dokumentierten Zwischenrufen.<br />

Diese beiden sind erkennbar zurückhaltender<br />

in ihrem Auftreten.<br />

Die Fraktion der NPD macht einen sehr geschlossenen<br />

Eindruck. Eventuell vorhandene<br />

Konflikte innerhalb der Fraktion traten in den<br />

Plenarsitzungen zu keinem Zeitpunkt zutage.<br />

Eine Veränderung des Verhaltens der NPD im<br />

Landtagsplenum im Laufe der Zeit war ebenfalls<br />

nicht zu beobachten, den einzelnen Abgeordneten<br />

ist lediglich ein zunehmend sichereres Auf-<br />

16<br />

Interview mit Udo Pastörs am 24. September 2007.<br />

treten bei ihren Reden und im Umgang mit den<br />

parlamentarischen Abläufen anzumerken.<br />

Am 19. Oktober 2006 wurde von den Fraktionsvorsitzenden<br />

der SPD, CDU, Linkspartei.PDS<br />

und FDP eine gemeinsame Erklärung unterzeichnet.<br />

Darin machen sie deutlich, daß die<br />

NPD, die „sich selbst und [ihre] politischen Ziele<br />

‚verfassungsfeindlich’ nennt“, nicht auf politischer<br />

Gleichbehandlung bestehen und diese einfordern<br />

könne. Die Mitglieder ihrer Fraktionen<br />

würden keinerlei Initiativen der NPD im Landtag<br />

von Mecklenburg-Vorpommern unterstützen,<br />

und sie seien sich darin einig, daß trotz unterschiedlicher<br />

politischer Auffassungen die Verteidigung<br />

der Demokratie Vorrang vor Parteiinteressen<br />

haben müsse. 17 Alle Anträge oder sonstigen<br />

parlamentarischen Initiativen der NPD wurden<br />

geschlossen abgelehnt, und die zu Wahlen<br />

vorgeschlagenen Kandidaten der NPD bekamen,<br />

anders als im Landtag von Sachsen, in allen Fällen<br />

lediglich die sechs Stimmen der eigenen<br />

Fraktion. 18 Außerdem einigte man sich darauf,<br />

daß auf einen Antrag der NPD nur ein Abgeordneter<br />

stellvertretend für alle anderen Fraktionen<br />

reagiert. Es gab einzelne Fälle, bei denen dies<br />

nicht konsequent eingehalten wurde und zwei<br />

oder sogar drei Parlamentarier verschiedener<br />

Fraktionen auf die NPD antworteten, 19 dennoch<br />

sind die Erwiderungen auf die Anträge der NPD<br />

rein quantitativ annähernd gleichmäßig über alle<br />

vier Parteien verteilt. Es kam im Schweriner<br />

Landtag nicht, wie in Sachsen oder anderen<br />

Landtagen der Bundesrepublik, zu demonstrativem<br />

Verlassen des Sitzungssaales aus Protest<br />

gegen die Äußerungen der NPD. So ist der Umgang<br />

der anderen Parteien mit der Fraktion der<br />

NPD insgesamt unaufgeregt.<br />

17<br />

http://www.spd-fraktion-mv.de/ media/content/Gemeinsame%Erklaerung.pdf,<br />

30. Juli 2007.<br />

18<br />

Im Dresdner Landtag erhielten die von der NPD aufgestellten<br />

Kandidaten bei der Wahl zum Ministerpräsidenten<br />

sowie zum Ausländerbeauftragten jeweils 14<br />

Stimmen, also zwei mehr, als der Fraktion zu diesem<br />

Zeitpunkt angehörten. Vgl. Steglich, Henrik, 2006: Die<br />

NPD in Sachsen. Organisatorische Voraussetzungen<br />

ihres Wahlerfolgs 2004, Göttingen, S. 127.<br />

19<br />

Plenarprotokoll 5/12, S. 47-50, 70-72, Plenarprotokoll<br />

5/14, S. 65-67.<br />

54


MIP 2008/09 15. Jhrg. Laura Niemann – Die NPD in ihrem ersten parlamentarischen Jahr im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern<br />

Aufsätze<br />

In der konstituierenden Sitzung des Landtages<br />

wurde die Geschäftsordnung besonders in Hinblick<br />

auf die Anwesenheit der NPD geändert. So<br />

wurden u.a. die Redezeiten im Plenum gestaffelt<br />

nach den Wahlergebnissen der Fraktionen. 20<br />

Ebenfalls gibt es, außer bei Wahlen und Vertrauensfragen,<br />

keine geheimen Abstimmungen<br />

mehr. 21 Eine weitere Änderung betrifft die Besetzung<br />

von Ausschußvorsitzen, die nun nach dem<br />

d’Hondt-Verfahren erfolgt. Der NPD stünde damit<br />

erst ab einer Anzahl von zehn Ausschüssen<br />

ein Vorsitz zu. 22 Am Anfang der Legislaturperiode<br />

wurde ebenfalls das Abgeordnetengesetz<br />

modifiziert. So wurde das Berechnungsverfahren<br />

für die Fraktionsgelder geändert. Dadurch erhalten<br />

kleinere Fraktionen weniger Geld. Außerdem<br />

müssen Fraktionsmitarbeiter sowie Wahlkreismitarbeiter<br />

ein polizeiliches Führungszeugnis<br />

vorlegen. 23<br />

Der Landtag von Mecklenburg-Vorpommern hat<br />

neun ständige Ausschüsse eingesetzt, in denen<br />

jeweils ein Abgeordneter der Fraktion der NPD<br />

vertreten ist. In den Ausschüssen melden sich<br />

die Mandatsträger der NPD nur vereinzelt zu<br />

Wort oder bringen Anträge ein. Die NPD-Fraktion<br />

zieht eindeutig das Plenum den Ausschüssen<br />

vor. Womöglich ist sie an parlamentarischer Arbeit<br />

nicht interessiert, wenn sie sich damit nicht<br />

öffentlich präsentieren kann. Das Verhalten der<br />

Abgeordneten der NPD in den Ausschüssen<br />

weicht entsprechend stark von dem im Landtagsplenum<br />

ab. Anders als im Plenum, wo die<br />

Abgeordneten der NPD ihre in den meisten Fällen<br />

geschriebenen Reden vortragen, tritt in der<br />

Ausschußarbeit – wenn die Vertreter der Partei<br />

sich äußern – ihre mangelnde Durchdringung der<br />

Sachfragen noch deutlicher zutage.<br />

Innerhalb des Untersuchungszeitraumes hat die<br />

NPD insgesamt 364 parlamentarische Initiativen<br />

in den Schweriner Landtag eingebracht. Damit<br />

hat sie im Vergleich zu den anderen beiden Oppositionsfraktionen<br />

im Landtag mehr als viermal<br />

20<br />

Vgl. Drucksache 5/1, Anlage 6.<br />

21<br />

Vgl. Drucksache 5/1, § 92.<br />

22<br />

„Politische Fußfesseln für die NPD“, in: Ostsee-Zeitung<br />

vom 12. Oktober 2006, S. 6.<br />

23<br />

Vgl. Drucksache 5/10.<br />

so viele Initiativen eingebracht wie die fast<br />

gleichgroße Fraktion der FDP (84) und eine beinahe<br />

doppelt so große Anzahl wie die Linkspartei.PDS<br />

(198).<br />

Tabelle 1:<br />

Parlamentarische Initiativen der drei Oppositionsparteien NPD,<br />

FDP und Linkspartei.PDS (16.10.2006-31.7.2007)<br />

Parlamentarische<br />

Initiativen<br />

NPD FDP Linkspartei.PDS<br />

Kleine Anfragen 245 44 103<br />

Anträge 40 18 56<br />

Änderungsanträge 35 12 17<br />

Mündliche Anfragen 30 3 11<br />

Wahlvorschläge 12 4 6<br />

Große Anfragen 1 0 0<br />

Gesetzentwürfe 1 3 5<br />

Gesamt 364 84 198<br />

Mit einer Zahl von 245 sind die Kleinen Anfragen<br />

die häufigste Aktionsform der NPD-Fraktion<br />

im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern. 24<br />

Hingegen hat die NPD-Fraktion im Untersuchungszeitraum<br />

nur einen Gesetzentwurf in den<br />

Landtag eingebracht. Darin soll eine verbindliche<br />

Durchführung von Früherkennungsuntersuchungen<br />

zum Schutz von Kindern vor Vernachlässigung,<br />

Mißbrauch und Mißhandlung auf Landesebene<br />

geregelt werden. 25 Der Antrag ist eine<br />

fast wortgleiche Kopie eines Gesetzentwurfes<br />

der CDU-Landtagsfraktion des Saarlandes vom<br />

23. November 2006. 26 Da der Geschäftsführer<br />

der NPD-Fraktion, Peter Marx, ehemaliger Vorsitzender<br />

der NPD im Saarland war, ist es sicherlich<br />

kein Zufall, daß die Vorlage des Gesetzentwurfes<br />

der Fraktion aus dem Saarland stammt.<br />

Die NPD-Fraktion behandelt sowohl bei ihren<br />

Anträgen, als auch bei ihren Kleinen Anfragen<br />

ein breites Spektrum an Sachthemen und bedient<br />

jeweils fast alle in ihrem Aktionsprogramm zur<br />

24<br />

Hierunter handelt es sich in 143 Fällen um Anfragen,<br />

in denen Stefan Köster rechtsextreme Straftaten, die<br />

von dem Verein für Opfer rechtsextremer Gewalt<br />

„Lobbi e.V.“ dokumentiert wurden, einzeln thematisiert.<br />

Durch diese Flut an gleichförmigen Anfragen<br />

kommt u.a. die große Anzahl der Kleinen Anfragen der<br />

Fraktion zustande.<br />

25<br />

Drucksache 5/467.<br />

26<br />

Plenarprotokoll 5/16, S. 64 sowie Landtag des Saarlandes,<br />

Drucksache 13/1140.<br />

55


Aufsätze Laura Niemann – Die NPD in ihrem ersten parlamentarischen Jahr im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Landtagswahl 2006 genannten Themenkomplexe.<br />

27 Bei den Anträgen, die durch die Einbringung<br />

in die Landtagssitzungen öffentlich mehr<br />

wahrgenommen werden, setzte die Fraktion<br />

einen Schwerpunkt auf den G8-Gipfel, der vom<br />

6. bis zum 8. Juni 2007 in Heiligendamm stattfand,<br />

sowie gesundheits- und sozialpolitische<br />

Fragen. Erst nach Abschluß des Untersuchungszeitraumes<br />

stellte die NPD-Fraktion einen Antrag,<br />

der auf ein eindeutig rechtsextremes Thema<br />

abzielt und fast gleichzeitig und formulierungsgleich<br />

auch von der NPD-Fraktion in Sachsen in<br />

den dortigen Landtag eingebracht wurde. Die<br />

NPD forderte darin die Landesregierung auf,<br />

sich auf Bundesebene für eine Streichung des<br />

§ 130 StGB, der Volksverhetzung unter Strafe<br />

stellt, einzusetzen. 28 Bei ihren Kleinen Anfragen<br />

befaßt sich die NPD-Fraktion im Schweriner<br />

Landtag hingegen vorrangig mit rechtsextremen<br />

Straftaten, Fragen zu Ausländern oder mit sich<br />

selbst als Partei.<br />

2.3 Öffentlichkeitsarbeit und außerparlamentarische<br />

Aktivitäten der NPD-Fraktion<br />

Die NPD im Schweriner Landtag betreibt im Internet<br />

eine eigene Fraktionsseite, auf der sie ausführlich<br />

über ihre Arbeit informiert. 29 Außerdem<br />

veröffentlicht sie regelmäßig ein Informationsblatt,<br />

in dem sie über ihre parlamentarischen Initiativen<br />

und die Landtagssitzungen berichtet sowie<br />

eine Fraktionszeitung mit dem Namen „Der<br />

Ordnungsruf“. Letzterer ähnelt in der Aufmachung<br />

stark dem Informationsblatt „Klartext“<br />

der Fraktion in Sachsen und trägt nicht ohne<br />

Grund diesen Namen. So diene das Instrument<br />

des Ordnungsrufes im Landtagsplenum den<br />

„Pseudodemokraten“ dazu, die „nationale Opposition<br />

zum Schweigen zu bringen“. 30 Die Ordnungsrufe,<br />

die in der Regel nur die NPD träfen,<br />

seien jedoch für die Fraktion ein Beweis dafür,<br />

daß sie „unbestechlich“ sei und „im Gegensatz<br />

27<br />

Vgl. http://www.npd-mv.de/medien/bilder/ltw_<br />

0620060727_aktionsprogramm.pdf, 8. Mai 2007.<br />

28<br />

Drucksache 5/819 und Sächsischer Landtag, Drucksache<br />

4/9731.<br />

29<br />

http://www.npd-fraktion-mv.de.<br />

30<br />

http://www.npd-fraktion-mv.de/index.php?id=7&obj<br />

=1136&vchg=2&detail=1, 10. April 2007.<br />

zu den heuchlerisch gedrechselten Worthülsen<br />

der Blockparteien eine klare und deutliche Sprache“<br />

spreche. 31 Die Fraktion schmückt sich nach<br />

außen hin also mit ihren Ordnungsrufen. Sie<br />

würde sie sogar gerne ernten, so Udo Pastörs. 32<br />

In ihrer außerparlamentarischen Arbeit stellt sich<br />

die NPD-Fraktion als einzige Oppositionspartei<br />

dar, der allein das Wohl der Menschen am Herzen<br />

liegt und versucht, die von ihr im Landtag<br />

gewonnenen Informationen außerhalb des Parlaments<br />

für ihre Zwecke zu nutzen.<br />

„Da die Arbeit im Landtag zu wenig transparent<br />

und ergebnismager ist, erachten die Fraktionsmitglieder<br />

ihre Arbeit vor Ort am Pulsschlag der<br />

Bürgerinnen und Bürger um einiges wichtiger“,<br />

so die NPD in einer Jahresbilanz ihrer Landtagsarbeit,<br />

die sie im Internet veröffentlichte. So<br />

habe die Fraktion mittels zahlreicher Infostände<br />

im ganzen Land über ihre Arbeit im Landtag berichten<br />

können. 33 Außerdem haben fünf der<br />

sechs Abgeordneten der NPD ein Bürgerbüro<br />

eingerichtet, in denen u.a. „Hartz-IV-<br />

Sprechtage“ angeboten werden. 34<br />

Die Aktionen der NPD und ihrer Fraktion in<br />

Mecklenburg-Vorpommern im Zusammenhang<br />

mit dem G8-Gipfel waren wenig erfolgreich, da<br />

diese öffentlich gar nicht oder nur am Rande<br />

wahrgenommen wurden, und die NPD sich somit<br />

nicht als Kritiker der Globalisierung profilieren<br />

konnte. Aufmerksamkeit erregten hingegen<br />

mehrere Auftritte von Udo Pastörs bei rechtsextremen<br />

Demonstrationen. Während die Ideologie<br />

der NPD im Landtagsplenum von ihr nur angedeutet<br />

wird oder unterschwellig mitschwingt,<br />

wird sie bei diesen Reden außerhalb des Parlaments<br />

von Udo Pastörs vor Anhängern der Partei<br />

offen geäußert. So bezieht er sich u.a. positiv auf<br />

das Dritte Reich, spricht Drohungen gegen die<br />

Regierung aus und ruft zum Umsturz des politischen<br />

Systems auf. Diese Äußerungen von Pa-<br />

31<br />

NPD-Fraktion im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern<br />

(Hrsg.), 2007: Der Ordnungsruf, 1/2007, S. 1.<br />

32<br />

Ebd.<br />

33<br />

http://www.npd-mv.de/index.php?sek=0&pfad_id =37<br />

&cmsint_id=1&detail=1485, 19. September 2007.<br />

34<br />

Inzwischen haben alle sechs Abgeordneten ein Bürgerbüro<br />

eingerichtet, Birger Lüssow mittlerweile zwei.<br />

Vgl. www.npd-fraktion-mv.de. 5. Februar 2009.<br />

56


MIP 2008/09 15. Jhrg. Laura Niemann – Die NPD in ihrem ersten parlamentarischen Jahr im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern<br />

Aufsätze<br />

störs stehen im Gegensatz zu dem gemäßigteren<br />

Auftreten der Fraktion im Landtag und dennoch<br />

passen sie in das Kalkül der Partei. Sie senden<br />

ein Signal an die rechte Szene, nach dem Motto:<br />

Wir verweichlichen nicht. Pastörs’ Reden haben<br />

der Partei mediale Aufmerksamkeit geschenkt,<br />

die ihr durch ihre Arbeit im Landtag kaum bis<br />

gar nicht zuteil wird. So hat insbesondere seine<br />

Rede im brandenburgischen Rathenow, in der er<br />

sich u.a. dafür ausspricht, daß die Bundeswehr<br />

wieder Wehrmacht heißen solle und „jene einer<br />

gerechten Strafe zuzuführen“ seien, die für die<br />

„Ausplünderungspolitik unseres deutschen Volkes<br />

Verantwortung tragen“ würden, 35 für viel<br />

Aufsehen gesorgt und in Mecklenburg-Vorpommern<br />

die Rufe nach einem erneuten NPD-Verbotsverfahren<br />

laut werden lassen. 36<br />

Nach der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern<br />

schwärmte Jürgen Gansel, Dresdner<br />

Landtagsabgeordnete der NPD und Mitglied des<br />

Bundesvorstandes der Partei, von einer „nationalen<br />

Achse“ zwischen den Fraktionen in Dresden<br />

und Schwerin und der Parteizentrale in Berlin.<br />

Mit Hilfe dieser strategischen Achse werde die<br />

Partei „von Mitteldeutschland aus“ eine „nationale<br />

Welle über das Land schwappen lassen“, so<br />

Gansel. 37 Eine rege Zusammenarbeit der beiden<br />

Landtagsfraktionen der NPD läßt sich allerdings<br />

nicht konstatieren. Die NPD-Fraktion in Mecklenburg-Vorpommern<br />

konnte jedoch sicherlich<br />

von den Erfahrungen der sächsischen Fraktion,<br />

dabei vor allem vermittelt durch Peter Marx,<br />

profitieren. Nur vereinzelt ist eine Koordinierung<br />

der Arbeit der beiden Fraktionen festzustel-<br />

35<br />

Zitiert nach: http://www.endstation-rechts.de/index.-<br />

php?option=com_content&task=view&id=467& Itemid=92,<br />

25. Juni 2007.<br />

36<br />

„Pastörs-Rede: MV prüft Chancen auf NPD-Verbot“,<br />

in: Ostsee-Zeitung vom 22. Juni 2007, S. 5.<br />

37<br />

http://www.npd.de/index.php?sek=0&pfad_id=9&cmsint_id=1&detail=535,<br />

5. Juni 2007. Den Begriff „Mitteldeutschland“<br />

verwendet die NPD in geschichtsrevisionistischem<br />

Sinne. So handele es sich „bei dem Gebiet<br />

der früheren DDR um das historische ‚Mitteldeutschland’<br />

und nicht um ‚Ostdeutschland’“, welches<br />

„östlich von Oder und Neiße“ läge. NPD-Parteivorstand<br />

(Hrsg.), 2006: Handreichung für die öffentliche<br />

Auseinandersetzung. Argumente für Kandidaten &<br />

Funktionsträger. NPD. Die Nationalen, Berlin, S. 30.<br />

len, wie etwa im Falle des Antrages auf Streichung<br />

des § 130 StGB.<br />

Die außerparlamentarische Arbeit ist für die<br />

NPD von entscheidender Bedeutung, weil sie<br />

dort die Menschen direkt erreichen kann. Die<br />

Präsenz in Landtagen bleibt ein wichtiges Puzzleteil<br />

in der Gesamtstrategie der Partei, sie verschafft<br />

ihr Gelder und Zugang zu Informationen,<br />

welche die NPD für ihre Arbeit außerhalb des<br />

Parlamentes nutzen kann.<br />

3. Fazit und Ausblick<br />

Die NPD-Fraktion verfolgt in ihrer Arbeit im<br />

Landtag, aber ebenso außerhalb des Parlamentes,<br />

eine Doppelstrategie. Einerseits ist sie darum bemüht,<br />

seriöse parlamentarische Arbeit zu betreiben<br />

und sich mit Hilfe von Informationsständen<br />

sowie der Arbeit in ihren Wahlkreisbüros bürgernah<br />

zu präsentieren, andererseits versucht sie,<br />

mit polemischen Äußerungen im Landtag und<br />

mit verschiedenen Aktionen außerhalb des Parlamentes<br />

ihre extrem rechte Anhängerschaft zu bedienen<br />

sowie die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit<br />

zu erlangen. Diese Doppelstrategie ist<br />

Ausdruck des Konfliktes, innerhalb der Strategie<br />

der NPD radikale wie bürgerlich-konservative<br />

Kreise gleichzeitig ansprechen zu wollen. So<br />

steht der aktionistisch geprägte „Kampf um die<br />

Straße“, der vor allem die gewaltbereite Szene<br />

der Rechtsextremisten ansprechen soll, im Widerspruch<br />

zu dem „Kampf um die Parlamente“,<br />

der eher übliche Wahlkampfaktivitäten beinhaltet,<br />

um gemäßigtere Sympathisanten der NPD zu<br />

erreichen. 38 Die Partei nutzt jedoch ihre Präsenz<br />

im Landtag, um den „Kampf um die Köpfe“, die<br />

dritte Säule der sogenannten „Drei-Säulen-Strategie“<br />

der NPD, auf parlamentarischer Ebene<br />

weiter zu betreiben. Man kann den Ausspruch<br />

von Udo Pastörs, die NPD-Fraktion im Schweriner<br />

Landtag habe eine „Leuchtturmfunktion“, 39<br />

also durchaus in diesem Sinne verstehen, daß der<br />

Landtag von der NPD als Podium genutzt wird,<br />

die Ideologie der Partei zu verbreiten um auf die-<br />

38<br />

Vgl. Stöss, Richard, 2005: Rechtsextremismus im<br />

Wandel, Berlin, S. 135-136.<br />

39<br />

Interview mit Udo Pastörs am 24. September 2007.<br />

57


Aufsätze Laura Niemann – Die NPD in ihrem ersten parlamentarischen Jahr im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

sem Wege die Normalisierung rechtsextremer<br />

Ansichten voranzutreiben.<br />

Das Auftreten der Fraktion der NPD im Landtag<br />

von Mecklenburg-Vorpommern hat viele Gemeinsamkeiten<br />

mit den eingangs genannten<br />

Merkmalen von Fraktionen rechtsextremer Parteien<br />

in anderen Landesparlamenten. Neben dem<br />

geringen Frauenanteil bei rechtsextremen Fraktionen,<br />

der bei der Schweriner Fraktion wiederzufinden<br />

ist, zeigt sich auch bei ihr das charakteristische<br />

Verhalten, daß sie sich im Plenum häufig<br />

zu Wort meldet, viele parlamentarische Initiativen<br />

in den Landtag einbringt, ihre Abgeordneten<br />

in den Ausschüssen hingegen nahezu inaktiv<br />

sind.<br />

Im Gegensatz zu der Dresdner Fraktion und<br />

Fraktionen anderer rechtsextremer Parteien gibt<br />

es bei der NPD im Schweriner Landtag bisher<br />

noch keine Anzeichen von Instabilität. In Sachsen<br />

bestand bei einigen Abgeordneten Unzufriedenheit<br />

über die Vernachlässigung von sozialen<br />

Themen, die ideologische Ausrichtung der Fraktion<br />

am Nationalsozialismus und die Dominanz<br />

von aus Westdeutschland stammenden Abgeordneten.<br />

Dieses Problem wird bei der Schweriner<br />

Fraktion so nicht auftreten, denn dort treffen auf<br />

die Kader aus Westdeutschland die tendentiell<br />

noch radikaleren Abgeordneten aus der Kameradschaftsszene.<br />

Es ist eher zu beobachten, daß<br />

sich die NPD und damit auch die Fraktion im<br />

Landtag von Mecklenburg-Vorpommern durch<br />

die Zusammenarbeit mit den Kameradschaften<br />

weiter radikalisiert.<br />

Die Arbeitsweise der Fraktion der NPD in<br />

Mecklenburg-Vorpommern ist im Vergleich zu<br />

anderen Fraktionen rechtsextremer Parteien<br />

durch eine gewisse Professionalität gekennzeichnet.<br />

Wie geschildert, tritt die Fraktion im Landtag<br />

geschlossen auf. Die internen Zuständigkeiten<br />

hat sie nach Politikfeldern aufgeteilt und geht<br />

in ihren Reden im Plenum auch weitgehend danach<br />

vor. In ihren parlamentarischen Initiativen<br />

ist sie gleichzeitig darum bemüht, eine Vielfalt<br />

an Themen zu bearbeiten und sich nicht auf wenige<br />

Bereiche zu beschränken. Außerdem hat die<br />

Fraktion eine eigene Internetseite eingerichtet<br />

und veröffentlicht regelmäßig Informationen<br />

über ihre Arbeit in Form von Mitteilungsblättern<br />

und einer Fraktionszeitung. Dies alles ist bei<br />

Landtagsfraktionen rechtsextremer Parteien alles<br />

andere als selbstverständlich.<br />

In ihrer thematischen Schwerpunktsetzung hat<br />

die Fraktion in Mecklenburg-Vorpommern aus<br />

den Ereignissen in Sachsen gelernt – sie beschäftigte<br />

sich von Anfang an mit sozialpolitischen<br />

Inhalten. Mit typischen Themen rechtsextremer<br />

Parteien wie Ausländer- und Asylpolitik oder Sicherheit<br />

und Ordnung befaßt sich die NPD im<br />

Schweriner Landtag in ihren Anträgen jedoch<br />

nicht. Dies sieht bei ihren Kleinen Anfragen anders<br />

aus.<br />

Die Ablehnung der anderen Parteien im Schweriner<br />

Landtag gegenüber jeglicher Zusammenarbeit<br />

mit der NPD wurde durch eine gemeinsame<br />

Erklärung bekräftigt und es wurde durch Änderungen<br />

der Geschäftsordnung auf die Anwesenheit<br />

der rechtsextremen Fraktion reagiert. Inhaltliche<br />

Erfolge konnte die Fraktion der NPD im<br />

Landtag von Mecklenburg-Vorpommern aufgrund<br />

dieser konsequenten Abgrenzung nicht erzielen.<br />

Die anderen Fraktionen treten insgesamt<br />

geschlossen und besonnen der NPD gegenüber.<br />

In diesem Sinne konnten auch die anderen Parteien<br />

aus den Ereignissen in Sachsen lernen. Ihr<br />

Verhalten stellt in der Rückschau keinen Einzelfall<br />

dar, ist jedoch im Vergleich zu anderen<br />

Landtagen mit rechtsextremen Fraktionen keineswegs<br />

überall erreicht worden.<br />

Auch über zwei Jahre nach dem Einzug der NPD<br />

in den Schweriner Landtag hat sich an der Geschlossenheit<br />

der Fraktion nichts geändert und<br />

sie ist nach wie vor parlamentarisch sehr aktiv.<br />

So haben die sechs Abgeordneten gegenüber den<br />

zuvor gezählten 364 inzwischen 887 parlamentarische<br />

Initiativen in den Landtag eingebracht.<br />

Davon sind mit einer Zahl von 655 die Kleinen<br />

Anfragen weiterhin mit Abstand die häufigste<br />

Aktionsform der Fraktion. 40 Nach dem Ausklingen<br />

des G8-Gipfels zeigt sich noch deutlicher<br />

die inhaltliche Schwerpunktsetzung der NPD bei<br />

40<br />

Vgl. www.dokumentation.landtag-mv.de/parldok/. 9.<br />

Februar 2009.<br />

58


MIP 2008/09 15. Jhrg. Laura Niemann – Die NPD in ihrem ersten parlamentarischen Jahr im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern<br />

Aufsätze<br />

ihren Anträgen auf Wirtschafts- und Sozialpolitik.<br />

41<br />

Das Thema Rechtsextremismus ist durch die<br />

Präsenz der NPD im Landtag in Mecklenburg-<br />

Vorpommern stark in der Öffentlichkeit vertreten<br />

und immer mehr Menschen merken, daß<br />

auch sie in der Verantwortung stehen, die Demokratie<br />

zu schützen. Die NPD trägt also unfreiwillig<br />

dazu bei, die Demokratie zu stärken. Dennoch<br />

könnte es der NPD bei den Kommunalwahlen<br />

im Juni 2009 gelingen, ihre momentan noch<br />

zehn Mandate in den Kommunen Mecklenburg-<br />

Vorpommerns auszubauen. Auch aus diesem<br />

Grund ist es geboten, das Augenmerk vor allem<br />

auf die außerparlamentarische Arbeit der NPD in<br />

den Kommunen zu richten und dieser etwas entgegenzusetzen.<br />

41<br />

Vgl. Langer, Kai/Lehmann, Arne, 2008: 18 Monate<br />

Populismus und Provokation. In: Mathias<br />

Brodkorb/Volker Schlotmann (Hrsg.), Provokation als<br />

Prinzip. Die NPD im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern,<br />

Schwerin 2008, S. 74.<br />

59


Aufsätze Antje Sadowski – Von der visuellen zur virtuellen Partei MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Von der visuellen zur virtuellen<br />

Partei<br />

Antje Sadowski 1<br />

I. Einleitung<br />

A, ein renommierter und allseits geschätzter Abgeordneter,<br />

stattet dem Parteitag seiner Partei<br />

einen Besuch ab. Diskutiert wird anlässlich einer<br />

großen politischen Debatte, zu der er als Redner<br />

geladen ist. Als er seine flammende Rede beendet,<br />

ertönen Applaus und Bravorufe seitens seiner<br />

Parteifreunde. Er wird beglückwünscht und<br />

lässt sich noch ein paar Minuten feiern, bevor er<br />

das Rednerpult wieder verlässt. Dazu greift er zu<br />

der Maus, die vor ihm auf seinem Schreibtisch<br />

liegt, und klickt auf den Button „Logout“. Für<br />

die anderen Parteimitglieder verschwindet er in<br />

diesem Moment vom Parteitag. Er selbst verweilt<br />

noch einen Moment an seinem Schreibtisch,<br />

bevor er sich auf den Weg in die Küche<br />

macht.<br />

Um am Parteitag seiner Partei teilzunehmen,<br />

musste A nicht mal seine Wohnung verlassen. Er<br />

wählte sich einfach in das Parteiforum ein und<br />

war sogleich „anwesend“. Nur eine Fiktion?<br />

Im Zeitalter von Heimarbeit, „Second-Life“ und<br />

Internet-Shopping muss man für die wenigsten<br />

Lebensbereiche noch sein Haus verlassen. Auch<br />

nicht mehr für die Parteiarbeit? Neugegründete,<br />

kleine Parteien 2 versuchen bereits ihre Arbeitsebene<br />

ins Internet zu verlagern und eine<br />

stärkere parteiinterne Partizipation ihrer Mitglieder<br />

zu erreichen, indem sie ihnen zeit- und geldaufwendige<br />

Wege zu Parteiversammlungen ersparen.<br />

Auch die großen Parteien besitzen längst<br />

geschlossene Mitgliederbereiche 3 , in die man online<br />

über ihre Website gelangen kann. Dort be-<br />

1<br />

Die Verfasserin ist Mitarbeiterin und Doktorandin am<br />

<strong>PRuF</strong>.<br />

2<br />

Bspw. die Partei Die.Basis, die in § 4 ihrer Satzung<br />

ausdrücklich darauf verweist, dass die hauptsächliche<br />

überregionale Arbeits- und Kommunikationsebene der<br />

Partei das Internet sein soll.<br />

steht für Mitglieder die Möglichkeit in Foren<br />

und Gruppen miteinander zu diskutieren und<br />

Beiträge zu verfassen. Eine wesentliche Funktion<br />

von Mitgliederversammlungen, nämlich Meinungen<br />

auszutauschen, Abstimmungen vorzubereiten<br />

und Mehrheiten für seine Sache zu finden,<br />

vollzieht sich also bereits online. Es scheint auch<br />

ein generelles Bedürfnis nach solchen Internetplattformen<br />

zu geben. Die bestehenden Foren<br />

werden rege genutzt. Selbst dort wo keine geschlossenen<br />

Mitgliederbereiche bestehen, wie<br />

etwa bei der Partei „Bündnis 90/Die Grünen“,<br />

verwirklichten die Mitglieder ihren Drang nach<br />

Internetkommunikation, indem sie auf bereits<br />

bestehende freizugängliche Netzwerke auswichen<br />

und dort eigene Gruppen eröffneten 4 . Sogar<br />

den Wahlkampf betreiben Parteien mittlerweile<br />

verstärkt über Internetauftritte. Zu diesem Zweck<br />

verlinken sie beispielsweise ihre Websites mit<br />

„YouTube“, wo Videos von Kandidatenauftritten<br />

zu finden sind. Auch vor virtuellen Parteizentralen<br />

5 und Wahlkampfaktionen in „Second-<br />

Life“ wird nicht halt gemacht 6 . Ist die vollständige<br />

Verlagerung sämtlicher Parteiaktivität ins Internet<br />

also nur noch eine Frage der Zeit? Bei einer<br />

bloßen Fiktion ist es jedenfalls nicht geblieben.<br />

Die Parteien stellen längst nicht mehr die<br />

Reinform einer Präsenzpartei dar, sondern haben<br />

durchweg die neuen Medien für sich entdeckt<br />

und nutzbar gemacht.<br />

Wie ist diese Entwicklung nun rechtlich zu bestimmen?<br />

Ist das Abhalten von Online-Mitgliederversammlungen<br />

für Parteien rechtlich überhaupt<br />

zulässig oder hinkt das Recht hier einer<br />

gesellschaftlichen Entwicklung hinterher?<br />

3<br />

Z.B. http://www.meinespd.net/; http://diskussion.cdu.-<br />

de/index.html und<br />

https://my.fdp.de/webcom/show_websiteprog.php/_c-<br />

882/i.html.<br />

4<br />

Siehe dazu http://de-de.facebook.com/group.php?<br />

gid=14555622783 und http://www.studivz.net/Groups/<br />

Overview/01c13d9fc8bf074e. Dies war für die Partei<br />

Anlass genug, ebenfalls ein Projekt zu starten, um<br />

einen geschlossenen Mitgliederbereich einzurichten. Er<br />

soll für die Mitglieder ab Mitte März 2009 zur Verfügung<br />

stehen.<br />

5<br />

Vgl. bspw. für die SPD http://www.spdsl.de/.<br />

6<br />

Vgl. nur http://www.heise.de/tp/r4/artikel/ 26/<br />

26389/1.html.<br />

60


MIP 2008/09 15. Jhrg. Antje Sadowski – Von der visuellen zur virtuellen Partei Aufsätze<br />

In der Literatur zum allgemeinen Zivil- und Vereinsrecht<br />

wird die Möglichkeit für Vereine sich<br />

online zu versammeln bereits seit einiger Zeit<br />

diskutiert. Die parteienrechtliche Forschung<br />

schweigt dazu jedoch noch. Dieser Aufsatz soll<br />

daher als Beitrag verstanden werden, die aktuelle<br />

zivilrechtliche Debatte um die Online-Versammlungen<br />

auch für das Parteienrecht zu eröffnen.<br />

Zentraler Untersuchungsgegenstand ist die online<br />

abgehaltene Mitgliederversammlung, als<br />

wichtigste Partizipationsmöglichkeit der Mitglieder.<br />

Dazu wird einleitend zunächst die Begrifflichkeit<br />

der Online-Versammlung geklärt<br />

(unter II.), bevor Ausführungen zum aktuellen<br />

Versammlungsbegriff im Zivilrecht folgen (unter<br />

III.) und abschließend die gewonnen Erkenntnisse<br />

auf das Parteienrecht übertragen, sowie rechtliche<br />

Grenzen für eine Online-Versammlung von<br />

Parteien aufgezeigt werden (unter IV.).<br />

II. Zur Begrifflichkeit der Online-Versammlung<br />

Traditionell wird unter einer Versammlung ein<br />

Zusammenkommen von zunächst rein körperlich<br />

anwesenden Personen zu einem gemeinsamen<br />

Zweck verstanden. 7 Im Zentrum steht dabei<br />

insbesondere die Möglichkeit zur gemeinsamen<br />

Kommunikation bzw. zum Meinungsaustausch 8 .<br />

Betrachtet man die Alternativen, die zur Versammlung<br />

neben dem physischen Zusammenkommen<br />

bis vor wenigen Jahren bestanden, erscheint<br />

dies nur allzu verständlich. Die Möglich-<br />

7<br />

Benda, in: Abraham/Dolzer, Bonner Kommenter zum<br />

GG, Art. 8 Rdnr. 31 [1995]; allerdings ist vereinzelt<br />

bereits eine Wandlung weg vom Erfordernis der körperlichen<br />

Anwesenheit auszumachen. So bspw. im Urteil<br />

des AG Frankfurt (Main) vom 01.07.2005 -991 Ds<br />

61000 Js 226314/01 – in: CR 2005, 897 (900), in welchem<br />

das Gericht die Versammlungseigenschaft einer<br />

Online-Demonstration ausdrücklich wegen des fehlenden<br />

gemeinsamen Zweckes und nicht wegen des virtuellen<br />

Ortes verneint. Auch in der Literatur mehren sich<br />

Stimmen, den Versammlungsbegriff den technischen<br />

Gegebenheiten anzupassen, und virtuelle Versammlungen<br />

zuzulassen, solange sie nur alle Merkmale des<br />

Versammlungsbegriffs aufweisen. So bspw. Kraft/<br />

Meister, Rechtsprobleme virtueller Sit-ins, MMR<br />

2003, 366 ff.<br />

8<br />

Statt vieler Kannengießer, in: Schmidt-Bleibtreu/<br />

Klein, GG, 2004, Art.8 Rdnr. 3 m.w.N.<br />

keiten, um in einer Gruppe miteinander zu kommunizieren,<br />

erschöpften sich in Umlaufschreiben<br />

oder Telefonkonferenzen. Eine schriftliche Diskussion<br />

ist nun sehr mühsam, und bei einer Telefonkonferenz<br />

ist die maximale Teilnehmerzahl<br />

naturbedingt auf wenige begrenzt, so dass das<br />

tatsächliche Zusammenkommen der Versammlungsteilnehmer<br />

die einzig handhabbare Option<br />

darstellte. Der gleiche Versammlungszweck,<br />

nämlich Kommunikation, Meinungsbildung und<br />

-austausch mit anderen, kann mittlerweile auch<br />

erreicht werden, ohne dass die Versammlungsteilnehmer<br />

sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen.<br />

Der schriftliche Austausch ist<br />

durch das Mittel der e-mail erheblich schneller<br />

geworden, Übertragungen von Bild und Ton mit<br />

web-cams und web-micros sind nahezu in Echtzeit<br />

möglich und sogar rein virtuelle Treffen, bei<br />

denen sich alle Teilnehmer in einem virtuellen<br />

Raum selbst und auch gegenseitig sehen können,<br />

sind realisierbar.<br />

Eine Online-Versammlung ist also eine Versammlung<br />

unter Zuhilfenahme moderner Kommunikationsmittel.<br />

Sie ist ein Zusammenkommen<br />

von körperlich Abwesenden, die ähnlich<br />

wie körperlich Anwesende agieren. Mit ihr wird<br />

der gleiche Zweck erfüllt, nur bedienen die Teilnehmer<br />

sich dazu des Internets. Die Online-Versammlung<br />

hat damit Versammlungscharakter<br />

und stellt lediglich eine Modifikation des hergebrachten<br />

Verständnisses von Versammlungen<br />

dar 9 .<br />

III. Die Online-Versammlung im Zivilrecht<br />

Im Zivilrecht hat die Mitgliederversammlung<br />

von juristischen Personen zwar detaillierte Regelungen<br />

10 erfahren, doch finden sich auch dort<br />

keine spezifischen Ausführungen zur Online-<br />

Versammlung. Ebenso wenig konnte die Rechtsprechung<br />

sich bisher mit diesem Thema ausein-<br />

9<br />

So auch Schwarz, Neue Medien im Gesellschaftsrecht,<br />

MMR 2003, 23 ff.; Erdmann, Die Online-Versammlung<br />

im Vereins- und GmbH-Recht, MMR 2000, 526<br />

(532).<br />

10<br />

Vgl. nur §§ 32 ff. BGB, §§ 118 ff. AktG, §§ 43 ff.<br />

GenG.<br />

61


Aufsätze Antje Sadowski – Von der visuellen zur virtuellen Partei MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

andersetzten 11 . In der zivilrechtlichen Literatur<br />

dagegen wurde die Online-Versammlung bereits<br />

als neue Form der Versammlung erkannt und<br />

rechtlich zu verorten versucht. Es bietet sich daher<br />

an, den Blick zunächst auf diese Überlegungen,<br />

insbesondere zum Vereinsrecht, zu lenken,<br />

und ihn anschließend auf das Parteienrecht auszuweiten.<br />

Die neuere Literatur zum allgemeinen Vereinsrecht<br />

geht fast geschlossen 12 davon aus, dass eine<br />

Online-Versammlung für Vereine möglich sein<br />

muss. Dogmatisch begründet wird dies überwiegend<br />

mit einer entsprechenden Auslegung des<br />

§ 32 II BGB.<br />

1. § 32 II BGB<br />

Der Wortlaut des § 32 II BGB regelt originär den<br />

Fall der Beschlussfassung im Verein ohne Versammlung,<br />

also in erster Linie eigentlich eine<br />

Nicht-Versammlung. Ein Beschluss sei danach<br />

auch ohne Versammlung gültig, wenn alle Mitglieder<br />

ihre Zustimmung zu dem Beschluss<br />

schriftlich erklärten. § 32 II BGB stellt damit<br />

eine Ausnahme zu dem üblichen Beschlussverfahren<br />

im Zuge einer Mitgliederversammlung<br />

dar. Hilfreich kann ein solches Verfahren insbesondere<br />

bei Eilentscheidungen sein, in denen zu<br />

einer ordnungsgemäßen Einberufung der Mitgliederversammlung<br />

einschließlich Ladung keine<br />

Zeit bleibt. Wegen des Ausnahmecharakters<br />

sind an eine Beschlussfassung im Verfahren des<br />

§ 32 II BGB erhöhte Anforderungen gestellt. Es<br />

sind Einstimmigkeit und Schriftform erforderlich.<br />

Allerdings ist § 32 II BGB eine nachgiebige<br />

Regelung iSd § 40 BGB, so dass der Verein in<br />

seiner Satzung von den strengen gesetzlichen<br />

11<br />

Fleck, Die virtuelle Mitgliederversammlung im eingetragenen<br />

Verein, DNotZ 2008, 245 (245).<br />

12<br />

Schwarz/Schöpflin, in: Bamberger/Roth, BeckOK<br />

BGB, § 32 Rdnr. 44a [2008]; Reuter, in: Rebmann,<br />

MüKo BGB, 2006, § 32 Rdnr. 69 f.; Sauter/Schweyer/<br />

Waldner, Der eingetragene Verein, 2006, Rdnr. 210;<br />

Reichert, HbdVR, Rdnr. 1816 a; Erdmann, Die Online-Versammlung<br />

im Vereins- und GmbH-Recht, MMR<br />

2000, 526ff.; Fleck, Die virtuelle Mitgliederversammlung<br />

im eingetragenen Verein, DNotZ 2008, 245; anders<br />

soweit ersichtlich nur Stöber, Handbuch zum Vereinsrecht,<br />

2004, Rdnr. 409 a.<br />

Vorschriften zu diesem Beschlussverfahren abweichen,<br />

und so beispielsweise einfache Stimmenmehrheit<br />

genügen lassen kann.<br />

Die Regelung des § 32 II sagt insoweit zwar<br />

nichts über die Modalität sich online zu versammeln<br />

aus, sie macht jedoch deutlich, dass das<br />

Gesetz vom Regelfall der Versammlung körperlich<br />

Anwesender auch Ausnahmen zulässt 13 .<br />

Eine wirksame Beschlussfassung der Mitglieder<br />

ist nicht zwingend an ein gemeinsam erfahrenes<br />

Ereignis in einem lokalen Vereinshaus geknüpft.<br />

Die Modalität der Online-Versammlung steht<br />

damit dem Charakter einer Mitgliederversammlung<br />

zumindest nicht von vornherein entgegen.<br />

2. Ausgestaltung der Online-Versammlung<br />

Teleologisch gesehen ist die Online-Versammlung<br />

im Verein wie festgestellt zunächst einmal<br />

nicht verboten. Den Vereinen obliegt ihre Zielsetzung<br />

und Ausgestaltung selbst 14 , solange sie<br />

die vorgeschriebenen rechtlichen Grenzen nicht<br />

überschreiten. Es steht ihnen frei durch eine Satzung<br />

den gesetzlichen Rahmen eigenverantwortlich<br />

zu füllen, und insofern es sich um nachgiebige<br />

Regelungen handelt von ihnen abzuweichen.<br />

Die Satzungsfreiheit ermöglicht es den<br />

Vereinen damit auch, Regelungen für die Beschlussfassung<br />

der Mitgliederversammlung aufzustellen,<br />

die vom Grundfall der Beschlussfassung<br />

unter körperlich Anwesenden abweichen.<br />

In seiner Satzung muss der Verein sich zudem<br />

nicht auf eine einzige Form der Versammlung<br />

festlegen. Er kann vielmehr für seine Mitgliederversammlungen<br />

auch eine kombinierte Teilnahme<br />

von an- und abwesenden Mitgliedern zulassen<br />

15 . Dies könnte von Vorteil sein, wenn die<br />

Versammlung unter Anwesenden als Regelfall<br />

beibehalten werden soll, einige Mitglieder aber<br />

regelmäßig aus Zeit- oder Kostengründen nicht<br />

anreisen können. Diese Mitglieder würden in so<br />

einem Fall mittels Kamera und Telefon zuge-<br />

13<br />

Fleck, Die virtuelle Mitgliederversammlung im eingetragenen<br />

Verein, DNotZ 2008, 245 (247).<br />

14<br />

Reichert, HbdVR, 2007, Rdnr. 346 f.<br />

15<br />

Fleck, Die virtuelle Mitgliederversammlung im eingetragenen<br />

Verein, DNotZ 2008, 245 (255).<br />

62


MIP 2008/09 15. Jhrg. Antje Sadowski – Von der visuellen zur virtuellen Partei Aufsätze<br />

schaltet 16 . Natürlich muss es dann auch möglich<br />

sein die Online-Versammlung als Regelfall der<br />

Versammlung in einem Verein durch die Satzung<br />

zu institutionalisieren 17 .<br />

Welche Anforderungen sind nun an sie zu stellen?<br />

Bei der Frage nach den rechtlichen Grenzen für<br />

die Ausgestaltung der Online-Versammlung ist<br />

zunächst einmal zu bemerken, dass dadurch das<br />

Organ der Mitgliederversammlung nicht faktisch<br />

abgeschafft werden darf 18 . Es ist ein Notwendiges<br />

19 , und muss auch bei Beschlussfassungen via<br />

Internet das Hauptinstrument zur Meinungsbildung<br />

im Verein bleiben.<br />

Weiter muss die Online-Versammlung ein vollwertiges<br />

Äquivalent zur Präsenzversammlung<br />

darstellen, um diese ersetzen zu können. Einem<br />

Beschluss in der Mitgliederversammlung geht<br />

regelmäßig eine Diskussion zur Meinungsbildung<br />

voraus. Daher muss auch die Online-Versammlung<br />

die Möglichkeit zur Diskussion unter<br />

den Mitgliedern bieten. Rede- und Antragsrechte<br />

müssen von den Mitgliedern wahrgenommen<br />

werden können 20 . Und auch die Stimmabgabe<br />

muss den Anforderungen entsprechen, welche<br />

bei einer Versammlung unter Anwesenden an sie<br />

zu stellen wären.<br />

Vereinzelt 21 wird angenommen, dass für eine<br />

gültige Stimmabgabe per E-Mail eine elektronische<br />

Signatur i.S.d. Formvorschrift des § 126 a<br />

BGB nötig sei. 22 Begründet wird dies mit dem<br />

16<br />

Diesen Fall berücksichtigt ausdrücklich § 118 II<br />

AktG.<br />

17<br />

Fleck, Die virtuelle Mitgliederversammlung im eingetragenen<br />

Verein, DNotZ 2008, 245 (249).<br />

18<br />

Reichert, HbdVR, 2007, Rdnr. 1118 ff.; Fleck, Die<br />

virtuelle Mitgliederversammlung im eingetragenen<br />

Verein, DNotZ 2008, 245 (249).<br />

19<br />

Reichert, HbdVR, 2007, Rdnr. 1114 ff.<br />

20<br />

Fleck, Die virtuelle Mitgliederversammlung im eingetragenen<br />

Verein, DNotZ 2008, 245 (248).<br />

21<br />

Fleck, Die virtuelle Mitgliederversammlung im eingetragenen<br />

Verein, DNotZ 2008, 245 (256).<br />

22<br />

Dagegen: Erdmann, Die Online-Versammlung im<br />

Vereins- und GmbH-Recht, MMR 2000, 526 (529);<br />

Heller u.a., Die Online-Hauptversammlung, CR 2002,<br />

592; Reichert, HbdVR, Rdnr. 1816 b;<br />

Schwarz/Schöpflin, in: Bamberger/Roth, BeckOK<br />

Schriftformerfordernis des § 32 II BGB, welcher<br />

auf Online-Versammlung wie bereits dargestellt<br />

entsprechend angewendet wird. Allerdings ist<br />

§ 32 II BGB nachgiebig i.S.d. § 40 BGB, so dass<br />

das Schriftformerfordernis nicht zwingend ist.<br />

Es kann folglich durch die Satzung abgeändert<br />

werden. Zu empfehlen ist aber zumindest die<br />

Textform nach § 126 b BGB einzuhalten, die abzugebende<br />

Erklärung also in Schriftzeichen lesbar<br />

zu verfassen und die Person der Erklärenden<br />

abschließend anzugeben.<br />

Weiter darf der Zugang zur Versammlung nicht<br />

unnötig erschwert werden 23 . Probleme könnten<br />

sich daher ergeben, sobald nicht alle Vereinsmitglieder<br />

Zugang zum Internet besitzen. Sieht die<br />

Satzung als Versammlungsart die Online-Versammlung<br />

allerdings bereits beim Eintritt eines<br />

Mitglieds vor, so wird dieses Mitglied nicht in<br />

seinen Teilnahmerechten beeinträchtigt. Es steht<br />

dem Verein frei seinen Mitgliederkreis von Anfang<br />

an auf solche Personen zu beschränken, die<br />

über ausreichende technische Möglichkeiten verfügen<br />

24 . Führt der Verein jedoch erst nachträglich<br />

durch Satzungsänderung die Online-Versammlung<br />

ein, so beschneidet er nachträglich<br />

Rechte bereits vorhandener Mitglieder, welche<br />

ohne Internetzugang von den Vereinsversammlungen<br />

zukünftig ausgeschlossen werden. 25 In einem<br />

solchen Fall müsste der Verein, um eine<br />

Ungleichbehandlung zu vermeiden, den betroffenen<br />

Mitgliedern einen Internetzugang verschaffen,<br />

indem er bspw. einen solchen im Vereinshaus<br />

zur Verfügung stellt.<br />

Folglich bleibt festzuhalten, dass Online-Versammlungen<br />

in Vereinen grundsätzlich rechtlich<br />

zulässig sind 26 , solange sie eine vollwertige Al-<br />

BGB, § 32 Rdnr. 44a [2008].<br />

23<br />

Reichert, HbdVR, 2007, Rdnr. 1244 mwN.<br />

24<br />

Fleck, Die virtuelle Mitgliederversammlung im eingetragenen<br />

Verein, DNotZ 2008, 245 (251).<br />

25<br />

Schwarz/Schöpflin, in: Bamberger/Roth, BeckOK<br />

BGB, § 32 Rdnr. 44a [2008].<br />

26<br />

Die rechtliche Zulässigkeit von Online-Versammlungen<br />

wird verbreitet sogar für das satzungsstrenge Aktienrecht<br />

vertreten. Vgl. dazu Heller u.a., Die Online-<br />

Hauptversammlung, CR 2002, 592; Schwarz, Neue<br />

Medien im Gesellschaftsrecht, MMR 2003, 23 ff.<br />

mwN, so dass sie danach erst recht in den satzungsfreien<br />

Vereinen möglich sein muss.<br />

63


Aufsätze Antje Sadowski – Von der visuellen zur virtuellen Partei MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

ternative zur Präsenzversammlung darstellen.<br />

Wie lassen sich die gefundenen Erkenntnisse<br />

nun für das Parteienrecht verwerten?<br />

IV. Übertragung auf das Parteienrecht<br />

Parteien stellen besondere Ausprägungen der allgemeinen<br />

zivilrechtlichen Vereine dar 27 . Die zuvor<br />

genannten Überlegungen sind folglich auf<br />

sie grundsätzlich übertragbar. Die Online-Versammlung<br />

wäre demnach auch für Parteien eine<br />

zulässige Versammlungsform, wenn nicht parteienrechtliche<br />

Besonderheiten dagegen sprechen.<br />

Im Folgenden werden zunächst Wortlaut (unter<br />

1.) und Telos (unter 2.) der parteiengesetzlichen<br />

Normen zur Mitgliederversammlung auf eine<br />

Unvereinbarkeit hin untersucht, bevor abschließend<br />

auf die Möglichkeiten zur technischen<br />

Ausgestaltung (unter 3.) eingegangen wird.<br />

1. Wortlaut des Parteiengesetzes<br />

Nach dem Wortlaut seiner §§ 8 und 9 geht das<br />

Parteiengesetz von einer Versammlung unter<br />

Anwesenden aus. Kann man die Wortwahl des<br />

§ 9 ParteiG, die Parteitage „treten zusammen“,<br />

noch dahingehend auslegen, dass zusammentreten<br />

lediglich sich zusammenfinden, auch online,<br />

meint, so ist die Formulierung des § 8 ParteiG<br />

hingegen eindeutig. § 8 I 4 ParteiG räumt einer<br />

Partei die Möglichkeit ein eine Vertreterversammlung<br />

auch schon auf der Ortsverbandsebene<br />

zu bilden, wenn diese eine große räumliche<br />

Ausdehnung haben. Das Parteiengesetz sieht<br />

folglich in einer großen räumlichen Ausdehnung,<br />

ähnlich wie auch in der hohen Anzahl von Teilnehmern,<br />

ein Hindernis den Parteitag reibungslos<br />

abhalten zu können, und lässt für diese beiden<br />

Fälle eine organisatorische Vereinfachung,<br />

nämlich die Wahl von Vertretern zu. Der dem<br />

Parteiengesetz zugrunde liegende Versammlungsbegriff<br />

ist damit offensichtlich der einer<br />

Versammlung allein unter körperlich anwesenden<br />

Parteimitgliedern.<br />

Allerdings gilt auch für das von 1967 stammende<br />

Parteiengesetz das oben zum allgemeinen<br />

27<br />

Reichert, HbdVR, 2007, Rdnr. 5607 f.; Seifert, Die<br />

politischen Parteien, 1975, S. 160.<br />

Versammlungsbegriff des Zivilrechts Gesagte.<br />

Dem historischen Gesetzgeber standen zum Zeitpunkt<br />

der Wortlautfassung von §§ 8 und 9 Parteiengesetz<br />

keine anderen Möglichkeiten zur<br />

Verfügung einen Parteitag abzuhalten, als die,<br />

alle Parteimitglieder in einem Raum zu versammeln.<br />

Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen<br />

und vor allem technischen Weiterentwicklung<br />

darf dieser Wortlaut demnach nicht als<br />

zwingend und unüberwindbar verstanden werden.<br />

Eine Abweichung muss möglich sein. Ein<br />

ausdrückliches Verbot, den Parteitag in einem<br />

virtuellen Raum stattfinden zu lassen, existiert<br />

nicht. Es findet sich folglich kein entgegenstehender<br />

Wortlaut im Parteiengesetz; nur ein unvollständiger,<br />

der der Auslegung zugänglich ist.<br />

Zu beachten sind in diesem Zusammenhang insbesondere<br />

§ 9 III und IV des Parteiengesetzes,<br />

wonach Wahlen und auch die überwiegenden<br />

Beschlüsse ausdrücklich vom Parteitag vorzunehmen<br />

sind. Sie müssen also im Rahmen einer<br />

Versammlung stattfinden, und keinesfalls losgelöst<br />

von dieser. Inwieweit dieses Verständnis<br />

Raum bietet für die Anwendung des § 32 II<br />

BGB, also der Beschlussfassung auch außerhalb<br />

einer Versammlung, muss hier nicht erörtert<br />

werden. Wie bereits gezeigt wurde, stellt die Online-Versammlung<br />

lediglich eine Modalität einer<br />

vollwertigen Versammlung dar. Ließe man also<br />

eine Online-Versammlung im Parteienrecht zu,<br />

so würde eine solche auch den gesteigerten Anforderungen<br />

des § 9 ParteiG gerecht.<br />

2. Die Mitgliederversammlung als Parteiorgan<br />

In Art. 21 GG wird das Erfordernis der innerparteilichen<br />

Demokratie ausdrücklich hervorgehoben.<br />

Daraus ergeben sich Grenzen und Einschränkungen<br />

für die Organisationshoheit der<br />

Parteien 28 . Es sind mithin besondere Anforderungen<br />

an das zentrale Organ in der Partei, durch<br />

welches die Mitglieder an der innerparteilichen<br />

Entscheidungsfindung mitwirken können, zu<br />

stellen: die Mitgliederversammlung. Die Zulässigkeit<br />

der Mitgliederversammlung als Online-<br />

Versammlung hängt damit entscheidend davon<br />

28<br />

Seifert, Die politischen Parteien, 1975, S. 119.<br />

64


MIP 2008/09 15. Jhrg. Antje Sadowski – Von der visuellen zur virtuellen Partei Aufsätze<br />

ab, ob eine solche Versammlungsmodalität diesen<br />

Anforderungen gerecht wird.<br />

Zunächst setzt das Erfordernis der innerparteilichen<br />

Demokratie voraus, dass die Willensbildung<br />

sich innerhalb der Partei von unten nach<br />

oben vollzieht 29 . Zu diesem Zweck schreibt § 8<br />

ParteiG die Bildung von Mitgliederversammlungen<br />

auf jeder Gebietsverbandsebene vor. Dieses<br />

Mehrebenensystem der Mitgliederversammlungen<br />

soll gewährleisten, dass ausreichende Partizipationsmöglichkeiten<br />

für die Parteimitglieder<br />

zur Verfügung stehen. Es erfährt jedoch eine<br />

Einschränkung aus Praktikabilitätsgründen. In<br />

höheren Gebietsverbänden darf die Mitgliederversammlung<br />

durch eine Vertreterversammlung<br />

ersetzt werden. Mittels einer Online-Versammlung<br />

könnte die Willensbildung ohne Zwischenschaltung<br />

einer Vertreterversammlung stattfinden.<br />

Die parteiinterne Partizipation wäre direktdemokratisch<br />

möglich, da räumliche Entfernungen<br />

kein Hindernis mehr darstellten. Auch die<br />

mit steigender Entscheidungsebene verbundene<br />

zunehmende Anzahl an Teilnehmern ließe sich<br />

durch das leichtere Handhaben von virtuell ausgeübten<br />

Rede- und Antragsrechten in den Griff<br />

bekommen. Unter dem Aspekt der demokratischen<br />

Mitwirkung der Parteimitglieder an der internen<br />

Entscheidungsfindung könnte die Online-<br />

Versammlung also ein demokratisches Mehr<br />

darstellen, und steht insoweit der Eigenart der<br />

Mitgliederversammlung als Parteiorgan nicht<br />

entgegen.<br />

Die Geheimheit bei Wahlen wird von § 15 Parteigesetz<br />

ausdrücklich vorgeschrieben. Gleichzeitig<br />

werden dadurch erhöhte Anforderungen an<br />

die Identität der Versammlungsteilnehmer gestellt.<br />

Beides sind Kriterien die hinsichtlich der<br />

Online-Versammlung allein technische und keine<br />

rechtlichen Probleme aufwerfen. 30<br />

Durch das Gebot zur innerparteilichen Demokratie<br />

werden die Mitglieder verstärkt mit Partizipationsrechten<br />

ausgestattet 31 . Neben den Rede- und<br />

29<br />

Seifert, Die politischen Parteien, 1975, S. 191.<br />

30<br />

Zur technischen Ausgestaltung siehe unten unter<br />

IV. 3.<br />

31<br />

Vgl. zu diesen im Einzelnen Seifert, Die politischen<br />

Parteien, 1975, S. 191 f.; Reichert, HbdVR, 2007,<br />

Antragsrechten ist daher zu beachten, dass alle<br />

Mitglieder die gleichen Teilnahmebedingungen<br />

haben. Insbesondere muss der Zugang zur Versammlung,<br />

also der Internetanschluss, gewährleistet<br />

sein. 32 Hinsichtlich der Beteiligung während<br />

der Versammlung muss die Online-Versammlung<br />

einer Versammlung unter Anwesenden<br />

gleichwertige Möglichkeiten bieten. Auch<br />

dies ist in erster Linie aber eine technische<br />

Schwierigkeit. 33 Begrenzt die Partei mit ihrer<br />

Entscheidung zur Online-Versammlung faktisch<br />

den Kreis der Parteimitglieder, weil sie beispielsweise<br />

nur solche aufnimmt, die über ausreichende<br />

technische Mittel verfügen, so ist ihr<br />

dies unbenommen. Die Partei kann ihre Zielgruppe<br />

frei wählen 34 . Es unterliegt allein ihrer<br />

Einschätzung und Entscheidung, ob sie ihren<br />

Mitgliederkreis durch ihre interne Organisation<br />

auf eine bestimmte Bevölkerungsstruktur beschränkt<br />

oder den Umfang möglicher Mitglieder<br />

wegen der wegfallenden räumlichen Grenzen sogar<br />

erweitert.<br />

Fraglich ist, ob die Online-Versammlung (mittels<br />

Chat) in geeigneter Weise die politische aufgeladene<br />

Stimmung von Parteitagen widerspiegeln<br />

kann. Die virtuelle Diskussion ist naturgemäß<br />

eine entemotionalisierte. Den parteiinternen<br />

Meinungsführern und Parteitagsrednern könnte<br />

es in einer Situation, in welcher sie ihr Publikum<br />

und damit auch seine Reaktionen nicht visuell<br />

wahrnehmen und in der es keine Pausen für informelle<br />

Gespräche gibt, erschwert werden<br />

Mehrheiten zu bilden. Selbst wenn man virtuelle<br />

Zwischenrufe zuließe oder einen „Jubel-Button“<br />

oder dergleichen einführte, so ist die Qualität<br />

dieser Äußerungen doch eine formalisierte und<br />

damit andere als auf einem Parteitag unter Anwesenden.<br />

Allerdings ist sie eben auch nur eine<br />

andere, und damit nicht zwangsläufig eine<br />

schlechtere. Unter Vernachlässigung der Frage,<br />

inwieweit emotional aufgeladene Situationen<br />

überhaupt rechtlich geschützt sind, bleibt auch<br />

hier nur darauf hinzuweisen, dass es der freien<br />

Entscheidung der Partei unterliegt, wenn sie den<br />

Rdnr. 5632 f.<br />

32<br />

Dazu siehe schon oben unter III. 2.<br />

33<br />

Auch dazu unten unter IV. 3.<br />

34<br />

Seifert, Die politischen Parteien, 1975, S. 118.<br />

65


Aufsätze Antje Sadowski – Von der visuellen zur virtuellen Partei MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Charakter ihre Parteitage weniger emotional gestalten<br />

und der sachlichen Diskussion zugänglicher<br />

machen möchte.<br />

Abschließend bleibt damit festzuhalten, dass die<br />

Modalität der Online-Versammlung weder vom<br />

Wortlaut des Parteiengesetzes ausgeschlossen<br />

wird, noch dem Wesen der Mitgliederversammlung<br />

in Parteien widerspricht. Auf Grund der<br />

Satzungsfreiheit für Parteien bleibt es ihnen<br />

folglich unbenommen, ihre Parteitage virtuell<br />

abzuhalten. Die Umstellung von Präsenz- zu Online-Versammlungen<br />

kann auch ein Statement<br />

sein für gesellschaftliche Anschauungen oder<br />

politische Programme, so dass die Partei den Begleiterscheinungen<br />

von Online-Versammlungen<br />

bewusst gegenüber den Qualitäten von Versammlungen<br />

unter Anwesenden den Vorzug<br />

gibt.<br />

3. Ausgestaltungsmöglichkeiten<br />

Das Abhalten von Online-Versammlungen in<br />

Parteien ist also grundsätzlich zulässig. Die oben<br />

aufgezeigten Grenzen müssen jedoch bei der tatsächlichen<br />

Umsetzung, also der technischen<br />

Ausgestaltung beachtet werden. Das Organ Parteitag<br />

darf durch die technische Ausgestaltung<br />

nicht in seiner Funktion beeinträchtigt werden.<br />

Damit die Online-Versammlung ein vollwertiges<br />

Äquivalent zur Präsenzversammlung bilden<br />

kann und den Anforderungen an die innerparteiliche<br />

Demokratie gerecht wird, muss eine ausreichende<br />

Kommunikationsplattform für die Teilnehmer<br />

der Versammlung vorhanden sein, beispielsweise<br />

durch die Möglichkeit eines geschlossenen<br />

Chats. Aus organisatorischen Gründen<br />

bietet es sich an, Anträge vorab fristgebunden<br />

einreichen zulassen, eine Rednerliste zu erstellen<br />

und allein dem Versammlungsleiter die<br />

technische Möglichkeit einzuräumen dem jeweiligen<br />

Redner das „Wort“ zu erteilen.<br />

Die Identität der Teilnehmer kann durch einen<br />

Zugangscode ausreichend sichergestellt werden;<br />

und die Geheimheit bei Wahlen durch beispielsweise<br />

ein separat verschicktes Passwort. Wichtig<br />

ist dabei allerdings, dass die Stimme nicht zurückverfolgt<br />

werden kann, sobald sie in den Pool<br />

der anderen Stimmen eingegangen ist, also nicht<br />

nachgeprüft werden kann welches Mitglied wie<br />

gewählt hat, vergleichbar mit dem System der<br />

Briefwahl. Sichergestellt wäre dies in etwa durch<br />

die Verwendung von zwei Datenbanken. Das<br />

Mitglied würde sich mittels seines Passwortes in<br />

die erste Datenbank einwählen und dort zufällig<br />

einen Code zugewiesen bekommen, mit dem es<br />

in der zweiten Datenbank seine Stimme abgeben<br />

kann. Letztlich könnte so nur festgestellt werden,<br />

dass ein Mitglied gewählt hat, aber nicht<br />

mehr wie.<br />

Letztlich steht bei elektronischen Verfahren stets<br />

der Vorwurf der Manipulierbarkeit von Ergebnissen<br />

im Raum. Dazu bleibt zu bemerken, dass<br />

die Partei nicht verpflichtet ist den sichersten<br />

Weg zu gehen, sondern nur einen ausreichend sicheren.<br />

Im Gegenteil, ein elektronisches Verfahren<br />

kann unter Umständen wegen der erleichterten<br />

Dokumentationsmöglichkeit sogar eine höhere<br />

Kontrolle und bessere Überprüfung bieten.<br />

Die damit einhergehende Transparenz ist zudem<br />

geeignet das Vertrauen in das Verfahren zu steigern.<br />

Welchen Gründen der Vorzug einzuräumen<br />

ist bleibt letztlich aber Ermessensfrage der<br />

Partei.<br />

V. Fazit<br />

Die in der allgemeinen zivilrechtlichen Literatur<br />

angestellten Überlegungen zur Möglichkeit der<br />

Online-Versammlung greifen auch unter Berücksichtigung<br />

der parteinrechtlichen Besonderheiten.<br />

Den Parteien steht folglich der Weg offen,<br />

die sich bereits abzeichnende Entwicklung, neue<br />

Medien verstärkt einzubeziehen, weiter zu beschreiten.<br />

Die Frage der zulässigen Ausgestaltung<br />

bleibt allein eine technische und ist gewährleistet,<br />

solange die Parteien den Anforderungen<br />

der innerparteilichen Demokratie gerecht werden.<br />

Vielleicht findet sich also bald neben dem Einwahlbutton<br />

zum Mitgliederbereich auf den Websites<br />

der Parteien auch eine Pforte zum virtuellen<br />

Parteitag. Das Parteienrecht zumindest ist gewappnet<br />

für diese Entwicklung.<br />

66


MIP 2008/09 15. Jhrg. Jens Walther – Auswirkungen des Landtagswahlsystems von Baden-Württemberg auf die Wahlkampfaktivität<br />

