Festgefügtes im Strome der Zeit - GeneTalogie Arndt Richter
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<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />
Genealogische Bekenntnisse<br />
„…sogar durch Generationen hindurch―<br />
Erbe und Umwelt<br />
<strong>Arndt</strong> <strong>Richter</strong><br />
07.07.2009
S e i t e | II<br />
Vorwort<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
Be<strong>im</strong> neugierigen Überfliegen des Inhaltsverzeichnisses werden Sie<br />
vermutlich von <strong>der</strong> Vielfalt <strong>der</strong> Themen überrascht, vielleicht lei<strong>der</strong> sogar<br />
abgeschreckt sein. Die Vielfalt <strong>der</strong> verschiedenen Themen entbehren<br />
jedoch nicht eines inneren Zusammenhang. Sie ergeben sich einfach<br />
aus meinem Lebenslauf. Autobiographische Gedanken, Bekenntnisse<br />
und Erkenntnisse durchziehen dieses Buch als roter Faden. Eigentlich<br />
sollte <strong>im</strong> Titel dieses Buches <strong>der</strong> Begriff „<strong>GeneTalogie</strong>― o<strong>der</strong><br />
„GeneTaloge― stehen. <strong>GeneTalogie</strong> = Genetik + Genealogie (+<br />
Statistik). Doch mit einem solchen 1997 von mir geprägten Kunstwort<br />
wollte ich meine Leser nicht abschrecken. Beide Begriffe haben aber<br />
nicht nur die griechische Vorsilbe „Gen― gemeinsam, son<strong>der</strong>n sie<br />
gehören auch sachlich eng zusammen, denn es gibt keine Abstammung<br />
ohne Vererbung!<br />
Als verbindendes Symbol für die zahlreichen zunächst<br />
zusammenhanglos erscheinenden Themen mag aber hier <strong>der</strong><br />
„Stammbaum“ stehen, beson<strong>der</strong>s ein „geistiger Chemie-<br />
Stammbaum“, <strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Sicht des Chemikers und Familienforschers<br />
entstanden ist. Der Stamm möge die zeitlichen Generationsfolgen in<br />
mehrfacher Hinsicht symbolisieren. Die Äste und Zweige mag man sich<br />
als Wissenschaftsbereiche denken, zusammen mit ihren<br />
Wegbereitern und Forschern.<br />
Es stehen freilich diejenigen Themen <strong>im</strong> Vor<strong>der</strong>grund, von denen ich<br />
glaube, daß Sie auch ein gewisses allgemeines Interesse beanspruchen<br />
können. Mein Lebensweg bis zum 75. Lebensjahr wurde nun einmal<br />
durch diese Themen entscheidend geprägt. Über an<strong>der</strong>e Dinge hätte ich<br />
nicht glaubhaft schreiben können. Das Buch ist kein Roman, alles sind<br />
Betrachtungen: eigene Erlebnisse, Gedanken, Forschungsergebnisse,<br />
Korrespondenzen, persönliche Meinungen zu „Lesefrüchten― <strong>im</strong> Lauf<br />
meines Lebens, auch viel Zitate frem<strong>der</strong> Autoren, die bei mir<br />
beson<strong>der</strong>en Anklang fanden (Weltbild!).<br />
Seit meiner Kindheit hatte ich die Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Erdrinde<br />
vor Augen! An einem Abhang des Elbtales <strong>im</strong> Süden von Dresden stand<br />
mein Elternhaus, von dem ich einen Blick auf die Lehmgrube des<br />
väterlichen Ziegelwerk-Betriebes hatte. Der abgebaggerte Steilhang<br />
zeigte ganz deutlich die farblich unterschiedlichen Formationen <strong>der</strong><br />
Löß-, Mergel-, Lehm- und Tonschichten mit Muschel-Abdrücken <strong>im</strong><br />
Tonschiefer und manchmal eingelagerten Tierknochen aus <strong>der</strong> Eiszeit<br />
(Mammut). Auch <strong>im</strong> Ziegel-Brennmaterial Braunkohle aus <strong>der</strong><br />
nie<strong>der</strong>lausitzer Gegend erkannte ich ganz deutlich die holzig-fasrige<br />
Pflanzenstruktur aus <strong>der</strong> Urzeitwelt.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | III<br />
Die Schil<strong>der</strong>ungen von LEIBNIZ und GOETHE auf ihren Reisen (1680-<br />
1686 bzw. 1777-1805) zur geologisch so interessanten Harzer<br />
Bergwerks- und Höhlenlandschaft mit <strong>der</strong>en urzeitlichen Fossilien<br />
erschienen mir nun noch lebendiger.<br />
Vielleicht wird <strong>der</strong> innere Zusammenhang <strong>der</strong> scheinbar recht<br />
unterschiedlichen Themen des Buches aber erst aus meiner<br />
Gedankenwelt als historisch interessierter Chemiker und<br />
Familienforscher (Genealoge) verständlich.<br />
Gemäß <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Interessen des Autors steht dieses Buch vor<br />
allem aber <strong>im</strong> Zeichen <strong>der</strong> biologisch orientierten Familienforschung<br />
(= „<strong>GeneTalogie</strong>―) und damit eines beson<strong>der</strong>en Anliegens des Autors,<br />
das aus diesen Studien erwachsen ist:<br />
Die Bedeutung <strong>der</strong> Vererbung (Genetik) gegenüber den<br />
Umwelteinflüssen als konservatives Element beson<strong>der</strong>s<br />
hervorzuheben, auf das die großen Philosophen schon seit<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ten verstandesmäßig und intuitiv gestoßen sind. Das<br />
genetisch Angeborene, beson<strong>der</strong>s in psychischer Hinsicht, ist damit<br />
gemeint.-<br />
Nachdem mein erstes Buch <strong>im</strong> Jahre 1997 an einen sehr kleinen<br />
Fachkreis gerichtet war (ein „geneTalogischer― Erklärungsversuch <strong>der</strong><br />
Krankheitsursachen <strong>der</strong> bayerischen Könige Ludwig II. und Otto<br />
aufgrund einer umfangreichen Ahnentafel-Analyse) möchte ich mit<br />
diesem Buch nun einen etwas größeren Leserkreis ansprechen. Die<br />
damals nur an <strong>der</strong> europäischen Hochadelsschicht abgeleiteten<br />
negativen Befunde drängten mich dazu, auch dem „Gegenteil― <strong>der</strong><br />
Geisteskrankheiten nachzugehen, nämlich <strong>der</strong> X-chromosomalen<br />
Vererbung an Hochbegabten. Vielleicht wachsen Genie und Wahnsinn<br />
doch oft auf dem gleichen Holze?<br />
Meine These von <strong>der</strong> „beson<strong>der</strong>en Mittlerrolle X-chromosomaler<br />
Gene bei <strong>der</strong> Ausprägung geistiger Eigenschaften“ (<strong>im</strong> positiven wie<br />
negativen Sinne) sei hiermit auch erneut untermauert.<br />
Bereits 1990 hatte ich in einer genealogischen Fachzeitschrift an <strong>der</strong><br />
Ahnentafel von Otto von BISMARCK diese These zum ersten Mal<br />
veröffentlicht und dann in meinem „bayerischen Königsbuch― von 1997<br />
angekündigt, diese These am Musterbeispiel <strong>der</strong> Ahnentafel Goethes<br />
noch weiter zu untermauern.<br />
Der Verfasser glaubt, daß seine zahlreichen kleinen Spezialstudien und<br />
Gedanken dieses Buches den Stellenwert <strong>der</strong> Vererbung gegenüber <strong>der</strong><br />
Umwelt aus einer neuen, geneTalogischen Perspektive beleuchten und<br />
erhöhen! Es wird also die Ansicht vertreten, daß „die Macht <strong>der</strong><br />
Vererbung― gegenüber den Umwelteinflüssen durch die neueren<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | IV<br />
Forschungsergebnisse <strong>der</strong> neueren biologischen<br />
Wissenschaftsdisziplinen (z. B. Molekulargenetik, Psychogenetik und<br />
Populationsgenetik) von Jahrzehnt zu Jahrzehnt gewachsen ist. Wohl<br />
zum Leidwesen manches soziologischen Wunschdenkens! Der<br />
Verfasser sieht sich mit seiner „geneTalogischen― X-chromosomale<br />
These aber aufgrund von Ahnentafel-Analysen <strong>im</strong>mer mehr bestätigt.<br />
Zum Gesamtinhalt des Buches hier noch ein kurzer Überblick: Goethes<br />
„Urworte. Orphisch― von 1817 sind quasi <strong>der</strong> Prolog, die dichterische<br />
Einleitung in die Grundanschauungen meines Buches, um, wie bereits<br />
gesagt: Die Bedeutung <strong>der</strong> Vererbung (Genetik) gegenüber den<br />
Umwelteinflüssen als konservatives Element beson<strong>der</strong>s hervorzuheben;<br />
und zwar als unverän<strong>der</strong>liches Element - „sogar durch Generationen<br />
hindurch …“ – wie es auch Goethe <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> beteuernd <strong>im</strong><br />
Eigenkommentar seines Schicksalgedichtes „Urworte. Orphisch― getan<br />
hat. Das Gedicht basiert auf Goethes großer Lebenserfahrung, die seine<br />
Lebensanschauung entscheidend geprägt hat. Das biologisch<br />
Festgegründete, das geistige Erbe des Menschen, das er von seinen<br />
Eltern überliefert bekommt und das lebenslang <strong>im</strong> Guten und Bösen an<br />
ihn gekettet ist, ist ein Schwerpunkt in diesen persönlichen<br />
Bekenntnissen des Autors. Als Genealoge fand ich diesen<br />
„Schicksalsdämon―, das genetische Erbe, als naturwissenschaftliche<br />
Wahrheit <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> erneut bestätigt, was Goethe in seinen<br />
berühmten Versen:<br />
„Und keine <strong>Zeit</strong> und keine Macht zerstückelt,<br />
geprägte Form, die lebend sich entwickelt―<br />
(Urworte. Orphisch. Dämon, 1817)<br />
ausgesprochen hat. Freilich ist es keine neue Weisheit, viele große<br />
Denker dachten sinngemäß. Schon ein berühmter antiker<br />
Geschichtsschreiber äußerte sich über die „fortdauernde Macht <strong>der</strong><br />
Abstammung“ mit den lapidaren Worten:<br />
durans originis vis<br />
(TACITUS, Agricola 11, um 85 n.Chr.)<br />
Über Vererbungsfragen wird <strong>im</strong> Anschluß an Goethes „Urworte―<br />
berichtet. Die Unterschiede <strong>der</strong> Menschen (nach Bruno BÜRGEL)<br />
werden angesprochen und mit Goethes „Dämon― und LEIBNIZ’<br />
„Monade― in Beziehung gebracht. Es folgt Gregor MENDELs<br />
Entdeckung <strong>der</strong> Vererbungsgesetze, - zumal ich mich ausführlich mit <strong>der</strong><br />
Genealogie MENDELs beschäftigt hatte (Veröffentlichungen 1984).<br />
Auch Goethe als Genealoge ist hier das Thema eines Kurzkapitels.<br />
Ein naturphilosophisches Kunstwerk ist auch Goethes Naturepos „Die<br />
Natur―. Von hier führt <strong>der</strong> Weg bald zu Goethes Vorausschau <strong>der</strong><br />
Entwicklungsgeschichte des Lebens und damit zu Ernst HAECKEL,<br />
dem begeistertsten Schüler von Charles DARWIN in Deutschland.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | V<br />
HAECKEL war ja <strong>der</strong> allererste, <strong>der</strong> einen gezeichneten Stammbaum-<br />
Entwurf <strong>der</strong> Lebewesen mit Einschluß des Menschen (homo sapiens)<br />
veröffentlicht hat.<br />
Auch zur Rassenfrage und <strong>der</strong> ideologischen Sowjetbiologie in <strong>der</strong><br />
Stalinzeit wird Stellung genommen, da sich davon bei mir bedrückende<br />
Erinnerungen aus <strong>der</strong> Dresdner Oberschulzeit eingeprägt haben.<br />
Goethes Naturbild <strong>im</strong> Lichte <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne ist durch Zitate von Werner<br />
HEISENBERG, Gottfried BENN, aber auch von Goethes <strong>Zeit</strong>genossen,<br />
den Brü<strong>der</strong>n von HUMBOLDT, belegt.<br />
Schließlich komme ich sehr ausführlich auf die Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
neuzeitlichen Chemie zu sprechen. Nach etwa 7000 Jahre lang<br />
zurückverfolgbarer chemischer Erfahrungspraxis in <strong>der</strong> menschlichen<br />
Kulturgeschichte (z.B. Färbetechnik, Ziegelherstellung, Gärprozesse,<br />
Metallerzeugung) und <strong>der</strong> parallel verlaufenden Alchemie, hat die<br />
Chemie erst <strong>im</strong> 16. Jahrhun<strong>der</strong>t ihren wissenschaftlichen Anfang<br />
begonnen. Wenn man bedenkt, daß die chemischen Grundelemente<br />
Sauerstoff und Wasserstoff (Bestandteile des Wassers!) sowie Stickstoff<br />
(Hauptbestandteil <strong>der</strong> Luft!) alle erst nach Goethes Geburt <strong>im</strong> 18.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t entdeckt und als Elemente erkannt worden sind, wird<br />
ersichtlich, welch kurze Geschichte die wissenschaftliche Chemie<br />
eigentlich hat.<br />
Bereits als Schüler habe ich mich für die Großen <strong>der</strong> Chemie-<br />
Geschichte interessiert, die beson<strong>der</strong>s in Deutschland meist in ganz<br />
bescheidenen Verhältnissen ihre Leistungen mühsam erbracht haben -<br />
getrieben vom Forschertrieb („was die Welt <strong>im</strong> innersten<br />
zusammenhält―), oft in <strong>Zeit</strong>en von Kriegswirrnissen und bitterer Not.<br />
So hinterfragte ich die Lebensläufe dieser Pioniere <strong>der</strong> Chemie. Was<br />
waren es für Menschen? Gibt es zwischen ihnen auffallende<br />
angestammte Gemeinsamkeiten? Lei<strong>der</strong> stehen sie ja in <strong>der</strong><br />
Kulturgeschichte als bloße Entdecker von Stoffen und Verfahren ganz<br />
<strong>im</strong> Schatten <strong>der</strong> Herrscher, Kriegshelden, Theologen und Künstler.<br />
Überraschend dürftig ist lei<strong>der</strong> daher die Literatur über sie. Wie so<br />
vieles, so führen auch hier die ersten geistigen Wurzeln in die<br />
Renaissance nach Italien, wo sie bald fruchtbar nordwärts nach<br />
Mitteleuropa ausstrahlten.<br />
Mein eigentlicher „Chemie-Stammbaum“ verläuft über etwa 300 sehr<br />
fruchtbare Jahre von ca. 1500-1800; zunächst etwas ausführlicher von<br />
PARACELSUS und AGRICOLA zu 30 Nachfolgern in kurzen<br />
Einzelbiographien bis zur Goethezeit. Mit Goethe als Chemiker und<br />
seinen kaum bekannten großen Verdiensten um den chemischen<br />
Lehrbetrieb in Jena endet dieser chemie-geschichtliche Stammbaum.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | VI<br />
Eigentlich habe ich diesen „geistigen Stammbaum― aus Neugier für mich<br />
persönlich „gepflanzt―. Ich meine aber, daß diese Zusammenstellung<br />
aus chemie-historischen Quellen auch ein gewisses allgemeines<br />
Interesse beanspruchen darf, zumindest für wissenschafts-geschichtlich<br />
interessierte Chemiker und Nachbarwissenschaftler, da hierzu während<br />
des Studiums kaum <strong>Zeit</strong> übrig bleibt.-<br />
Gedanklich unterbrochen wurde <strong>der</strong> „Chemie-Stammbaum― durch einige<br />
spezielle Einzelthemen wie AGRICOLAs berühmtes Bergwerksbuch De<br />
Re Metallica, Georg Ernst STAHL, dem Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> Phlogistontheorie<br />
(die jahrzehntelang die Geister <strong>der</strong> Chemie beflügelt hat), sowie<br />
STAHLs Ahnentafel, da seine mütterliche Großmutter eine Ahnfrau<br />
Goethes war! Weitere Zwischenbetrachtungen ergeben sich aus<br />
meinen beson<strong>der</strong>en Interessen zur Genetik und Entwicklungsgeschichte<br />
<strong>der</strong> Erde und des Lebens.<br />
Nach dem „Chemie-Stammbaum― wird auch auf das Universalgenie<br />
Gottfried Wilhelm LEIBNIZ, sein Leben und Schaffen ein Schlaglicht<br />
geworfen, sowie auf die überraschende Harmonie <strong>der</strong> Weltansichten<br />
zwischen Goethe und LEIBNIZ. Oswald SPENGLER macht den<br />
ungefähr 100 Jahre jüngeren Goethe sogar „in seiner gesamten<br />
Denkweise zu einem Schüler von LEIBNIZ― (in: Der Untergang des<br />
Abendlandes, Vorwort, 1923). Aber auch als Brückenbauer zwischen<br />
Natur- und Geisteswissenschaft ist mir LEIBNIZ ein großer Vorläufer von<br />
Siegfried RÖSCH, meinem großen universalen Vorbild, dessen 50-<br />
jähriges Wirken in <strong>der</strong> Wissenschaft ein beson<strong>der</strong>es Kapitel gewidmet<br />
ist. Es reizte mich, Werner HEISENBERG über Goethes „Urpflanze“<br />
ausgiebig zu zitieren, um mir dann eigene Gedanken über Gene,<br />
<strong>GeneTalogie</strong> und Kosmische Harmonie zu machen. Neuste<br />
Forschungsergebnisse zur Y-chromosomalen <strong>GeneTalogie</strong><br />
(Palindrome) werden anschließend mitgeteilt.<br />
Gottfried Wilhelm LEIBNIZ hat mich seit meiner frühen Jugendzeit<br />
bereits als Mathematiker, bald aber auch als Landsmann mit<br />
mutmaßlicher Ahnengemeinschaft interessiert. Später interessierte mich<br />
LEIBNIZ natürlich auch noch als „Ahnherr― des Computers. Daß<br />
LEIBNIZ einer <strong>der</strong> ersten Vorahner des Entwicklungsgedankens des<br />
Lebens war, zeige ich vor allem an seiner Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong><br />
Erde (Protogaea, 1694), die LEIBNIZ als Einleitung zu seiner großen<br />
Welfen-Geschichte geschrieben hat. Ausführlich wird LEIBNIZ als<br />
Genealoge <strong>im</strong> Rahmen seiner mehrjährigen Reise nach<br />
Süddeutschland und Italien zur Erforschung <strong>der</strong> Welfen-Genealogie<br />
dargestellt.<br />
Meinem Dresdner Volksschullehrer Ernst Karl RÜHLE, dem ich die<br />
ersten chemischen Kenntnisse bei Exper<strong>im</strong>enten <strong>im</strong> Chemiesaal meiner<br />
(Dresden-)Leubnitzer Schule (1948-1949) verdanke, gedenke ich<br />
beson<strong>der</strong>s. Er war nicht nur ein autodidaktischer Gelehrter und<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | VII<br />
He<strong>im</strong>atforscher (Archäologe), son<strong>der</strong>n auch ein HAECKEL-Verehrer, <strong>der</strong><br />
uns dessen Radiolarien-Bücher (Kunstformen <strong>der</strong> Natur) außerhalb des<br />
Lehrplanes mit in die Schule brachte.-<br />
Siegfried RÖSCH, <strong>der</strong> mir als Naturwissenschaftler und Goethe-<br />
Genealoge lei<strong>der</strong> erst <strong>im</strong> 5. Lebensjahrzehnt begegnet ist, versuche ich<br />
als Vater <strong>der</strong> quantitativ-wissenschaftlichen Genealogie ein kleines<br />
Denkmal zu setzen; er hat meinen weiteren geistigen Lebenslauf<br />
entscheidend mitgeprägt. Ihm verdanke ich es, die Genealogie nicht nur<br />
ichbezogen, son<strong>der</strong>n vor allem auch <strong>im</strong> großen europäischen<br />
Gesamtzusammenhang zu sehen (verwandtschaftliche Verflechtungen,<br />
„Ahnenschwund― und Ahnengemeinschaften!).<br />
Ein jeglicher muß seinen Helden wählen,<br />
dem er die Wege zum Olymp hinauf sich nacharbeitet.<br />
(Goethe. Iphigenie, Pylades)<br />
Aus meiner jahrzehntelangen West-Ost-Korrespondenz mit erfahrenen<br />
Genealogen, beson<strong>der</strong>s aber mit verständnisvollen Pfarrern aus meiner<br />
sächsischen Ahnenhe<strong>im</strong>at in Ost- und Westsachsen, berichte ich in<br />
Briefauszügen: einem bewußt aus Ulm/Do. und München erzwungenem<br />
Glück, trotz <strong>der</strong> deutschen Trennung, in <strong>der</strong> DDR opt<strong>im</strong>ale<br />
Ahnenforschung betreiben lassen zu können! Mit einem kurzen Blick auf<br />
meine persönlich betriebene Familienforschung in den Kirchenbüchern<br />
von Ostfriesland, <strong>der</strong> He<strong>im</strong>at meiner Frau Johanne, beende ich dieses<br />
Buchmanuskript.<br />
Wenn ich meine Gedanken <strong>im</strong> Einklang mit an<strong>der</strong>en Autoren erkannte,<br />
scheute ich mich nicht, diese ausführlich aus dem Original zu zitieren,<br />
manchmal über einige Seiten, um Inhalt und Sinn nicht zu „verwässern―.<br />
Am Ende des Buches kam ich auch ins weltanschauliche Grübeln. Als<br />
Chemiker stellten sich dabei auch Fragen nach dem Rätsel des Köper-<br />
Seele-Problems. Ich brachte es in Zusammenhang mit den<br />
hochkomplizierten bio-chemischen Prozessen (Zyklen und<br />
Fließgleichgewichten) in den organischen Zellen. Doch dieses Thema<br />
gehörte nicht in dieses Buch. Einige Gedanken dazu findet <strong>der</strong><br />
interessierte Leser hier allerdings <strong>im</strong> Anhang 7.<br />
Mögen diese Gedanken zahlreiche Gleichgesinnte erreichen, damit sich<br />
meine Hoffnung erfüllt, daß einiges auf fruchtbaren Boden fällt und <strong>der</strong><br />
eine o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e in seinem Geiste, in seiner „geprägten Form― hier<br />
anknüpft und fortfährt.<br />
Am Schluß ein Aufruf:<br />
Mögen wir die Warnungen des großen Zoologen und Nobelpreisträgers<br />
Prof. Karl von FRISCH, 1886-1982, nicht überhören, welche Gefahr <strong>der</strong><br />
Menschheit aufgrund ihres exponentiellen Wachstums droht. Innerhalb<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | VIII<br />
nur einer einzigen Generation hat sich die Menschheit seit 1965 von 3<br />
auf jetzt fast 7 Milliarden mehr als verdoppelt!<br />
„Die lenkenden Geister in aller Welt müssen erkennen, daß <strong>im</strong><br />
allgemeinen Abbremsen des Bevölkerungszuwachses unsere größte<br />
und dringendste Aufgabe liegt.― (K. v. FRISCH; in: „Du und das Leben―,<br />
19. Aufl., 1974, letztes Kapitel: „Die Übervölkerung <strong>der</strong> Erde―).<br />
Im gleichen Sinne hierzu Prof. Werner HEISENBERG, 1901-1976,<br />
Physik-Nobelpreisträger: „Die mo<strong>der</strong>ne Medizin hat die großen Seuchen<br />
auf <strong>der</strong> Erde weitgehend ausgerottet. Sie hat das Leben vieler Kranker<br />
gerettet, unzählige Menschen schreckliche Leiden erspart, aber sie hat<br />
auch zu jener Bevölkerungsexplosion auf <strong>der</strong> Erde geführt, die dann,<br />
wenn sie nicht in relativ naher Zukunft durch friedliche organisatorische<br />
Maßnahmen gebremst werden kann, in entsetzlichen Katastrophen<br />
enden muß. Wer kann wissen, ob die mo<strong>der</strong>ne Medizin ihre Ziele überall<br />
richtig setzt?―<br />
Als dritter Mahner <strong>im</strong> Bunde dazu noch Chemie-Nobelpreisträger Prof.<br />