Aufsätze<br />

Die Auswirkungen des Landtagswahlsystems<br />

von Baden-Württemberg<br />

auf die Wahlkampfaktivität<br />

ausgewählter Parteien<br />

Jens Walther, M.A. 1<br />

I. Einleitung<br />

Das Landtagswahlsystem von Baden-Württemberg<br />

ist traditionsgemäß alle fünf Jahre Gegenstand<br />

erheblicher Kritik sowohl der Wähler als<br />

auch von Teilen der zur Wahl stehenden Kandidaten.<br />

Daher verwunderte es auch nicht, dass infolge<br />

der Landtagswahl von 2006 zahlreiche<br />

Einsprüche dem Wahlprüfungsausschuss des<br />

Landtags zugeleitet wurden. Ein Einspruch von<br />

acht Bewerbern der SPD sowie weiteren achtzehn<br />

Wahlberechtigten ging zudem in Form einer<br />

Wahlprüfungsbeschwerde beim Baden-<br />

Württembergischen Staatsgerichtshof ein. Die<br />

Beschwerdeführer beantragten, die Landtagswahl<br />

ganz oder teilweise für ungültig zu erklären<br />

2 , da nach ihrer Auffassung die Chancengleichheit<br />

der Bewerber aufgrund der stark divergierenden<br />

Wahlberechtigtenzahlen in den vier<br />

Regierungsbezirken bei der Wahl zum Landesparlament<br />

verletzt gewesen sei. Bewerber aus<br />

größeren Wahlkreisen 3 hätten bei der Verteilung<br />

der Zweitmandate einen „erheblichen Vorteil“ 4<br />

gegenüber den Bewerbern, die in kleinen Wahlkreisen<br />

kandidierten, genossen.<br />

Da es in Baden-Württemberg keine Landeslisten<br />

der Parteien gibt, erfolgt die Zuteilung der<br />

1<br />

Der Verfasser ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am<br />

<strong>PRuF</strong>. Der vorliegende Aufsatz stellt die Ergebnisse<br />

der Magisterarbeit zu demselben Thema dar.<br />

2<br />

Vgl. Urteil des Staatsgerichtshofs vom 14. Juni 2007<br />

in dem Wahlprüfungsverfahren GR 1/06. S. 4.<br />

3<br />

Unter großen Wahlkreisen werden Wahlkreise verstanden,<br />

die eine höhere Wahlberechtigtenzahl als die<br />

durchschnittliche Wahlberechtigtenzahl in einem Regierungsbezirk<br />

aufweisen.<br />

4<br />

Urteil des Staatsgerichtshofs vom 14. Juni 2007 in<br />

dem Wahlprüfungsverfahren GR 1/06. S. 6.<br />

Zweitmandate auf die Parteien nach § 2 Absatz 3<br />

Satz 2 Landeswahlgesetz (LWG) aufgrund der<br />

absoluten Stimmenzahl eines Bewerbers, also<br />

der auf ihn entfallenen Zahl an Wählerstimmen.<br />

Diese Stimmenzahl sei nach der Meinung der<br />

Beschwerdeführer wiederum von der jeweiligen<br />

Wahlkreisgröße abhängig. Zudem sei durch die<br />

unterschiedlichen Wahlberechtigtenzahlen der<br />

Erfolgswertgleichheit der Stimmen der Wählerinnen<br />

und Wähler nicht Rechung getragen worden.<br />

Diese beiden Komponenten des noch bestehenden<br />

Wahlsystems 5 haben die letzte Landtagswahl<br />

sowie alle Landtagswahlen zuvor in Baden-<br />

Württemberg in erheblichem Maße bezüglich<br />

der Siegeschancen der Kandidaten auf ein Mandat<br />

bestimmt. Die Frage, die in diesem Beitrag<br />

untersucht werden soll, ist daher, inwiefern das<br />

bestehende Wahlsystem – also konkret die unterschiedlichen<br />

Wahlkreisgrößen und die Zuteilung<br />

der Zweitmandate nach der absoluten Stimmenzahl<br />

– Auswirkungen auf die Wahlkampfaktivität<br />

der Landtagskandidaten bei der Landtagswahl<br />

2006 hatte. Die Untersuchung hat dabei ihren<br />

Ausgangspunkt in den theoretischen Vorüberlegungen<br />

von Thomas Berg. 6 Berg stellt die These<br />

auf, dass das baden-württembergische Wahlsystem<br />

dazu beitragen könne, dass die Wahlkampfaktivität<br />

von Bewerbern in relativ kleinen Wahlkreisen<br />

gegenüber der Wahlkampfaktivität der<br />

anderen Bewerber geringer sei. Dies sei der Tatsache<br />

geschuldet, dass es für Kandidaten in kleinen<br />

Wahlkreisen, die zudem von einer anderen<br />

Partei dominiert werden, aufgrund der Ausgestaltung<br />

des Wahlsystems aussichtslos erscheine,<br />

überhaupt in den Landtag einzuziehen. 7 Wenn<br />

5<br />

Auf Antrag aller Landtagsfraktionen vom 24. Juli<br />

2007 wurde eine Arbeitsgruppe von Abgeordneten eingesetzt,<br />

deren Ziel eine Reform des Wahlsystems hinsichtlich<br />

der unterschiedlichen Wahlkreisgrößen und<br />

der Zuteilung der Zweitmandate ist. Vgl. Drucksache<br />

14/1550. Landtag von Baden-Württemberg. 14. Wahlperiode.<br />

24. Juli 2007. S. 3.<br />

6<br />

Vgl. Berg, Thomas: Auswirkungen des baden-württembergischen<br />

Wahlsystems auf den Wahlkampf. In:<br />

Schmid, Josef/ Griese, Honza (Hrsg.): Wahlkampf in<br />

Baden-Württemberg. Organisationsformen, Strategien<br />

und Ergebnisse der Landtagswahl vom 25. März 2001.<br />

Opladen 2002. S. 17-29.<br />

7<br />

Vgl. ebenda. S. 18.<br />

67


Aufsätze Jens Walther – Auswirkungen des Landtagswahlsystems von Baden-Württemberg auf die Wahlkampfaktivität MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

jedoch die Möglichkeit nicht gegeben ist, in ein<br />

Parlament einzuziehen, welchen Sinn würde es<br />

dann für einen Kandidaten machen, einen intensiven<br />

Wahlkampf zu führen bzw. überhaupt zu<br />

kandidieren?<br />

Es soll daher anhand empirischer Daten über das<br />

stattgefundene Wahlkampfgeschehen geprüft<br />

werden, inwiefern die Thesen von Berg der Realität<br />

entsprechen. Hierzu wurden die Bewerber<br />

von SPD, FDP/DVP und GRÜNEN über ihre<br />

Aktivitäten im Wahlkampf auf der Grundlage eines<br />

Fragebogens befragt. Vor dem Hintergrund,<br />

dass die CDU die dominierende Partei in Baden-<br />

Württemberg ist 8 und es somit anhand der theoretischen<br />

Überlegungen bei den christdemokratischen<br />

Kandidaten eher unwahrscheinlich erscheint,<br />

dass sie von dem Wahlsystem negativ<br />

betroffen sein könnten, fiel die Wahl auf die benannten<br />

drei im Landtag vertretenen Parteien.<br />

Daher wurden, bei einer Aufteilung des Wahlgebiets<br />

in 70 Wahlkreise, die Fragebögen an insgesamt<br />

210 Kandidaten gesendet.<br />

Das politikwissenschaftliche Erkenntnisinteresse<br />

dieser Untersuchung liegt darin begründet, dass<br />

mit dieser Arbeit eine Studie vorliegt, die neben<br />

den eingangs dargestellten Effekten eines Wahlsystems<br />

auf die Mandatsvergabe auch die vermuteten<br />

Auswirkungen auf die Wahlkampfaktivität<br />

von ausgesuchten Parteien analysiert. Sollte<br />

die Wahlkampfaktivität durch die Ausgestaltung<br />

eines Wahlsystems negativ beeinflusst werden,<br />

so würde dadurch auch die stabilisierende Funktion<br />

eines Wahlkampfs für eine parlamentarische<br />

Demokratie eingeschränkt werden. Denn ein<br />

Wahlkampf ist in erster Linie ein Kommunikationsgeschehen<br />

der politischen Akteure mit den<br />

Wählerinnen und Wählern und als solches eben<br />

auch ein „konstitutives Ritual repräsentativer<br />

Demokratien“ 9 . Darüber hinaus ist gerade der<br />

8<br />

Vgl. Eith, Ulrich: Regierungsperioden und politische<br />

Dominanz in Baden-Württemberg: Die CDU als<br />

>>Landespartei


MIP 2008/09 15. Jhrg. Jens Walther – Auswirkungen des Landtagswahlsystems von Baden-Württemberg auf die Wahlkampfaktivität<br />

Aufsätze<br />

70 Wahlkreisen, die wiederum in vier Regierungsbezirke<br />

(Stuttgart, Karlsruhe, Freiburg und<br />

Tübingen) aufgeteilt sind. Maßstab für die zulässige<br />

Größe der Wahlkreise ist die Rechtsprechung<br />

des Staatsgerichtshofs von Baden-Württemberg.<br />

So hat der Staatsgerichtshof in seinem<br />

eingangs erwähnten Urteil vom 14. Juni 2007<br />

eine Abweichung von der Durchschnittsgröße<br />

der Wahlkreise von plus/minus 25 von Hundert<br />

als zulässig erklärt 13 , wobei der Bezugspunkt für<br />

die Abweichung von einem Durchschnittswert<br />

das gesamte Land und nicht der betreffende Regierungsbezirk<br />

ist. 14<br />

Das Landesparlament setzt sich seinerseits nach<br />

§ 1 Absatz 1 LWG aus mindestens 120 Abgeordneten<br />

zusammen. Da nach § 1 Absatz 3 LWG<br />

jeder Wähler nur eine Stimme hat, werden zunächst<br />

nach der in § 2 Absatz 3 LWG festgeschriebenen<br />

relativen Mehrheitswahl die Direktmandate<br />

in den 70 Wahlkreisen vergeben. Die<br />

Möglichkeit auf einer Parteiliste zu kandidieren,<br />

gibt es somit nicht. 15 Da die Stimmenverrechnung<br />

in Baden-Württemberg jedoch in einem<br />

mehrstufigen Verfahren verläuft, werden nach<br />

§ 2 Absatz 1 LWG die 120 Mandate in einem<br />

zweiten entsprechend dem Verhältnis der von<br />

den Kandidaten der jeweiligen Parteien insgesamt<br />

im Land erreichten Stimmenzahl „nach der<br />

parteiübergreifend absteigenden Reihenfolge der<br />

Höchstzahlen“ auf die Parteien verteilt. Diese<br />

Zweitausteilung beruht somit auf dem Prinzip<br />

der Verhältniswahl nach dem d’Hondtschen<br />

Höchstzahlverfahren als Verrechnungsverfahren.<br />

Die so berechnete Anzahl, die einer Partei, sofern<br />

sie die Fünf-Prozent-Hürde überspringen<br />

konnte, insgesamt an Mandaten zusteht, wird<br />

dann in einem zweiten Schritt auf die vier Regierungsbezirke<br />

verteilt. Auch diese Verrechnung<br />

beruht auf dem d’Hondtschen Höchstzahlverfahren,<br />

so dass auch auf Regierungsbezirksebene<br />

die dort erreichte Gesamtzahl der Stimmen einer<br />

13<br />

Vgl. Urteil des Staatsgerichtshofs vom 14. Juni 2007<br />

in dem Wahlprüfungsverfahren GR 1/06. S. 22 f.<br />

14<br />

Vgl. ebenda. S 26.<br />

15<br />

Bezüglich der Diskussion um eine Einführung von<br />

Landeslisten in das LWG siehe Feuchte, Paul:<br />

Verfassungsgeschichte von Baden-Württemberg. Stuttgart<br />

1983. S. 341.<br />

Partei die ihr zustehende Mandatszahl bestimmt.<br />

Von der so ermittelten Mandatszahl, die eine<br />

Partei in einem Regierungsbezirk zu vergeben<br />

hat, werden daraufhin die gewonnenen Direktmandate<br />

abgezogen. 16 Stehen einer Partei dann<br />

noch weitere Sitze zu, so werden diese auf die<br />

Bewerber in der Reihenfolge ihrer in den Wahlkreisen<br />

erreichten Stimmenzahlen verteilt. Es<br />

entsteht folglich durch die Zweitausteilung eine<br />

„De-Facto-Liste“ 17 der Bewerber einer Partei.<br />

Die Reihenfolge auf der „De-Facto-Liste“ einer<br />

Partei wird jedoch nicht durch den von den Bewerbern<br />

erreichten Stimmenanteil im jeweiligen<br />

Wahlkreis sondern durch die absolute Stimmenzahl<br />

bestimmt. Somit konkurrieren die Kandidaten<br />

einer Partei, die den Einzug in das Landesparlament<br />

nicht per Direktmandat schaffen, gegeneinander<br />

und nicht in erster Linie mit den<br />

Kandidaten der anderen Parteien. 18 Bewerber,<br />

die in großen Wahlkreisen antreten, haben daher<br />

hinsichtlich der Zweitausteilung „eine erheblich<br />

bessere Ausgangsposition“ 19 . Somit wird die<br />

Wahlkreisgröße zum entscheidenden Faktor für<br />

die Chancen auf ein Mandat.<br />

Um die Chancen eines Kandidaten jedoch vollständig<br />

zu bewerten, darf nicht der Fehlschluss<br />

begangen werden, die Größe eines Wahlkreises,<br />

die sich ja auf die Anzahl der Wahlberechtigten<br />

bezieht, mit der tatsächlichen Wahlbeteiligungsrate<br />

gleichzusetzen. Da die Wahlbeteiligung in<br />

den Wahlkreisen unterschiedlich stark ist, besteht<br />

die Möglichkeit, dass aus einem de iure<br />

kleinen Wahlkreis ein de facto großer Wahlkreis<br />

werden kann. 20 Ebenso muss bei der Evaluierung<br />

16<br />

Auf eine Darstellung der Möglichkeit, Überhang- und<br />

Ausgleichsmandate gemäß § 2 Absatz 4 LWG zu erreichen,<br />

wird aufgrund der Fragestellung dieses Aufsatzes<br />

verzichtet.<br />

17<br />

Berg, Thomas: a.a.O. S. 22.<br />

18<br />

Vgl. Müller, Markus M. : Das Landtagswahlrecht von<br />

Baden-Württemberg. Oder: die Ohnmacht der Parteiendemokratie?<br />

In: Zeitschrift für Parlamentsfragen.<br />

Jahrgang 35. Heft 2 (2004). S. 290.<br />

19<br />

Holl, Stefan: Landtagsabgeordnete in Baden-Württemberg.<br />

Sozialprofil, Rekrutierung, Selbstbild.<br />

Kehl am Rhein 1989. S. 49.<br />

20<br />

Von Prittwitz sieht gerade in der Bedeutung der Wahlbeteiligung<br />

einen positiven Effekt dieses Wahlsystems.<br />

„Da die Chance der Wahlbezirke, im Parlament mit<br />

69


Aufsätze Jens Walther – Auswirkungen des Landtagswahlsystems von Baden-Württemberg auf die Wahlkampfaktivität MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

der Chancen eines Kandidaten die lokale Wettbewerbssituation<br />

bedacht werden. Trefs gibt daher<br />

zu überlegen, ob man Ute Vogt, der Spitzenkandidatin<br />

der SPD bei der Landtagswahl 2001,<br />

unterstellen könnte, dass sie 2001 „trotz aller<br />

Ambitionen nie mit einem Wahlsieg gerechnet<br />

hat“ 21 . Trefs stellt diese Überlegung an, da Ute<br />

Vogt im Wahlkreis Pforzheim angetreten war,<br />

der im Vergleich zu den anderen Wahlkreisen<br />

relativ bevölkerungsarm ist und von der CDU<br />

seit je her dominiert wird. Infolgedessen war es<br />

für sie aussichtslos, ein Mandat – weder direkt<br />

noch über die Zweitausteilung – zu erringen.<br />

III. Die ökonomische Theorie des politischen<br />

Wettbewerbs<br />

In den Spekulationen von Trefs aber auch in den<br />

Überlegungen von Berg kommt die zentrale<br />

Grundannahme über das Verhalten von Kandidaten<br />

zum Vorschein. Beide gehen in ihren Überlegungen<br />

von einem bestimmten Menschenbild<br />

aus. Berg nimmt an, dass Politiker daran interessiert<br />

sind, aufgrund ihrer Handlungen ihren Nutzen<br />

zu vermehren, und daher nicht ihre finanziellen<br />

und zeitlichen Ressourcen unüberlegt verschwenden<br />

werden. Das Akteursmodell, das<br />

Berg daher als Grundlage seiner These heranzieht,<br />

ist das des „Homo Oeconomicus“. Dieses<br />

ökonomische Menschenbild basiert auf der zentralen<br />

Annahme, dass sich die Individuen eigennützig<br />

verhalten. Diese Annahme ist per se wertneutral,<br />

da durch sie die Handlungen der Individuen<br />

nicht per definitionem moralisch negativ<br />

oder moralisch positiv bestimmt werden. Nach<br />

Kirchgässner ist es daher „für das durchschnittli-<br />

Abgeordneten vertreten zu sein, mit steigender Wahlbeteiligung<br />

wächst, wird die Wahlbeteiligung, die früher<br />

nur als situative Rahmenbedingung wahrgenommen<br />

wurde, nun zu einem integralen Wettbewerbselement.“<br />

Von Prittwitz, Volker: Vollständig personalisierte<br />

Verhältniswahl. Reformüberlegungen auf der<br />

Grundlage eines Leistungsvergleichs der Wahlsysteme<br />

Deutschlands und Finnlands. In: Aus Politik und Zeitgeschichte.<br />

Band 52 (2003). S. 20.<br />

21<br />

Christ, Sebastian: Das Kreuz mit dem Kreuz. SPIE-<br />

GEL ONLINE vom 13. Januar 2006. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,394914,00.ht<br />

ml (zugegriffen am: 1. Mai 2008).<br />

che menschliche Verhalten in vielen Situationen<br />

typisch und insofern auch realistisch“ 22 .<br />

Das nach diesem Akteursmodell handelnde Individuum<br />

wählt also in einer konkreten Situation<br />

diejenige Handlung aus, durch die es seinen Nutzen<br />

maximieren kann. Der Akteur bringt dabei<br />

die jeweiligen Handlungsalternativen in eine<br />

Rangfolge entsprechend der durch sie erreichbaren<br />

Höhe des Nutzens. Zudem ist der Akteur als<br />

ökonomischer Mensch so konzipiert, dass er in<br />

der Lage ist, Kosten-Nutzen-Kalkulationen anzustellen.<br />

Er ist also imstande, jedem Gut und jeder<br />

Handlungsalternative einen subjektiven Wert<br />

zuzuordnen. Bei der Bewertung der Handlungsalternativen<br />

berücksichtigt der Akteur zudem die<br />

konkreten Restriktionen, die mit einer bestimmten<br />

Handlungswahl verbunden sind. Um einer<br />

Handlungsalternative einen Wert zuordnen zu<br />

können, benötigt das handelnde Individuum Informationen<br />

über die konkrete Situation. Er<br />

muss de facto ein Modell der Situation entwerfen,<br />

welches Annahmen darüber enthält, welche<br />

Ziele realisierbar sind und für welche Handlungsalternative<br />

er sich diesbezüglich entscheidet.<br />

23 Er wählt daraufhin die Handlung aus, „die<br />

die intensivste und kostengünstigste Bedürfnisbefriedigung<br />

im Vergleich mit anderen Handlungsalternativen<br />

verspricht“ 24 .<br />

Die handlungsleitende Maxime für einen rationalen<br />

politischen Akteur, der eine Chance hat, in<br />

das Parlament einzuziehen, ist somit die der<br />

Stimmenmaximierung. Sie wird von der Forschung<br />

häufig als Ausgangspunkt für empirische<br />

Studien gewählt, und sie „dürfte damit“, so<br />

Schoen, „in vielen Fällen von der Realität nicht<br />

sehr weit entfernt sein“ 25 . Dabei ist die Motivati-<br />

22<br />

Vgl. Kirchgässner, Gebhard: Homo oeconomicus. Das<br />

ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine<br />

Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften.<br />

Tübingen 1991. S. 12.<br />

23<br />

Vgl. Schneider, Wolfgang Ludwig: Grundlagen der<br />

Soziologischen Theorie. Band 2. Wiesbaden 2002.<br />

S. 129.<br />

24<br />

Braun, Dietmar: Theorien rationalen Handelns in der<br />

Politikwissenschaft. Eine kritische Einführung. Opladen<br />

1999. S. 39.<br />

25<br />

Schoen, Harald: Wahlkampfforschung. In: Falter, Jürgen<br />

W./ Schoen, Harald (Hrsg.): Handbuch Wahlforschung.<br />

Wiesbaden 2005. S. 505.<br />

70


MIP 2008/09 15. Jhrg. Jens Walther – Auswirkungen des Landtagswahlsystems von Baden-Württemberg auf die Wahlkampfaktivität<br />

Aufsätze<br />

on für ein solches Verhalten – zum Beispiel der<br />

finanzielle Anreiz oder das Interesse am Gemeinwohl<br />

– irrelevant, da sie „sich in der Maxime<br />

wie in einem Strahlenbündel“ 26 sammeln.<br />

Angewandt auf die Wahlkampfsituation in Baden-Württemberg<br />

ist davon auszugehen, dass ein<br />

Kandidat versuchen wird, seine Stimmenzahl zu<br />

maximieren, um in den Landtag entweder über<br />

ein Direktmandat oder über die „De-Facto-Liste“<br />

einzuziehen. Um dies zu erreichen, wird er bestrebt<br />

sein, einen effektiven Wahlkampf zu führen.<br />

27 Da die Wahlkampfaktivität eines rational<br />

handelnden Kandidaten in dieser Untersuchung<br />

jedoch als Reaktion auf spezifische wahlsystemische<br />

Restriktionen verstanden wird, stellt sich<br />

die Frage, welche Prognosen sich anhand des<br />

Modells für die Wahlkampfaktivitäten der Landtagskandidaten<br />

in Baden-Württemberg aufstellen<br />

lassen, die in einem relativ kleinen und von einer<br />

anderen Partei dominierten Wahlkreis antreten.<br />

Zunächst ist es sinnvoll, die sich automatisch<br />

aufdrängende Frage zu beantworten, warum in<br />

diesen Wahlkreisen überhaupt Politiker kandidieren.<br />

Um in diesem Fall die Logik des einzelnen<br />

Akteurs zu verstehen, muss die Logik der<br />

Partei als Kollektiv von politischen Akteuren<br />

herangezogen werden. Aufgrund der Ausgestaltung<br />

des Wahlsystems hat aus der Logik der Partei<br />

jede Stimme eines Wahlberechtigten einen<br />

Nutzen. Daher ist es aus der Perspektive der Partei<br />

rational, um jede Wählerstimme zu kämpfen.<br />

Da nur jeder Wähler eine Stimme hat und er somit<br />

nicht mit einer Stimme für einen Wahlkreiskandidaten<br />

und mit einer Zweitstimme für eine<br />

Partei votieren kann, würden im Falle einer<br />

26<br />

Herder-Dorneich, Philipp/ Groser, Manfred: Ökonomische<br />

Theorie des politischen Wettbewerbs.<br />

Göttingen 1977. S. 91.<br />

27<br />

Diesbezüglich wird die Annahme getroffen, dass es<br />

eine Wirkung der Wahlkampfaktivitäten auf das Wahlverhalten<br />

der Wählerinnen und Wähler gibt beziehungsweise<br />

dass die Kandidaten von einem solchen<br />

Kausalzusammenhang ausgehen. Vgl. hierzu Katz,<br />

Daniel/ Eldersveld, Samuel J.: The Impact of Local<br />

Party Activity upon the Electorate. In: The Public Opinion<br />

Quarterly. Volume 25 (1961). S. 1-24./ Auch<br />

Schoen trifft die Schlussfolgerung, dass Politiker, die<br />

Kampagnen führen von der Wirksamkeit ihrer Bemühungen<br />

ausgehen. Vgl. Schoen, Harald: a.a.O. S. 521.<br />

Nicht-Kandidatur in einem Wahlkreis alle potentiellen<br />

Wählerstimmen verloren gegeben. Gerade<br />

für die Gesamtstimmenzahl der Partei und somit<br />

für alle Kandidaten in nicht-aussichtslosen<br />

Wahlkreisen sind diese Stimmen jedoch entscheidend.<br />

Da eine Partei immer eine Gruppe von politischen<br />

Akteuren ist, können durch diese Gruppe<br />

einzelne Mitglieder positiv sowie negativ sanktioniert<br />

werden. Aufgrund dessen kann erwartet<br />

werden, dass durch positive Sanktionen, wie<br />

etwa das in Aussichtstellen eines gut dotierten<br />

Postens im Parteiapparat oder höherer Parteiämter,<br />

Parteimitglieder dazu gewonnen werden<br />

können, in einem aussichtslosen Wahlkreis zu<br />

kandidieren. Diesbezüglich stellt Black fest:<br />

„Some candidates undoubtedly do run for office,<br />

not because they expect to win but because it<br />

will benefit them in other ways.” 28 Gleichzeitig<br />

kann erwartet werden, dass ein solcher Bewerber<br />

auch bis zu einem bestimmten Grad Wahlkampf<br />

betreiben wird, da jeder Partei sowohl positive<br />

wie negative Sanktionsmittel zur Verfügung stehen.<br />

Daher kommt Dreitzel zu dem Schluss, dass<br />

die Angst des Berufspolitikers vor den Sanktionen<br />

seiner Bezugsgruppen wie der eigenen Partei<br />

oder den Wählern „jenes zähe Festhalten an Verhaltensklischees,<br />

das wir allenthalben in der Politik<br />

beobachten“ 29 fördert.<br />

Trotz der divergierenden Interessen von Partei<br />

beziehungsweise der Mehrzahl der Kandidaten<br />

sowie ihren Unterstützern einerseits und den<br />

Kandidaten in aussichtslosen Wahlkreisen andererseits,<br />

werden diese Kandidaten ihren Wahlkampf<br />

also nicht vollkommen einstellen können.<br />

Ein solches von dem erwarteten Verhalten abweichendes<br />

Handeln würde ansonsten sanktioniert<br />

werden. Daher kann die These aufgestellt<br />

werden, dass Kandidaten in aussichtslosen<br />

Wahlkreisen zwar Wahlkampf führen werden,<br />

28<br />

Black, Gordon S.: A Theory of Political Ambition:<br />

Career Choices and the Role of Structural Incentives.<br />

In: The American Political Science Review. Volume<br />

66. Number 1 (1972). S. 149.<br />

29<br />

Dreitzel, Hans Peter: Rationales Handeln und politische<br />

Orientierung. Zur Soziologie des politischen<br />

Verhaltens in der wissenschaftlichen Zivilisation. In:<br />

Soziale Welt. Jahrgang 16. Heft 1 (1965). S. 4.<br />

71


Aufsätze Jens Walther – Auswirkungen des Landtagswahlsystems von Baden-Württemberg auf die Wahlkampfaktivität MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

aber in weitaus geringerem Maße als ihre Mitbewerber.<br />

Dies liegt zum einen in der Unerreichbarkeit<br />

des Ziels begründet, ein Mandat erlangen<br />

zu können, und zum anderen darin, dass eine Erhöhung<br />

der Gesamtstimmenzahl der Partei eben<br />

auch nicht primär im Interesse des Kandidaten<br />

liegt. Diese These anhand von Daten über die<br />

Sozialstruktur der Wahlkreise und über die<br />

Wahlkampfaktivität der Kandidaten zu überprüfen,<br />

wird daher die Aufgabe in den nächsten Kapiteln<br />

sein.<br />

IV. Operationalisierung des theoretischen<br />

Konstrukts „Wahlkampfaktivität“<br />

Da es das Ziel dieser Untersuchung ist, die Auswirkungen<br />

des Wahlsystems auf die Wahlkampfaktivität<br />

ausgewählter Parteien zu untersuchen,<br />

muss zunächst die Frage beantwortet werden,<br />

wie die Wahlkampfaktivität zu definieren<br />

ist und wie sie empirisch erfasst werden kann.<br />

Bei der Wahlkampfaktivität eines Kandidaten<br />

handelt es sich um ein theoretisches Konstrukt.<br />

Als solches ist die Wahlkampfaktivität vom wissenschaftlichen<br />

Beobachter nicht direkt feststellbar<br />

30 , da es sich bei theoretischen Konstrukten<br />

um latente Variablen handelt, die somit keinen<br />

direkten empirischen Bezug aufweisen. Dies bedeutet,<br />

dass dieser latente Begriff mittels manifester<br />

und somit beobachtbarer Variablen erfasst<br />

werden muss.<br />

Bevor ein solcher Begriff daher gemessen werden<br />

kann, bedarf es der Klärung, was darunter<br />

verstanden wird und welche Dimension oder Dimensionen<br />

der Begriff umfasst. 31 Engel und<br />

Troitzsch sind diesbezüglich der Ansicht, dass<br />

der Begriff „Wahlkampfaktivität“ kaum eindimensional<br />

definiert werden kann. Aufgrund dessen<br />

ist es zunächst sinnvoll, die erwarteten<br />

Wahlkampfaktivitäten bezüglich ihres Initiators<br />

zu differenzieren. 32 Da in dieser Arbeit sich die<br />

Analyse nur auf die Wahlkampfaktivitäten der<br />

30<br />

Vgl. Falter, Jürgen W.: Zur Validierung theoretischer<br />

Konstrukte – Wissenschaftstheoretische Aspekte<br />

des Validierungskonzepts. In: Zeitschrift für Soziologie.<br />

Jahrgang 6. Heft 4 (1977). S. 373.<br />

31<br />

Vgl. Gehring, Uwe W./ Weins, Cornelia: Grundkurs<br />

Statistik für Politologen. 3. überarbeitete Auflage.<br />

Wiesbaden 2002. S. 32 f.<br />

Landtagskandidaten bezieht, wird nur diese konkrete<br />

Wahlkampfaktivität hinsichtlich ihrer Dimensionen<br />

bestimmt werden. Deshalb wird in<br />

dieser Arbeit unter dem Begriff „Wahlkampfaktivität“<br />

eines Kandidaten der Einsatz seiner finanziellen<br />

und temporalen Ressourcen in der<br />

Zeit des Wahlkampfs verstanden. Somit wird in<br />

dieser Untersuchung das theoretische Konstrukt<br />

„Wahlkampfaktivität“ in drei Dimensionen dargestellt:<br />

der „Geld-Dimension“, der „Zeit-Dimension“<br />

und der „Engagement-Dimension“.<br />

Die Operationalisierung erfolgt zunächst über<br />

die Angabe geeigneter Indikatoren. Dabei wird<br />

sich in dieser Arbeit des Instruments der schriftlichen<br />

Befragung bedient. Somit ist zu Beginn<br />

die Frage zu beantworten, durch welche Formulierungen<br />

sich das theoretische Konstrukt beziehungsweise<br />

dessen drei Dimensionen am besten<br />

und daher soweit wie möglich der Realität entsprechend<br />

abbilden lassen. Bezüglich der ersten<br />

Dimension, der „Geld-Dimension“, ist zu bedenken,<br />

dass das Wahlkampfbudget je nach Bewerber<br />

auf ein bis drei Quellen beruht. Der Wahlkampf<br />

eines Landtagskandidaten kann aus eigenen<br />

Mitteln, aus Mitteln der Partei und aus<br />

Spenden finanziert werden. Gegen eine differenzierte<br />

Erhebung bezüglich des Wahlkampfbudgets<br />

sprachen jedoch vor allem zwei Aspekte<br />

Zum einen ist bei der Trennung von Parteimitteln<br />

und privaten Mitteln die Bildung von Rücklagen<br />

problematisch. Rücklagen sparen die jeweiligen<br />

Amtsinhaber für ihren Wahlkampf an.<br />

Diese stehen jedoch bei ihrem Ausscheiden ihren<br />

Nachfolgern zur Verfügung und fließen dann<br />

in deren Wahlkampfbudget ein. Zum anderen<br />

stehen die „freiwilligen“ Abgaben der Abgeordneten,<br />

die einen Teil ihrer Diäten an die Parteikasse<br />

abführen, einer genauen Unterscheidung<br />

zwischen privaten und Parteimitteln entgegen.<br />

Die Abgeordnete Theresia Bauer gab deshalb in<br />

der Umfrage an: „Meine Spenden an die Partei<br />

sind so hoch, dass ich letztlich die gesamten<br />

Wahlkampfkosten selbst zahle.“ 33<br />

32<br />

Vgl. Engel, Andreas/ Troitzsch, Klaus G.: Wahlkampf<br />

in vier Wahlkreisen. Zur Analyse des Bundestagswahlkampfs<br />

1980 auf lokaler Ebene. Koblenz 1983. S. 52.<br />

33<br />

Bauer, Theresia: Fragebogen zur Landtagswahl in Baden-Württemberg<br />

2006.<br />

72


MIP 2008/09 15. Jhrg. Jens Walther – Auswirkungen des Landtagswahlsystems von Baden-Württemberg auf die Wahlkampfaktivität<br />

Aufsätze<br />

Daher wurde als Grundlage zur Erfassung der finanziellen<br />

Dimension des theoretischen Konstrukts<br />

„Wahlkampfaktivität“ das gesamte Wahlkampfbudget<br />

erfasst. Diesbezüglich kann der<br />

Einwand geäußert werden, dass durch dieses<br />

Vorgehen die unterschiedlichen Finanzstärken<br />

der Parteien die Ergebnisse inhaltlich verzerren<br />

würden. Parteien mit mehr Mitgliedern haben<br />

aufgrund der Beiträge größere finanzielle Ressourcen<br />

als an Mitgliederzahlen kleinere Parteien,<br />

zumal sich die Finanzmittel der Parteien ihrerseits<br />

wiederum aus „Individual- und Unternehmensspenden,<br />

Mitgliedsbeiträgen oder<br />

Transferleistungen innerhalb der Partei“ 34 zusammensetzen.<br />

Das Wahlkampfbudget der Kandidaten bewegt<br />

sich daher je nach Partei in einem Bereich von<br />

800 € bis 50.000 €. Um diesem Kritikpunkt zu<br />

entsprechen, wurden die erhobenen Werte infolge<br />

der Datenauswertung für die einzelnen Parteien<br />

separat z-standardisiert. Dazu wurde von dem<br />

empirischen Wert eines Kandidaten – beispielsweise<br />

der sozialdemokratischen Partei – das<br />

arithmetische Mittel aus dem Wahlkampfbudget<br />

aller SPD-Kandidaten subtrahiert. Dieser Wert<br />

wurde dann durch die Standardabweichung der<br />

SPD dividiert. Aufgrund dieser Transformation<br />

der Daten in standardisierte z-Werte wurden die<br />

generellen Niveauunterschiede zwischen den<br />

Parteien ausgeglichen. 35<br />

Bezüglich der zeitlichen Dimension wurde versucht,<br />

alle potentiellen Aktivitäten eines Wahlkampfs<br />

zu erfassen. 36 Es wurden den Kandidaten<br />

daher eine Reihe von Wahlkampfaktivitäten –<br />

34<br />

Oldopp, Birgit: Auf dem Weg ins Parlament. Auswahl<br />

und Wahlkampffinanzierung der Kandidaten in<br />

Deutschland, Kanada und den USA. Hamburg 2000. S.<br />

267.<br />

35<br />

Vgl. Benninghaus, Hans: Deskriptive Statistik. Eine<br />

Einführung für Sozialwissenschaftler. 11. Auflage.<br />

Wiesbaden 2007. S. 62 ff.<br />

36<br />

Dazu wurde sich bezüglich der Formulierung an der<br />

Kandidatenumfrage zur Bundestagswahl 2005 orientiert,<br />

die vom Mannheimer Zentrum für Europäische<br />

Sozialforschung durchgeführt wurde. Vgl. Mannheimer<br />

Zentrum für Europäische Sozialforschung: Kandidatenumfrage<br />

zur Bundestagswahl 2005. http://www.<br />

mzes.uni-mannheim.de/projekte/gcs/wk.pdf. (zugegriffen<br />

am: 1. Mai 2008).<br />

dieser Begriff ist nicht zu verwechseln mit dem<br />

theoretischen Konstrukt – vorgegeben und die<br />

Frage gestellt, wie viel Zeit sie in die konkreten<br />

Aktivitäten investiert hatten. Dabei gab es sechs<br />

Antwortkategorien, welche in Abständen von<br />

fünf Stunden aufgeteilt waren, die von „gar keine“<br />

bis „20 Stunden und mehr“ reichten. Die<br />

Antwortkategorien wurden vor der Datenauswertung<br />

aufgrund der anschließenden empirischen<br />

Analyse ordinal skaliert, indem den Antwortoptionen<br />

die Werte von null bis fünf zugeordnet<br />

wurden. Aufgrund der Tatsache, dass es sehr<br />

schwierig gewesen wäre, es wissenschaftlich zu<br />

rechtfertigen, die einzelnen Wahlkampfaktivitäten<br />

unterschiedlich stark zu gewichten, wurde in<br />

der Untersuchung auf eine solche Wertung verzichtet.<br />

Bezüglich der dritten Dimension des theoretischen<br />

Konstrukts, der Dimension des Engagements<br />

eines Kandidaten im Wahlkampf, ist festzustellen,<br />

dass es sich hierbei um eine Variable<br />

handelt, deren Bedeutungsinhalt sich nicht ohne<br />

weitere Definitionen erschließt. Daher muss zunächst<br />

bestimmt werden, was unter dem Begriff<br />

„Engagement“ zu verstehen ist. Unter dem Engagement<br />

eines Kandidaten soll der zusätzliche<br />

Aufwand begriffen werden, mit dem ein Bewerber<br />

für seine Person als Wahlkreiskandidat<br />

wirbt. Also inwiefern beispielsweise ein Kandidat<br />

eigene kreative Ideen in seine Wahlkampagne<br />

einbringt, um für sich zu werben. Das Engagement<br />

eines Kandidaten wird in dieser Studie<br />

deshalb daran gemessen, ob ein Kandidat Wahlkampfmaterial<br />

unabhängig von seiner Partei produziert<br />

hat. Diese Eingrenzung beruht auf der<br />

Tatsache, dass in deutschen Wahlkämpfen die<br />

jeweiligen Parteiorganisation „Flugblätter, Plakate<br />

und andere Wahlkampfmittel (…) produziert<br />

und den Wahlkreiskandidaten entweder unentgeltlich<br />

oder gegen einen Unkostenbeitrag<br />

zur Verfügung gestellt werden“ 37 . Problematisch<br />

ist an diesem Indikator, dass es nicht möglich<br />

ist, die jeweiligen Wahlkampfmittel exakt nach<br />

der Höhe ihrer finanziellen und zeitlichen Kos-<br />

37<br />

Zittel, Thomas/ Gschwend, Thomas: Individualisierte<br />

Wahlkämpfe im Wahlkreis. Eine Analyse am Beispiel<br />

der Bundestagswahlkampfes von 2005. In: Politische<br />

Vierteljahresschrift. 48. Jahrgang. Heft 2 (2007). S.<br />

304.<br />

73


Aufsätze Jens Walther – Auswirkungen des Landtagswahlsystems von Baden-Württemberg auf die Wahlkampfaktivität MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

ten zu differenzieren. Daher konnte auch keine<br />

diesbezügliche Gewichtung erfolgen. Zugleich<br />

wurden die Kandidaten unter Rücksichtnahme<br />

auf die Rücklaufquote der Fragebögen nicht<br />

nach der Auflagenstärke der Werbemittel gefragt,<br />

so dass auch in dieser Hinsicht keine Gewichtung<br />

vorgenommen werden konnte. Zu erwarten<br />

bleibt jedoch, dass ein Kandidat ohne<br />

wirkliche Siegeschancen sich nicht zusätzlich in<br />

seiner Wahlkampagne engagieren wird.<br />

Wie viele Stunden in der Woche haben Sie persönlich im letzten Monat des Wahlkampfs<br />

für folgende Wahlkampfaktivitäten aufgewandt?<br />

Straßenwahlkampf, Hausbesuche<br />

Treffen mit Betrieben und<br />

Unternehmen im Wahlkreis<br />

Besuch regionaler Wirtschafts-,<br />

Kultur- und Sportveranstaltungen<br />

Treffen mit Verbänden und<br />

Vereinen im Wahlkreis<br />

Organisieren größerer Wahlkampfveranstaltungen<br />

im<br />

Wahlkreis<br />

Interviews für lokale(s) und<br />

regionale(s) Zeitungen, Radio<br />

oder Fernsehen<br />

Andere Wahlkampfaktivitäten<br />

(Bitte in jeder Zeile ein Kreuz machen!)<br />

Gar keine<br />

Bis 5 Std. 5-10 Std. 10-15 Std. 15-20<br />

Std.<br />

Neben den drei abhängigen Variablen, die das<br />

theoretische Konstrukt abbilden sollten, wurde<br />

auch eine unabhängige Variable erhoben. Entscheidend<br />

für das Engagement eines Kandidaten<br />

sowie den Einsatz seiner finanziellen und temporalen<br />

Ressourcen im Wahlkampf ist nach den<br />

dieser Arbeit zu Grunde liegenden Annahmen,<br />

die Wahrscheinlichkeit in den Landtag einziehen<br />

zu können oder eben nicht. Dies beeinflusst, da<br />

davon ausgegangen wird, dass die Kandidaten<br />

rational handeln, auch die subjektive Zielsetzung<br />

der Kandidaten hinsichtlich ihres Wahlkampfs.<br />

Eine Variable, die das Hauptziel des Wahlkampfs<br />

eines Kandidaten messen würde, würde<br />

es somit ermöglichen, den Effekt der subjektiven<br />

Zielsetzung auf die Wahlkampfaktivität zu kontrollieren.<br />

Um die konkrete Zielsetzung eines Kandidaten<br />

zu erfassen, wurden den Kandidaten drei Antwortkategorien<br />

vorgegeben. Von Interesse waren<br />

vor allem diejenigen Kandidaten, welche als<br />

Hauptziel ihres Wahlkampfs angaben, allein die<br />

Gesamtstimmenzahl ihrer Partei erhöhen zu wollen.<br />

Diese Kandidaten gaben folglich an, dass<br />

sie, da davon ausgegangen wird, dass sie rational<br />

handeln, keine Möglichkeit hatten, ein Mandat<br />

zu erreichen. Bei diesen Kandidaten konnte aufgrund<br />

der zuvor<br />

20 Std. u.<br />

mehr<br />

dargestellten theoretischen<br />

Überlegungen<br />

angenommen<br />

werden, dass<br />

bei ihnen eine geringere<br />

Wahlkampfaktivität<br />

als<br />

bei den anderen<br />

Kandidaten zu<br />

messen wäre. Um<br />

diese Variable in<br />

die statistische<br />

Analyse mit aufzunehmen<br />

wurde die<br />

zweite Antwortoption<br />

mit dem Wert<br />

0 codiert und die<br />

erste sowie die<br />

dritte Antwortoption<br />

mit dem Wert 1 codiert.<br />

Was war das Hauptziel Ihres Wahlkampfs?<br />

Mein Hauptziel war der Einzug in den Landtag.<br />

Mein Hauptziel war es, die Gesamtstimmenzahl meiner<br />

Partei zu erhöhen.<br />

Mein Hauptziel war es neben meinem Einzug in den<br />

Landtag, die Gesamtstimmenzahl meiner Partei<br />

zu erhöhen.<br />

Die Erhebung der Daten erfolgte, wie bereits<br />

dargestellt, im Rahmen einer postalischen Befragung.<br />

So wurden im Zuge einer Vollerhebung<br />

sämtliche Kandidatinnen und Kandidaten von<br />

SPD, FDP/DVP und GRÜNEN, die für die<br />

Landtagswahl in Baden-Württemberg am 26.<br />

März 2006 zur Wahl standen, angeschrieben und<br />

gebeten, den diesbezüglich konzipierten Fragebogen<br />

auszufüllen. Sämtliche Fragebögen wur-<br />

74


MIP 2008/09 15. Jhrg. Jens Walther – Auswirkungen des Landtagswahlsystems von Baden-Württemberg auf die Wahlkampfaktivität<br />

Aufsätze<br />

den in einer Welle am 20. August 2007 an die<br />

Kandidaten versandt. Die Kandidaten wurden<br />

gebeten, die Fragebögen bis zum 22. September<br />

2007 – also nach spätestens fünf Wochen – in<br />

dem dafür beigelegten frankierten Rückumschlag<br />

zurückzuschicken.<br />

Der Rücklauf der Umfrage war mit 136 Fragebögen,<br />

also mit einem Anteil von knapp 65 Prozent<br />

der Befragten, zufriedenstellend. Von den 136<br />

beantworteten Fragebögen stammten 43 von den<br />

Bewerbern der SPD, ebenfalls 43 von den Bewerbern<br />

der FDP/DVP und 50 von den Bewerbern<br />

der GRÜNEN. An der Befragung nahmen<br />

die Kandidaten aus fast allen 70 Wahlkreisen<br />

teil. Nur die Kandidaten aus sechs Wahlkreisen<br />

beteiligten sich nicht an der Umfrage.<br />

V. Die Kontrollvariablen<br />

Die empirische Untersuchung des erwarteten Zusammenhangs<br />

zwischen der Größe des Wahlkreises<br />

und der Wettbewerbssituation im Wahlkreis<br />

auf der einen Seite und der Wahlkampfaktivität<br />

in ihren drei Dimensionen auf der anderen<br />

Seite erfolgte anhand mehrerer multipler linearer<br />

Regressionsanalysen. Mit Hilfe der Regressionsanalyse<br />

kann die Ausprägung eines Merkmals<br />

(Wirkung) auf die Ausprägung eines oder mehrerer<br />

anderer Merkmale (Ursache) zurückgeführt<br />

werden. Um empirisch belastbare Aussagen über<br />

den erwarteten Zusammenhang treffen zu können,<br />

muss jedoch im Zuge der Regressionsanalyse<br />

kontrolliert werden, ob die erwartete Wirkung<br />

der unabhängigen Variablen tatsächlich auf die<br />

abhängige Variable zurückgeführt werden kann.<br />

Infolgedessen ist es geboten, den Einfluss anderer<br />

unabhängiger Variablen auf die abhängige<br />

Variable „Wahlkampfaktivität“ zu überprüfen.<br />

Daher ist es zuerst einmal erforderlich, Überlegungen<br />

anzustellen, welche Faktoren, sofern sie<br />

nicht berücksichtigt würden, das Ergebnis verfälschen<br />

könnten. Dies setzt voraus, dass Hypothesen<br />

bezüglich des Einflusses dritter Variablen<br />

vorhanden sind oder entwickelt werden müssen<br />

und entsprechende Daten zur Verfügung stehen<br />

oder erhoben werden müssen. Hierbei ist immer<br />

im Blick zu behalten, dass diese Variablen nicht<br />

allein aus der Perspektive des Wahlforschers betrachtet<br />

werden dürfen, sondern eben auch aus<br />

der Perspektive des Kandidaten.<br />

In der Untersuchung wurden deshalb in die empirische<br />

Analyse weitere unabhängige Variablen<br />

mit aufgenommen, die sich zum einen auf das<br />

Verhalten der Wähler und zum anderen auf die<br />

Sozialstruktur des jeweiligen Wahlkreises beziehen.<br />

Somit wurden neben der Wahlkreisgröße,<br />

den Chancen der Partei und dem Hauptziel der<br />

Kandidaten auch die Wahlbeteiligung, der Katholikenanteil<br />

und die ländliche Struktur des<br />

Wahlkreises – gemessen an der Zahl der landwirtschaftlichen<br />

Betriebe und der Bevölkerungsdichte<br />

– kontrolliert.<br />

VI. Die Ergebnisse der Untersuchung<br />

Das Verfahren der multiplen linearen Regressionsanalyse<br />

kommt dann zum Einsatz, wenn der<br />

Effekt einer unabhängigen Variablen auf eine<br />

abhängige Variable unter Kontrolle potentieller<br />

Einflussvariablen gemessen werden soll. Grund<br />

hierfür ist die Gefahr, dass bei einer Vernachlässigung<br />

der anderen erklärenden Variablen im allgemeinen<br />

die Parameter der übrigen Variablen<br />

verzerrt werden. Hierbei ist zu beachten, dass die<br />

Stärke des Determinationskoeffizienten (R²) abhängig<br />

von der Anzahl der unabhängigen Variablen<br />

ist. Mit zunehmender Zahl an unabhängigen<br />

Variablen erhöht sich der Wert des Determinationskoeffizienten<br />

automatisch. Daher wurde zur<br />

Beurteilung des jeweiligen multiplen Regressionsmodels<br />

der korrigierte Determinationskoeffizient<br />

(Korr. R²) errechnet.<br />

Bei einer multiplen Regression ist es zudem geboten,<br />

die Regressionskoeffizienten (b) zu standardisieren.<br />

Dies ermöglicht es, die Werte der<br />

einzelnen unabhängigen Variablen losgelöst von<br />

den bei der Messung der Variablen gewählten<br />

Einheiten miteinander vergleichen zu können.<br />

Die standardisierten Regressionskoeffizienten<br />

(angegeben als BETA-Werte) können in einem<br />

Wertebereich zwischen - 1 und + 1 liegen. Multiple<br />

Regressionen erlauben es also, Aussagen zu<br />

treffen, wie gut eine Kombination aus mehreren<br />

unabhängigen Variablen eine abhängige Variable<br />

vorhersagt. Die standardisierten Regressionskoeffizienten<br />

geben dabei den relativen Einfluss<br />

75


Aufsätze Jens Walther – Auswirkungen des Landtagswahlsystems von Baden-Württemberg auf die Wahlkampfaktivität MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

einer Variablen unter statistischer Kontrolle aller<br />

übrigen Variablen des Modells wieder, während<br />

der standardisierte Determinationskoeffizient die<br />

Güte der Regressionsschätzung angibt. Angewandt<br />

auf die dieser Arbeit zugrunde liegende<br />

Fragestellung gibt der Determinationskoeffizient<br />

an, welche Unterschiede in der Wahlkampfaktivität<br />

der Kandidaten durch die unterschiedlich<br />

großen Wahlkreise und die unterschiedlich stark<br />

ausgeprägten Chancen der Partei erklärt werden<br />

können.<br />

Damit davon ausgegangen werden kann, dass ein<br />

ermittelter Wert nicht nur inhaltlich bedeutsam<br />

ist, sondern dass er auch statistisch relevant ist,<br />

muss zudem die Signifikanz eines Wertes kontrolliert<br />

werden. Es gelten daher Werte als signifikant,<br />

wenn die Wahrscheinlichkeit gegen Null<br />

tendiert, dass sie durch Zufall zustande gekommen<br />

sind. Die obere Grenze dieser Irrtumswahrscheinlichkeit<br />

liegt in der Regel bei 5 Prozent,<br />

was einem Signifikanzniveau von 0,05 entspricht<br />

und in dieser Untersuchung übernommen<br />

wurde. Bei der nun folgenden Darstellung der<br />

Ergebnisse werden neben den vollständigen Regressionsmodellen<br />

auch die Regressionsmodelle<br />

mit der höchsten Varianzaufklärung präsentiert.<br />

Tabelle 1: Multiples Regressionsmodell zum<br />

Wahlkampfbudget<br />

Abhängige Variable: Wahlkampfbudget<br />

Unabhängige Variablen BETA BETA<br />

Wahlkreisgröße ,124 ,117<br />

Chancen der Partei ,266* ,278**<br />

Wahlbeteiligung ,017 nicht kontrolliert<br />

Katholikenanteil -,141 -,138<br />

Landwirtschaftl. Betriebe ,059 nicht kontrolliert<br />

Bevölkerungsdichte ,057 nicht kontrolliert<br />

Hauptziel ,128 ,129<br />

Korrigiertes R² ,190 ,207<br />

** Die Regression ist auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signifikant.<br />

* Die Regression ist auf dem Niveau von 0,05 (2-seitig) signifikant.<br />

Zu lesen: Die Unterschiede in den Ausprägungen der unabhängigen Variablen<br />

können 19 (20,7) Prozent der Unterschiede im Wahlkampfbudget<br />

der Kandidaten erklären, wobei der größte Effekt von den Chancen<br />

der Partei ausgeht.<br />

Tabelle 2: Multiples Regressionsmodell zu Straßenwahlkampf<br />

und Hausbesuchen<br />

Abhängige Variable: Straßenwahlkampf und Hausbesuche<br />

Unabhängige Variablen<br />

BETA<br />

Wahlkreisgröße ,118<br />

Chancen der Partei -,046<br />

Wahlbeteiligung -,123<br />

Katholikenanteil ,129<br />

Landwirtschaftl. Betriebe ,049<br />

Bevölkerungsdichte ,223<br />

Hauptziel ,230*<br />

Korrigiertes R² ,044<br />

** Die Regression ist auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signifikant.<br />

* Die Regression ist auf dem Niveau von 0,05 (2-seitig) signifikant.<br />

Tabelle 3: Multiples Regressionsmodell zu den<br />

Treffen mit Betrieben und Unternehmen<br />

Abhängige Variable: Treffen mit Betrieben und Unternehmen<br />

Unabhängige Variablen BETA b<br />

Wahlkreisgröße -,111 nicht kontrolliert<br />

Chancen der Partei ,132 nicht kontrolliert<br />

Wahlbeteiligung -,001 nicht kontrolliert<br />

Katholikenanteil ,068 nicht kontrolliert<br />

Landwirtschaftl. Betriebe ,069 nicht kontrolliert<br />

Bevölkerungsdichte -,061 nicht kontrolliert<br />

Hauptziel ,203* ,523*<br />

Korrigiertes R² / R² ,017 ,048<br />

** Die Regression ist auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signifikant.<br />

* Die Regression ist auf dem Niveau von 0,05 (2-seitig) signifikant.<br />

Tabelle 4: Multiples Regressionsmodell zum<br />

Besuch regionaler Veranstaltungen<br />

Abhängige Variable: Besuch regionaler Veranstaltungen<br />

Unabhängige Variablen BETA b<br />

Wahlkreisgröße -,099 nicht kontrolliert<br />

Chancen der Partei ,117 nicht kontrolliert<br />

Wahlbeteiligung -,106 nicht kontrolliert<br />

Katholikenanteil -,036 nicht kontrolliert<br />

Landwirtschaftl. Betriebe ,030 nicht kontrolliert<br />

Bevölkerungsdichte -,116 nicht kontrolliert<br />

Hauptziel ,232* ,673**<br />

Korrigiertes R² / R² ,036 ,062<br />

** Die Regression ist auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signifikant.<br />

* Die Regression ist auf dem Niveau von 0,05 (2-seitig) signifikant.<br />

Tabelle 5: Multiples Regressionsmodell zum<br />

Treffen mit Verbänden und Vereinen<br />

Abhängige Variable: Treffen mit Verbänden und Vereinen<br />

Unabhängige Variablen BETA BETA<br />

Wahlkreisgröße -,178 -,171<br />

Chancen der Partei ,266* ,275*<br />

Wahlbeteiligung ,052 nicht kontrolliert<br />

Katholikenanteil ,265** ,252**<br />

Landwirtschaftl. Betriebe -,022 nicht kontrolliert<br />

Bevölkerungsdichte ,006 nicht kontrolliert<br />

Hauptziel ,201* ,199*<br />

Korrigiertes R² ,080 ,099<br />

** Die Regression ist auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signifikant.<br />

* Die Regression ist auf dem Niveau von 0,05 (2-seitig) signifikant.<br />

76


MIP 2008/09 15. Jhrg. Jens Walther – Auswirkungen des Landtagswahlsystems von Baden-Württemberg auf die Wahlkampfaktivität<br />