Manfred EIGEN, * 1927: „Nachdem wir das biblische Verdikt erfüllt und<br />
die Erde gefüllt haben – biologisch gesehen gab es keine an<strong>der</strong>e Wahl -<br />
, sind wir in einem circulus vitiosus gefangen. Bevölkerungsexplosion<br />
bedeutet explosive Zunahme von Nahrungsmittelerzeugung,<br />
Energieverbrauch, Kapital- und Güterbedarf. Gewährleistung<br />
ausreichen<strong>der</strong> Ernährung bedingt intensive Bodennutzung, künstliche<br />
Düngung, Pestizide und Insektizide―; in: „Die Würfelspiele Gottes―,<br />
Herausgeber: Guido KURTH, 1994, dort Kapitel: „Phasensprünge –Vom<br />
Speziellen zum Allgemeinen―.<br />
Wenn das Abbremsen <strong>der</strong> Weltbevölkerung nicht gelingt, wird <strong>der</strong><br />
Stammbaum homo sapiens mit seiner herrlichen Kultur, wozu auch<br />
unsere genealogischen Forschungsergebnisse zählen, bald sein Ende<br />
gefunden haben.-<br />
Mit diesem Überblick sollten die Themen meines Buches einigermaßen<br />
umrissen sein. Weiteres mag <strong>der</strong> Leser selbst noch entdecken.<br />
München, 17. Mai 2009<br />
<strong>Arndt</strong> <strong>Richter</strong><br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | IX<br />
Bitte klicken Sie auf eine Kapitelüberschrift <strong>im</strong> folgenden<br />
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AM ENDE JEDEN KAPITELS IST EIN LINK<br />
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ZURÜCKFÜHRT.<br />
Inhalt<br />
1 Goethes Naturbild <strong>im</strong> Lichte <strong>der</strong> Genealogie ............................................. 1<br />
1.1 Urworte. Orphisch. .............................................................................. 3<br />
1.2 Zur Geschichte <strong>der</strong> „Urworte. Orphisch.― ............................................ 7<br />
1.3 Kommentare ...................................................................................... 11<br />
1.3.1 Kommentar zur 1. Stanze ΔΑΙΜΩΝ, Dämon. ............................ 11<br />
1.3.2 Kommentare zur 2. bis 5. Stanze .............................................. 30<br />
1.4 Von den genetischen Unterschieden <strong>der</strong> Menschen (Bruno Bürgel) 34<br />
1.5 Goethes Dämon und LEIBNIZ’ Monade ........................................... 37<br />
1.6 Goethes Vorahnung und Gregor MENDELs Entdeckung ................. 43<br />
1.7 Goethe als Genealoge ...................................................................... 47<br />
1.8 Goethe-Genealogie als Bezugspunkt einer europäischen<br />
Universalgenealogie ..................................................................................... 57<br />
1.9 Goethes Ahnen-Gesinnung ............................................................... 58<br />
1.10 Wesen und Wirken <strong>der</strong> Ahnen bei Goethe ....................................... 62<br />
1.11 Goethes Naturbild <strong>im</strong> Lichte <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne ........................................ 67<br />
1.12 Das Naturepos „Die Natur― ................................................................ 67<br />
1.13 Goethes Erläuterung zum aphoristischen Aufsatz „Die Natur― ......... 69<br />
2 ....................................................................................................................... 71<br />
2.1 Werner HEISENBERG und Goethe .................................................. 71<br />
2.2 Die Brü<strong>der</strong> v. HUMBOLDT und Goethe ............................................ 72<br />
2.3 Goethes Vorausschau – kurz vor seinem Tode (1832) .................... 79<br />
2.4 Ernst HAECKEL, 1834-1919 und Charles DARWIN, 1809-1882 ..... 92<br />
3 ..................................................................................................................... 108<br />
3.1 Zur Rassenfrage: Rückblick und Ausblick ...................................... 108<br />
3.2 Gottfried BENN: Goethe und die Naturwissenschaften ................. 115<br />
3.3 Neodarwinismus und Sowjetbiologie .............................................. 116<br />
4 „Chemie-Stammbaum― in Listenform ..................................................... 119<br />
4.1 PARACELSUS, 1493-1541 ............................................................. 126<br />
4.2 Georg AGRICOLA, 1494-1555 ....................................................... 131<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | X<br />
4.3 ‚Habent fata sua libelli’ .................................................................... 146<br />
4.4 AGRICOLA als Genealoge und Hofhistoriograph ........................... 151<br />
4.5 Auszüge über Goethes Materialien über AGRICOLA ..................... 153<br />
5 Rückschau: Zur Chemie-Geschichte <strong>der</strong> Urzeit ..................................... 155<br />
5.1 Vannocio BIRINGUCCIO, 1480-1538 ............................................. 158<br />
5.2 Andreas LIBAVIUS (LIBAU), 1550? – 1616. ................................... 161<br />
5.3 Leonhard THURNEYSSER, 1531-1596 ......................................... 163<br />
5.4 Pseudo „Basilius VALENTINUS― (= Johannes THÖLDE).............. 165<br />
5.5 Alchemie in Goethes Faust ............................................................. 166<br />
5.6 Der junge Goethe als Alchemist,..................................................... 175<br />
5.7 Johann Baptist van HELMONT, 1577-1644. ................................... 182<br />
5.8 Joach<strong>im</strong> JUNGIUS, 1587-1657 ....................................................... 185<br />
5.9 Otto von GUERICKE, 1602-1686.................................................... 189<br />
5.10 Johann Rudolf GLAUBER, 1604-1670 ........................................... 196<br />
5.11 Georg Ernst STAHL, 1660-1734, <strong>der</strong> Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Phlogistontheorie und sein Kreis. .............................................................. 202<br />
5.12 Robert BOYLE, 1627-1691 ............................................................. 202<br />
5.13 Johann Joach<strong>im</strong> BECHER, 1635-1682 ........................................... 207<br />
5.14 Über Georg Ernst STAHLs Ahnen .................................................. 209<br />
6 Genealogische Zwischenbetrachtung zur Wissenschaftsgeschichte <strong>der</strong><br />
Chemie ........................................................................................................... 209<br />
6.1 STAHLs Großmutter war eine Ahnfrau Goethes! ........................... 210<br />
6.2 Ahnengemeinschaften am Beispiel einer großen bürgerlichen<br />
Ahnentafel .................................................................................................. 225<br />
7 These: Von <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Mittlerrolle X-chromosomaler Gene bei <strong>der</strong><br />
Ausprägung geistiger Eigenschaften ............................................................. 229<br />
8 Der Lebenslauf von Georg Ernst STAHL, 1660-1734 ............................ 241<br />
8.1 STAHLs Phlogiston-Theorie beflügelt die forschenden Geister und<br />
bricht <strong>der</strong> Chemie breite Zukunftsbahnen, - obgleich sie „falsch― ist! ........ 245<br />
8.2 Chemische Entdeckungen <strong>im</strong> <strong>Zeit</strong>alter <strong>der</strong> Phlogiston-Theorie...... 248<br />
8.3 Andreas Sigismund MARGGRAF, 1709-1782 ................................ 250<br />
8.4 Drei Phlogistiker als „Stürmer und Dränger― des chemischen<br />
Fortschritts.................................................................................................. 253<br />
8.5 Henry CAVENDISH, 1731-1810 ..................................................... 253<br />
8.6 Joseph PRISTLEY, 1733-1804 ....................................................... 256<br />
8.7 Carl Wilhelm SCHEELE, 1742-1786 ............................................... 265<br />
8.8 Die Wende zur mo<strong>der</strong>nen Chemie um 1800 ................................... 270<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | XI<br />
8.9 Antoin-Laurent LAVOISIER, 1743-1794 ......................................... 272<br />
8.10 LAVOISIERs Oxydationstheorie von 1775-1789 ............................ 275<br />
8.11 Carl Friedrich WENZEL, 1740-1793 ............................................... 277<br />
8.12 Jeremias Benjamin RICHTER, 1762-1807 ..................................... 279<br />
8.13 Berühmte alchemistische Laboratorien ........................................... 282<br />
8.14 Die Erfindung des Porzellans .......................................................... 284<br />
8.15 Chemie erobert die Universitäten – Goethe als För<strong>der</strong>er <strong>der</strong> Chemie<br />
in Jena ........................................................................................................ 285<br />
8.16 Johann Friedrich August GÖTTLING, 1753-1809 .......................... 287<br />
8.17 Johann Wolfgang DÖBEREINER, 1780-1849 ................................ 291<br />
8.18 Wilhelm August LAMPADIUS, 1772-1842 ...................................... 300<br />
9 Goethe als Chemiker und Techniker ...................................................... 303<br />
10 Goethes Wahlverwandtschaft mit SPINOZA und Ideengemeinschaft mit<br />
LEIBNIZ ......................................................................................................... 312<br />
11 ................................................................................................................... 327<br />
11.1 LEIBNIZ’ Protogaea ........................................................................ 327<br />
11.2 LEIBNIZ als Chemiker und Mineraloge ........................................... 340<br />
11.3 Phosphor (Entdeckung) ................................................................. 347<br />
11.4 LEIBNIZ als Genealoge .................................................................. 349<br />
11.5 Zwischenbetrachtung: LEIBNIZ als Ahnherr des Computers und<br />
Genie <strong>der</strong> Mathematik ................................................................................ 361<br />
11.6 Fortsetzung : LEIBNIZ als Genealoge ............................................ 367<br />
11.7 ECKHART und die „Würzburger Lügensteine― ............................... 388<br />
12 ................................................................................................................... 392<br />
12.1 LEIBNIZ und Siegfried RÖSCH als Brückenbauer zwischen Naturund<br />
Geisteswissenschaften ....................................................................... 392<br />
12.2 Siegfried RÖSCH: 50 Jahre <strong>im</strong> Dienste <strong>der</strong> Wissenschaft ............ 413<br />
13 ................................................................................................................... 426<br />
13.1 Werner HEISENBERG: Über Abstraktion/ Urphänomen/<br />
„Urpflanze―(= DNA) .................................................................................... 426<br />
13.2 Gene / <strong>GeneTalogie</strong> / kosmische Harmonie ................................... 438<br />
13.3 Zwischenbetrachtung: „Goldner Schnitt― am „X-Chromosomen-<br />
Stammbaum― .............................................................................................. 449<br />
13.4 Fortsetzung Gene / <strong>GeneTalogie</strong> / kosmische Harmonie .............. 453<br />
13.5 Palindrome – Inseln <strong>der</strong> „therapeutischen― Ordnung in <strong>der</strong><br />
genetischen Schrift ..................................................................................... 457<br />
14 Warum wir Mitteleuropäer (fast) alle von KARL DEM GROSSEN<br />
abstammen .................................................................................................... 466<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | XII<br />
14.1 Über Stammtafeln in <strong>der</strong> Geschichte und Gegenwart .................... 479<br />
14.2 Die Stammtafel <strong>der</strong> „Goethe-Familie― ORTH .................................. 487<br />
14.3 Stammtafel-Erweiterung durch Einbeziehung <strong>der</strong><br />
Töchternachkommen! ................................................................................ 491<br />
14.4 Eine soziologische Gegenüberstellung bei <strong>der</strong> Familie KEERL ..... 508<br />
15 ................................................................................................................... 512<br />
15.1 Aus meiner eigenen Familienforschung seit meiner Dresdner<br />
Schulzeit um 1950 ...................................................................................... 512<br />
15.2 LEIBNIZ’ Vorfahren in Leubnitz bei Dresden? ................................ 529<br />
15.3 Zur eigenen familienkundlichen Auftragsforschung in Sachsen ..... 534<br />
15.4 Vom Glück, die Ahnenforschung mit <strong>der</strong> „Astaka― zu beginnen! .... 535<br />
15.5 Aus dem Briefwechsel mit sächsischen Pfarrämtern ...................... 537<br />
15.6 Der eigene RICHTER-Stamm <strong>im</strong> thüringisch-sächsischen<br />
Territorialgeflecht. ...................................................................................... 551<br />
15.7 Von <strong>der</strong> Ahnenforschung zur nachbarwissenschaftlichen<br />
Demographie. ............................................................................................. 557<br />
15.8 Von hochfliegenden Pläne zur EDV-Genealogie (1973) ............... 567<br />
16 ................................................................................................................... 570<br />
16.1 Zum Ortssippenbuch Hesel (- <strong>im</strong> beson<strong>der</strong>en und zu den OSB <strong>im</strong><br />
allgemeinen) ............................................................................................... 570<br />
16.2 Zwei E-Mails in genealogischen Mailinglisten ................................. 573<br />
17 Anlagen ............................................................................................... 576<br />
17.1 Anlage 1 .......................................................................................... 576<br />
17.2 Anlage 2 .......................................................................................... 578<br />
17.3 Anlage 3 .......................................................................................... 583<br />
17.4 Anlage 4 .......................................................................................... 586<br />
17.5 Anlage 5 .......................................................................................... 589<br />
17.6 Anlage 6 .......................................................................................... 591<br />
17.7 Anlage 7 .......................................................................................... 592<br />
18 Bil<strong>der</strong>liste............................................................................................. 596<br />
19 Entwurf des Namensverzeichnisses nach Kapiteln ............................ 598<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
FESTGEFÜGTES IM STROME DER<br />
ZEIT<br />
Genealogische Bekenntnisse<br />
1 GOETHES NATURBILD IM LICHTE DER GENEALOGIE<br />
seine „Urworte. Orphisch.― als roter Faden<br />
Der große Vorahner Goethe hat die Schicksalsmächte des Angeborenen<br />
und Erworbenen in seinen berühmten 5 Stanzen „Urworte. Orphisch―<br />
(1817) in meisterlicher Dichtkunst zusammengefaßt. Es ist eines <strong>der</strong><br />
ganz wenigen seiner Gedichte, zu denen er einen eigenen Kommentar<br />
gegeben hat. Auch zum Aphorismus „Natur Fragment― wurde er noch zu<br />
einer eigenen Kommentierung gedrängt, vor allem auch, um hier die<br />
unsichere Autorenschaft aufzuklären (gemeinsam mit TOBLER).<br />
Goethes „Urworte. Orphisch“ wurden bisher von verschiedenen<br />
Gesichtspunkten und damit recht unterschiedlichen Geistesrichtungen<br />
interpretiert. Vor allem waren es natürlich Geisteswissenschaftler, wie<br />
Literaturhistoriker, Philologen, Germanisten, Historiker, Philosophen,<br />
Archäologen, aber auch Theologen. In biologischen Büchern und<br />
Aufsätzen wird gern <strong>der</strong> erste Vers „Dämon― zitiert; hier meist ohne auf<br />
die 4 an<strong>der</strong>en Verse einzugehen, da meist einseitig das Schicksalhafte<br />
<strong>der</strong> Vererbung beson<strong>der</strong>s gegenüber <strong>der</strong> Umwelt hervorgehoben<br />
werden sollte. Auch <strong>der</strong> Verfasser bekennt sich gern als<br />
naturwissenschaftlich orientierter Genealoge zu diesem letzten Kreise.<br />
Goethe war aber in seinen naturphilosophischen „Urworten― sehr darum<br />
bemüht, alle 5 Verse in einer Folge zu sehen, und er hat sie daher auch<br />
innerlich miteinan<strong>der</strong> verkettet und verwoben. In seinem Kommentar<br />
schreibt er einführend: „Diese wenigen Strophen enthalten viel<br />
Bedeutendes in einer Folge, die, wenn man sie erst kennt, dem Geiste<br />
die wichtigsten Betrachtungen erleichtert.― Es soll daher hier versucht<br />
werden, alle 5 Stanzen aus <strong>der</strong> Sicht des genetisch orientierten<br />
Genealogen („GeneTalogen―) zu würdigen, zumal Goethe hier aus<br />
seiner langjährigen Menschenkenntnis heraus auch hinsichtlich <strong>der</strong><br />
Vererbung (Genetik) manchem zeitgenössischen und auch späteren<br />
Biologen mit seiner Deutung <strong>der</strong> Vererbung über mehrere Generationen<br />
weit voraus war und damit näher an <strong>der</strong> Wirklichkeit war als die großen<br />
englischen Biologen Charles Darwin und dessen Vetter Francis Galton,<br />
die noch annahmen, daß die Erbesubstanz sich von Generation <strong>im</strong>mer<br />
weiter verdünne. Erst Gregor MENDEL, war es, <strong>der</strong> 1865 an<br />
Pflanzenexper<strong>im</strong>enten nachwies, daß die doppelt angelegten
S e i t e | 2<br />
Erbeinheiten <strong>der</strong> Eltern sich willkürlich spalten und bei <strong>der</strong> Befruchtung<br />
sich jeweils zwei Eltern-Erbhäften <strong>im</strong> Kinde zu einer neuen<br />
Zusammenstellung zusammenfinden. Dabei bleiben diese einzelnen<br />
Erbeinheiten, die wir heute Gene nennen, völlig erhalten und vererben<br />
sich unverän<strong>der</strong>t „sogar durch Generationen hindurch“.Väterliche<br />
und mütterliche Gene verschmelzen nicht, son<strong>der</strong>n kombinieren sich<br />
unabhängig voneinan<strong>der</strong> neu. Dies erklärt ja auch erst die oft große<br />
Unterschiedlichkeit <strong>der</strong> normalen (zweieiigen) Geschwister hinsichtlich<br />
ihrer körperlichen und geistigen Eigenschaften.<br />
Goethe hat dieses schicksalhafte Spiel, das bei <strong>der</strong> Geburt eines<br />
Menschen beginnt, lebenslänglich an vielen Charakteren (Her<strong>der</strong>, Carl<br />
August, Napoleon) beobachtet und dies in zahlreichen seiner Helden<br />
(z.B. an Götz, Egmont, Werther und an sich selbst in „Dichtung und<br />
Wahrheit―) in ihren individuellen Handlungen als vom Schicksal<br />
Getriebene dargestellt. Die „Urworte― sind eines seiner ganz wenigen<br />
Dichtungen, die in abstrakter Form Aussagen über Allgemeines machen,<br />
das er von allem Beson<strong>der</strong>en entkleidet hat. Auch deshalb hebt sich<br />
dieses Gedicht aus all seinen vielen an<strong>der</strong>en ganz merkwürdig ab.<br />
Goethe war dem Abstrakten, Nichtanschaulichen <strong>im</strong>mer abgeneigt und<br />
begnügte sich fast <strong>im</strong>mer mit seinem „Urphänomen―, das er nicht weiter<br />
analysieren wollte und wohl auch nicht konnte. Über seine Abneigung<br />
gegenüber Mathematik, beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> Farbenlehre, wird später noch<br />
zu sprechen sein. Aber um den Lebenslauf von Persönlichkeiten, die<br />
Entwicklung von Familien und die Reihung „von Stamm an Stamm“<br />
und sogar „zusammengefundenen Völkerschaften“ auf eine einzige<br />
Reihe zu bringen, hat er sprachgewaltig in prägnantester Form – man<br />
kann sagen – naturphilosophisch, ein gewaltiges Gedicht geschaffen.<br />
Zunächst sei eine kurze Erklärung zur Strophenform <strong>der</strong> sogenannten<br />
Stanze vorangestellt:<br />
Stanze, Oktave, italienisch auch Ottava r<strong>im</strong>a, Ottave r<strong>im</strong>e, eine<br />
ursprünglich italienische Strophenform aus 8 Versen mit durchgehenden<br />
weiblichen Endre<strong>im</strong>en. Ihr Re<strong>im</strong>schema ist ab ab ab cc. Seit <strong>der</strong><br />
Renaissance wird sie beson<strong>der</strong>s in epischer Dichtung verwendet<br />
(ARIOST, CAMÓES, TASSO, MARINO, bei WIELAND <strong>im</strong> Oberon in<br />
sehr freier, bei BYRON <strong>im</strong> Don Juan in strenger Form). Für die deutsche<br />
Stanze wurde W. HEINSE mit dem Wechsel von männlichem und<br />
weiblichem Zeilenausgang vorbildlich. In dieser Form wurde die Stanze<br />
beson<strong>der</strong>s von GOETHE, SCHILLER, LINGG u.a. gebaut, nur mit<br />
klingenden Re<strong>im</strong>en von A. W. SCHLEGEL. Eine Stanze mit <strong>der</strong><br />
Re<strong>im</strong>zahl und –anordnung ab ab ab ab heißt Siziliane (aus: Der<br />
Große Brockhaus, 16. Aufl., 11. Band, 1957).<br />
Hier nun zunächst das ganze Gedicht mit seinen 5 Strophen (Stanzen)<br />
und 40 Versen, sowie davor und dazwischen <strong>der</strong> Kommentar, so wie er<br />
von Goethe veröffentlicht worden ist (1820 erschienen in „Über Kunst<br />
und Altertum―, nach Goethes erstmaliger Veröffentlichung des Gedichtes<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 3<br />
<strong>im</strong> selben Jahr in seiner eigenen <strong>Zeit</strong>schrift „Zur Morphologie―, dort noch<br />
ohne Kommentar).<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
1.1 Urworte. Orphisch.<br />
Goethe schreibt in seinem Kommentar zu „Urworte. Orphisch―:.<br />
„Nachstehende fünf Stanzen sind schon <strong>im</strong> zweiten Heft <strong>der</strong><br />
„Morphologie“ [1820] abgedruckt, allein sie verdienen wohl einem<br />
größeren Publikum bekannt zu werden; auch haben Freunde<br />
gewünscht, daß zum Verständnis <strong>der</strong>selben einiges geschähe, damit<br />
dasjenige, was sich hier fast ahnen läßt, auch einem klaren Sinne<br />
gemäß und einer reinen Erkenntnis übergeben sei.<br />
Was nun von älteren und neueren orphischen Lehren überliefert<br />
worden, hat man hier zusammenzudrängen, poetisch, kompendios,<br />
lakonisch vorzutragen gesucht. Diese wenigen Strophen enthalten viel<br />
Bedeutendes in einer Folge, die, wenn man sie erst kennt, dem Geiste<br />
die wichtigsten Betrachtungen erleichtert.<br />
ΔΑΙΜΩΝ, Dämon.<br />
1 Wie an dem Tag, <strong>der</strong> dich <strong>der</strong> Welt verliehen,<br />
Die Sonne stand zum Gruße <strong>der</strong> Planeten,<br />
Bist alsobald und fort und fort gediehen,<br />
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.<br />
5 So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen.<br />
So sagten schon Sybillen, so Propheten;<br />
Und keine <strong>Zeit</strong> und keine Macht zerstückelt<br />
8 Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.<br />
Der Bezug <strong>der</strong> Überschrift auf die Strophe selbst bedarf einer<br />
Erläuterung. Der Dämon bedeutet hier die notwendige, bei <strong>der</strong> Geburt<br />
unmittelbar ausgesprochene, begrenzte Individualität <strong>der</strong> Person, das<br />
Charakteristische, wodurch sich <strong>der</strong> einzelne von jedem an<strong>der</strong>n, bei<br />
noch so großer Ähnlichkeit, unterscheidet. Diese Best<strong>im</strong>mung schrieb<br />
man dem einwirkenden Gestirn zu, und es ließen sich die unendlich<br />
mannigfaltigen Bewegungen und Beziehungen <strong>der</strong> H<strong>im</strong>melskörper,<br />
unter sich selbst und zu <strong>der</strong> Erde, gar schicklich mit den mannigfaltigen<br />
Abwechslungen <strong>der</strong> Geburten in Bezug stellen. Hiervon sollte nun auch<br />
das künftige Schicksal des Menschen ausgehen, und man möchte,<br />
jenes erste zugebend, gar wohl gestehen, daß angeborene Kraft und<br />
Eigenheit, mehr als alles übrige, des Menschen Schicksal best<strong>im</strong>me.<br />
Deshalb spricht diese Strophe die Unverän<strong>der</strong>lichkeit des<br />
Individuums mit wie<strong>der</strong>holter Beteuerung aus. Das noch so entschieden<br />
Einzelne kann, als ein Endliches, gar wohl zerstört, aber, solange sein<br />
Kern zusammenhält, nicht zersplittert, noch zerstückelt werden, sogar<br />
durch Generationen hindurch.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 4<br />
Dieses feste zähe, dieses nur aus sich selbst zu entwickelnde<br />
Wesen kommt freilich in mancherlei Beziehungen, wodurch sein erster<br />
und ursprünglicher Charakter in seinen Wirkungen gehemmt, in seinen<br />
Neigungen gehin<strong>der</strong>t wird und was hier nun eintritt, nennt unsere<br />
Philosophie.<br />
ΣΤΥΗ, das Zufällige.<br />
Die strenge Grenze doch umgeht gefällig<br />
10 Ein Wandelndes, das mit und um uns wandelt;<br />
Nicht einsam bleibst du, bildest dich gesellig<br />
Und handelst wohl so wie ein andrer handelt.<br />
Im Leben ist’s bald hin-, bald wi<strong>der</strong>fällig,<br />
Es ist ein Tand und wird so durchgetandelt.<br />
15 Schon hat sich still <strong>der</strong> Jahre Kreis gegründet,<br />
Die Lampe harrt <strong>der</strong> Flamme, die entzündet.<br />
Zufällig ist es jedoch nicht, daß einer aus dieser o<strong>der</strong> jener Nation,<br />
Stamm o<strong>der</strong> Familie sein Herkommen ableitet, denn die auf <strong>der</strong> Erde<br />
verbreiteten Nationen sind, sowie ihre mannigfaltigen Verzweigungen,<br />
als Individuen anzusehen, und die Tyche kann nur bei Vermischung und<br />
Durchkreuzung eingreifen. Wir sehen das wichtige Beispiel von<br />
hartnäckiger Persönlichkeit solcher Stämme an <strong>der</strong> Judenschaft;<br />
europäische Nationen, in an<strong>der</strong>e Weltteile versetzt, legen ihren<br />
Charakter nicht ab, und nach mehreren hun<strong>der</strong>t Jahren wird in<br />
Nordamerika <strong>der</strong> Englän<strong>der</strong>, <strong>der</strong> Franzose, <strong>der</strong> Deutsche gar wohl zu<br />
erkennen sein; zugleich aber auch werden sich bei Durchkreuzungen<br />
die Wirkungen <strong>der</strong> Tyche bemerklich machen, wie <strong>der</strong> Mestize an einer<br />
klärern Hautfarbe zu erkennen ist. Bei <strong>der</strong> Erziehung, wenn sie nicht<br />
öffentlich und nationell ist, behauptet Tyche ihre wandelbaren Rechte.<br />
Säugamme und Wärterin, Vater o<strong>der</strong> Vormund, Lehrer o<strong>der</strong> Aufseher,<br />
sowie alle die ersten Umgebungen, an Gespielen, ländlicher Lokalität,<br />
alles bedingt die Eigentümlichkeit durch frühere Entwickelung, durch<br />
Zurückdrängen o<strong>der</strong> Beschleunigen; <strong>der</strong> Dämon freilich hält sich durch<br />
alles durch, und dieses ist denn die eigentliche Natur, <strong>der</strong> alte Adam,<br />
und wie man es nennen mag, <strong>der</strong> so oft auch ausgetrieben, <strong>im</strong>mer<br />
wie<strong>der</strong> unbezwinglicher zurückkehrt.<br />
In diesem Sinne einer notwendig aufgestellten Individualität hat man<br />
einem jeden Menschen seinen Dämon zugeschrieben, <strong>der</strong> ihm<br />
gelegentlich ins Ohr raunt, was denn eigentlich zu tun sei, und so wählte<br />
Sokrates den Giftbecher, weil ihm ziemte, zu sterben.<br />
Allein Tyche läßt nicht nach und wirkt beson<strong>der</strong>s auf Jugend<br />
<strong>im</strong>merfort, die sich mit ihren Neigungen, Spielen, Geselligkeiten und<br />
flüchtigem Wesen bald da-, bald dorthin wirft und nirgends Halt noch<br />
Befriedigung findet. Da entsteht denn mit dem wachsenden Tage eine<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 5<br />
ernstere Unruhe, eine gründlichere Sehnsucht, die Ankunft eines neuen<br />
Göttlichen wird erwartet.<br />
ΕΡΩ, Liebe.<br />
17 Die bleibt nicht aus! – Er stürzt vom H<strong>im</strong>mel nie<strong>der</strong>,<br />
Wohin er sich aus alter Öde schwang,<br />
Er schwebt heran auf luftigem Gefie<strong>der</strong>,<br />
20 Um Stirn und Brust den Frühlingstag entlang,<br />
Scheint jetzt zu fliehn, vom Fliehen kehrt er wie<strong>der</strong>,<br />
Da wird ein Wohl <strong>im</strong> Weh, so süß und bang.<br />
Gar manches Herz verschwebt <strong>im</strong> allgemeinen,<br />
24 Doch widmet sich das edelste dem Einen.<br />
Hierunter ist alles begriffen, was man, von <strong>der</strong> leisesten Neigung<br />
bis zur leidenschaftlichsten Raserei, nur denken möchte; hier verbinden<br />
sich <strong>der</strong> individuelle Dämon und die verführende Tyche miteinan<strong>der</strong>; <strong>der</strong><br />
Mensch scheint nur sich zu gehorchen, sein eigenes Wollen walten zu<br />
lassen, seinem Triebe zu frönen; und doch sind es Zufälligkeiten, die<br />
sich unterscheiden, Fremdartiges, was ihn von seinem Wege ablenkt; er<br />
glaubt zu erhaschen und wird gefangen, er glaubt gewonnen zu haben<br />
und ist schon verloren. Auch hier treibt Tyche wie<strong>der</strong> ihr Spiel, sie lockt<br />
den Verirrten zu neuen Labyrinthen, hier ist keine Grenze des Irrens:<br />
denn <strong>der</strong> Weg ist ein Irrtum. Nun kommen wir in Gefahr, uns in <strong>der</strong><br />
Betrachtung zu verlieren, daß das, was auf das Beson<strong>der</strong>ste angelegt<br />
schien, ins Allgemeine verschwebt und zerfließt. Daher will das rasche<br />
Eintreten <strong>der</strong> zwei letzten Zeilen uns einen entscheidenden Wink geben,<br />
wie man allein diesem Irrsal entkommen und davor lebenslängliche<br />
Sicherheit gewinnen möge.<br />
Denn nun zeigt sich erst, wessen <strong>der</strong> Dämon fähig sei; er, <strong>der</strong><br />
selbständige, selbstsüchtige, <strong>der</strong> mit unbedingtem Wollen in die Welt<br />
griff und nur mit Verdruß empfand, wenn Tyche da o<strong>der</strong> dort in den Weg<br />
trat, er fühlt nun, daß er den durchs Geschick ihm zugeführten<br />
Gegenstand nicht nur gewaltsam ergreifen, son<strong>der</strong>n auch sich aneignen<br />
und, was noch mehr ist, ein zweites Wesen eben wie sich selbst mit<br />
ewiger, unzerstörlicher Neigung umfassen könne.<br />
Kaum war dieser Schritt getan, so ist durch freien Entschluß die<br />
Freiheit aufgegeben: zwei Seelen sollen sich in einen Leib, zwei Leiber<br />
in eine Seele schicken, und indem eine solche Übereinkunft sich<br />
einleitet, so tritt zu wechselseitiger liebevoller Nötigung, noch eine dritte<br />
hinzu: Eltern und Kin<strong>der</strong> müssen sich abermals zu einem Ganzen<br />
bilden; groß ist die gemeinsame Zufriedenheit, aber größer das<br />
Bedürfnis. Der aus so vielen Glie<strong>der</strong>n bestehende Körper krankt, gemäß<br />
irdischen Geschick, an irgend einem Teile, und anstatt daß er sich <strong>im</strong><br />
ganzen freuen sollte, leidet er am einzelnen, und demungeachtet wird<br />
ein solches Verhältnis so wünschenswert als notwendig gefunden. Der<br />
Vorteil zieht einen jeden an, und man läßt sich gefallen, die Nachteile zu<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 6<br />
übernehmen. Familie reiht sich an Familie, Stamm an Stamm; eine<br />
Völkerschaft hat sich zusammengefunden und wird gewahr, daß auch<br />
dem Ganzen fromme, was <strong>der</strong> Einzelne beschloß; sie macht den<br />
Beschluß unwi<strong>der</strong>ruflich durchs Gesetz: alles, was liebevolle Neigung<br />
freiwillig gewährte, wird nun Pflicht, welche tausend Pflichten entwickelt,<br />
und damit alles ja für <strong>Zeit</strong> und Ewigkeit abgeschlossen sei, läßt we<strong>der</strong><br />
Staat noch Kirche noch Herkommen es an Zeremonien fehlen. Alle Teile<br />
sehen sich durch die bündigsten Kontrakte, durch die möglichsten<br />
Öffentlichkeiten vor, daß ja das Ganze in keinem kleinsten Teil durch<br />
Wankelmut und Willkür gefährdet werde.<br />
ΑΝΑΓΚΗ, Nötigung.<br />
25 Da ist’s denn wie<strong>der</strong>, wie die Sterne wollten:<br />
Bedingung und Gesetz und aller Wille<br />
Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten,<br />
Und vor dem Willen schweigt die Willkür stille;<br />
Das Liebste wird vom Herzen weggescholten,<br />
30 Dem harten Muß bequemt sich Will’ und Grille.<br />
So sind wir scheinfrei denn nach manchen Jahren,<br />
Nur enger dran, als wir am Anfang waren.<br />
Keiner Anmerkung bedarf wohl diese Strophe weiter; niemand ist,<br />
dem nicht Erfahrung genugsame Noten zu einen solchen Text<br />
darreichte, niemand, <strong>der</strong> sich nicht peinlich gezwängt fühlte, wenn er nur<br />
erinnerungsweise sich solche Zustände hervorruft, gar mancher, <strong>der</strong><br />
verzweifeln möchte, wenn ihn die Gegenwart also gefangen hält. Wie<br />
froh eilen wir daher zu den letzten Zeilen, zu denen jedes feine Gemüt<br />
sich gern den Kommentar sittlich und religiös zu bilden übernehmen<br />
wird.―<br />
ΕΛΠΙ, Hoffnung<br />
Doch solcher Grenze, solcher eh'rnen Mauer<br />
Höchst wi<strong>der</strong>wärt’ge Pforte wird entriegelt;<br />
35 Sie stehe nur mit alter Felsendauer!<br />
Ein Wesen regt sich leicht und ungezügelt;<br />
Aus Wolkendecke, Nebel, Regenschauer<br />
Erhebt sie uns, mit ihr, durch sie beflügelt:<br />
Ihr kennt sie wohl, sie schwärmt nach allen Zonen;<br />
40 Ein Flügelschlag! – und hinter uns Äonen!<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 7<br />
1.2 Zur Geschichte <strong>der</strong> „Urworte. Orphisch.“<br />
Hier beziehen wir uns <strong>im</strong> folgenden zunächst auf die Angaben von Gero<br />
von WILPERT (Goethe-Lexikon, 1998):<br />
„Der feierlich-ernste Gedichtzyklus aus fünf Strophen achtzeiliger<br />
Stanzen entstand am 7./8. 10. 1817 und erschien zuerst 1820 in den<br />
Heften Zur Morphologie (I,2 1820). Noch <strong>im</strong> gleichen Jahr sah Goethe<br />
sich zu nüchternen eigenen Erläuterungen genötigt, die in Über Kunst<br />
und Altertum (II,3, 1820) erschienen (siehe oben!). Doch diese standen<br />
späteren Verdunkelungen durch weitere Spekulationen nicht <strong>im</strong> Wege. -<br />
Anlaß des Zyklus war <strong>der</strong> Gelehrtenstreit über die antike Urmythologie<br />
zwischen G. HERMANN und G. F. CREUZER in bei<strong>der</strong> Briefe über<br />
Homer und Hesiodus (1818), die Goethe am 27. 9. 1817 las, gefolgt<br />
durch Georg Zoégas Abhandlungen (1817). Dort fand er die aus <strong>der</strong><br />
orphischen Literatur entwickelten „heiligen Wörter― hieroi logoi, was er<br />
als „Urworte― übersetzte), nämlich nicht personifizierte Begriffe für die<br />
vier Grundmächte des Lebens, die <strong>der</strong> Geburt des Menschen beistehen:<br />
Da<strong>im</strong>on/Dämon („Charakter―), Tyche/Zufall, Eros/Liebe, Ananke/Not<br />
(„Beschränkung, Pflicht―) und dazu Elpis/Hoffnung, die er als<br />
Gegenreaktion gegen esoterische Gehe<strong>im</strong>lehren in den Stanzen mit<br />
aufklärerischer Klarheit spruchhaft erläutert. Nicht also die Gedichte<br />
selbst, nur die Begriffe <strong>der</strong> Überschriften sind orphisch. Ihre halb<br />
begriffliche, halb allegorische Vagheit gestattete es Goethe, sie mit<br />
eigenem Gehalt nach seiner [!] Weltanschauung zu erfüllen.―<br />
Welche große Bedeutung Goethe diesem Gedicht beigemessen hat,<br />
zeigt sein Ringen um die endgültige Form bei vier verschiedenen<br />
Textfassungen. Bevor wir die einzelnen Stanzen (Strophen) des<br />
Gedichtes kommentieren, seien daher noch nachfolgende Bemerkungen<br />
aus dem Jahrbuch <strong>der</strong> Goethe-Gesellschaft, Jahrgang 2 von 1915 von<br />
Hans Gerhard GRÄF vorangestellt:<br />
„Bisher waren von diesem Gedicht nur die drei in <strong>der</strong> We<strong>im</strong>arer<br />
Ausgabe (Werk 3, 400 und Briefe 29, 181) genannten Handschriften<br />
bekannt. Eine vierte ist vor kurzem in dem handschriftlichen Nachlaß <strong>der</strong><br />
Großherzogin Maria PAULOWNA aufgetaucht und mit diesem in die<br />
Großherzogliche Bibliothek zu We<strong>im</strong>ar übergeführt worden.<br />
Diese Handschrift, <strong>der</strong>en Einsicht ich <strong>der</strong> Güte des Oberbibliothekars,<br />
Herrn Gehe<strong>im</strong>en Hofrats Dr. Paul von BOJANOWSKI, verdanke, besteht<br />
aus zwei Quartblättern, drei Seiten Reinschrift in lateinischen<br />
Buchstaben, von Goethes Schreiber JOHN geschrieben. Der Name des<br />
Dichters ist nicht genannt. Verbesserungen von Goethes Hand finden<br />
sich an folgenden fünf Stellen: Vers 13 hin- (aus hin), Vers 22 bang.-<br />
(aus bang.), Vers 25 wollten: (aus wollten.), Vers 36 leicht (über <strong>der</strong><br />
Zeile nachgetragen), Vers 40 Flügelschlag! (aus Flügelschlag). Auch <strong>der</strong><br />
Schlußschnörkel rührt von Goethe her.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 8<br />
Der Wortlaut st<strong>im</strong>mt überein (abgesehen von einer bedeutenden, noch<br />
zu besprechenden Ausnahme) mit dem ersten Druck des Gedichts von<br />
1819 (1820) in Goethes <strong>Zeit</strong>schrift „Zur Morphologie“ 1 (2), 97; <strong>der</strong><br />
Schluß <strong>der</strong> ersten Strophe lautet also noch:<br />
Das än<strong>der</strong>n nicht Sybillen, nicht Propheten;<br />
Und keine <strong>Zeit</strong> und keine Kraft zerstückelt<br />
Geprägte Form, die sich entwickelt.<br />
Im zweiten Druck, <strong>der</strong>, mit einem erläuternden Aufsatz versehen<br />
[siehe oben!], sehr bald nach dem ersten 1820 in „Kunst und<br />
Altertum“ 2 (3), 67 erschien, lauten die drei Verse abweichend:<br />
So sagten schon Sybillen, so Propheten;<br />
Und keine <strong>Zeit</strong> und keine Macht zerstückelt<br />
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.<br />
Es ist zu beachten, daß die Än<strong>der</strong>ungen „Macht“ für „Kraft“ in Vers<br />
7 sich bereits, lange vor dem ersten Druck, in <strong>der</strong> an Sulpiz<br />
BOISSERÉE am 21. Mai 1818 gesandten Abschrift findet (Goethes<br />
Briefe 29, 181, 19).<br />
Daß Goethe auf diese Än<strong>der</strong>ungen beson<strong>der</strong>en Wert legte, beweist<br />
sein ausdrücklicher Hinweis auf sie <strong>im</strong> nächstfolgenden Heft von „Kunst<br />
und Altertum― 3 (1), 57: ―Meiner aufmerksamen kritischer Freunde willen<br />
bemerke nur mit wenigem: daß in <strong>der</strong> ersten Strophe <strong>der</strong> „Orphischen<br />
Worte― ich einiges verän<strong>der</strong>t habe, welchen Varianten ich Beifall<br />
wünsche―.<br />
Später, vor Erscheinen des dritten Drucks, 1827 in <strong>der</strong> Ausgabe letzter<br />
Hand <strong>der</strong> Werke 3, 101, hat Goethe noch eine Än<strong>der</strong>ung vorgenommen<br />
und zwar in Vers 39: „Ihr kennt sie wohl, sie schwärmt durch alle<br />
Zonen―, <strong>der</strong> in Druck 1 und 2, wie auch in unserer Handschrift lautet: „Ihr<br />
kennt sie wohl, sie schwärmt nach allen Zonen“.<br />
Was nun unsere Handschrift beson<strong>der</strong>s wertvoll und interessant<br />
macht, ist die Art, wie Goethe hier und nur hier, offenbar mit Rücksicht<br />
auf die fürstliche Empfängerin, die in den fünf Strophen dichterisch<br />
erklärten fünf „Urworte― in den Überschriften ausdrückt, abweichend<br />
sowohl von den drei an<strong>der</strong>en Handschriften, als auch von allen drei<br />
Drucken. Eine Nebeneinan<strong>der</strong>stellung verdeutlicht den Sachverhalt am<br />
besten; Spalte 1 gibt die Überschrift in den bisher bekannten<br />
Handschriften und in Druck 1, Spalte 2 die Überschrift in Druck 2 und<br />
Spalte 3 die Überschriften in unserer Handschrift.<br />
1 2 3<br />
ΔΑΙΜΩΝ Δαιμων, Dämon. Individualität, Charakter.<br />
ΣΤΥΗ Στχη, das Zufällige. Zufälliges.<br />
ΕΡΩ Ερωσ, Liebe. Liebe, Leidenschaft.<br />
ΑΝΑΓΚΗ Αναγκη, Nötigung Beschränkung, Pflicht.<br />
ΕΛΠΙ Ελπισ, Hoffnung. Hoffnung.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 9<br />
Hiermit sei das Gedicht, unvergleichlich wie es ist an Gehalt und Form<br />
selbst unter Goethes Gedichten, erneuter liebevoller Betrachtung<br />
empfohlen.―<br />
„Über die Möglichkeit einer Darstellung <strong>der</strong> Naturlehre durch einen<br />
Poeten― hatte Goethe bereits 1798 mit SCHILLER diskutiert. Beide<br />
st<strong>im</strong>mten in <strong>der</strong> Überzeugung überein, da „Wissenschaft sich aus<br />
Poesie entwickelt― habe, könnten beide sich „freundlich zu<br />
bei<strong>der</strong>seitigemVortheil auf höherer Stelle gar wohl wie<strong>der</strong> begegnen―.<br />
Diese Überzeugung kommt schließlich auch dadurch zum Ausdruck,<br />
daß Goethe neben den zwei „Metamorphosen―-Gedichten<br />
(Metamorphose <strong>der</strong> Pflanzen, 1799; Metamorphose <strong>der</strong> Tiere, um 1800)<br />
nun auch die Urworte in diesen Bereich einfügte, nämlich in die von<br />
Goethe selbst herausgegebene <strong>Zeit</strong>schrift Zur Morphologie (1820).<br />
Theo BUCK, einer <strong>der</strong> neueren Urwort-Interpreten (1996) als<br />
Literaturwissenschaftler aus gründlicher philologischer Sicht, schreibt<br />
hierzu folgendes: „Um die orphischen Urworte dann doch ―einem<br />
größerem Publicum bekannt― zu machen, ließ <strong>der</strong> Autor sie noch <strong>im</strong><br />
selben Jahr, mit eigenen Erläuterungen versehen, in <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>schrift Über<br />
Kunst und Alterthum nachdrucken. Aber erst die Veröffentlichung 1828<br />
in <strong>der</strong> Ausgabe letzter Hand eröffnete – als dritter Druck – wirklich den<br />
Zugang für eine breitere Leserschaft. Immerhin geschah das noch zu<br />
Lebzeiten Goethes. Damals erfolgte auch schon die bereits erwähnte,<br />
sachlich indes wenig glückliche Zuordnung des Zyklus’ zur Rubrik ‚Gott<br />
und Welt’. In meiner 44-bändigen Goethe-Ausgabe von 1900 von<br />
Ludwig GEIGER, sind die „Urworte― <strong>im</strong> 4. Band unter <strong>der</strong> Rubrik<br />