Aufsätze<br />

Tabelle 6: Multiples Regressionsmodell zum Organisieren<br />

größerer Wahlkampfveranstaltungen<br />

Abhängige Variable: Organisieren größerer<br />

Wahlkampfveranstaltungen<br />

Unabhängige Variablen<br />

BETA<br />

Wahlkreisgröße ,178<br />

Chancen der Partei ,015<br />

Wahlbeteiligung -,167<br />

Katholikenanteil ,031<br />

Landwirtschaftl. Betriebe -,022<br />

Bevölkerungsdichte ,029<br />

Hauptziel ,128<br />

Korrigiertes R² ,008<br />

** Die Regression ist auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signifikant.<br />

* Die Regression ist auf dem Niveau von 0,05 (2-seitig) signifikant.<br />

Tabelle 7: Multiples Regressionsmodell zu den<br />

Interviews für Zeitungen, Radio und Fernsehen<br />

Abhängige Variable: Interviews für Zeitungen, Radio oder Fernsehen<br />

Unabhängige Variablen BETA BETA<br />

Wahlkreisgröße ,022 nicht kontrolliert<br />

Chancen der Partei ,221 ,225*<br />

Wahlbeteiligung ,140 ,167<br />

Katholikenanteil ,235* ,264**<br />

Landwirtschaftl. Betriebe -,064 nicht kontrolliert<br />

Bevölkerungsdichte -,142 nicht kontrolliert<br />

Hauptziel ,032 nicht kontrolliert<br />

Korrigiertes R² ,075 ,089<br />

** Die Regression ist auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signifikant.<br />

* Die Regression ist auf dem Niveau von 0,05 (2-seitig) signifikant.<br />

Tabelle 8: Multiples Regressionsmodell zu anderen<br />

Wahlkampfaktivitäten<br />

Abhängige Variable: andere Wahlkampfaktivitäten<br />

Unabhängige Variablen<br />

BETA<br />

Wahlkreisgröße ,009<br />

Chancen der Partei ,166<br />

Wahlbeteiligung -,009<br />

Katholikenanteil ,132<br />

Landwirtschaftl. Betriebe ,013<br />

Bevölkerungsdichte -,071<br />

Hauptziel ,092<br />

Korrigiertes R² -,002<br />

** Die Regression ist auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signifikant.<br />

* Die Regression ist auf dem Niveau von 0,05 (2-seitig) signifikant.<br />

Tabelle 9: Multiples Regressionsmodell zum<br />

Engagement eines Kandidaten<br />

Abhängige Variable: Engagement eines Kandidaten<br />

Unabhängige Variablen<br />

BETA<br />

Wahlkreisgröße -,186<br />

Chancen der Partei ,170<br />

Wahlbeteiligung ,025<br />

Katholikenanteil -,179<br />

Landwirtschaftl. Betriebe ,092<br />

Bevölkerungsdichte -,029<br />

Hauptziel ,007<br />

Korrigiertes R² ,016<br />

** Die Regression ist auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signifikant.<br />

* Die Regression ist auf dem Niveau von 0,05 (2-seitig) signifikant.<br />

Nach der tabellarischen Darstellung der einzelnen<br />

multiplen Regressionsmodelle ist es geboten,<br />

ein der Fragestellung dieser Untersuchung<br />

entsprechendes Resümee zu ziehen. Ein statistisch<br />

signifikanter Einfluss der erklärenden Variable<br />

„Chancen der Partei“ auf die zu erklärende<br />

Variable „Wahlkampfaktivität“ konnte in zwei<br />

der drei Dimensionen nachgewiesen werden. So<br />

wirken die Chancen der Partei positiv signifikant<br />

zum einen auf das Wahlkampfbudget und zum<br />

anderen auf die zeitliche Investition eines Kandidaten<br />

für das Treffen mit Verbänden und Vereinen<br />

und für Interviews ein. Die Chancen der Partei<br />

haben insgesamt auf die Wahlkampfaktivität<br />

jedoch nur einen leicht positiven Effekt. In Anbetracht<br />

des erwarteten Zusammenhangs bleibt<br />

allerdings vor allem das Erklärungspotential der<br />

Regressionsmodelle erheblich hinter den Erwartungen<br />

zurück.<br />

Bezüglich der unabhängigen Variable „Wahlkreisgröße“<br />

konnte entgegen der Modellannahmen<br />

nicht die erwartete Wirkung auf die drei Dimensionen<br />

der Wahlkampfaktivität eines Kandidaten<br />

nachgewiesen werden. Interessant ist zudem,<br />

dass die unabhängige Variable „Wahlkreisgröße“<br />

einen negativen Effekt auf das Treffen<br />

mit Betrieben und Unternehmen, den Besuch regionaler<br />

Veranstaltungen und das Treffen mit<br />

Verbänden und Vereinen hat. Der erwartete Einfluss<br />

der Wahlkreisgröße konnte somit statistisch<br />

nicht nachgewiesen werden.<br />

Auch auf die abhängige Variable, die das Engagement<br />

eines Kandidaten über die unabhängig<br />

von der Partei produzierten Wahlkampfmittel<br />

abbildet, haben die beiden unabhängigen Varia-<br />

77


Aufsätze Jens Walther – Auswirkungen des Landtagswahlsystems von Baden-Württemberg auf die Wahlkampfaktivität MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

blen „Wahlkreisgröße“ und „Chancen der<br />

Partei“ keinen signifikanten Einfluss. Zugleich<br />

ist auffällig, dass diese beiden unabhängigen Variablen,<br />

einen fast gleich starken aber gegensätzlichen<br />

Effekt haben. Während also die Anzahl<br />

der Wahlberechtigten negativ auf die Bereitschaft<br />

des Kandidaten wirkt, auch unabhängig<br />

von der eigenen Partei Wahlkampfmittel zu produzieren,<br />

haben die Gewinnchancen eines Kandidaten<br />

einen positiven Effekt auf das Wahlkampfengagement.<br />

Allerdings kann dieser Zusammenhang<br />

aufgrund der Nicht-Signifikanz der<br />

standardisierten Regressionskoeffizienten zufällig<br />

zustande gekommen sein. Außerdem weist<br />

auch hier das Regressionsmodell nur eine<br />

schwache Prognosequalität auf.<br />

VII. Die Diskussion der statistischen Ergebnisse<br />

In Anbetracht der Ergebnisse stellt sich unweigerlich<br />

die Frage, was die Gründe dafür sein<br />

können, dass der Einfluss des Landtagswahlsystems<br />

nicht so stark, wie erwartet, ausgeprägt ist.<br />

Diesbezüglich sollen zwei Erklärungsversuche<br />

ins Zentrum der Diskussion gestellt werden.<br />

1. Die innerparteilichen Sanktionsmechanismen<br />

Der erste Erklärungsversuch hat seinen Ausgangspunkt<br />

in der Möglichkeit, dass im Rahmen<br />

der Untersuchung die innerparteilichen Sanktionsmechanismen<br />

unterschätzt worden sind beziehungsweise<br />

ihr Effekt auf das Verhalten der<br />

Kandidaten. Aufgrund der zuvor dargestellten<br />

Überlegungen ist zu erörtern, ob die beiden Einflussfaktoren<br />

„Wahlkreisgröße“ und „Chancen<br />

der Partei“ deshalb nicht in dem erwarteten<br />

Maße auf die abhängige Variable „Wahlkampfaktivität“<br />

einwirken, weil die innerparteilichen<br />

Sanktionsmechanismen einen größeren Einfluss<br />

auf die Kosten-Nutzen-Kalkulationen der Kandidaten<br />

haben als im Vorfeld der Untersuchung<br />

angenommen wurde. So kommen zum Beispiel<br />

Zittel und Gschwend zu dem Schluss, dass die<br />

Erststimmenergebnisse bei Bundestagswahlen<br />

auch in kleinen Parteien – dessen Bewerber bezüglich<br />

des Direktmandats in der Regel chancenlos<br />

sind – „als Maßstab der Leistung des Kandidaten<br />

und damit als Faktor zur Beförderung der<br />

weiteren Parteikarriere begriffen“ 38 werden. Da<br />

Blitzkarrieren nach Auffassung von Horn und<br />

Kühr die Ausnahme im politischen Prozess bilden<br />

39 , müssen die politischen Akteure ihr Verhalten<br />

in erster Linie an langfristigen Strategien<br />

und Zielen ausrichten. Kurzfristig erzielte Vorteile<br />

können daher negativ für das auf lange<br />

Sicht angelegte Ziel sein. So würde das Reduzieren<br />

der Wahlkampfaktivitäten zwar kurzfristig<br />

zeitliche und finanzielle Ressourcen einsparen,<br />

dem langfristigen Ziel würde dieses Verhalten<br />

aufgrund der dadurch hervorgerufenen negativen<br />

Sanktionen der Partei jedoch schaden.<br />

Dies steht mit der These von Black in Einklang,<br />

dass jede Investition eines politischen Akteurs in<br />

den politischen Prozess auch Investitionen in<br />

seine politische Zukunft beziehungsweise in seine<br />

politische Karriere sind. 40 Infolgedessen kann<br />

der Fall eintreten, dass bei zwei Kandidaten die<br />

gleiche Wahlkampfaktivität gemessen wird, obwohl<br />

diese unterschiedliche Ziele im Wahlkampf<br />

verfolgen, da eine hohe Wahlkampfaktivität für<br />

das Erreichen beider Ziele möglicherweise entscheidend<br />

ist. So könnte beispielsweise ein Kandidat<br />

in Anbetracht seiner Chancenlosigkeit, ein<br />

Mandat zu erlangen, trotzdem versuchen, möglichst<br />

viele Stimmen zu gewinnen, die zwar<br />

nicht für ein Mandat reichen werden aber für<br />

eine positive Sanktionierung durch die Partei vor<br />

Ort oder den Landesverband. Eine solche positive<br />

Sanktionierung könnte in Form politischen<br />

Patronage oder finanzieller und organisatorischer<br />

Unterstützung erfolgen. 41<br />

2. Der Effekt relativ großer Wahlkreise<br />

Da die beiden Faktoren „Wahlkreisgröße“ und<br />

„Chancen der Partei“ nur einen schwachen Ef-<br />

38<br />

Zittel, Thomas/ Gschwend, Thomas: a.a.O. S. 301.<br />

39<br />

Vgl. Horn, Wolfgang/ Kühr, Herbert: Kandidaten im<br />

Wahlkampf. Kandidatenauslese, Wahlkampf und lokale<br />

Presse 1975 in Essen. Meisenheim am Glan 1978. S.<br />

69.<br />

40<br />

Vgl. Black, Gordon S.: a.a.O. S. 155.<br />

41<br />

Vgl. Horn, Wolfgang/ Kühr, Herbert: a.a.O. S. 55.<br />

78


MIP 2008/09 15. Jhrg. Jens Walther – Auswirkungen des Landtagswahlsystems von Baden-Württemberg auf die Wahlkampfaktivität<br />

Aufsätze<br />

fekt auf die Wahlkampfaktivität hatten, können<br />

auch dem Landtagswahlsystem von Baden-<br />

Württemberg nur geringe Auswirkungen auf die<br />

Wahlkampfaktivität der Kandidaten zugeschrieben<br />

werden. Daher stellt sich die Frage, ob andere<br />

Faktoren einen stärkeren Einfluss des Landtagswahlsystems<br />

möglicherweise verdecken oder<br />

ob ein Einfluss tatsächlich nur auf diesem geringen<br />

Niveau besteht. Eine weitere Erklärungsmöglichkeit,<br />

die sich daher in Anbetracht des gewählten<br />

ökonomischen Akteursmodell aufdrängt,<br />

ist die, dass die Kandidaten in relativ<br />

großen Wahlkreisen mit guten Gewinnchancen<br />

aufgrund einer rationalen Kosten-Nutzen-Kalkulation<br />

ebenso zu dem Ergebnis kommen können,<br />

ihre Wahlkampfaktivität auf ein Mindestmaß zu<br />

reduzieren. Denn für diese Kandidaten ist es in<br />

Anbetracht der vorangegangen Landtagswahlen<br />

relativ wahrscheinlich, dass sie ein Landtagsmandat<br />

gewinnen werden. So konnten beispielsweise<br />

alle vier Kandidaten von CDU, SPD,<br />

FDP/DVP und GRÜNEN im Wahlkreis Leonberg<br />

ein Mandat erlangen. Dieser Wahlkreis lag<br />

bezüglich seiner Anzahl an Wahlberechtigten bei<br />

der Landtagswahl 2006 mit 25 Prozentpunkten<br />

über der durchschnittlichen Wahlkreisgröße im<br />

Regierungsbezirk Stuttgart. Im Wahlkreis Nürtingen,<br />

der mit 26 Prozentpunkten von der<br />

durchschnittlichen Wahlkreisgröße abweicht,<br />

war es bei der Landtagswahl 1996 darüber hinaus<br />

zusätzlich dem Kandidaten der Republikaner<br />

möglich, in den Landtag einzuziehen. Infolgedessen<br />

war der Wahlkreis während dieser Legislaturperiode<br />

durch 5 Abgeordnete im Parlament<br />

repräsentiert.<br />

Wenn also das ökonomische Akteursmodell dem<br />

Verhalten der politischen Akteure zugrunde gelegt<br />

wird, kann die These aufgestellt werden,<br />

dass es für Kandidaten in sicheren Wahlkreisen<br />

genauso rational ist, einen nicht sehr kosten- und<br />

zeitintensiven Wahlkampf zu führen, wie für<br />

Kandidaten in kleinen Wahlkreisen. Denn für<br />

beide Kandidatengruppen steht das Wahlergebnis<br />

schon zu Beginn des Wahlkampfs so gut wie<br />

fest. Dieses mögliche Verhalten könnte eine Erklärung<br />

für den nur schwachen Einfluss der beiden<br />

Faktoren auf die Wahlkampfaktivität der<br />

Kandidaten der drei untersuchten Parteien darstellen.<br />

Denn es hätte zur Folge, dass zwischen<br />

den beiden unabhängigen Variablen und der<br />

Wahlkampfaktivität keine lineare Beziehung bestehen<br />

würde. Zu beachten ist hierbei jedoch,<br />

dass de iure große Wahlkreise auch nur bei einer<br />

hohen Wahlbeteiligung zu de facto großen<br />

Wahlkreisen werden. Somit wäre bei einer Beurteilung<br />

dieses Erklärungsmodells ebenfalls die<br />

Wahlbeteiligung bei den letzten Landtagswahlen<br />

in die Analyse mit aufzunehmen.<br />

VIII. Fazit und Ausblick<br />

Wie dargestellt, wiesen entgegen der zu Beginn<br />

der Arbeit aufgestellten These die statistischen<br />

Analysen nur ansatzweise dem vermuteten Zusammenhang<br />

entsprechende Ergebnisse auf.<br />

Mögliche Ursachen dafür könnten somit entweder<br />

der innerparteiliche Sanktionsapparat oder<br />

aber ein Akteursverhalten sein, welches das Arbeiten<br />

mit einer linearen Regressionsanalyse<br />

sinnlos macht. Um diesbezüglich jedoch zu einem<br />

eindeutigen Ergebnis zu kommen, wäre<br />

eine weitere Untersuchung unumgänglich, in der<br />

man über Interviews und Umfragen mit der Parteibasis<br />

vor Ort, mit den Kandidaten in den einzelnen<br />

Wahlkreisen und mit den jeweiligen Landesvorständen<br />

dem Sachverhalt nachgehen<br />

müsste.<br />

79


Aufsätze Philipp Krieg – Einigkeit macht schwach – Das Europäische Parlament opfert seine Rechte MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Einigkeit macht schwach – das<br />

Europäische Parlament opfert seine<br />

Rechte zugunsten des Klimaschutzes<br />

Philipp Krieg 1<br />

Das EU-Klimaschutzgesetzespaket wurde nach<br />

Vorarbeiten der Ausschüsse in zweieinhalb Monaten,<br />

einem, bezogen auf Inhalt und Umfang<br />

des Pakets, sehr kurzen Zeitraum, vom Europaparlament<br />

verabschiedet. Das gelang nur durch<br />

ein Dreiergespräch zwischen Parlament, Rat und<br />

Kommission, einem so genannten „Trilog“. Unter<br />

dem Druck, nicht als Klimagegner dazustehen,<br />

nahm das Parlament die Ergebnisse des Trilogs<br />

zu Lasten der Parlaments- und Abgeordnetenrechte<br />

an.<br />

„Erpressung“ 2 , war eines der schärferen Worte<br />

die an diesem Tage im Plenum des Europäischen<br />

Parlamentes in Straßburg fielen. Die Parlamentarier<br />

waren zu ihrer letzten Sitzungswoche im<br />

Jahr 2008 in Straßburg zusammengekommen; es<br />

war auch die letzte Sitzungswoche des Parlaments<br />

unter französischer Ratspräsidentschaft –<br />

vor der kommenden, wenig verheißungsvollen<br />

tschechischen Ratspräsidentschaft sollten noch<br />

einige wichtige Gesetzespakete verabschiedet<br />

werden. Abgestimmt wurde unter anderem über<br />

das Klimaschutzpaket, das mehrere umfangreiche<br />

Regelungsbereiche, unter anderem die Installation<br />

eines europäischen Emmissionshandelssystem<br />

für die Industrie als europäische Antwort<br />

auf das Kyoto-Protokoll, beinhaltete. Es<br />

war seit der Tagung der Fachausschüsse innerhalb<br />

von zweieinhalb Monaten mühevoll in enger<br />

Beratung mit den zwei anderen Gesetzge-<br />

1<br />

Der Verfasser ist Ass. Jur. und hat als Rechtsreferendar<br />

seine Wahlstage im Europäischen Parlament im<br />

Kabinett des Vorsitzenden der SPE-Fraktion, Martin<br />

Schulz von Oktober bis Dezember 2008 absolviert.<br />

2<br />

Cohn-Bendit,16.12.2008, Ergebnisse des Europäischen<br />

Rates vom 11. und 12. Dezember 2008 - Tätigkeitsbericht<br />

des französischen Vorsitzes (Aussprache<br />

im Parlament)<br />

bungsorganen der Europäischen Union, Rat und<br />

Kommission erarbeitet worden.<br />

Anlass für zahlreiche Entrüstungen und Ziel aller<br />

Angriffe an jenem Tage war jedoch weniger<br />

der Inhalt des Gesetzes als vielmehr das Gesetzgebungsverfahren<br />

der Europäischen Union<br />

selbst. Was die Parlamentarier erzürnte, war eine<br />

vereinfachte Gesetzgebung durch sog. informelle<br />

Triloge.<br />

In diesen Trilogen – Gesprächen der drei am Gesetzgebungsverfahren<br />

beteiligten Institutionen –<br />

berieten Vertreter von Rat, Kommission und<br />

Parlament das Klimaschutzpaket. Diese Dreiergespräche<br />

fanden im laufenden, im EG-Vertrag<br />

normierten, Gesetzgebungsverfahren während<br />

der Entscheidungsfindungsphase des Parlamentes<br />

statt und sind in der Lage, dieses, im Falle einer<br />

Einigung abzukürzen.<br />

Da dem Trilog nur eine geringe Anzahl von Vertretern<br />

hinter verschlossenen Türen beiwohnten,<br />

konnten, bezogen auf den umfangreichen Verhandlungsinhalt,<br />

recht schnell Entscheidungen<br />

und Verhandlungsergebnisse getroffen werden –<br />

schneller als beim üblichen, hier einschlägigen<br />

Mitentscheidungsverfahren.<br />

Das Verfahren der Mitentscheidung nach Artikel<br />

251 EGV gliedert sich in zehn Verfahrensabschnitte<br />

3 , in denen im Wesentlichen der Spielball<br />

des Gesetzesvorhabens zwischen den drei Institutionen<br />

Rat, Parlament und Kommission rotiert.<br />

Dem Parlament kommt dabei, je nach konkreter<br />

Stufe des Verfahrens, ein Vetorecht zu, das nicht<br />

mehr vom Rat überstimmt werden kann 4 .<br />

In den anderen Gesetzesverfahren, dem Verfahren<br />

der Anhörung, vgl. Artikel 308 EGV, und in<br />

dem Verfahren der Zusammenarbeit gemäß Artikel<br />

252 EGV hat das Parlament keine vergleichsweise<br />

starke Rechtsstellung gegenüber<br />

den anderen Institutionen, da der Rat sich in diesen<br />

Fällen nicht durch Stellungnahmen des Parlaments<br />

gebunden fühlen muss 5 .<br />

3<br />

Schoo, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 251 EGV<br />

Rdnr. 17.<br />

4<br />

Haratsch/Koenig/Pechstein, EuropaR, [5. Aufl.] Tübingen<br />

2006, Rdnr. 306.<br />

5<br />

Haratsch/Koenig/Pechstein, EuropaR, [5. Aufl.] Tübingen<br />

2006, Rdnr. 304.<br />

80


MIP 2008/09 15. Jhrg. Philipp Krieg – Einigkeit macht schwach – Das Europäische Parlament opfert seine Rechte Aufsätze<br />

Für das Klimaschutzpaket war nach Artikel 175<br />

Absatz 1 und 3 EGV der Anwendungsbereich<br />

des Mitentscheidungsverfahrens nach Artikel<br />

251 EGV eröffnet.<br />

Die Vorschläge der Kommission gemäß Artikel<br />

251 Absatz 1 Satz 1 EGV erreichten das Parlament<br />

bezüglich vier der fünf Regelungsbereiche<br />

am 23. Januar 2008 und wurde gemäß Artikel 24<br />

Geschäftsordnung des Parlaments (im Weiteren<br />

GO EP) durch die Konferenz der Präsidenten in<br />

die zuständigen Ausschüssen ITRE (Industrieausschuss)<br />

und ENVIE (Umweltausschuss) geleitet,<br />

welche als federführende Ausschüsse (EN-<br />

VIE für vier der fünf Regelungsbereiche, ITRE<br />

für einen) gemäß Artikel 46 GO EP bestimmt<br />

wurden.<br />

Im Oktober 2008 lagen dann die letzten Berichte<br />

der fünf Berichterstatter dem Parlament vor.<br />

Auf den Bericht des Umweltausschusses vom<br />

7. Oktober 2008 reagierte die Öffentlichkeit sehr<br />

kontrovers – die gegensätzlichen politischen und<br />

geographischen Lager zeichneten ein düsteres<br />

Bild vom Erfolg des Klimaschutzpaketes. Während<br />

insbesondere skandinavischen Stimmen der<br />

Gesetzesentwurf nicht weit genug ging, empfanden<br />

die osteuropäischen Mitgliedsstaaten, was<br />

mit Blick auf die unterschiedliche und zum Teil<br />

dort veraltete Industriestruktur verständlich wird,<br />

diesen Entwurf als starke Zumutung 6 . Aber nicht<br />

nur von den Mitgliedstaaten selbst, sondern auch<br />

von Wirtschafts- und Umweltverbände innerhalb<br />

vieler Mitgliedsstaaten wurde starke, wenn auch<br />

gegensätzliche Kritik am Gesetzespaket geäußert.<br />

So nannte der Bundesverband der Deutschen<br />

Industrie in einer Pressemeldung dies als<br />

„Gefährdung der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie“<br />

7 , während Greenpeace Deutschland es<br />

als Ergebnis effektiver Industrie-Lobbyarbeit 8<br />

beschimpfte.<br />

Die Debatte zeigte, dass das Gesetzespaket inhaltlich<br />

ausgewogen war, könnte der Beobachter<br />

sarkastisch formulieren. Doch würde dieser Sarkasmus<br />

nur darüber hinwegtäuschen, dass auf<br />

6<br />

http://www.faz.net/ „Selbstzufriedene Europäer“ vom<br />

17.10.2008.<br />

7<br />

BDI, Pressemitteilung 104/2008 vom 07.10.2008<br />

8<br />

Greenpeace, Nachricht vom 07.10.2008<br />

den Schultern der Parlamentarier fraktionsübergreifend<br />

ein enormer Druck lastete:<br />

Das Klimapaket soll die europäische Antwort<br />

auf die Anforderungen des Kyoto-Protokolls<br />

sein. Diese Antwort soll rasch geschehen, denn<br />

ein neuer amerikanischer Präsident könnte mit<br />

einem eigenen noch ambitionierteren Klimaschutzgesetzespaket<br />

den Europäern 2010 in Kopenhagen<br />

die Show stehlen – aus der beabsichtigten<br />

Vorreiterrolle würde dann nichts. Nur unter<br />

der französischen Ratspräsidenschaft war ein<br />

solches Mammutvorhaben möglich; so hat Sarkozy<br />

als Präsident des Rates die wichtigsten Entscheidungen<br />

des Rates der Europäischen Union<br />

auf den Europäischen Rat verschoben, in dem<br />

durch das dort geltende Einstimmigkeitsprinzip<br />

jeder Staatschef selbst Farbe zum Klimaschutzvorhaben<br />

bekennen muss. Dass die tschechische<br />

Ratspräsidentschaft 2009 damit gleichziehen<br />

würde, erschien mehr als nur fraglich, so dass<br />

Eile geboten war. In einer solchen Situation<br />

möchten die Fraktionen des Parlaments natürlich<br />

keine Bremser und Spielverderber sein, zumal<br />

im Juni 2009 Wahlen zum Europäischen Parlament<br />

stattfinden, vor denen sich niemand in seinem<br />

Heimatland als Klimagegner outen möchte.<br />

Daher herrscht Einigkeit, sich einem schon früher<br />

praktizierten Entscheidungsverfahren zu öffnen:<br />

den Trilogen.<br />

Die Möglichkeit, das Gesetzesverfahren durch<br />

derartige Dreiergespräche abzukürzen, oder<br />

überhaupt sich mit den beiden anderen Gesetzgebungsorganen<br />

vorab auszutauschen, nennen<br />

die Quellen des Primärrechts, insbesondere Artikel<br />

251 EGV, nicht. Auch die dem Sekundärrecht<br />

zuzuordnenden Geschäftsordnungen 9 von<br />

Rat und Parlament sehen solche Triloge nicht<br />

vor. Allerdings bietet Artikel 120 GO EP dem<br />

Parlament die Möglichkeit so genannte „Interinstitutionelle<br />

Vereinbarungen“ mit den beiden anderen<br />

Gesetzgebungsorganen zu schließen; eine<br />

ähnlich lautende Bestimmung findet sich zwar<br />

nicht direkt in der Geschäftsordnung des Rates<br />

wieder, wird aber aus Artikel 17 Absatz 4 Ziffer<br />

9<br />

Annacker , „Der fehlerhafte Rechtsakt im Gemeinschafts-<br />

und Unionsrecht, Wien 1998, S. 54.<br />

81


Aufsätze Philipp Krieg – Einigkeit macht schwach – Das Europäische Parlament opfert seine Rechte MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

d) GO Rat gelesen 10 . Von dieser Möglichkeit sekundäres<br />

Gemeinschaftsrecht im Gewand der<br />

Rechtshandlung eigener Art 11 zu setzen, haben<br />

die Organe im Jahre 1999 Gebrauch gemacht, als<br />

sie die „gemeinsame Erklärung zu den praktischen<br />

Modalitäten des neuen Mitentscheidungsverfahrens“<br />

12 verabschiedeten.<br />

Ziel dieser gemeinsamen Erklärung ist es, die<br />

Kontakte während des Mitentscheidungsverfahrens<br />

zwischen den Institutionen auszubauen 13 sowie<br />

die Zusammenarbeit zu verbessern.<br />

Inhaltlich verpflichten sich die Gesetzgebungsorgane<br />

in dieser Erklärung, ihre Aktivitäten im<br />

Wesentlichen auf eine Einigung hin zu entfalten,<br />

welche durch enge, gemeinsame Beratungen erfolgen<br />

soll. Diese Einigungen können bereits<br />

während der ersten Lesung im Parlament erfolgen<br />

oder aber auch in seiner zweiten Lesung und<br />

im Vermittlungsausschuss, so dass vor Ende des<br />

im EGV skizzierten Gesetzesverfahrens bereits<br />

mehrfach Treffen und gemeinsame Beratungen<br />

mit den, in dieser jeweiligen Stufe des Verfahrens<br />

eigentlich noch nicht zuständigen anderen<br />

Organe geschehen können.<br />

Sollte bei dem informellen Trilog während der<br />

Ersten Lesung im Parlament eine Einigung zwischen<br />

den Organen zustandekommen, so teilt der<br />

Vorsitzende des Ausschusses der Ständigen Vertreter<br />

dies in Form von Änderungen zum Kommissionsvorschlag<br />

dem Vorsitzenden des zuständigen<br />

Parlamentsausschusses mit. Gemäß Artikel<br />

66 GO EP können dann Parlament und Rat<br />

diese Änderungen schließlich in Erster Lesung<br />

annehmen und das Verfahren positiv abschließen<br />

14 .<br />

10<br />

ABL. 2002 L 230; von Alemann, „Die Handlungsform<br />

der interinstitutionellen Vereinbarung: eine Untersuchung<br />

des Interorganverhältnisses der europäischen<br />

Verfassung“, Berlin 2006, S. 88.<br />

11<br />

Haratsch/Koenig/Pechstein, EuropaR, [5. Aufl.] Tübingen<br />

2006, Rdnr. 353.<br />

12<br />

ABL. 1999 C 148/1; überarbeitet mit ABL. 2003 C<br />

321/1; Vereinbarung einer Revision 2006.<br />

13<br />

ABL. 1999 C 148/1.<br />

14<br />

Schoo, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 251 EGV<br />

Rdnr. 29.<br />

Die Möglichkeit der Triloge beschleunigt somit<br />

den regulären Weg nach Artikel 251 EGV ganz<br />

enorm 15 , denn das im Gesetzesverfahren anschließend<br />

tätig werdende Organ hatte ja bereits<br />

Gelegenheit, seine Bedenken und Änderungswünsche<br />

bei dem zuvor tätigen Organ anzubringen<br />

– die Entscheidung des in der jeweiligen<br />

Stufe des Verfahrens nach dem EGV zuständigen<br />

Organs, sei sie nun positiv oder negativ, geschieht<br />

folglich unter der vollen Einflussnahme<br />

der später zuständigen anderen Organe.<br />

Was hinsichtlich des Stichwortes „Selbstständigkeit<br />

eines Gesetzgebungsorgans“ schon etwas<br />

befremdlich anmutet, wird rechtlich doch deutlich<br />

fragwürdiger, wenn man die inhaltlichen<br />

Folgen dieser interinstitutionellen Erklärung auf<br />

die nationale, deutsche Bundesgesetzgebung<br />

überträgt: Man stelle sich vor, die Bundesregierung<br />

als Gesetzesinitiator und der Bundesrat säßen<br />

mit Vertretern des Bundestages in einem<br />

Dreiergespräch zusammen und berieten über<br />

einen Vorschlag eines Ausschusses des Bundestages<br />

– dies aber noch bevor abschließend im<br />

Plenum des Parlaments darüber beraten wurde,<br />

würde dann eine Entscheidung fällen und den<br />

anderen am Gesetzgebungsverfahren beteiligten<br />

Organen zu deren eigenen Beratungen präsentieren.<br />

Schon bezüglich der Arbeit des Vermittlungsausschusses,<br />

der allzu oft in den Verdacht<br />

gerät, nicht zu vermitteln, sondern selber gesetzgeberisch<br />

tätig zu werden, herrscht bekanntlich<br />

Kritik am deutschen Gesetzgebungsverfahren.<br />

Wie viel mehr aber noch herrschte sie, wenn<br />

eine solch ähnliche Institution dem Bundestag<br />

die Arbeit „abnähme“, also seine Entscheidungsfindungsphase<br />

verkürzen würde. Der einzelne<br />

Abgeordnete des Bundestages müsste sich zudem<br />

fragen, was seine Abgeordnetenrechte faktisch<br />

noch wert sind. Zweifel an der Selbständigkeit<br />

des Organs und der Einhaltung des Demokratieprinzips<br />

wären daher vermutlich die noch<br />

sanftesten Reaktionen.<br />

Der Skepsis gegenüber der Institution Trilog, genauer<br />

den Zweifeln an der rechtlichen Zulässigkeit,<br />

wird sich vielleicht jedoch eine rein euro-<br />

15<br />

Gesamtbericht der Tätigkeit der Europäischen Union<br />

2006, Kapitel IV, Institutionelles Geschehen, http://europa.eu/generalreport/de/2006/rg116.htm<br />

82


MIP 2008/09 15. Jhrg. Philipp Krieg – Einigkeit macht schwach – Das Europäische Parlament opfert seine Rechte Aufsätze<br />

päische Perspektive nicht anschließen können.<br />

Denn jene gewachsene Konstruktion zeigt zwar<br />

viele vertraute demokratische Elemente, ob sich<br />

darin jedoch ein europäisches, gleich gewichtiges<br />

Demokratieprinzip verwirklicht, erscheint<br />

fraglich. Charakteristisch für dieses Konstrukt<br />

sui generis scheint eher ein Bedürfnis nach Vorrang<br />

von Funktionalität zu sein, wie es auch die<br />

„informellen Triloge“ (so deren eigentliche Titel)<br />

zeigen. Ein weiteres Indiz für dieses Bedürfnis<br />

ist die Reaktion der europäischen Abgeordneten<br />

selbst: viele waren unzufrieden mit einem<br />

Verfahren im Stil „top down“, welches ihre persönliche<br />

Meinung unberücksichtigt ließ. An dem<br />

grundsätzlichen Erfordernis einer vor allem<br />

möglichen Streit bestehenden Mediation zweifelten<br />

jedoch nur wenige. Dass dies auch aus den<br />

Erfahrungen bei der oft schwierigen Entscheidungsfindung<br />

einer multinationalen Organisation<br />

resultiert, kann aber auch ein möglicher Grund<br />

für diese differenzierte Reaktion sein 16 . Die Antwort<br />

auf die Frage nach dem Verhältnis von demokratischen<br />

Elementen zur Funktionalität wird<br />

sich hier freilich nicht abschließend beantworten<br />

lassen. Schließlich wird eine derartig Frage nach<br />

dem Wesen der Europäischen Union nur im Zusammenhang<br />

mit der Frage nach dem zukünftigen<br />

Weg der Europäischen Union – mehr Volkssouveränität<br />

oder mehr Diplomaten – zu stellen<br />

sein.<br />

Den Trilogen haftet noch ein weiteres Problem<br />

an, das eher rechtstechnischer Natur ist: eine<br />

mangelnde Transparenz.<br />

So entsenden Rat und Parlament Vertreter in den<br />

Trilog, die den jeweiligen Standpunkt verhandeln.<br />

Beim Klimaschutzpaket bestanden die Delegationen<br />

des Parlamentes aus zum Teil weniger<br />

als zehn Delegierten, stellvertretend für die<br />

785 Abgeordneten 17 des Parlaments. Diese Delegationen<br />

des Parlaments verhandeln unter absolutem<br />

Ausschluss der Öffentlichkeit und sind<br />

nicht an eine klare Weisung seitens des Parlamentes<br />

gebunden – sind in ihrer Entscheidungsfindung<br />

somit nahezu frei. Gleichwohl sollen die<br />

Delegationen aber die Meinungsvielfalt im Par-<br />

16<br />

Nicht selten gelingt eine Fraktionsmeinung nicht, wegen<br />

des Zugehörigkeitsgefühl zum Nationalstaat<br />

17<br />

Stand: Februar 2008, http://www.europarl.europa.eu<br />

lament repräsentieren. Durch die hinter verschlossenen<br />

Türen gefällte Entscheidung werden<br />

die zuständigen Gremien im Parlament dann<br />

letztlich vor vollendete Tatsache gestellt.<br />

Dies ist ein Umstand, den die Literatur zwar als<br />

bedenklich behandelt, der aber tragbar sei, da die<br />

Schlussphase der Ersten Lesung sowohl in den<br />

Ausschüssen wie auch im Plenum des Parlaments<br />

und im Rat in aller Öffentlichkeit erfolge.<br />

Die Transparenz sei damit wieder hergestellt 18 .<br />

Der Einwand des Vorwurfs mangelnder Transparenz<br />

mag damit theoretisch ausgeräumt sein,<br />

faktisch ist er es aber nicht. Er mag sicherlich<br />

bei wenig komplexen Sachverhalten, die auch<br />

von fachlich anders orientierten Abgeordneten<br />

einfach zu erfassen sind und zu denen es bereits<br />

eine lange fundierte politische Meinung gibt, zutreffen.<br />

Denn hier können sich die am Trilog und<br />

im Ausschuss nicht beteiligten Abgeordneten<br />

oberflächlich mit dem Stoff befassen und dann<br />

eher ihrem politischen Instinkt wie auch einer<br />

gegebenenfalls bestehenden Fraktionsmeinung<br />

ruhigen Gewissens folgen. Aber nach dem Lehrsatz,<br />

dass eine Theorie nur so gut ist, wie sie sich<br />

auch in Ausnahme- und Extremfällen behaupten<br />

kann, muss man im vorliegenden Fall des Klimaschutzpaketes<br />

ihr Versagen konstatieren.<br />

Denn zum einen war der Sachverhalt nicht simpel,<br />

sondern sehr komplex und zum anderen bedarf<br />

es eines mehr als nur laienhaften Vorverständnisses.<br />

So gliederte sich das Klimaschutzpaket<br />

mit seinen gesamten Regelungsbereichen<br />

in fünf Themengebiete. Allein der Bereich Emissionshandel<br />

bedient sich in der Praxis einer eigenen<br />

Fachsprache, die sich so auch im Gesetzespaket<br />

wieder findet. Zugegeben, es ist den Abgeordneten<br />

im Normalfall durchaus zuzumuten,<br />

sich Rat und Erklärung von ihren fachlich besser<br />

orientierten Kollegen in jener Schlussphase einzuholen.<br />

Doch im vorliegenden Fall blieb dazu<br />

keine Zeit. So kamen am Samstag, dem 13. Dezember<br />

2008 die Delegationen zu ihrer letzten<br />

Sitzung des Trilogs zusammen, um die letzten<br />

Details des Gesetzes abzusprechen. Nach der<br />

dort erzielten Einigung blieben dem Sprachendienst<br />

eineinhalb Tage Zeit, die Übersetzungen<br />

18<br />

Schoo, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 251 EGV<br />

Rdnr. 29.<br />

83


Aufsätze Philipp Krieg – Einigkeit macht schwach – Das Europäische Parlament opfert seine Rechte MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

in alle Mitgliedssprachen vorzunehmen, da ab<br />

Montagmittag die Parlamentarier zu ihrer Sitzungswoche<br />

in Straßburg zusammenkamen. Die<br />

Abstimmung erfolgte dann am Mittwoch, dem<br />

17. Dezember 2008, so dass den Parlamentariern<br />

eineinhalb Tage Zeit blieben, sich in den umfangreichen<br />

Stoff vollständig einzuarbeiten. So<br />

manche der Sitzungen der Fraktionen liefen daher<br />

sehr kontrovers ab und in nicht wenigen gelang<br />

es noch nicht einmal, eine Fraktionsmeinung<br />

zu erzielen, der die Abgeordneten sich anschließen<br />

konnten. So war es nur der Furcht, als<br />

Bremser, Klimagegner oder ähnliches dazustehen<br />

geschuldet, dass am Dienstag, den 17. Dezember<br />

2009 das Parlament mit überwältigender<br />

Mehrheit das Klimaschutzpaket verabschiedete.<br />

Wozu im Einzelnen der jeweilige Abgeordnete<br />

schließlich sein Handzeichen gab, dürfte ihm<br />

letztlich aber schleierhaft gewesen sein – transparent<br />

war das Gesetzgebungsverfahren für ihn<br />

damit keinesfalls.<br />

Wenn mit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages<br />

das Europäische Parlament zukünftig mit<br />

mehr Kompetenzen ausgestattet und damit im<br />

Gesetzgebungsverfahren institutionell mehr Beachtung<br />

erfährt, so ist dies nur die logische Folge<br />

einer langjährigen Entwicklung von einem Wenig<br />

zu einem deutlichen Mehr an Rechten für<br />

das Parlament und seine Abgeordneten 19 . Dass<br />

dies jedoch nur eine rein formale, aber wegen<br />

der oben skizzierten Problemen nicht auch eine<br />

faktische Aufwertung ist, steht bedauerlicherweise<br />

freilich zu erwarten.<br />

19<br />

vgl. Schoo, „L’evolution du service juridique et du<br />

rôle du parlement européen devant la cour de justice“,<br />

in: Au service du droit communautaire, Liber amicorum<br />

en l'honneur de Gregorio Garzón Clariana, Le Jurisconsulte<br />

du Parlement européen<br />

84


MIP 2008/09 15. Jhrg. Sebastian Roßner – Fünf (Partei-)Freunde sollt ihr sein Aufgespießt<br />

„Aufgespießt“<br />

Fünf (Partei-)Freunde sollt ihr<br />

sein!<br />

Zu einer gesetzgeberisch möglicherweise nicht<br />

intendierten Mindestmitgliederzahl für politische<br />

Parteien, zugleich zu einem Sonderproblem<br />

des Parteiausschlußverfahrens<br />

Sebastian Roßner, M.A. 1<br />

Das Problem der Mindestmitgliederzahl politischer<br />

Parteien war bisher ein ungelöstes. Als<br />

Rechtsproblem gehört es in den Kreis der mit<br />

dem Ernsthaftigkeitskriterium des § 2 I 1 PartG<br />

verbundenen Auslegungsaufgaben. Das BVerfG<br />

spricht bei seiner Interpretation des Ernsthaftigkeitselementes<br />

davon, daß es der Partei in gewissem<br />

Maße selbst überlassen bleibe, wie sie ihre<br />

Ernsthaftigkeit nachweisen wolle, die Partei<br />

könne etwa einen Schwerpunkt auf die Mitgliederwerbung,<br />

die Wahlteilnahme oder die Öffentlichkeitsarbeit<br />

legen 2 . Ein Defizit in einem Bereich<br />

könne durch gesteigerte Anstrengung in einem<br />

anderen Bereich „in gewissen Grenzen“<br />

ausgeglichen werden 3 . Dabei wohnt dieser Betrachtung<br />

ein dynamisches Element inne, insofern<br />

nämlich der Fortschritt seit Gründung zu beachten<br />

sei 4 . Insgesamt ist demnach eine Gesamtwürdigung<br />

vorzunehmen, innerhalb derer die<br />

einzelnen Elemente des Ernsthaftigkeitskriteriums<br />

(Umfang und Festigkeit der Organisation,<br />

Zahl der Mitglieder, Hervortreten in der Öffentlichkeit)<br />

einander teilweise substituieren können.<br />

Gleichwohl kann, so wird man das Gericht verstehen<br />

müssen, auf keines der Elemente völlig<br />

verzichtet werden.<br />

1<br />

Der Verfasser ist als Wissenschaftlicher Mitarbeiter<br />

am <strong>PRuF</strong> tätig.<br />

2<br />

BVerfGE 91, 262 (271).<br />

3<br />

BVerfGE 91, 262 (271).<br />

4<br />

BVerfGE 91, 262 (269 f.)<br />

Genau betrachtet verlangt das BVerfG einen<br />

nach verschiedenen Kriterien zu bestimmenden<br />

Erfolg einer politischen Gruppierung, damit sie<br />

als Partei i.S.d. PartG gelten kann. Die Erfolgskriterien<br />

allerdings (Mitgliederzahl, Beachtung<br />

im öffentlichen politischen Diskurs, Wahlerfolge,<br />

organisatorische Differenziertheit und Festigkeit)<br />

kann die Partei nach ihrem Selbstverständnis<br />

5 und ihren taktischen Erwägungen in<br />

der Gewichtung variieren. Dabei gesteht das<br />

BVerfG einer neuen Partei Zeit zu, bis sie ein –<br />

kaum genau zu definierendes – Mindestmaß an<br />

Erfolg erreicht hat.<br />

Die Literatur folgt, soweit ersichtlich, großteils<br />

der Linie des Gerichts 6 .<br />

Mit diesem, bei aller Problematik der mangelnden<br />

Bestimmtheit, wohl doch den praktischen<br />

Bedingungen der Parteitätigkeit und dem verfassungsrechtlichen<br />

Status der Parteien gerecht<br />

werdenden Verständnis von § 2 I 1 PartG ist allerdings<br />

noch nichts über den Anfangspunkt der<br />

Entwicklung einer Partei gesagt. Wann also beginnt<br />

das parteiliche Leben?<br />

Derartige Fragen bereiten bekanntermaßen auch<br />

auf anderen juristischen Feldern große Schwierigkeiten;<br />

es soll hier daher auch keine umfassende<br />

Antwort versucht werden. Immerhin<br />

bringt es die Praxis des <strong>PRuF</strong> mit sich, bisweilen<br />

auch von den besonderen Nöten der Klein- und<br />

Kleinstparteien Kenntnis zu erlangen: Jüngst gab<br />

es die Anfrage einer solchen politischen Partei in<br />

statu nascendi, die eines ihrer Mitglieder ausschließen<br />

wollte. Die Schwierigkeit dabei bestand<br />

im Fehlen einer zweiten parteischiedsgerichtlichen<br />

Instanz. Für diese, von §§ 10 V 2,<br />

14 I 1 PartG zwingend vorgeschriebene Einrich-<br />

5<br />

Zur Bedeutung des Selbstverständnisses im Recht<br />

Morlok, Martin: Selbstverständnis als Rechtskriterium,<br />

1993, passim.<br />

6<br />

Morlok, Martin, in: Dreier, Horst (Hg.), Grundgesetzkommentar,<br />

Bd. 22. Aufl., 2006, Art. 21 Rn. 39 ff.;<br />

Klein, Hans-Hugo, in: Herzog, Roman/ Herdegen,<br />

Matthias/ Klein, Hans-Hugo/ Scholz, Rupert (Hg.),<br />

Maunz/Dürig GG, 2005, Art. 21 Rn. 226 ff.; Morlok,<br />

Martin, in: Morlok, Martin (Hg.), 2007, Kommentar<br />

zum Gesetz über die politischen Parteien, § 2 Rn. 9;<br />

mit Kritik an der verfassungsgerichtlichen Position<br />

hingegen Ipsen, Jörn, in: Sachs, Michael (Hg.), GG 4.<br />

Aufl., 2009, Art. 21 Rn. 21.<br />

85


Aufgespießt Sebastian Roßner – Fünf (Partei)Freunde sollt ihr sein MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

tung 7 fehlte es der betreffenden Partei an hinreichend<br />

vielen Mitgliedern.<br />

Das Fehlen einer zweiten innerparteilichen Instanz<br />

der Schiedsgerichtsbarkeit ist wohl noch<br />

nicht von Literatur oder Rechtsprechung behandelt<br />

worden. Welche Möglichkeiten des Umgangs<br />

mit diesem Problem bieten sich?<br />

Zunächst wäre an die materielle Unmöglichkeit<br />

des Ausschlusses zu denken. Dafür spräche der<br />

Verstoß gegen zwingendes Recht durch die Partei:<br />

Die Möglichkeit der Anrufung einer zweiten<br />

Instanz gegen eine Ausschlußentscheidung ist<br />

gesetzlich garantiert 8 . Allerdings zielt diese<br />

Rechtsmittelgarantie auf die Möglichkeit einer<br />

Korrektur von Fehlern im Ausschlußverfahren.<br />

Das Ausschlußverfahren deshalb insgesamt zu<br />

untersagen, hieße über das Ziel hinauszuschießen<br />

und der Partei ohne Not die Möglichkeit einer<br />

Trennung von nach § 10 IV PartG untragbar<br />

gewordenen Mitgliedern zu nehmen.<br />

Eine andere Möglichkeit bestünde in dem ausschließlichen<br />

Verweis auf die staatliche Gerichtsbarkeit.<br />

Deren Anrufung gegenüber der<br />

Entscheidung von Parteischiedsgerichten ist im<br />

Grundsatz ohnedies gewährleistet 9 , man könnte<br />

also das vom Parteischiedsgericht erster (und<br />

einziger) Instanz ausgeschlossene Mitglied direkt<br />

an das zuständige staatliche Gericht verweisen.<br />

Dagegen sprechen jedoch gewichtige Gründe:<br />

Zunächst bliebe der Verstoß gegen zwingendes,<br />

die innere Ordnung der Partei im Sinne eines<br />

Schutzes der Mitgliedschaftsrechte 10 gestaltendes<br />

Gesetzesrecht für die Partei folgenlos.<br />

Dies ist in Hinsicht auf die objektive Seite des<br />

PartG unbefriedigend, das für alle Parteien gleichermaßen<br />

eine den Vorgaben des Art. 21 I GG<br />

entsprechende rechtliche (Wettbewerbs-)Ordnung<br />

11 errichtet. Weiterhin hieße eine solche Lösung,<br />

das ausgeschlossene Mitglied einer Instanz<br />

7<br />

Ipsen, Jörn, in: Ipsen, Jörn (Hg.), Kommentar zum<br />

Gesetz über die politischen Parteien, 2008, § 10 Rn.<br />

33; Morlok, M.: Kommentar zum PartG (2007) § 14<br />

Rn. 4.<br />

8<br />

Ipsen, J.: , in: Ipsen PartG (2008) § 10 Rn. 33.<br />

9<br />

Morlok, M.: Kommentar zum PartG (2007) § 14 Rn.<br />

16.<br />

10<br />

Morlok, M.: Kommentar zum PartG (2007) § 10 Rn.<br />

15; Ipsen, J.: , in: Ipsen PartG (2008) § 10 Rn. 33.<br />

zu berauben, bedeutete also einen Eingriff in<br />

subjektive Verfahrensrechte. Zuletzt sind die unterschiedlichen<br />

Prüfungsmaßstäbe zu beachten,<br />

die von Parteischiedsgericht und staatlichem Gericht<br />

anzulegen sind 12 : Nur das Parteischiedsgericht<br />

kann in vollem Umfang die materiellen<br />

Vorschriften des Satzungsrechts auslegen. Diese<br />

Aufgaben lassen sich aus Gründen der Parteifreiheit<br />

und wohl auch aus funktionalen Gründen<br />

kaum auf staatliche Gerichte übertragen 13 . Ein<br />

bloßer Verzicht auf die zweite innerparteiliche<br />

Instanz unter Hinweis auf Möglichkeiten staatlichen<br />

Rechtsschutzes scheidet demnach aus.<br />

In Betracht kommt hingegen – und soll hier vorgeschlagen<br />

werden – den Parteiausschluß durch<br />

das erstinstanzliche Parteischiedsgericht zuzulassen,<br />

jedoch unter der Einschränkung des Eintritts<br />

der schwebenden Unwirksamkeit bei Einlegung<br />

des von §§10 V 2, 14 I 1 PartG garantierten<br />

Rechtsmittels. Läßt das ausgeschlossene Parteimitglied<br />

jedoch die Rechtsmittelfrist ungenutzt<br />

verstreichen, so wird der Parteiausschluß<br />

rechtskräftig. Es scheidet dann auch eine Anfechtung<br />

vor einem staatlichen Gericht aus, da<br />

der innerparteiliche Rechtsweg nicht ausgeschöpft<br />

wurde 14 . Legt aber das Mitglied wirksam<br />

Rechtsmittel zum Parteischiedsgericht zweiter<br />

Instanz ein, so bleibt die Mitgliedschaft erhalten,<br />

jedenfalls solange, bis ein einzurichtendes<br />

Schiedsgericht zweiter Instanz über den Fall entscheidet.<br />

Den Zeitraum bis zur Errichtung des<br />

zweitinstanzlichen Schiedsgerichts und dessen<br />

Entscheidung wird man über die Anwendung der<br />

Grundsätze der Verwirkung begrenzen können,<br />

danach greift Verbrauch der Ausschlußgründe<br />

zugunsten des Mitglieds ein. Die Partei ist während<br />

der schwebenden Unwirksamkeit des erstinstanzlichen<br />

Ausschlusses nicht schutzlos gestellt,<br />

sie kann nach § 10 V 4 PartG das Mitglied<br />

11<br />

.Dazu Morlok, Martin: Parteienrecht als Wettbewerbsrecht,<br />

in: FS Dimitris Tsatsos (2003), S. 408-447.<br />

12<br />

Vgl. BGHZ 87, 337 ff., insb. 343, 345; Roßner, Sebastian,<br />

MIP 2007, S. 43-54 (51 ff.); Morlok, M.:<br />

Kommentar zum PartG (2007) § 14 Rn. 16.<br />

13<br />

Vgl. Roßner, Sebastian, Der Parteiausschluß als Entzug<br />

verfassungsrechtlich geformter Statusrechte, ZG<br />

2008, S. 335-354 (352 f.)<br />

14<br />

Vgl. Morlok, M.: Kommentar zum PartG (2007) § 14<br />

Rn. 16.<br />

86


MIP 2008/09 15. Jhrg. Sebastian Roßner – Fünf (Partei-)Freunde sollt ihr sein Aufgespießt<br />

von der Ausübung seiner Rechte ausschließen<br />

oder Parteiordnungsmaßnahmen einer geringeren<br />

Intensität verhängen, allerdings konsequenterweise<br />

nur solange, bis die Ausschlußgründe<br />

qua Verwirkung verbraucht sind, s.o.<br />

Aus alledem ergibt sich auch – um wieder an<br />

den Ausgangspunkt des Beitrages zurückzukehren<br />

– eine Mindestmitgliederzahl der politischen<br />

Partei bei ihrer Gründung: Sie beträgt fünf. Dies<br />

ergibt sich aus der Zahl von drei Vorstandsmitgliedern,<br />

§ 11 I 2 PartG und mindestens zwei<br />

Parteischiedsrichtern, §§10 V 2, 14 I 1 PartG.<br />

Letztere Zahlenangabe ist allerdings zu diskutieren,<br />

immerhin scheint das Parteiengesetz bezüglich<br />

der Parteischiedsgerichte von Spruchkörpern<br />

auszugehen, wie sich aus de Formulierung<br />

von § 14 III PartG ergibt 15 . Aus Gründen der von<br />

Art. 21 I GG umfaßten Organisationsfreiheit der<br />

Parteien 16 wird man aber auch die Möglichkeit<br />

der Zuständigkeit von Einzelrichtern einräumen<br />

müssen, zumal diese auch in vielen Bereichen<br />

der staatlichen Gerichtsbarkeit besteht.<br />

Es gilt daher im Parteienrecht:<br />

quinque faciunt partem.<br />

15<br />

Morlok, M.: Kommentar zum PartG (2007) § 14<br />

Rn. 13.<br />

16<br />

Morlok, M.: in: Dreier GG (2006) Art. 21 Rn. 57.<br />

87


Aufgespießt Alexandra Bäcker – Grundsätzliches zu Abberufung und Entlastung des Vorstands MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Grundsätzliches zu Abberufung<br />

und Entlastung des Parteivorstands<br />

Alexandra Bäcker 1<br />

Die Frage der Entlastung des Parteivorstands<br />

spielt im politischen Alltag immer wieder eine<br />

Rolle und verdient nähere Betrachtung. Anhand<br />

eines Beispiels lässt sich verdeutlichen, warum.<br />

Eine neuere, noch kleine Partei hatte als Tagesordnungspunkt<br />

einer ordentlichen Mitgliederversammlung<br />

des Landesverbandes die Entlastung<br />

des Vorstandes vorgesehen. Eine ausreichende<br />

Mehrheit der Mitglieder war mit der Tätigkeit<br />

des Vorstandes aber nicht zufrieden – und erteilte<br />

die begehrte Entlastung nicht. Stattdessen<br />

wählte die Mitgliederversammlung im Anschluss<br />

an die Nicht-Entlastung einen neuen<br />

Vorstand. Der nicht entlastete (alte) Vorstand<br />

verweigerte nun aber die Übergabe der Vorstandsgeschäfte<br />

und –unterlagen, denn er sei<br />

nicht entlastet worden und daher noch im Amt.<br />

Der geschilderte Fall wirft unter rechtlichen Gesichtspunkten<br />

zwei Fragen auf: Ist die Bestellung<br />

eines Vorstands(mitglieds) widerruflich und<br />

kann die Nichtentlastung ein Widerrufsgrund<br />

sein? Auf die politischen Parteien ist das bürgerliche<br />

Vereinsrecht anwendbar, soweit nicht das<br />

Parteiengesetz speziellere Vorschriften enthält.<br />

Das Parteiengesetz selbst befasst sich insbesondere<br />

in § 11 mit der Bestellung und den Aufgaben<br />

des Vorstandes, ohne dass allerdings konkrete<br />

Regelungen zur Frage der Entlastung oder<br />

der Abberufung des Vorstandes getroffen werden.<br />

Aus diesem Grunde ist ein ergänzender Rekurs<br />

auf die Vorschriften des Bürgerlichen Rechts,<br />

hier insbesondere auf § 27 BGB erforderlich.<br />

1<br />

Die Verfasserin ist Rechtsanwältin der Anwaltskanzlei<br />

Steffen & Bäcker, Hattingen, und Wissenschaftliche<br />

Mitarbeiterin des Instituts für Deutsches und Europäisches<br />

Parteienrecht und Parteienforschung (<strong>PRuF</strong>) der<br />

Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.<br />

Nach dessen Absatz 2 ist die Bestellung jederzeit<br />

widerruflich. Die Zuständigkeit für die Ausübung<br />

des Widerrufsrechts liegt nach zutreffender<br />

herrschender Meinung bei dem Vereinsorgan,<br />

das auch die Kreationskompetenz besitzt,<br />

im Fall der politischen Parteien also bei der<br />

Hauptversammlung (§§ 9 Absatz 4, 15 Absatz 2<br />

PartG). Der Widerruf vollzieht sich, soweit die<br />

Mitgliederversammlung zuständig ist, durch Beschluss<br />

und Mitteilung an das betroffene Vorstandsmitglied.<br />

Diese freie Widerrufsmöglichkeit kann jedoch<br />

nach allgemeinem Vereinsrecht satzungsrechtlich<br />

auf die Fälle des Vorliegens eines wichtigen<br />

Grundes beschränkt werden. Ob dies nach der<br />

Satzung der oben erwähnten Partei so vorgesehen<br />

ist, ist nicht bekannt. Im Falle einer politischen<br />

Partei kann die Zulässigkeit einer solchen<br />

Beschränkung in Hinblick auf das Gebot innerparteilicher<br />

Demokratie aber generell bezweifelt<br />

werden 2 . Wenn der Vorstand nicht mehr das<br />

Vertrauen der Mehrheit hat, muss diese ihn vorzeitig<br />

ablösen können (konstruktives Misstrauensvotum).<br />

Es ist mit demokratischen Grundsätzen<br />

unvereinbar, dass eine Partei durch einen<br />

Vorstand repräsentiert wird, der nur noch von einer<br />

Minderheit gestützt wird. Nach anderer Ansicht<br />

ist die Vergabe eines Amtes oder einer<br />

Funktion durch Wahl auf Zeit ein grundlegendes<br />

demokratisches Prinzip, das aber nicht die jederzeitige,<br />

auch grundlose Abberufbarkeit voraussetzt<br />

3 .<br />

Selbst wenn es für zulässig erachtet wird, dass<br />

der Widerruf der Bestellung zum Vorstandsmitglied<br />

satzungsrechtlich an einen wichtigen<br />

Grund gebunden wird, ist zu prüfen, ob die fehlende<br />

Entlastung einen Widerrufsgrund darstellt.<br />

Ob ein solcher wichtiger Grund gegeben ist, beurteilt<br />

sich nach den Umständen des Einzelfalls.<br />

Allein die Nichterteilung der Entlastung reicht<br />

aber nicht generell. Dies erklärt sich aus der<br />

rechtlichen Stoßrichtung der Entlastung. Die<br />

Entlastung ist ein Beschluss der Mitgliederversammlung,<br />

dessen Mitteilung an das Vorstands-<br />

2<br />

So K.-H. Seifert, Die politischen Parteien im Recht der<br />

Bundesrepublik Deutschland, 1975, S. 242.<br />

3<br />

J. Ipsen, PartG Kommentar, 2008, § 11 Rn. 5.<br />

88


MIP 2008/09 15. Jhrg. Alexandra Bäcker – Grundsätzliches zu Abberufung und Entlastung des Vorstands Aufgespießt<br />

mitglied bzw. den Vorstand einen Vertrauenstatbestand<br />

schafft. An diesen Vertrauenstatbestand<br />

knüpft im BGB-Vereinsrecht das Erlöschen der<br />

allen Mitgliedern bekannten und nach dem Rechenschaftsbericht<br />

(§§ 27 Abs. 3, 666 BGB) erkennbaren<br />

Schadensersatz- und Bereicherungsansprüche<br />

des Vereins gegen den Vorstand an.<br />

Ebenso verliert der Verein etwaige Kündigungsgründe<br />

wegen Pflichtverletzung des Vorstands.<br />

Dies macht deutlich, dass Entlastung aus wichtigen<br />

oder eben auch weniger wichtigen Gründen<br />

nicht erteilt werden kann. Für den Widerruf der<br />

Bestellung zum Vorstandsmitglied aus wichtigem<br />

Grund bedarf es daher konkreter, einen Vertrauensverlust<br />

begründender Umstände.<br />

Die Entlastungskompetenz liegt bei der Mitgliederversammlung,<br />

es sei denn, die Satzung weist<br />

sie zulässigerweise einem anderen Organ zu. Die<br />

Entlastung bezieht sich auf die einzelnen Vorstandsmitglieder,<br />

so dass ein Vorstand teils entlastet,<br />

teils nicht entlastet sein kann. Denkbar ist<br />

auch eine Entlastung für einzelne Geschäftsbereiche<br />

oder eine Teilamtszeit. Ansprüche auf<br />

Entlastung gibt es nicht, Vertrauen lässt sich<br />

nicht erzwingen.<br />

89


Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Parteienrecht im Spiegel der<br />