„Ethisches― abgedruckt und damit dem naturwissenschaftlich orientierten<br />
Leser weitgehend entzogen. Die vielverbreitete 14-bändige Hamburger<br />
Goethe-Ausgabe von Erich TRUNTZ bringt die Urworte <strong>im</strong> 1. Band <strong>der</strong><br />
„Gedicht―- wenigstes schon unter <strong>der</strong> Rubrik „Die weltanschaulichen<br />
Gedichte―, dort zunächst aber noch ohne den wichtigen Kommentar<br />
Goethes, und dort auch ohne einen Hinweis auf einen existierenden<br />
Kommentar, obgleich ein solcher zusammen mit den 5 Stanzen (40<br />
Versen) doch noch am Ende des Gedichtsbandes unter „Goethes<br />
Erläuterungen eigener Gedichte― gegeben wird.-<br />
Das Gedicht „Urworte. Orphisch“ ist ein Schlüssel zu Goethes<br />
Altersweisheit, das uns in höchster Verdichtung und Sprachkunst seine<br />
Weltanschauung offenbart, wenn natürlich auch nicht hinsichtlich aller<br />
Aspekte. Die allermeisten Kommentatoren kommen – wie bereits<br />
einführend gesagt – aus dem Bereich <strong>der</strong> Geisteswissenschaften. Eine<br />
Interpretation aus naturwissenschaftlicher Sicht durch einen Hobby-<br />
Genealogen hat es wohl noch nicht gegeben. Sie wird hiermit aber<br />
versucht, weil <strong>der</strong> Autor sich beson<strong>der</strong>s durch Goethes interessanter<br />
eigener Urwort-Kommentierung hierzu herausgefor<strong>der</strong>t sieht. Schlägt<br />
doch Goethes Kommentar geradezu eine Brücke zur naturkundlichen<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 10<br />
Genealogie („<strong>GeneTalogie</strong>― ), womit die meisten philologisch und<br />
literaturwissenschaftlich orientierten Interpreten wenig anzufangen<br />
wußten und deshalb vielfach Goethes Kommentar als „unzulänglich―<br />
hinstellten. Dabei verwies man freilich fast <strong>im</strong>mer auf Goethes Gespräch<br />
mit dem Historiker Heinrich LUDEN vom 19. August 1806, daß „<strong>der</strong><br />
Dichter nicht sein eigner Erklärer sein― solle; „damit würde er aufhören,<br />
Dichter zu sein―; „es ist die Sache des Lesers, des Ästhetikers, des<br />
Kritikers, zu untersuchen, was er mit seiner Schöpfung gewollt hat.―<br />
O<strong>der</strong> Goethes Fazit dazu: „Bilde, Künstler! Rede nicht! Nur ein Hauch<br />
sei dein Gedicht.―<br />
Im „geneTalogischen― Sinne wollen wir eine neue, weitere<br />
Interpretation versuchen. Das Wesen des „Dämons“ erscheint nämlich<br />
beson<strong>der</strong>s aus „geneTalogischer― Sicht weniger gehe<strong>im</strong>nisvoll,<br />
zumindest wenn man es genetisch und genealogisch betrachtet und mit<br />
dem Genom, also dem individuellen Gen-Bestand eines Menschen in<br />
nahe Berührung bringt. Dabei ergeben sich auch zwangsläufig enge<br />
Beziehungen zu LEIBNIZ’ „Monaden“-Lehre in neuerer<br />
naturwissenschaftlicher Interpretation.<br />
Der bekannte Literaturhistoriker und Goethe-Wissenschaftler Dr. Robert<br />
PETSCH, 1875-1945, gibt in einer Festausgabe von „Goethes Werken―<br />
zum 100. Bestehen des „Bibliographischen Instituts― eine gute kompakte<br />
Zusammenfassung <strong>der</strong> „Urworte―, die auch schon das<br />
naturwissenschaftliche Thema „Vererbung und Umgebung― anklingen<br />
läßt. Diesen lexikalischen Kurzüberblick wollen wir hier vor die<br />
Einzelkommentaren stellen (Hervorhebungen d. AR):<br />
„Urworte. Orphisch. Den 7.-8. Oktober gedichtet. Veranlaßt wurden<br />
diese uralten Wun<strong>der</strong>sprüche über Menschenschicksale (an<br />
BOISSERÉE 25. Mai 1818) durch das Studium von CREUZERs<br />
„Symbolik―, HERMANNs „Orphica―, des Dänen ZOÉGAS und an<strong>der</strong>er<br />
Schriften über griechische Mythologie, die damals <strong>im</strong> Gefolge <strong>der</strong><br />
romantischen Spekulation über die letzten Gründe des Seins und<br />
Wissens an <strong>der</strong> Tagesordnung waren. Im wesentlichen sind es Goethes<br />
eigene Gedanken über das Gewebe von Freiheit und<br />
Notwendigkeit, Dämon und Tyche, die hier unter Benutzung jener<br />
griechischen Quellen in prägnante Sprüche gefaßt werden. Er schrieb<br />
selbst einen Kommentar zu diesen Versen, <strong>der</strong> u. a. das Problem von<br />
Vererbung und Umgebung berührt und in dem Walten des Eros die<br />
eigentliche Lösung des Dualismus, die Versöhnung von Einzelwillen und<br />
Gattungsinstinkt, von Selbstbehauptung und Hingabe erkennt.― - Bei den<br />
Einzelkommentaren werden wir noch mehrfach auf PETSCH verweisen.<br />
Einen weitere zusammenfassenden Überblick vor den einzelnen<br />
Stanzen-Kommentaren sei hier noch von dem Goethe-Forscher Prof.<br />
Reinhard BUCHWALD gegeben; aus: „Goethe und das deutsche<br />
Schicksal― von 1948: „Ich habe <strong>im</strong> ersten Teil geschil<strong>der</strong>t, wie Goethe in<br />
„Dichtung und Wahrheit― durch epische Mittel angezeigt hat, daß er sein<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 11<br />
Leben so gedeutet wissen wollte, nämlich durch den Aufbau und<br />
den Inhalt seiner Erzählung, nicht aber durch theoretische<br />
Erläuterungen. Wenn wir aus seinem Munde ausdrücklich bestätigt<br />
hören wollen, daß wir mit unseren Folgerungen auf dem rechten<br />
Wege sind, müssen wir zu an<strong>der</strong>en unter seinen Bekenntnissen greifen.<br />
Die Quelle, aus <strong>der</strong> wir für unseren Zweck schöpfen, ist Goethes auch<br />
sonst so unendlich ergiebige eigene Erklärung seines Gedichtes<br />
„Urworte. Orphisch“ . Sie ist 1820 veröffentlicht, war aber schon 1816<br />
nie<strong>der</strong>geschrieben worden; sie gehört also, ebenso wie das erläuterte<br />
Gedicht selbst, in die <strong>Zeit</strong> von „Dichtung und Wahrheit―… Diese eignen<br />
Erläuterungen zu den „Urworten― fehlen lei<strong>der</strong> in den meisten Auswahl-<br />
Ausgaben von Goethes Werken, sogar <strong>im</strong> „Volks-Goethe― des<br />
Inselverlages. In den Gesamtausgaben muß man sie mühsam in den<br />
Bänden mit den „Schriften zur Literatur― suchen. …Ich suche<br />
zusammenzufassen, was wir aus den „Urworten― nach Goethes eigener<br />
Deutung für unseren Fragenkreis gewinnen können. – Worte und<br />
Begriffe altgriechischer, vorsokratischer Lebensweisheit geben dem<br />
Dichter in jenem Gedicht den Anlaß, die best<strong>im</strong>menden Kräfte des<br />
menschlichen Lebens sichtbar zu machen. Er will zeigen, wie <strong>der</strong><br />
Mensch wird, was er ist. Indem er dieses Urrätsel allen<br />
Menschentums zu ergründen versucht, erkennt er sich gefesselt<br />
durch eine festgefügte Kette von Gesetzen, denen keiner entfliehen<br />
kann. Die Notwendigkeit herrscht; von Selbstbest<strong>im</strong>mung und<br />
Freiheit kann keine Rede sein; all unser Nachdenken vermag uns nur<br />
die Auswirkung dieser strengen Weltgesetze auf die Entfaltung unseres<br />
Lebens zu offenbaren. Erst <strong>der</strong> Tod wird das Tor entriegeln, das uns<br />
aus dem Kerker dieser Notwendigkeit in das Reich <strong>der</strong> Freiheit<br />
entlassen wird.― -<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
1.3 Kommentare<br />
1.3.1 Kommentar zur 1. Stanze ΔΑΙΜΩΝ, Dämon.<br />
ΔΑΙΜΩΝ, Dämon.<br />
Wie an dem Tag, <strong>der</strong> dich <strong>der</strong> Welt verliehen,<br />
Die Sonne stand zum Gruße <strong>der</strong> Planeten,<br />
Bist alsobald und fort und fort gediehen,<br />
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.<br />
So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen.<br />
So sagten schon Sybillen, so Propheten;<br />
Und keine <strong>Zeit</strong> und keine Macht zerstückelt<br />
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.<br />
In Goethes Kommentar zur 1. Stanze heißt es: „Diese Best<strong>im</strong>mung<br />
schrieb man dem einwirkenden Gestirn zu, und es ließen sich die<br />
unendlich mannigfaltigen Bewegungen und Beziehungen <strong>der</strong><br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 12<br />
H<strong>im</strong>melskörper unter sich selbst und zu <strong>der</strong> Erde gar schicklich mit den<br />
mannigfaltigen Abwechslungen <strong>der</strong> Geburten in bezug stellen.―<br />
Dabei dachte Goethe nicht an astrologischen Aberglauben, den er<br />
wie<strong>der</strong>holt abgelehnt hat (Karl VIÉTOR). Nur die Bedeutung <strong>der</strong><br />
angeborenen Individualität mit ihrer Macht und Eigenheit will er als<br />
erstes und wichtigstes Element des Schicksals mit vertrautem Symbole<br />
hervorheben.<br />
Wir kennen aus „Dichtung und Wahrheit― ja seine humorvoll-ironische<br />
Beschreibung seiner eigenen Geburt in dichterischer Freiheit:<br />
„Die Konstellation war glücklich; die Sonne stand <strong>im</strong> Zeichen <strong>der</strong><br />
Jungfrau, und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sie<br />
freundlich an, Merkur nicht wi<strong>der</strong>wärtig; Saturn und Mars verhielten sich<br />
gleichgültig; nur <strong>der</strong> Mond, <strong>der</strong> soeben voll ward, übte die Kraft seines<br />
Gegenscheins um so mehr, als zugleich Planetenstunde eingetreten<br />
war. Er wi<strong>der</strong>setzte sich meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte,<br />
als bis die Stunde vorübergegangen.―<br />
Die folgenden vier Zeilen des DÄMON-Verses sprechen „das<br />
Charakteristische, wodurch sich <strong>der</strong> einzelne von jedem an<strong>der</strong>en bei<br />
noch so großer Ähnlichkeit unterscheidet― mit wie<strong>der</strong>holter Beteuerung<br />
aus.<br />
„So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen.<br />
So sagten schon Sybillen, so Propheten;<br />
Und keine <strong>Zeit</strong> und keine Macht zerstückelt<br />
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.―<br />
Weiter heißt es <strong>im</strong> Kommentar:<br />
„Das noch so entschieden Einzelne kann als ein Endliches gar wohl<br />
zerstört, aber solange sein Kern zusammenhält, nicht zersplittert noch<br />
zerstückelt werden, sogar durch Generationen hindurch.― Wozu die<br />
jahrtausendalte Genealogie und die mo<strong>der</strong>nsten Erkenntnisse <strong>der</strong><br />
Molekularbiologie (DNA-Struktur als „Urphänomen―) hinreichend<br />
mo<strong>der</strong>nen Kommentarstoff liefern können.<br />
Daß Goethe dem Ahnenerbe eine sehr hohe Bedeutung einräumt,<br />
wissen wir aus vielen seiner Äußerungen in seinen Werken, Briefen und<br />
Gesprächen. Hier erscheint uns Goethe als sehr scharfer Beobachter an<br />
sich selbst und an<strong>der</strong>en.<br />
„Der Mensch mag sich wenden, wohin er will, er mag unternehmen,<br />
was es auch sei, stets<br />
wird er auf jenen Weg wie<strong>der</strong> zurückkehren, den ihm die Natur<br />
einmal vorgezeichnet<br />
hat― (Dichtung und Wahrheit, 1. Teil, 4. Buch).<br />
_____<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 13<br />
„Du bist am Ende – was du bist,<br />
Setz dir Perücken auf von Millionen Locken,<br />
Setz deinen Fuß auf ellenhohe Socken,<br />
Du bleibst doch <strong>im</strong>mer, was du bist.―<br />
(Faust I. Studierz<strong>im</strong>mer [II],V. 1806f.)<br />
Gut kennt auch <strong>der</strong> Kaiser sein Pagenvölkchen als er seine papierenen<br />
Reichtümer austeilt:<br />
„Ich hoffte Lust und Mut zu neuen Taten,<br />
Doch wer euch kennt, <strong>der</strong> wird euch leicht erraten,<br />
Ich merk es wohl, bei aller Schätze Flor,<br />
Wie ihr gewesen, bleibt ihr nach wie vor―<br />
(Faust II. Kaiserliche Pfalz, V.6151f.);<br />
dazu: „Der Kaiser konstatiert die Unverän<strong>der</strong>lichkeit <strong>der</strong> sozialen<br />
Menschennatur und das Ausbleiben jedes Impulses zu gemeinnützigem<br />
Tun, ohne ihn doch selbst anzubringen.― (Dorothea Lohmeyer; in: Faust<br />
und die Welt―, 1974).<br />
„Dämonen, weiß ich, wird man schwerlich los,<br />
Das geistig-strenge Band ist nicht zu trennen―<br />
(Faust II. Mitternacht V. 11491 f. )<br />
„Niemand kann sich umprägen und niemand seinem Schicksal<br />
entgehen―<br />
(Italienische Reise, 11. Aug. 1787)<br />
„Was einem angehört, wird man nicht los, und wenn man es<br />
wegwürfe.―<br />
(Max<strong>im</strong>en und Reflexionen)<br />
„ Kein Mensch kann eine Faser seines Wesens än<strong>der</strong>n, ob er gleich<br />
vieles an sich bilden kann― (am 31. 3. 1784 an Friedrich Heinrich<br />
JACOBI, den engen Jugendfreund Goethes).<br />
In Goethes Gedicht „Das Göttliche“ heißt es:<br />
„Nach ewigen, ehernen.<br />
großen Gesetzen<br />
müssen wir alle<br />
unseres Daseins<br />
Kreise vollenden.―<br />
(um 1783, Vers 32-36)<br />
In „Hermann und Dorothea― läßt Goethe den Löwenwirt sagen:<br />
Denn wir können die Kin<strong>der</strong> nach unserem Sinne nicht formen:<br />
So wie Gott sie uns gab, muß man sie haben und lieben,<br />
Sie erziehen aufs beste und jeglichen lassen gewähren.<br />
Denn <strong>der</strong> eine hat die, die an<strong>der</strong>en an<strong>der</strong>e Gaben.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 14<br />
Je<strong>der</strong> braucht sie, und je<strong>der</strong> ist doch nur auf eigene Weise<br />
Gut und glücklich …-<br />
(3. Abschnitt, Thalia. Die Bürger,<br />
Vers 47-52)<br />
O<strong>der</strong> ebendort <strong>der</strong> <strong>Richter</strong> zu Hermann:<br />
Denn ich habe wohl oft gesehen, daß man Rin<strong>der</strong> und Pferde<br />
Sowie Schafe genau bei Tausch und Handel betrachtet;<br />
Aber den Menschen, <strong>der</strong> alles erhält, wenn er tüchtig und gut ist,<br />
Und <strong>der</strong> alles zerstreut und zerstört durch falsches Beginnen,<br />
Diesen n<strong>im</strong>mt man nur so auf Glück und Zufall ins Haus ein<br />
Und bereuet zu spät ein übereiltes Entschließen.<br />
(7. Abschnitt, Erato. Dorothea,<br />
Vers 176-181).<br />
Natürlich hat Goethes Überzeugung von <strong>der</strong> Beständigkeit des<br />
Charakters seine klassischen Vorbil<strong>der</strong> und Nachfolger:<br />
Zum Beispiel HORAZ (65-8 v.Chr.)<br />
Naturam expellas furca, tamen usque recurret.<br />
Treibe die Natur mit <strong>der</strong> Mistgabel aus,<br />
sie kehret doch wie<strong>der</strong> zurück.<br />
(Epistulae 1, 10,24)<br />
O<strong>der</strong> in mo<strong>der</strong>nster Übersetzung durch den Biowissenschaftler Prof.<br />
Hubert MARKL (Expräsident <strong>der</strong> Max-Planck-Gesellschaft): „Du magst<br />
die Einsicht in die Wirkung <strong>der</strong> Gene noch so oft mit <strong>der</strong><br />
psychosoziologischen Mistgabel verscheuchen, sie wird sich doch<br />
<strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> durchsetzen―; in: Wi<strong>der</strong> die Gen-Zwangsneurose: Michael<br />
WINK (Hrsg.): Vererbung und Milieu, 2001.<br />
Ganz ähnlich deutet Friedrich HÖLDERLIN, 1770-1843, in seinem<br />
Gedicht „Der Rhein“ den Zusammenhang zwischen Flußlandschaft<br />
und Lebensprägung;<br />
Denn wie du anfingst, wirst du bleiben,<br />
Soviel auch wirket die Not.<br />
Und die Zucht; das meiste nämlich<br />
Vermag die Geburt<br />
Und <strong>der</strong> Lichtstrahl, <strong>der</strong><br />
Dem Neugebornen begegnet<br />
O<strong>der</strong> Arthur SCHOPENHAUER, 1788-1860, er zitiert diese Horaz’sche<br />
Feststellung in seinen „Aphorismen zur Lebensweisheit“ u.a. mit<br />
folgenden Worten:<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 15<br />
„Man kann nämlich eine Regel für das Betragen gegen an<strong>der</strong>e sehr<br />
wohl einsehen, ja, sie selbst auffinden und treffend ausdrücken, und<br />
wird dennoch, <strong>im</strong> wirklichen Leben, gleich darauf gegen sie verstoßen.―<br />
O<strong>der</strong> nochmals in seinen „Aphorismen“ (Grundeinteilung) an an<strong>der</strong>er<br />
Stelle:<br />
„Während hingegen das Subjektive gar nicht in unserer Macht<br />
gegeben ist, son<strong>der</strong>n, jure divino eingetreten, für das ganze Leben<br />
unverän<strong>der</strong>lich feststeht:<br />
(hier Zitierung von Goethes DÄMON-Strophe)<br />
„Das einzige, was in dieser Hinsicht in unserer Macht steht, ist, daß wir<br />
die gegebene Persönlichkeit zum möglichsten Vorteil benutzen,<br />
demnach nur die ihr entsprechenden Bestrebungen verfolgen und uns<br />
um die Art von Ausbildung bemühen, die ihr gerade angemessen ist,<br />
jede an<strong>der</strong>e aber meiden, folglich den Stand, die Beschäftigung, die<br />
Lebensweiser wählen, welche zu ihr passen.―<br />
Nochmals zitiert SCHOPENHAUER in seiner Preisschrift „Die beiden<br />
Grundprobleme <strong>der</strong> Ethik― Goethes DÄMON-Vers und kommentiert u.a.<br />
dazu vorher und nachher:<br />
― Ebenso richtig daher, wie poetisch aufgefaßt, findet man das<br />
Resultat <strong>der</strong> hier dargelegten Lehre vom individuellen Charakteren<br />
ausgesprochen in einer <strong>der</strong> schönsten Strophen Goethes: (hier wie<strong>der</strong><br />
Zitierung von Goethes DÄMON-Strophe)<br />
Immer wird jegliches Wesen, welcher Art es auch sei, auf Anlaß <strong>der</strong><br />
einwirkenden Ursachen seiner eigentümlichen Natur gemäß reagieren.<br />
Dieses Gesetz, dem alle Dinge <strong>der</strong> Welt ohne Ausnahme unterworfen<br />
sind, drückten die Scholastiker aus in <strong>der</strong> Formel<br />
operari sequitur esse (POMPONATIUS)<br />
Was man tut, folgt aus dem, was man ist.<br />
Dazu ein Zitat von Albert EINSTEIN, 1879-1955, zum Thema<br />
Willensfreiheit:<br />
„An Freiheit des Menschen <strong>im</strong> philosophischen Sinne glaube ich<br />
keineswegs. Je<strong>der</strong> handelt nicht nur unter äußerem Zwang, son<strong>der</strong>n<br />
auch gemäß innerer Notwendigkeit. SCHOPENHAUERs Spruch: „Ein<br />
Mensch kann zwar tun, was er will, aber nicht wollen, was er will―, hat<br />
mich seit meiner Jugend lebendig erfüllt und ist mir be<strong>im</strong> Anblick und<br />
be<strong>im</strong> Erleiden <strong>der</strong> Härten des Lebens <strong>im</strong>mer ein Trost gewesen und eine<br />
unerschöpfliche Quell <strong>der</strong> Toleranz. Dies Bewußtsein mil<strong>der</strong>t in<br />
wohltuen<strong>der</strong> Weise das leicht lähmend wirkende Verantwortungsgefühl<br />
und macht, daß wir uns selbst und die an<strong>der</strong>en nicht gar zu ernst<br />
nehmen; es führt zu einer Lebensauffassung, die auch beson<strong>der</strong>s dem<br />
Humor sein Recht läßt.―<br />
(Mein Weltbild, um 1930).<br />
Dazu ein Brief Goethes an SCHILLER (wohl um 1798):<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 16<br />
„Unter an<strong>der</strong>n Betrachtungen bei Miltons „Verlorenem Paradiese― war<br />
ich auch genötigt, über den freien Willen, über den ich mir sonst nicht<br />
leicht den Kopf zerbreche, zu denken; er spielt in dem Gedicht, sowie in<br />
<strong>der</strong> christlichen Religion überhaupt, eine schlechte Rolle. Denn sobald<br />
man den Menschen von Haus aus für gut ann<strong>im</strong>mt, so ist <strong>der</strong> freie Wille<br />
das alberne Vermögen, aus Wahl vom Guten abzuweichen und sich<br />
dadurch schuldig zu machen; n<strong>im</strong>mt man aber den Menschen natürlich<br />
als bös an o<strong>der</strong>, eigentümlicher zu sprechen, in dem tierischen Falle<br />
unbedingt von seinen Neigungen hingezogen zu werden, so ist alsdann<br />
<strong>der</strong> freie Wille freilich eine vornehme Person, die sich anmaßt, aus Natur<br />
gegen Natur zu handeln.―<br />
Der Historiker Hans F. HELMOLT, 1865-1925, kommentiert dazu:<br />
„Letzteres erschien dem großen Pantheisten, <strong>der</strong> als Dämonischer aus<br />
seinem Innersten heraus <strong>im</strong> Einklang mit Gott-Natur handelt, als<br />
unmögliche Anmaßung. Sein <strong>im</strong> tiefsten Grunde religiöses<br />
Abhängigkeitsgefühl, seine geschlossene Einheitlichkeit und die<br />
Selbstverständlichkeit, das Gute nicht aus Pflichterfüllung, son<strong>der</strong>n aus<br />
innerer Notwendigkeit und Neigung zu tun, verboten es ihm von<br />
vornherein, aus Natur gegen die Natur zu handeln. Für den freien Willen<br />
Kants, das Erzeugnis eines atomisierenden, subjektivistischen und<br />
moralisch pess<strong>im</strong>istischen Verstandes, gab es in dem sinnlichen Anund<br />
Zusammenschauen des objektiven und grundsätzlichen Opt<strong>im</strong>isten<br />
Goethe keinen Raum.―<br />
Hier unterscheidet sich Goethes Lebensweisheit fundamental von <strong>der</strong><br />
SCHILLERs.<br />
Der Schriftsteller und Goethe-Biograph Eduard ENGEL, 1851-1938,<br />
schreibt dazu:<br />
„Daß Goethe mit seinem Glauben an die Einheit <strong>der</strong> Welt sich niemals<br />
von <strong>der</strong> Willensfreiheit des Menschen überzeugen ließ, ist<br />
selbstverständlich. Sie erschien ihm ein Unding, ja eine Lästerung <strong>der</strong><br />
Gott-Natur. Sein wie<strong>der</strong>holt erwähnter Glaube an die unhe<strong>im</strong>liche Kraft<br />
des Dämonischen hängt hiermit zusammen. Nicht min<strong>der</strong> seine<br />
Überzeugung von <strong>der</strong> Unabän<strong>der</strong>lichkeit des auf die Welt mitgebrachten<br />
Schicksals.―<br />
Und hier zitiert auch Engel die DÄMON-Strophe <strong>der</strong> Urworte und fährt<br />
weiter fort:<br />
„Daher auch seine große Duldsamkeit gegen Andre, die gleich ihm<br />
unterm Zwange ihrer unentrinnbaren Natur handelten, - <strong>im</strong> Gegensatz<br />
zu dem viel unduldsameren SCHILLER mit seinem Glauben an die<br />
menschliche Willensfreiheit.― (Goethe. Der Mann und das Werk,<br />
Bd. 2, 1926).<br />
Wie sagt Goethe doch so schön in seinem Fragement: „Die Natur“:<br />
―Man gehorcht ihren Gesetzen, auch wenn man ihnen wi<strong>der</strong>strebt: man<br />
wirkt mit ihr, auch wenn man gegen sie wirken will.― (siehe unter Kap.<br />
2, Anfang!)<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 17<br />
Vorher heißt es dort – wohl bezüglich Willensfreiheit zu deuten-:<br />
„Sie [die Natur] freut sich an <strong>der</strong> Illusion. Wer diese in sich und an<strong>der</strong>en<br />
zerstört, den straft sie als <strong>der</strong> strengste Tyrann. Wer ihr zutraulich folgt,<br />
den drückt sie wie ein Kind an ihr Herz―.<br />
Manchmal verpackt Goethe seine Lebensweisheit auch in scherzhaft<br />
gekleidete Ironie. In seinem Gedicht „Die Weisen und die Leute―,<br />
entstanden um 1814 in Berka/Thüringen, heißt es:<br />
Die Leute.<br />
Herrscht Zufall bloß und Augentrug?<br />
Epikur.<br />
Ich bleib’ in meinem Gleise.<br />
Den Zufall bändige zum Glück,<br />
Ergetz’ am Augentrug den Blick;<br />
Hast Nutz und Spaß von beiden.<br />
Die Leute.<br />
Ist unsere Willensfreiheit Lug?<br />
Zeno.<br />
Es kommt drauf an zu wagen,<br />
Nur halte deinen Willen fest,<br />
Und gehst du auch zugrund zuletzt,<br />
So hat’s nicht viel zu sagen.<br />
Die Leute.<br />
Kam ich als böse schon zur Welt?<br />
Pelagius.<br />
Man muß dich wohl ertragen.<br />
Du brachtest aus <strong>der</strong> Mutter Schoß<br />
Fürwahr ein unerträglich Los:<br />
Gar ungeschickt zu fragen.<br />
Die Leute.<br />
Ist Beßrungstrieb uns zugesellt?<br />
Plato.<br />
Wär’ Beßrung nicht die Lust <strong>der</strong> Welt,<br />
So würdest du nicht fragen.<br />
Mit dir versuch’ erst umzugehn,<br />
Und kannst du dich nicht selbst verstehn,<br />
So quäl’ nicht andre Leute.<br />
Der Philosoph, Klaus-Jürgen GRÜN, Philosoph, äußerte auf einer<br />
Podiumsveranstaltung zum Thema „Die Folgen neurobiologischer<br />
Forschung für unser Verständnis von Schuld und Strafe – Ist unser<br />
Strafrecht veraltet?― flapsig: „daß die Idee <strong>der</strong> Willensfreiheit nur dazu<br />
dient, die philosophischen Lehrstühle <strong>der</strong> Republik zu erhalten, und<br />
deshalb dort die neuen Beweise <strong>der</strong> Neurobiologie ignoriert würden.<br />
Denn wo kein freier Wille, da ist auch kein Kant. Und wo kein Kant, da<br />
ist auch keine Philosophie. Und wo keine Philosophie, da sind auch<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 18<br />
keine Philosophieprofessoren―. (Süddeutschen <strong>Zeit</strong>ung vom 3. Mai<br />
2007).<br />
Nun, die Philosophie wird sich wohl als „Königin <strong>der</strong><br />
Geisteswissenschaften― auf den Lehrstühlen behaupten können, aber<br />
wohl nur dann zu Recht, wenn sie sich den neusten<br />
naturwissenschaftlichen Erkenntnissen nicht mehr gänzlich verschließt<br />
und zur interdisziplinären Naturphilosophie keine Gegenpositionen<br />
aufbaut.<br />
Daß <strong>der</strong> große Vorahner Goethe hier wohl <strong>im</strong> Wesentlichen recht behält,<br />
zeigen die neusten Ergebnisse <strong>der</strong> neurobiologischen Forschung <strong>im</strong> 21.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t, die <strong>im</strong>mer mehr zur Erkenntnis führen, daß die<br />
Vorstellung vom freien Willen eine bloße Illusion ist. Einer <strong>der</strong><br />
international hier wohl angesehensten Repräsentanten für Deutschland<br />
ist Prof. Wolf SINGER vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung in<br />
Frankfurt a.M. (* München 1943).<br />
Wolf SINGER bringt es auf die vereinfachte prägnante „Formel―:<br />
„Keiner kann an<strong>der</strong>s, als er ist―<br />
wobei er aus empirisch-neurowissenschaftlichen Ergebnissen das<br />
bestätigte, was große Philosophen und frühere Denker wie HORAZ,<br />
LEIBNIZ, GOETHE, SCHOPENHAUER und EINSTEIN zur uralten<br />
Frage <strong>der</strong> „Willenfreiheit― schon längst vorausgefühlt und gedacht<br />
hatten.<br />
Dr. Friedrich Reinöhl; in: „Die Vererbung <strong>der</strong> geistigen Begabung―,<br />
Berlin/München 1937:<br />
schreibt:― Die Erziehung kann för<strong>der</strong>n und hemmen, entwickeln und<br />
aufbauen, leiten und lenken, aber nur innerhalb <strong>der</strong> Grenzen, welche die<br />
Anlage setzt. Entscheidend für die Entwicklung des Menschen ist und<br />
bleibt seine erbmäßig gegebene Veranlagung.<br />
Keine <strong>Zeit</strong> und keine Macht zerstückelt<br />
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt<br />
(Goethe)<br />
Wir dürfen auch Schillers Wort in diesem Sinn deuten:<br />
Selig, welchen die Götter die gnädigen<br />
Vor <strong>der</strong> Geburt schon lieben. ―<br />
Mit den beiden Schicksalsmächte ΔΑΙΜΩΝ Dämon und ΤΥΦΗ (das<br />
Zufällige) haben sich auch die Entwicklungspsychologen befaßt. Einer<br />
ihrer frühen Initiatoren, William (Wilhelm Louis) STERN, 1871-1938, -<br />
auf ihn geht <strong>der</strong> Begriff des Intelligenzquotienten („IQ―) zurück- hat<br />
einmal knapp formuliert:<br />
Anlage konstelliert – Umwelt realisiert<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 19<br />
Die Diplompsychologin Dr. phil. Elsbeth TROEBST, Oberaudorf,<br />
schrieb einmal in einer Leserzuschrift auf einen Artikel von Prof.<br />
LÜCKERT (+1992) „Das kleine Kind will lernen― in <strong>der</strong> „Süddeutschen<br />
<strong>Zeit</strong>ung― vom 30. 3. 1967, nachdem sie diesen Satz zitiert hatte: „Aber<br />
gerade bei <strong>der</strong> Konstellation [Erbanlage] bestehen heute wie eh und je<br />
tief in den Entwicklungsgang eingreifende Unterschiede. Wie könnten<br />
sonst innerhalb des gleichen Familien- und Pflegeraumes, also unter<br />
Geschwistern, so völlig an<strong>der</strong>s geartete Lebensläufe zustande<br />
kommen? Dabei handelt es sich nicht nur um den Begabungsgrad,<br />
son<strong>der</strong>n auch um das persönliche Entwicklungstempo. Es äußert sich in<br />
allen Lebensregungen, also auch bei den ersten Ansätzen des<br />
Abstraktionsvermögens. Daß diese Fähigkeit eine Grundvoraussetzung<br />
für den rechten <strong>Zeit</strong>punkt zum Lesenlernen ist, wird auch Prof.<br />
LÜCKERT nicht bestreiten.―<br />
Goethes Glaube an sein Ahnenerbe ist uns aus zahlreichen<br />
Äußerungen überliefert.<br />
Seine köstliche kleine „Ahnen-Selbstbiographie― aus den Zahmen<br />
Xenien ist gewiß nicht nur fabulöse Dichterfreiheit:<br />
„Vom Vater hab’ ich die Statur,<br />
Des Lebens ernstes Führen,<br />
Vom Mütterchen die Frohnatur<br />
Und Lust zu fabulieren.<br />
Urahnherr war <strong>der</strong> Schönsten hold.<br />
Das spukt so hin und wie<strong>der</strong>;<br />
Urahnfrau liebte Schmuck und Gold,<br />
Das zuckt wohl durch die Glie<strong>der</strong>.<br />
Sind nun die Elemente nicht<br />
Aus dem Komplex zu trennen,<br />
Was ist denn an dem ganzen Wicht,<br />
Original zu nennen?―<br />
_________<br />
Goethe wußte zwar noch nichts von mo<strong>der</strong>ner Humangenetik und den<br />
Mendelschen Gesetzen. Doch er hat schon intuitiv, ja instinkthaft in das<br />
Wesen <strong>der</strong> Vererbung klarer hineingesehen, als so manche seiner<br />
berühmten biologischen Nachfolger aus dem 19. Jahrhun<strong>der</strong>t, wie oben<br />
bereits unter Hinweis auf Darwin und Galton festgestellt.<br />
Auch „Iphigenie― läßt Goethe zum Taurierkönig Thoas sprechen:<br />
„Wohl dem, <strong>der</strong> seiner Väter gern gedenkt,<br />
Der froh von ihren Taten, ihrer Größe<br />
Den Hörer unterhält und still sich freuend<br />
Ans Ende dieser schönen Reihe sich<br />
Geschlossen sieht! Denn es erzeugt nicht gleich<br />
Ein Haus den Halbgott noch das Ungeheuer;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 20<br />
Erst eine Reihe Böser o<strong>der</strong> Guter<br />
Bringt endlich das Entsetzen, bringt die Freude<br />
Der Welt hervor.―<br />
Könnte ein mo<strong>der</strong>ner Genealoge o<strong>der</strong> Humangenetiker heute wohl<br />
Trefflicheres poetisch sagen?<br />
Goethes biologisches Ahnenerbe ist schon sehr gründlich von<br />
Psychologen, Vererbungswissenschaftlern (bes. Psychogenetikern) und<br />
Genealogen untersucht worden. Es muß hier auf meine<br />
Zusammenstellung mit genauen bibliographischen Daten und z.T.<br />
kurzem Erklärungstext in <strong>der</strong> Goethe-Genealogie-Internetseite:<br />
Vererbungswissenschaftlich orientierte Goethe-Genealogie-<br />
Literatur:<br />
http://goethe-genealogie.de/literatur/literaturst.html<br />
verwiesen werden. Nur die Titel seien daraus hier in <strong>der</strong> Anlage 1<br />
chronologisch aufgezählt:<br />
Wie versiert Goethe eine bürgerliche „Stammtafel― und ihren<br />
rechtlichen, aber auch biologisch vererbungsmäßigen Wert beschreibt,<br />
lesen wir in <strong>im</strong> ersten Teil von „Wilhelm Meisters Wan<strong>der</strong>jahren“:<br />
―Er fand seine Schwester [des Majors] vor dem Stammbaume<br />
stehen, den sie hatten aufhängen lassen, weil abends vorher zwischen<br />
ihnen von einigen Seitenverwandten die Rede gewesen, welche, teils<br />
unverheiratet, teils in fremden Landen wohnhaft, teils gar verschollen,<br />
mehr o<strong>der</strong> weniger den beiden Geschwistern, o<strong>der</strong> ihren Kin<strong>der</strong>n, auf<br />
reiche Erbschaften Hoffnung machten. (…) Hilarie trat an ihn heran,<br />
lehnte sich kindlich an ihn, beschaute die Tafel und fragte: wen er alles<br />
von diesen gekannt habe? Und wer wohl noch leben und übrig sein<br />
möchte? – Der Major begann seine Schil<strong>der</strong>ung von den ältesten, <strong>der</strong>en<br />
er sich aus seiner Kindheit nur noch dunkel erinnerte. Dann ging er<br />
weiter, zeichnete die Charaktere verschiedener Väter, die Ähnlichkeit<br />
o<strong>der</strong> Unähnlichkeit <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> mit denselben, bemerkte, daß oft <strong>der</strong><br />
Großvater <strong>im</strong> Enkel wie<strong>der</strong> hervortrete, sprach gelegentlich von dem<br />
Einfluß <strong>der</strong> Weiber, die, aus fremden Familien herüber heiratend, oft den<br />
Charakter ganzer Stämme verän<strong>der</strong>n. Er rühmte die Tugend mancher<br />
Vorfahren und Seitenverwandten und verschwieg ihre Fehler nicht. Mit<br />
Stillschweigen überging er diejenigen, <strong>der</strong>en man sich hätte zu schämen<br />
gehabt. Endlich kann er an die untersten Reihen. Da stand sein Bru<strong>der</strong>,<br />
<strong>der</strong> Obermarschall, er und seine Schwester und darunter sein Sohn und<br />
daneben Hilarie.―<br />
(zweites Buch, drittes Kapitel).<br />
In diesem Zusammenhang dürfte auch ein Gespräch Goethes mit<br />
Sulpiz BOISSERÉE vom 2. August 1815 interessant sein, das darüber<br />
hinaus auch noch Goethes großes Interesse für die Entwicklung <strong>der</strong><br />
Chemie in seinem Herzogtum erkennen läßt.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 21<br />
G.: Die Chemie rückt jetzt mit großen, gewaltigen Schritten nach, durch<br />
BERZELIUS, STROHMEIER, GÖTTLING, DÖBERREINER. Letzterer<br />
ein junger Mann in den Dreißigen, in Jena, hat WINTERL in seinem<br />
Kompendium große Ehre erwiesen; das will etwas sagen von einem<br />
jungen Mann in den Dreißigen, <strong>der</strong> kann es durchsetzen.<br />
B.: Dann kam er auf die verschiedenen Begabungen <strong>der</strong> Menschen.<br />
G.: Wie viele Talente und Genies bleiben durch Verhältnisse<br />
unentwickelt und zurückgehalten; wie viel Dummköpfe dagegen werden<br />
durch Verhältnisse, Erziehung und Künstelei in die Höhe auf Kathe<strong>der</strong><br />
usw. gehoben. Ich mein(t)e, die menschlichen Gaben seien fast in<br />
allen <strong>Zeit</strong>en gleich, aber die <strong>Zeit</strong>en seien ungleich und die<br />
Menschen unter sich ungleich, und die Verhältnisse. Ein alter<br />
Hofgärtner, J. H. SEIDEL, in Dresden habe von selbst die<br />
Metamorphose <strong>der</strong> Pflanzen gefunden und habe ihm dann mit Freuden<br />
davon erzählt, wie er gemerkt, daß er auch etwas davon wisse. -<br />
----------------------------------------------------------------------------------------------<br />
In „Dichtung und Wahrheit― schreibt Goethe: ―Meinem Vater war sein<br />
eigner Lebensgang bis dahin ziemlich nach Wunsch gelungen; ich sollte<br />
denselben Weg gehen, aber bequemer und weiter. Er schätze meine<br />
angeborenen Gaben um so mehr als sie ihm mangelten: denn er hatte<br />
alles nur durch unsäglichen Fleiß, Anhaltsamkeit und Wie<strong>der</strong>holung<br />
erworben. Er versicherte mir öfters, früher und später, <strong>im</strong> Ernst und<br />
Scherz, daß er mit meinen Anlagen sich ganz an<strong>der</strong>s benommen, und<br />
nicht so lie<strong>der</strong>lich damit würde gewirtschaftet haben.―<br />
(1. Teil, 1. Buch).<br />
Goethes Mutter, „Frau Aja“, muß ja wohl auch mit sicherem Instinkt<br />
geahnt haben, welch kostbaren Anlagen sie ihrem Sohne mitgegeben<br />
hat. Trefflich bringt sie das schicksalhafte Würfelspiel bei <strong>der</strong> Zeugung<br />
(genetisch: Reduktionsteilung und geschlechtliche Gen-Rekombination)<br />
ahnungsvoll in einem Brief an ihren Sohn auf den Punkt:<br />
„den 6ten October<br />
1807<br />
Lieber Sohn!<br />
Dein Brief <strong>der</strong> so ahnmutig – lieblich und Hertzerquickend war machte<br />
mich froh und frölig!<br />
Da nahm ich nun sogleich die wohlgeschnittene Fe<strong>der</strong> zu Hand und<br />
schreibe das was jetzt folgt. (…) Diese Meße war reich an –<br />
Profeßoren!!! Da nun ein großer theil deines Ruhmes und Rufens auf<br />
mich zurück fält, und die Menschen sich einbilden ich hätte was zu dem<br />
großen Talendt beygetragen; so kommen sie denn um mich zu<br />
beschauen – da stelle ich denn mein Licht nicht unter den Scheffel<br />
son<strong>der</strong>n auf den Leuchter versichere zwar die Menschen daß ich zu<br />
dem was dich zum großen Mann und Tichter gemacht hat nicht das aller<br />
mindeste beygetragen hätte/: denn das Lob das mir nicht gebühret<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 22<br />
nehme ich nie an:/ zudem weiß ich ja gar wohl wem das Lob und <strong>der</strong><br />
Danck gebührt, denn zu deiner Bildung in Mutterleibe da alles schon <strong>im</strong><br />
Ke<strong>im</strong> in dich gelegt wurde dazu habe ich warlich nichts gethan –<br />
Vielleicht ein Gran Hirn mehr o<strong>der</strong> weniger und du wärstes ein gantz<br />
ordinerer Mensch geworden und wo nichts drinnen ist da kan nichts raus<br />
kommen – da erziehe du das können alle Pilantopine in gantz Europia<br />
nicht geben – gute brauchbahre Menschen ja das laße ich gelten hir ist<br />
aber die Rede vom auserordendtlichen. Da hast du nun meine Liebe<br />
Frau Aja mit Fug und Recht Gott die Ehre gegeben wie das recht und<br />
billig ist, jetzt zu meinem Licht das auf dem Leuchter steht und denen<br />
Profeßern lieblich in die Augen scheint. Meine Gabe die mir Gott<br />
gegeben hat ist eine lebendige Darstellung aller Dinge die in mein<br />
Wißen einschlagen, großes und kleines, Wahrheit und Mährgen u.s.w.<br />
so wie ich in einen Circul komme wird alles heiter und froh weil ich<br />
erzähle. Also erzählte ich den Profeßsoren und Sie gingen und gehen<br />
vergnügt weg – das ist das gantze Kunstück. Doch noch eins gehört<br />
dazu – ich mache <strong>im</strong>mer ein freundliches Gesicht, das vergnügt die<br />
Leute und kostet kein Geld: sagte <strong>der</strong> Seelige Merck.―(…) Alle Freunde<br />
sollen gegrüßt werden. Obst die Hüll und die Füll, mein kleines Gärtgen<br />
hat reichlich getragen – zum Eßen wars zu viel zum Verkaufen zu wenig<br />
– da habe ich denn brav in Bouteillien eingemacht – Ich und Liese Eßen<br />
daß uns die Backen weh thun. Meine Liebe Tochter – den Lieben Augst<br />
grüße herzlich von<br />
Eurer<br />
treuen Muter u Großmutter<br />
Goethe.―<br />
Am Schluß dieser einführenden „Aphorismen― und Briefstelle <strong>der</strong><br />
„Mutter Aja― jetzt nochmals Goethe selbst am Ende seiner<br />
Autobiographie „Dichtung und Wahrheit―, wo er am Ende die<br />
dämonischen Worte aus seinem „Egmont“ spricht, als <strong>der</strong> aufgepackte<br />
Wagen vor <strong>der</strong> Tür stand und <strong>der</strong> Postillion das gewöhnliche Zeichen<br />
<strong>der</strong> Ungeduld erschallen ließ: „Kind, Kind! nicht weiter! Wie von<br />
unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> mit<br />
unsers Schicksals leichtem Wagen durch; und uns bleibt nichts, als<br />
mutig gefaßt die Zügel festzuhalten und bald rechts bald links, vom<br />
Steine hier, vom Sturze da, die Rä<strong>der</strong> abzulenken. Wohin es geht, wer<br />
weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam.―<br />
(„Dichtung und Wahrheit― Schlußsätze (4. Teil, 20. Buch) und textgleich<br />
<strong>im</strong> „Egmont― (2. Aufzug).<br />
------------------------------------------------------------------------------------------------<br />
Nachfolgend nun einige Kommentare von Interpreten, die meine mehr<br />
o<strong>der</strong> weniger große Zust<strong>im</strong>mung fanden. Sie stammen meist von<br />
geisteswissenschaftlicher Seite.<br />
„Goethe knüpft hier an den alten allegorischen Lehrsatz vom „Faden des<br />
Schicksals― an, durch den <strong>der</strong> Mensch eng verknüpft und fest verbunden<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 23<br />
ist: „Die erste Geburt aller Dinge ist ein Vorbild einer jeden Geburt auf<br />
Erden. Jegliches Kind, so wie es, gelöset von <strong>der</strong> Nabelschnur, in die<br />
Außenwelt eintritt, wird sofort angeknüpft an den Faden, an die Bande<br />
des Schicksals.― (nach Karl BORINSKI, Goethes Urworte. Orphisch; in:<br />
Philologus LXIX, 1910, S. 6)<br />
Philipp WITKOP erwähnt in <strong>der</strong> Biographie: „Goethe. Leben und Werk―<br />
(1931) das wohl berühmteste Verspaar <strong>der</strong> „Urworte― bei <strong>der</strong><br />
Besprechung von „Dichtung und Wahrheit―. Er sagt, daß Goethe<br />
bestrebt war, seine Selbstbiographie „nach jenen Gesetzen zu bilden,<br />
wovon uns die Metamorphose <strong>der</strong> Pflanze belehrt.― Und WITKOP<br />
schreibt dann: „Für solch eine morphologische Anschauung liegt die<br />
Formkraft jedes individuellen Lebens <strong>im</strong> Samenkern. Seine<br />
unableitbaren – natürlichen und dämonischen – Ke<strong>im</strong>kräfte drängen zur<br />
Entwicklung nach dem Gesetz, wonach sie angetreten.<br />
Und keine <strong>Zeit</strong> und keine Macht zerstückelt<br />
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.<br />
Wie die Pflanze, „von Knoten zu Knoten―, nach dem Gesetz alles<br />
Wachstums … entwickelt sich auch das Menschenleben. Und wie die<br />
Formkraft des Pflanzenke<strong>im</strong>s <strong>im</strong> Werdedrang dem Boden, <strong>der</strong> Luft, dem<br />
Licht die gemäßen Stoff- und Nährkräfte entn<strong>im</strong>mt, so wächst das<br />
menschliche Einzelleben in weitgespannter Wechselwirkung mit dem<br />
Alleben, mit den natürlichen und geschichtlichen, den sinnlichen und<br />
geistigen Mächten. Niemals waren bisher in einer Biographie die<br />
natürlichen, sinnlichen Lebensmächte so wie in „Dichtung und<br />
Wahrheit“ als Mitbildner eines Menschlebens geschil<strong>der</strong>t worden.― …<br />
Und WITKOPs farbenfroher Überblick sei hier noch zitiert: „Zum ersten<br />
Male steht hier <strong>der</strong> Mensch <strong>im</strong> kosmischen Raum, umwittert von<br />
Atmosphäre. Aus Frankfurter Altstadt steigt <strong>der</strong> Geruch <strong>der</strong> Bäcker,<br />
Metzger und Gerber; Mittelalter webt und wirkt aus seinen vorgebauten,<br />
holzgeschnitzten Giebeln; mit Kähnen beladen, plätschert <strong>der</strong> Main<br />
vorüber. Leipzig duftet von Pu<strong>der</strong> und Essenzen; über Straßburg liegt<br />
<strong>der</strong> Ruch von jungem Wein; Wetzlar sch<strong>im</strong>mert zwischen Obstgärten<br />
und reifen Ähren. Aus Natur und Geschichte wachsen Sitten und<br />
Bräuche, Klei<strong>der</strong> und Gebärden. Um Gottsched staubt die letzte<br />
Perücke, ein kurzes weißes rundes Röckchen umflattert Frie<strong>der</strong>ikens<br />
rehhafte Anmut.―<br />
Vom bereits erwähnten Robert PETSCH, entnehmen wir aus seinem<br />
Kommentar „Urworte Orphisch― (in: Germanisch-Romanische<br />
Monatshefte XXI, 1933, S. 32-45): „In solchen Scheinmonologen …<br />
haben wir die stärkste Vergeistigung dieser Bauform des Dramas vor<br />
uns; das Mit-sich-selbst-Gespräch, das gern über die dramatische<br />
Form hinauswächst, wo es nicht zum Entschluß führt, das auch nicht<br />