Rechtsprechung<br />

1. Grundlagen zum Parteienrecht<br />

Das BVerfG 1 entschied in einem Normenkontrollverfahren<br />

abschließend zur umstrittenen Materie<br />

der Medienbeteiligung von Parteien. Dem<br />

Verfahren zugrunde lag die Regelung des § 6 II<br />

Nr. 4 HessPRG, nach welchem die Zulassung<br />

zur Veranstaltung von privatem Rundfunk Parteien<br />

oder Organisationen, an denen Parteien beteiligt<br />

sind, nicht erteilt werden darf. Die fragliche<br />

Norm ordnete das BVerfG der Regelungsmaterie<br />

des Rundfunkrechts und nicht der des<br />

Parteienrechts zu, und bejahte so eine Zuständigkeit<br />

des Landesgesetzgebers für Zulassungsbeschränkungen<br />

für Parteien zum privaten Rundfunk.<br />

Ein absolutes Zulassungsverbot für Parteien,<br />

wie es § 6 HessPRG vorsieht, erklärte das<br />

BVerfG aber für unvereinbar mit der Rundfunkfreiheit<br />

der Parteien gemäß Art. 5 I Satz 2 iVm.<br />

Art. 21 GG. In diesem Zusammenhang stellte es<br />

auch die subjektiv-rechtliche Komponente der<br />

Rundfunkfreiheit heraus, und setzte damit eine<br />

Entwicklung fort, die zuletzt vom NStGH 2 verfolgt<br />

worden war. Das BVerfG stellte weiter<br />

fest, dass es dem Gesetzgeber grundsätzlich freistehe<br />

die unmittelbare oder mittelbare Beteiligung<br />

von Parteien an privaten Rundfunkunternehmen<br />

insoweit zu untersagen, als sie dadurch<br />

bestimmenden Einfluss – beherrschender wird<br />

nicht gefordert – auf die Programmgestaltung<br />

oder Programminhalte nehmen können. Der<br />

Grundsatz der Staatsfreiheit von Rundfunkunternehmen<br />

sei auch auf Parteien anwendbar. Unbeantwortet<br />

ließ das Gericht allerdings die Frage<br />

nach der Grenze für eine Einflussnahme durch<br />

Parteien auf Medienunternehmen.<br />

Zu der nachrichtendienstlichen Erhebung von<br />

Daten über Abgeordnete äußerte sich das VG<br />

1<br />

Urteil vom 12.03.2008 – 2 BvF 4/03, in: NVwZ 2008,<br />

658 ff.<br />

2<br />

Urteil vom 06.09.2005 – StGH 4/04, in: NdsVBl<br />

2005, 296 ff.; vgl. dazu auch die Besprechung von Julia<br />

Kamps, Medienbeteiligung politischer Parteien in<br />

der Rechtssprechung des NStGH, in: MIP 2007, 36 ff.<br />

Köln 3 . Es hatte zu beurteilen, unter welchen<br />

Voraussetzungen Daten nachrichtendienstlich<br />

über einen Abgeordneten der Linkspartei.PDS<br />

erhoben werden können. Das Gericht stellte eingangs<br />

fest, dass Abgeordnete grundsätzlich ein<br />

Feststellungsinteresse bezüglich der Rechtmäßigkeit<br />

der Sammlung personenbezogener Daten<br />

zur eigenen Person haben. Anschließend setzte<br />

es sich intensiv mit Parteiprogramm und -satzung<br />

auseinander und kam zu dem Schluss, dass<br />

in der Linkspartei.PDS auch linksextremistische<br />

Strömungen verankert seien, ließ dabei aber ausdrücklich<br />

offen, ob die Linkspartei.PDS zu<br />

Recht oder Unrecht vom Verfassungsschutz beobachtet<br />

wurde und weiterhin wird. Diese Frage<br />

könne dahinstehen, da sich jedenfalls die nachrichtendienstliche<br />

Beobachtung des Klägers im<br />

Hinblick auf seinen Status als Abgeordneter und<br />

seiner konkreten politischen Betätigung als unverhältnismäßig<br />

darstelle. Allein der Umstand,<br />

dass ein Parteiprogramm verfassungsfeindliche<br />

Ziele zumindest nicht eindeutig ausschließt, vermöge<br />

noch nicht die Beobachtung eines parteiangehörigen<br />

Abgeordneten mit nachrichtendienstlichen<br />

Mitteln zu rechtfertigen.<br />

Der BayVwGH 4 hatte über die Frage zu entscheiden,<br />

ob die Mitgliedschaft in einer der extremistischen<br />

Szene zuzuordnenden aber nicht<br />

verbotenen Partei zur Unzuverlässigkeit i.S.d.<br />

Waffengesetzes führt. Dazu verwies das Gericht,<br />

unter Bezugnahme auf die Vorinstanz, auf das<br />

Parteienprivileg aus Art 21 II Satz 2 GG und<br />

stellte fest, dass dieses gleichfalls für Parteimitglieder<br />

gelte. Eine Einstufung als unzuverlässig<br />

i.S.d. Waffengesetzes, die allein an die Parteizugehörigkeit<br />

anknüpft, stelle eine Umgehung dieses<br />

Parteienprivilegs dar, und sei deshalb unzulässig.<br />

Das SG Berlin 5 beschäftigte sich mit der Frage,<br />

ob der Landesvorsitzende einer Partei im Rahmen<br />

seiner Parteiarbeit der Sozialversicherungspflicht<br />

unterliegt. Die Beurteilung dieses Problems<br />

richtet sich nach dem Charakter des zugrundeliegenden<br />

Rechtsverhältnisses zwischen<br />

3<br />

Urteil vom 13.12.2007 – 20 K 3077/06.<br />

4<br />

Urteil vom 26.05.2008 – 21 BV 07.586.<br />

5<br />

Urteil vom 22.05.2008 – S 36 KR 2517/07.<br />

90


MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung<br />

Partei und Vorsitzendem. Im vorliegenden Fall<br />

beurteilte das SG die Rechtsbeziehung als ein<br />

abhängiges Arbeitsverhältnis, für das eine<br />

Pflicht zur Sozialversicherung bestehe. Neben<br />

den üblicherweise zur Abgrenzung von abhängigen<br />

und selbstständigen Tätigkeiten bemühten<br />

Kriterien, zog das SG zur Begründung zudem<br />

die detaillierte Regelung der Aufgaben und Zuständigkeiten<br />

des Vorsitzenden in der Satzung<br />

sowie seine Bindung an Beschlüsse der Landesmitgliederversammlung,<br />

der Landesdelegiertenversammlung<br />

und des Landesausschusses heran.<br />

Damit sei der Landesvorsitzende ausreichend in<br />

die demokratisch strukturierte Arbeitsorganisation<br />

der Partei eingegliedert und unterläge einer<br />

umfassenden Beaufsichtigung durch die übrigen<br />

Gremien. Dass der Landesvorsitzende überwiegend<br />

selbstständig agiere, stehe einem abhängigen<br />

Beschäftigungsverhältnis nicht entgegen, da<br />

das Weisungsrecht des Arbeitgebers vornehmlich<br />

bei Diensten höherer Art auch eingeschränkt<br />

und zur funktionsgerecht dienenden Teilhabe am<br />

Arbeitsprozess verfeinert sein könne, wenn nur<br />

eine Eingliederung in den Betrieb bestehe.<br />

Über eine mögliche Ehrverletzung einer Partei<br />

durch Berichterstattung in der Lokalpresse hatte<br />

das LG Dresden 6 zu entscheiden. Die klagende<br />

Partei befürchtete durch die Presseberichterstattung<br />

zu einer aktuellen politischen Debatte, in<br />

welcher ihre Auffassung zum Thema als einzige<br />

nicht wiedergegeben wurde, in den Augen der<br />

Öffentlichkeit als faul und unfähig dargestellt zu<br />

werden. Das Gericht sah in der fraglichen Presseberichterstattung<br />

allerdings keine Ehrverletzung<br />

und verwies zur Begründung auf die durch<br />

Art 5 GG geschützte Pressefreiheit. Auch solle<br />

Art. 40 SächsLVerf, wonach die Oppositionsparteien<br />

des Landtages das Recht auf Chancengleichheit<br />

in Parlament und Öffentlichkeit haben,<br />

keine unmittelbare oder mittelbare Drittwirkung<br />

entfalten. Selbst beim Vorliegen einer Persönlichkeitsrechtverletzung<br />

einer Partei durch<br />

lokale Berichterstattung, könne daher aus Art 40<br />

SächsLVerf kein Anspruch auf Veröffentlichung<br />

einer von der Partei verfassten Gegendarstellung<br />

abgeleitet werden.<br />

6<br />

Urteil vom 08.04.2008 – 3 O 3466/07, in: AfP 2008,<br />

321 f.<br />

Das LAG Schleswig-Holstein 7 stellte fest, dass<br />

das Verbot parteipolitischer Betätigung im Betrieb<br />

nicht einen Aufruf vom Betriebsrat gegen<br />

den Irak-Krieg umfasst. Dieser könne zwar gegebenenfalls<br />

den Frieden des Betriebes beeinträchtigen,<br />

das sei in einem Unternehmen mit amerikanischer<br />

Mutter, in welchem Güter hergestellt<br />

werden, die in dem Krieg eingesetzt werden, jedoch<br />

gerechtfertigt, wenn dabei die ethische Frage<br />

aufgeworfen werde, ob die Unterstützung des<br />

Krieges durch die eigene Arbeit hinzunehmen<br />

ist. Dieser Aufruf sei keine spezifisch parteipolitische<br />

Betätigung, sondern von allgemeiner politischer<br />

Natur, ohne einer Partei zugeordnet zu<br />

sein. Ein Aufruf zu einem konkreten Volksentscheid<br />

stelle jedoch sehr wohl eine solche parteipolitische<br />

Aktivität dar.<br />

Das VG Aachen 8 hatte über die Reichweite von<br />

Versammlungsverboten für Parteien zu entscheiden.<br />

Im Eilrechtsschutzverfahren hatte das Gericht<br />

die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs<br />

gegen ein Versammlungsverbot zum Teil<br />

wieder hergestellt. Zur Begründung führte es<br />

aus, ein milderes Mittel zum umfassenden Versammlungsverbot<br />

stelle ein bloßes Redeverbot<br />

für den Antragsteller dar. Mit Gewissheit sei zu<br />

erwarten, dass er den Tatbestand des § 130 IV<br />

StGB bei der Versammlung dadurch verwirklichen<br />

würde, dass er den öffentlichen Frieden in<br />

einer die Würde der Opfer verletzenden Weise<br />

dadurch stört, dass er die nationalsozialistische<br />

Gewalt- und Willkürherrschaft zumindest konkludent<br />

billige. Ein vollständiges Versammlungsverbot<br />

sei aber, gerade auch im Hinblick<br />

auf den noch unbestimmten Teilnehmerkreis der<br />

Versammlung, unverhältnismäßig.<br />

Der BGH 9 stellte mit seiner Entscheidung erneut<br />

den hohen Stellenwert der wertenden Betrachtung<br />

des Tatgerichts bei Korruptionstatbeständen<br />

heraus. Er verneinte die Strafbarkeit wegen Vorteilsgewährung<br />

iSd. § 333 StGB durch das Versenden<br />

von WM-Tickets an politische Amtsträ-<br />

7<br />

Beschluss vom 30.09.2008 – 2 TaBV 25/08.<br />

8<br />

Beschluss vom 04.11.2008 – 6 L 478/08.<br />

9<br />

Urteil vom 14.10.2008 – 1 StR 260/08, in: NJW 2008,<br />

3580 ff.<br />

91


Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

ger seitens eines Energieunternehmens. Die Eintrittskarten<br />

seien zwar als Vorteil i.S.d. Tatbestandes<br />

zu werten, es fehle aber am Nachweis<br />

der erforderlichen „Unrechtsvereinbarung“. Die<br />

dafür notwendige inhaltliche Verknüpfung zwischen<br />

versprochenem Vorteil und Dienstausübung<br />

konnte nicht zweifelsfrei nachgewiesen<br />

werden. Der Senat verwies dabei ausdrücklich<br />

auf die auch weiterhin fehlenden Trennschärfe<br />

bei der Auslegung und Bewertung des Merkmals<br />

der „Unrechtsvereinbarung“, und betonte die Bedeutung,<br />

die der Beweiswürdigung des Tatgerichts<br />

daher in diesem Zusammenhang zukäme.<br />

Das Urteil ist ein anschauliches Beispiel dafür,<br />

dass die Problematik bei Korruptionsdelikten<br />

nach wie vor weniger die einer rechtlichen als<br />

vielmehr die einer tatsächlichen Fassbarkeit ist.<br />

Das VG Sigmaringen 10 verneinte eine besondere<br />

Berücksichtigung von Zuwendungen an Parteien<br />

bei der Berechnung von Ausbildungsförderungsbeträgen.<br />

Die steuerliche Begünstigung von<br />

Zuwendungen an Parteien führt zu einem höheren<br />

Einkommensbetrag als Berechnungsgrundlage<br />

für die Höhe von Ausbildungsförderung nach<br />

dem BAföG. Die Heranziehung des um die tatsächliche<br />

Steuerschuld verminderten Betrages<br />

sei ebenso wie bei Ausgaben für andere gemeinnützige,<br />

wissenschaftliche oder religiöse Zwecke<br />

auch bei einer verminderten Steuerschuld aufgrund<br />

von Zuwendungen an Parteien zulässig.<br />

Zur Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung verwies<br />

das Gericht auf die ständige Rechtsprechung<br />

des BVerfG und des BVerwG, wonach<br />

der Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum<br />

in solchen Fragen habe, welcher erst dort<br />

ende, wo die Ungleichbehandlung der geregelten<br />

Sachverhalte nicht mehr mit einer am Gerechtigkeitsgedanken<br />

orientierten Betrachtungsweise<br />

vereinbar sei. Der vom Gesetzgeber im BAföG<br />

verwendete Einkommensbegriff, nach dem nur<br />

die tatsächliche Steuerbelastung berücksichtigt<br />

wird, erfülle diese Voraussetzungen. Zudem lägen<br />

bei Zuwendungen an Parteien nicht die Voraussetzungen<br />

für eine Entscheidung nach der<br />

Härtefallklausel vor. Sie seien freiwillige Ausgaben.<br />

Auch die zugestandene Bedeutung der Parteien<br />

für Gesellschaft und Staat verpflichte nicht<br />

10<br />

Urteil vom 22.10.2008 – 1 K 938/08.<br />

zur Berücksichtigung der Aufwendungen bei der<br />

Bewilligung von sozialen Leistungen.<br />

Der Hessische VwGH 11 folgte in seinem Urteil<br />

der Rechtsprechung des BVerfG 12 , wonach die<br />

Prüfungsbefugnis der Rundfunkanstalten hinsichtlich<br />

der Ausstrahlung von Wahlwerbespots<br />

politischer Parteien stark eingeschränkt ist. Er<br />

ordnete in seiner Entscheidung die Ausstrahlung<br />

eines Wahlwerbespots der NPD an, welcher vom<br />

Sender mit der Begründung, er verstoße gegen<br />

§ 130 StGB, zurückgewiesen worden war. Die<br />

Ausstrahlung von Wahlwerbespots erfolge, nach<br />

Auffassung des Gerichts, aber in eigener Verantwortung<br />

der politischen Parteien und lediglich<br />

mit den technischen Mitteln des Senders. Die öffentlichen<br />

Rundfunkanstalten hätten hinsichtlich<br />

verfassungswidriger Inhalte von Wahlwerbespots<br />

keine und bezüglich strafrechtlicher Verstöße<br />

nur eine eingeschränkte Prüfungsbefugnis.<br />

Die zum Rechtsstreit anlassgebende Forderung<br />

im Werbespot der NPD „Ausweisung aller kulturfremden<br />

Ausländer“ stelle jedenfalls keine<br />

ausreichend evidente Volksverhetzung dar, um<br />

eine Ausstrahlung zu verweigern. Im Zweifelsfalle<br />

sei für eine Ausstrahlung zu entscheiden.<br />

2. Chancengleichheit<br />

Antje Sadowski<br />

Im zurückliegenden Berichtszeitraum dieser<br />

Ausgabe des MIP ist im Verhältnis zur Gesamtzahl<br />

parteienrechtlicher Gerichtsverfahren eine<br />

besonders große Anzahl von Rechtsstreitigkeiten<br />

der NPD festzustellen. Sowohl die Überlassung<br />

von Stadthallen, als auch die Erteilung von Sondernutzungserlaubnissen<br />

sowie die Einrichtung<br />

von Girokonten beschäftigten die Gerichte. Dabei<br />

scheint die bisherige Gerichtspraxis von einem<br />

Ringen um einen Ausgleich zweier durchaus<br />

gegenläufiger Ziele zu zeugen: Zum einen<br />

von dem Bemühen, die meinungsinhaltliche<br />

Neutralität des Parteienrechts zu wahren, zum<br />

anderen aber von dem erklärbaren Wunsch,<br />

gleichwohl das Recht – mitunter bis an die Gren-<br />

11<br />

Urteil vom 04.01.2008 – 8 B 17/08.<br />

12<br />

Beschluss vom 06.03.2006 – 2 BvR 1545/05 – in:<br />

NVwZ-RR 2006, 369 f.<br />

92


MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung<br />

zen des juristisch vertretbaren – gegen rechtsradikale<br />

Gesinnungen in Stellung zu bringen.<br />

Insbesondere der Bayerische Verwaltungsgerichtshof<br />

hatte sich im Jahr 2008, dem Jahr der<br />

Bayerischen Landtagswahlen, wiederholt mit der<br />

Frage der Überlassung von öffentlichen Einrichtungen<br />

an die NPD zu befassen. So wies der<br />

BayVGH 13 eine Beschwerde der Stadt Bamberg<br />

gegen einen Beschluss des VG Bayreuth 14 zurück,<br />

durch den die Stadt Bamberg im Wege der<br />

einstweiligen Anordnung verpflichtet worden<br />

war, der NPD bis zum 07.02.2008 Auskunft darüber<br />

zu erteilen, ob der Hegelsaal der Konzertund<br />

Kongresshalle (Stadthalle) an den im Einzelnen<br />

genannten Tagen zwischen dem 12.01.<br />

und 20.09.2008 grundsätzlich zur Nutzung zur<br />

Verfügung steht. Die NPD hatte sich seit Mai<br />

2007 bis zur Erhebung der Auskunftsklage vergeblich<br />

bemüht, einen Termin für die Nutzung<br />

des Hegelsaales zu vereinbaren, Freitermine für<br />

eine NPD-Veranstaltung wurden aus generellen<br />

Erwägungen nicht mitgeteilt. Der BayVGH teilte<br />

die Rechtsauffassung des VG Bayreuth, demzufolge<br />

politische Parteien grundsätzlich – in den<br />

Grenzen der Widmung und der Kapazitäten –<br />

einen Zulassungsanspruch haben, der im zu entscheidenden<br />

Fall auch das Recht auf Auskunft<br />

umfasst, ob die Einrichtung an bestimmten Terminen<br />

noch allgemein zur Verfügung steht oder<br />

bereits anderweitig vergeben ist. Zu Recht stellte<br />

der BayVGH fest, dass die NPD ohne Kenntnis<br />

der allgemeinen Verfügbarkeit nicht in der Lage<br />

ist, ihren grundsätzlich bestehenden Zulassungsanspruch<br />

in einem effektiven Verwaltungs- und<br />

gegebenenfalls Gerichtsverfahren in zumutbarer<br />

Weise zu verwirklichen.<br />

Weil die Stadt Bamberg dieser Auskunftsverpflichtung<br />

nicht innerhalb der gesetzten Frist<br />

nachkam, leitete die NPD beim VG Bayreuth ein<br />

Vollstreckungsverfahren ein. Gegen den in diesem<br />

Verfahren ergangenen Beschluss des VG<br />

13<br />

BayVGH, Beschluss vom 14.01.2008 – Az. 4 CE<br />

08.60 –, online veröffentlicht bei juris.<br />

14<br />

VG Bayreuth, Beschluss vom 02.01.2008 – Az. B 2 E<br />

07.1288 –, unveröffentlicht.<br />

Bayreuth 15 richtete sich die vom BayVGH 16 zu<br />

entscheidende Beschwerde der Stadt Bamberg.<br />

Der BayVGH gab der Beschwerde nur teilweise<br />

statt. Grundsätzlich bejahte das Gericht aufgrund<br />

der Nichterfüllung der Auskunftspflicht das Vorliegen<br />

der Vollstreckungsvoraussetzungen. Allerdings<br />

hob es zu Recht die bereits erfolgte<br />

Festsetzung eines Zwangsgeldes gegen die Stadt<br />

Bamberg durch das VG auf, da eine Zwangsgeldfestsetzung<br />

noch gar nicht beantragt worden<br />

war. Deshalb war ein Zwangsgeld lediglich anzudrohen.<br />

Weil gemäß § 172 S. 1 VwGO eine<br />

Zwangsgeldfestsetzung erst nach fruchtlosem<br />

Ablauf der mit der Zwangsgeldandrohung verbundenen<br />

Frist in Betracht kommt, verlängerte<br />

es die Frist zur Erfüllung der Auskunftspflicht<br />

bis zum 18.01.2008.<br />

Im Anschluss an diese verwaltungsgerichtlichen<br />

Verfahren auf Auskunftserteilung stellte die<br />

NPD einen Antrag auf Überlassung des Hegelsaales<br />

in der Konzert- und Kongresshalle (Stadthalle)<br />

zur Durchführung einer Landtagswahlveranstaltung<br />

am 14.09.2008 oder an anderen vorgeschlagenen<br />

Ersatzterminen, der jedoch mit<br />

Schreiben vom 28.01.2008 abgelehnt wurde.<br />

Wiederum in einem Eilverfahren hatte nunmehr<br />

der BayVGH 17 zu entscheiden, ob der NPD der<br />

geltend gemachte Überlassungsanspruch tatsächlich<br />

zusteht. Zwar steht einer politischen Partei<br />

ein gesetzlicher Anspruch aus § 5 Abs. 1 PartG<br />

in Verbindung mit Artt. 21 und 3 Abs. 1 sowie<br />

Abs. 3 GG auf Zulassung zu öffentlichen Einrichtungen<br />

im Rahmen der Widmung und der<br />

Kapazität zu. Ist aber die Kapazität erschöpft,<br />

kann die Nutzung verwehrt werden, wobei die<br />

Überlassungsentscheidung nach dem Prioritäts-<br />

15<br />

VG Bayreuth, Beschluss vom 09.01.2008 – Az. B 2 V<br />

08.19 –, unveröffentlicht.<br />

16<br />

BayVGH, Beschluss vom 14.01.2008 – Az. 4 C 08.96<br />

–, online veröffentlicht bei juris.<br />

17<br />

BayVGH, Beschluss vom 13.06.2008 – Az. 4 CE<br />

08.726 –, veröffentlicht auf den Internetseiten des<br />

BayVGH,<br />

http://www.vgh.bayern.de/bayvgh/presse/08a00726b.p<br />

df, 04.03.2009. Der BayVGH gab damit einer Beschwerde<br />

der Stadt Bamberg gegen die vorhergehende<br />

Eilentscheidung des Verwaltungsgerichts Bayreuth<br />

statt, die einen Überlassungsanspruch bejaht hatte: s.<br />

VG Bayreuth, Beschluss vom 18.03.2008 – Az. B 2 E<br />

08.144 –, unveröffentlicht.<br />

93


Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

prinzip zu treffen, bei mehreren Anträgen also<br />

ausschließlich der zeitlich frühere zu berücksichtigen<br />

ist. Dies gilt auch, wenn – wie im hier zu<br />

entscheidenden Fall – Einrichtungen der Rechtsform<br />

nach privatrechtlich organisiert, aber staatlich<br />

beherrscht sind 18 . Im Rahmen des rechtlich<br />

Möglichen muss der Staat dem Anspruch der politischen<br />

Partei über seine Vertreter in den Leitungs-<br />

und Aufsichtsgremien Geltung verschaffen.<br />

Nach Ansicht des Gerichts hatte die Stadt<br />

Bamberg jedoch nachgewiesen, dass eine Überlassung<br />

der Stadthalle an fehlender Kapazität<br />

scheitert. Wenngleich der Hegelsaal selbst nicht<br />

anderweitig belegt war, so war doch der größere<br />

der beiden Säle der Stadthalle – zeitlich vor Antragstellung<br />

der NPD – für ein Abonnement-<br />

Konzert der Bamberger Symphoniker vergeben<br />

worden. Beide Veranstaltungen hätten sich zeitlich<br />

überschnitten. Mit Blick auf den Charakter<br />

und den geplanten Ablauf der beabsichtigten<br />

NPD-Wahlveranstaltung sah das Gericht einen<br />

unvermeidlichen Konflikt mit dem Konzert, da<br />

die NPD beabsichtigte, Licht- und Tontechnik<br />

zum Einsatz zu bringen, Präsentationsstände einzurichten,<br />

die Publikumsgarderobe zu benutzen<br />

und für gastronomische Betreuung zu sorgen.<br />

Eingangsbereich, Foyer und die zentralen Bereiche<br />

der Stadthalle müssten aber von beiden Veranstaltern<br />

gemeinsam genutzt werden, wobei<br />

eine räumliche Trennung mit zumutbarem Aufwand<br />

nicht zu bewerkstelligen ist. Eine Störung<br />

des Konzerts, „sei es durch Lärm von der Wahlveranstaltung<br />

selbst, sei es durch herumlaufende<br />

Besucher“, könne daher auch durch Auflagen<br />

nicht vermieden werden. Auch an den von der<br />

NPD vorgeschlagenen Ersatzterminen war jeweils<br />

vor Antragstellung durch die NPD bereits<br />

der größere der beiden Säle anderen Veranstaltern<br />

zur Verfügung gestellt worden bzw. stand<br />

die Stadthalle wegen Renovierungsarbeiten für<br />

keinerlei Veranstaltungen zur Verfügung. Für<br />

eine unter Umständen rechtsmissbräuchliche<br />

Blockadehaltung der Stadt Bamberg sah der<br />

BayVGH keine stichhaltigen Anhaltspunkte.<br />

18<br />

Zu dieser Frage auch unten, VG Stuttgart, Beschluss<br />

vom 13.10.2008 – Az. 7 K 3583/08 –, online veröffentlicht<br />

bei juris.<br />

Der BayVGH war weiterhin mit den Rechtstreitigkeiten<br />

der NPD um Überlassung des Großen<br />

Saals im städtischen Forum am Hofgarten in<br />

Günzburg befasst. Zum einen hatte der BayVGH<br />

über den Antrag der Stadt Günzburg auf Zulassung<br />

der Berufung gegen das einen grundsätzlichen<br />

Überlassungsanspruch der NPD bejahende<br />

Urteil des VG Augsburg 19 zu befinden, zum anderen<br />

über einen während des laufenden Verfahrens<br />

auf Zulassung der Berufung im Wege des<br />

einstweiligen Rechtsschutzes gestellten Antrag<br />

der NPD auf Überlassung des Saals zu einem<br />

konkreten Termin. Der BayVGH entschied in<br />

beiden Verfahren am selben Tag, dass den jeweiligen<br />

Anträgen kein Erfolg beschieden war, so<br />

dass es letztlich bei der durch Urteil des VG<br />

Augsburg erkannten Rechtslage verblieb. Die<br />

Stadt Günzburg hatte beim BayVGH 20 keine die<br />

Zulassung der Berufung tragenden ernstlichen<br />

Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen<br />

Urteils wecken können. Zu Recht<br />

wies der BayVGH darauf hin, dass die mit der<br />

Veranstaltung verbundenen Risiken von – unter<br />

Umständen auch gewalttätigen – Gegendemonstrationen<br />

im Bereich dessen liegen, „was in einer<br />

auf Demokratie und Meinungsfreiheit beruhenden<br />

Rechtsordnung als Begleiterscheinung öffentlicher<br />

politischer Auseinandersetzungen in<br />

Kauf genommen werden muss“, denn es ist<br />

„Aufgabe der Sicherheitsbehörden, Gefahren für<br />

die öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwehren<br />

und eingetretene Störungen zu beseitigen“.<br />

Dem von der Stadt Günzburg ins Feld geführten<br />

Schutz des Rufes der Stadt begegnete der<br />

BayVGH treffend mit dem Hinweis, dass die<br />

grundgesetzlich und einfachgesetzlich gewährleistete<br />

Meinungsneutralität des Staates es nicht<br />

zulässt, einer nicht verbotenen Partei den grundsätzlich<br />

bestehenden Zulassungsanspruch abzuerkennen.<br />

Der ausschließlich per Eilantrag beim<br />

19<br />

VG Augsburg, Urteil vom 19.11.2007 – Az. Au 7 K<br />

07.918 –, online veröffentlicht bei juris. Das VG hat<br />

im angefochtenen Urteil die Beklagte verpflichtet, dem<br />

Kläger den Großen Saal im städtischen Forum am Hofgarten<br />

an einem Samstag im Zeitraum vom 8. März<br />

2008 bis 30. Juni 2008 in der Zeit von 14.00 Uhr bis<br />

23.00 Uhr zur Durchführung einer öffentlichen Parteiversammlung<br />

zur Verfügung zu stellen.<br />

20<br />

BayVGH, Beschluss vom 21.02.2008 – Az. 4 ZB<br />

07.3489 –, online veröffentlicht bei juris.<br />

94


MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung<br />

BayVGH 21 geltend gemachte Überlassungsanspruch<br />

der NPD scheiterte auch hier an fehlender<br />

Kapazität. Der Antrag der NPD stützte sich auf<br />

einen im verwaltungsgerichtlichen Ausgangsverfahren<br />

mit der Klageerwiderung vorgelegten Belegungsplan,<br />

der schon zum Zeitpunkt der mündlichen<br />

Verhandlung vor dem VG Augsburg zwei<br />

Monate alt war. Zum Zeitpunkt des Antrages auf<br />

Erlass einer einstweiligen Anordnung beim<br />

BayVGH, also weitere zwei Monate später, war<br />

der Große Saal des Forums bereits anderweitig<br />

gebucht.<br />

Gleichfalls im Verfahren des einstweiligen<br />

Rechtsschutzes hatte der BayVGH 22 über die<br />

Frage der Überlassung der Niederbayernhalle in<br />

Ruhstorf a.d. Rott an die NPD für eine Veranstaltung<br />

zur Landtagswahl zu entscheiden. Vorgehend<br />

hatte das VG Regensburg 23 den Antrag<br />

der NPD abgelehnt, die Gemeinde zur Überlassung<br />

der Niederbayernhalle zu verpflichten, da<br />

die Durchführung parteipolitischer Veranstaltungen<br />

in der Niederbayernhalle nicht von ihrem<br />

Widmungszweck umfasst sei. Der BayVGH<br />

wies die hiergegen gerichtete Beschwerde der<br />

NPD zurück, die sich im Wesentlichen darauf<br />

stützte, dass die Halle bereits in den Jahren 1989<br />

und 1990 für politische Veranstaltungen der<br />

DVU und der Republikaner zur Verfügung gestanden<br />

hätte und zudem die Nichtüberlassung<br />

seitens der Gemeinde bis zur Inanspruchnahme<br />

gerichtlichen Rechtsschutzes ausschließlich mit<br />

angeblich notwendigen Hallensanierungsarbeiten<br />

begründet wurde. Aufgrund der unzutreffenden<br />

Begründung der Ablehnungsentscheidung durch<br />

die Behörde hätte nach Auffassung der NPD zumindest<br />

die zu ihren Lasten getroffene gerichtliche<br />

Kostenentscheidung dahingehend abgeändert<br />

werden müssen, dass nach § 155 Abs. 4<br />

VwGO die Kosten der Behörde aufzuerlegen<br />

sind. Richtigerweise stellten die Gerichte bei ih-<br />

21<br />

BayVGH, Beschluss vom 21.02.2008 – Az. 4 AE<br />

08.282 –, online veröffentlicht bei juris.<br />

22<br />

BayVGH, Beschluss vom 06.08.2008 – Az. 4 CE<br />

08.2070 –, online veröffentlicht bei juris.<br />

23<br />

VG Regensburg, Beschluss vom 30.07.2008 – Az: RN<br />

3 E 08.1215 –, veröffentlicht auf den Internetseiten des<br />

BayVGH,<br />

http://www.vgh.bayern.de/VGRegensburg/documents/<br />

08a01215b.pdf, 09.03.2009.<br />

ren Entscheidungen auf die durch die Vergabepraxis<br />

geformte konkludente Widmung der öffentlichen<br />

Einrichtung ab. Die Belegungsübersichten<br />

für die Jahre 1999 bis 2008 dokumentierten,<br />

dass in den letzten zehn Jahren keinerlei<br />

Parteiveranstaltungen in der Halle durchgeführt<br />

worden waren. Die von der NPD in Bezug genommene<br />

Vergabepraxis in den Jahren 1989 und<br />

1990 wurde demzufolge nicht fortgeschrieben<br />

und damit die Nutzungsberechtigung entsprechend<br />

reduziert. Dass die Versagung der Nutzung<br />

auf Sanierungsarbeiten gestützt worden<br />

war, ist in diesem Zusammenhang unschädlich.<br />

Wenngleich die gerichtlichen Entscheidungen<br />

diese Frage nicht behandeln, entspricht es herrschender<br />

Meinung, dass eine unrichtige Begründung<br />

eines Verwaltungsaktes diesen nicht materiell<br />

rechtswidrig macht. Voraussetzung der materiellen<br />

Rechtmäßigkeit ist, dass der Verwaltungsakt<br />

objektiv die gesetzlichen Voraussetzungen<br />

erfüllt 24 . Für die Kostenentscheidung kann<br />

die Frage der „richtigen“ Begründung allerdings<br />

im Einzelfall durchaus eine Rolle spielen, da<br />

nach § 155 Abs. 4 VwGO unabhängig vom Obsiegen<br />

bzw. Unterliegen in der Sache die Kosten<br />

demjenigen Beteiligten auferlegt werden können,<br />

durch dessen Verschulden sie entstanden<br />

sind 25 . Hierzu führte der BayVGH im Rahmen<br />

der Kostenentscheidung jedoch aus, dass die Begründung<br />

des Rechtsmittels durch die NPD zeige,<br />

dass die Kosten des Rechtsstreits auch dann<br />

entstanden wären, wenn die Hallennutzung von<br />

Anfang an unter Bezug auf die Zweckbestimmung<br />

der Halle und nicht zunächst wegen Sanierungsarbeiten<br />

versagt worden wäre.<br />

Ein weiterer Stadthallenfall lag dem OVG<br />

Rheinland-Pfalz 26 zur Entscheidung vor. Ein<br />

24<br />

Vgl. hierzu U. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz,<br />

7. Auflage 2008, § 39 Rn<br />

30.<br />

25<br />

S. z.B. VG Leipzig, Beschluss vom 16.11.2004 – Az. 3<br />

K 1393/04 –, in: NVwZ-RR 2005, 590 f., das anlässlich<br />

eines Konkurrentenstreits entschied, dass auch<br />

eine unzureichende Begründung eines Verwaltungsaktes<br />

zu einer abweichenden Kostenverteilung nach §<br />

155 Abs. 4 VwGO führen kann, wenn der Kläger seine<br />

Erfolgsaussichten in der Sache nicht richtig einschätzen<br />

kann und er dadurch zur Klageerhebung veranlasst<br />

wird.<br />

95


Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Kreisverband der NPD hatte zunächst die behördliche<br />

Genehmigung erhalten, seine Jahreshauptversammlung<br />

im kleinen Saal der Concordia-Halle<br />

in Unnau durchzuführen. Anschließend<br />

beantragte die NPD die Erlaubnis zur Nutzung<br />

des großen Raums der Concordia-Halle, da<br />

sie etwa 100 Personen zu ihrer Veranstaltung<br />

eingeladen habe. Dieser Antrag wurde abgelehnt<br />

und gleichzeitig die erteilte Genehmigung widerrufen.<br />

Den Eilantrag der NPD, die Nutzung der<br />

Halle zuzulassen, lehnte das VG Koblenz 27 ab.<br />

Mit dem daraufhin von der NPD eingeleiteten<br />

Beschwerdeverfahren vor dem OVG Rheinland-<br />

Pfalz hatte die NPD teilweise Erfolg. Nach Ansicht<br />

des Gerichts handelt es sich bei der Concordia-Halle<br />

um eine öffentliche Einrichtung,<br />

die nach bisheriger Vergabepraxis auch politischen<br />

Parteien zur Abhaltung parteiinterner Versammlungen<br />

zur Verfügung gestellt wurde. Deshalb<br />

stand grundsätzlich auch der NPD aus<br />

Gründen der Gleichbehandlung ein Anspruch<br />

auf Zulassung zu dieser Einrichtung im Rahmen<br />

der Widmung zu, so dass das OVG einen Anspruch<br />

der NPD auf Nutzung des kleinen Raumes<br />

der Concordia-Halle zum Zwecke der Durchführung<br />

einer Jahreshauptversammlung im eigentlichen<br />

Sinne bejahte. Das OVG folgte der<br />

Entscheidung des VG Regensburg allerdings insoweit,<br />

als es einen Anspruch der NPD auf Nutzung<br />

des großen Raums der Concordia-Halle<br />

ebenfalls verneinte. Bei der von der NPD für den<br />

großen Raum geplanten Veranstaltung handelte<br />

es sich um eine politische Werbeveranstaltung,<br />

die über den Charakter einer auf die verbandsinterne<br />

Willensbildung gerichteten Jahreshauptversammlung<br />

deutlich hinausging und sich daher<br />

nicht mehr im Rahmen des Widmungszwecks<br />

der Halle hielt. Aus dem Einladungstext der<br />

NPD ging ausdrücklich hervor, dass die zu dem<br />

Geburtstag Adolf Hitlers geplante und mit mehreren<br />

Unterhaltungsprogrammpunkten vorgesehene<br />

Veranstaltung vor allem neue Mitglieder<br />

und Interessierte ansprechen sollte. Den Werbecharakter<br />

belegte auch, dass die Mehrheit der geladenen<br />

Personen nicht Mitglieder des Kreisver-<br />

26<br />

OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 18.04.2008 –<br />

Az. 7 B 10404/08 –, in: LKRZ 2008, 236.<br />

27<br />

VG Koblenz, Beschluss vom 17.04.2008 – Az. 1 L<br />

430/08.KO –, unveröffentlicht.<br />

bandes sein konnten, dessen Jahreshauptversammlung<br />

abgehalten werden sollte, sondern externe<br />

Personen. Dies ergab sich aus den von der<br />

NPD nicht substantiiert bestrittenen Angaben<br />

des Innenministeriums, denen zufolge die 12<br />

Kreisverbände der NPD in Rheinland-Pfalz 15<br />

bis 50 Mitglieder haben, wobei der antragstellende<br />

Kreisverband als weniger aktiv eingestuft<br />

wurde.<br />

Einen nicht der Widmung entsprechenden Nutzungswunsch<br />

bescheinigte auch das OVG Thüringen<br />

28 der NPD mit Blick auf den von der<br />

NPD in der Stadthalle der Stadt Altenburg geplanten<br />

Bundesparteitag. Das OVG wies damit<br />

eine Beschwerde der NPD gegen den im Eilverfahren<br />

ergangenen Beschluss des VG Gera 29 zurück.<br />

Das VG hatte zugunsten der Stadt entschieden<br />

und die Ablehnung eines Antrags der<br />

NPD auf Durchführung des Bundesparteitags für<br />

rechtmäßig erklärt. Nachdem die NPD die Überlassung<br />

der Halle bei der Stadt Altenburg beantragt<br />

hatte, änderte die Stadt die Stadthallenbenutzungssatzung<br />

dahingehend, dass Parteien und<br />

Verbände die Halle nur für Veranstaltungen mit<br />

einem regionalen Bezug mieten dürfen. Das<br />

OVG folgte der Auffassung der Stadt und des<br />

VG, wonach die nach Stellung des Zulassungsantrages<br />

geänderten Regelungen der Stadthallenbenutzungssatzung<br />

nicht zu beanstanden seien<br />

und auch in diesem Fall zur Anwendung gelangten.<br />

Wenngleich in den nicht durch Satzungsrecht<br />

geregelten Fällen der Überlassung öffentlicher<br />

Einrichtungen an politische Parteien nach<br />

der Rechtsprechung des BVerwG 30 grundsätzlich<br />

die Rechtslage – d.h. die Überlassungspraxis –<br />

bei Antragstellung maßgeblich ist, gilt nach Auffassung<br />

des OVG dieser Grundsatz bei einer<br />

Nutzungsregelung durch Satzung nicht. Die abstrakt-generelle<br />

Regelung durch den gesetzlich<br />

legitimierten autonomen Satzungsgeber ist Gesetz<br />

im materiellen Sinne, weshalb der „im intertemporalen<br />

Verwaltungsrecht allgemein geltende<br />

Grundsatz, dass neues Verfahrensrecht und ma-<br />

28<br />

OVG Thüringen, Beschluss vom 16.09.2008 – Az. 2<br />

EO 490/08 –, in: ThürVBl. 2009, 36 ff.<br />

29<br />

VG Gera, Beschluss vom 23.07.2008 – Az. 2 E 636/08<br />

Ge –, unveröffentlicht.<br />

30<br />

Vgl. BVerwGE 31, 368 ff.<br />

96


MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung<br />

terielles Recht vom Zeitpunkt seines Inkrafttretens<br />

an regelmäßig auch anhängige Verfahren erfasst“<br />

auch hier gilt 31 .<br />

Die MLPD stellte beim VG Stuttgart einen auf<br />

Überlassung der Halle im Zentrum Zell in Esslingen<br />

gerichteten Eilantrag. Die gemeindliche<br />

Veranstaltungshalle wird durch eine GmbH betrieben,<br />

deren Alleingesellschafterin die beklagte<br />

Gemeinde ist. Die GmbH lehnte einen Überlassungsantrag<br />

der MLPD mit der Begründung ab,<br />

die Partei sei als linksextrem einzustufen und<br />

stehe unter der kritischen Beobachtung des Verfassungsschutzes,<br />

weshalb die Veranstaltung aus<br />

sicherheitsbezogenen Bedenken nicht angenommen<br />

werden könne. Die beklagte Gemeinde teilte<br />

der MLPD mit, dass keine Notwendigkeit gesehen<br />

werde, in die Geschäftsführung der GmbH<br />

korrigierend einzugreifen. Dies sah das VG<br />

Stuttgart 32 anders und verpflichtete die Gemeinde,<br />

die GmbH anzuweisen, der MLPD die Halle<br />

zu den üblichen Vertragsbedingungen zu überlassen.<br />

Zutreffend bejahte das Gericht eine verwaltungsgerichtliche<br />

Zuständigkeit bei Meinungsverschiedenheiten<br />

über den Zugang zu<br />

auch privatrechtlich betriebenen öffentlichen<br />

Einrichtungen. „Sofern die Gemeinde in solchen<br />

Fallkonstellationen nicht selbst über den Zugang<br />

zu der Einrichtung entscheidet, kann sie […]<br />

dazu verpflichtet werden, dem Berechtigten<br />

durch Einwirkung auf die privatrechtlich organisierte<br />

Betriebsgesellschaft den Zugang zu der<br />

Einrichtung zu verschaffen.“ Das dazu erforderliche<br />

Weisungsrecht stand der Gemeinde vertreten<br />

durch den Bürgermeister nach dem Gesellschaftervertrag<br />

auch zu. Die geplante Veranstaltung<br />

bewegte sich zudem im Rahmen der Widmung<br />

der zum beantragten Zeitpunkt verfügbaren<br />

Halle. Ein Überlassungsanspruch der MLPD<br />

ergab sich daher aus § 5 Abs. 1 S. 1 PartG i.V.m.<br />

Art. 3 und Art. 21 Abs. 1 GG. „Da der Begriff<br />

der ‚Einrichtung’ in § 5 Abs. 1 PartG nicht anders<br />

als der entsprechende Begriff der ‚öffentlichen<br />

Einrichtung’ in den Gemeindeordnungen<br />

31<br />

S. OVG Thüringen, Beschluss vom 16.09.2008 – Az. 2<br />

EO 490/08 –, in: ThürVBl. 2009, 36 (39), mit zahlreichen<br />

Nachweisen aus Rechtsprechung und Literatur.<br />

32<br />

VG Stuttgart, Beschluss vom 13.10.2008 – Az. 7 K<br />

3583/08 –, online veröffentlicht bei juris.<br />

der Länder offen ist für unterschiedliche Organisationsformen,<br />

kommt es auch in diesem Zusammenhang<br />

nicht darauf an, ob die Gemeinde ihre<br />

Einrichtung selbst betreibt oder durch eine privatrechtliche<br />

Betriebsgesellschaft betreiben lässt.<br />

Die Gemeinde muss vielmehr unabhängig von<br />

der gewählten Organisationsform stets für die<br />

Gleichbehandlung der Parteien einstehen […]“ 33 .<br />

Auf die seitens der GmbH einem Überlassungsanspruch<br />

entgegengehaltene „kritische Beobachtung“<br />

einer Partei durch den Verfassungsschutz<br />

oder ihre Aufnahme in den Verfassungsschutzbericht<br />

des Bundes oder eines Landes kam es<br />

nicht an. Als nicht verbotene Partei steht die<br />

MLPD unter dem Schutz des Art. 21 GG. Letztlich<br />

gab es auch keine konkreten Anhaltspunkte<br />

dafür, dass die Parteivertreter im Rahmen der geplanten<br />

Veranstaltung zur Begehung von Straftaten<br />

oder Ordnungswidrigkeiten aufrufen oder<br />

sich selbst solcher Delikte schuldig machen würden.<br />

Die behaupteten „sicherheitsbezogenen Bedenken“<br />

wurden nicht näher konkretisiert.<br />

Das VG Augsburg 34 hat zugunsten der ÖPD in<br />

einem Eilverfahren auf Zuteilung von Wahlwerbeflächen<br />

auf den städtischen Plakattafeln in Donauwörth<br />

entschieden. Die Stadt Donauwörth<br />

hatte der ÖDP das Plakatieren auf den im Stadtgebiet<br />

vorhandenen 20 öffentlichen Plakattafeln<br />

im Rahmen der bevorstehenden Kreistagswahl<br />

mit der Begründung verweigert, dass die „Anschlagtafeln<br />

den einzelnen antretenden Parteien<br />

nur für bestimmte Wahlen, d.h. jedenfalls nicht<br />

für Kreistagswahlen, zur Verfügung gestellt werden“.<br />

Eine solche Einschränkung des Widmungszwecks<br />

ließ sich jedoch weder aus der den<br />

Zugang zu öffentlichen Einrichtungen generell<br />

regelnden Gemeindeordnung, noch aus der einschlägigen<br />

Verordnung über öffentliche Anschläge<br />

in der Stadt Donauwörth, noch aus der<br />

bisherigen Überlassungspraxis entnehmen. Die<br />

städtischen Anschlagtafeln wurden in der Vergangenheit<br />

sowohl für Kommunalwahlen, die<br />

sowohl die Stadtrats- als auch die Kreistagswah-<br />

33<br />

So das Gericht unter Hinweis auf BVerwG, Beschluss<br />

vom 21.07.1989, vom 21.07.1989 – 7 B 184/88 –, in<br />

NVwZ 1990, 157 ff.<br />

34<br />

VG Augsburg, Beschluss vom 28.02.2008 – Az. Au 7<br />

E 08.229 –, online veröffentlicht bei juris.<br />

97


Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

len umfassen, als auch für Wahlen zum Bayerischen<br />

Landtag, zum Bundestag und zum Europäischen<br />

Parlament genutzt. Zudem war auch<br />

aktuell auf den im Stadtgebiet aufgestellten städtischen<br />

Anschlagtafeln ein Plakat eines Kandidaten<br />

der CSU angebracht. Auf den Anschlagtafeln<br />

standen außerdem noch Freiflächen zur Verfügung.<br />

Das VG Augsburg gestatte der ÖDP deshalb<br />

zu Recht, je ein freies Feld auf den Plakatanschlagtafeln<br />

der Stadt Donauwörth zur Plakatierung<br />

im Rahmen der bevorstehenden Kreistagswahl<br />

zu nutzen.<br />

Die NPD hatte im Verfahren des einstweiligen<br />

Rechtsschutzes vor dem VG Oldenburg 35 Erfolg<br />

mit dem Antrag, eine Ausnahmegenehmigung<br />

für einen Lautsprechereinsatz während des<br />

Wahlkampfes für die Landtagswahl in Niedersachsen<br />

zu erhalten. Aufgrund der Art des geplanten<br />

Lautsprechereinsatzes als Werbemittel,<br />

mit dem tagsüber bis in den Abend hinein auf<br />

städtischen Straßen aus Kraftfahrzeugen heraus<br />

für Wahlveranstaltungen und Stimmabgaben geworben<br />

werden sollte, war das Vorhaben gem.<br />

§§ 33 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. 46 Abs. 1 Nr. 9 StVO<br />