be<strong>im</strong> augenblicklich-einmaligen Erlebnis stehen bleibt, son<strong>der</strong>n in die<br />
Hintergründe <strong>der</strong> Seele eindringen will. … Das Ich spricht zu einem Du,<br />
das <strong>im</strong> Grunde nur die an<strong>der</strong>e Hälfte seiner selbst ist und faßt sich gern<br />
mit ihm zum „Wir“ zusammen. … Echte Spruchdichtung gründet sich<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 24<br />
weniger auf durchdachte, logisch und wissenschaftlich stichhaltige<br />
Erkenntnisse und Einsichten, denn auf Ergebnisse <strong>der</strong> Intuition. Seit<br />
alten <strong>Zeit</strong>en äußert sich <strong>im</strong> Spruch <strong>der</strong> „Weise―, <strong>der</strong> Bescheid weiß.―…<br />
Es ist Goethes Leben o<strong>der</strong> seine Lebensanschauung, die hier<br />
gestaltet wird. Das dichterische Bild ist getragen von jenen<br />
Leitgedanken, die Goethes Auffassung von allem Wesentlich-Seienden<br />
durchweg best<strong>im</strong>men, des Wi<strong>der</strong>spruches [Polarität] und <strong>der</strong><br />
Steigerung; die belebenden Gegensätze des Elementarischen<br />
wie<strong>der</strong>holen sich auf höherer Ebene und können sich auf spiralischem<br />
Wege bis ins Unendliche fortsetzen. … In dem <strong>der</strong> Dichter eine<br />
scheinbare Unordnung künstlerisch-symbolisch gestaltet, …läßt er<br />
Fäden hin und wie<strong>der</strong> nach allen Seiten laufen. So kann, ehe wirs uns<br />
versehen, vom Gedanken her eine kleine Welt in ihrer Totalität, mit ihren<br />
eigenen Färbung und Bewegtheit vor uns erstehen, wenn wir auch nur<br />
ein paar Grundzüge dieser Welt vor uns sehen.―<br />
Das war allerdings noch eine Gesamtschau PETSCHs, die wir hier<br />
nochmals rückblickend gebracht haben, um PETSCH jetzt noch zur 1.<br />
Stanze zu hören: „Die erste Strophe schon kann die gleichsam<br />
deutende Überschrift nicht entbehren, wie das mystisch wirkende<br />
„Dämon― erst durch den Inhalt <strong>der</strong> Verse seine tiefere, symbolische<br />
Deutung empfängt. Goethe meint nicht die „psycho-physische<br />
Individualität“ son<strong>der</strong>n etwas viel Höheres, was er sonst gern als<br />
„Entelechie“ bezeichnet.― Doch hier sei PETSCH teilweise<br />
wi<strong>der</strong>sprochen:<br />
Er meint zwar etwas Höheres, aber die „psycho-physische<br />
Individualität―, die Goethe gern auch als „Charakter― bezeichnet gehört<br />
hier untrennbar mit dazu. Denn wie SPINOZA und LEIBNIZ wendet sich<br />
auch Goethe scharf gegen einen DESCARTschen Dualismus von<br />
Körper und Seele. Denn Goethes Neigung zur panthesistischen Natur-<br />
Seele-Schau dürfte nicht zu leugnen sein, wenn es hier auch zwischen<br />
SPINOZA und LEIBNIZ gravierende Unterschiede gibt, auf die wir später<br />
noch zu sprechen kommen. PETSCH: „Goethe hat die astrologischen<br />
Meinungen so wenig „ernst „ genommen wie den Inhalt <strong>der</strong> alten<br />
Weissagungen und Mythen; er bezieht beides auf menschliche Werte<br />
überhaupt. Spielt er doch auch in seinem eigenem „Prognostikon― (am<br />
„Anfang von Dichtung und Wahrheit―: ―Die Konstellation war glücklich;<br />
die Sonne stand <strong>im</strong> Zeichen <strong>der</strong> Jungfrau, und kulminierte für den Tag;<br />
Jupiter und Venus blickten sich freundlich an, Merkur nicht wi<strong>der</strong>wärtig<br />
… usw.―) fast schelmisch mit den Mächten, die gleichsam nach höherer<br />
Best<strong>im</strong>mung seinen „Dämon― beherrschten. … In unserem Spruche<br />
kommt es auf keine persönliche „Nativität― [Stellung <strong>der</strong> Sterne bei <strong>der</strong><br />
Geburt] an, son<strong>der</strong>n auf die Tatsache, daß jede jedem ohne Ausnahme<br />
(und dem hervorragenden Menschen vor allem) die „geprägte Form“<br />
mitgegeben ist, dieses Gefüge <strong>der</strong> Grundneigungen und –bejahungen<br />
von best<strong>im</strong>mter Stärke und in best<strong>im</strong>mter Zu- und Unterordnung; von<br />
dem sich niemand fre<strong>im</strong>achen, das auch we<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> „<strong>Zeit</strong>― vergehen<br />
noch einer fremden „Macht― unterliegen kann, das aber dazu best<strong>im</strong>mt<br />
ist, sich „lebend zu entwickeln“, wie ein „Charakter sich bildet in dem<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 25<br />
Strom <strong>der</strong> Welt.― …Alles, was auch <strong>im</strong> folgenden zum Vorteil <strong>der</strong><br />
Persönlichkeit gesagt werden kann, gründet in dem, was diese Strophe<br />
bringt und was durch die Überschrift wie durch die steigernden<br />
Wie<strong>der</strong>holungen des Grundgedankens (unterstützt durch Re<strong>im</strong>worte)<br />
uns gleichsam eingehämmert wird. … Durch den Bau und durch die<br />
Folge <strong>der</strong> einzelnen Abschnitte geht etwas Werbendes, Hinreißendes,<br />
Überwältigendes hindurch: eine Bewegung, die sich auch durch die<br />
Fülle <strong>der</strong> Haupt- und Nebentöne nicht aufhalten läßt, son<strong>der</strong>n nach<br />
kurzer Stauung <strong>im</strong>mer aufs neue hervorbricht, bis <strong>der</strong> letzte Vers eine<br />
gewisse Beruhigung, ein gelasseneres Ausklingen und zugleich einen<br />
versteckten Hinweis auf das folgende bringt―.<br />
Im folgenden zitieren wir wie<strong>der</strong> einiges zur 1. Stanze von Prof. D.<br />
Otto PIPER aus: „Goethes orphische Urworte und die biblischen<br />
Urgestalten―; in: <strong>Zeit</strong>schrift für systematische Theologie (1934) 11, S. 19-<br />
62:<br />
„In <strong>der</strong> Überschrift gebraucht Goethe das dunkle Wort „Dämon―. Das in<br />
seinen Schriften verhältnismäßig selten vorkommt und nie eine volle<br />
Aufklärung findet. Im Gedicht selbst wird es als „geprägte Form die<br />
lebend dich entwickelt―, als Grenze und Gesetz bezeichnet, in den<br />
Erläuterungen spricht er von <strong>der</strong> „Unverän<strong>der</strong>lichkeit des Individuums―,<br />
von <strong>der</strong> „Individualität―, von „angeborener Kraft und Eigenheit― … Sie ist<br />
eine Gegebenheit, die mit <strong>der</strong> Ordnung des gesamten Kosmos<br />
zusammenhängt. Goethe selbst schwächt in den Erläuterungen freilich<br />
das astrologische Verständnis ab. Nicht das will er behaupten, daß<br />
die Sterne unser Schicksal lenken. Son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> Welt herrscht<br />
nach ihm das Gesetz unendlicher Kombinationsmöglichkeiten [die<br />
mo<strong>der</strong>ne Genetik untermauert dies nachdrücklich, selbst bei zweieiigen<br />
Geschwistern!], so daß jedes Einzelne „von jedem an<strong>der</strong>en bei noch<br />
so großer Ähnlichkeit sich unterscheidet.― … In den Erläuterungen<br />
will Goethe diesen Gedanken auch auf die Nationen angewendet<br />
wissen. Sie sind gewissermaßen Individuen höherer Ordnung.<br />
Goethes „Dämon― entspricht in vielen <strong>der</strong> aristotelischen Entelechie.<br />
Die Individualität ist „geprägte Form, die lebend sich entwickelt.― D. h.<br />
die Kontinuität des Individuums <strong>im</strong> Laufe <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> ist nicht eine<br />
Kontinuität des Stoffes, aus dem es gebildet ist [die Zellen erneuern sich<br />
stetig!], son<strong>der</strong>n die Kontinuität eines Formprinzips, durch das die<br />
jeweilige empirische Gestalt gebildet wird [Wirkung <strong>der</strong> genetischen, <strong>der</strong><br />
DNA-Erbsubstanz], das aber als bauendes Prinzip mit keiner dieser<br />
Gestalten identisch ist. … Es bleiben sich Statur und Gesten eines<br />
Menschen durch alle Lebensalter hindurch strukturell gleich, sosehr sie<br />
<strong>im</strong> einzelnen sich zu wandeln scheinen. Die Individualität ist unser<br />
Gesetz in dem doppelten Sinne eines aufbauenden und eines<br />
begrenzenden Gesetzes. „So mußt du sein!― Ich habe kein Recht und<br />
keine Möglichkeit, mir die Gesetze meines Handelns auszuwählen. Mein<br />
Sein best<strong>im</strong>mt mein Sollen. Und mein Wollen und Handeln hat nur<br />
soweit ein Recht, als es ein Stück meines Seins ist. … Es liegt ein<br />
Zweispalt <strong>im</strong> Wesen des Ich, den die übrige Natur nicht kennt, und das<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 26<br />
ist wohl auch <strong>der</strong> Grund, weshalb Goethe nicht neutrale Überschriften<br />
wie „Morphe― o<strong>der</strong> „Entelechie― gewählt hat, son<strong>der</strong>n das dunkelrätselhafte<br />
Δαιμων. Innere Formprinzipien haben auch Tier und<br />
Pflanze. Aber <strong>der</strong> Mensch unterscheidet sich dadurch von ihnen,<br />
daß an dieser Nötigung, selbst zu sein, ein Zwiespalt in ihm<br />
aufbricht. „Dir kannst du nicht entfliehen!“ Das Gehe<strong>im</strong>nis des Ich<br />
wird hier deutlich. Auf <strong>der</strong> einen Seite ist es etwas Gewordenes,<br />
gebildet aus <strong>der</strong> Erbmasse seiner Ahnen durch die Zufälligkeiten<br />
des Erbganges. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite ist es doch ein neuer Anfang,<br />
ein eigener Wille, ein selbständiges Aktionszentrum. Als sich selbst<br />
best<strong>im</strong>men<strong>der</strong> Wille möchte es seine eigenen Wege gehen. Aber aus<br />
den Tiefen des Unbewußten kommt von den Ahnen her die Weisung:<br />
„so mußt du sein!―, auch da, wo es ihm wi<strong>der</strong>sinnig erscheint, ja wo es<br />
zu seinem Ver<strong>der</strong>ben führt. Den dunklen Mächten des Blutes [<strong>der</strong> Gene,<br />
des genetischen Codes] kann das Ich nicht entfliehen. Mit Gut und<br />
Böse <strong>im</strong> moralischen Sinne hat <strong>der</strong> Da<strong>im</strong>on <strong>im</strong> Menschen also<br />
nichts zu tun; er ist das Gestaltungsprinzip, das seinen Leib wie seine<br />
Persönlichkeit aufbaut nach Gesetzen, die nicht aus Bewußtsein und<br />
individuellem Willen stammen. …<br />
Noch ein zweites Moment soll mit dem Worte Da<strong>im</strong>on ausgedrückt<br />
werden. Das Werden des Ich ist ein wachstumsmäßiger Vorgang. Das<br />
Ich ist „fort und fort gediehen―, „es entwickelt sich lebend.― Es steckt eine<br />
gehe<strong>im</strong>nisvolle Unruhe, ein Wachsedrang in dieser geprägten Form. Sie<br />
kann nicht stillstehen, ständig wandelt sich die Gestalt des Ich; nicht nur,<br />
ja nicht einmal in erster Linie durch die äußeren Einwirkungen, son<strong>der</strong>n<br />
aus innerem Drange. Die Individualität hält es nicht aus, bei sich<br />
selbst zu bleiben. Jede erreichte Gestalt dient nur <strong>der</strong> Vorbereitung<br />
einer neuen. Damit aber bringt sich die Individualität in einen<br />
Gegensatz gegen die <strong>Zeit</strong> und gegen die Mächte des Alls. Die <strong>Zeit</strong> wird<br />
hier nicht als <strong>der</strong> Lebensraum o<strong>der</strong> die Nahrung angesehen, die das<br />
Wachstum des Ich ermöglichen, son<strong>der</strong>n als die feindliche Gegenkraft,<br />
die das Werden und Wachstum aufhalten will [die „Lebensenergie―<br />
schwindet <strong>im</strong>mer mehr, <strong>der</strong> Tod winkt]. Und das All fühlt sich offenbar<br />
bedrängt durch die Selbstbehauptung des Individuums. Dem<br />
Grundgesetz <strong>der</strong> Individuation steht ein an<strong>der</strong>es gegenüber, das<br />
die Individuen ins All auflösen will. Individuelle Existenz ist daher<br />
<strong>im</strong>mer gefährdete Existenz. Aber solange das Gestaltungsprinzip, <strong>der</strong><br />
„Da<strong>im</strong>on―, nicht sich selbst aufhebt, bleibt die Individualität in aller<br />
Gefährdung unzerstört erhalten.―<br />
Des weiteren sei hier noch Wilhelm FLITNER aus: „Elpis―, in: „Goethe.<br />
Viermonatsschrift <strong>der</strong> Goethe-Gesellschaft N.F. des Jbs. Bd. 4 von 1939<br />
zitiert: „Das erste <strong>der</strong> fünf Worte, ―Dämon―, bleibt als deutsches<br />
Fremdwort stehen, denn unsere Sprache vermag mit ihren<br />
entsprechenden Wörtern – Seele, Geist – nicht mehr auszudrücken,<br />
was früher wohl darin gelegen hat: daß in uns eine treibende Macht<br />
steckt, die uns belebt und doch von uns unterscheidbar ist. Das<br />
aber drücken die griechischen Urworte aus. Sie sind halb nur Abstrakta,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 27<br />
halb aber Namen; Götter und Geister werden darin genannt. So wird in<br />
den Versen, wird <strong>im</strong> Kommentar von den Mächten gesprochen: halb von<br />
Begriffen, halb von Wesenheiten, die einen eigenen Sinn und ein Leben<br />
in sich haben und über uns Gewalt besitzen, obgleich sie doch nur in<br />
und durch uns selber sind.―<br />
Aus Johannes HOFFMEISTER „Die He<strong>im</strong>kehr des Geistes― (1946)<br />
entnehmen wir aus Kapitel 3. „Urworte, orphisch―: „Ehe wir aber den<br />
Goetheschen Hochgesang selbst aufklingen lassen, müssen wir noch<br />
auf etwas verweisen, was diese schöpferische Begegnung mit dem<br />
orphischen Geiste geradezu notwendig macht.― Hier geht<br />
HOFFMEISTER auf die vier o<strong>der</strong> fünf Schicksalsmächte es<br />
Gelehrtenstreites ein, die hier nicht zitiert werden sollen, da sie für<br />
Goethe nur eine äußerliche Anregung für eigene Gedanken waren.<br />
Lediglich das schöne Wort „Goethescher Hochgesang“ für die<br />
„Urworte“ wollte ich hier zitieren. HOFFMEISTER schreibt weiter:<br />
„Daher auch sein Bestreben, verwickeltere Gedankengänge in<br />
kürzeste, bündigste Sprüche zusammenzudrängen. So redselig uns<br />
manchmal <strong>der</strong> alte Goethe, beson<strong>der</strong>s in seinen Gesprächen mit<br />
ECKERMANN, auch erscheint: wenn er Tiefstgelebtes,<br />
Lebendigstgedachtes mitteilen will, dann sind es oft nur ganz wenige<br />
Worte. „Besitz und Gemeingut―, „Denken und Tun―, „Idee und Liebe“, in<br />
solchen ganz schlichten, von Sinn geradezu überdrängten Formeln<br />
liegt seine höchste Weisheit vollkommen beschlossen.― Interessant<br />
scheint mir <strong>der</strong> Zusammenhang zwischen Dämon und Charakter,<br />
wobei HOFFMEISTER eine Charakter-Definition durch Goethe aus<br />
dessen „Geschichte <strong>der</strong> Farbenlehre― gibt und daraus zitiert [hier noch<br />
etwas ausführlicher zitiert; AR]: „Jedes Wesen, das sich als eine Einheit<br />
fühlt, will sich in seinem eigenen Zustand ungetrennt und unverrückt<br />
erhalten. Dies ist eine ewige, notwendige Gabe <strong>der</strong> Natur, und so kann<br />
man sagen, jedes Einzelne habe Charakter bis zum Wurm herunter, <strong>der</strong><br />
sich krümmt, wenn er getreten wird. In diesem Sinne dürfen wir dem<br />
Schwachen, ja dem Feigen selbst Charakter zuschreiben: denn er gibt<br />
auf, was an<strong>der</strong>e Menschen über alles schätzen, was aber nicht zu<br />
seiner Natur gehört. Doch bedient man sich des Wortes Charakter<br />
gewöhnlich in einem höheren Sinne: wenn nämlich eine Persönlichkeit<br />
von bedeutenden Eigenschaften auf ihre Weise verharrt und sich durch<br />
nichts davon abwendig machen läßt.― (aus: „Materialien zur Geschichte<br />
<strong>der</strong> Farbenlehre, 18. Jahrhun<strong>der</strong>t, Abschnitt: NEWTONs Persönlichkeit).<br />
Karl VIÉTOR schreibt in seinem Buch „Goethe. Dichtung<br />
Wissenschaft . Weltbild― (1949), nachdem er darauf hingewiesen hatte,<br />
daß Goethe keinen astrologischen Aberglauben vertreten, den er<br />
wie<strong>der</strong>holt abgelehnt hat: „Aber Goethe bezieht sich auf das in den<br />
astrologischen Spekulationen sich kundgebende Gefühl einer<br />
durchgehenden Weltordnung, um die Bedeutung <strong>der</strong> angeborenen<br />
.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 28<br />
Individualität in ihrer Kraft und Eigenheit als des ersten und wichtigsten<br />
Schicksalselementes herauszustellen.<br />
„Geprägte Form, die lebend sich entwickelt―:<br />
Nicht starre Schale, son<strong>der</strong>n ein in <strong>der</strong> festen Grundprägung<br />
Fortschreitendes, das <strong>im</strong> Zusammenwirken mit den Kräften und<br />
Umständen, die in <strong>der</strong> Lebenssituation des Individuums liegen, sich<br />
verwirklicht; aber <strong>im</strong>mer so, daß <strong>der</strong> Kern zäh bewahrt wird, wie bei<br />
<strong>der</strong> Tier- o<strong>der</strong> Pflanzengattung <strong>der</strong> Urtypus. Keine Macht und keine<br />
<strong>Zeit</strong> vermag die angeborene Eigenart zu vernichten. Keine <strong>Zeit</strong>: denn<br />
durch Generationen hindurch erhält sie sich als erbliches<br />
Charakteristikum in <strong>im</strong>mer neuen individuellen Ausprägungen.―<br />
Auch hier war Goethe <strong>der</strong> weitblickende Vorahner von naturgesetzlichen<br />
Zusammenhängen, die ein Gregor MENDEL schon etwa 50 Jahre<br />
später durch empirische Versuche an Pflanzenkreuzungen<br />
nachgewiesen hat.<br />
Reinhard SCHANTZ schreibt in seinem Aufsatz „Goethes „Urworte.<br />
Orphisch― in ihrer geschichtsphilosophischen Bedeutung―; in: „<strong>Zeit</strong>schrift<br />
für Religions- und Geistesgeschichte― (1951) 3: „Goethe hat das dem<br />
Individuum innewohnende Kraftzentrum des „Da<strong>im</strong>on“ <strong>im</strong> Anschluß an<br />
Aristoteles auch Entelechie und <strong>im</strong> Anschluß an LEIBNIZ auch<br />
Monade genannt. „Die Hartnäckigkeit des Individuums, und daß <strong>der</strong><br />
Mensch abschüttelt, was ihm nicht genehm ist,― sagt Goethe zu<br />
ECKERMANN (am 3. 3. 1830), „ist mir ein Beweis, daß so etwas<br />
existierte … LEIBNIZ hat ähnliche Gedanken über solche<br />
selbständige Wesen gehabt, und zwar, was wir mit dem Ausdruck<br />
Entelechie bezeichnen, nannte er Monaden.― Der Da<strong>im</strong>on, die<br />
Entelechie und die Monade, dies alles sind für Goethe nur Synonyme<br />
<strong>der</strong> göttlichen Kraft, die sich <strong>im</strong> Individuum verkörpert, die es bewegt<br />
und gestaltet.― … Worauf es hier ankommt, ist <strong>der</strong> Nachruck, <strong>der</strong> auf den<br />
Ausgangspunkt gelegt wird: bei SPINOZA ist es die göttliche Substanz,<br />
bei Goethe die Individualität <strong>der</strong> Person, die den ersten und<br />
wichtigsten geschichtsphilosophischen Grundbegriff ausmacht. Von <strong>der</strong><br />
spinozistischen „Substanz― her führt kein Weg zum Erfassen des<br />
spezifisch Geschichtlichen; den einzigen Zugang bildet die Erkenntnis<br />
des schöpferischen Individuums, bei Goethe <strong>der</strong> geschichtlich<br />
gewandte Begriff <strong>der</strong> Aristotelischen Entelechie, in „inward form―<br />
SHAFTESBURYs o<strong>der</strong> <strong>der</strong> LEIBNIZschen Monaden als tätigen geistigen<br />
Einheiten―. Goethe nannte SHAFTESBURY, 1671-1713, seinen „älteren<br />
Zwillingsbru<strong>der</strong>―, „trefflichen Denker― und Verfechter einer durch „Geist,<br />
Witz, Humor― erreichbaren heiteren Geistesfreiheit gegenüber <strong>der</strong><br />
Intoleranz <strong>der</strong> Kirche (nach Gero von WILPERT „Goethe-Lexikon―<br />
(1989).<br />
Gerhart SCHMIDT: „Goethes ‚Urworte. Orphisch’―; in: <strong>Zeit</strong>schrift für<br />
philosophische Forschung (1957), 11, bringt die „Urworte― in Beziehung<br />
zu den Müttern: „Auch <strong>der</strong> Dichter <strong>der</strong> Urworte muß den Gang zu den<br />
Müttern antreten:<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 29<br />
[„Die Mütter sind es!―]<br />
„Gestaltung, Umgestaltung,<br />
Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung.―<br />
(Mütter-Mythos, Faust II. V. 6215 u. 6287)<br />
―Goethes Dichtung <strong>der</strong> Urworte ist ein Ergründen des Lebens selbst. Sie<br />
ermißt den Menschen aus <strong>der</strong> Polarität von Gott und Welt. Der<br />
Mensch ist die notwendige Mitte bei<strong>der</strong>, weil er das Göttliche als die<br />
gesammelte, schaffende Kraft verehrt und die Welt als dessen<br />
ausgebreitete, geschaffene Erscheinung durchforscht. Ohne den<br />
Menschen würde Gott und Welt in eine tote Einerleiheit<br />
zusammenfallen. Der Mensch ist aber nicht je<strong>der</strong> Beliebige. Er muß<br />
H<strong>im</strong>mel und Erde, Gott und Teufel in sich fühlen und ihre Begegnung<br />
austragen. Er ist <strong>der</strong> verwegene Gottsucher, <strong>der</strong> leidenschaftlich<br />
Erkennende: Faust. …Er ist kühn und verwegen, kraftlos und feige, er<br />
ist siegreicher Herrscher und unterwürfiger Knecht. … - er muß ein<br />
Schicksal haben, Amboß o<strong>der</strong> Hammer sein. …Nur <strong>der</strong> Mensch will<br />
über sich hinaus, er will sich verwirklichen, vollenden― [Steigerung].<br />
Johannes A. E. LEUE, Universität Pretoria, „Goethes „Urworte.<br />
Orphisch―; in: Acta Germanica (1967) 2; „Der Dämon ist <strong>der</strong><br />
best<strong>im</strong>mendste und stärkste Machtfaktor des Schicksals überhaupt, wie<br />
sich aus <strong>der</strong> Interpretation Goethes ergibt. … Je<strong>der</strong> Mensch trägt ein<br />
Gesetz, ein best<strong>im</strong>mtes Gepräge in sich [„innerer Kompaß“].<br />