genehmigungspflichtig. Das Gericht beurteilte<br />

die ursprüngliche Ablehnung der Ausnahmegenehmigung<br />

durch die Genehmigungsbehörde als<br />

ermessensfehlerhaft, weil es an einer einzelfallbezogenen<br />

Interessenabwägung gänzlich fehlte.<br />

Angesichts der kurz bevorstehenden Landtagswahl<br />

und des drohenden Zeitablaufs verpflichtete<br />

das Gericht die Genehmigungsbehörde nicht<br />

zu einer Neubescheidung, sondern entschied<br />

selbst über den geltend gemachten Anspruch.<br />

Dabei räumte das Gericht für die begrenzte Zeit<br />

des Wahlkampfs dem Interesse der NPD an parteipolitischer<br />

Werbung kurz vor Wahlen einen<br />

eingeschränkten Vorrang gegenüber dem Interesse<br />

an einem möglichst störungsfreien Straßenverkehr<br />

ein und erteilte die Genehmigung unter<br />

erheblichen Auflagen. Es brachte dabei die für<br />

Wahlsichtwerbung geltenden Grundsätze zur<br />

Anwendung, wie sie vom Bundesverwaltungsgericht<br />

36 aufgestellt und seither in ständiger Recht-<br />

35<br />

VG Oldenburg, Beschluss vom 20.12.2007 – Az. 7 B<br />

3546/07 –, in: NVwZ-RR 2008, 465 f.<br />

36<br />

S. BVerwG, Urteil vom 13.12.1974 – Az. VII C 42/72<br />

–, in: NJW 1975, 1289 ff.<br />

sprechung und in der Literatur 37 weiterentwickelt<br />

wurden. Demzufolge schränken die Bedeutung<br />

von Wahlen für einen demokratischen Staat und<br />

die Bedeutung der Parteien für solche Wahlen,<br />

wie sie sich aus Art. 21 GG und §§ 1 f. PartG ergibt,<br />

das behördliche Ermessen bei der Entscheidung<br />

über die Erlaubnis zur Wahlwerbung mittels<br />

Lautsprechereinsatz durch Parteien in so erheblichem<br />

Umfang ein, dass jedenfalls für den<br />

Regelfall ein Anspruch auf Erlaubnis besteht.<br />

Wenngleich dieser Anspruch nicht schrankenlos<br />

besteht, so hat die Genehmigungsbehörde eine<br />

die Ablehnung der Ausnahmegenehmigung<br />

rechtfertigende Verkehrsgefährdung allerdings<br />

weder in dem Ablehnungsbescheid noch im gerichtlichen<br />

Verfahren ausreichend substantiiert<br />

vorgetragen. Den lapidaren Hinweis der Genehmigungsbehörde<br />

darauf, dass der Partei andere<br />

Möglichkeiten der Wahlwerbung (z.B. durch das<br />

Aufhängen von Plakaten) zur Verfügung stünden,<br />

beurteilte das Gericht zu Recht als unerheblich.<br />

Fragen der Wahlkampfstrategie – ebenso<br />

wie die Beurteilung der Werbewirksamkeit bestimmter<br />

Wahlkampfmaßnahmen 38 – liegen im<br />

Verantwortungsbereich der Partei und stehen<br />

nicht zur Disposition der Verwaltungsbehörden.<br />

Das VG Braunschweig 39 lehnte einen im Verfahren<br />

des einstweiligen Rechtsschutzes gestellten<br />

Antrag der NPD ab, eine Sondernutzungserlaubnis<br />

für einen Informationsstand zu erteilen,<br />

die zuvor von der zuständigen Genehmigungsbehörde<br />

versagt worden war. Das Gericht ging in<br />

seinem Beschluss davon aus, dass erhebliche<br />

Gefahren für die Sicherheit des Verkehrs wegen<br />

drohender gewalttätiger Auseinandersetzungen<br />

der politischen Lager bestünden. Dabei berücksichtigte<br />

das VG Braunschweig durchaus den anerkannten<br />

Grundsatz, dass eine beantragte Genehmigung<br />

nicht versagt werden darf, wenn die<br />

37<br />

Vgl. nur C.J. Walther, Wahlkampfrecht, Schriften zum<br />

Parteienrecht Bd. 3, Baden-Baden 1989, S. 102 ff., zur<br />

Wahlsichtwerbung insbes. S. 127 ff. mit umfangreichen<br />

Rechtsprechungsnachweisen.<br />

38<br />

S. hierzu bereits A. Bäcker, Chancengleichheit/Zugang<br />

zu öffentlichen Einrichtungen, Parteienrecht im<br />

Spiegel der Rechsprechung, in: MIP 10. Jg. (2000), S.<br />

125 f.<br />

39<br />

VG Braunschweig, Beschluss vom 07.06.2007 – Az. 6<br />

B 163/97 –, in: KommJur 2008, S. 95 ff.<br />

98


MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung<br />

drohenden Gefahren allein auf das Verhalten<br />

Dritter und nicht auf das Verhalten der Antragsteller<br />

zurückzuführen sind (z.B. durch angekündigte<br />

gewalttätige Proteste). Es sah jedoch keine<br />

ausreichenden Anhaltspunkte dafür gegeben,<br />

dass sich „die NPD an gewalttätigen Auseinandersetzungen<br />

nicht aktiv beteiligen würde“, denn<br />

die NPD habe sich „insgesamt von der Anwendung<br />

körperlicher Gewalt“ nicht glaubhaft distanziert.<br />

Angesichts gewalttätiger Ausschreitungen<br />

in der jüngeren Vergangenheit wertete das<br />

Gericht die Aussage des damaligen Spitzenkandidaten<br />

der NPD, es gehe um einen "Kampf um<br />

die Straße", und die Ankündigung, man werde<br />

mit mindestens zehn Parteimitgliedern den Tisch<br />

„vor Gegendemonstranten schützen“, als zu Lasten<br />

der NPD zu berücksichtigende Umstände.<br />

Auch mit der gegen die Entscheidung des VG<br />

Braunschweig gerichteten Beschwerde unterlag<br />

die NPD vor dem OVG Niedersachsen 40 , das<br />

der Argumentation des VG Braunschweig folgte.<br />

Erfolglos versuchte die NPD im Wege vorläufigen<br />

Rechtsschutzes eine private Bank zur Weiterführung<br />

gekündigter Bankkonten bis zur Entscheidung<br />

in der Hauptsache zu verpflichten 41 .<br />

Nach einem Bericht des Fernsehmagazins Report<br />

Mainz über die von privaten Finanzinstituten<br />

geführten Konten rechtsextremer Parteien<br />

hatte die beklagte Bank die bei ihr geführten Girokonten<br />

der NPD fristgerecht unter Hinweis auf<br />

die geltenden Allgemeinen Geschäftsbedingungen<br />

(AGB) gekündigt. Zwar erließ das LG Saarbrücken<br />

42 die beantragte einstweilige Verfügung<br />

mit der Begründung, die grundsätzlich nach Nr.<br />

19 Abs. 1 S. 3 der AGB zulässige ordentliche<br />

Kündigung auch ohne besonderen Grund sei we-<br />

40<br />

OVG Niedersachsen, Beschluss vom 08.06.2007 – Az.<br />

12 ME 224/07 –, veröffentlicht in der Rechtsprechungsdatenbank<br />

des Niedersächsischen OVG, http://<br />

www.dbovg.niedersachsen.de/Index.asp, 11.03.2009.<br />

41<br />

Vgl. allgemein zum privatrechtlichen Kontrahierungszwang<br />

für Kreditinstitute Reinhard Singer, Girogeschäft<br />

und Kontoeröffnung, in: Derleder/ Knops/ Bamberger<br />

(Hrsg.), Handbuch zum deutschen und europäischen<br />

Bankrecht, 2003, § 31 Rn. 10 m.w.N. auch zur<br />

Rechtsprechung betreffend die Kündigung von NPD-<br />

Konten.<br />

42<br />

LG Saarbrücken, Urteil vom 21.12.2007 – Az. 1 O<br />

422/07 –, unveröffentlicht.<br />

gen Rechtsmissbrauchs gemäß § 242 BGB unwirksam.<br />

Das OLG Saarland 43 wies den Antrag<br />

der NPD in zweiter Instanz jedoch zurück. Die<br />

in Nr. 19 Abs. 1 der AGB getroffene Kündigungsregelung<br />

steht in Einklang mit den allgemeinen<br />

gesetzlichen Bestimmungen. Da Gegenstand<br />

eines Girovertrages Dienste höherer Art<br />

sind, die aufgrund besonderen Vertrauens übertragen<br />

zu werden pflegen, bedarf es nach §§ 627,<br />

675, 676 f. BGB keines Kündigungsgrundes.<br />

Zwar gelten die allgemeinen gesetzlichen<br />

Schranken der §§ 138, 226, 242 BGB auch für<br />

die ordentliche Kündigung von Dauerschuldverhältnissen<br />

und damit von Giroverträgen. Die<br />

Kündigungen der Giroverträge verstoßen allerdings<br />

weder gegen das Schikaneverbot (§ 226<br />

BGB), noch sind sie rechtsmissbräuchlich im<br />

Sinne des § 242 BGB. Grundsätzlich kann eine<br />

nach § 242 BGB durchzuführende Interessenabwägung<br />

zur Unwirksamkeit der ordentlichen<br />

Kündigung des Girovertrags führen, wenn einer<br />

privaten Bank gegenüber einer politischen Partei<br />

quasi eine „Monopolstellung“ zukommt. Dies<br />

setzt voraus, dass die politische Partei nicht in<br />

der Lage ist, bei einer anderen Bank ein Konto<br />

zu eröffnen. Das Vorliegen dieser Voraussetzung<br />

hat die NPD aber im Streitfall nicht ausreichend<br />

glaubhaft gemacht.<br />

Das OVG Berlin-Brandenburg 44 bestätigte in<br />

zweiter Instanz ein Urteil des VG Berlin 45 ,<br />

durch das die Landesbank Berlin AG verpflichtet<br />

wurde, dem Bundesverband der NPD bei der<br />

Berliner Sparkasse ein Girokonto zu eröffnen.<br />

Die Landesbank Berlin AG ist Trägerin öffentlicher<br />

Gewalt im Sinne von § 5 Abs. 1 S. 1 PartG,<br />

die mit der Einräumung eines Girokontos eine<br />

„andere öffentliche Leistung“ gewährt. Da sie<br />

auch für andere politische Parteien Konten führt,<br />

verstößt sie mit der Ablehnung der Eröffnung eines<br />

Girokontos für die NPD gegen den verfassungsrechtlich<br />

in Art. 21 Abs. 1 GG verbürgten<br />

und in § 5 PartG konkretisierten Gleichbehand-<br />

43<br />

OLG Saarland, Urteil vom 03.07.2008 – Az. 8 U 39/08<br />

- 13, 8 U 39/08 –, in: NJW-RR 2008, 1632 f.<br />

44<br />

OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 14.12.2007 –<br />

Az. 3 B 7.06 –, online veröffentlicht bei juris.<br />

45<br />

VG Berlin, Urteil vom 25.04.2006 – Az. 2 A 62.05 –,<br />

unveröffentlicht.<br />

99


Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

lungsgrundsatz. Die Revision gegen das Urteil<br />

wurde durch das OVG Berlin-Brandenburg nicht<br />

zugelassen. Die hiergegen gerichtete Nichtzulassungsbeschwerde<br />

der Landesbank Berlin AG<br />

wies das BVerwG 46 zurück. Ein Revisionszulassungsgrund<br />

war nicht gegeben. Weder kommt<br />

der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung i.S.d.<br />

§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu, noch besteht eine<br />

Divergenz i.S.d. § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zur<br />

Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts,<br />

des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe<br />

des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts,<br />

noch beruhte die Berufungsentscheidung<br />

auf einem Verfahrensmangel i.S.d. § 132 Abs. 2<br />

Nr. 3 VwGO.<br />

Auch das VG Gera 47 verpflichtete eine Kreissparkasse<br />

zur Errichtung eines Girokontos für<br />

die NPD. Es folgte damit der inzwischen gefestigten<br />

Rechtsprechung, wonach die Sparkassen<br />

als Träger öffentlicher Gewalt den durch § 5<br />

Abs. 1 S. 1 PartG gesetzlich ausgeformten<br />

Gleichbehandlungsanspruch politischer Parteien<br />

bei der Gewährung öffentlicher Leistungen auch<br />

in Gestalt der Eröffnung von Girokonten zu beachten<br />

haben. Zur unter anderem als fehlend gerügten<br />

Kontofähigkeit des Kreisverbandes der<br />

NPD urteilte das VG Gera: „Die Kontofähigkeit<br />

ergibt sich daraus, dass nach dem Parteiengesetz<br />

und der Landessatzung des Klägers der Kreisverband<br />

als Gebietsverband eine selbständige Einheit<br />

der jeweiligen Partei ist, wenngleich der<br />

Kreisverband als Gebietsverband nicht eine selbständige<br />

juristische Person darstellt. Das ist für<br />

die Kontofähigkeit auch nicht maßgebend. Das<br />

Parteiengesetz enthält hinsichtlich der Parteien<br />

und ihrer Gebietsverbände Sonderregelungen zu<br />

den §§ 21 ff. BGB (Palandt, BGB, 61. Auflage,<br />

Einf. vor § 21 Rdnr. 16), wonach diese wie Vereine<br />

entsprechende Organe haben und grundsätzlich<br />

auch aktivlegitimiert sein können, wenn dies<br />

die Parteisatzung vorsieht (arg. e § 3 Satz 2 ParteiG).<br />

Sie sind daher zwar keine juristischen Personen,<br />

wohl aber teilrechtsfähig und damit kontofähig.<br />

Dem steht deshalb auch nicht entgegen,<br />

46<br />

BVerwG, Beschluss vom 30.04.2008 – Az. 6 B<br />

16/08–, online veröffentlicht bei juris.<br />

47<br />

VG Gera, Urteil vom 05.11.2008 – Az. 2 K 37/08 Ge<br />

–, online veröffentlicht bei juris.<br />

dass in der Landessatzung des Klägers die Kontofähigkeit<br />

seiner Kreisverbände nicht ausdrücklich<br />

festgeschrieben ist, wie es die Beklagte fordert.<br />

Diesbezüglich fehlende Regelungen, die im<br />

Übrigen das Parteiengesetz für entsprechende<br />

Satzungen nicht vorschreibt, stehen der Eröffnung<br />

eines Girokontos für einen Kreisverband<br />

nicht entgegen.“<br />

Im Wege der Vorabentscheidung beschloss das<br />

VG Sigmaringen 48 in einem Streit über die Eröffnung<br />

eines Girokontos der NPD bei einer<br />

Sparkasse, dass für den Rechtsstreit der Verwaltungsrechtsweg<br />

gegeben ist. Für das Vorliegen<br />

einer öffentlich-rechtlichen Streitigkeit reicht es<br />

grundsätzlich aus, dass für das Rechtsschutzbegehren<br />

eine Anspruchsgrundlage in Betracht<br />

kommt, die im Verwaltungsrechtsweg zu verfolgen<br />

ist. Dies ist der Fall, wenn sich die Partei auf<br />

den parteienrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz<br />

des § 5 Abs. 1 Satz 1 PartG beruft.<br />

Der spezialgesetzliche Anspruch auf Chancengleichheit<br />

im Verhältnis zu anderen Parteien begründet<br />

eine einseitige Verpflichtung der Träger<br />

öffentlicher Gewalt. Die streitentscheidende<br />

Norm ist damit dem öffentlichen Recht zuzuordnen.<br />

Auch eine aus zwei Kreistagsabgeordneten bestehende<br />

NPD-Kreistagsfraktion (Landkreis<br />

Oder-Spree) hat sich vor dem VG Frankfurt 49<br />

die Errichtung eines (Fraktions-)Girokontos bei<br />

einer Sparkasse erstritten. Wenngleich eine<br />

Kreistagsfraktion als Organteil des öffentlichrechtlichen<br />

Organs Kreistag nicht rechtsfähig<br />

ist 50 , kann sie als Trägerin von Rechten und<br />

Pflichten aufgrund der Besonderheiten des öffentlichen<br />

Rechts gem. § 61 Abs. 2 VwGO im<br />

Verfahren vor den Verwaltungsgerichten beteiligtenfähig<br />

sein. Dass die Kreistagsfraktion ihren<br />

48<br />

VG Sigmaringen, Beschluss vom 05.03.2008 – Az. 5<br />

K 2558/07 –, online veröffentlicht bei juris und in der<br />

Landesrechtsprechungsdatenbank Baden-Württemberg.<br />

49<br />

VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 10.07.2008 – Az. 4<br />

K 1176/04 –, online veröffentlicht bei juris.<br />

50<br />

Während das Abgeordnetengesetz nunmehr die<br />

Rechtsfähigkeit der Parlamentsfraktion auf Bundesebene<br />

bestimmt, ist eine Rechtsfähigkeit von Ratsfraktionen<br />

lediglich eine von einem Teil der Wissenschaft de<br />

lege ferenda aufgestellte Forderung, s. ausführlich Ulrike<br />

Bick, Die Ratsfraktion, 1989, S. 64 f.<br />

100


MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung<br />

Antrag irrig auf einen vermeintlichen Anspruch<br />

aus § 5 PartG stützte 51 , war im Ergebnis unschädlich.<br />

Das VG Frankfurt folgerte das Recht<br />

auf Eröffnung eines Girokontos unmittelbar aus<br />

dem aus Art. 3 Abs. 1 GG abgeleiteten Gleichbehandlungsgebot,<br />

das allen Trägern öffentlicher<br />

Gewalt untersagt, vergleichbare Sachverhalte<br />

unterschiedlich zu behandeln und jedenfalls auch<br />

einen Anspruch auf willkürfreie Entscheidung<br />

begründet. Da die Sparkasse, eine Anstalt des öffentlichen<br />

Rechts, auch für andere Kreistagsfraktionen<br />

Girokonten führt, musste sie sich nach<br />

Ansicht des VG Frankfurt an ihrer Entscheidungspraxis<br />

auch im Falle der NPD-Kreistagsfraktion<br />

festhalten lassen.<br />

Das VG Düsseldorf 52 lehnte den von einem einzelnen<br />

Ratsmitglied gestellten Eilantrag ab, in<br />

das Informationsblatt zu einem Bürgerentscheid<br />

zusätzlich zu den Stimmempfehlungen der Bürgerinitiative<br />

und des Oberbürgermeisters sowie<br />

den Stellungnahmen der als Fraktion oder Gruppe<br />

im Rat vertretenen politischen Kräfte auch<br />

seine Stellungnahme aufzunehmen und dieses an<br />

die Abstimmungsberechtigten zu übersenden.<br />

Das VG Düsseldorf wendet den Rechtsgedanken<br />

der für politische Parteien geltenden abgestuften<br />

Chancengleichheit im Sinne des § 5 PartG auch<br />

auf andere politische Gruppierungen an. Dabei<br />

ist das VG Düsseldorf zwar sichtlich bemüht, in<br />

seinen Formulierungen einen direkten Rückgriff<br />

auf § 5 PartG zu vermeiden 53 . Leider werden<br />

aber ausschließlich die für politische Parteien<br />

geltenden Grundsätze der abgestuften Chancengleichheit<br />

in der Entscheidungsbegründung bemüht,<br />

ohne dass deren rechtliche Anwendbarkeit<br />

auf andere politische Gruppierungen auch nur<br />

51<br />

Die Norm berechtigt nach ihrem Wortlaut lediglich politische<br />

Parteien – nicht aber die rechtlich von diesen<br />

zu unterscheidenden Fraktionen.<br />

52<br />

VG Düsseldorf, Beschluss vom 28.03.2008 – Az. 1 L<br />

520/08 –, online veröffentlicht bei juris.<br />

53<br />

Das VG Düsseldorf nimmt beispielsweise das „unter<br />

anderem in § 5 Abs. 1 PartG zum Ausdruck gebrachte<br />

Strukturprinzip der Gleichbehandlung“ in Bezug und<br />

bezeichnet dieses als „Ausfluss der u.a. in Art. 21 GG<br />

garantierten Chancengleichheit der Parteien“, die allerdings<br />

„unter dem Vorbehalt einer Abstufung nach der<br />

Bedeutung der politischen Gruppierungen bis zu dem<br />

für die Erreichung ihres Zweckes erforderlichen Mindestmaß<br />

(vgl. § 5 Abs. 1 S. 2 PartG)“ steht.<br />

thematisiert wird. Im zweitinstanzlichen Beschwerdeverfahren<br />

nahm das OVG Nordrhein-<br />

Westfalen 54 dann richtigerweise das „dem allgemeinen<br />

Gleichheitssatz immanente Willkürverbot,<br />

das als Element des objektiven Gerechtigkeitsprinzips<br />

der Rechtsstaatlichkeit inne wohnt<br />

und auch für Gemeinderatsmitglieder Geltung<br />

beansprucht“, in Bezug. Auch das Willkürverbot<br />

verhalf der Beschwerde des Ratsmitglieds allerdings<br />

nicht zum Erfolg, da es „unter Willkürgesichtspunkten<br />

[…] ein sachliches Unterscheidungsmerkmal<br />

und damit unbedenklich [ist],<br />

dass die Antragsgegnerin nur denjenigen Auffassungen<br />

Raum im Informationsblatt einräumt, die<br />

ein Mindestmaß an Rückhalt im Rat haben, nämlich<br />

hier solchen, die zumindest von einer Gruppe<br />

und damit mindestens von zwei Ratsmitgliedern<br />

unterstützt werden“.<br />

Das VG München 55 erließ eine einstweilige Anordnung,<br />

durch die der Bayerische Jugendring<br />

(BJR) verpflichtet wurde, die ÖDP im Vorfeld<br />

der bayerischen Landtagswahlen bei dem vom<br />

BJR betriebenen Internet-Programm "Wahl-O-<br />

Mat" zu berücksichtigen. Der von der Bundeszentrale<br />

für politische Bildung entwickelte<br />

Wahl-O-Mat dient der Information über die<br />

Wahlprogramme der größeren Parteien und soll<br />

Nutzern helfen, ihre eigene Partei-Präferenz herauszufinden.<br />

Zur bayerischen Landtagswahl<br />

konnten die Wahlberechtigten ihren Standpunkt<br />

anhand von 30 Thesen mit den Programmen von<br />

Parteien und Wählervereinigungen vergleichen,<br />

die bereits im Landesparlament mit eigenen Abgeordneten<br />

vertreten waren oder für die eine realistische<br />

Chance auf eine Landtagsbeteiligung<br />

prognostiziert wurde. Kleinparteien wie die ÖDP<br />

waren lediglich als zur Wahl stehend aufgelistet.<br />

Das VG München sah hierdurch den Grundsatz<br />

der Freiheit der Wahl beeinträchtigt. Eine Wahlbeeinflussung<br />

– welcher Art auch immer – von<br />

staatlicher Seite ist unzulässig, der Staat und die<br />

Institutionen der öffentlichen Hand dürfen keine<br />

54<br />

OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom<br />

02.04.2008 – Az. 15 B 499/08 –, in: Städte- und Gemeinderat<br />

2008, S. 29 f.; vgl. auch die Anmerkung<br />

zum Urteil von Franz Otto, in: DVP 2009, 127.<br />

55<br />

VG München, Beschluss vom 08.09.2008 – Az. M 7 E<br />

08.4347 –, online veröffentlicht bei juris.<br />

101


Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

einseitige Informationspolitik betreiben. Dies<br />

gilt auch für den BJR als Körperschaft des öffentlichen<br />

Rechts. Durch den Wahl-O-Mat wird<br />

aber auf die Bildung des Wählerwillens Einfluss<br />

genommen. Deshalb gebietet die "überragende<br />

Bedeutung der Neutralitätspflicht des Staates"<br />

eine Einbeziehung der ÖDP in das internet-basierte<br />

System Wahl-O-Mat.<br />

Das Schweizerische Bundesgericht 56 hat eine<br />

Beschwerde der Schweizerischen Radio- und<br />

Fernsehgesellschaft SRG gegen den Entscheid<br />

der Unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio<br />

und Fernsehen (UBI) 57 abgewiesen. Eine Vorabendinformationssendung<br />

des deutschsprachigen<br />

Schweizer Fernsehens SF hat mit einem porträtierenden<br />

Beitrag über den parteilosen Freiburger<br />

Staatsrat Pascal Corminboeuf sechs Tage<br />

vor den kantonalen Wahlen das Vielfaltgebot 58<br />

verletzt. In der Sendung wurde der bei den<br />

Wahlen kandidierende Staatsrat als „führender<br />

Regierungsmann“ dargestellt, der „über die Parteigrenzen<br />

hinweg“ beliebt ist. Ein schweizerischer<br />

Tierschutzverein sah in dem Beitrag eine<br />

einseitige Wahlwerbung, die insbesondere auch<br />

die Kritik an der Tätigkeit des Staatsrates von<br />

Seiten der Tierschützer unberechtigterweise ausgeblendet<br />

habe, und wandte sich mit einer Beschwerde<br />

an die UBI, die daraufhin folgenden<br />

Beschluss fasste: „Die Beschwerde […] wird,<br />

soweit darauf einzutreten ist, mit 4:3 Stimmen<br />

gutgeheissen und es wird festgestellt, dass der<br />

am 30. Oktober 2006 in der Sendung "Schweiz<br />

Aktuell" des Schweizer Fernsehens ausgestrahlte<br />

Beitrag "Freiburger Original in der Regierung"<br />

die Programmbestimmungen verletzt hat.“ Nach<br />

Auffassung der UBI dürfen zwar grundsätzlich<br />

56<br />

Schweizerisches Bundesgericht, Lausanne, Urteil vom<br />

25.10.2007 – Az. 2C 335/2007 –, in: EuGRZ 2008,<br />

520 ff.<br />

57<br />

UBI, Entscheid vom 30.3.2007 – Az. b. 545 –, veröffentlicht<br />

auf den Internetseiten der Unabhängigen Beschwerdeinstanz<br />

für Radio und Fernsehen, http://www.ubi.admin.ch/x/b_545_de.pdf,<br />

17.03.2009.<br />

58<br />

Radio und Fernsehen müssen die Vielfalt von Ereignissen<br />

und Ansichten angemessen zum Ausdruck bringen.<br />

Dies ergibt sich sowohl aus der Bundesverfassung der<br />

Schweiz (Art. 93 Abs. 2 BV) als auch aus dem Radiound<br />

Fernsehgesetz (Art. 4 Abs. 1 Satz 2 RTVG). Das<br />

Vielfaltgebot will einseitige Tendenzen in der Meinungsbildung<br />

durch Radio und Fernsehen verhindern.<br />

auch persönlich gefärbte Porträts von Politikern<br />

ausgestrahlt werden, kurz vor Wahlen bestünden<br />

jedoch erhöhte journalistische Sorgfaltspflichten,<br />

um die Chancengleichheit der Kandidaten zu gewährleisten.<br />

Das Schweizerische Bundesgericht<br />

bestätigte die Entscheidung der UBI. Wenngleich<br />

sich das Vielfaltgebot grundsätzlich nicht<br />

an jede einzelne Sendung, sondern an die Programme<br />

in ihrer Gesamtheit richte 59 , so gelten in<br />

der heiklen Phase vor Wahlen und Abstimmungen<br />

strengere Anforderungen an die Ausgewogenheit<br />

jeder einzelnen Sendung. Es soll verhindert<br />

werden, dass die öffentliche Meinungsbildung<br />

einseitig beeinflusst und damit auch das<br />

Abstimmungsergebnis entsprechend verfälscht<br />

wird. Andere Kandidaten wurden aber weder in<br />

der Sendung „Schweiz Aktuell“ noch in einer<br />

anderen Sendung des Schweizer Fernsehens in<br />

vergleichbarer Weise vorgestellt. „Der Beitrag<br />

war deshalb geeignet, die Chancengleichheit der<br />

Kandidaten zu beeinträchtigen, indem dem Zuschauer<br />

keine Elemente in die Hände gegeben<br />

wurden, um sich ein umfassendes Bild machen<br />

zu können.“ 60<br />

3. Parteienfinanzierung<br />

Alexandra Bäcker<br />

Der BGH 61 musste sich nochmals mit dem Fall<br />

„Kremendahl“ beschäftigen. Der ehemalige<br />

Wuppertaler Oberbürgermeister war wegen des<br />

Vorwurfs der Vorteilsnahme im Zusammenhang<br />

mit Wahlkampfspenden zunächst vom LG Wuppertal<br />

62 freigesprochen worden. Dieses Urteil<br />

hatte der BGH 63 aufgehoben. Das nunmehr zur<br />

Entscheidung berufene LG Dortmund 64 sprach<br />

59<br />

Es reicht also grundsätzlich aus, wenn ein Veranstalter<br />

während eines angemessenen Zeitraums zum gleichen<br />

Thema andere vergleichbare Sendungen ausstrahlt. Sie<br />

können wegen ihrer Tendenz und ihres Charakters ein<br />

Gegengewicht zu einer einseitigen Einzelsendung setzen.<br />

60<br />

Schweizerisches Bundesgericht, Lausanne, Urteil vom<br />

25.10.2007 – Az. 2C 335/2007 –, in: EuGRZ 2008,<br />

520 (522).<br />

61<br />

BGH, Urteil vom 28.08.2007 – 3 StR 212/07.<br />

62<br />

NJW 2003, 1405.<br />

63<br />

BGHSt 49, 275; NJW 2004, 3569.<br />

64<br />

LG Dortmund vom 16.03.2006 – KLs 835 Js. 153/02<br />

14 V P 3/05.<br />

102


MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung<br />

den Angeklagten erneut frei. Dieses Urteil hat<br />

der BGH im Ergebnis bestätigt, jedoch nicht<br />

ohne seine frühere Rechtsprechung 65 zur einschränkenden<br />

Auslegung der §§ 331, 333 StGB<br />

bei Einwerbung von Wahlkampfspenden durch<br />

einen Amtsträger, der sich um seine Wiederwahl<br />

bewirbt, klarzustellen.<br />

Das LG Dortmund hatte die rechtlichen Erwägungen<br />

der ersten Entscheidung des BGH zur<br />

Notwendigkeit einer einschränkenden Auslegung<br />

des § 331 StGB 66 in den Fällen, in denen<br />

ein Amtsträger, der sich in einer Direktwahl um<br />

ein Wahlamt bewirbt und Wahlkampfspenden<br />

annimmt, missverstanden. Das Landgericht hatte<br />

die Ausführungen dahingehend interpretiert,<br />

dass im Zusammenhang mit Wahlkampfspenden<br />

eine strafbare Vorteilsnahme nur dann in Betracht<br />

käme, wenn die Spenden im Hinblick auf<br />

eine „konkrete Diensthandlung, die nicht in ihren<br />

Einzelheiten aber dem Grundsatz nach erkennbar<br />

sein“ müsse, erfolgt seien. Mit diesen<br />

Erwägungen habe das Landgericht § 331 StGB<br />

restriktiver ausgelegt, als es nach Auffassung<br />

des BGH erforderlich sei 67 . Zwar müssten die<br />

§§ 331, 333 StGB im Zusammenhang mit Wahlkampfspenden<br />

restriktiv gehandhabt werden, um<br />

dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der<br />

Chancengleichheit der Wahl gerecht zu werden.<br />

Die Grenze kann aber laut BGH schon dann<br />

überschritten sein, wenn Spender und Amtsträger<br />

davon ausgehen, dass der Amtsträger im<br />

Laufe der künftigen Amtszeit mit Entscheidungen<br />

zu einem Vorhaben des Spenders befasst<br />

sein wird und der unbeteiligte Betrachter den<br />

Eindruck gewinnt, dass dieser mit der Spende<br />

Einfluss auf anfallende Entscheidungen gewinnen<br />

will 68 . Der Anschein der Käuflichkeit amtlicher<br />

Handlungen, dessen Vermeidung Schutzzweck<br />

der Strafnorm sei, werde so geweckt.<br />

65<br />

BGHSt 49, 275 (291 ff.).<br />

66<br />

Das erste Urteil zur einschränkenden Auslegung des<br />

§ 331 StGB wurde im Schrifttum rege diskutiert. Siehe<br />

etwa Döllinger, JR 2005, 519 (520); Salinger/Sinner,<br />

NJW 2005, 1073 (1075 f.); Korte, NStZ 2005, 512 f.;<br />

Kargel, JZ 2005, 503 (512).<br />

67<br />

BGH Urteil vom 28.08.2007 – 3 StR 212/07, Rn. 13.<br />

68<br />

BGH Urteil vom 28.08.2007 – 3 StR 212/07, Rn. 18.<br />

Im vorliegenden Fall habe sich der Angeklagte<br />

auch nach Ansicht des BGH mangels Vorsatzes<br />

nicht strafbar gemacht. Zum Zeitpunkt der Annahme<br />

der Spende habe er von den geplanten<br />

Projekten des Spenders keine Kenntnis gehabt.<br />

In MIP Heft 13 (2006) wurde auf S. 98 bereits<br />

kurz über die Entscheidung des BVerwG 69 zu<br />

sog. „Altfällen“ anonymer Spenden, die vor Inkrafttreten<br />

des Achten Gesetzes zur Änderung<br />

des Parteiengesetzes abgeschlossen waren, berichtet.<br />

Die Sprungrevision der SPD wurde vom<br />

Bundesverwaltungsgericht als unbegründet zurückgewiesen.<br />

Das Bundesverwaltungsgericht ist entgegen dem<br />

VG Berlin der Auffassung, dass die Rückforderung<br />

zur Parteienfinanzierung gewährter Mittel<br />

nach dem PartG 1994 die Rücknahme der Mittelfestsetzung<br />

voraussetzt. Dies gelte auch im<br />

Falle eines Anspruchsverlustes nach § 23 a<br />

Abs. 1 S. 1 PartG 1994. Das VG verkenne, dass<br />

die Sanktion nach § 23 a Abs. 1 S. 1 PartG 1994<br />

anders als diejenige nach § 31 c Abs. 1 PartG<br />

2002 nicht in einem selbstständig zu verfolgenden<br />

Zahlungsanspruch, sondern in dem teilweisen<br />

Verlust des allgemeinen Finanzierungsanspruchs<br />

der Partei bestehe. Sei über diesen Anspruch<br />

unter Missachtung des Anspruchsverlustes<br />

entschieden und folglich ein zu hoher Finanzierungsbetrag<br />

festgesetzt worden, so müsse zur<br />

Geltendmachung des Anspruchsverlustes der<br />

Bewilligungsbescheid in der entsprechenden<br />

Höhe gem. § 48 VwVfG zurückgenommen werden,<br />

woran sich die Rückforderung des zuviel<br />

gezahlten Betrages anschließe.<br />

Die Rücknahme könne grundsätzlich auch konkludent<br />

erfolgen, was im zu entscheidenden Falle<br />

nicht vorgelegen habe. Unter den Voraussetzungen<br />

des § 47 VwVfG seien auch die Verwaltungsgerichte<br />

im Gerichtsverfahren ermächtigt,<br />

fehlerhafte Verwaltungsakte umzudeuten. Dies<br />

gelte auch im Revisionsverfahren, sofern die das<br />

Revisionsgericht bindenden tatrichterlichen<br />

Feststellungen (vgl. § 137 Abs. 3 VwGO) ausreichen,<br />

den Beteiligten hierzu rechtliches Gehör<br />

69<br />

BVerwG, Urteil vom 26.07.2006 – 6 C 20.05, in:<br />

NVwZ 2007, 210 ff.<br />

103


Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

gewährt worden sei und sie in ihrer Rechtsverteidigung<br />

hierdurch nicht beeinträchtigt seien.<br />

Das BVerfG 70 hatte über eine Verfassungsbeschwerde<br />

der NPD gegen die Versagung von<br />

Eilrechtsschutz im Zusammenhang mit der staatlichen<br />

Parteienfinanzierung zu entscheiden. Die<br />

Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung<br />

angenommen, da ein Annahmegrund<br />

nicht vorliege. Sie sei bereits unzulässig. Die<br />

Beschwerdeführerin habe den in § 90 Abs. 2 S. 1<br />

BVerfGG zum Ausdruck kommenden Grundsatz<br />

der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde<br />

nicht beachtet.<br />

Darüber hinaus habe die NPD nicht hinreichend<br />

substantiiert dargelegt, dass für sie durch das<br />

weitere Beschreiten des Rechtswegs in der<br />

Hauptsache ein schwerer und unabwendbarer<br />

Nachteil entstünde. Zwar sei nicht zu verkennen,<br />

dass die seit dem vierten Quartal nur noch eingeschränkt<br />

gewährten Zahlungen im Rahmen der<br />

staatlichen Parteienfinanzierung zu finanziellen<br />

Schwierigkeiten bei der Partei führen könne.<br />

Ohne Kenntnis der weiteren Finanzlage der<br />

NPD, die nicht weiter dargelegt wurde, könne<br />

diese Behauptung der Beschwerdeführerin nicht<br />

im erforderlichen Maße nachvollzogen werden.<br />

Aus dem Vortrag der NPD ergebe sich nicht,<br />

dass die Beschwerdeführerin generell gehindert<br />

sei, ihre politische Arbeit fortzusetzen.<br />

Dr. Heike Merten<br />

4. Parteien und Parlamentsrecht<br />

Kurzbesprechung VerfGH NRW<br />

– VerfGH 7/07 vom 19. August 2008<br />

Mit Urteil vom 19. August 2008 71 entschied der<br />

VerfGH NRW über einen Organstreit zwischen<br />

einem Abgeordneten des Landtages NRW und<br />

der Landesregierung. Der Streit betraf die Frage<br />

einer Verletzung von verfassungsrechtlichen Informationsrechten<br />

des Antragstellers durch eine<br />

70<br />

BVerfG, Beschluss vom 08.10.2007 – 2 BvR 1387/07,<br />

in: DVBl. 2007, 1440 ff.<br />

71<br />

Veröffentlicht unter www.justiz.nrw.de/nrwe/ovgs/<br />

vgh_nrw/j2008/VerfGH_7_07urteil20080819.html.<br />

unzulängliche Beantwortung seiner parlamentarischen<br />

Anfragen, sowie durch eine eventuell unzureichende<br />

Erläuterung bestimmter Titel des<br />

Entwurfes für das Haushaltsgesetz 2007 durch<br />

die Antragsgegnerin.<br />

Die parlamentarischen Anfragen des Antragstellers<br />

betrafen verschiedene Aspekte der Tätigkeiten<br />

der Ruhrkohle AG, die als Privatunternehmen<br />

ohne staatliche Beteiligung organisiert, jedoch<br />

in erheblichem Umfang Empfängerin von<br />

Subventionen des Landes ist. In den monierten<br />

Titeln des Haushaltsgesetzes 2007 geht es um<br />

Zuwendungen an die RAG bzw. um erwartete<br />

Minderausgaben bzw. Rückflüsse bei den Kohlebeihilfen<br />

infolge eingeleiteter Sparmaßnahmen.<br />

Der Antragsteller richtete insgesamt sechs kleine<br />

parlamentarische Anfragen 72 mit jeweils mehreren<br />

Unterfragen an die Antragsgegnerin. Durch<br />

die seines Erachtens unzureichende Beantwortung<br />

eines Teils der Anfragen 73 sah sich der Antragsteller<br />

in seinen Rechten aus Artt. 30 II, 81 I<br />

und II Verf NRW ebenso verletzt wie durch die<br />

als lückenhaft angesehenen Erläuterungen zu<br />

Kapitel 08 050 Titel 683 20 des Entwurfs des<br />

Haushaltsgesetzes 2007 74 und beantragte Feststellung<br />

dieser Verletzungen durch den VerfGH<br />

NRW nach §§ 43 ff. VGHG NRW. Die Antragsgegnerin<br />

beantragte Zurückweisung wegen teilweiser<br />

Unzulässigkeit und wegen Unbegründetheit<br />

in allen Punkten.<br />

Der VerfGH gab der Klage teilweise statt und<br />

stellte eine Verletzung des Antragstellers in seinem<br />

Informationsrecht aus Art. 30 II Verf NRW<br />

durch die Antworten der Landesregierung auf<br />

72<br />

Kleine Anfrage 943 (LT NRW-Drs. 14/2524); Kleine<br />

Anfrage 944 (LT NRW-Drs. 14/2525); Kleine Anfrage<br />

945 (LT NRW-Drs. 14/2526); Kleine Anfrage 947 (LT<br />

NRW-Drs. 14/2528); Kleine Anfrage 950 (LT NRW-<br />

Drs. 14/2531); Kleine Anfrage 952 (LT NRW-Drs.<br />

14/2533).<br />

73<br />

Kleine Anfrage 943 Unterfrage 2; Kleine Anfrage 944<br />

Unterfrage 2; Kleine Anfrage 945 Unterfragen 3, 4, 5;<br />

Kleine Anfrage 947 Unterfragen 3, 5; Kleine Anfrage<br />

950 Unterfragen 1, 2, 3, 4; Kleine Anfrage 952, Unterfragen<br />

1, 3, 4, 5.<br />

74<br />

Lt NRW-Drs. 14/2300.<br />

104


MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung<br />

einen Teil der Anfragen fest 75 . Im übrigen wurden<br />

die Anträge abgelehnt.<br />

Zulässigkeit<br />

In der Urteilsbegründung legt der VerfGH die<br />

Unzulässigkeit der auf Feststellung einer Verletzung<br />

von Art. 81 I, II Verf NRW gerichteten Anträge<br />

dar. Es fehle dem Antragsteller insoweit an<br />

der Antragsbefugnis, da § 44 VerfGHG NRW<br />

einen substantiierten Vortrag über das Verhalten<br />

des Antragsgegners verlange, durch welches sich<br />

der Antragsteller in seinen verfassungsmäßigen<br />

Rechten verletzt sieht und sich aus dem Vortrag<br />

die Möglichkeit einer Verletzung dieser Rechte<br />

ergeben müsse.<br />

An dieser Möglichkeit fehle es, soweit eine Verletzung<br />

von Art. 81 I f. Verf NRW gerügt wird,<br />

da es sich bei dem Budgetrecht um eine Organkompetenz<br />

des Landtages handele und insofern<br />

ein unmittelbarer Eingriff in die Rechtsstellung<br />

des einzelnen Abgeordneten ausscheide. Eine<br />

Verletzung der verfassungsrechtlichen Positionen<br />

des Antragstellers durch die gerügten Erläuterungen<br />

des Haushaltsgesetzes komme somit<br />

nicht in Betracht, da die betroffenen Erläuterungspflichten<br />

nur im Budgetrecht des Parlaments,<br />

nicht aber im Abgeordnetenstatus verankert<br />

seien.<br />

Im übrigen ergebe sich die Antragsbefugnis aus<br />

der Möglichkeit einer Verletzung der Informationsrechte<br />

des Abgeordneten, die aus Art. 30 II<br />

Verf NRW fließen.<br />

Begründetheit<br />

In der Begründetheitsprüfung nimmt das Gericht<br />

zunächst zu der Reichweite des Informationsanspruches<br />

des Abgeordneten Stellung und stellt<br />

ein Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen Antwortpflicht<br />

der Regierung und der Möglichkeit<br />

der Antwortverweigerung fest. Die Ausnahme<br />

einer berechtigten Antwortverweigerung könne<br />

sich aus dreierlei Gründen ergeben: Zunächst aus<br />

aus der Funktion des Fragerechts, die in der<br />

75<br />

Kleine Anfrage 944 Unterfrage 2; Kleine Anfrage 945<br />

Unterfrage 4; Kleine Anfrage 952 Unterfragen 1, 5.<br />

Kontrolle der Regierung bestehe. Daraus ergebe<br />

sich die Erstreckung des Fragerechts auf alle politischen<br />

Angelegenheiten, in denen die Regierung<br />

oder eines ihrer Mitglieder tätig geworden<br />

ist oder kraft rechtlicher Vorschriften tätig werden<br />

kann.<br />

Bemerkenswert ist die Hervorhebung des Gerichts,<br />

daß es für das Fragerecht nicht auf die öffentlich-rechtliche<br />

Handlungsform des Gegenstandes<br />

parlamentarischer Anfragen ankomme.<br />

Damit trägt das Gericht dem Umstand der Ausweitung<br />

privatrechtsförmigen Handelns der öffentlichen<br />

Hand Rechnung und beugt einem effektiven<br />

Bedeutungsverlust der parlamentarischen<br />

Kontrolle der Regierung vor.<br />

Soweit jedoch rein private Unternehmen betroffen<br />

sind, die staatliche Förderungen erhalten, beziehe<br />

sich – so der Senat – das parlamentarische<br />

Fragerecht regelmäßig nur auf die Vergabeentscheidung<br />

und die Überwachung der Zweckbindung.<br />

Ausnahmen von dieser Regel sollen sich<br />

aus einer engen funktionalen Verzahnung des<br />

Staates mit dem Unternehmen aus öffentlichem<br />

Interesse bei entsprechendem Einfluß der öffentlichen<br />

Hand ergeben.<br />

Genauere Merkmale dieser Verflechtungssituation<br />

definiert das Gericht an dieser Stelle nicht,<br />

will sich jedoch offenbar Reaktionsmöglichkeiten<br />

für neue Formen der Zusammenarbeit zwischen<br />

Staat und Privaten offenhalten.<br />

Eine weitere Ausnahme von der Auskunftspflicht<br />

der Regierung könne sich, so der VerfGH<br />

NRW, aus dem Gesichtspunkt der Pflicht zur<br />

gegenseitigen Rücksichtnahme unter Verfassungsorganen<br />

ergeben. Das Gericht entfaltet hier<br />

zwei Gesichtspunkte: Zunächst denjenigen des<br />

Kernbereichs der Exekutive, der einen grundsätzlich<br />

nicht ausforschbaren Eigenbereich der<br />

Exekutivorgane beschreibe. Sodann geht es auf<br />

die Zumutbarkeit der Informationsbeschaffung<br />

ein, die auch vor dem Hintergrund der knappen,<br />

für eine Beantwortung Kleiner Anfragen gem.<br />

§ 88 III 2 GO LT NRW zur Verfügung stehenden<br />

Frist von vier Wochen zu beurteilen sei.<br />

Diese Argumentation des Gerichts ist aus zwei<br />

Gründen fragwürdig: Zunächst dient § 88 GO<br />

105


Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

LT NRW der Effektivierung des parlamentarischen<br />

Fragerechts und trägt dem Umstand<br />

Rechnung, daß das öffentliche wie parlamentarische<br />

Interesse an Vorgängen in der Regierung typischerweise<br />

mit wachsender zeitlicher Distanz<br />

schwindet. Aus der die Regierung treffenden<br />

Pflicht zur Beschleunigung der Beantwortung<br />

von Fragen eine Begrenzung der Reichweite des<br />

Fragerechts zu folgern, ist somit problematisch.<br />

Weiterhin kann die GO LT NRW als Binnenrecht<br />

des Landtages die Landesregierung nicht<br />

rechtlich verpflichten. § 88 GO LT NRW ist also<br />

nur für den Landtagspräsidenten verbindlich.<br />

Dessen Aufforderung, die Kleine Anfrage innerhalb<br />

von vier Wochen zu beantworten, stellt für<br />

die Landesregierung eine Richtgröße dar, die<br />

sich an dem vom Parlament angenommenen<br />

„normalen Fall“ einer Kleinen Anfrage orientiert.<br />

Ein Recht zur Verweigerung der Antwort<br />

kann daher nicht aus der Frist des § 88 III 2 GO<br />

LT NRW abgeleitet werden, sondern – da das<br />

parlamentarische Fragerecht verfassungsrechtlich<br />

verwurzelt ist – nur aus Gründen von Verfassungsrang.<br />

Unter dem Gesichtspunkt einer<br />

Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme unter<br />

Verfassungsorganen kann die zeitliche Beanspruchung<br />

der Landesregierung nur dann zu der<br />

Folge eines Rechtes auf Antwortverweigerung<br />

führen, wenn die durch diese zeitliche Beanspruchung<br />

bewirkte Einschränkung der Regierungstätigkeit<br />

sich in einem ungünstigen Verhältnis zu<br />

dem Interesse des Landtages an der Beantwortung<br />

der Anfrage befindet. Die Überschreitung<br />

der Vierwochenfrist kann insofern nur Indizwirkung<br />

für einen Verstoß gegen Rücksichtnahmepflichten<br />

entfalten. Die Pflicht zur gegenseitigen<br />

Rücksichtnahme beeinflusse, wie das Gericht<br />

weiter ausführt, neben der generellen Pflicht zur<br />

Beantwortung parlamentarischer Anfragen, vor<br />

allem auch die Tiefe und Ausführlichkeit der Beantwortung,<br />

die zu fordern ist. Hier vor allem<br />

scheint richtigerweise die begrenzende Rolle der<br />

Beantwortungsfristen zu liegen: Nur ausnahmsweise<br />

dürfte die Antwortpflicht gänzlich entfallen,<br />

wohl aber ergibt sich aus dem Zweck kleiner<br />

parlamentarischer Anfragen, eine schnelle Information<br />

des Parlamentes zu bewirken, eine zurückgenommene<br />

Intensität der Beantwortungspflicht<br />

der Regierung.<br />

Als weitere, dritte Grenze eines parlamentarischen<br />

Fragerechts nennt der VerfGH NRW die<br />

(Bundes-)Grundrechte Dritter, deren Geltung<br />

für die nordrhein-westfälische Staatsgewalt über<br />

Art. 4 I Verf NRW vermittelt werde. Im Zusammenhang<br />

mit den parlamentarischen Anfragen,<br />

die im Zentrum des Verfahrens stehen, hebt das<br />

Gericht die Bedeutung des durch Artt. 12, 14<br />

GG gewährten Schutzes von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen<br />

hervor. Die Antwort auf die<br />

Frage nach der Beantwortungspflicht und ihres<br />

Umfangs könne sich, so das Gericht, nur aus einer<br />

Abwägung zwischen den jeweiligen Rechtspositionen<br />

ergeben. Als Gesichtspunkte der Abwägung<br />

nennt der Senat das (öffentliche) Interesse<br />

an der Antwort sowie die Schutzwürdigkeit<br />

und -bedürftigkeit der betroffenen Daten.<br />

In seiner Entscheidung legt der VerfGH NRW<br />

dar, das Nichtvorhandensein von erfragten Daten<br />

bei Regierungsstellen lasse den Informationsanspruch<br />

des Parlaments auf die Pflicht der<br />

Landesregierung schrumpfen, sich um die Beschaffung<br />

der Daten zu bemühen, wobei die Beschaffungsmöglichkeiten<br />

auszuschöpfen seien.<br />

Besteht keine Möglichkeit, die gewünschten Daten<br />

zu beschaffen und hat sich die Regierung bemüht,<br />

das Informationsbedürfnis anderweitig zu<br />

befriedigen, sei der Informationsanspruch erschöpft<br />

76 . Impossibilium nulla est obligatio gilt<br />

somit auch für parlamentarische Anfragen.<br />

Bezüglich weiterer Anträge 77 wendet der Senat<br />

die zuvor entwickelten Gesichtspunkte zu den<br />

Grenzen des parlamentarischen Fragerechts an.<br />

Zunächst begründet das Gericht, daß die erbetenen<br />

Daten nicht bereits deshalb aus den Antwortpflichten<br />

der Regierung ausscheiden, weil<br />

die RAG, auf welche sich die erfragten Daten<br />

beziehen, ein rein privates Unternehmen ohne<br />

Staatsbeteiligung ist. Diese Ausnahme von der<br />

Regel rechtfertige sich erstens aus der engen<br />

Verflechtung der RAG mit energiepolitischen<br />

Belangen des Staates, die sogar in einem speziell<br />

auf die RAG zugeschnittenen normativen Rah-<br />

76<br />

Mit dieser Begründung wurde der Antrag bezüglich<br />

der Kleinen Anfragen 943, Unterfrage 2 sowie 952,<br />

Unterfragen 3 und 4 als unbegründet abgewiesen.<br />

77<br />

Zu den Kleinen Anfragen 944, Unterfrage 2 und Kleine<br />

Anfrage 952, Unterfragen 1 und 5.<br />

106


MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung<br />

men Niederschlag gefunden habe. Zweitens seien<br />

die erfragten Daten in einem Subventionsverfahren<br />

erhoben und unterliegen bereits deshalb<br />

grundsätzlich parlamentarischer Kontrolle. Ein<br />

Ausschluß des parlamentarischen Fragerechts<br />

könne sich aber aus grundrechtlichen Gesichtspunkten<br />

ergeben, falls die fraglichen Daten als<br />

Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse unter den<br />

Schutz der Artt. 12 I, 14 I GG fallen und dieser<br />

Schutz im Rahmen einer verfassungsrechtlichen<br />

Abwägung gegenüber dem parlamentarischen Informationsinteresse<br />

schwerer wiegt. Bereits am<br />

grundrechtlichen Schutz der Daten zweifelt das<br />

Gericht, da zwar Teilaspekte der als solche geschützten<br />

Kostenkalkulation der RAG betroffen<br />

seien, die RAG jedoch im Inland ohne Konkurrenz<br />

sei und gegenüber ausländischer Importkohle<br />

durch ein System staatlicher Absatzhilfen<br />

geschützt werde.<br />

Dieser Gedanke des Gerichts, den Schutzbereich<br />

der Artt. 12, 14 GG für Unternehmen zu begrenzen,<br />

die in besonderer Weise vor Konkurrenz geschützt<br />

sind, ist abzulehnen. Der Senat stellt hier<br />

implizit eine partielle Folgenabschätzung des<br />

Eingriffs für den Grundrechtsträger an, deren Ergebnisse<br />

richtigerweise in der Prüfung der<br />

Rechtfertigung eines Eingriffs zu verarbeiten<br />

sind und zwar zusammen mit den weiteren Folgen<br />

des Eingriffs.<br />

Allerdings läßt das Gericht diesen Punkt offen<br />

und stützt seine dem Antrag stattgebende Entscheidung<br />

stattdessen auf eine möglicherweise<br />

unterlassene, jedenfalls aber fehlerhafte Abwägung<br />

von Schutzinteresse der RAG und Informationsinteresse<br />

des Parlaments. Selbst wenn die<br />

fraglichen Daten grundrechtlich geschützt waren,<br />

so hätte eine korrekte Abwägung zu einer<br />

Information des Parlaments nach Maßgabe der<br />

Verschlußsachenordnung LT NRW, also in vertraulicher<br />

oder geheimer Form führen müssen.<br />

Der darin liegende Verzicht auf die eigentlich<br />

vorgesehene Öffentlichkeit der Information wiege<br />

jedenfalls weniger schwer als der durch die<br />

Geheimhaltungsinteressen der RAG nicht zu<br />

rechtfertigende, durch die Entscheidung der Landesregierung<br />

jedoch bewirkte Ausschluß parlamentarischer<br />

Kontrolle.<br />

Anläßlich des Antrags die Kleine Anfrage 945,<br />

Unterfrage 4 betreffend, hat das Gericht Gelegenheit,<br />

zur Begründungspflicht Stellung zu nehmen,<br />

die bei Ablehnung einer parlamentarischen<br />

Anfrage eingreift. Der Senat sieht zunächst die<br />

geleistete Antwort als inhaltlich unzureichend<br />

an. Die erst im Organstreitverfahren von der<br />

Landesregierung vorgetragene Begründung, eine<br />

weitergehende Antwort würde den unausforschbaren<br />

Kernbereich der Exekutive berühren, läßt<br />

das Gericht nicht zu, da ein „Nachschieben“ von<br />

Gründen im Organstreitverfahren nicht in Betracht<br />

komme, weil dies den Zweck des Begründungserfordernisses<br />

verfehle, welches den parlamentarischen<br />

Fragesteller in die Lage versetzen<br />

solle, die Erfolgsaussichten verfassungsgerichtlichen<br />

Rechtsschutzes abzuschätzen.<br />

Diese Lesart der Begründungspflicht erregt<br />

Zweifel: Sie liegt zum einen konträr zu den –<br />

hier zwar nicht unmittelbar einschlägigen, aber<br />

doch eine sehr ähnliche Materie betreffenden –<br />

Regelungen des VwVfG. Sie wirft aber auch<br />

Fragen auf, was mit dem Auskunftsanspruch des<br />

Antragstellers nach Feststellung einer Verletzung<br />

der Begründungspflicht zu geschehen hat.<br />

Zwar hat der Spruch des VerfGH im Organstreitverfahren<br />

nur feststellende Wirkung, jedoch ist<br />

die Aufrechterhaltung eines verfassungswidrigen<br />

Zustandes durch die Landesregierung kaum hinnehmbar.<br />

Die Erteilung der Auskünfte in der gewünschten<br />

Form könnte aber ihrerseits verfassungswidrig<br />

sein, dann nämlich, wenn dadurch<br />

der Kernbereich der Exekutive verletzt würde.<br />

Eine erneute, nunmehr unter Hinweis auf den<br />

Arkanbereich beschränkte Antwort der Landesregierung<br />

gäbe dem Antragsteller Steine statt<br />

Brot und würde die eigentliche Frage, ob nämlich<br />

eine vollständige Beantwortung wirklich<br />

den exekutivischen Kernbereich betrifft, unbeantwortet<br />

lassen und somit Stoff für ein weiteres<br />

Organstreitverfahren liefern. Vor diesem Hintergrund<br />

mag man bezweifeln, ob es sinnvoll ist,<br />

ein verfassungsrechtliches Recht auf sofortige<br />

und vollständige Begründung einer nur beschränkten<br />

Beantwortung parlamentarischer Anfragen<br />

anzunehmen, wie es der VerfGH implizit<br />

tut.<br />

107


Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Bezüglich der übrigen Anträge konnte das Gericht<br />

keine unzureichende Beantwortung der jeweiligen<br />

Anfragen feststellen.<br />

Wesentlicher Ertrag des besprochenen Urteils ist<br />

die Erstreckung parlamentarischer Kontroll- und<br />

Fragerechte auch auf die Kooperation des Staates<br />

mit rein privaten Unternehmen, falls diese in<br />

besonderer Weise in staatliche Zweckverfolgung<br />

einbezogen sind. Das Gericht geht damit einen<br />

wesentlichen Schritt in die Richtung einer Effektivierung<br />

parlamentarischer Kontrolle. Weiterhin<br />

zeigt das Urteil die Grenzen parlamentarischer<br />

Informationsrechte, die in den verfassungsmäßigen<br />

Kompetenzen bzw. Rechten anderer Staatsorgane<br />

oder von Privaten liegen.<br />

Kurzbesprechung OVG Lüneburg, Urteil<br />

vom 13. März 2008, 8 LC 1/07<br />

In der Berufung hatte das OVG Lüneburg einen<br />

Streit zwischen dem Präsidenten und einem Abgeordneten<br />

des niedersächsischen Landtages zu<br />

entscheiden 78 . Im Wege der verwaltungsgerichtlichen<br />

Leistungsklage hatte der Präsident einen<br />

Abführungsanspruch nach § 27 III, IV Nds<br />

AbgG gegenüber dem Abgeordneten wegen von<br />

dritter Seite gegenleistungslos empfangener Zuwendungen<br />

geltend gemacht und in der ersten<br />

Instanz obsiegt.<br />

Der Berufungskläger beantragte, das erstinstanzliche<br />

Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen,<br />

hilfsweise das Verfahren auszusetzen und<br />

dem Nds Staatsgerichtshof gem. Art. 54 Nr. 4<br />

Nds Verf i.V.m. § 35 Nds StGHG zur Entscheidung<br />

vorzulegen. Der Berufungsgegner beantragte,<br />

die Berufung zurückzuweisen.<br />

Das OVG gab der Berufung teilweise statt.<br />

Zulässigkeit<br />

Den die Zulässigkeit der Ausgangsklage betreffenden<br />

Einwand der Berufung, es sei nicht der<br />

Verwaltungs-, sondern der Verfassungsrechtsweg<br />

eröffnet, verwarf der Senat: Zwar handele<br />

78<br />

Entscheidung veröffentlicht unter http://www.dbovg.-<br />

niedersachsen.de/Entscheidung.asp?<br />

Ind=0500020070000018%20LC.<br />

es sich um einen Streit zwischen Verfassungsorganen.<br />

Doch sei weiter zu fordern, daß sich der<br />

Streit um aus der Verfassung fließende Organrechte<br />

bzw. -pflichten drehe. Dies sei vorliegend<br />

nicht der Fall, vielmehr handele es sich um echte<br />

Individualrechte und -pflichten des Abgeordneten,<br />

die zwar von seinem Status als Abgeordneter<br />

abhängig seien, aber nicht den Charakter von<br />

Organrechten trügen. Der Landtagspräsident sei<br />

gegenüber dem Abgeordneten wie eine Verwaltungsbehörde<br />

tätig geworden, mithin sei der Verwaltungsrechtsweg<br />

eröffnet.<br />

Auch für die vom Landtagspräsidenten angestrengte<br />

Leistungsklage sah das OVG entgegen<br />

der Berufung das Rechtsschutzbedürfnis als gegeben<br />

an, da § 27 Nds AbgG keine hinreichend<br />

deutliche Ermächtigung zum Erlaß eines Verwaltungsaktes<br />

enthalte.<br />

Begründetheit<br />

Im Rahmen der Begründetheitsprüfung bejahte<br />

das Gericht in Hinsicht auf eine mögliche formelle<br />

Verfassungswidrigkeit die Gesetzgebungskompetenz<br />

des Landes, da dieses für das Recht<br />

der Landesabgeordneten allein zuständig sei.<br />

Obgleich in § 27 III 2 Nds AbgG eine Regelung<br />

die Vergütung von Dienst- und Werkverträgen<br />

der niedersächsischen Abgeordneten betreffend<br />

getroffen wurde, unterfalle diese Regelung dennoch<br />

nicht der Kompetenz zur konkurrierenden<br />

Gesetzgebung auf dem Gebiet des Arbeitsrechts<br />

nach Art. 74 I Nr. 12 GG, da diese Teilregelung<br />

eng mit der unzweifelhaft zum Abgeordnetenrecht<br />

zählenden Regelung des § 27 III 1 Nds<br />

AbgG verzahnt und ihr eigenständiger Regelungsgehalt<br />

dementsprechend gering sei. Auch<br />

stelle sich die Regelung des § 27 IV Nds AbgG,<br />

nach der die gem. § 27 II, III Nds AbgG unzulässigen<br />

Zuwendungen an Abgeordnete von diesen<br />

an das Land abzuführen sind, nicht als Strafvorschrift<br />

dar, die der Kompetenz zur konkurrierenden<br />

Gesetzgebung nach Art. 74 I Nr. 1 GG unterliegen<br />

würde. Der Senat begründet diese Ansicht<br />

mit der vorrangig präventiven Wirkungsrichtung<br />

der Norm und mit der Rechtsprechung<br />

des BVerfG zu den Verfallsvorschriften der<br />

108


MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung<br />

§§ 73 ff. StGB 79 , wonach es sich auch bei diesen<br />

Normen nicht um Strafe handele.<br />

Dem ist im Ergebnis beizupflichten, allerdings<br />

ist hinter die Begründung des Senats ein Fragezeichen<br />

zu setzen: Ob eine Vorschrift, die an<br />

einen Rechtsverstoß nachteilige Folgen knüpft,<br />

als im Schwerpunkt präventiv verstanden werden<br />

kann, ist zumindest zweifelhaft. Der Vergleich<br />

mit den Verfallsvorschriften der §§ 73 ff.<br />

StGB ist auf den ersten Blick bestechend, allerdings<br />

ist der Verfall eine Folge der strafrechtlichen<br />

Verurteilung wegen Begehung einer rechtswidrigen<br />

Tat. Gegen die Annahme, es handele<br />

sich um eine strafrechtliche Norm spricht aber<br />

das Fehlen eines ethischen Vorwurfs, der mit der<br />

Geltendmachung des Anspruchs nach § 27 Nds<br />

AbgG verbunden wäre. Dies zeigt sich insbesondere<br />

am Fehlen jeglicher Schuldmerkmale in den<br />

Tatbestandsvoraussetzungen. Es geht lediglich<br />

um die Abführung von rechtswidrig Erlangtem,<br />

die Norm weist insoweit eher Ähnlichkeit mit<br />

den Kondiktionsansprüchen auf.<br />

Der Senat sieht in Hinblick auf eine mögliche<br />

materielle Verfassungswidrigkeit von § 27 Nds<br />

AbgG zunächst keinen Verstoß gegen Art. 17<br />

Nds Verf, in dem die Abgeordnetenanklage geregelt<br />

ist, die wegen Amtsmißbrauchs angestrengt<br />

werden kann, da diese Regelung nicht abschließend<br />

sei.<br />

Auch sei die von Artt. 12 und 13 Nds Verf garantierte<br />

Unabhängigkeit der Abgeordneten nicht<br />

durch das Verfahren zur Überprüfung der Einhaltung<br />

des § 27 Nds AbgG verletzt: Eine materielle<br />

Unabhängigkeit der Abgeordneten werde<br />

bereits durch die gem. Art. 13 III 1 Nds Verf zu<br />

zahlende Entschädigung gewährleistet. Vor diesem<br />

Hintergrund stellten gegenleistungslose oder<br />

inadäquat hohe Zahlungen Dritter eine Gefährdung<br />

der Unabhängigkeit dar, der mit dem entsprechenden<br />

Verbot in § 27 III Nds AbgG begegnet<br />

werde. Eine solche Regelung erfordere<br />

aber Verfahren zur Überprüfung ihrer Einhaltung.<br />

Mithin gebiete die Unabhängigkeit der Abgeordneten<br />

eine Regelung wie die von der Revision<br />

angegriffene.<br />

79<br />

BVerfGE 110, 1 (14 ff.).<br />

Das Gericht geht in der Folge en passant auf das<br />

Problem des Grundrechtsschutzes für Abgeordnete<br />

ein und nimmt eine Wirkung grundrechtlich<br />

vermittelten Schutzes für die Abgeordneten auch<br />

gegenüber Regelungen an, die die Mandatsstellung<br />

betreffen. Es zieht dementsprechend die<br />

Grundrechte als Maßstab der Prüfung von § 27<br />

III, IV Nds AbgG heran.<br />

Eine Verletzung von Art. 12 I GG erkennt der<br />

Senat nicht, da der Schutzbereich nicht eröffnet<br />

sei. Zwar schütze Art. 12 I GG Tätigkeiten zur<br />

Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage,<br />

solche Tätigkeiten seien hier aber nicht betroffen,<br />

vielmehr seien nur als „Lohn“ oder „Gehalt“<br />

bezeichnete, realiter aber gegenleistungslose<br />

Zahlungen an Abgeordnete betroffen.<br />

Dieser Schutzbereichslösung ist nicht beizupflichten:<br />

Ausweislich des Normtextes betrifft<br />

§ 27 III 2 Nds AbgG auch eine Vergütung, die<br />

den Wert der vom Abgeordneten zu erbringenden<br />

Gegenleistung übersteigt. Es handelt sich<br />

also um ein Verbot einer unangemessen hohen<br />

Vergütung von Abgeordneten, soweit sie für mit<br />

dem Mandat nicht zusammenhängende Tätigkeiten<br />

gewährt wird. Damit ist der Schutzbereich<br />

von Art. 12 I GG eröffnet, der auch besonders<br />

gut bezahlte Tätigkeiten erfaßt. Diese unsaubere<br />

Prüfung des OVG rührt evtl. aus dem Dilemma,<br />

zuvor die Kompetenz des Landesgesetzgebers<br />

für § 27 III, IV Nds AbgG u.a. mit dem Argument<br />

verteidigt zu haben, es handele sich dabei<br />

nicht um eine Materie des Arbeitsrechts, sondern<br />

ausschließlich des Abgeordnetenrechts und dann<br />

gleichwohl die Einschlägigkeit der Grundrechte<br />

angenommen zu haben. Dies führt zu der Konsequenz,<br />

keine Einschlägigkeit von Art. 12 I GG<br />

mehr annehmen zu können, anderenfalls eben<br />

doch eine Regelung des Arbeitsrechts, die Entlohnung<br />

bestimmter Tätigkeiten betreffend, vorläge.<br />

Eine Verletzung von Art. 14 I GG erkennt das<br />

Gericht gleichfalls nicht. Es sei bereits fraglich,<br />

ob der Schutzbereich des Art. 14 I GG überhaupt<br />

eröffnet sei, da sich § 27 III Nds AbgG (das Verbot<br />

gegenleistungsloser oder inadäquat hoher<br />

Vergütungen für Landtagsabgeordnete) auch als<br />

Verbotsgesetz i.S.d. § 134 BGB verstehen lasse<br />

109


Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

und in diesem Falle der Abgeordnete bereits kein<br />

zivilrechtliches Eigentum erwerbe. Nehme man<br />

mit der Vorinstanz eine Inhalts- und Schrankenregelung<br />

an, sei Art. 14 I GG zwar maßstäblich<br />

für § 27 III Nds AbgG, der Eingriff in das Eigentumsrecht<br />

des Abgeordneten sei aber gerechtfertigt.<br />

Es werde mit der Sicherung der Unabhängigkeit<br />

des Abgeordneten ein legitimer Zweck in<br />

geeigneter Weise verfolgt. Die Unabhängigkeit<br />

des Abgeordneten sei gerade gegenüber der Beeinflussung<br />

durch gesellschaftliche Interessengruppen<br />

zu schützen. Demgegenüber sei zwar<br />

zutreffend, daß Einkommensquellen außerhalb<br />

des Mandats die Abhängigkeit von Fraktion und<br />

Partei stärken, da die Innehabung des Mandats<br />

an wirtschaftlicher Bedeutung verliere. Der Senat<br />

stellt aber in ausdrücklicher Anlehnung an<br />

die Entscheidung des BVerfG vom 4. Juli 2007 80<br />

fest, daß es kein verfassungsrechtlich gebotenes<br />

Ziel sei, die Unabhängigkeit des Abgeordneten<br />

von seiner Partei zu stärken.<br />

Die Regelung genüge auch dem Kriterium der<br />

Erforderlichkeit: Eine bloße Veröffentlichung eines<br />

Verstoßes gegen § 27 III Nds AbgG (anstelle<br />

einer Abführung an die Staatskasse, wie von<br />

§ 27 IV 1 Nds AbgG) stelle sich vor dem Hintergrund<br />

einer Tätigkeit als Berufspolitiker nicht<br />

unbedingt als milderes Mittel zur Erreichung des<br />

Regelungszweckes dar, auch sei die gleiche Eignung<br />

zweifelhaft. Ein bloßes Verbot ohne Sanktionsdrohung<br />

sei nicht gleich geeignet. Sonstige<br />

gleich geeignete und mildere Mittel prüft das<br />

Gericht nicht. Die angegriffene Regelung ist<br />

nach Ansicht des Senats auch verhältnismäßig<br />

im engeren Sinne. Dies ergebe sich aus dem Gewicht<br />

des Regelungszieles und der Garantie eines<br />

angemessenen Lebensunterhaltes durch<br />

Art. 13 III Nds Verf. Auch die Möglichkeit im<br />

Einzelnen hoher Rückzahlungsverpflichtungen,<br />

wie im vorliegenden Fall, ergebe sich nur aus<br />

dem jahrelangen Empfang verbotener Zahlungen.<br />

80<br />

BVerfG vom 4. Juli 2007, 2 BvE 1/06, 2/06, 3/06,<br />

4/06, veröffentlicht auf den Netzseiten des BVerfG,<br />

sowie in Teilen in NVwZ 2007, 916 ff. Hier Abs. 217<br />

ff. Vgl. die Besprechung von [=362 - Roßner 2007 Offenlegungspflichte...=]<br />

S. 62 f.<br />

Den Ausführungen des OVG zur Prüfung einer<br />

Verletzung von Art. 14 I GG ist im allgemeinen<br />

zuzustimmen, insbesondere überzeugen die Ausführungen<br />

zur Verhältnismäßigkeit. Hier ist auch<br />

daran zu erinnern, daß die entsprechenden Regelungen<br />

für die außerparlamentarischen Einkommen<br />

von Bundestagsabgeordneten vom BVerfG<br />

für verfassungskonform erachtet wurden 81 , obgleich<br />

sie nicht nur finanzielle Sanktionen für<br />

Zuwiderhandlungen, sondern auch eine Veröffentlichung<br />

des Verstoßes im Bundesanzeiger<br />

vorsehen, § 44a III AbgG, § 8 V Verhaltensregeln<br />

BT. Allerdings ist ein Fragezeichen hinter<br />

die vom OVG behauptete fehlende Maßstäblichkeit<br />

des Eigentumsrechts für § 27 III Nds AbgG<br />

in der Lesart eines Verbotsgesetzes i.S.d § 134<br />

BGB zu setzen. Zwar ist Art. 14 I GG als normgeprägtes<br />

Grundrecht in besonderer Weise auf<br />

Gestaltung durch den Gesetzgeber angewiesen,<br />

Eigentum ist ein Produkt des Rechtssystems.<br />

Gleichwohl ist der Gesetzgeber durch Art. 14 I<br />

GG verpflichtet, Eigentum als Rechtsinstitut in<br />

angemessener Weise zur Verfügung zu stellen,<br />

insoweit bleibt auch ein den Eigentumserwerb<br />

betreffendes Verbotsgesetz an Art. 14 I GG zu<br />

messen. Zudem wäre bei Interpretation von § 27<br />

III Nds AbgG als Verbotsgesetz, mit der Folge<br />

des Ausschlusses eines Eigentumserwerbs durch<br />

den Abgeordneten und des Verbleibs des Eigentums<br />

beim Zuwendenden, zu prüfen, ob § 27 IV<br />

Nds AbgG nicht das Eigentumsrecht des letzteren<br />

verletzt.<br />

Auch eine Verletzung von Art. 3 I GG vermag<br />

das Gericht nicht zu erkennen, weder im Vergleich<br />

von Abgeordneten, die neben ihrem Mandat<br />

abhängig beschäftigt sind zu solchen, die<br />

eine selbständige Tätigkeit ausüben – letztere<br />

seien nämlich ebenso von § 27 III 1 Nds AbgG<br />

erfaßt, für den § 27 III 2 Nds AbgG nur ein Regelbeispiel<br />

darstelle – noch auch im Verhältnis<br />

zu Abgeordneten, deren Tätigkeit eine berufliche<br />

Schweigepflicht mit sich bringe, mit der Folge,<br />

daß eine Sachaufklärung bezüglich von Tätigkeiten,<br />

die § 27 III Nds AbgG unterfallen, von ihnen<br />

verhindert werden kann, da in diesen Fällen<br />

das besondere berufliche Vertrauensverhältnis<br />

eine Schweigepflicht erstens rechtfertige und<br />

81<br />

BVerfG vom 4. Juli 2007, 2 BvE 1/06 u.a.<br />

110


MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung<br />

diese Schweigepflicht zweitens nicht absolut<br />

gelte, so daß die Schweigepflicht bei überwiegendem<br />

öffentlichem Interesse durchbrochen<br />

werden könne.<br />

Eine Verletzung des Zitiergebotes liege nicht<br />

vor, da sich dieses nicht die Regelungsvorbehalte<br />

der Artt. 12 I und 14 I GG beziehe.<br />

Das Bestimmheitsgebot aus Art. 20 III GG und<br />

Art. 1 II Nds Verf sei gleichfalls nicht verletzt.<br />

Zwar sei die gesetzliche Beschreibung der nach<br />

§ 27 III Nds AbgG verbotenen und nach § 27 IV<br />

Nds AbgG abzuführenden Zuwendungen nicht<br />

gesetzlich definiert und daher auslegungsbedürftig.<br />

Diese Auslegung sei aber mit Hilfe der anerkannten<br />

Auslegungsmethoden zu bewerkstelligen.<br />

Eine solche generelle Umschreibung der erfaßten<br />

Sachverhalte sei auch notwendig, da eine<br />

konkrete Aufzählung die Gefahr der Umgehung<br />

in sich trage. Erfaßt seien geldwerte Zuwendungen,<br />

die in dieser Form, insbesondere unter Berücksichtigung<br />

der vom Abgeordneten zu erbringenden<br />

Leistung nicht verkehrsüblich sind und<br />

vom Leistenden in Hinsicht auf das Mandat des<br />

Empfängers gewährt werden. Nicht erforderlich<br />

ist hingegen eine Leistung in Erwartung eines<br />

bestimmten Verhaltens des Abgeordneten.<br />

Das Gericht zieht dadurch sorgfältig den feinen<br />

Trennstrich zwischen § 27 III Nds AbgG und §§<br />

331 ff. StGB. Diese Abgrenzung unterstreicht<br />

die Vorfeldsicherung der Unabhängigkeit des<br />

Abgeordneten als Anliegen der Regelung.<br />

Allerdings sei nicht eindeutig zu ermitteln, ob<br />

der Abführungsanspruch aus § 27 IV Nds AbgG<br />

auch gezahlte Steuern und Sozialabgaben umfasse.<br />

Die Norm sei daher verfassungskonform dahingehend<br />

auszulegen, daß ein Abführungsanspruch<br />

nur bestehe bezüglich der zu unrecht<br />

empfangenen Vergütungen abzüglich der geleisteten<br />

Steuern und Sozialabgaben (wird weiter<br />

ausgeführt). Auch bestehe keine Pflicht zur Herausgabe<br />

etwa tatsächlich durch Anlage der zu<br />

unrecht empfangenen Leistungen erzielten Zinsen.<br />

Umgekehrt komme es für den Abführungsanspruch<br />

auch nicht auf eine etwaige Entreicherung<br />

des Abgeordneten an. Auch alternative Geschehensabläufe<br />

seien nicht zu berücksichtigen,<br />

so etwa eventuell bestehende Lohnfortzahlungsansprüche<br />

wegen Krankheitszeiten oder Freistellungsansprüche<br />

unter Beibehaltung des Anspruchs<br />

auf Bezüge, etwa wegen der Ausübung<br />

kommunaler Mandate.<br />

Bezüglich der Frage nach einer Verjährung der<br />

Ansprüche greift das Gericht mangels speziellerer<br />

öffentlich-rechtlicher Regeln auf die Vorschriften<br />

des BGB zurück.<br />

Insgesamt folgt das Urteil der vom BVerfG vorgegebenen<br />

Linie und betont die Notwendigkeit<br />

der Unabhängigkeit der Abgeordneten von finanzieller<br />

Beeinflussung durch private Partialinteressen.<br />

Der Sächsische VerfGH hat sich in seinem Urteil<br />

vom 29. August 2008 82 – Az. Vf. 154-I-07 –<br />

mit Fragen des Untersuchungsausschußrechts<br />

befaßt. Das Organstreitverfahren durch den 2.<br />

Untersuchungsausschuß der 4. Wahlperiode, der<br />

sich mit eventuellen Defiziten bei der Bekämpfung<br />

der organisierten Kriminalität befaßte, wurde<br />

gegen die Landesregierung des Freistaates<br />

Sachsen wegen Verletzung von Rechten des Untersuchungsausschusses<br />

durch Unterlassen der<br />

Herausgabe einiger vom Ausschuß angeforderter<br />

Aktenstücke angestrengt. Das Gericht stellte zunächst<br />

die ordnungsgemäße Einsetzung des Ausschusses<br />

fest. Das Kriterium des „öffentlichen<br />

Interesses“ an einem Untersuchungsausschuß<br />

entfalte dabei begrenzende Wirkung nur im Falle<br />

einer Ausforschung der Privatsphäre, sei hingegen<br />

bei Mißstandsenquête – wie hier vorliegend<br />

– regelmäßig indiziert. Weiterhin werde der Untersuchungsauftrag<br />

den Kriterien der Bestimmtheit<br />

und Begrenztheit nach Art. 54 I 2 Sächs<br />

Verf gerecht, die sich aus dem Rechtsstaats- und<br />

Gewaltenteilungsgebot ergeben. Der Untersuchungsausschuß<br />

greife auch nicht unzulässig in<br />

der Bereich der Rechtsprechung ein, indem er<br />

Geschäftsverteilungspläne einiger Gericht anfordere.<br />

Allerdings liege insoweit eine Verletzung<br />

des Kernbereichs exekutiver Eigenverantwortung<br />

vor, als einzelne Themenkreise des Untersuchungsauftrags<br />

Maßnahmen der Landesregierung<br />

zum Gegenstand hätten, die zum Zeitpunkt<br />

der Einsetzung des Untersuchungsausschusses<br />

noch nicht abgeschlossen waren. Dies wider-<br />

82<br />

Zusammenfassung veröffentlicht in NJ 2008, 506 ff.<br />

111


Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

spricht dem Grundsatz, daß sich das parlamentarische<br />

Untersuchungsrecht nur auf bereits abgeschlossene<br />

Vorgänge erstrecke. Dadurch werde<br />

der Untersuchungsauftrag allerdings nicht in seiner<br />

Gesamtheit verfassungswidrig, die unzulässigen<br />

Teile ließen sich vielmehr abtrennen. Die<br />

von der Landesregierung vorgenommene pauschale<br />

Verweigerung der Aktenherausgabe sei<br />

daher verfassungswidrig.<br />

Das VerfGH des Saarlandes hatte über einen<br />

Organstreit 83 zwischen einer Abgeordneten des<br />

Landtages und dem Landtag zu entscheiden. Die<br />

Antragstellerin war als Mitglied der Fraktion<br />

Bündnis '90/Die Grünen zur Zweiten Schriftführerin<br />

des Präsidiums gewählt worden. Nach Austritt<br />

aus der Fraktion bestimmte der Landtag eine<br />

andere Abgeordnete der Fraktion Bündnis '90/<br />

Die Grünen zur Zweiten Schriftführerin. Die Antragstellerin<br />

sah darin eine Verletzung von Art.<br />

70 I Verf Saarland (Geschäftsordnungsautonomie)<br />

und von Art. 70 II Verf Saarland (Wahl des<br />

Präsidiums) i.V.m. § 33 LtG Saarland (Wahl von<br />

Präsidium und Schriftführern für eine volle<br />

Wahlperiode). Sie sah sich weiterhin in ihren<br />

Rechten aus Art. 66 II 1 Verf Saarland verletzt.<br />

Der Antrag wurde, soweit eine Verletzung von<br />

Art. 70 Verf Saarland gerügt wurde, als unzulässig<br />

verworfen. Die in Art. 70 I Verf Saarland garantierte<br />

Geschäftsordnungsautonomie beinhalte<br />

keine Aussage über die Abberufbarkeit von<br />

Schriftführern und garantiere auch nicht den Inhalt<br />

von § 33 LtG Saarland in verfassungsrechtlicher<br />

Weise. Gleiches gelte auch für Art. 70 II<br />

Verf Saarland; vielmehr sei es, soweit Art. 70<br />

Verf Saarland in Rede stehe, dem einfachen Gesetzgeber<br />

freigestellt, die Amtsdauer von Landtagspräsidium<br />

und Schriftführern auch anders zu<br />

regeln, als in § 33 LtG Saarland geschehen. Die<br />

Existenz einer ungeschriebenen Verfassungsnorm<br />

über das Verbot einer vorzeitigen Abberufung<br />

von Präsidiumsmitgliedern und Schriftführern<br />

brauche nicht erörtert zu werden, da im Organstreitverfahren<br />

die Benennung der gerügten<br />

Verfassungsnormen durch den Antragsteller<br />

zwingend vorgeschrieben sei, § 40 II VerfGH<br />

Saarland. Aus dem Antrag ergebe sich eine ent-<br />

83<br />

Urteil vom 3. Dezember 2007, Lv 12/07. Veröffentlicht<br />

in LKRZ 2008, 96 ff.<br />

sprechende Beschränkung des Prüfungsumfanges<br />

für den VerfGH. Eine Verletzung von<br />

Art. 66 II 1 Verf Saarland komme hingegen in<br />

Betracht, insoweit sei der Antrag zulässig.<br />

Der VerfGH prüft dann unter zwei Aspekten<br />

eine Verletzung von Art. 66 II Verf Saarland.<br />

Zunächst geht das Gericht darauf ein, ob Art. 66<br />

II Verf Saarland als Recht auf formalisierte<br />

Gleichbehandlung einen Schutz des einzelnen<br />

Abgeordneten vor willkürlicher Anwendung<br />

bzw. Nichtbeachtung einfachen Parlamentsrechts,<br />

hier von § 33 LtG Saarland, biete. Der<br />

VerfGH entwickelt seine Antwort auf diese Frage<br />

von der Grundlage des Gleichbehandlungsanspruchs<br />

der Parlamentarier her: Dieser sei, so der<br />

der VerfGH, organschaftlich fundiert und beziehe<br />

sich auf die Mitwirkungsrechte der Parlamentarier<br />

innerhalb des Parlaments. Die Reichweite<br />

des Gleichheitsgebotes unter Parlamentariern sei<br />

aber auf die allen Parlamentsmitglieder gleichermaßen<br />

zustehenden Mitwirkungsrechte beschränkt<br />

und beziehe sich nicht auf solche Unterschiede,<br />

die aus der funktional notwendigen<br />

Differenzierung der parlamentarischen Funktionen<br />

herrühren. Das Gericht führt weiter aus, daß<br />

die Abberufung aus dem Präsidium auch nicht<br />

einem in das freie Mandat eingreifenden hoheitlichen<br />

Akt vergleichbar sei und insofern die<br />

Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts<br />

zu dem weitgehenden Verbot der Differenzierungen<br />

der Abgeordnetenentschädigung 84 nicht<br />

übertragen werden könne, die von dem Schutz<br />

des freien und gleichen Mandats vor einer Orientierung<br />

an einer „Abgeordnetenlaufbahn“ als wesentlichem<br />

Argument getragen wird. Insofern<br />

betreffe eine Nichtanwendung von § 33 LtG<br />

Saarland die Gleichheit der Abgeordneten nicht<br />

und könne keine Verletzung von Art. 66 II 1<br />

Verf Saarland darstellen.<br />

Der VerfGH befaßte sich weiterhin mit der Frage,<br />

ob die Abberufung eines nicht fraktionsgebundenen<br />

Präsidiumsmitgliedes eine ungerechtfertigte<br />

Ungleichbehandlung im Verhältnis zu<br />

den fraktionsangehörigen Präsidiumsmitgliedern<br />

darstelle. Das Gericht zieht dazu einen Vergleich<br />

zu den vom Bundesverfassungsgericht herausge-<br />

84<br />

BVerfGE 40, 296 ff.; 102, 224 ff.<br />

112


MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung<br />

arbeiteten Ansprüchen eines fraktionslosen Abgeordneten<br />

auf Mitgliedschaft in einem Parlamentsausschuß<br />

85 und kommt zu dem Ergebnis,<br />

daß die Arbeit in den Ausschüssen als zentraler<br />

Bestandteil der Repräsentation des Volkes von<br />

dem Schutz des Mandats aus Art. 66 II Verf<br />

Saarland umfaßt ist, während dies für die Arbeit<br />

in der Selbstverwaltung des Parlaments nicht<br />

gelte.<br />

Zuletzt widmet sich der VerfGH der Auslegung<br />

von § 33 LtG Saarland und gelangt zu dem Ergebnis,<br />

diese Norm stelle ohnedies kein Verbot<br />

einer Abberufung von parlamentarischen Schriftführern<br />

vor Ablauf der Wahlperiode dar, so daß<br />

auch von daher eine Verletzung von Art. 66 II 1<br />

Verf Saarland durch die Abberufung der Antragstellerin<br />

als Schriftführerin ausscheide.<br />

Das Urteil stellt eine weitere Verfeinerung der<br />

Bestimmung parlamentarischer Mitwirkungsrechte<br />

fraktionsloser Abgeordneter dar. Wesentlich<br />

ist dabei die Herausarbeitung des Unterschiedes<br />

zwischen Mitwirkung an der Repräsentation<br />

des Volkes etwa durch Mitarbeit in parlamentarischen<br />

Ausschüssen und der Mitwirkung<br />

in der parlamentarischen Selbstverwaltung in<br />

den entsprechenden Gremien.<br />

5. Wahlrecht<br />

Sebastian Roßner, M.A.<br />

Das BVerfG 86 entschied, dass Regelungen aus<br />

welchen sich ein negatives Stimmgewicht ergibt,<br />

verfassungswidrig sind. Dabei geht es um Regelungen,<br />

durch die eine Partei, die in einem Land<br />

Überhangmandate erwirbt, in einem anderen<br />

Mandate verliert oder durch die die Nichtabgabe<br />

der Stimme positiv für eine Partei wirkt. Dies<br />

verletzte die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit<br />

der Wahl. Eine solche Regelung<br />

kann auch nicht durch zwingende Gründe gerechtfertigt<br />

werden. Abgelehnt wurde hingegen,<br />

dass eine nicht-öffentliche Stimmauszählung gegen<br />

den Grundsatz der Öffentlichkeit verstoße.<br />

Dieser gebiete nicht die Öffentlichkeit aller<br />

Handlungen im Zusammenhang mit der Wahl.<br />

Dem Gesetzgeber wurde eine Frist bis zum 30.<br />

85<br />

BVerfGE 80, 188 ff.<br />

86<br />

Urteil vom 03.07.2008, NJW 2008, 2700.<br />

Juno 2011 zur Schaffung einer verfassungsmäßigen<br />

Regelung gesetzt.<br />

Weiterhin urteilte das BVerfG 87 , dass die 5-%-<br />

Klausel im Kommunalwahlgesetz Schleswig-<br />

Holstein gegen die Wahlrechtsgleichheit verstößt.<br />

Eine Rechtfertigung damit, dass durch die<br />

Regelung (rechts-)extremistische Parteien fernzuhalten<br />

seien trägt nicht, da alle Parteien gleichermaßen<br />

durch die Regelung betroffen werden.<br />

Auch durch eine Sicherung der Gemeinwohlorientierung<br />

kann ein solcher Eingriff nicht<br />

gerechtfertigt werden. Der politische Prozess<br />

soll gerade auch im kommunalen Bereich durch<br />

lediglich lokal agierende Wählergruppen bereichert<br />

werden. Schließlich vermag auch eine<br />

Rechtfertigung mit der Funktionsfähigkeit der<br />

Volksvertretung nicht zu tragen. Die Funktionsfähigkeit<br />

der Gemeindeverwaltung wird insbesondere<br />

durch den direkt gewählten hauptamtlichen<br />

Bürgermeister sowie den Landrat gewährleistet.<br />

Eine Funktionsuntüchtigkeit in der<br />

Volksvertretung ist auch deswegen zu verneinen,<br />

da für Sachentscheidungen eine relative Entscheidungsmehrheit<br />

ausreicht. Eine Gefährdung<br />

der Ausschussarbeit vermag das Gericht ebenso<br />

nicht zu entdecken. Außerdem seien in anderen<br />

Ländern ohne 5-%-Klausel keine schwerwiegenden<br />

Störungen festzustellen.<br />

Der VerfGH Thüringen 88 erklärte die 5-%-<br />

Sperrklausel im Thüringischen Kommunalwahlgesetz<br />

für nichtig. In der Begründung schließt er<br />

sich dabei weitgehend der Begründung des<br />

BVerfG zur Entscheidung zur 5-%-Klausel in<br />

Schleswig-Holstein an. So begründet er die Entscheidung<br />

zunächst damit, dass die Erhaltung<br />

der Stabilität politischer Entscheidungen als legitimes<br />

Ziel zur Rechtfertigung ausscheidet. Dies<br />

sei der Fall, da der direkt demokratisch legitimierte<br />

Bürgermeister eine starke Stellung besitze<br />

und damit für die notwendige Kontinuität sorgen<br />

könne. Die Gemeindevertretung hingegen solle<br />

die Vielfalt in der Bevölkerung abbilden. Durch<br />

Kompromisse sei weiter die Haushaltsplanung<br />

nicht beeinträchtigt, und das Wahlverfahren zu<br />

den Beigeordneten schließe durch das Losver-<br />

87<br />

Urteil vom 13.02.2008, KommJur 2008, 248-258.<br />

88<br />

Urteil vom 11.04.2008, NJ 2008, 262-263.<br />

113


Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

fahren ein Scheitern aus. Auch dem Vorwurf,<br />

kleine Wählergruppen verträten nicht das Gemeinwohlinteresse,<br />

erteilt der VerfGH eine Absage.<br />

Das Gemeinwohl entstehe erst durch die<br />

Transformation von verschiedenen Meinungen<br />

im politischen Prozess. Ebenfalls vermag der<br />

Ausschluss rechtsextremer Parteien eine solche<br />

Klausel nicht zu rechtfertigen, da sie zum einen<br />

nicht gegen diese wirkt und zum anderen das<br />

Monopol zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit<br />

beim BVerfG liegt.<br />

Der HessVGH 89 entschied in einem Fall der<br />

Rundfunkwerbung, dass die öffentlich-rechtlichen<br />

Rundfunkanstalten bei nicht evidenten<br />

strafrechtlichen Verstößen gehalten sind, Wahlwerbespots<br />

trotz verfassungsrechtlicher Bedenken<br />

auszustrahlen. Dazu führt er aus, dass der<br />

Wähler umfassend über das politische Programm<br />

einer Partei informiert werden soll. Weiterhin sei<br />

der Intendant auf eine summarische Prüfung beschränkt,<br />

weshalb der Prüfungsbefugnis besonders<br />

enge Grenzen gesetzt sind. Weiter führt er<br />

aus, dass bei der Parole „Ausweisung aller kulturfremder<br />

Ausländer“ kein evidenter strafrechtlicher<br />

Verstoß vorliegt.<br />

Das VerfG Mecklenburg-Vorpommern 90 urteilte,<br />

dass die Verlängerung der Wahlperiode<br />

für den Landtag auf fünf Jahre landesverfassungsgemäß<br />

sei. Dazu führt es zunächst aus,<br />

dass die Verletzung von Wahlrechtsgrundsätzen<br />

mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden<br />

könne. Weiterhin führt es aus, dass die Verfassung<br />

auch durch Gesetz und nicht nur durch<br />

eine Volksabstimmung geändert werden könne.<br />

Durch die Verlängerung der Wahlperiode sieht<br />

das Gericht zwar den Grundsatz der Demokratie<br />

betroffen, allerdings verweist es auf die Rechtsprechung<br />

des BVerfG, das festgestellt hat, dass<br />

eine Wahlperiode nicht zwingend nur vier Jahre<br />

betragen dürfe, und auf die Regelung anderer<br />

Bundesländer. Außerdem sei durch die Möglichkeit<br />

direkt-demokratischer Elemente in der Verfassung<br />

die Möglichkeit der Mitbestimmung des<br />

Volkes hinreichend gewahrt.<br />

89<br />

Beschluss vom 04.01.2008, DÖV 2008, 340-341.<br />

90<br />

Urteil vom 26.06.2008, NJ 2008, 407-408.<br />

Das NdsOVG 91 entschied, dass durch ein Zeitungsinterview<br />

das Gebot der Neutralität eines<br />

Amtsträgers im Wahlkampf verletzt werden<br />

kann. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn<br />

aus der drucktechnischen Gestaltung dieses Interviews<br />

mit einem Amtsträger nicht hervorgeht,<br />

dass es sich um eine Wahlwerbung einer Partei<br />

handelt. Auch ist nicht mehr von einer rein privaten<br />

Meinungsäußerung auszugehen, wenn besonders<br />

auf die Amtsträgereigenschaft hingewiesen<br />

und damit suggeriert wird, der Interviewte<br />

habe besondere Sachkompetenz zur Beurteilung<br />

des Kandidaten. Der Einfluss dieser Interviews<br />

werde weiterhin nicht dadurch geschmälert, dass<br />

es in der regionalen Tagespresse kritische aufgenommen<br />

worden ist. Diese erreiche grundsätzlich<br />

ein anderes Publikum als das fragliche Wochenblatt.<br />

Des weiteren sei nicht jeder, der ein<br />

Interview lese, auch an dessen Kommentar interessiert.<br />

Das OVG MV 92 beschloss, dass keine Beeinflussung<br />

der Wahl durch Unterlassung vorliege,<br />

wenn der normale Geschäftsgang der Information<br />

der Bürgerinnen und Bürger eingehalten wird.<br />

Das OVG des Saarlandes 93 urteilte, dass einseitig<br />

an einen Kandidaten oder eine Partei über das<br />

Zulässige hinaus erteilte Auskünfte aus dem<br />

Melderegister gegen den Grundsatz der Wahlgleichheit<br />

verstoßen kann. Keinen Verstoß stellt<br />

hingegen die Auskunft bei Versäumung der öffentlichen<br />

Bekanntmachung des Widerspruchsrechts<br />

dar, wenn der einzige Gegenkandidat aus<br />

anderen Erwägungen auf eine Auskunft verzichtet.<br />

Das VG Würzburg 94 entschied, dass die Behörde<br />

bei der Ablehnung von Sondernutzungserlaubnissen<br />

insbesondere für politische Parteien<br />

die Ermessensentscheidung begründet werden<br />

muss.<br />

Das VG Regensburg 95 urteilte, dass der unbestimmte<br />

Rechtsbegriff „beherrschend betreibt“<br />

91<br />

Urteil vom 26.03.2008, NdsVbl. 2008, 207-210.<br />

92<br />

Beschluss vom 29.02.2008, DÖV 2008, 828.<br />

93<br />

Urteil vom 04.04.2008, NVwZ-RR 2008, 638.<br />

94<br />

Beschluss vom 30.05.2008, - W 4 E 08.1047 -.<br />

95<br />

Urteil vom 01.10.2008, - RN 3 K 08.00955-.<br />

114


MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung<br />

im Sinne des Art. 24 Abs. 3 S. 2 Nr. 4 GLKrWG<br />

ausschließlich nach formalen Gesichtspunkten<br />

zu beurteilen ist. Ein solches Betreiben liegt danach<br />

insbesondere dann nicht vor, wenn der<br />

Wahlvorschlag von Wahlberechtigten stamme,<br />

die nicht auch einen anderen Wahlvorschlag aufgestellt<br />

haben. Demgegenüber ist es unerheblich,<br />

ob auch Mitglieder von Parteien die eine andere<br />

Liste aufgestellt haben, auf der zweiten Liste<br />

kandidieren. Vielmehr sei dies erst dann der Fall,<br />

wenn die Partei so beherrschend Einfluss nimmt,<br />

dass Einflussmöglichkeiten anderer Mitglieder<br />

ausgeschlossen sind. Auch ist es möglich, dass<br />

ein Wahlvorschlag die Unterstützung eines anderen<br />

Wahlvorschlags erhält, ohne dass von einem<br />

Beherrschen die Rede sein kann.<br />

Julia Figura<br />

115


Rezensionen<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Rezensionen<br />

Christian A. Sirch: Die Strafbarkeit der Parteispendenakquisition<br />

– Ein Beitrag zum Tatbestand<br />

der Vorteilsannahme, Frankfurt<br />

a.M., Peter Lang Internationaler Verlag für<br />

Wissenschaften 2008. ISBN 978-3-631-57153-<br />

8. 260 Seiten. € 45,50.<br />

Für viel Furore sorgte vor wenigen Jahren der<br />

Spendenskandal um den Wuppertaler Oberbürgermeister<br />

Kremendahl. Er wurde wegen Einwerbens<br />

von Wahlkampfspenden an seine Partei<br />

der strafbaren Vorteilsannahme beschuldigt.<br />

Schon der Prozessgang vom erstinstanzlichen<br />

Landgericht Wuppertal zum Bundesgerichtshof,<br />

zurück zum Landgericht (diesmal Dortmund)<br />

und schließlich erneut zum Bundesgerichtshof<br />

veranschaulicht, dass es sich bei der Thematik<br />

der Wahlkampfspenden und ihrer strafrechtlichen<br />

Einordnung um keine eindeutige Materie<br />

handelt. Einerseits wird das Einwerben von<br />

Spenden an Parteien durch das Parteiengesetz<br />

ausdrücklich gewünscht und sogar honoriert, andererseits<br />

wurde aber durch die Erweiterung des<br />

Tatbestandes der Vorteilsannahme im Zuge des<br />

Korruptionsbekämpfungsgesetzes 1997 dieser so<br />

umfassen, dass Fälle von Wahlkampfspenden<br />

nunmehr ebenfalls darunter fallen. So insbesondere<br />

auch Spenden im Regionalwahlkampf, der<br />

sich an konkreten Umsetzungsprogrammen orientiert,<br />

sobald diese von einem Parteimitglied<br />

entgegengenommen werden, welches bereits ein<br />

Amt innehat. Die rechtliche Einordnung der<br />

Wahlkampfspenden befindet sich durch ihre<br />

Zwitterstellung, einerseits gefordert andererseits<br />

sanktioniert, in einer vor allem für die Spendenempfänger<br />

rechtlich nicht abschätzbaren Grauzone.<br />

Zu deren Erhellung und einer eindeutigen<br />

Strafbarkeitsabgrenzung der Entgegennahme<br />

von Wahlkampfspenden leistet Christian A.<br />

Sirch mit seinem Werk „Die Strafbarkeit der<br />

Parteispendenakquisition“ einen Beitrag.<br />

Mit dem Landgericht Wuppertal und dem Bundesgerichtshof<br />

geht der Autor dabei, hauptsächlich<br />

wegen des Gebots der Wahlgleichheit, von<br />

einem generellen Bedürfnis zur Strafbarkeitsrestriktion<br />

der Vorteilsannahme im Falle von<br />

Wahlkampfspenden aus. Den dazu eingeschlagenen<br />

Weg von Landgericht und Bundesgerichtshof,<br />

nämlich einer Strafbarkeitsrestriktion bereits<br />

durch einen Tatbestandsausschluss, hält der Autor<br />

allerdings für eine dogmatisch kritikwürdige<br />

Konzeption, der er nicht folgen will. Stattdessen<br />

setzt er sich zunächst mit weiteren in Literatur<br />

und Rechtsprechung hauptsächlich zur ähnlich<br />

gelagerten Problematik der Drittmitteleinwerbung<br />

an Hochschulen entwickelten Überlegungen<br />

auseinander, ehe er letztlich einen eigenen<br />

dogmatischen Lösungsansatz konzipiert.<br />

Der erste, für die Fülle des bearbeiteten Meinungsspektrums,<br />

überraschend knappe Teil,<br />

zeichnet sich insbesondere durch seine präzise<br />

und auf das Wesentliche beschränkte Darstellung<br />

aus. Im Anschluss erklärt der Autor unter<br />

einer sorgfältigen Darlegung von Gründen alle<br />

dargestellten Möglichkeiten zur Lösung der Problematik<br />

für untauglich. Abschließend entwickelt<br />

er, basierend auf einer Idee von Schreier<br />

zur Drittmitteleinwerbung, eine eigene Lösung<br />

der Problematik, interessanterweise anzusiedeln<br />

auf der Rechtfertigungsebene. Danach soll die<br />

Annahme von Wahlkampfspenden durch Amtsträger<br />

sehr wohl den Tatbestand der Vorteilsannahme<br />

erfüllen, anschließend aber, nach einer<br />

gründlichen Abwägung in verfassungsrechtlicher<br />

Manier, durch den Verfassungsgrundsatz der<br />

Wahlgleichheit bzw. der Wettbewerbsgleichheit<br />

im Wahlkampf gerechtfertigt sein.<br />

Diese Lösung überzeugt sehr. Die Abgrenzungsprobleme<br />

zwischen einer zulässigen und damit<br />

straffreien Parteienunterstützung und einer unzulässigen,<br />

strafbewehrten Verknüpfung von Spende<br />

und Gegenleistung lassen sich nur unter Zuhilfenahme<br />

einer Gesamtschau des konkreten<br />

Einzelfalles lösen. Eine flexible Abwägung auf<br />

der Rechtfertigungsebene scheint dafür das angemessene<br />

Instrumentarium zu sein, und vorzugswürdig<br />

gegenüber einer pauschal einschränkenden<br />

Auslegung des Tatbestandes.<br />

116


MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Rezensionen<br />

Der Fall Kremendahl hat inzwischen mit einem<br />

endgültigen Freispruch seinen Abschluss gefunden.<br />

Wäre das Buch von Christian A. Sirch früher<br />

erschienen – wer weiß – vielleicht sogar mit<br />

einer anderen Begründung.<br />

Antje Sadowski<br />

Genett, Timm: Der Fremde im Kriege. Zur<br />

politischen Theorie und Biographie von Robert<br />

Michels 1876-1936, Akademie Verlag,<br />

Berlin 2008, ISBN 978-3-05-004408-8, 852<br />

Seiten, € 89,80.<br />

1. Die umfangreiche Untersuchung hat sich das<br />

anspruchsvolle Ziel gesetzt, eine „intellektuelle<br />

Biographie“ von Robert Michels zu leisten, will<br />

also dessen Denken in einem biographischen<br />

Rahmen darstellen und gerade dadurch ein besseres<br />

Verständnis der Schriften ermöglichen.<br />

Nun gilt gemeinhin der Versuch, Werk und Autor<br />

derart stark zu parallelisieren, als eher naive<br />

Subjektivierung, die gerade das charakteristische,<br />

jedem selbst nur ein wenig literarisch Tätigen<br />

wohlbekannte Eigenleben der Texte ignoriert<br />

und statt dessen (Über-)Interpretationen anhand<br />

der ermittelten oder unterstellten tatsächlichen<br />

Erlebnisse des Autors vornimmt. Joachim<br />

Radkaus voluminöse Max-Weber-Biographie<br />

lieferte jüngst – bei allen Verdiensten – ein Beispiel<br />

für ein derartiges Vorgehen. Genett hat sich<br />

indes mit Michels geschickt einen Protagonisten<br />

ausgesucht, der das gewählte Vorgehen rechtfertigt,<br />

wenn nicht erfordert: Zum einen ist hier die<br />

schriftstellerisch-wissenschaftliche Tätigkeit jedenfalls<br />

zu Beginn so eng mit der politischen<br />

verknüpft, daß jede Trennung künstlich erscheinen<br />

müßte. Zum anderen aber leidet speziell die<br />

Rezeption Robert Michels’ noch heute an einer –<br />

zum Teil durch fortwirkende entsprechende Stilisierungen<br />

des späten Michels selbstverschuldeten<br />

– pauschalen, und wie Genett zeigt: großenteils<br />

verfehlten Einordnung als pessimistischer<br />

Elitetheoretiker, radikaler Parteienskeptiker und<br />

Präfaschist. Gerade weil also das Werk häufig<br />

ohnehin auf der Folie der Biographie gelesen<br />

wird – allerdings von deren Ende her –, lohnt die<br />

von Genett unternommene, skrupulöse und in<br />

chronologischer Reihenfolge vorgehende Untersuchung<br />

der Entwicklungslinien.<br />

2. Auf diesem Wege unternimmt die Schrift eine<br />

grundlegende Revision von Robert Michels’ politischem<br />

Werk und Leben und stellt dabei – auf<br />

Basis einer umfassenden Durchdringung der<br />

weit verstreuten, in mehreren Sprachen verfaßten<br />

Veröffentlichungen einschließlich des Nachlasses<br />

sowie unter Bezug namentlich auf die italienische<br />

Forschungsliteratur – immer wieder<br />

scheinbar feststehende Einsichten der Michels-<br />

Forschung in Frage. Das gilt indes nicht für die<br />

grundlegende Bedeutung der „Soziologie des<br />

Parteiwesens in der modernen Demokratie“, dem<br />

1911 (in 2. Aufl. 1925) erschienenen, noch heute<br />

gut lesbaren und zu weiten Teilen aktuellen<br />

Hauptwerk. Gerade in ihrer Ausführlichkeit<br />

macht nämlich die von Genett auf den ersten 400<br />

Seiten unternommene Untersuchung der praktischen<br />

Rolle Michels’ in der SPD einerseits und<br />

der theoretischen Arbeit andererseits deutlich,<br />

wie beide, für sich genommen noch ohne größere<br />

eigenständige Bedeutung, schließlich die Erkenntnisse<br />

der Parteiensoziologie vorbereiten.<br />

Genett zeigt dabei Michels als einen eigenständigen<br />

und gerade deshalb auch in beinahe stetem<br />

Konflikt mit der eigenen Partei befindlichen politischen<br />

Denker, der keineswegs utopischen, direktdemokratischen<br />

Vorstellungen anhängt, vielmehr<br />

einen strikt republikanischen, antimonarchischen,<br />

aber eben auch parlamentarischen Weg<br />

präferiert und insoweit Hoffnungen in volkspädagogische<br />

Anstrengungen setzt. Deshalb kann<br />

Genett auch die Qualifizierung Michels’ als eines<br />

(sorelianischen) Syndikalisten widerlegen,<br />

weil dieser zwar die Bedeutung der Gewerkschaften<br />

und des (Massen-)Streiks betonte, aber<br />

zugleich am Repräsentationsprinzip und dem<br />

Primat der politischen Partei festhielt sowie insbesondere<br />

ganz grundsätzlich die Gewalt als<br />

Kampfmittel ablehnte. In diesem Sinne erscheint<br />

uns Michels als geradezu tragisch zwischen allen<br />

Stühlen sitzend: In der Partei immer wieder in<br />

Opposition zur Parteiführung, zudem grundsätzlich<br />

als Akademiker kritisch beäugt, blieb ihm<br />

im wilhelminischen Deutschland umgekehrt die<br />

Möglichkeit einer Habilitation infolge der Parteizugehörigkeit<br />

verwehrt. Dem (dauerhaften) Umzug<br />

nach Italien geht insoweit eine doppelte Enttäuschung<br />

voran, und gleichwohl erweist sich<br />

die Parteiensoziologie, wie Genett überzeugend<br />

117


Rezensionen<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

nachweist, als Resultat nicht so sehr einer Abrechnung<br />

mit den Parteien, sondern der mit der<br />

nun ermöglichten akademischen Laufbahn einhergehenden,<br />

stärker der wissenschaftlichen externen<br />

Beobachterposition zugewandten Perspektive.<br />

Die Parteiensoziologie wird deshalb<br />

sowohl auf ihre pessimistischen wie auf ihre demokratiepädagogischen<br />

Sinngehalte untersucht.<br />

Tatsächlich steht das Werk keineswegs allein<br />

unter der Vorgabe einer Desillusionierung der<br />

vergeblich auf die Parteien hoffenden Demokraten,<br />

sondern sieht allen konkreten Problemen<br />

zum Trotz letztlich keine sinnvolle Alternative<br />

zum Parlamentarismus. Weil unzureichende Organisation<br />

fehlende Durchsetzung bedingt, Organisation<br />

aber unweigerlich oligarchische Züge<br />

bedingt, ist eine Entscheidung zwischen Skylla<br />

und Charybdis geboten. Michels läßt gegen Ende<br />

seines Hauptwerks jedenfalls die Möglichkeit<br />

gelten, durch sozialpädagogischer Aufklärung<br />

den unvermeidlichen Oligarchisierungstendenzen<br />

entgegenzuwirken. Genett arbeitet diese unterschiedlichen<br />

Blickrichtungen exakt heraus,<br />

zeigt aber gerade damit, warum es zu kurz greift,<br />

die Parteiensoziologie als Wegbereiterin der späteren<br />

Hinwendung zum Totalitarismus zu verstehen.<br />

Deren Gründe werden hingegen ihrerseits<br />

nachvollziehbar dargelegt.<br />

3. Das Buch ist uneingeschränkt zu empfehlen.<br />

Der Autor läßt sich von seinem Untersuchungsgegenstand<br />

fesseln und bis hin zur persönlichen<br />

Sammelleidenschaft begeistern (ein Gutteil der<br />

Nachweise stammen aus dem mit Michels-Memorabilien<br />

gefüllten Genettschen Privatarchiv);<br />

er verliert dabei aber niemals die wissenschaftlich<br />

gebotene Distanz. Der Text gewinnt somit<br />

sogar eine besondere Spannung aus dem Kontrast<br />

der Sprachfärbung: Die im Stil unserer Wissenschaftszeit<br />

relativ kühl gehaltene, beschreibende<br />

Analyse des Autors selbst ist immer wieder<br />

durchsetzt mit den auffallend eruptiven, von<br />

(wenn auch: sich wandelnden) idealistischen<br />

Wertvorstellungen geprägten Äußerungen Michels’.<br />

Das Buch stellt aus diesem Grunde auch<br />

keinesfalls eine platte Apologie dar, sondern arbeitet<br />

gerade Michels’ Verwicklungen in den<br />

sich entwickelnden italienischen Faschismus<br />

präzise heraus. Durch die umfassende Kontextreflexion<br />

werden aber auch diese Entscheidungen<br />

im Gesamtzusammenhang des Werks eingeordnet<br />

und die Selbstdemontage des stets kritischen<br />

Geists Robert Michels damit ein Stück<br />

weit relativiert.<br />

Dr. Steffen Augsberg, Köln<br />

Gerrit Manssen (Hrsg.): Die Finanzierung<br />

von politischen Parteien in Europa. Bestandsaufnahme<br />

und europäische Perspektive. PE-<br />

TER LANG Internationaler Verlag der Wissenschaften,<br />

Frankfurt 2008. ISBN 978-3-631-<br />

57515-4. 253 Seiten. € 45,50.<br />

Der jüngst erschienene Sammelband „Die Finanzierung<br />

von politischen Parteien in Europa“, herausgegeben<br />

von Gerrit Manssen, Prof. für Öffentliches<br />

Recht, insbesondere Deutsches und<br />

Europäisches Verwaltungsrecht, an der Universität<br />

Regensburg, dokumentiert, teils auch in englischer<br />

Sprache, die Beiträge eines Symposiums<br />

zum System und zur Finanzierung politischer<br />

Parteien in Deutschland, Österreich, Litauen, Polen,<br />

Ungarn, Ukraine, Weißrussland, Russland<br />

und der Europäischen Union. Das rechtsvergleichende<br />

Symposium fand 2006 in Vilnius in Zusammenarbeit<br />

mit der Juristischen Fakultät der<br />

Universität Vilnius und dem Obersten Wahlausschuss<br />

des Parlaments der Republik Litauen<br />

statt. Der Schwerpunkt der einzelnen Länderreferate<br />

liegt auf der Parteienfinanzierung. Flankierend<br />

wurden einzelne Referate zu ausgewählten<br />

Aspekten des allgemeinen Parteienrechts, sowie<br />

des Parteisystems einbezogen. In der wissenschaftlichen<br />

Literatur sind nur wenige aktuelle<br />

Länderberichte zum Parteienrecht und zur Parteienfinanzierung<br />

vorhanden. Daher ist es ein<br />

großer Verdienst des Sammelbandes neun Länderberichte<br />

zur Parteienfinanzierung zu bündeln.<br />

Auch der Blick auf die europäische Ebene von<br />

Dr. Harald Eberhard, wissenschaftlicher Mitarbeiter<br />

am österreichischen Verfassungsgerichtshof<br />

in Wien, und Dr. Konrad Lachmayer, Assistent<br />

an der Universität Wien, sowie die Darlegung<br />

der generelle Rolle der Parteien in einem<br />

demokratischen Staat von Uwe Kischel, Professor<br />

an der Universität Greifswald, und Elena<br />

Gritsenko, Professorin an der Universität St. Pe-<br />

118


MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Rezensionen<br />

tersburg, ist hilfreich. Der informierte Leser gewinnt<br />

hier aber keine neuen Erkenntnisse. Der<br />

Lesefreundlichkeit dienlich wäre ein Verzeichnis<br />

mit einigen bibliographischen Angaben zu den<br />

Autoren gewesen.<br />

Zu den neuen Länderberichten ist folgendes anzumerken:<br />

Den Auftakt macht ein kurzes Einführungsreferat<br />

von Zenonas Vaigauskas, Vorsitzender des<br />

Obersten Wahlausschusses des Parlamentes der<br />

Republik Litauen (S. 9 ff.). Vaigauskas befasst<br />

sich mit der Finanzierung der politischen Parteien<br />

aus der Sicht der Republik Litauen. Das Gesetz<br />

über die Finanzierung und die Finanzierungskontrolle<br />

der politischen Parteien und der<br />

politischen Aktionen in Litauen wurde vom Parlament<br />

nach einem Skandal bei der Finanzierung<br />

einiger Parteien kurz vor der Parlamentswahl im<br />

Jahre 2004 reformiert. Dieses Gesetz legt strenge<br />

Regeln der Finanzierung politischer Aktionen<br />

fest und schränkt auch die Höhe der Spenden<br />

ein. Der Anspruch der Gesellschaft auf vollständige<br />

Transparenz der Finanzierung der politischen<br />

Parteien ist in den letzten Jahren stark angewachsen.<br />

Eine umfassende Kontrolle ist aufgrund<br />

der gesetzlichen Bestimmungen bis heute<br />

allerdings nicht möglich.<br />

Hieran schließt sich der Beitrag von Stefan Korioth,<br />

Prof. für Öffentliches Recht, insbesondere<br />

Kirchenrecht, sowie deutsches Staats- und Verwaltungsrecht<br />

an der Universität München, zum<br />

Thema „Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts<br />

zur Parteienfinanzierung in der<br />

Bundesrepublik Deutschland“ an (S. 15 ff.). Korioth<br />

setzt sich nach einer kürzeren allgemeinen<br />

Einführung im Wesentlichen mit den einzelnen<br />

Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zur Parteienfinanzierung<br />

in chronologischer Reihenfolge<br />

auseinander. Beim abschließenden Ausblick<br />

hält er es für bemerkenswert, dass der inzwischen<br />

fünf Jahrzehnte andauernde und konfliktträchtige<br />

Dialog zwischen dem Verfassungsgericht<br />

und dem Gesetzgeber nicht zu einer befriedigenden<br />

Lösung des Komplexes staatlicher finanzieller<br />

Unterstützung der politischen Parteien<br />

geführt hat. Die rechtliche Ordnung der Parteienfinanzierung,<br />

so schlussfolgert Korioth, wird<br />

auch in Zukunft auf das Bundesverfassungsgericht<br />

als den „wichtigsten Garanten eines fairen<br />

Ausgleichs“ nicht verzichten können.<br />

Dr. Agnieszka Malicka und Prof. Ryszard<br />

Balicki, beide von der Universität in Breslau, haben<br />

sich des Themas „Die Bildung und Finanzierungsgrundlagen<br />

politischer Parteien in Polen“<br />

angenommen (S. 39 ff.). Wie in vielen anderen<br />

europäischen Ländern hat die staatliche Parteienfinanzierung<br />

auch in Polen einen hohen Stellenwert.<br />

Dies hat nach Ansicht der Autoren die Folge,<br />

dass die Parteien sich in letzter Zeit zunehmend<br />

auf die Wahlkämpfe konzentrieren, um<br />

durch gute Wahlergebnisse möglichst hohe staatliche<br />

Subventionen zu sichern. Denn die „traditionellen<br />

Methoden“ der Einnahmen der Parteien<br />

durch Spenden oder, wie es die Autoren bezeichnen,<br />

Schenkungen der Anhänger, decken den erhöhten<br />

Bedarf der Parteien bei weitem nicht und<br />

sind gegenüber der staatlichen Finanzierung<br />

deutlich unsicherer.<br />

Prof. Dr. Rudolf Thienel, Vizepräsident des Verfassungsgerichtshofes<br />

in Wien, hat sich mit der<br />

Thematik „Die Finanzierung politischer Parteien<br />

in Österreich“ befasst (S. 49 ff.). Der mit 47 Seiten<br />

sehr umfangreiche Beitrag gibt einen sehr detaillierten<br />

Überblick über die einschlägigen Regelungen<br />

des vielfältig verästelten Systems der<br />

staatlichen Parteienfinanzierung in Österreich.<br />

Thienel stellt fest, dass die Finanzierung politischer<br />

Parteien aus privaten Mitteln deutlich in<br />

den Hintergrund getreten ist. Als problematisch<br />

identifiziert er die Intransparenz des Systems,<br />

sowie das „Selbstbedienungsmodell“. Die Höhe<br />

der staatlichen Zuwendungen wird durch politische<br />

Entscheidungen von Parteivertretern festgelegt.<br />

Er votiert dafür, über ein transparenteres<br />

System der Parteienfinanzierung nachzudenken,<br />

ohne freilich in das andere Extrem einer Überregulierung<br />

zu verfallen.<br />

Der Beitrag von Dr. Timea Drinoczi, Dozentin<br />

an der Universität Pecs und Prof. Dr. Jozsef Petretei,<br />

Justizminister in Ungarn, mit dem Titel<br />

„On the issue of the financing of Hungarian<br />

political parties“ gibt einen detailreichen Überblick<br />

über die Regelungen in Ungarn (S. 97 ff.).<br />

119


Rezensionen<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Die bestehenden Regungen seien jedoch intransparent<br />