Diesem Gesetz, diesem oft unbewußten Ich hat er zu folgen, kann er<br />
nicht entfliehen. Goethes Charaktere, wie Werther, Tasso und<br />
Egmont handeln ihrer Natur gemäß, „dem Gesetz, nach dem sie<br />
angetreten.― … Egmont, <strong>der</strong> aus seiner ganzen dämonischen<br />
Naturbedingtheit wirkt, schüttelt Oraniens Gründe wie<strong>der</strong> ab: „Weg, das<br />
ist ein frem<strong>der</strong> Tropfen in meinem Blute! Gute Natur wirft ihn wie<strong>der</strong><br />
heraus.― … Vollends ist Fausts Entwicklung auf allen Lebensstufen<br />
die des dämonischen Ich. … Der Dämon tritt aber auch als<br />
Schutzgeist auf, indem <strong>der</strong> Mensch sich in allen Schicksalslagen an den<br />
eigenen Dämon klammert. Dieser Glaube an den eigenen Dämon gab<br />
dem jungen Goethe das Vertrauen zu sich selbst. Er erkannte aber auch<br />
die Gefahren des Hingerissenwerdens, wie wir in seinen frühen Werken<br />
sahen.― LEUE weist hier auf das letzte Buch in „Dichtung und<br />
Wahrheit“ hin, wo Goethe sich ja zum Dämonischen ausführlich äußert.<br />
Wir zitieren hier aus dem 20. Buch daraus einiges: „Dieses Wesen, das<br />
zwischen alle übrigen hineinzutreten, sie zu son<strong>der</strong>n, sie zu<br />
verbinden schien, nannte ich dämonisch nach dem Beispiel <strong>der</strong><br />
Alten und <strong>der</strong>er die etwas Ähnliches gewahrt hatten. Ich suchte mich<br />
vor diesem furchtbaren Wesen zu retten, indem ich mich, nach meiner<br />
Gewohnheit, hinter ein Bild flüchtete. …Am furchtbarsten aber<br />
erscheint dieses Dämonische, wenn es in irgend einem Menschen<br />
überwiegend hervortritt. Während meines Lebensganges habe ich<br />
mehrere teils in <strong>der</strong> Nähe, teils in <strong>der</strong> Ferne beobachten können. Es<br />
sind nicht <strong>im</strong>mer die vorzüglichsten Menschen, we<strong>der</strong> an Geist<br />
noch an Talenten, selten durch Herzensgüte sich empfehlend; aber<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 30<br />
eine ungeheuere Kraft geht von ihnen aus, und sie üben eine<br />
unglaubliche Gewalt über alle Geschöpfe, ja sogar über die Elemente,<br />
und wer kann sagen wie weit sich eine solche Wirkung erstrecken<br />
wird?―.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
1.3.2 Kommentare zur 2. bis 5. Stanze<br />
2. Stanze ΣΤΥΗ, das Zufällige.<br />
Goethes vollständiger Kommentar dazu steht vorn be<strong>im</strong><br />
Gesamtgedicht.<br />
ΣΤΥΗ, das Zufällige.<br />
Die strenge Grenze doch umgeht gefällig<br />
Ein Wandelndes, das mit und um uns wandelt;<br />
Nicht einsam bleibst du, bildest dich gesellig<br />
Und handelst wohl so wie ein andrer handelt.<br />
Im Leben ist’s bald hin-, bald wi<strong>der</strong>fällig,<br />
Es ist ein Tand und wird so durchgetandelt.<br />
Schon hat sich still <strong>der</strong> Jahre Kreis gegründet,<br />
Die Lampe harrt <strong>der</strong> Flamme, die entzündet.<br />
Mit dem Kommentar zu dieser Strophe ergänzt Goethe hier manches,<br />
was <strong>im</strong> Verstext nicht ausgedrückt ist, wodurch sich aber jetzt auch <strong>der</strong><br />
Familienforscher beson<strong>der</strong>s angesprochen fühlt. Allein <strong>der</strong> geradezu<br />
vertrauliche Ton des „Du’s― spricht das familiäre und stammesmäßige<br />
Herkommen einer Person und seiner Familie mit ihren „mannigfaltigen<br />
Verzweigungen― (Familienzweigen) in einer Nation beson<strong>der</strong>s innig aus.<br />
Zunächst bedarf <strong>der</strong> Ausdruck „strenge Grenze― einer Erläuterung.<br />
Goethe versteht darunter einerseits körperlich die festgebundene<br />
Struktur und Beschaffenheit eines Individuums:<br />
„Es ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den H<strong>im</strong>mel<br />
wachsen“<br />
(Goethes Leitspruch zum 3. Teil von „Dichtung und Wahrheit―)<br />
Das Sprichwort kommt übrigens bereits in LUTHERs Tischreden vor.<br />
Psychisch versteht Goethe an<strong>der</strong>erseits unter „strenger Grenze―<br />
individuelle feste Beson<strong>der</strong>heiten. Faust vor seinem Tode:<br />
„Das geistig-strenge Band ist nicht zu trennen;<br />
Doch deine Macht, o Sorge, schleichend groß,<br />
Ich werde sie nicht anerkennen.―<br />
(Faust II. V. 11492 f.)<br />
Ergänzend zum Verstext hat Goethe zu dieser TYCHE-Stanze des<br />
Zufälligen noch Erweiterndes gebracht, das sich klar auf die<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 31<br />
menschlichen Unterschiede und ihre Weitergabe von Generation zu<br />
Generation bezieht; und zwar nicht nur innerhalb <strong>der</strong> Familie, son<strong>der</strong>n<br />
auch in den Volksstämmen und Nationen: „Zufällig ist es jedoch nicht,<br />
daß einer aus dieser o<strong>der</strong> jener Nation, Stamm o<strong>der</strong> Familie sein<br />
Herkommen ableitet; denn die auf <strong>der</strong> Erde verbreiteten Nationen sind,<br />
sowie ihre mannigfaltigen Verzweigungen, als Individuen anzusehen,<br />
und Tyche kann nur bei Vermischung und Durchkreuzung eingreifen.―<br />
Ähnlichem und „Festgebundenem― <strong>im</strong> engeren Heirats-,<br />
Volksstammes-Kreis und sogar <strong>der</strong> eigenen Nation, steht<br />
Unterschiedliches in entfernteren Heiratskreisen und fremden Nationen<br />
gegenüber. Goethe kommentiert dazu: „Wir sehen das wichtige Beispiel<br />
von hartnäckiger Persönlichkeit solcher Stämme an <strong>der</strong> Judenschaft;<br />
europäische Nationen, in an<strong>der</strong>e Weltteile versetzt, legen ihren<br />
Charakter nicht ab, und nach mehreren hun<strong>der</strong>t Jahren wird in<br />
Nordamerika <strong>der</strong> Englän<strong>der</strong>, <strong>der</strong> Franzose, <strong>der</strong> Deutsche gar wohl zu<br />
erkennen sein; zugleich aber auch werden sich bei Durchkreuzungen<br />
die Wirkungen <strong>der</strong> TYCHE bemerklich machen, wie <strong>der</strong> Mestize an einer<br />
kläreren Hautfarbe zu erkennen ist.― Hier werden also vererbungsmäßig<br />
bedingte Rassenunterschiede klar ausgesprochen, und auch auf die<br />
Wirkung <strong>der</strong> Vermischung („Durchkreuzung―) bei den Mestizen ( z. B.<br />
den Mischlingen zwischen Weißen und Indianern) wird hingewiesen.<br />
Goethe sagt anschließend: „Bei <strong>der</strong> Erziehung, wenn sie nicht öffentlich<br />
und nationell ist, behauptet Tyche ihre wandelbaren Rechte.<br />
Säugeamme und Wärterin, Vater o<strong>der</strong> Vormund, Lehrer o<strong>der</strong> Aufseher,<br />
sowie alle die ersten Umgebungen, an Gespielen, ländlicher o<strong>der</strong><br />
städtischer Lokalität, alles bedingt die Eigentümlichkeit, durch frühere<br />
Entwicklung, Zurückdrängen o<strong>der</strong> Beschleunigen;―<br />
Die zufällige Umwelt („Säugeamme und Wärterin, usw. ) wird als<br />
Wandelndes, „das mit und um uns wandelt― (V. 10) <strong>der</strong> „strengen<br />
Grenze― gegenüber gestellt. Statt <strong>der</strong> ehernen Strenge <strong>der</strong> vorigen<br />
Strophe herrscht hier das „Gefällige―, Lässige, Unstete, das <strong>im</strong> Wandeln<br />
auch wohl „sich wandelt―: um uns, mit uns und in uns, gleichsam als<br />
Außenbild <strong>der</strong> <strong>im</strong> Kern unverän<strong>der</strong>lichen Entelechi, wie es einmal <strong>der</strong><br />
Literaturwissenschaftler Dr. Robert PETSCH ausdrückte.<br />
Durch die Zufälligkeiten <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> und Umgebung werden die<br />
„Eigentümlichkeiten― beeinflußt durch „Zurückdrängen o<strong>der</strong><br />
Beschleunigen―. - „<strong>der</strong> Dämon freilich hält sich durch alles durch, und<br />
dieses ist denn die eigentliche Natur, <strong>der</strong> alte Adam, und wie man es<br />
nennen mag, <strong>der</strong>, so oft auch ausgetrieben, <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong><br />
unbezwinglicher zurückkehrt.― Wobei hier Goethe wie<strong>der</strong> zum<br />
DÄMON-Vers zurückweist, wie ja überhaupt alle Urwort-Verse<br />
miteinan<strong>der</strong> durch Rückspieglung verflochten sind. In gewissem Sinne<br />
stehen die Urworte ja auch symbolisch für den Lebenslauf eines<br />
Menschen.<br />
Das Wechselspiel unserer Lebensumstände – „es ist ein Tand und<br />
wird so durchgetandelt― (V. 14) – ist in unserer Jugend gesellig<br />
fortbildend bis zur beginnenden Macht <strong>der</strong> Liebe. „Der Jahre Kreis hat<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 32<br />
sich geründet― (V. 15). Das Kind ist erwachsen geworden und das Feuer<br />
<strong>der</strong> Liebe kann sich entzünden.<br />
Mit Goethes Worten aus seinem Epos-Fragment „Die Gehe<strong>im</strong>nisse―<br />
(1784/85), wollen wir unsere Gedanken zum TYCHE-Vers abschließen:<br />
Denn alle Kraft dringt vorwärts in die Weite,<br />
Zu leben und zu wirken hier und dort;<br />
Dagegen engt und hemmt von je<strong>der</strong> Seite<br />
Der Strom <strong>der</strong> Welt und reißt uns mit sich fort.<br />
Eines Kommentares zu Goethes 3. Eros-Stanze (ΕΡΩ) wollen wir<br />
uns hier enthalten; je<strong>der</strong> meiner Leser mag Goethes Urwort-Strophe <strong>der</strong><br />
Liebe mit seinen eigenen persönlichen Erinnerungen selbst<br />
nachempfinden.-<br />
3. Stanze ΕΡΩ, Liebe.<br />
Die bleibt nicht aus! – Er stürzt vom H<strong>im</strong>mel nie<strong>der</strong>,<br />
Wohin er sich aus alter Öde schwang,<br />
Er schwebt heran auf luftigem Gefie<strong>der</strong>,<br />
Um Stirn und Brust den Frühlingstag entlang,<br />
Scheint jetzt zu fliehn, vom Fliehen kehrt er wie<strong>der</strong>,<br />
Da wird ein Wohl <strong>im</strong> Weh, so süß und bang.<br />
Gar manches Herz verschwebt <strong>im</strong> allgemeinen,<br />
Doch widmet sich das edelste dem Einen.<br />
So kommen wir denn gleich zur 4. Stanze ΑΝΑΓΚΗ, Nötigung.<br />
ΑΝΑΓΚΗ, Nötigung<br />
Da ist’s denn wie<strong>der</strong>, wie die Sterne wollten:<br />
Bedingung und Gesetz und aller Wille<br />
Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten,<br />
Und vor dem Willen schweigt die Willkür stille;<br />
Das Liebste wird vom Herzen weggescholten,<br />
Dem harten Muß bequemt sich Will’ und Grille.<br />
So sind wir scheinfrei denn nach manchen Jahren,<br />
Nur enger dran, als wir am Anfang waren.<br />
Wir folgen hier zunächst Theologieprofessor D. Otto PIPERs<br />
Kommentar von 1934: „Schon <strong>der</strong> Rhythmus <strong>der</strong> Strophe deutet an, daß<br />
hier ein neues Moment zum Leben hinzukommt. […] Wohl versucht <strong>der</strong><br />
Mensch <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong>, ausschließlich seiner Neigung zu folgen. Aber er<br />
vermag nichts gegen das Gesetz des Lebens. […] Aber wenn wir uns<br />
auch <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> stemmen werden gegen die äußeren Schranken, die<br />
den freien Lauf <strong>der</strong> Liebe aufhalten wollen, wir werden <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong><br />
nachgeben [müssen].<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 33<br />
Mit <strong>der</strong> Ananke rundet sich zum zweiten Male <strong>der</strong> Lebenskreis.<br />
Hatten Da<strong>im</strong>on und Tyche den Menschen fähig gemacht zum Gestalten,<br />
so führen Eros und Ananke ihn wie<strong>der</strong> in sein Selbstsein zurück. Nur<br />
eben auf einer höheren Stufe. War es das erstemal das Selbstsein des<br />
Ich in seiner Individualität, so ist es nun das Selbstsein als Glied des<br />
Kosmos. Damit scheint die Aufgabe des Ich endgültig erfüllt zu sein:<br />
freilich <strong>im</strong> Sinne <strong>der</strong> Unlösbarkeit. […] Goethe kennt nichts von KANTs<br />
Begeisterung für „das Sittengesetz in mir.― Im Gegenteil. Die<br />
Resignation, die die Anankestrophe durchzieht, ist die Resignation des<br />
prometheischen Menschen, <strong>der</strong> begriffen hat, daß <strong>der</strong> Da<strong>im</strong>on sein Ziel<br />
nie erreichen kann, nämlich Schöpfer seines eigenen Lebens zu sein.<br />
Es ist die St<strong>im</strong>mung zu Beginn <strong>der</strong> Mitternachtsszene aus Faust II, 5.<br />
Akt, über <strong>der</strong>en Düsternis auch <strong>der</strong> aufflackernde Aktivismus nicht mehr<br />
hinwegzutäuschen vermag.―-<br />
So sind wir scheinfrei denn nach manchen Jahren,<br />
Nur enger dran, als wir am Anfang waren. -<br />
Doch man kann auch diese Strophe noch aus einer etwas positiveren<br />
Perspektive sehen (nach Johannes A. E. LEUE, 1967, Universität<br />
Pretoria): „Der Mensch n<strong>im</strong>mt nur das an, was seinem Wesen<br />
entspricht, und er befindet sich damit gleichzeitig in grundsätzlicher<br />
Übereinst<strong>im</strong>mung mit dem Weg und Ziel seines Schicksals. Der<br />
scheinbare Gegensatz zwischen Dämon und Tyche findet in dieser<br />
Polarität [eine Hauptthese Goethes!] seine Überwindung.<br />
5. Stanze ΕΛΠΙ, Hoffnung<br />
Doch solcher Grenze, solcher eh'rnen Mauer<br />
Höchst wi<strong>der</strong>wärt’ge Pforte wird entriegelt;<br />
Sie stehe nur mit alter Felsendauer!<br />
Ein Wesen regt sich leicht und ungezügelt;<br />
Aus Wolkendecke, Nebel, Regenschauer<br />
Erhebt sie uns, mit ihr, durch sie beflügelt:<br />
Ihr kennt sie wohl, sie schwärmt nach allen Zonen;<br />
Ein Flügelschlag! – und hinter uns Äonen!<br />
Dieser von Goethe nicht kommentierten Strophe fügen wir nur<br />
weniges hinzu, da diese Gedanken einen persönlich-int<strong>im</strong>en<br />
Glaubensbereich berühren. Der Autor möchte aber die ganze Urworte-<br />
Besprechung noch aus einer Betrachtung von Wilhelm FLITNER (1939)<br />
mit einem Ethos <strong>der</strong> Hoffnung ausklingen zu lassen, das auch Goethes<br />
Lebensphilosophie wi<strong>der</strong>spiegelt. Es sind hier Anklänge an „Wilhelm<br />
Meisters Wan<strong>der</strong>jahre― erkennbar:<br />
„Der höhere (platonische) Eros richtet sich auf das Ideelle; und in allen<br />
Ideen erblickt <strong>der</strong> Liebende Gleichnis, Abbild des höchsten,<br />
weltschaffenden Gedankens. Dem Menschen ziemt darum ‚reine<br />
Tätigkeit’. Sie liegt <strong>im</strong> künstlerisch-bildenden, <strong>im</strong> forschend-gestaltenden<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 34<br />
Schaffen, aber auch in jenem schlichten, denkenden Tun, welches nützt<br />
und dient, um menschliches Leben in Geselligkeit und Ordnung zu<br />
ermöglichen, um geistige Freude, frommen höheren Sinn <strong>der</strong> Ehrfurcht<br />
zu erwecken. Das ist aufs deutlichste <strong>im</strong> Wilhelm Meister entwickelt. Alle<br />
höher Tätigkeit hat Logos in sich, Gedanken und Bild, sie hat Sinn,<br />
begrenzten Sinn: <strong>im</strong> menschlichen Gemeinwesen ist das Nützliche,<br />
För<strong>der</strong>liche, Gedeihliche; <strong>im</strong> einsam, bildenden und forschenden<br />
Schaffen ists die reine Erkenntnis, das künstlerische Symbol.―-<br />
Ohne Hoffnung sind nur die Toten<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
1.4 Von den genetischen Unterschieden <strong>der</strong> Menschen<br />
(Bruno Bürgel)<br />
Es sei jetzt anschließend Bruno H. BÜRGEL, 1875-1948, Astronom und<br />
Schriftsteller (populärwissenschaftlich und naturphilosophisch) aus<br />
seinem schönen Buch „Menschen untereinan<strong>der</strong>. Ein Führer auf <strong>der</strong><br />
Pilgerreise des Lebens― von 1922 zitiert. Damit soll von berufener Seite<br />
<strong>der</strong> Kommentar zu den „Urworten― abgerundet sein. Zunächst geht<br />
BÜRGEL auf die genetischen Unterschiede <strong>der</strong> Menschen ein und<br />
kommt dabei auf Umwelt und Vererbung zu sprechen. BÜRGEL –<br />
ursprünglich Schuhmacher und Buchdrucker - schreibt:<br />
„Es gibt keinen idealen Menschen! Es hat zu je<strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> Menschen<br />
gegeben, die wie ragende Berggipfel aus <strong>der</strong> Masse des Flachlandes<br />
herausragten, aber auch sie, auch die größten unter unserm<br />
Geschlecht weisen Züge auf, die oft allzu menschlich wirken, das<br />
Idealbild stören, auch bei ihnen machen sich aus grauer Vorzeit<br />
vererbte Anlagen und Schwächen bemerkbar, die sie selbst oft genug<br />
störend empfinden, gegen die sie ankämpfen. In den<br />
Lebensgeschichten großer Männer, wie etwa in <strong>der</strong> GOETHEs, eines<br />
<strong>der</strong> wun<strong>der</strong>vollsten Menschen, die dieser Planet hervorbrachte, finden<br />
wir genügend Beweise dafür.<br />
Ist <strong>der</strong> einzelne Mensch schon, wie einmal jemand humorvoll sagte,<br />
„nicht ohne Webfehler―, die je nach seiner Veranlagung, seiner Bildung<br />
und seinem Taktgefühl mehr o<strong>der</strong> weniger störend empfunden werden<br />
können, so ist <strong>der</strong> Mensch als Masse, und da, wo er als Masse wirkt<br />
und auftritt, keine sehr erfreuliche Naturerscheinung. Es liegt in <strong>der</strong><br />
Natur <strong>der</strong> Sache, daß das Bildungsniveau <strong>der</strong> Masse <strong>im</strong>mer tiefer<br />
stehen wird als das jener Einzelmenschen o<strong>der</strong> auch Schichten des<br />
Volkes, die bewußt an sich arbeiten, denen es ein Lebensbedürfnis ist,<br />
sich möglichst aus <strong>der</strong> Tiefe zu entfernen und hohen Vorbil<strong>der</strong>n aus<br />
<strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Menschheit nachzustreben. Bis zu einem<br />
gewissen Grade ist das natürlich von <strong>der</strong> äußeren Lebenslage<br />
abhängig. Es ist klar, daß das wohl behütete und früh schon<br />
wenigstens zu einer gewissen äußeren Kultur erzogene Kind eines<br />
begüterten Hauses, das dann später gute Schulen, die Universität<br />
usw. besuchen kann, Mittel hat, sich durch gute Lektüre, durch<br />
Beschäftigung mit Kunstwerken und durch Reisen zu bilden, fast<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 35<br />
zwangsläufig einen gewissen Grad von Kultur erreicht, selbst bei<br />
min<strong>der</strong> guten natürlichen Anlagen. Umgekehrt kann das<br />
Proletarierkind, das in einer kümmerlichen, schmutzigen Mietskaserne<br />
aufwächst, nicht viel Gutes um sich herum sieht, eine pr<strong>im</strong>itive Schule<br />
besucht, dann schon in jugendlichem Alter an die Arbeit muß und nur<br />
schnell nach Feierabend o<strong>der</strong> am Sonntag ohne bessere Anleitung oft<br />
recht fragwürdige Vergnügungen und Genüsse zusammenrafft, selbst<br />
bei guter Anlage nur schwer zu kulturellen Gütern kommen.<br />
Aber vor einer weit verbreiteten Täuschung und Selbsttäuschung<br />
muß man doch warnen, nämlich vor <strong>der</strong>, daß allein diese sozialen<br />
Unterschiede das Tor zur Erwerbung von Wissen, Kultur und<br />
Herzensbildung öffnen o<strong>der</strong> verschließen. Wir sehen <strong>im</strong> Gegenteil,<br />
daß Leute aus sehr guten Häusern, mit sehr „guter Kin<strong>der</strong>stube―, wie<br />
man sich ausdrückt, oft unausstehliche Flegel und durchaus kulturlose<br />
Menschen geblieben sind, und daß Proletarierkin<strong>der</strong>, die an sich<br />
selbst arbeiteten (man denke an den Astronomen HERSCHEL, an die<br />
Dichter HEBBEL und ROSEGGER, an die berühmten Naturforscher<br />
FRAUNHOFER und FARADAY, die alle Arbeiterkin<strong>der</strong> und selbst<br />
Arbeiter waren), hervorragende Menschen wurden, die eingereiht sind<br />
in die Armee <strong>der</strong> Unsterblichen. Nein, nein, so einfach liegen die Dinge<br />
nicht, und es ist häufig nur eine bequeme Ausrede, wenn ein ganz tief<br />
gesunkener <strong>Zeit</strong>genosse alles nur darauf schiebt, daß er armer Leute<br />
Kind war und von früh auf arbeiten mußte. Eins aber spielt die<br />
Hauptrolle: die Vererbung, die ererbte Anlage. Kein<br />
Armeleuteelend und keine Arbeitsfron kann das unterdrücken,<br />
keine Wiege <strong>im</strong> Fürstenhaus und keine Universität kann es<br />
ersetzen. Wir unterscheiden uns schon voneinan<strong>der</strong> <strong>im</strong><br />
Mutterleibe!“<br />
An an<strong>der</strong>er Stelle <strong>im</strong> Buch schreibt BÜRGEL, - auf dieses Thema<br />
nochmals eingehend: „Von jeher hat mich (mein eigener<br />
Entwicklungsgang legte das beson<strong>der</strong>s nahe!) die Frage interessiert,<br />
ob sich Kin<strong>der</strong> überhaupt in dem Sinne „erziehen― lassen, wie man das<br />
ganz allgemein glaubt. Ich persönlich muß das nach meinen<br />
Lebenserfahrungen bezweifeln. Je mehr ich beobachtete, je mehr ich<br />
mich auch theoretisch mit diesem wichtigen Problem befaßte, je mehr<br />
drängte sich mir die Überzeugung auf, daß Anlage, Vererbung und<br />
später die Lebenserfahrung den Menschen formen, daß die Erziehung<br />
dagegen gar nicht aufkommt, ja daß sie fast <strong>im</strong>mer nur äußerlich<br />
Angeklebtes bleibt, wenn Veranlagungen, die durch Vererbung<br />
best<strong>im</strong>mt sind, dem Individuum an<strong>der</strong>e Wege weisen, und wenn die<br />
Lebenserfahrung das, was die Erziehung an den werdenden<br />