und kontrollfeindlich.<br />

Daran schließt sich der Beitrag von Alexander<br />

Vashkevich, Professor an der Weißrussischen<br />

Staatsuniversität Minsk, (S. 121 ff.) mit dem<br />

Thema „Der rechtliche Status politischer Parteien<br />

in der Republik Weißrussland“. Der Autor<br />

gibt zunächst einen historischen Überblick über<br />

die normativen Rechtsakte bezüglich der Bildung<br />

und Tätigkeiten politischer Parteien in<br />

Weißrussland. Dabei geht er bis ins Jahr 1906<br />

zurück. Das im Jahre 1994 verabschiedete Parteiengesetz<br />

stellt dann einen wichtigen Entwicklungsschritt<br />

im Recht der politischen Parteien<br />

dar. Es wurde unzählige Male verändert und ergänzt.<br />

Da eine staatliche Parteienfinanzierung<br />

nach dem Gesetz nicht erlaubt ist, sind die diesbezüglichen<br />

Ausführungen sparsam.<br />

Der Beitrag von Dr. Jurgita Pauzaite-Kulvinskiene,<br />

mit dem Titel „Die staatlichen Zuschüsse als<br />

Parteienfinanzierung in der Republik Litauen“<br />

(S. 141 ff.) identifiziert das Parteiensystem als<br />

Gradmesser für den Demokratisierungsgrad. Die<br />

rechtliche Grundlage der Parteienfinanzierung in<br />

Litauen ist das sog. Parteienfinanzierungsgesetz<br />

von 2004. Litauen hat dabei das europäisch-kontinentale<br />

Parteienfinanzierungsmodell mit einer<br />

starken staatlichen Förderung gewählt.<br />

Elena Gritsenko, Professorin an der Universität<br />

in St. Petersburg, hat einen Beitrag zum Thema<br />

„Parteien als Wahlvereinigungen in Russland –<br />

Verfassungsrechtliche Grundlagen der Parteiorganisation<br />

in Russland, unter besonderer Berücksichtigung<br />

der Rechtstellung von politischen<br />

Parteien als Wahlvereinigungen“ geschrieben (S.<br />

153 ff.). Erst im Jahre 2004 wurden in das Parteiengesetz<br />

Regelungen über staatliche Zuwendungen<br />

aufgenommen. Die Einführung direkter<br />

staatlicher Finanzierung der Parteien ist aus verfassungsrechtlicher<br />

Sicht bis heute umstritten.<br />

Der Beitrag von Ivan Pankevych, Professor an<br />

der Universität Lemberg, mit dem Thema „Financing<br />

of Political Parties in Ukraine and European<br />

Experience“ ist eine kurze Darstellung der<br />

sich ständig in Bewegung befindlichen Gesetzgebung<br />

in der Ukraine und kann nur eine Momentaufnahme<br />

darstellen (S. 189 ff.).<br />

Der letzte Länderbeitrag von Prof. Dr. Egidijus<br />

Sileikis, Richter am Verfassungsgericht in Litauen,<br />

mit dem Titel „Parteienfinanzierung in Litauen:<br />

Grundlagen und Fragestellungen“ zeigt die<br />

mühsame Entstehung und Weiterentwicklung<br />

der umfangreichen Regelungen zum Parteienrecht<br />

und insbesondere zur Parteienfinanzierung<br />

in Litauen (S. 197 ff.).<br />

Dr. Heike Merten<br />

Adolf-Arndt-Kreis (Hrsg.): Parteien ohne<br />

Volk. Zur Zukunftsfähigkeit der Parteiendemokratie.<br />

Berliner Wissenschaftsverlag, 2008.<br />

ISBN 978-3-8305-15661, 116 Seiten, € 18,90.<br />

Der erschienene Sammelband „Parteien ohne<br />

Volk“, herausgegeben vom Adolf-Arndt-Kreis,<br />

dokumentiert die Beiträge des gleichnamigen<br />

Symposions vom Februar 2008. Der wissenschaftliche<br />

Teil des Symposions wurde eröffnet<br />

von Dieter Grimm, Professor an der Humboldt-<br />

Universität zu Berlin, mit einem Vortrag zum<br />

Thema „Parteien(mit)wirkung: Parteien zwischen<br />

verfassungsrechtlichem Anspruch und politischer<br />

Wirklichkeit“. Grimm spricht zunächst<br />

einmal über den Sinn von Art. 21 GG. Nach dieser<br />

grundlegenden Darstellung benennt er Gründe<br />

für das Unbehagen an politischen Parteien. Er<br />

benennt dabei vier Beobachtungen. Als erstes<br />

macht er deutlich, dass die Konturen zwischen<br />

den politischen Parteien zunehmend verwischen.<br />

Der zweite Faktor betrifft verfassungspolitische<br />

und verfassungsrechtliche Fehlentwicklungen in<br />

der Bundesrepublik Deutschland. Er fokussiert<br />

diese mit dem Stichwort „Politikblockade“. Die<br />

Ursache dafür sieht Grimm in den unterschiedlichen<br />

Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat.<br />

Das demokratische System habe sich in dieser<br />

Phase nachhaltig verändert. Es wurde zur Verhandlungsdemokratie.<br />

Je drängender der Reformbedarf<br />

wurde, desto größer wurden auch die<br />

Nachteile dieser Verhandlungsdemokratie und<br />

desto schlechter die Situation für die politischen<br />

Parteien. Diese Problematik sollte schlussendlich<br />

durch die Föderalismuskommission gelöst<br />

werden. Der dritte von Grimm genannte Beobachtungspunkt<br />

ist die Tatsache, dass die nationale<br />

Politik durch den Prozess der Europäisierung<br />

auf veränderte Handlungsbedingungen trifft. Der<br />

120


MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Rezensionen<br />

vierte Beobachtungspunkt betrifft Funktionsbedingungen<br />

demokratischer Politik. In seinem<br />

letzten Punkt wendet sich Grimm Perspektiven<br />

der Änderung zu. Er unterscheidet drei Konstellationen:<br />

säkuläre Trends, strukturelle Bedingungen<br />

und Aporien. Diese Konstellationen ordnet<br />

Grimm sodann den vorher skizzierten vier Beobachtungsbereichen<br />

zu. Abschließend benennt<br />

Grimm noch als hoffnungsvollen Faktor außerhalb<br />

des Rechts das Eigeninteresse der politischen<br />

Parteien darin, dass ihr Rückhalt in der<br />

Bevölkerung wieder steigt.<br />

Im Anschluss daran referierte Oskar Niedermayer,<br />

Professor an der freien Universität Berlin,<br />

zum Thema „Die Wähler bröckeln: Zur Veränderung<br />

der Wählerschaft und der Parteimitgliedschaft“.<br />

Niedermayer beschäftigt sich in<br />

seinem Beitrag mit vier Bereichen, der Entwicklung<br />

der Wahlbeteiligung; der Veränderung der<br />

Strukturen im Parteiensystem; mit der Entwicklung<br />

der Parteimitgliedschaften und zuletzt mit<br />

der Entwicklung der Orientierungen der Bevölkerung<br />

gegenüber den Parteien.<br />

Dem juristischen und den politikwissenschaftlichen<br />

Eingangsreferat folgte eine erste Podiumsdiskussion<br />

zum Thema „Wo bleiben die Mitglieder?<br />

Parteienwandel und Alternativen“. Diskutiert<br />

haben Björn Böhning, Mitglied des SPD-<br />

Parteivorstandes, Gerald Hafner, Sprecher des<br />

Bundesvorstandes „Mehr Demokratie“ e. V., Sabine<br />

Leidig, Geschäftsführerin von Attac<br />

Deutschland und Anne Schäfer, Mitglied des<br />

Bundesvorstandes der Jungen Union. Die Diskussionsleitung<br />

hatte Martin Morlok, Professor<br />

an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf<br />

und Direktor des Instituts für Parteienrecht und<br />

Parteienforschung. Auf dem Podium saßen somit<br />

zwei Repräsentanten der Parteien und ihrer<br />

Nachwuchsorganisationen und zwei Repräsentanten<br />

von Konkurrenzorganisationen der politischen<br />

Parteien. Letztere repräsentieren politisches<br />

Engagement in anderer Form als herkömmliche<br />

Parteiarbeit. Bei den Jugendorganisationen<br />

der politischen Parteien gehen die Mitgliederzahlen<br />

drastisch nach unten, während die<br />

„alternativen Organisationsformen“ deutliche<br />

Mitgliederzuwächse verzeichnen können. Begründet<br />

wird dieser Zuwachs mit dem Bewegungscharakter<br />

der Organisationen und den nicht<br />

herkömmlichen Organisationsformen. Herausgearbeitet<br />

wird auch, dass diese Organisationen<br />

nicht als Konkurrenz zu Parteien zu verstehen<br />

sind, sondern als Ergänzungen. Herausgearbeitet<br />

wird in der Diskussion, dass möglichst viele von<br />

denjenigen, die sich politische engagieren wollen,<br />

in den Parteien die Möglichkeit finde, sich<br />

zu engagieren. Die Parteien müssen sich öffnen,<br />

positiv agieren und durchlässig sein.<br />

Dieser Podiums- und Plenumsdiskussion folgte<br />

ein Streitgespräch zum Thema „Der Patient Partei:<br />

Ein diagnostisches Streitgespräch“ zwischen<br />

Jürgen Falter, Professor an der Johannes-Gutenberg-Universität<br />

Mainz, und Ulrich von Alemann,<br />

Professor an der Heinrich-Heine-Universität<br />

Düsseldorf und stellvertretender Direktor<br />

des Instituts für Parteienrecht und Parteienforschung.<br />

Moderiert wird dieses Streitgespräch<br />

von Uwe Volkmann, Professor an der Johannes-<br />

Gutenberg-Universität Mainz. Zum Einstieg<br />

wurde über die Krise des Parteiensystems diskutiert<br />

und die Frage aufgeworfen, ob tatsächlich<br />

eine große Krise vorliegt oder man nicht sagen<br />

müsste, dass man dies eigentlich alles schon<br />

kennt. In einem zweiten Bereich wurde über die<br />

Europäisierung und Globalisierung gestritten. Im<br />

Anschluss daran wurde die spannende Problematik<br />

des zukünftigen Fünf-Parteien-System beleuchtet.<br />

In diese Diskussion floss verstärkt auch<br />

die Wahlrechtsproblematik ein. Stichwörter wie<br />

„direkte Demokratie“, „kumulieren und panaschieren“<br />

sowie „Vorzugsstimmen“ wurden ausdiskutiert.<br />

Im Anschluss an dieses Streitgespräch fandt erneut<br />

eine Podiumsdiskussion statt zum Thema<br />

„Verschwimmen die Farben? Zur Zukunft der<br />

Parteien und ihre Profile“. Teilnehmer dieser Podiumsdiskussion<br />

waren Petra Pau, Vizepräsidentin<br />

des Deutschen Bundestages, Ottmar Schreiner,<br />

MdB, Professor Dr. Rita Süßmuth, Präsidentin<br />

des Deutschen Bundestages aD sowie<br />

Hans-Christian Ströbele, MdB. Moderiert wurde<br />

diese Podiumsdiskussion von Richard Meng,<br />

dem Sprecher des Berliner Senats. Dass sich<br />

Wählerbindungen lösen und neue Parteien entstehen<br />

sind demokratische Prozesse. Selbstverständlich<br />

haben die existierenden Volksparteien<br />

121


Rezensionen<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

ein großes Interesse daran, dass an den Rändern<br />

nichts abbröckelt. Die großen Volksparteien sind<br />

aufgefordert, das zeitnah aufzunehmen, was aufgenommen<br />

werden muss und sich zu öffnen.<br />

Zum anderen müssen die Parteien unbedingt lernen,<br />

Macht zu teilen. Bürgerinnen und Bürger<br />

gehören dazu und haben Mitwirkungsrechte. In<br />

dem Maße, wie das Volk den Eindruck hat, es<br />

käme in der Politik nicht mehr vor, entfernt man<br />

sich von einer demokratischen Weiterentwicklung.<br />

Die politischen Parteien müssen sich für<br />

neue Formen der Partizipation öffnen.<br />

Das Schlusswort der Veranstaltung hatte Christine<br />

Hohmann-Dennhardt, Richterin des Bundesverfassungsgerichts,<br />

zum Thema „Parteien ohne<br />

Volk – Volk ohne Parteien?“. Parteien können<br />

ohne das Volk, sein Engagement und seine Stimmen<br />

nicht existieren und gerade deshalb macht<br />

es nachdenklich, dass der Abstand zwischen dem<br />

Volk und den Parteien in den letzten Jahren größer<br />

geworden ist und die Abstinenz voneinander<br />

zugenommen hat. Zum Abschluss der Veranstaltung<br />

plädierte Frau Hohmann-Dennhardt dafür,<br />

dass die Parteien wie auch das Volk sich wieder<br />

vermehrt ihrer wechselseitigen Angewiesenheit<br />

bewusst werden.<br />

Dr. Heike Merten<br />

Tobias Schneider: Vermögen und erwerbswirtschaftliche<br />

Betätigung politischer Parteien.<br />

Schutz und Grenzen durch die Verfassung.<br />

Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2008, ISSN<br />

1616-9794, 264 Seiten, € 85,00.<br />

Nach der Dissertation von Alexandra Schindler,<br />

Die Partei als Unternehmer, Baden-Baden 2006,<br />

und der Dissertation von Miroslav Angelov,<br />

Vermögensbildung und unternehmerische Tätigkeit<br />

politischer Parteien, Berlin 2006, ist die Dissertation<br />

von Tobias Schneider die dritte Arbeit<br />

in diesem Themenkomplex. Die Ergebnisse der<br />

Dissertation Schindler sind mit aufgenommen<br />

worden. Die von der Dissertation Angelov fehlen<br />

jedoch, offensichtlich ist die Arbeit vor dem<br />

Erscheinen des Werkes bereits abgeschlossen<br />

gewesen.<br />

Nach einer Bestandsaufnahme bezüglich der Finanzierung<br />

und dem Vermögen der politischen<br />

Parteien wird der Schutz des Parteivermögens<br />

und der erwerbswirtschaftlichen Betätigung politischer<br />

Parteien durch die Verfassung näher untersucht.<br />

An erster Stelle steht dabei die Frage<br />

nach dem Schutzumfang des Art. 21 GG als<br />

grundgesetzlicher Norm, die sich explizit mit<br />

den politischen Parteien befasst. Danach wird<br />

geprüft, inwieweit sich die Parteien darüber hinaus<br />

auf die Grundrechte berufen können. Diskutiert<br />

wird das umstrittene Verhältnis zwischen<br />

Art. 21 und Art. 19 III GG.<br />

Im Anschluss daran wird der Frage nachgegangen,<br />

ob das Grundgesetz der Anhäufung eines<br />

Parteivermögens und der erwerbswirtschaftlichen<br />

Betätigung politischer Parteien auch Grenzen<br />

setzt. Als Maßstab kommt insoweit die<br />

Funktionsfähigkeit der Parteien im demokratischen<br />

System in Betracht. Abschließend wird<br />

auf Beschränkungsmöglichkeiten des Gesetzgebers<br />

eingegangen. Einzelne Regelungsmodelle<br />

werden vorgestellt und mit Blick auf die Rechtsposition<br />

und den Grundsatz der Chancengleichheit<br />

der politischen Parteien auf ihre verfassungsrechtliche<br />

Zulässigkeit geprüft.<br />

Schneider kommt zu dem Ergebnis, dass ein<br />

Komplettverbot jeglicher allgemeiner erwerbswirtschaftlicher<br />

Betätigung der Parteien durch<br />

den Gesetzgeber ein unverhältnismäßiger Eingriff<br />

in das Grundrecht der Berufsfreiheit der<br />

Parteien aus Art. 12 I GG sei und daher nicht mit<br />

dem Grundgesetz vereinbar. Demgegenüber<br />

sieht er eine Begrenzung der erwerbswirtschaftlichen<br />

Betätigung der Parteien durch Vorgaben<br />

eines maximal zulässigen Einnahmevolumens<br />

von etwa 30 Prozent der Gesamteinnahmen der<br />

Partei sowohl mit dem Grundrecht der Parteien<br />

aus Art. 12 I GG als auch mit der Neutralitätsund<br />

Gleichbehandlungspflicht des Staates gegenüber<br />

den Parteien vereinbar. Ferner sei die unternehmerische<br />

Betätigung der Parteien in Presse<br />

und Rundfunk nur soweit einschränkbar, wie<br />

dies zur Verhinderung einer überhandnehmenden<br />

Pressekonzentration bzw. einer vorherrschenden<br />

Meinungsmacht im Rundfunk erforderlich<br />

sei.<br />

Dr. Heike Merten<br />

122


MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Rezensionen<br />

Stefanie Armbrecht: Politische Parteien im<br />

europäischen Verfassungsverbund, Neue Impulse<br />

durch die VO (EG) Nr. 2004/2003,<br />

ISBN 978-3-8329-3230-5, Nomos-Verlag Baden-Baden<br />

2008, 308 Seiten, € 62.<br />

Die umfangreiche Dissertation setzt sich mit der<br />

Frage auseinander, welche Anforderungen an die<br />

politischen Parteien im europäischen Verfassungsverbund<br />

als Instrumente einer europäischen<br />

Demokratie zu stellen sind und welche Rolle sie<br />

bei der Entwicklung eines einheitlichen europäischen<br />

politischen Willens übernehmen können.<br />

Besonderes Augenmerk legt die Verfasserin dabei<br />

auf die Frage welche Impulse die am 4. November<br />

2003 erlassene Verordnung zur Regelung<br />

der Rechtsstellung und Finanzierung der<br />

europäischen Parteien hierzu leisten kann.<br />

Die Arbeit beginnt mit einem ausführlichen Kapitel<br />

über die Funktion der politischen Parteien<br />

in einem demokratischen System. (S. 23 – 72).<br />

Die Verfasserin stellt fest, dass keine Einigkeit<br />

über einen bestimmten Katalog von Parteifunktionen<br />

besteht, jedoch ein Katalog von sieben<br />

Funktionen herauskristallisiert werden kann.<br />

Ferner werden drei formale Begriffsmerkmale<br />

für politische Parteien herausgearbeitet. Die herausgearbeiteten<br />

Bestandteile des Parteienrechts,<br />

nämlich die Funktionen, verfassungsrechtliche<br />

Stellung und der Begriff, können nicht voneinander<br />

getrennt betrachtet werden. Armbrecht untersucht<br />

sodann (S. 73 – 113), ob dieser Befund auf<br />

die europäischen Politischen Parteien übertragen<br />

werden kann. Folgerichtig kommt sie dabei zu<br />

dem Ergebnis, dass die besondere Struktur auf<br />

der europäischen Ebene berücksichtigt werden<br />

müssen. Es existiert ein unionsspezifisches Demokratiekonzept,<br />

was ein besonderes Demokratieverständnis<br />

erfordert. Einhergehend mit der<br />

stetigen Annäherung an das klassische Demokratieverständnis<br />

stiege der Bedarf an echten europäischen<br />

Parteien.<br />

Im folgenden Kapitel wird die Situation der politischen<br />

Parteien im europäischen Verfassungsverbund<br />

untersucht (S. 115 – 200). Auf der europäischen<br />

Ebene hätten sich noch keine dem klassischen<br />

Parteikonzept äquivalenten Vereinigungen<br />

gebildet, die maßgeblichen Anteil an der<br />

Willensbildung der Unionsbürger sowie der Entscheidungsfindung<br />

der Organe haben. Das größte<br />

Defizit sieht Armbrecht in der Struktur als<br />

Parteienparteien und in der fehlenden Mitwirkung<br />

an der Kandidatenaufstellung für die Europawahlen.<br />

Diese Defizite hingen eng mit der<br />

Struktur und der Stellung des Europäischen Parlaments<br />

im Institutionsgefüge zusammen.<br />

Das vierte und letzte Kapitel der Arbeit untersucht<br />

die Frage, ob die Verordnung zur Regelung<br />

der Rechtsstellung und Finanzierung der<br />

europäischen Parteien der eher schleppenden<br />

Entwicklung einer europäischen Parteiendemokratie<br />

neue und wesentliche Impulse gibt (S. 201<br />

– 278). Nach einer eingehenden Auseinandersetzung<br />

mit den einzelnen Bestimmungen der Verordnung<br />

stellt Armrecht fest, dass sie keinesfalls<br />

eine rechtlich einwandfreie und zufrieden stellende<br />

Lösung für die rechtliche Stellung und die<br />

Finanzierung der europäischen Parteien darstellt.<br />

Die Arbeit endet mit einer Zusammenfassung<br />

der gewonnenen Erkenntnisse. Zur Erreichung<br />

des mit der Verordnung verfolgten Ziels sei eine<br />

Revision unumgänglich. Die Änderungsvorschläge<br />

der Kommission vom 27. Juni 2007<br />

wurden in die Arbeit noch mit aufgenommen.<br />

Die endgültige Änderung der Verordnung ist erst<br />

nach Abschluss der Arbeit in Kraft getreten und<br />

konnte daher nicht mehr verarbeitet werden. Der<br />

für die bearbeitete Thematik interessante Gesichtspunkt<br />

der Etablierung und Finanzierung<br />

von parteinahen Stiftungen auf europäischer<br />

Ebene findet daher keine Berücksichtigung. Der<br />

Verfasserin ist es gelungen den Forschungsgegenstand<br />

der europäischen Politischen Parteien<br />

umfassend zu bearbeiten. Auch für den informierten<br />

Leser ist dieses Buch eine Bereicherung.<br />

Dr. Heike Merten<br />

123


Rezensionen<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Anne-Katrin Lang: Demokratieschutz durch<br />

Parteiverbot? Die Auseinandersetzung um ein<br />

mögliches Verbot der Nationaldemokratischen<br />

Partei Deutschlands (NPD), Marburg:<br />

Tectum Verlag 2008. ISBN-978-3-8288-9573-<br />

7, 108 Seiten, € 24,90.<br />

Die Diskussion um ein Verbot der Nationaldemokratischen<br />

Partei Deutschlands (NPD) flammt<br />

seit den 60er Jahren immer wieder in der Öffentlichkeit<br />

auf. Auf dem Höhepunkt war die Debatte<br />

zur Zeit des maßgeblich durch den bayrischen<br />

Innenminister Günther Beckstein initiierten<br />

NPD-Verbotsverfahrens und dessen Einstellung<br />

durch das Bundesverfassungsgericht wegen der<br />

Besetzung höchster Funktionärsposten in der<br />

NPD durch zahlreiche V-Leute des Verfassungsschutzes<br />

und deren Verwicklung in verfassungsfeindliche<br />

Parteiaktivitäten.<br />

Nach den jüngsten Wahlerfolgen der NPD auf<br />

Länderebene und dem verstärkt aggressiv-kämpferischen<br />

Auftreten der Partei wird die Einreichung<br />

eines erneuten Verbotsantrages beim Bundesverfassungsgericht<br />

wieder kontrovers diskutiert:<br />

Insbesondere der Messerangriff auf den Polizeichef<br />

von Passau, Alois Mannichl, am 13. Dezember<br />

2008 löste eine erneute – von CSU-Parteichef<br />

Horst Seehofer eröffnete – Debatte über<br />

ein NPD-Verbotsverfahren aus. Erst in jüngster<br />

Zeit wurden wieder Forderungen nach einem<br />

Verbot unter anderem durch den Deutschen Gewerkschaftsbund,<br />

den SPD-Vorsitzenden Franz<br />

Müntefering oder SPD-Kanzlerkandidat und Außenminister<br />

Frank-Walter Steinmeier laut. Kritisch<br />

gesehen wird ein solches Verfahren aber<br />

z.B. vom FDP-Fraktionsvorsitzenden Guido<br />

Westerwelle, dem Generalsekretär des Zentralrats<br />

der Juden in Deutschland, Stephan Kramer<br />

oder dem bayrischen Innenminister Joachim<br />

Herrmann, zum einen aufgrund der geringen Erfolgsausichten,<br />

zum anderen aufgrund der zweifelhaften<br />

Effektivität eines Parteiverbots bzgl.<br />

der Verhinderung gewalttätiger Angriffe und<br />

Anschläge von Rechtsextremen.<br />

Das Buch von Anne-Katrin Lang, seit 2008 wissenschaftliche<br />

Mitarbeiterin und Doktorandin<br />

am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen,<br />

beschäftigt sich mit der Problematik von Parteiverboten<br />

bezogen auf die NPD. Die Autorin hat<br />

sich dabei zum Ziel gesetzt, ein umfassendes<br />

Bild über die Aktivitäten und Ideologie der NPD<br />

und die Verbotsdiskussion zu vermitteln, um<br />

eine Einschätzung zu ermöglichen, ob die Partei<br />

eine Bedrohung für die Demokratie in Deutschland<br />

darstellt und dieser mit einem Parteiverbot<br />

wirksam begegnet werden könne.<br />

Dabei wird zunächst kurz die Entwicklungsgeschichte<br />

und Ideologie der Partei näher beleuchtet,<br />

um eine bessere Beurteilung der eventuellen<br />

Gefährlichkeit der NPD für die freiheitlich-demokratische<br />

Grundordnung und damit auch der<br />

Notwendigkeit eines Parteiverbots zu ermöglichen.<br />

Dabei wird, da das Buch zwar 2008 erschienen,<br />

aber schon 2005 fertiggestellt wurde,<br />

nur die Entwicklung von der Parteigründung<br />

1964 bis zum Jahre 2005 berücksichtigt.<br />

Sodann wird kurz das erfolglose NPD-Verbotsverfahren<br />

beschrieben: die Initiative, die Entwicklung,<br />

die Anträge der Bundesregierung, des<br />

Bundestages sowie des Bundesrates und schließlich<br />

die Gründe für das Scheitern des Verfahrens<br />

vor dem Verfassungsgericht.<br />

Dabei werden vergleichend die SRP- und KPD-<br />

Verbotsverfahren herangezogen und die Unterschiede<br />

nicht nur zwischen den beiden „erfolgreichen“<br />

Parteiverbotsverfahren und dem NPD-<br />

Verfahren, sondern auch zwischen den beiden<br />

Verbotsverfahren selbst dargestellt. Die Autorin<br />

beschreibt die Entwicklung, Organisation und<br />

Ideologie der jeweiligen Partei und geht insbesondere<br />

kritisch näher auf die Begründung der<br />

Verbote ein. Sie ist dabei einer möglichen Parallelziehung<br />

zu den früheren Verfahren gegenüber<br />

skeptisch, da diese zu einer Zeit erfolgten, als<br />

die Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland<br />

noch in den Kinderschuhen steckte und man<br />

die Wehrhaftigkeit des demokratischen Parteiensystems<br />

beweisen und ein Scheitern wie das der<br />

Weimarer Republik vermeiden wollte.<br />

Anschließend geht die Autorin ausführlich auf<br />

ein mögliches Verbot der NPD ein. Dabei werden<br />

denkbare Kriterien für ein Parteiverbot erläutert<br />

und diskutiert, ob man sich nur am Gewaltkriterium<br />

orientieren sollte beim Verbot ex-<br />

124


MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Rezensionen<br />

tremistischer Parteien oder ob nationalsozialistische<br />

bzw. NSDAP-ähnliche Parteien schon unterhalb<br />

der Gewaltschwelle verboten werden<br />

sollten, mit anderen Worten, ob es ein Ausnahmerecht<br />

gegen Neonazis geben sollte, da Nazismus<br />

kein schützenswertes Gedankengut sei. Dabei<br />

wird untersucht, inwieweit die NPD überhaupt<br />

dem Nationalsozialismus und der NSDAP<br />

wesensverwandt ist und ob die Verfolgung nationalsozialistischer<br />

und antidemokratischer Ziele<br />

bzw. entsprechende Meinungen und Absichten<br />

überhaupt genüge oder die Partei auch darauf<br />

abzielen müsse, die freiheitliche demokratische<br />

Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen,<br />

wie es der Wortlaut des Art. 21 GG fordert.<br />

In diesem Zusammenhang wird eine Verfassungsänderung<br />

diskutiert, wobei Anne-Katrin<br />

Lang sich auf die faktischen Erfolgsaussichten<br />

einer solchen Verfassungsänderung beschränkt<br />

und nicht deren rechtliche Möglichkeit beleuchtet.<br />

Die Autorin selbst wendet sich entschieden gegen<br />

ein Sonderrecht zum Verbot nazistischer<br />

Parteien: Eine eventuelle Wesensverwandtschaft<br />

mit der NSDAP sei rechtlich kein ausreichendes<br />

Argument und solle nicht als Sonderfall behandelt<br />

werden. Auch hier müssten vielmehr die<br />

Tatbestandsvoraussetzungen für ein Parteiverbot<br />

weiter geprüft werden.<br />

Lang sieht darüber hinaus auch die Effektivität<br />

von Parteiverboten kritisch, insbesondere die<br />

Problematik des Abgleitens extremistischer Strömungen<br />

in die Illegalität als Folge.<br />

Die Autorin setzt sich ausführlich mit dem Prinzip<br />

der streitbaren Demokratie und dessen<br />

Tücken auseinander und diskutiert die Notwendigkeit<br />

dieses Prinzips in unserer gefestigten politischen<br />

Stabilität. In diesem Zusammenhang<br />

werden auch historische Argumente und der<br />

Vergleich mit Weimar angesprochen. Die Autorin<br />

legt dar, dass Weimar nicht an seinen rechtlichen<br />

Möglichkeiten und Strukturdefiziten gescheitert<br />

sei, sondern an der fehlenden Durchsetzungskraft<br />

und Unentschlossenheit der Demokratie,<br />

weshalb die Heranziehung von Weimar<br />

als Unterstützung für das Prinzip der wehrhaften<br />

Demokratie kritisch zu sehen sei.<br />

Vergleichend werden andere westlich-demokratische<br />

Systeme herangezogen, in denen Extremismus<br />

über Wahlen, nicht über Parteiverbote,<br />

bekämpft wird wie Frankreich, Großbritannien<br />

und die USA.<br />

Weiterhin wird diskutiert, ob die NPD sich seit<br />

ihren großen Erfolgen in den 60er Jahren überhaupt<br />

in eine gefährlichere Richtung entwickelt<br />

habe und von ihr angesichts eher geringer Wahlerfolge<br />

und marginaler Bedeutung zur Zeit des<br />

Verbotsverfahrens 2001 überhaupt eine Gefahr<br />

ausging oder ob man nur versucht habe, das Verhalten<br />

der Partei anders zu interpretieren als früher<br />

und das Verfahren eingeleitet worden sei, um<br />

ein symbolisches Zeichen gegen Rechts zu setzen<br />

angesichts zahlreicher Anschläge mit (vermutetem)<br />

rechtsradikalen Hintergrund.<br />

Obwohl Lang auf weiten Strecken weitgehend<br />

andere Meinungen zusammenfasst und präsentiert,<br />

zu denen häufig keine Stellungnahme oder<br />

Bewertung erfolgt, findet sich zwischendurch,<br />

insbesondere aber im Fazit, ein starkes Plädoyer<br />

gegen Parteiverbote: Die Autorin votiert klar für<br />

die politische demokratische Auseinandersetzung<br />

mit extremistischen Strömungen und befürwortet<br />

Parteiverbote nur als ultima ratio, wobei<br />

die Anwendung von Gewalt und eine aggressivkämpferische<br />

Haltung gegen die freiheitlich-demokratische<br />

Grundordnung als politisch neutrale<br />

Kriterien herangezogen werden sollten. Dies sei<br />

bei der NPD schwer nachzuweisen. Gewalttätige<br />

Einzelaktionen ließen sich der Partei nicht als<br />

Verhalten ihrer Anhänger zurechnen. Es spreche<br />

einer Demokratie aber klar zuwider, eine Partei<br />

allein aufgrund verfassungsfeindlicher (Fern-)<br />

Ziele zu verbieten, wie es auch bei der SRP und<br />

der KPD der Fall war. Die Auseinandersetzung<br />

müsse auf demokratisch-politischem Wege<br />

durch Argumentation erfolgen. Wenn dann wirklich<br />

eine Mehrheit der Bürger NPD wählen würde,<br />

wäre die Demokratie trotz Parteiverbot ohnehin<br />

verloren, da eine Demokratie ohne Demokratinnen<br />

und Demokraten und mit Nationalsozialisten<br />

nicht denkbar sei.<br />

Aufgrund der immer wieder aufkeimenden Diskussionen<br />

um ein NPD-Verbot behält das Buch<br />

von Anne-Katrin Lang seine Aktualität und kann<br />

125


Rezensionen<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

im Rahmen dieser Diskussion herangezogen<br />

werden. Das Werk gibt einen guten Überblick<br />

über die Entwicklung der NPD und eine Einschätzung<br />

ihrer Gefährlichkeit für die freiheitlich-demokratische<br />

Grundordnung.<br />

Aufgrund der hilfreichen und wertvollen Sammlung<br />

zahlreicher Stellungnahmen und Meinungen<br />

von Politikern, Wissenschaftlern, aber auch<br />

hochrangigen NPD-Funktionären ist das Buch<br />

eine Bereicherung für die politische Diskussion<br />

um ein NPD-Verbot. Anhand der tatsächlichen<br />

Darstellungen und Zitate kann eine eigene Einschätzung<br />

und Beurteilung der Entwicklung der<br />

NPD und eines möglichen NPD-Verbotsverfahrens<br />

erfolgen.<br />

Aufgrund seiner Kürze kann das Buch aber nur<br />

als Überblick über die faktischen Gegebenheiten<br />

und nicht als vertiefende rechtliche und/oder politische<br />

Auseinandersetzung verstanden werden.<br />

Es bleibt daher bei vielen Fragestellungen an der<br />

Oberfläche bzw. beschränkt sich auf den tatsächlichen<br />

Hintergrund.<br />

Julia Kamps<br />

Donges, Patrick: Medialisierung politischer<br />

Organisationen. Parteien in der Mediengesellschaft,<br />

Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften,<br />

2008. ISBN 978-3-531-15867-9,<br />

244 Seiten, € 34,90.<br />

Welchen Einfluss üben die Medien auf Parteien<br />

aus? Dieser wichtigen Frage geht der Züricher<br />

Kommunikationswissenschaftler Patrick Donges<br />

in seiner Habilitationsschrift nach. Die mediale<br />

Durchdringung aller gesellschaftlichen Bereiche,<br />

das Ringen um Aufmerksamkeit sowie steigender<br />

Aufwand und höheres Tempo der Berichterstattung<br />

stellen politische Organisationen heute<br />

zwangsläufig vor große Herausforderungen.<br />

Dennoch sind die genauen Auswirkungen der<br />

Medialisierung auf die Parteien in der Forschung<br />

durchaus umstritten. Während dort zum Teil<br />

sehr drastische Folgen wie der Rückgang innerparteilicher<br />

Demokratie (Franz Walter) oder gar<br />

die Kolonialisierung der Politik durch die Medien<br />

(Thomas Meyer) befürchtet werden, schlägt<br />

Patrick Donges einen weit weniger aufgeregten<br />

Ton an. Konkret geht es ihm darum, die tatsächlichen<br />

Konsequenzen der Medialisierung hinsichtlich<br />

möglicher Veränderungen der Organisationsstrukturen<br />

von Parteien nachzuvollziehen.<br />

Ausgehend vom organisationssoziologischen<br />

Neo-Institutionalismus interpretiert er Medien<br />

dabei als „institutionelle Umwelt politischer Organisationen“.<br />

Gleichzeitig attestiert er den Parteien,<br />

die nicht als einheitliche und rationale Akteure,<br />

sondern als offene und lose verkoppelte<br />

Handlungssysteme definiert sind, eine starke<br />

Umweltprägung.<br />

Das Herzstück der Untersuchung stellen die empirischen<br />

Fallstudien der zwei jeweils mitgliederstärksten<br />

Parteien beider großen Lager in<br />

Deutschland, Österreich, Großbritannien und der<br />

Schweiz dar. Dabei wertet Donges zum einen<br />

umfangreiches Dokumentenmaterial aus. Hierzu<br />

zählen Rechenschafts- und Jahresberichte genauso<br />

wie parteiinterne Sprachregelungen (sofern<br />

zugänglich) oder Gesetze zur Parteienfinanzierung.<br />

Für den Leser noch spannender sind allerdings<br />

die Leitfadeninterviews, in denen der Autor<br />

jeweils einen Pressesprecher sowie einen Repräsentanten<br />

der Parteiführung befragen konnte<br />

und deren zentrale Botschaften im Originalton<br />

abgedruckt sind. Die Interviewpartner bestätigen<br />

– freilich nicht sonderlich überraschend – durchgehend<br />

den Bedeutungszuwachs der Medien für<br />

die Parteien (vor allem den des Internets für den<br />

internen Verkehr bei gleichzeitig ungebrochener<br />

Vorherrschaft des Fernsehens für die externe<br />

Kommunikation). Auf diese Entwicklung haben<br />

die Funktionäre – so das Fazit – in den vergangenen<br />

Jahren mit dem Ausbau ihrer Medienabteilungen<br />

sowie mit einer insgesamt erhöhten<br />

Kommunikationsleistung reagiert. Gleichwohl<br />

findet der Autor nicht genügend Anhaltspunkte,<br />

um ein neues Paradigma oder gar einen neuen<br />

Parteientypus auszurufen. Bei aller gestiegenen<br />

Bedeutung könne keine Rede davon sein, dass<br />

die Medialisierung alle anderen Prozesse in politischen<br />

Organisationen in den Hintergrund gedrängt<br />

habe. Explizit wird deshalb etwa Uwe<br />

Juns Wort von der „professionalisierten Medienkommunikationspartei“<br />

verworfen.<br />

Patrick Donges’ Studie stellt eine gelungene<br />

Vermittlung von klassischer Parteienforschung<br />

126


MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Rezensionen<br />

und neueren Ansätzen der Kommunikationswissenschaft<br />

dar. Sie wird daher von Studenten und<br />

Dozenten beider Disziplinen mit einigem Gewinn<br />

gelesen werden können. Man sollte sich<br />

angesichts des relativ schmalen Bändchens nicht<br />

täuschen. Der Autor hat etwas zu sagen. Seine<br />

Thesen sind konzise formuliert und nachvollziehbar.<br />

Erleichtert wird die Lektüre der Arbeit<br />

zudem durch die Stringenz und Logik ihres Aufbaus.<br />

Immer wieder bringen etwa die regelmäßig<br />

eingefügten Zwischenbilanzen den Leser auf den<br />

aktuellen Stand der Argumentation. Besonders<br />

erfrischend wirkt das stetige Hinterfragen diffuser<br />

Schlagworte, die in der Medien-Debatte kursieren.<br />

Was bedeutet „Mediengesellschaft“?<br />

Was ist mit „Professionalisierung“ gemeint?<br />

Solche und andere Fragen liest Donges am<br />

Wegesrand auf und sorgt für Klarheit. Zum<br />

Nachdenken regt in diesem Zusammenhang auch<br />

sein kritischer Blick auf die Parteienforschung<br />

an. Inwieweit manipulieren eigentlich die medialen<br />

Selbstbilder von Parteiorganisationen die<br />

wissenschaftliche Betrachtung?<br />

Trotz der genannten Stärken lassen sich gegenüber<br />

dieser Studie grundsätzliche Einwände geltend<br />

machen. Der am schwersten wiegende besteht<br />

sicherlich darin, dass (auch) Donges mit<br />

seinen Methoden nicht in den Arkanbereich der<br />

Entscheidungen von Parteien hinein blicken<br />

kann. Ob parteiintern eine bestimmte Sach- oder<br />

Personenfrage tatsächlich oder gar ausschließlich<br />

vor dem Hintergrund ihrer öffentlichkeitswirksamen<br />

Verwertbarkeit entschieden wird, lässt sich<br />

durch Interviews mit den Hütern ebendieser Geheimnisse<br />

oder durch das Studium ihrer offiziellen<br />

Verlautbarungen nun einmal nicht hundertprozentig<br />

heraus finden. Dazu müsste man bei<br />

den betreffenden Beratungen schon Mäuschen<br />

spielen oder an die internen Dokumente der Parteien<br />

gelangen. Auch kann der Autor aus ähnlichen<br />

Gründen fast gar nichts zur Entwicklung<br />

der aufgewendeten Ressourcen für die Kommunikation<br />

sagen. Dabei wäre der Faktor Geld doch<br />

eine entscheidende Größe für die Aussagekraft<br />

des Buches gewesen.<br />

Fragwürdig ist darüber hinaus, warum Donges<br />

die Parteien lediglich außerhalb des Wahlkampfes<br />

betrachtet, obwohl sie in diesen Zeiten bekanntlich<br />

am stärksten kommunizieren. Etwaige<br />

Veränderungen der Organisationsstrukturen<br />

müssten hier besonders deutlich hervor treten.<br />

Schließlich wird nicht ganz klar, warum sich im<br />

Sample lediglich große, traditionelle Volksparteien<br />

befinden, obwohl man im Hinblick auf die<br />

Medialisierung in den neuen Bewegungsparteien<br />

oder den Rechtspopulisten vielleicht lohnendere<br />

Untersuchungsgegenstände gefunden hätte. Diese<br />

Bedenken lassen sich nicht einfach mit dem<br />

Hinweis auf die Eingrenzung der Forschungsfrage<br />

beiseite schieben. Was die Professionalisierung<br />

der Parteien im Umgang mit den Medien<br />

betrifft, hätte deren Beachtung nämlich möglicherweise<br />

zu ganz anderen Ergebnissen geführt.<br />

Philipp Erbentraut<br />

Holtkamp, Lars: Kommunale Konkordanzund<br />

Konkurrenzdemokratie. Parteien und<br />

Bürgermeister in der repräsentativen Demokratie,<br />

Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften,<br />

2008. ISBN 978-3-531-15651-4,<br />

352 Seiten, € 49,90.<br />

Kommunalpolitische Literatur wird in der vorwiegend<br />

national ausgerichteten Parteienforschung<br />

zuweilen recht stiefmütterlich behandelt.<br />

Dies mag durchaus an einer gewissen Unlust der<br />

Wissenschaft liegen, in die Niederungen der<br />

Kommunalpolitik hinabzusteigen. Ganz unschuldig<br />

sind die zahllosen, oft wenig theoriegeleiteten,<br />

empirischen Fallstudien, die es zu den Parteien<br />

auf kommunaler Ebene gibt, an dieser Situation<br />

aber auch nicht. Lokale Kleinkunst ist<br />

nun einmal nicht jedermanns Sache. Der Hagener<br />

Privatdozent Lars Holtkamp unternimmt in<br />

seinem neuen Buch nun einen viel versprechenden<br />

Anlauf, um die Ergebnisse der lokalen Politikforschung<br />

aus ihrem „kommunalwissenschaftlichen<br />

Ghetto“ (Holtkamp) herauszuführen und<br />

somit gleichzeitig eine Brücke hin zur großen<br />

Bühne der Vergleichenden Regierungslehre zu<br />

schlagen.<br />

Ausgangspunkt der Untersuchung ist die in der<br />

Politikwissenschaft seit Jahren dominant vertretene<br />

These, in der Kommunalpolitik sei eine stetig<br />

wachsende Parteipolitisierung und somit ein<br />

127


Rezensionen<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Trend hin zur Konkurrenzdemokratie zu verzeichnen,<br />

was gemeinhin begrüßt wird. Nun<br />

hielte Holtkamp im Gegensatz dazu eine derartige<br />

Entwicklung nicht nur für wenig wünschenswert;<br />

er bestreitet auch, dass es überhaupt einen<br />

Trend in diese Richtung gibt. Vielmehr sammelt<br />

er zahlreiche Belege, die – bei zum Teil starken<br />

regionalen Abweichungen – eher für eine Entwicklung<br />

hin zur kommunalen Konkordanzdemokratie<br />

sprechen. Damit ist im Klartext eine<br />

geringe Parteipolitisierung der Entscheidungsträger<br />

bei gleichzeitig starker Dominanz des Bürgermeisters<br />

gemeint.<br />

Die Forschungsergebnisse basieren auf Befragungen<br />

von Kommunalpolitikern in Baden-<br />

Württemberg und Nordrhein-Westfalen sowie<br />

hauptsächlich auf einer Sekundäranalyse von<br />

141 weiteren, landesweiten Untersuchungen, die<br />

nach 1945 in Deutschland durchgeführt wurden.<br />

Anstelle der x-ten Fallstudie über kommunale<br />

Parteien liefert der Autor also überblicksmäßig<br />

das empirische Konzentrat mannigfaltiger Werke<br />

zur repräsentativen Demokratie vor Ort. Zwischen<br />

den beiden Extremtypen der Konkordanzund<br />

Konkurrenzdemokratie wird so zugleich ein<br />

Intervall abgesteckt, auf dem sich die früheren<br />

Untersuchungen nun systematisch verorten lassen.<br />

Mit der Kreation dieses Analyserasters hat<br />

Holtkamp nicht weniger im Sinn, als zukünftige<br />

wissenschaftliche Arbeiten „anzuleiten“. Trotz<br />

dieses ehrgeizigen Vorhabens versteht er sein<br />

Buch aber in erster Linie als einen Beitrag zur<br />

empirisch-deskriptiven Demokratietheorie.<br />

Gleichwohl drückt er sich am Ende auch nicht<br />

vor einer normativen Begründung für die von<br />

ihm favorisierte Konkordanzdemokratie. Aus<br />

seiner Sicht sollte die kommunale Selbstverwaltung<br />

demnach nicht auf den Vollzug staatlicher<br />

Normen reduziert werden – wie für den Fall einer<br />

stärkeren Parteipolitisierung zu befürchten<br />

stehe –, sondern selbst aktiv politisch sein. Vor<br />

allem verspricht der Verfasser sich dadurch<br />

einen Zuwachs an demokratischer Legitimation.<br />

In der Wirklichkeit glaubt er praktischerweise<br />

entgegenkommende Tendenzen für sein konkordanzdemokratisches<br />

Ideal ausmachen zu können.<br />

Dafür sprächen etwa die weiterhin abnehmende<br />

Zahl der aktiven Parteimitglieder, die umfangreichen<br />

kommunalrechtlichen Reformen der vergangenen<br />

Jahre (z. B. im Wahlrecht) sowie die<br />

forcierte Ökonomisierung der Kommunalpolitik.<br />

Den vielfach geäußerten Hoffnungen, neue Formen<br />

der Bürgerbeteiligung auf kommunaler<br />

Ebene könnten zur einer Renaissance der Mitgliederparteien<br />

auf Landes- und Bundesebene<br />

beitragen, erteilt der Autor dagegen einen Dämpfer.<br />

Angesichts des zu erwartenden Trends in<br />

Richtung kommunaler Konkordanzdemokratie<br />

sei eher mit einer weiteren Entkopplung der heute<br />

faktisch bestehenden Kartellparteien zu rechnen<br />

– diesmal allerdings „von unten“.<br />

Diese Studie, die 2006 von der Fernuniversität<br />

Hagen als Habilitationsschrift angenommen<br />

wurde, macht deutlich, was kommunalpolitische<br />

Parteienforschung zu leisten vermag. Das Buch<br />

verbindet in hervorragender Weise ein hohes<br />

wissenschaftliches Abstraktionsniveau mit einer<br />

Klarheit im Ausdruck, die es auch den interessierten<br />

Laien in den Gemeinderäten und Amtsstuben<br />

zugänglich macht. Vor allem aber werden<br />

hier Fragen von Relevanz für die gesamte Politikwissenschaft<br />

verhandelt. Damit dürfte der Autor,<br />

der sich selbst seit fast 20 Jahren als Ratsmitglied<br />

der nordrhein-westfälischen Kleinstadt<br />

Waltrop engagiert, zumindest einen wichtigen<br />

Beitrag geleistet haben, um seinen Forschungsschwerpunkt<br />

stärker in den Fokus der Fachdisziplin<br />

zu rücken.<br />

Zu hinterfragen sind lediglich zwei Aspekte: ein<br />

normativer und ein methodischer. Im Zusammenhang<br />

mit dem zweiten Punkt muss generell<br />

noch einmal auf die bekannte Problematik von<br />

Sekundäranalysen hingewiesen werde. Holtkamp<br />

stützt seine Aussagen zum Großteil auf Daten,<br />

die er nicht selbst erhoben hat und die jeweils in<br />

einem anderen Kontext gesammelt wurden. Für<br />

die Qualität des Materials kann er sich also nicht<br />

vollständig verbürgen. Er sieht das Problem<br />

aber, wägt die Vor- und Nachteile des Verfahrens<br />

gegen einander ab und kommt letztlich zu<br />

dem Schluss, dass die Pro-Argumente für diese<br />

Methode überwiegen. Das kann man so akzeptieren.<br />

Auf normativer Ebene könnte man das Modell<br />

der kommunalen Konkurrenzdemokratie aber si-<br />

128


MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Rezensionen<br />

cherlich gegen das hier propagierte Konkordanzmuster<br />

aufwerten, indem man die Leistungen<br />

von Parteien und Verbänden im Sinne einer pluralistischen<br />

Gesellschaft stärker betont. Einstimmigkeit<br />

und Konsensorientierung sind nämlich<br />

nicht per se Gütekriterien der Demokratie, Streit<br />

dagegen schon. Gelegentlich scheint Holtkamp<br />

die Gefahren von Klüngel und Korruption zu unterschätzen,<br />

die von einem schwach ausgeprägten<br />

politischen Wettbewerb bei gleichzeitig geringer<br />

Publikumsorientierung ausgehen. Problematisch<br />

erscheint nicht zuletzt die starke Stellung<br />

des Bürgermeisters in der Konkordanzdemokratie,<br />

der in seiner Gemeinde häufig genug<br />

der einzige Hauptamtliche unter lauter Feierabendpolitikern<br />

ist. Dieser Umstand reduziert<br />

die Kontrollmöglichkeiten der kommunalen Vertretungskörperschaft<br />

ganz erheblich. Der Autor<br />

rechtfertigt den hohen Grad an exekutiver Führerschaft<br />

mit dem demokratischen Legitimationsbonus<br />

durch die Direktwahl des Stadtoberhauptes.<br />

In der plebiszitären Ermächtigung des<br />

Verwaltungsvorstehers muss man aber nicht notwendigerweise<br />

einen Zuwachs an Demokratie<br />

erblicken.<br />

Philipp Erbentraut<br />

Jun, Uwe/Haas, Melanie/Niedermayer, Oskar<br />

(Hrsg.): Parteien und Parteiensysteme in den<br />

deutschen Ländern, Wiesbaden: VS Verlag<br />

für Sozialwissenschaften, 2008. ISBN 978-3-<br />

531-15439-8, 472 Seiten, € 39,90.<br />

Dieser Sammelband liefert erstmals eine vergleichende<br />

Gesamtschau der einzelnen Parteiensysteme<br />

aller 16 Bundesländer. Damit werden die<br />

Herausgeber ihrem eigenen Anspruch gerecht,<br />

eine Lücke der Parteienforschung zu schließen.<br />

Denn abgesehen von einigen vergleichenden<br />

Darstellungen zu Einzelaspekten gab es bislang<br />

keinen umfassenden Überblick über die regionalen<br />

Parteien und Parteiensysteme. Zurück geht<br />

die Veröffentlichung auf eine Tagung des Arbeitskreises<br />

Parteienforschung der Deutschen<br />

Vereinigung für Politikwissenschaft im Jahr<br />

2004. Sie versteht sich gleichzeitig als Fortsetzung<br />

des 2006 erschienenen Bandes „Die Parteiensysteme<br />

Westeuropas“ (Niedermayer/ Stöss<br />

/Haas).<br />

Im Mittelpunkt der Arbeit stehen die – mit jeweils<br />

rund 20 Seiten Umfang erfreulich straff<br />

gehaltenen – Bundesländerstudien renommierter<br />

Parteienforscher und regionaler Experten. Der<br />

besseren Vergleichbarkeit dient die einheitliche<br />

Struktur der einzelnen Beiträge. Sie behandeln<br />

jeweils der Reihe nach die Rahmenbedingungen,<br />

die historische Entwicklung sowie Analyse der<br />

gegenwärtigen Struktur des Parteiensystems. Anschließend<br />

erfolgt die Einordnung des jeweiligen<br />

Landes- in den Kontext des Bundesparteiensystems.<br />

Den Schwerpunkt der Untersuchungen bilden<br />

dabei sinnvollerweise die neueren Entwicklungen<br />

seit 1990. Eine stärker theoretisch orientierte<br />

Einführung der Herausgeber in Forschungsstand<br />

und Thema, zwei Beiträge zu den<br />

Wechselwirkungen zwischen Bundes- und Landesebene<br />

sowie eine länderübergreifende Analyse<br />

unter dem Aspekt der Koalitionsbildung runden<br />

das Buch ab.<br />

Dabei fördert ein Vergleich der Länderkapitel<br />

neben zum Teil bekannten Fakten was die Besonderheiten<br />

ost- und westdeutscher Parteiensysteme<br />

betrifft, durchaus auch einige überraschende<br />

Ergebnisse zu Tage – etwa beim Blick auf die<br />

Asymmetrien zwischen Unionsparteien und Sozialdemokraten.<br />

So gibt es in der Bundesrepublik<br />

allein fünf regionale Parteiensysteme, die<br />

die Herausgeber als „hegemonial“ klassifizieren,<br />

weil in ihnen seit ihrem Bestehen eine der beiden<br />

großen Parteien beständig bessere Ergebnisse<br />

erzielen konnte als die andere. Dies sind<br />

Brandenburg und Bremen mit einem konstanten<br />

Übergewicht der SPD sowie Baden-Württemberg,<br />

Sachsen und Thüringen mit dauerhaftem<br />

Vorteil für die CDU. Interessanterweise fallen<br />

Bayern und Nordrhein-Westfalen, die gemeinhin<br />

als Hochburgen einer der beiden Parteien gelten,<br />

nicht in die Kategorie hegemonialer Systeme. In<br />

Bayern lag die SPD 1950 knapp vor der CSU. In<br />

NRW hatten die Sozialdemokraten bis zur verlorenen<br />

Wahl von 2005 ebenfalls erst ab 1980 die<br />

Nase vorn. Auch stammt die größte Differenz<br />

der Wahlergebnisse beider großen Parteien – anders<br />

als man vielleicht erwartet hätte – nicht aus<br />

Bayern. Fast unglaubliche 46,2 Prozentpunkte<br />

129


Rezensionen<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Vorsprung vor der SPD hatte die CDU 1999 bei<br />

der Landtagswahl in Sachsen. Ein weiterer spannender<br />

Aspekt: Sowohl was die Koalitionsbildungen<br />

als auch die generelle Entwicklung von<br />

regionalen Parteien und Parteiensystemen betrifft,<br />

weisen die Länder Hessen (Beitrag von<br />

Christoph Strünck) und Niedersachsen (Michael<br />

Koß und Tim Spier) eine gewisse Signal- und<br />

Schrittmacherfunktion für die Bundesebene auf.<br />

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass dieses<br />

Buch der Parteienforschung wertvolle Dienste<br />

als Nachschlage- und Überblickswerk leisten<br />

wird. In einem Anlauf dürfte sich wohl kaum jemand<br />

an die fast 500 daten- und faktengesättigten<br />

Seiten wagen. Das macht aber nichts. Die gut<br />

redigierten und durchweg aktuellen Einzelbeiträge<br />

können auch für sich allein stehen, eröffnen<br />

jedoch erst im Vergleich ihrer wichtigsten Resultate<br />

den Blick für allgemeine Trends regionaler<br />

Parteiensysteme in Deutschland. Weiterhin<br />

leistet eine derart groß und gründlich angelegte<br />

Untersuchung auf der Ebene der Bundesländer<br />

fast zwangsläufig einen wichtigen Beitrag zur<br />

Föderalismusdebatte. Man sollte diesen Aspekt<br />

nicht gering schätzen. Schließlich hat sich das<br />

Parteiensystem der Bundesrepublik nach dem<br />

Zweiten Weltkrieg nicht zentralistisch, sondern<br />

über die einzelnen regionalen Parteiensysteme<br />

entwickelt. Wurden die Konflikte auf Landesebene<br />

zunächst jedoch von der parteipolitischen<br />

Konfrontation im Bund mehr oder weniger überlagert,<br />

ist seit der Wiedervereinigung eine „Regionalisierung<br />

des Parteiensystems“ (Sturm) zu<br />

beobachten. Der gewachsenen Bedeutung der<br />

Länder – etwa als Versuchslaboratorium für<br />

neue Parteienkoalitionen – trägt dieser Band deshalb<br />

mit gutem Grund Rechnung.<br />

Philipp Erbentraut<br />

Koß, Michael: Staatliche Parteienfinanzierung<br />

und politischer Wettbewerb. Die Entwicklung<br />

der Finanzierungsregimes in<br />

Deutschland, Schweden, Großbritannien und<br />

Frankreich, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften,<br />

2008, ISBN 978-3-531-<br />

16350-5, 363 Seiten, € 39,90.<br />

Vormals verpönt hat die staatliche Parteienfinanzierung<br />

in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts<br />

zu einem wahrhaften Siegeszug in den etablierten<br />

Demokratien Westeuropas angesetzt und<br />

dabei den privaten Spenden und Mitgliedsbeiträgen<br />

als ursprünglich wichtigster Einnahmequelle<br />

den Rang abgelaufen. Ganz überwiegend<br />

genießt staatliche Förderung heute das Positivimage,<br />

fairen Parteienwettbewerb zu garantieren<br />

und wirksames Instrument im Kampf gegen die<br />

Korruption zu sein. Betrachtet man nur einmal<br />

die 15 EU-Staaten von 1995 plus Norwegen und<br />

der Schweiz, so fällt auf, dass lediglich drei dieser<br />

Länder über keine nennenswerte staatliche<br />

Alimentierung ihrer Parteien verfügen. Damit<br />

einher geht eine bemerkenswerte Angleichung<br />

der Transparenzvorschriften. Diese Konvergenzund<br />

Etatisierungsprozesse sind in der politikwissenschaftlichen<br />

Forschung durchaus zur Kenntnis<br />

genommen worden. Nur gingen bisherige<br />

Untersuchungen vor allem der Frage nach, welche<br />

Folgen die Einführung einer staatlichen Parteienfinanzierung<br />

zeitigt. Besonders stark rezipiert<br />

wurde in diesem Zusammenhang die Oligarchisierungsthese<br />

von Katz und Mair, wonach<br />

der warme Geldregen den Wandel des Parteiensystems<br />

in Richtung einer Kartellisierung mitbewirkt<br />

habe.<br />

Demgegenüber hat sich der Politikwissenschaftler<br />

Michael Koß in seiner Dissertation auf die<br />

Fahnen geschrieben, nicht nach den Konsequenzen<br />

der Entwicklung sogenannter Parteienfinanzierungsregimes<br />

zu fahnden, sondern deren Ursachen<br />

empirisch zu ergründen. Indem er hierbei<br />

den Zusammenhang von staatlicher Parteienfinanzierung<br />

und politischem Wettbewerb herstellt,<br />

möchte der Autor die Entwicklung der<br />

Parteienfinanzierung „multikausal“ erklären und<br />

gleichzeitig die von ihm diagnostizierte „Theorieferne“<br />

dieses Forschungsfeldes durch dessen<br />

130


MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Rezensionen<br />

Einbettung in die Lehre des Neo-Institutionalismus<br />

überwinden.<br />

In erster Linie versucht Koß zu zeigen, dass die<br />

Einführung bzw. Reform einer staatlichen Parteienfinanzierung<br />

nur gelingen kann, wenn die<br />

(etablierten und im Parlament vertretenen) Parteien<br />

darüber zu einem Konsens gelangen. Dieser<br />

wiederum sei umso wahrscheinlicher, je<br />

mehr institutionelle Entscheidungspunkte den<br />

Parteien zur Verfügung stünden, je geringer die<br />

Bedeutung des Ziels der Stimmenmaximierung<br />

für die Parteien sei und je intensiver der Korruptionsdiskurs<br />

in der Politik geführt werde.<br />

Konzipiert ist die Arbeit als vergleichende Vierländerstudie<br />

nach der Logik des „most-differentsystems-design“<br />

anhand der unterschiedlichen<br />

Finanzierungsmodi politischer Parteien. Dabei<br />

dienen Deutschland und Schweden als positive<br />

Fälle, in denen die staatlichen Zuwendungen<br />

einen bedeutenden Teil der Einkünfte der Parteien<br />

ausmachen sowie als negative Fälle Frankreich<br />

(bis 1988) und Großbritannien, in denen<br />

die Einführung einer nennenswerten Bezuschussung<br />

durch den Staat scheiterte. Am Ende einer<br />

umfangreichen qualitativen Analyse findet der<br />

Autor seine Eingangshypothesen bestätigt und<br />

ist – ohne den Anspruch auf Generalisierbarkeit<br />

zu erheben – doch vorsichtig optimistisch, was<br />

die Übertragbarkeit seiner Forschungsergebnisse<br />

auf andere Länder betrifft.<br />

Die Studie von Michael Koß besticht vor allem<br />

durch die Souveränität des Autors in methodischen<br />

Fragen. Durch die systematische Offenlegung<br />

und kritische Reflektion der eigenen Vorgehensweise<br />

sowie geschickte Vermittlungsvorschläge<br />

nimmt Koß möglichen Einwänden –<br />

etwa was die Fallauswahl, die generell begrenzte<br />

Aussagekraft von Fallstudien oder die etwas<br />

mysteriöse Herleitung der unabhängigen Variablen<br />

betrifft – bereits im Voraus die Spitze. Dabei<br />

stellt er vor allem in der sehr gelungenen<br />

Einleitung auch sein Talent unter Beweis, komplizierte<br />

sozialwissenschaftliche Zusammenhänge<br />

zuzuspitzen und auf den Punkt zu bringen.<br />

Die qualitativen, landeskundlichen, zum Teil<br />

zeithistorischen Analysen seiner Fälle sind ausgesprochen<br />

lehrreich und passagenweise packend<br />

geschrieben. Hier ist dem Autor die Leidenschaft<br />

für seinen Gegenstand – in allen Ländern<br />

hat er einige Zeit verbracht – förmlich anzumerken.<br />

Dennoch gibt es Anlass, Wasser in den Wein zu<br />

gießen. Anders als zu Beginn des Buches versprochen,<br />

deckt Koß nämlich keineswegs die Ursachen<br />

für die Einführung staatlicher Parteienfinanzierung<br />

auf. Das Verhältnis zwischen der<br />

Übereinkunft der Parteien und der Finanzierung<br />

durch den Staat ist offensichtlich konditionaler,<br />

nicht kausaler Art. Der Konsens der Parteien ist<br />

mit anderen Worten also nur eine notwendige<br />

Bedingung für staatliche Förderung, nicht aber<br />

deren Ursache. Die Frage nach der „wahren“ Ursache<br />

führt zugegebenermaßen zu komplexen<br />

Erwägungen und ist nicht leicht zu beantworten.<br />

Intuitiv möchte man vielleicht meinen, die Parteien<br />

brauchten das Geld. Es wird aber nicht<br />

ganz klar, ob der Autor diesen Unterschied nicht<br />

(an)erkennt oder er ihn aus Gründen der Erotik<br />

der Fragestellung bewusst nicht vertiefen möchte.<br />

Doch selbst, wenn man ihm diesen kleinen<br />

Kniff durchgehen lässt – „multikausal“ ist sein<br />

Ansatz zur Erklärung der Finanzierungsregimes<br />

auf keinen Fall. Die Studie lässt sich im Grunde<br />

auf die Feststellung reduzieren, dass es Parteienfinanzierung<br />

gibt, weil sich die Parteien darauf<br />

geeinigt haben. Tautologisch ist das noch nicht,<br />

aber vermutet hatte man es irgendwie schon immer.<br />

Philipp Erbentraut<br />

Udo Zolleis: Die CDU. Das politische Leitbild<br />

im Wandel der Zeit, Wiesbaden: VS Verlag<br />

für Sozialwissenschaften, 2008, ISBN 978-3-<br />

531-15548-7, 313 Seiten, € 34,90.<br />

In seiner Dissertation hat sich der Tübinger Politikwissenschaftler<br />

Udo Zolleis die inhaltliche<br />

Klärung und Bekräftigung des hohen „C“ im Namen<br />

der CDU zum Ziel gesetzt. Die Kernaussage<br />

lautet, dass die Partei in den vergangenen 60<br />

Jahren ihrer christdemokratischen Identität oder<br />

– wie er es formuliert – ihrem „politischen Leitbild“<br />

im Prinzip treu geblieben sei. Sie habe sich<br />

nicht in eine liberal-konservative Allerweltspar-<br />

131


Rezensionen<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

tei verwandelt und sei deshalb nach wie vor als<br />

ein Mitglied der christdemokratischen famille<br />

spirituelle anzusehen. Damit erteilt der Autor<br />

über den Einzelfall hinaus zugleich allen ökonomischen<br />

Theorien der Demokratie – von Weber<br />

über Downs und Kirchheimer bis hin zu Horner<br />

– eine Absage, die die Parteien seiner Meinung<br />

nach zu einseitig in der Rolle entideologisierter<br />

zweckrationaler Stimmenmaximierer interpretierten.<br />

Parteien seien aber mitnichten monolithische<br />

Zweck-Mittel-Gebilde. Sie besäßen vielmehr<br />

ein politisches Leitbild, das durch die jeweilige<br />

Entwicklungsgeschichte geprägt sei und<br />

ihr aktuelles Handeln nachhaltig beeinflusse.<br />

Die historischen Wurzeln der CDU verfolgt der<br />

Autor bis in das 19. Jahrhundert zurück. Wohlwollend<br />

rezipiert er dabei die Cleavage-Theorie<br />

von Rokkan und Lipset. In dieser Perspektive<br />

wird die Christdemokratie als das Produkt eines<br />

Grundkonflikts zwischen den Herausforderungen<br />

des modernen Staates und den überkommenen<br />

Rechtsansprüchen der katholischen Kirche<br />

gedeutet. Mit Hilfe der geschichtlichen Herleitung<br />

und eines Vergleichs verschiedener westeuropäischer<br />

Parteien macht Zolleis sodann klar,<br />

was er unter „christdemokratisch“ überhaupt<br />

versteht. Gemeint ist eine Politik, die sich vor<br />

dem Hintergrund eines Konsens’ christlicher<br />

Grundwerte mit den Schlagworten Mediation,<br />

Pluralismus, Personalität und Subsidiarität umreißen<br />

ließe. Übersetzt in programmatische<br />

Schwerpunkte bedeutet dies: Anti-Kommunismus,<br />

Selbstverständnis als Volkspartei, Bekenntnis<br />

zum Föderalismus und zur Sozialen Marktwirtschaft.<br />

Das analytische Verdienst des Verfassers besteht<br />

nun darin, dass er die Beteuerung dieser Prinzipien<br />

in folkloristischen Sonntags- und Parteitagsreden<br />

nicht mit der tatsächlichen Gültigkeit<br />

des politischen Leitbildes verwechseln möchte.<br />

Im Hauptteil der Arbeit werden deshalb Wirksamkeit<br />

und Wandel des spezifisch Christdemokratischen<br />

anhand der Wettbewerbstrategie der<br />

CDU, ihrer Programmatik und ihrer tatsächlichen<br />

(Wirtschafts-)Politik sowie ihres innerparteilichen<br />

Lebens anhand von Quellenmaterial,<br />

Experteninterviews und der Fachliteratur minutiös<br />

untersucht.<br />

Der Autor unterscheidet dazu in fünf etwas eigenwillig<br />

abgesteckten Zeitepochen der Parteigeschichte<br />

von 1948 bis 2003 zwischen Veränderungen<br />

erster, zweiter und dritter Ordnung –<br />

von kleinen Neujustierungen über eine Umstellung<br />

der eingesetzten Instrumente zur Politiksteuerung<br />

bis hin zu einem radikalen Wandel in<br />

der Hierarchie der Ziele. Während er dabei von<br />

Adenauer bis Kohl nur unwesentliche Bewegungen<br />

des politischen Leitbildes auszumachen vermag,<br />

sieht er für die Zeit nach 1998 tiefere Einschnitte<br />

auf die Partei zukommen. Von einem<br />

Paradigmenwechsel weg von einem christdemokratischen<br />

hin zu einem neoliberalen Politikverständnis<br />

unter Angela Merkel will der Autor –<br />

trotz der Beschlüsse des Leipziger Parteitages<br />

2003 – aber (noch) nichts wissen. Allerdings zeige<br />

das historisch schlechte Abschneiden bei der<br />

Bundestagswahl 2005, dass die CDU vor der<br />

Gefahr stehe, ihrem Anspruch als Volkspartei<br />

nicht mehr gerecht zu werden.<br />

Udo Zolleis verficht engagiert seine These von<br />

der Gültigkeit des hohen „C“. Dass er dabei auch<br />

den Mut zu kontroversen Ansichten hat, zählt sicherlich<br />

zu den Stärken dieser Studie. Desweiteren<br />

beeindruckt die Arbeit durch ihren Detailreichtum<br />

und den beträchtlichen Umfang des Literaturverzeichnisses.<br />

Alle Skeptiker werden<br />

sich damit allerdings nicht zufrieden geben. Vor<br />

allem die Einleitung wirkt doch reichlich konfus<br />

und ist mit der heißen Nadel gestrickt. Dies fängt<br />

exemplarisch schon mit dem allerersten Zitat des<br />

bekannten Theologen Oswald von Nell-Breuning<br />

an, zu dem der Originalbeleg fehlt und geht mit<br />

Unschärfen bei den grundlegenden Definitionen<br />

weiter: Ist das politische Leitbild – wie Zolleis<br />

behauptet – tatsächlich die Summe aller normativen<br />

Wertvorstellungen einer Partei? Als Kompass<br />

wäre ein solch lediglich aufaddiertes Nebeneinander<br />

verschiedener Werte wohl wenig<br />

hilfreich. In die Irre führt ebenfalls das nur einige<br />

Zeilen lange Unterkapitel „Zentrale Fragestellung“.<br />

Das eigentliche Erkenntnisinteresse hat<br />

der Autor zu diesem Zeitpunkt längst formuliert.<br />

Nun konfrontiert er den Leser mit vielen weiteren<br />

„zentralen Fragen“, deren Hierarchie ungeklärt<br />

bleibt. Immer wieder setzt er eigene Kategorien<br />

und Konzepte, die wie aus heiterem Him-<br />

132


MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Rezensionen<br />

mel auftauchen, zunächst ganz selbstverständlich<br />

voraus, um sie dann viele Seiten später erst umständlich<br />

in die Arbeit einzuführen – so, als wäre<br />

nie etwas gewesen. In diesen unsortierten Passagen<br />

leidet unter dem Ringen des Schreibenden<br />

mit seinem Gegenstand nicht zuletzt die Sprache.<br />

Eine entschlossenere Endredaktion hätte<br />

dem Text in jeder Beziehung gut getan.<br />

So werden leider auch die sehr interessanten<br />

theoretischen Einlassungen zum Rational-Choice-Ansatz<br />

aus der Einleitung am Ende des Buches<br />

nicht mehr aufgegriffen. Dies ist aus methodischer<br />

Sicht umso bedauerlicher, da Zolleis ja<br />

gerade die Unterkomplexität zweckrationaler Erklärungsmuster<br />

zur Beschreibung des Verhaltens<br />

von Parteien dokumentieren möchte und die Ansicht<br />

vertritt, dass im Zweifelsfall Ideologie vor<br />

Stimmenmaximierung geht. Eine These, die –<br />

freundlich formuliert – Diskussionsbedarf weckt.<br />

Der Fall, in dem die CDU aus Treue zu ihrem<br />

christdemokratischen Leitbild freiwillig auf<br />

Stimmen verzichtet hätte, müsste noch nachgereicht<br />

werden.<br />

Philipp Erbentraut<br />

Schroeder, Wolfgang (Hrsg.): Parteien und<br />

Parteiensystem in Hessen. Vom Vier- zum<br />

Fünfparteiensystem?, Wiesbaden: VS Verlag<br />

für Sozialwissenschaften, 2008, ISBN 978-3-<br />

531-16003-0, 340 Seiten, € 29,90.<br />

Das aufsehenerregende Ergebnis der Landtagswahl<br />

im Januar 2008 und die nicht minder dramatischen<br />

Ereignisse um die fehlgeschlagenen<br />

Versuche zur Regierungsbildung im Verlaufe<br />

des Jahres haben die öffentliche Aufmerksamkeit<br />

im Jahr 2008 wieder verstärkt auf die hessische<br />

Parteipolitik gelenkt. Das Erscheinen des<br />

von Wolfgang Schroeder herausgegebenen Bandes<br />

"Parteien und Parteiensystem in Hessen" hätte<br />

kaum besser terminiert sein können.<br />

Die im Buch versammelten Autorinnen und Autoren<br />

stellen die Parteien als Regierungs- bzw.<br />

Parlamentsparteien (party in office) und als Parteiorganisationen<br />

(the party proper) in den Mittelpunkt.<br />

Einführend werden die seit 2008 im<br />

Landtag vertretenen Parteien vorgestellt, neben<br />

ihnen auch ein Blick auf die Freien Wähler, die<br />

rechtsextremistische Parteienszene und die sonstigen<br />

Klein(st)parteien geworfen. Dabei wird<br />

nicht nur die jeweilige innerparteiliche Entwicklung<br />

nachgezeichnet, sondern im Zuge dessen<br />

auch Stück für Stück eine politische hessische<br />

Nachkriegsgeschichte zusammengesetzt.<br />

Als prägend für die hessische Parteipolitik wird<br />

dabei immer wieder der konkurrenzdemokratische<br />

Charakter des hessischen Parteiensystems<br />

betont. In Hessen wurde mehr als wohl in kaum<br />

einem anderen Bundesland eine Lagergegnerschaft<br />

gepflegt, in der sich FDP und Grüne eindeutig<br />

als quasi-natürlicher Bündnispartner einer<br />

der beiden Volksparteien betrachteten. Das vergangene<br />

Jahr hat diese Lager (noch?) einmal<br />

mehr bestätigt, was das Scheitern der Bildung einer<br />

neuen Regierung nach der Landtagswahl<br />

2008 maßgeblich mitverursacht hat.<br />

Der eher konfrontative politische Stil kristallisierte<br />

sich in den siebziger Jahren besonders<br />

stark in der Schulpolitik, die der seit den sechziger<br />

Jahren unter Alfred Dregger erstarkenden<br />

Landes-CDU die Chance zur Mobilisierung gegen<br />

die seit 1946 regierende SPD gab. Diesem<br />

Politikfeld, das auch in jüngster Vergangenheit<br />

wieder seine Brisanz gezeigt hat, wird im vorliegenden<br />

Band daher zurecht ein eigenes Kapitel<br />

gewidmet. SPD- und CDU-Regierungen haben<br />

hier auf ihre jeweils eigene Weise versucht, in<br />

der Schulpolitik des Landes dem Anspruch<br />

"Hessen vorn" gerecht zu werden. In beiden Fällen<br />

bot dies der jeweiligen Opposition jedoch<br />

Gelegenheit, der Regierungspartei bei folgenden<br />

Wahlen empfindliche Niederlagen zuzufügen.<br />

Für den politisch interessierten Leser bieten besonders<br />

die Kapital zu den Parteien eine hochinteressante<br />

Lektüre, bei der auch der ein oder andere<br />

für Außenstehende verblüffende Aspekt zu<br />

Tage gefördert wird; so die parteiinterne Einschätzung<br />

Roland Kochs als "Linker" in der<br />

CDU, als er 1989 zum ersten mal zum Vorsitzenden<br />

der CDU-Landtagsfraktion gewählt wird.<br />

Die umstrittenen Kampagnen gegen das rot-grüne<br />

Einwanderungsgesetz 1999 und für die Verschärfung<br />

des Jugendstrafrechts 2008 erscheinen<br />

in der hier gegebenen Darstellung so auch eher<br />

133


Rezensionen<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

als taktisches Instrument zur Mobilisierung von<br />

Kernwählerschichten denn als Ausdruck einer<br />

ideologischen Durchdringung der Parteiführung.<br />

Gegenüber der teilweise sehr plastischen und<br />

spannenden Darstellung des zugespitzten hessischen<br />

Politikstils seit den sechziger Jahren hätte<br />

man sich jedoch noch eine etwas stärker gebündelte,<br />

systematische Grundlegung der gesellschaftlichen<br />

Voraussetzungen des hessischen<br />

Parteiensystems gewünscht. In einem Bundesland,<br />

in dem so gegensätzliche Prägungen wie<br />

im tief katholischen Fulda einerseits und dem säkular-internationalen<br />

Frankfurt existieren, wäre<br />

ein knappes Kapitel zu sozialstrukturellen Merkmalen<br />

der hessischen Bevölkerung angezeigt gewesen.<br />

Hierzu finden sich lediglich in den Parteienkapiteln<br />

vereinzelte Hinweise, die sich<br />

i.d.R. aber auf einzelne Wahlen beschränken. So<br />

vermißt man letztlich ein bißchen die Perspektive<br />

auf die gesellschaftliche Verwurzelung der<br />

Parteien (party in the electorate). Dies soll jedoch<br />

nicht den Wert des Bandes schmälern, der<br />

durch seine Betrachtung gerade auch der jüngeren<br />

politischen Auseinandersetzungen in den<br />

Jahren der Regierung Koch im Lande Hessen<br />

eine hochaktuelle Studie darstellt. Gerade auch<br />

die vorgezogenen Neuwahlen im Januar 2009<br />

haben die im vorliegenden Band dargestellten<br />

Muster der hessischen "Blockkonfrontation" der<br />

Parteilager eindrucksvoll bestätigt.<br />

Urs Lesse<br />

Völkl, Kerstin [u. a.]: Wähler und Landtagswahlen<br />

in der Bundesrepublik Deutschland,<br />

Baden-Baden: Nomos, 2008, ISBN 978-3-<br />

8329-3057-82008, 489 Seiten, € 59.<br />

Sind Landtagswahlen noch immer "second-order<br />

elections", bundespolitische Neben- oder Testwahlen,<br />

wie Reif und Schmitt Anfang der achtziger<br />

Jahre feststellten? Oder finden landespolitische<br />

Faktoren viel stärker Eingang in das individuelle<br />

Wahlverhalten, als bislang vielfach angenommen?<br />

Diese Fragen stehen im Mittelpunkt<br />

der 16 Länderstudien, die den Kern des vorliegenden<br />

Bandes bilden. Methodischer Kern des<br />

Vorhabens war dabei, über die bisherige Beschränkung<br />

auf Aggregatdaten (Wahlstatistiken)<br />

hinaus auf Wahlumfragen zuzugreifen, die Aufschlüsse<br />

über die individuellen Wa(e)hl(er)motive<br />

erlauben.<br />

Die Autoren der Beiträge gehen einheitlich vom<br />

Michigan-Modell aus, das Wahlverhalten aus<br />

grundlegenden, längerfristigen Parteibindungen<br />

(Parteiidentifikation) einerseits und wahlkontextspezifischen<br />

Kandidaten- und Themenorientierungen<br />

andererseits erklärt. Die Tendenz<br />

dazu, eine wachsende Bedeutung landesspezifischer<br />

Motive des Wahlverhaltens ausfindig zu<br />

machen, ist fast allen Beiträgen gemein. Solche<br />

landesspezifischen Faktoren sehen sie dabei vor<br />

allem in den Kandidaten und kampagnedominierenden<br />

Themen, während die Parteiidentifikation<br />

in der Regel in den Hintergrund der Betrachtung<br />

tritt. Es sei nicht möglich, die Parteiidentifikation<br />

eindeutig einer Ebene (Bund oder Land) zuzuschreiben,<br />

sind sich die meisten Beiträge einig.<br />

Ob dies tatsächlich so zutrifft oder ob es<br />

vielleicht sogar Ansätze zu ebenenspezifischen<br />

Parteiidentifikationen - wie sie in Kanada existieren<br />

- gibt, erscheint vor diesem Hintergrund<br />

eine lohnende Frage, die der vorliegende Band<br />

mit dem vorhandenen Umfragematerial aber<br />

nicht bearbeiten konnte. Eine solche Untersuchung<br />

ist für die Zukunft wünschenswert.<br />

Auch wenn die hier versammelten Studien einhellig<br />

einräumen, daß die Parteiidentifikation<br />

der Faktor mit der größten Erklärungskraft<br />

bleibt, so stehen doch die für die übergreifende<br />

Frage nach dem Verhältnis von Bundes- und<br />

Landeseinflüssen zentralen Kandidaten- und<br />

Themenorientierungen im Mittelpunkt. Insbesondere<br />

die politische Bilanz bzw. Bewertung<br />

der jeweiligen Landesregierungen sowie der Zusammenhang<br />

des Wahlverhaltens mit der Bewertung<br />

der Landesparteien, deren Bundesparteien<br />

zum Wahlzeitpunkt die Bundesregierung<br />

stellen, erhält dabei größtes Augenmerk. Im Ergebnis<br />

konstatieren die meisten Beiträge einen<br />

stärkeren landespolitischen Einfluß auf das<br />

Wahlverhalten in Landtagswahlen als bislang -<br />

in den Aggregatdaten-konzentrierten Arbeiten -<br />

angenommen. Zum Teil ist dies auch aus den<br />

einfachen Wahlergebnissen abzulesen.<br />

134


MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Rezensionen<br />

Als Herausforderung erweist sich dabei, daß die<br />

vorliegenden Wahlumfragen aus den Jahren<br />

1962 bis 2006 aufgrund unterschiedlicher Fragenkataloge<br />

nur teilweise für eine vergleichende<br />

Zeitreihenbetrachtung geeignet sind. Fast alle<br />

Länderstudien müssen die Faktoren unterschiedlich<br />

modellieren und operationalisieren. Dies erschwert<br />

leider sowohl den jeweiligen Zeitvergleich<br />

innerhalb der Länderstudien als auch den<br />

Vergleich der Länderstudien untereinander. Diese<br />

methodischen Herausforderungen resultieren<br />

zudem darin, daß jede Länderstudie zunächst<br />

eine eigene theoretische Herangehensweise darlegt,<br />

was einerseits – aufgrund des unterschiedlichen<br />

Datenmaterials – unverzichtbar erscheint,<br />

andererseits - die bisherige Forschung wird sehr<br />

ähnlich in allen Beiträgen resümiert - die Lektüre<br />

etwas erschwert.<br />

Die dem vorliegenden Band zugrundeliegende<br />

Frage ist noch keineswegs abschließend beantwortet.<br />

Der DVPW-Arbeitskreis "Wahlen und<br />

politische Einstellungen" widmet sich daher in<br />

einer Tagung im Mai 2009 in Frankfurt ebenfalls<br />

dem Thema.<br />

Urs Lesse<br />

Schmitz, Karsten: Wahlsysteme und Parteiensysteme<br />

in Osteuropa. Analyse des Einflusses<br />

der Wahlsysteme auf die Parteiensysteme<br />

Osteuropas im Transformationsprozess,<br />

Saarbrücken: VDM-Verlag, 2008, ISBN 3-<br />

8364-3242-0, 164 Seiten, € 68.<br />

Die Wahlsysteme und Parteiensystems in Osteuropa<br />

waren seit 1990, wie Karsten Schmitz in<br />

seiner Diplomarbeit zeigt, einem ständigen<br />

Wandel unterworfen. Unübersehbar ist, wie oft<br />

machtpolitische Motive Änderungen im Wahlrecht<br />

hervorbrachten. Andererseits demonstriert<br />

die vorliegende Arbeit aber auch, daß sich zunehmend<br />

taktische "Lerneffekte" eingestellt haben<br />

- sowohl bei Wählern als auch den Parteien.<br />

So ist in einem Zusammenspiel von Verschärfungen<br />

der landesweiten Sperrklausel und einer<br />

entsprechenden Wahlbündnispolitik der antretenden<br />

Parteien in Polen inzwischen eine deutliche<br />

"Flurbereinigung" des Parteiensystems erfolgt:<br />

Zogen bei den ersten freien Wahlen 1991<br />

noch 29 Parteien und Gruppierungen in den<br />

Sejm ein, so sind im aktuellen Sejm nach der<br />

Wahl von 2007 nur noch vier Fraktionen vertreten.<br />

Zugleich passen sich auch die Wähler zunehmend<br />

der Wahlsystemlogik an - nur noch<br />

4,1% der Stimmen wurden 2007 für Parteien<br />

und Kandidaten abgegeben, die den Sprung in<br />

das Parlament letztlich verfehlten.<br />

Gemessen an den traditionellen Annahmen über<br />

die Auswirkungen von Mehrheits- und Verhältniswahlsystemen<br />

kommt Schmitz zu einem teilweise<br />

überraschenden Fazit. So weisen die wenigen<br />

osteuropäischen Wahlen, die unter einem<br />

Mehrheitswahlrecht abgehalten wurden, nicht<br />

den höchsten Konzentrationseffekt auf. Vielmehr<br />

erweist sich im Untersuchungszeitraum<br />

eine Sperrklausel auf nationaler Ebene im Rahmen<br />

eines Verhältniswahlsystems als effektiverer<br />

Mechanismus zur Reduzierung von Fragmentierung.<br />

Wahrscheinliche Ursache hierfür dürfte<br />

sein, daß neue politische Kräfte – die nicht nur<br />

1990, sondern auch bei zahlreichen folgenden<br />

Wahlen in Osteuropa eher die Regel als die Ausnahme<br />

bildeten – sich nicht sofort als national<br />

vertretene Kraft formierten, sondern aus regionalen<br />

Schwerpunkten entstanden. Dies ermöglichte<br />

häufig sogar die erfolgreiche Kandidatur für Direktmandate,<br />

nicht jedoch die Überwindung nationaler<br />

Sperrklauseln.<br />

Daneben zeigt Schmitz' Arbeit aber vor allem<br />

auch die Grenzen der Steuerbarkeit der Parteiensysteme<br />

mit Mitteln des Wahlrechts. So liefen<br />

auch offensichtliche Manipulationsversuche wie<br />

in der Slowakei ins Leere: So versuchte die autoritäre<br />

Meciar-Regierung vor der Wahl 1998,<br />

mittels einer Anhebung der Sperrklausel für<br />

Wahlbündnisse das ungeliebte oppositionelle<br />

Wahlbündnis aus dem Parlament fernzuhalten.<br />

Die oppositionellen Kräfte reagierten darauf jedoch<br />

unerwartet flexibel und formten ihr Bündnis<br />

kurzerhand in eine Partei um – auf die nach<br />

wie vor die alte, niedrigere Sperrklausel anzuwenden<br />

war.<br />

Neben diesen vorsichtigen Generalisierungen<br />

bietet sich die vorliegende Arbeit aber auch als<br />

schnelles Nachschlagewerk an, das grob die al-<br />

135


Rezensionen<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

lerwichtigsten Entwicklungen in den Wahl- und<br />

Parteiensystemen Osteuropas seit dem Fall des<br />

Eisernen Vorhangs 1989/90 chronologisch nachzeichnet.<br />

Das Buch ist angesichts des rasanten<br />

Wandels, der sich in vielen der untersuchten<br />

Ländern allein schon zwischen nur zwei Wahlen<br />

vollzog, eine willkommene Orientierungshilfe.<br />

Urs Lesse<br />

136


MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Rechtsprechungsübersicht<br />

Rechtsprechungsübersicht<br />

1. Grundlagen zum Parteienrecht<br />

BVerfG, Urteil vom 12.03.2008 – 2 BvF 4/03, in: NVwZ 6 (2008), S. 658-665 (Beteiligung politischer<br />

Parteien an privaten Rundfunkunternehmen).<br />

BGH, Urteil vom 14.10.2008 – 1 StR 260/08 (LG Karlsruhe), in: NJW 49 (2008), S. 3580-3585<br />

(Vorwurf der Vorteilsgewährung wegen Versendung von WM-Tickets an politische Funktionsträger).<br />

Hessischer VGH, Urteil vom 04.01.2008 – 8 B 17/08, veröffentlicht bei juris (Zur Prüfungsbefugnis<br />

der öffentlichen Rundfunkanstalten hinsichtlich verfassungswidriger Inhalte von Wahlwerbespots<br />

politischer Parteien).<br />

Bayerischer VGH, Urteil vom 26.05.2008 – 21 BV 07.586, nicht veröffentlicht (Parteienprivileg<br />

und Anwendbarkeit von § 5 II Nr. 3 WaffG bei parteioffizieller oder parteiverbundener Tätigkeit).<br />

LAG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 30.09.2008 – 2 TaBV 25/08, nicht veröffentlicht (Parteipolitische<br />

Betätigung im Betrieb nicht bei Aufruf gegen den Irak-Krieg).<br />

LG Dresden, Urteil vom 08.04.2008 – 3 O 3466/07, in: AfP 3 (2008), S. 321-322 (Zum Anspruch<br />

einer politischen Partei auf Veröffentlichung eines vorformulierten Textes).<br />

SG Berlin, Urteil vom 22.05.2008 – S 36 KR 2517/07, nicht veröffentlicht (Versicherungspflicht<br />

des Vorstandes eines Landesverbandes einer politischen Partei).<br />

VG Köln, Urteil vom 13.12.2007 – 20 K 3077/06, nicht veröffentlicht (Speicherung der nachrichtendienstlich<br />

erworbenen Daten zur Person eines Abgeordneten).<br />

VG Frankfurt, Beschluss vom 03.01.2008 – 10 G 4397/07. nicht veröffentlicht (Verfassungswidrige<br />

Inhalte von Wahlwerbespots).<br />

VG Sigmaringen, Urteil vom 22.10.2008 – 1 K 938/08, nicht veröffentlicht (Förderungsminderung<br />

durch geleistete Parteispende bei Berechnung des Elterneinkommens).<br />

VG Aachen, Beschluss vom 04.11.2008 – 6 L 478/08, nicht veröffentlicht (Versammlungsverbot<br />

bleibt aufrecht erhalten, soweit Versammlungsleiter auch als Redner auftreten will).<br />

2. Chancengleichheit<br />

BVerwG, Beschluss vom 30.04.2008 – 6 B 16/08, online veröffentlicht bei juris (Rechtsmissbräuchliche<br />

Geltendmachung des Anspruchs auf Einräumung eine Girokontos).<br />

BGer Lausanne, Urteil vom 25.10.2007 – 2 C_335/2007, in: EuGRZ 2008, S. 520 (Unzulässigkeit<br />

der Ausstrahlung des Fernsehporträts eines amtierenden Stadtrats unmittelbar vor den Erneuerungswahlen/Rüge<br />

der Unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen).<br />

Bayerischer VGH, Beschluss vom 14.01.2008 – 4 CE 08.60, nicht veröffentlicht (Überlassung einer<br />

Stadthalle an die NPD).<br />

Bayerischer VGH, Beschluss vom 21.02.2008 – 4 ZB 07.3489, online veröffentlicht bei juris (Überlassung<br />

einer Stadthalle an die NPD).<br />

Bayerischer VGH, Beschluss vom 21.02.2008 – 4 AE 08.282, online veröffentlicht bei juris (Überlassung<br />

einer Stadthalle an die NPD).<br />

137


Rechtsprechungsübersicht<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Bayerischer VGH, Beschluss vom 14.01.2008 – 4 C 08.96, online veröffentlicht bei juris (Überlassung<br />

einer Stadthalle an die NPD).<br />

Bayerischer VGH, Beschluss vom 13.06.2008 – 4 CE 08.726, veröffentlicht auf der Internetseite des<br />

BayVGH (Überlassung einer Stadthalle an die NPD).<br />

Bayerischer VGH, Beschluss vom 06.08.2008 – 4 CE 08.2070, online veröffentlicht bei juris (Überlassung<br />

einer Gemeindehalle an die NPD).<br />

OVG Niedersachsen, Beschluss vom 08.06.2007 – 12 ME 224/07, veröffentlicht in der Rechtsprechungsdatenbank<br />

des Niedersächsischen OVG (Sondernutzungserlaubnis für den Informationsstand<br />

einer politischen Partei).<br />

OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 14.12.2007 – 3 B 7.06, online veröffentlicht bei juris (Einrichtung<br />

eines Girokontos für eine Partei bei der Berliner Sparkasse).<br />

OVG NRW, Beschluss vom 02.04.2008 – 15 B 499/08, in: Städte- und Gemeinderat 2008, S. 29 f.<br />

(Informationsblatt zu einem Bürgerbescheid)<br />

OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 18.04.2008 – 7 B 10404/08, in: LKRZ 2008, S. 236 (Widerruf<br />

der Nutzungszusage für die Veranstaltung eines NPD-Kreisverbandes).<br />

OVG Thüringen, Beschluss vom 16.09.2008 – 2 EO 490/08, in: ThürVBl. 2009, S. 36 ff. (Begrenzung<br />

des Zwecks einer öffentlichen Einrichtung durch Satzungsänderung nach Stellung eines Zulassungsantrages).<br />

OLG Saarland, Urteil vom 03.07.2008 – 8 U 39/08 – 13, in: NJW-RR, S. 1632 f. (Erfolgloser vorläufiger<br />

Rechtsschutz einer politischen Partei auf Weiterführung gekündigter Bankkonten).<br />

LG Saarbrücken, Urteil vom 21.12.2007 – 1 O 422/07, nicht veröffentlicht (Kündigung eines Girokontos<br />

einer politischen Partei).<br />

VG Berlin, Urteil vom 25.04.2006 – 2 A 62.05, nicht veröffentlicht (Eröffnung eines Girokontos für<br />

die NPD).<br />

VG Braunschweig, Beschluss vom 07.06.2007 – 6 B 163/07, in: KommJur 3 (2008), S. 95-98 (Sondernutzungserlaubnis<br />

für den Informationsstand einer politischen Partei).<br />

VG Augsburg, Urteil vom 19.11.2007 – Au 7 K 07.918, online veröffentlicht bei juris (überlassen<br />

eines Saales an die NPD).<br />

VG Oldenburg, Beschluss vom 20.12.2007 – 7 B 3546/07, in: NVwZ-RR 7 (2008), S. 465-466 (Erteilung<br />

einer straßenverkehrsrechtlichen Ausnahmegenehmigung für Lautsprecherwagen einer Partei<br />

im Wahlkampf).<br />

VG Bayreuth, Beschluss vom 02.01.2008 – B 2 07.1288, nicht veröffentlicht (Überlassung einer<br />

Stadthalle an die NPD).<br />

VG Bayreuth, Beschluss vom 09.01.2008 – B 2 V 08.19, nicht veröffentlicht (Überlassung einer<br />

Stadthalle an die NPD).<br />

VG Augsburg, Beschluss vom 28.02.2008 – Au 7 E 08.229, nicht veröffentlicht (Nutzung von Anschlagtafeln<br />

bei Kommunalwahl).<br />

VG Sigmaringen, Beschluss vom 05.03.2008 – 5 K 2558/07, online veröffentlicht bei juris (Eröffnung<br />

eines Girokontos für eine politische Partei bei einer Sparkasse als öffentlich-rechtliche Streitigkeit).<br />

138


MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Rechtsprechungsübersicht<br />

VG Bayreuth, Beschluss vom 18.03.2008 – B 2 E 08.144, nicht veröffentlicht (Überlassung einer<br />

Stadthalle an die NPD).<br />

VG Düsseldorf, Beschluss vom 28.03.2008 – 1 L 520/08, online veröffentlicht bei juris (Einstweiliger<br />

Rechtsschutz im Zusammenhang mit der Information in einem Bürgerbescheid).<br />

VG Koblenz, Beschluss vom 17.04.2008 – 1 L 430/08, nicht veröffentlicht (Nutzung einer Stadthalle<br />

durch NPD).<br />

VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 10.07.2008 – 4 K 1176/04, online veröffentlicht bei juris (Eröffnung<br />

eines Fraktionsgirokontos).<br />

VG Gera, Beschluss vom 23.07.2008 – 2 E 636/08 Ge, nicht veröffentlicht (Überlassung einer<br />

Stadthalle an die NPD).<br />

VG Regensburg, Beschluss vom 30.07.2008 – RN 3 E 08.1215, veröffentlicht auf der Internetseite<br />

des BayVGH (Überlassung einer Stadthalle an die NPD).<br />

VG München, Beschluss vom 08.09.2008 – M 7 E 08.4347, nicht veröffentlicht (Verpflichtung, bestimmte<br />

politische Partei im Internet unter der Adresse www.wahlomat.de betriebenes System zur<br />

Landtagswahl 2008 in Bayern mit einzubeziehen).<br />

VG Gera, Urteil vom 05.11.2008 – 2 K 37/08, online veröffentlicht bei juris (Anspruch der NPD<br />

auf Eröffnung eines Girokontos).<br />

VG Stuttgart, Beschluss vom 13.10.2008 – 7 K 3583/08, online veröffentlicht bei juris (Betrieb einer<br />

gemeindlichen Veranstaltungshalle durch GmbH, deren Alleingesellschafterin die Gemeinde ist;<br />

Anspruch einer nicht verbotenen Partei auf Zugang).<br />

3. Parteienfinanzierung<br />

BVerfG, Beschluss vom 17.04.2008 – 2 BvL 4/05, in: NJW 41 (2008), S. 2978 (Steuerliche Behandlung<br />

von Zuwendungen an Wählervereinigungen).<br />

VG Berlin, Urteil vom 20.08.2008 – VG 2 A 28.07, nicht veröffentlicht (Rückforderung staatlicher<br />

Parteienfinanzierung).<br />

4. Parteien und Parlamentsrecht<br />

NdsOVG, Urteil vom 13.03.2008 – 8 LC 1/07, in: NordÖR 9 (2008), S. 380-389 (Verbotene Zuwendungen<br />

an Landtagsabgeordnete).<br />

VGH Saarland, Urteil vom 03.12.2007 – Lv 12/07, in: LKRZ 3 (2008), S. 96-100 (Abberufung von<br />

weiteren Mitgliedern des Präsidiums des Landtages wegen Austritts aus der Fraktion).<br />

VGH NRW, Urteil vom 19.08.2008 – VerfGH 7/07, in: RÜ 10/2008, S. 651-655 (Informationsrechte<br />

des Abgeordneten gegenüber der Regierung).<br />

VerfGH Sachsen, Urteil vom 29.08.2008 – 1 54-I-07, in: NJ 11 (2008), S. 506-508 (Aktenvorlagepflicht<br />

der Staatsregierung gegenüber einem Untersuchungsausschuss).<br />

139


Rechtsprechungsübersicht<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

5. Wahlrecht<br />

BVerfG, Urteil vom 13.02.2008 – 2 BvK 1/07, in: KommJur 2008, S. 248-258 (5-%-Klausel im<br />

Kommunalwahlrecht Schleswig-Holstein).<br />

BVerfG, Urteil vom 03.07.2008 – 2 BvC 1/07, 2 BvC 7/07, in: NJW 37 (2008), S. 2700 (Regelungen<br />

des Bundeswahlgesetzes, aus denen sich Effekt des negativen Stimmgewichts ergibt, ist verfassungswidrig).<br />

VerfGH NRW, Urteil vom 16.12.2008 – VerfGH 12/08, nicht veröffentlicht (Verletzung der Chancengleichheit<br />

durch teilweise verfassungswidriges Kommunalwahlrecht).<br />

ThürVerfGH, Urteil vom 11.04.2008 – VerfGH 22/05, in: ThürVBl. 8 (2008), S. 174-178 (5-%-<br />

Sperrklausel bei Kommunalwahlen nichtig).<br />

HessVGH, Beschluss vom 04.01.2008 – 8 B 17/08, in: DÖV 8 (2008), S. 340-341 (Parteienwerbung<br />

im Rundfunk).<br />

LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 26.06.2008 – 4/07, in: NJ 9 (2008), S. 407-408<br />

(Verlängerung der Wahlperiode auf fünf Jahre).<br />

NdsOVG, Urteil von 26.03.2008 – 10 LC 203/07, in: NdsVBl. 7 (2008), S. 207-210 (Zu den Anforderungen,<br />

die das Neutralitätsgebot von Amtsträgern bei Wahlen zu stellen sind. Hier unzulässige<br />

Wahlbeeinflussung durch ein Interview des Landrates bejaht).<br />

OVG MV, Beschluss von 29.02.2008 – 2 O 141/07, in: DÖV 19 (2008), S. 828 (Öffentlichkeitsarbeit<br />

vor Wahlen).<br />

OVG Saarlouis, Urteil vom 04.04.2008 – 3 A 8/07, in: NVwZ-RR 9 (2008), S. 638 (Anfechtung einer<br />

Bürgermeisterwahl wegen unzulässiger Melderegisterauskünfte).<br />

VG Würzburg, Beschluss vom 30.05.2008 – W 4 E 08.1047, nicht veröffentlicht (Informationsstand<br />

einer politischen Partei).<br />

VG Regensburg, Urteil vom 01.10.2008 – RN 3 K 08.00955, nicht veröffentlicht (Beurteilung des<br />

„beherrschenden Betreibens“ i. S. d. Art. 24 III 2 Nr. 4 KomWG BY ausschließlich nach formellen<br />

Gesichtspunkten).<br />

140


MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Literaturübersicht<br />

Neuerscheinungen zu Parteienrecht und Parteienforschung<br />

Dieser Literaturüberblick schließt an die in Heft 14 der „Mitteilungen des Instituts für Deutsches<br />

und Europäisches Parteienrecht“, S. 120 ff. aufgeführte Übersicht an. Auch hier handelt es sich um<br />

eine Auswahlbibliographie, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben will. Im wesentlichen<br />

wurden Publikationen der Jahre 2007/2008 berücksichtigt. Entsprechend der Konzeption kann und<br />

soll im Rahmen der reinen Übersicht keine inhaltliche Auseinandersetzung mit den jeweiligen Publikationen<br />

geleistet werden.<br />

Bartels, Hans-Peter: Wahlkreiskommunikation. Daten aus der Praxis eines Bundestagsabgeordneten,<br />

in: ZParl 3 (2008), S. 487-493.<br />

Bytzek, Evelyn/ Shikano, Susumu: Zwei Stimmen als Ausweg aus schwierigen Entscheidungen bei<br />

Landtagswahlen? – Eine Analyse der niedersächsischen Landtagswahlen, Baden-Baden 2008.<br />

Centre for Democratic Institutions: Political parties in conflict-prone societies: regulation, engineering<br />

and democratic development, überregionale Aufsatzsammlung, 2008.<br />

Christoforo, Erardo: Erneutes NPD-Verbotsverfahren – Die Demokratie vor ihren Feinden schützen!,<br />

in: DRiZ 86 (2008), S. 172.<br />

Donges, Patrick: Medialisierung politischer Organisationen. Parteien in der Mediengesellschaft,<br />

Wiesbaden 2008.<br />

Drysch, Thomas: Die steuerfreie Kostenpauschale für Bundestagsabgeordnete – ein verfassungswidriges<br />

Privileg!, in: DRiZ S. 1217-1224.<br />

Franz, Wolfgang: Staatssekretäre und das Leistungsprinzip – Ein Bereich massiven Rechtsbruchs<br />

der politischen Klasse, in: ZBR 2008, S. 236-243.<br />

Franzmann, Simon: Programmatische Konvergenz innerhalb der westeuropäischen Parteienfamilien?<br />

Ein Vergleich von christ- und sozialdemokratischen Parteien in Europa, in: ÖZP 1 (2008),<br />

S. 79-98.<br />

Gärditz, Ferdinand: Kommunale Wahlkampfkostenfinanzierung zwischen Privatautonomie und<br />

Wahlrecht, in: BayVBl. 3 (2008), S. 72-75.<br />

Gast, Hendrik: Bundeskanzler und Parteiführer – zwei Rollen im Konflikt? Parteiendemokratie,<br />

Parteivorsitz und politische Führung, in: ZParl 1 (2008), S. 42-60.<br />

Genett, Timm: Der Fremde im Kriege: Zur politischen Theorie und Biographie von Robert Michels<br />

1876-1936, Berlin 2008.<br />

Glaser, Andreas: Nachhaltige Entwicklung und Demokratie – Ein Verfassungsrechtsvergleich der<br />

politischen Systeme Deutschlands und der Schweiz, Tübingen 2006.<br />

Gschwend, Thomas: Abgeordnetenhauswahlen sind keine Bundestagswahlen. Oder doch? Erfahrungsbericht<br />

aus Berlin, in: Völkl, Kerstin/ Schnapp, Kai-Uwe/ Holtmann, Everhard/ Gabriel, Oscar<br />

(Hrsg.): Wähler und Landtagswahlen in der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 2008.<br />

Günther, Uwe: Parteiordnungsverfahren, in: Forum Kommune 26 (2008), Nr. 3, S. 10.<br />

Herrman, Joachim: Erneutes NPD-Verbotsverfahren – Gut gemeint ist häufig das Gegenteil von<br />

gut, in: DRiZ 86 (2008), S. 173.<br />

141


Literaturübersicht<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Heynckes, Heinz-Willi: Das Ausschussverfahren nach der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages,<br />

in: ZParl 3 (2008), S. 459-477.<br />

Hofer, Vera/Ladner, Klaus/Reichmann, Gerhard: Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre – Fortschritt<br />

oder Irrweg, in: JRP 16 (2008), S. 27-32.<br />

Holtkamp, Lars: Kommunale Konkordanz- und Konkurrenzdemokratie. Parteien und Parteiensysteme<br />

in der repräsentativen Demokratie, Wiesbaden 2008.<br />

Hornig, Eike-Christian: Die Spätphase der Mitgliederpartei in Westeuropa, in: ÖZP 1 (2008), S. 45-<br />

62.<br />

Hoven, Elisa: Entschädigungsleistungen an Abgeordnete des Deutschen Bundestages, Bewertung<br />

und Fortentwicklung der Reform vom 1. Januar 2008, in: ZParl 2 (2008), S. 233-248.<br />

Ipsen, Jörn: Parteiengesetz, Gesetz über die politischen Parteien, Kommentar, München 2008<br />

Jun, Uwe/ Haas, Melanie/ Niedermeyer, Oskar (Hrsg.): Parteien und Parteiensysteme in den deutschen<br />

Ländern, Wiesbaden 2008.<br />

Jutzi, Siegfried: Verbotene Zuwendungen an Abgeordnete. Zum Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts<br />

vom 13.03.2008 – 8 LC 1/07 –.<br />

Kemmerzell, Jörg: Entstehungs- und Erfolgsbedingungen regionalistischer Parteien. Eine Analyse<br />

des politisch- institutionellen Kontextes, Baden-Baden 2008.<br />

Kerssenbrock, Trutz Graf: Das Gebot äußerster Zurückhaltung in Wahlkämpfen für Bundes- und<br />

Landesregierungen, in: NordÖR 1 (2008), S. 58-61.<br />

Klein, Markus/ Ohr, Dieter: Bundestestwahlen oder Regionalwahlen? – Eine empirische Analyse<br />

der nordrhein-westfälischen Landtagswahlen, in: Völkl, Kerstin/ Schnapp, Kai-Uwe/ Holtmann,<br />

Everhard/ Gabriel, Oscar (Hrsg.): Wähler und Landtagswahlen in der Bundesrepublik Deutschland,<br />

Baden-Baden 2008.<br />

Koch, Thorsten: Fehlerhafte Rechenschaftslegung politischer Parteien und ihre Folgen, in: DVBl.<br />

10 (2008), S. 601-668.<br />

Koß, Michael: Staatliche Parteienfinanzierung und politischer Wettbewerb. Die Entwicklung des Finanzierungsregimes<br />

in Deutschland, Schweden, Großbritannien und Frankreich, Wiesbaden 2008.<br />

Kruse, Jörn: Parteienmonopol und Dezentralisierung der Politik – Referat, in: Vollmer, Uwe<br />

(Hrsg.), Ökonomische Analyse politischer Institutionen, Berlin 2008, S. 41-74.<br />

Lang, Anne-Katrin: Demokratieschutz durch Parteiverbot? Die Auseinandersetzung um ein mögliches<br />

Verbot der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), Marburg 2008.<br />

Leunig, Sven: Die vorzeitige Beendigung der Wahlperiode des Bundestages: Vorrecht des Parlaments<br />

oder Recht des Bundeskanzlers? Zum Aufsatz von Stefan Ulrich Pieper in Heft 2 (2007) und<br />

dem Diskussionsbeitrag von Karlheinz Niclauß in Heft 3 (2007) der ZParl, in: ZParl 1 (2008), S.<br />

157-163.<br />

Linck, Joachim: Verfestigung des Leitbilds vom Berufsabgeordneten durch das BVerfG. Anmerkung<br />

zu BVerfG, Urteil vom 04.07.2007 – 2 BvE 1/06, in: NJW 1 (2008), S. 24-28.<br />

Mackenrodt, Christian: Wie wichtig ist die Person? Zur Bedeutung von Persönlichkeitsfaktoren von<br />

Wahlkreisbewerbern bei Bundestagswahlen, in: ZParl 1 (2008), S. 69-83.<br />

Maier, Jürgen: Aus Schwarz mach Rot: Der Einfluss der Bundespolitik auf das Stimmverhalten bei<br />

den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz, in: Völkl, Kerstin/ Schnapp, Kai-Uwe/ Holtmann, Ever-<br />

142


MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Literaturübersicht<br />

hard/ Gabriel, Oscar (Hg.): Wähler und Landtagswahlen in der Bundesrepublik Deutschland, Baden-<br />

Baden 2008.<br />

Manssen, Gerrit (Hrsg.): Die Finanzierung von politischen Parteien in Europa. Bestandsaufnahme<br />

und europäische Perspektive, Regensburger Beiträge zum Staats- und Verwaltungsrecht Bd. 9,<br />

Frankfurt am Main 2008.<br />

Mays, Anja: Bundespolitische Effekte oder regionale Besonderheit? Zum Einfluss der Bundespolitik<br />

auf die sächsischen Landtagswahlen, in: Völkl, Kerstin/ Schnapp, Kai-Uwe/ Holtmann, Everhard/<br />

Gabriel, Oscar (Hrsg.): Wähler und Landtagswahlen in der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden<br />

2008.<br />

Meffert, Michael F.: Wenn Affären Wellen schlagen: Zum Einfluss der Landes- und Bundespolitik<br />

auf das Wahlverhalten in Schleswig-Holstein, in: Völkl, Kerstin/ Schnapp, Kai-Uwe/ Holtmann,<br />

Everhard/ Gabriel, Oscar (Hrsg.): Wähler und Landtagswahlen in der Bundesrepublik Deutschland,<br />

Baden-Baden 2008.<br />

Miljutenko, Wladimir: Die Augen nach rechts: ein neues Parteienprojekt (Russland), in: Wostok 53<br />

(2008), S. 10-12.<br />

Möllers, Christoph: Das freie Mandat in der demokratischen Repräsentation, in: Jura 30 (2008), S.<br />

937-942.<br />

Niedermayer, Oskar: Parteimitgliedschaften im Jahre 2007, in ZParl 2 (2008), S. 379-386.<br />

Oebbecke, Janbernd: Amtliche Äußerungen im Bürgermeisterwahlkampf, in: NVwZ 1 (2007), S.<br />

31-33.<br />

Pállinger, Zoltán Tibor: Zwischen Polarisierung und Professionalisierung: Entwicklungslinien der<br />

politischen Elite Ungarns, in: Südosteuropa 56 (2008), S. 200-221.<br />

Perron, Walter: Anmerkung zum Fall Kanther/Weyhrauch – Untreue durch Bildung einer schwarzen<br />

Kasse, in: NStZ 9 (2008), S. 517-519.<br />

Pfeil, Hanno: Der Abgeordnete und die Fraktion – verfassungsrechtliche Vorgaben und gesetzliche<br />

sowie binnenrechtliche Ausgestaltung, Hamburg 2008.<br />

Reffken, Hendrik: Rundfunkbeteiligungen politischer Parteien, in: NVwZ 8 (2008), S. 857-860.<br />

Roßner, Sebastian: Der Parteiausschluß als Entzug verfassungsrechtlich geformter Statusrechte, ZG<br />

2008, S. 335-354<br />

Schefold, Dian: Wieder 5%-Klausel in Bremerhaven? Prüfung an den StGH und parlamentarischer<br />

Prozess, NordÖR 9 (2008), S. 365-368.<br />

Schiffauer, Peter: Verfassung und Politik der Europäischen Union im Werk von Dimitris Th. Tsatsos,<br />

in: EuGRZ 2008, S. 452.<br />

Schmitt-Beck, Rüdiger/ Mackenrodt, Christian/ Faas, Thorsten: Hintergründe kommunaler Wahlbeteiligung.<br />

Eine Fallstudie zur Kommunalwahl 2004 in Duisburg, in: ZParl 3 (2008), S. 561-580.<br />

Schmitz, Karsten: Wahlsysteme und Parteiensysteme in Osteuropa. Analyse des Einflusses der<br />

Wahlsysteme auf die Parteiensysteme, Saarbrücken 2008.<br />

Schneider, Tobias: Vermögen und erwerbswirtschaftliche Betätigung politischer Parteien. Schutz<br />

und Grenzen durch die Verfassung., Hamburg 2008.<br />

143


Literaturübersicht<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Schroeder, Henrik: Die Volksgesetzgebung und das Verbot ideeller Werbung im Rundfunk, (Zugleich<br />

Anmerkung zu BayVerfGH, v. 25.05.2007 – Vf. 15-VII-04 -), in: BayVBl. 18/2008, S. 549-<br />

556.<br />

Schroeder, Wolfgang (Hrsg.): Parteien und Parteiensysteme in Hessen. Vom Vier- zum Fünfparteiensystem?,<br />

Wiesbaden 2008.<br />

Shikano, Susumu: Die Eigendynamik zur Eindimensionalität des Parteienwettbewerbs: eine Simulationsstudie.,<br />

in: PVS 49 (2008), S. 229-250.<br />

Shirvani, Foroud: Neuere Entwicklungen im europäischen Parteienfinanzierungsrecht, in: EuZW 12<br />

(2008), S. 364-368.<br />

Sickinger, Hubert/ Kritzinger, Sylvia: Trends und Probleme der komparativen Parteienforschung:<br />

eine Einleitung in das Heft, in: ÖZP 1 (2008), S. 5-10.<br />

Sirch, Christian A.: Die Strafbarkeit der Parteispendenakquisition. Ein Beitrag zum Tatbestand der<br />

Vorteilsnahme, Frankfurt am Main 2008.<br />

Strohmeier, Gerd: Die (gemäßigte) Mehrheitswahl im Streit der Wissenschaft. Eine Antwort auf<br />

Frank Decker, Harald Schoen und Stefan Klöppl, in: ZParl 2 (2008), S. 419-425.<br />

Vahle, Jürgen: Anmerkung zu BVerfG, Urteil vom 04.07.2007 – 2 BvE 1/06, in: DVP 1 (2008), S.<br />

34.<br />

Völkl, Kerstin: Zum Einfluss der Bundespolitik auf Landtagswahlen: theoretischer Rahmen und<br />

Analysemodelle, in: Völkl, Kerstin/ Schnapp, Kai-Uwe/ Holtmann, Everhard/ Gabriel, Oscar<br />

(Hrsg.): Wähler und Landtagswahlen in der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 2008.<br />

Vollmer, Uwe: Parteienmonopol und Dezentralisierung der Politik – Coreferat, in: Vollmer, Uwe<br />

(Hrsg.), Ökonomische Analyse politischer Institutionen, Berlin 2008, S. 75-78.<br />

Wieser, Bernd: Das Parteienauflösungsurteil des russischen Verfassungsgerichts vom 16.07.2007,<br />

in: OstEuR 1 (2008), S. 1-17.<br />

Wolf, Sebastian: Parlamentarische Blockade bei der Korruptionsbekämpfung? Zur verschleppten<br />

Neuregelung des Straftatbestandes der Abgeordnetenbestechung, in: ZParl 3 (2008), S. 493-503.<br />

Wüstenberg, Dirk: Ist die kritisierte Person wirklich rechtsextremistisch gesinnt?, in: NVwZ 10<br />

(2008), S. 1078-1083.<br />

Zolleis, Udo: Die CDU. Das politische Leitbild im Wandel der Zeit, Wiesbaden 2008.<br />

144


MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Vortragstätigkeiten der Institutsmitarbeiter<br />

Vortragstätigkeiten der Institutsmitarbeiter<br />

Im Folgenden finden sich die Vorträge, die von Mitarbeitern des <strong>PRuF</strong> im Jahre 2008 auf den Gebieten<br />

des Parteienrechts und der Parteienforschung gehalten wurden.<br />

Prof. Dr. Ulrich von Alemann<br />

• "Große Koalition – Auslaufmodell oder Dauerperspektive?", Vortrag Dreikönigsessen des<br />

Nordrhein-Westfälischen Handwerkstags, Düsseldorf 10. Januar 2008<br />

• "10 Thesen zur Zukunft der Gewerkschaften", Vortrag zum komba Strategiegipfel, dbb akademie,<br />

Königswinter am 27. März 2008<br />

• "Verbände in Politik und Gesellschaft von morgen", Keynote-Speech für den 11. Deutschen<br />

Verbändekongress am 07. April 2008 in Düsseldorf<br />

• Symposium des <strong>PRuF</strong>: (Partei)Politik im Zeichen des Marketing, Einführungsvortrag, Düsseldorf<br />

18. und 19. April 2008<br />

• "Political Corruption in Europe: Causes, Consequences, Challenges", Guest Lecture at the<br />

Israel Democratic Institute of the Hebrew University of Jerusalem Herzliya – 4. Juni 2008<br />

• "Jugend und Politik - Ein Impulsreferat in 7 Fragen", Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung<br />

Colegio de México, September 2008<br />

• "Politische Parteien in der Mediendemokratie", Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung Colegio<br />

de México, September 2008<br />

• "Parteienfinanzierung und die Rolle der Medien in einer Demokratie: Beispiel Deutschland",<br />

Vortrag zur Konferenz der FES in der Universidad Autónoma de Chiapas (UNACH), 26.<br />

September 2008<br />

• Chancen und Grenzen neuer Formen der Mitgliedschaft in politischen Parteien, Workshop<br />

der Friedrich-Naumann-Stiftung Berlin 16. Dezember 2008<br />

• Deutsch-Französische Tagung des <strong>PRuF</strong> „Politische Parteien in Frankreich und Deutschland<br />

- Späte Kinder des Verfassungsstaats“, Schlußwort und Zusammenfassung, Düsseldorf 31.<br />

Oktober 2008<br />

Prof. Dr. Martin Morlok<br />

• „Parteien ohne Volk“, Symposium der Friedrich-Ebert-Stiftung, Moderation des I. Podiums<br />

zum Thema: Wo bleiben die Mitglieder? Parteienwandel und Alternativen, Frankfurt/Main<br />

16. Februar 2008<br />

• Wissenschaftszentrum Berlin, Gefährdungen demokratischer Entscheidungskultur durch Informalisierung<br />

und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen, Berlin 20. Februar<br />

2008<br />

• Symposium des <strong>PRuF</strong>: (Partei)Politik im Zeichen des Marketing, Schlusswort/ Zusammenfassung<br />

der Tagung, Düsseldorf 18. und 19. April 2008<br />

• Political Finance Workshop, Public Law and the Governance and Funding of Political Parties,<br />

London 29. Mai 2008<br />

145


Vortragstätigkeiten der Institutsmitarbeiter<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

• Symposium "40 Jahre Parteiengesetz", Handlungsfelder der politischen Parteien, Berlin 26.<br />

September 2008<br />

• Deutsch-Französische Tagung des <strong>PRuF</strong> „Politische Parteien in Frankreich und Deutschland<br />

- Späte Kinder des Verfassungsstaats“, Einführungsvortrag: „Aktuelle Probleme des Parteienrecht<br />

in Deutschland“, Düsseldorf 31. Oktober 2008<br />

Tim Spier<br />

• „Linksparteien in Westeuropa. Konturen und politische Gelegenheitsstrukturen“, Vortrag<br />

auf der Tagung „Die politische Linke in Deutschland. Neue Orientierungen in Parteien und<br />

Parlamenten?“ der Evangelischen Akademie Loccum, 12.07.2008<br />

• „Wer wird Funktionär? Determinanten der Erlangung politischer Ämter in den sechs Bundestagsparteien“,<br />

Vortrag auf der Tagung „Parteien als fragmentierte Organisationen: Erfolgsbedingungen<br />

und Veränderungsprozesse“ des AK Parteienforschung der DVPW (Prof.<br />

Jun, Prof. Niedermayer), Berlin 10.10.2008<br />

• „Erfolgsbedingungen von Linksparteien in Westeuropa. Eine makroquantitative Untersuchung<br />

nationaler Wahlergebnisse“, Vortrag auf der Tagung „Die Verfassung der Demokratien“<br />

der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW), der Österreichischen<br />

Gesellschaft für Politikwissenschaft (ÖGPW) und der Schweizerischen Vereinigung für Politische<br />

Wissenschaft (SVPW), Osnabrück 22.11.2008<br />

146


MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Veröffentlichungen der Institutsmitarbeiter<br />

Veröffentlichungen der Institutsmitarbeiter<br />

Im Folgenden finden sich die wissenschaftlichen Publikationen, die von Mitarbeitern des <strong>PRuF</strong> im<br />

Jahre 2008 auf den Gebieten des Parteienrechts und der Parteienforschung veröffentlicht wurden.<br />

Prof. Dr. Ulrich von Alemann<br />

• Flick-Affäre, in: SKANDALE in Deutschland nach 1945. Begleitbuch zur Ausstellung im<br />

Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2008, S. 114 – 119.<br />

• Parteimitglieder nach dem "Ende der Mitgliederpartei". Ein Überblick über Forschungsergebnisse<br />

für Westeuropa seit 1990 (zusammen mit Tim Spier), in: Kritzinger/ Sickinger<br />

(Hrsg.): Vergleichende Parteienforschung: Trends und Probleme. ÖZP 1/2008.<br />

• Verbände in Politik und Gesellschaft von morgen, in: Verbände Report. Informationsdienst<br />

für die Führungskräfte der Verbände, Bonn, 12. Jhrg. Nr.07/2008, S. 6 – 11.<br />

• Jenseits der Verbände (zusammen mit Florian Eckert), in: Politik & Kommunikation, Ausgabe<br />

09/08, November 2008, S. 30 – 31.<br />

• Der Patient Partei: Ein diagnostisches Streitgespräch, in: Adolf-Arndt-Kreis (Hrsg;): Parteien<br />

ohne Volk. Zur Zukunft der Parteiendemokratie. Schriftenreihe des Adolf-Arndt-Kreises,<br />

Band 6 (2008) S. 61 – 79.<br />

• Stabilität und Gleichgewicht als Theoreme der Parteien- und Parlamentarismustheorie, in:<br />

Tilman Mayer/ Volker Kronenberg (Hrsg.): Streitbar für die Demokratie "Bonner Perspektiven"<br />

der Politischen Wissenschaft und Zeitgeschichte 1959-2009, S. 145 – 174.<br />

Alexandra Bäcker<br />

• Das Ende verdeckt-gemeinsamer Wahlvorschläge, in: MIP 14. Jhrg. (2007), S. 84 f.<br />

Philipp Erbentraut, M.A.<br />

• Rezension zu Ulrich Haltern: Was bedeutet Souveränität?, Tübingen 2007, in: Redescriptions<br />

12 (2008), S. 285 – 289.<br />

Julia Kamps<br />

• Medienbeteiligungen politischer Parteien im Urteil des NstGH, in: MIP 14. Jhrg. (2007),<br />

S. 36 – 42.<br />

147


Veröffentlichungen der Institutsmitarbeiter<br />

MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Dr. Heike Merten<br />

• Gesetz über die politischen Parteien in der Ukraine, in: MIP 14. Jhrg. (2007), S. 81 – 82.<br />

• Änderung der Verordnung über die Regelung für die politischen Parteien auf europäischer<br />

Ebene und ihre Finanzierung, in: MIP 14. Jhrg. (2007), S. 83.<br />

• Rezension: Seyda Dilek Emek: Parteiverbote und Europäische Menschenrechtskonvention -<br />

Die Entwicklung europäischer Parteiverbotsstandards nach Art. 11 Abs. 2 EMRK unter besonderer<br />

Berücksichtigung des deutschen und türkischen Parteienrechts, 2007, in: MIP 14.<br />

Jhrg. (2007), S. 102 – 104.<br />

• Rezension: Eckhard Jesse/Eckhard Klein (Hrsg.),<br />

Das Parteienspektrum im wiedervereinigten Deutschland, 2007, in: MIP 14. Jhrg. (2007),<br />

S. 105 – 106.<br />

• Rezension: Sarah Theuerkauf: Parteiverbote und die Europäische Menschenrechtskonvention<br />

- Analyse der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unter<br />

Berücksichtigung der Rolle der politischen Parteien in Europa, 2006, in: MIP 14. Jhrg.<br />

(2007), S. 111 – 113.<br />

• Gemeinwohl und politische Parteien, (zusammen mit Martin Morlok und Ulrich von Alemann<br />

(Hrsg.), Baden-Baden 2008.<br />

Prof. Dr. Martin Morlok<br />

• Einführung in die Thematik in Martin Morlok/ Ulrich von Alemann/ Heike Merten (Hrsg.)<br />

in: Gemeinwohl und politische Parteien, 2008.<br />

• Neue Erkenntnisse und Entwicklungen aus sprach- und rechtswissenschaftlicher Sicht in<br />

Bernhard Ehrenzeller/Peter Gomez/Markus Kotzur/Daniel Thürer/Klaus A. Vallender<br />

(Hrsg.) in Präjudiz und Sprache »Precendence and its Language«, 2008.<br />

• Demokratische Verfassungen: Leistungsmöglichkeiten und Grenzen, in: Christoph Gusy<br />

(Hrsg.) in: Demokratie in der Krise: Europa in der Zwischenkriegszeit, 2008.<br />

• Artikel „Parteien“ in Ergänzbares Lexikon des Rechts, 2008.<br />

• Ludwig Erhard und die CDU: Eigenorganschaft als Prinzip des Parteienrechts, in: MIP 14.<br />

Jhrg. (2007), S. 14 – 21.<br />

Sebastian Roßner, M.A.<br />

• Verständnis- und Verschuldensmaßstäbe, Vertrauensschutz und gerichtliche Kontrolle beim<br />

Parteiausschluß - Zugleich eine Besprechung der Entscheidung Kammergericht 3 U 47/05 –<br />

Parteiausschluß Martin Hohmanns, in: MIP 14. Jhrg. (2007), S. 43 – 54.<br />

• Offenlegungspflichten für die Nebeneinkünfte von Bundestagsabgeordneten - Das Urteil des<br />

BVerfG vom 4. Juli 2007, 2 BvE 1/06, 2/06, 3/06, 4/06, in: MIP 14. Jhrg. (2007), S. 55 – 73.<br />

• Der Parteiausschluß als Entzug verfassungsrechtlich geformter Statusrechte, in: ZG 2008,<br />

S. 335 – 354.<br />

148


MIP 2008/09 15. Jhrg.<br />

Veröffentlichungen der Institutsmitarbeiter<br />

Antje Sadowski<br />

• Das Parteiengesetz wird wehrhaft, in: MIP 14. Jhrg. (2007), S. 68 – 71.<br />

Tim Spier<br />

• Parteimitglieder nach dem „Ende der Mitgliederpartei“. Ein Überblick über Forschungsergebnisse<br />

für Westeuropa seit 1990, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft,<br />

Bd. 37 (2008), H. 1, S. 29 – 44 (mit Ulrich von Alemann).<br />

• Das Parteiensystem Niedersachsens. Vom Nachzügler zum Vorreiter?, in: Jun, Uwe/ Niedermayer,<br />

Oskar/ Haas, Melanie (Hrsg.), Parteien und Parteiensysteme der Bundesländer, Wiesbaden:<br />

VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 291 – 314 (mit Michael Koß).<br />

• Konkurrenz und Mehrheitsbeschaffer. Linksparteien in Westeuropa, in: Neue<br />

Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Bd. 55 (2008), H. 1-2, S. 18 – 22.<br />

• Diverse Rezensionen in der Politischen Vierteljahresschrift, der Zeitschrift für Politikwissenschaft<br />

und dem Jahrbuch Extremismus & Demokratie.<br />

149

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