Menschen herantrug, abstreift. Ich habe Knaben und Mädchen<br />
gekannt, die in sorgsamster Weise erzogen wurden und vollkommen<br />
„unter den Schlitten― gerieten, nicht aus äußerer Not, son<strong>der</strong>n weil die<br />
Veranlagung dazu in ihnen steckte.<br />
Ich habe Kin<strong>der</strong> aus ärmsten Hause kennengelernt, denen Vater und<br />
Mutter wahrhaftig kein gutes Beispiel gaben, die <strong>im</strong> trüben Milieu des<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 36<br />
berüchtigten Berliner Scheunenviertels aufwuchsen und dennoch<br />
aufwärts stiegen und tadellose Menschen wurden. Streng<br />
monarchistisch erzogene Söhne von adligen Offizieren wurden<br />
Revolutionäre, Pastorentöchter Juchhe-Mädels, Kin<strong>der</strong> aus radikalen<br />
Arbeiterfamilien wurden monarchistisch und tief religiös. „Erkläret mir,<br />
Graf Örindur, diesen Zwiespalt <strong>der</strong> Natur―!<br />
Von Eltern o<strong>der</strong> Voreltern steckt eben in diesen Menschen eine<br />
Anlage, die sie zwingt, so und nicht an<strong>der</strong>s ihren Weg zu gehen, o<strong>der</strong><br />
aber die eigenen Erfahrungen be<strong>im</strong> Eintritt ins Leben haben diese<br />
Menschen dazu veranlaßt, das, was die Erziehung wie ein äußeres<br />
Kleid um sie legte, abzustreifen und sie s e l b s t zu sein! Erleben wir<br />
doch <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong>, daß das Sprichwort: „Durch Schaden wird man<br />
klug― eine tiefe Weisheit birgt, die an <strong>der</strong> Jugend wahr wird. Wann lernt<br />
wohl ein junger Mensch aus den Erfahrungen <strong>der</strong> Eltern und Erzieher<br />
etwas?! Was nützen da alle Ermahnungen und Ratschläge?! Er (<strong>der</strong><br />
Jüngling) o<strong>der</strong> auch sie (die Jungfrau) hören sich das mehr o<strong>der</strong><br />
weniger respektvoll mit an, aber sie werden das natürlich ganz an<strong>der</strong>s<br />
machen als die guten Alten, sie werden die Klippe selbstverständlich<br />
geschickt umschiffen, an <strong>der</strong> jene scheiterten, das wäre ja noch<br />
schöner! Der Schaden erst macht sie klug. „In den Ozean schifft mit<br />
tausend Masten <strong>der</strong> Jüngling. Still auf gerettetem Boot treibt in den<br />
Hafen <strong>der</strong> Greis.―-<br />
Und damit liefert BÜRGEL eigentlich schon eine Überleitung zur 4.<br />
Stanze <strong>der</strong> „Urworte―, Not und Nötigung des Alters.<br />
Aus BÜRGELs eigenen Aussagen wissen wir, daß er in Berlin in<br />
einer öden Mietskaserne in <strong>der</strong> Lottumstraße 6 <strong>im</strong> dritten Stock als<br />
Kind einer sterbensnahen, an TBC erkrankten ledigen jungen Frau,<br />
<strong>der</strong> Näherin Emilie SOMMER, die aus Mecklenburg kam, geboren<br />
wurde. BÜRGEL schreibt: „Sie hatte das Leben freudlos<br />
herumgestoßen; früh verwaist, war sie, mit keinem an<strong>der</strong>en Besitz als<br />
einer kleinen Holztruhe mit <strong>der</strong>ber Wäsche und billigen Klei<strong>der</strong>n,<br />
gezwungen gewesen, in fremden Häusern ihr Brot zu verdienen― […]<br />
So wenig glücklich das Leben <strong>der</strong> jungen Frau verlief, die meine<br />
Mutter war, in einem Punkte hatte sie es doch gut getroffen. Das<br />
kleine Stübchen, in dem ich geboren wurde, hatte sie ihr fremden<br />
Leuten abgemietet, und nach und nach entwickelte sich zwischen<br />
beiden Parteien eine wirkliche, herzliche Freundschaft, die für mich<br />
selbst von größter Bedeutung werden sollte. […] Die braven, auch<br />
nicht mehr jungen Handwerkersleute, bei denen meine Mutter<br />
Unterschlupf gefunden hatte, beschlossen (namentlich <strong>im</strong> Hinblick auf<br />
den bedenklichen Zustand <strong>der</strong> jungen Mutter, bei <strong>der</strong> sich damals<br />
schon das Lungenleiden bemerkbar machte, an dem sie früh zugrunde<br />
ging) mich zu adoptieren.― Von seiner verwaisten Mutter schreibt<br />
BÜRGEL dann noch recht aufschlußreich: „Ich weiß nur, daß sie eine<br />
gute Erziehung gehabt hatte, außerordentlich belesen war und nur<br />
eine Leidenschaft besaß: die Liebe zu den Büchern. Die hat sie mir<br />
vererbt― (aus: Bruno H. BÜRGEL: Vom Arbeiter zum Astronomen,<br />
Lebenserinnerungen, 1919).<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 37<br />
Der leibliche Vater hat sich we<strong>der</strong> um die Mutter noch um den Sohn<br />
gekümmert. „BÜRGELs Vater (Adolf TRENDELENBURG, geb. 1844<br />
zu Bromberg, gest. 1941 zu Berlin) war zu <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>, als die kränkelnde<br />
Mutter den unehelich geborenen Sohn in <strong>der</strong> Wiege vor ein<br />
ungewisses Schicksal gestellt sah, bereits seit 1872 ordentlicher<br />
Lehrer am Friedrichsgymnasium zu Berlin. Seine Stellung war<br />
gesichert. Er stieg zu einem angesehenen Gelehrten empor, <strong>der</strong><br />
1869/70 als Mitarbeiter von Heinrich SCHLIEMANN (1822-1890) die<br />
Ausgrabungen von Mykene in Griechenland leitete, 1885 Mitglied <strong>der</strong><br />
Königlichen Museen zu Berlin, 1890 Professor, 1902 Direktor des<br />
Friedrichsgymnasiums und 1911 Gehe<strong>im</strong>er Regierungsrat wurde. Er<br />
veröffentlichte Untersuchungen über die Laokoon-Gruppe sowie über<br />
den Gigantenfries und die Zugangstreppe am Pergamonaltar, schrieb<br />
einen Kommentar zu Goethes Faust und übte eine ausgedehnte<br />
Vorlesungs- und Vortragstätigkeit aus. Darüber hinaus sammelte er<br />
eine Faust-Gemeinde um sich, und hat darin „allzeit Faust und<br />
Helena―, wie es in einer biographischen Skizze über ihn heißt, „zu<br />
vermählen gewußt. Die eingehende und tiefgreifende Beschäftigung<br />
mit Goethe war ihm als Ergänzung Bedürfnis und wirkte auf die<br />
Erfassung des Altertums zurück.― Ferner werden an ihm seine<br />
beson<strong>der</strong>en Neigungen zur Musik gerühmt, so daß letzthin in allen<br />
geistigen Merkmalen gleiche und ähnliche Vorzüge sichtbar werden,<br />
die ebenso <strong>im</strong> Leben von Bruno H. BÜRGELs eine beherrschende<br />
Rolle spielten. Doch Standesdünkel und persönliche Überheblichkeit<br />
haben diesen Mann <strong>Zeit</strong> seines Lebens daran gehin<strong>der</strong>t, sich offen zu<br />
seinem Sohn zu bekennen, <strong>der</strong> aus eigener Kraft den Weg nach oben<br />
suchte und selbst zu einer <strong>Zeit</strong>, als er die hohen Zinnen <strong>der</strong><br />
persönlichen Bildung erklommen hatte, vergeblich versuchte, eine<br />
Brücke zu seinem Vater zu schlagen. Es war umsonst; er wurde<br />
abgewiesen― (aus: Diedrich WATTENBERG: Bruno H. BÜRGEL,<br />
1965). -<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
1.5 Goethes Dämon und LEIBNIZ’ Monade<br />
Am Schluß unseres Streifzuges durch Goethes „Urworte―, seien nun<br />
noch einige Gedanken von Walter DIETZE, 1926-1987, Germanist und<br />
Professor für Literaturwissenschaft an <strong>der</strong> Universität Leipzig zur DDR-<br />
<strong>Zeit</strong> angeführt. Wir erlauben uns hier einige kritische Bemerkungen zu<br />
DIETZEs dialektischen Folgerungen, beson<strong>der</strong>s zu LEIBNIZ’<br />
„Monadologie und prästabilierter Harmonie“. DIETZEs Kommentar,<br />
auf den wir uns hier beziehen, wurde erstmals veröffentlicht <strong>im</strong><br />
„Jahrbuch <strong>der</strong> Goethe-Gesellschaft― Band 94, We<strong>im</strong>ar 1977 als: „Freiheit<br />
und Notwendigkeit. O<strong>der</strong>: Urworte, nicht son<strong>der</strong>lich orphisch.― Der<br />
Untertitel bedarf hier wohl keiner erneuten Bestätigung, da ja fast alle<br />
Interpreten darin übereinst<strong>im</strong>men, daß „Orphisch― hier nur ein bloßes<br />
Symbol für Goethes eigene Weltanschauung war, die natürlich kaum<br />
selbst etwas mit den antiken „Orphika― zu tun hatte.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 38<br />
Auch geht DIETZ recht ausführlich auf den Dialog als „Mit-sich-selber-<br />
Sprechen― und zugleich „Nicht-mit-sich-selber-Sprechens― als<br />
dramatischen Kunstmittel ein. Er schreibt: „Monologischer und doch<br />
zugleich auch dialogischer Sprechgestus – dies alles verschafft dem<br />
Gedichtganzen einen motorischen Charakter, eine lebendige,<br />
dynamische Bewegung, die … alle seine Verse stürmisch durchströmt.<br />
… Solche sich <strong>im</strong> Stoff verwirklichende Form, <strong>der</strong> Werkobjektivität des<br />
Gedichts eingeschmolzen, offenbart dessen künstlerisches Gehe<strong>im</strong>nis<br />
auch als das eines entelechischen Gefüges.“ DIETZE spricht auch<br />
von „entelechischer Denkform“ bei „<strong>der</strong> Eingangs- und<br />
Schlußwendung.― Auch stellt er Beziehungen zu Fausts Grablegung her,<br />
wo in Goethes erster Handschrift noch be<strong>im</strong> „Chor <strong>der</strong> Engel― von<br />
Fausts „Entelechie“ statt später „Unsterbliches― stand. Dann heißt es<br />
bei DIETZE zunächst höchst beachtenswert: „Viel näher als dem<br />
ARISTOTELES steht <strong>der</strong> Goethesche Denkansatz noch <strong>der</strong><br />
LEIBNIZschen Monadologie, <strong>der</strong> LENIN bekanntlich „eine Dialektik<br />
eigener Art und eine sehr t i e f e“ (Hervorhebung DIETZE)<br />
zuschrieb. Dennoch sind auch in dieser geistigen Verwandtschaft die<br />
Distinktionen größer als die Übereinst<strong>im</strong>mungen. Johannes<br />
HOFFMEISTER hat, die Distanz zu LEIBNIZ hervorhebend, mit Recht<br />
angemerkt, die Goethesche Monade sei nicht fensterlos, sie existiere<br />
eigentlich nur, wenn überhaupt, kraft des unlöslichen Zusammenhanges<br />
von Ich und Welt. Erst recht gar „prästabilierte [vorher festgesetzte]<br />
Harmonie― <strong>der</strong> Goetheschen Weltanschauung vindizieren [Anspruch<br />
erheben] zu wollen, würde ihrer von Wi<strong>der</strong>sprüchen erzeugten<br />
Bewegtheit vollends ungerecht.― Nun, so groß die Unterschiede <strong>der</strong><br />
Charaktere <strong>der</strong> beiden großen deutschen Denker auch sein mögen, so<br />
berühren sie sich doch oft sehr eng. Später werden wir in an<strong>der</strong>em<br />
Zusammenhang nochmals auf die interessanten<br />
Geistesverwandtschaften zwischen Goethe und LEIBNIZ zu sprechen<br />
kommen. Hier zunächst noch einige entgegengestellte Gedanken zu<br />
DIETZEs wohl unberechtigter Abwertung des Zusammenhanges mit<br />
LEIBNIZ’ Monadenlehre. In diesem Zusammenhang hier vorab noch aus<br />
einem Gespräch am 3. März 1830, zwei Jahre vor Goethes Tod,<br />
zwischen ECKERMANN und Goethe dies: „Eckermann: Wir reden fort<br />
über viele Dinge, und so kommen wir auch wie<strong>der</strong> auf die Entelechie.<br />
„Die Hartnäckigkeit des Individuums und daß <strong>der</strong> Mensch abschüttelt,<br />
was ihm nicht gemäß ist,― sagte Goethe, „ist mir ein Beweis, daß so<br />
etwas existiere. … LEIBNIZ hat ähnliche Gedanken über solche<br />
selbständige Wesen gehabt, und zwar, was wir mit dem Ausdruck<br />
Entelechie bezeichnen, nannte er Monaden.―<br />
Entelechie: aus dem griechischen εν und τελοξ ( = zu einem Ziele hin)<br />
gebildet, eine Kraft, die auf ein Ziel zu wirkt, das schon in ihr angelegt<br />
ist. Nach <strong>der</strong> Auffassung des späten Goethes ist <strong>der</strong> Lebenstag des<br />
Menschen Teilstrecke des Weges seiner Entelechie.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 39<br />
„Jede Entelechie ist ein Stück Ewigkeit und die paar Jahre, die sie<br />
mit dem Körper<br />
verbunden ist, machen sie nicht alt.―<br />
(Goethe zu ECKERMANN, 11.3.1828)<br />
In <strong>der</strong> menschlichen Person erreicht die Entelechie aus dem Reiche<br />
<strong>der</strong> Natur die höchste Form und kehrt durch das Feld des Geistes<br />
wie<strong>der</strong> körperlos, als reine Idee eines Gewesenen, in das Reich <strong>der</strong><br />
Ideen, zu den Göttern zurück, wo sie durch ihre Bewährung als<br />
„geprägte Form― (Urworte Orphisch) fortdauert (sinngemäß aus einem<br />
Faust-Kommentar von Albrecht WEBER, 1960). Anklänge an den Neu-<br />
Platonismus sind erkennbar.<br />
Entelechie hängt aufs Innigste mit dem naturphilosophischen Begriff <strong>der</strong><br />
Seele zusammen, die hier „das Gestaltungsprinzip <strong>der</strong> Köpermaterie ist,<br />
das, indem es sich betätigt, die Ganzheit Mensch wirklich werden läßt―<br />
(Katharina KANTHACK, in „Leibniz―, 1946).<br />
Der Autor als gelernter Chemiker sieht in je<strong>der</strong> lebenden Zelle eine <strong>der</strong><br />
Seelen-Monade untergeordnete Unter-Monade, die einen „fensterlosen―<br />
biochemischen Mikrokosmos für sich bildet und durch die Entelechie<br />
des Lebewesens zur Gesamtheit des lebendigen Organismus hin<br />
gesteuert und aufrecht erhalten wird.<br />
Die Monade eines Menschen nach LEIBNIZ, die wir hier einmal mit<br />
dem „Dämon― eines Menschen nach Goethe in Zusammenhang bringen,<br />
st<strong>im</strong>mt zunächst <strong>im</strong> Kerngedanken „Individualität― bzw. „Charakter― doch<br />
weitgehend darin überein, daß beide Denker sich zur<br />
„Unverän<strong>der</strong>lichkeit und Unbeeinflußbarkeit (Isoliertheit)― von Monade<br />
bzw. Dämon durch äußerliche Einflüsse bekannt haben. Diese<br />
Unbeeinflußbarkeit hat LEIBNIZ mit dem Ausdruck „fensterlos“ zum<br />
Ausdruck gebracht. Auch hinsichtlich Abhängigkeit bzw. funktionale<br />
Bedingtheit (Determiniertheit) von Monade bzw. Dämon gibt es keine<br />
grundsätzlichen Unterschiede. Daß beide Denker schlechthin eine<br />
Willensfreiheit ablehnen ist weithin bekannt. Und trotzdem lassen sie<br />
natürlich zufällige und gezielte Außenwelteinflüsse gelten. Sie<br />
behaupten nur, daß auch diese zufällige o<strong>der</strong> gezielte Weiterentwicklung<br />
spezifisch und individualistisch vor sich geht bzw. determiniert ist. Und<br />
hiermit wird das große Thema „Umwelt und Erbe― berührt, das hier nur<br />
hinsichtlich LEIBNIZ’ scheinbarer Unfreiheit o<strong>der</strong> Goethes Scheinfreiheit<br />
kurz beleuchtet werden kann.<br />
So sind wir scheinfrei denn nach manchen Jahren,<br />
Nur enger dran, als wir am Anfang waren.<br />
heißt es in den beiden letzten Versen <strong>der</strong> 4. Strophe ΑΝΑΓΚΗ, Nötigung<br />
<strong>der</strong> „Urworte―. Beide Denker waren somit als große Menschenkenner<br />
Vorausahner des deterministischen Erbgutes, des genetischen Codes,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 40<br />
des Genoms. Bei LEIBNIZ heißt es in seiner Monadologie § 64: „Daher<br />
ist je<strong>der</strong> organische Körper eines Lebendigen eine Art von göttlicher<br />
Maschine o<strong>der</strong> natürlichen Automaten. … Aber die Maschinen <strong>der</strong><br />
Natur, d. h. die lebendigen Körper, sind noch Maschinen in ihren<br />
kleinsten Teilen bis ins Unendliche.― Das erinnert sehr an die<br />
mo<strong>der</strong>nsten Wissenschaftserkenntnisse vom Doppelbild <strong>der</strong> Materie<br />
(Quantenphysik)! Trotzdem bekennen sich beide Denker zu einer<br />
Freiheit in ihrem Sinne, worauf hier nicht eingegangen werden soll und<br />
kann. Daß trotz fensterloser Monade <strong>der</strong> Mensch sich als freier Mensch<br />
betrachtet und damit sein ganzes Leben durchbringt, liegt nach LEIBNIZ<br />
an <strong>der</strong> „prästabilierten Harmonie― Gottes. Der LEIBNIZ-Biograph Eike<br />
Christian HIRSCH schreibt in seinem Buch „Der berühmte Herr<br />
LEIBNIZ― (2000): „Jede Monade bestehe für sich, isoliert und fensterlos.<br />
Doch das ist nur die eine Seite. Gewiß, jede Monade ist eine Welt für<br />
sich, aber jede repräsentiert („spiegelt“) auch die ganze Welt. Beide<br />
Beschreibungen <strong>der</strong> Monade scheinen sich zwar zu wi<strong>der</strong>sprechen,<br />
können sich aber ergänzen. Jedenfalls sollte man diese auffallende<br />
Verbundenheit <strong>der</strong> Monade mit <strong>der</strong> ganzen Welt nicht übersehen,<br />
wie das oft geschieht. … Man versteht LEIBNIZ nur, wenn man seine<br />
Philosophie als eine Entgegnung auf SPINOZA sieht, mit <strong>der</strong> er die<br />
menschliche Freiheit retten wollte – und damit Geist und Seele. …<br />
Erreicht hat er das, indem er sich mit dem Determinismus <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />
Wissenschaft auseinan<strong>der</strong>gesetzt hat, denn in ihm sah er wohl die<br />
größte Herausfor<strong>der</strong>ung und Anfechtung für sich und seine <strong>Zeit</strong>. Ja, es<br />
ist alles vorherbest<strong>im</strong>mt! Davon war auch er überzeugt. Aber er hat<br />
diesen Determinismus nun – wenn das Bild erlaubt ist – gleichsam<br />
‚getauft’. Er hat erklärt, dieser Determinismus ergebe sich nur<br />
vor<strong>der</strong>gründig aus <strong>der</strong> Mechanik <strong>der</strong> Natur, entstehe letztlich aber aus<br />
Gottes Willen und Vorherbest<strong>im</strong>mung. So lautet, kurz gesagt, die neue<br />
Lösung. … LEIBNIZ behauptete, daß es sozusagen einen göttlichen<br />
Super-Determinismus gebe, neben dem <strong>der</strong> Determinismus in <strong>der</strong> Natur<br />
bloßer Schein sei – o<strong>der</strong> eben nur ein Son<strong>der</strong>fall innerhalb des von Gott<br />
gestifteten Determinismus. Diese Vorherbest<strong>im</strong>mung war ganz<br />
umfassend gedacht. Der göttliche Determinismus umgriff auch das<br />
kausale Geschehen in <strong>der</strong> Natur und bettete es ein, nämlich in einen<br />
göttlichen Plan, <strong>der</strong> für eine gewaltige Entwicklung zum Guten sorgt. So<br />
eingebettet, war die schreckliche Determiniertheit <strong>der</strong> Natur<br />
aufgehoben (wie HEGEL gesagt hätte) in einen umfassenden Plan, <strong>der</strong><br />
zum Guten führt und durch den es wie<strong>der</strong> das gab, wonach LEIBNIZ<br />
eine persönliche Sehnsucht empfand: den Sinn des Lebens, die<br />
Harmonie des Kosmos und den moralisch-guten Charakter <strong>der</strong><br />
Schöpfung. … Gott hat angeblich alles Künftige auf einmal best<strong>im</strong>mt<br />
(bislang war Gott mehr wie ein begleiten<strong>der</strong> Schutz- o<strong>der</strong> Racheengel<br />
gedacht worden, <strong>der</strong> spontan gegenwärtig ist). Und zweitens mußte jetzt<br />
(jede!) Wirkung, die es auf Erden gibt, Gott allein zugeschrieben werden<br />
– mit <strong>der</strong> Konsequenz, daß sich auch zwei Menschen nicht beeinflussen<br />
können. Tatsächlich, diese Konsequenz nahm LEIBNIZ auf sich. Jede<br />
direkte Beeinflussung zwischen zwei Köpfen o<strong>der</strong> zwei Seelen<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 41<br />
mußte geleugnet werden. Das vertrat LEIBNIZ – oft wohl selbst<br />
erschrocken vor seiner eigenen Radikalität und ihrer Son<strong>der</strong>barkeit – bis<br />
in die letzte Konsequenz, bis zu <strong>der</strong> unglücklichen [sic? AR]<br />
Formulierung, die er am Ende seines Lebens wählt , von <strong>der</strong><br />
„Fensterlosigkeit― aller Individuen, die sich nicht unmittelbar miteinan<strong>der</strong><br />
verständigen können. Doch mittelbar können sie es, weil Gott es bereits<br />
vorherbest<strong>im</strong>mt hat.―<br />
Hier erinnern wir uns an den großen Zoologen August WEISMANN,<br />
1834-1914, <strong>der</strong> als erster empirisch nachgewiesen hatte, daß es keine<br />
Vererbung erworbener Eigenschaften gibt. Die Ke<strong>im</strong>bahn<br />
(Ke<strong>im</strong>zellen) wird nicht durch die Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Körperzellen<br />
(„Soma―) beeinflußt („Kontinuität des Ke<strong>im</strong>plasmas―). „Die Ke<strong>im</strong>bahn ist<br />
gegen Einflüsse des übrigen Körpers (Soma) resistent. Die<br />
verschiedenen Organe können in <strong>der</strong> einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Richtung<br />
modifiziert werden, aber diese Modifikationen können nicht auf das<br />
Ke<strong>im</strong>plasma übertragen werden. Wird dieses verän<strong>der</strong>t, so geschieht es<br />
durch direkte Einwirkung, und nicht via Soma. [wie z.B. richtungslose<br />
Mutationen durch Strahleneinwirkung o<strong>der</strong> chemische Gifte<br />
hervorgerufen werden können]. Das Ke<strong>im</strong>plasma ist <strong>der</strong><br />
„Wurzelstock“, <strong>der</strong> durch die <strong>Zeit</strong>en läuft, und das Soma ist nur ein<br />
vergänglicher Trieb aus diesem Wurzelstock (nach Ivar<br />
JOHANSSON: Meilensteine <strong>der</strong> Genetik― (1980). Und auch hier stoßen<br />
wir auf Goethes treffliche Formulierung über das zeitlich<br />
Unverän<strong>der</strong>liche des „Dämons“ in seinem Urwort-Kommentar<br />
„…sogar durch Generation hindurch.―<br />
LEIBNIZ’ radikale Leugnung einer gegenseitigen Beeinflußbarkeit<br />
zwischen den Monaden erinnert auch sehr an die mo<strong>der</strong>nen<br />
Vorstellungen <strong>der</strong> Soziobiologie. Einer <strong>der</strong> radikalste Vertreter ist<br />
bekanntlich Richard DAWKINS, * 1941, <strong>der</strong> mit seinem Buch „Das<br />
egoistische Gen― (1976), diesen genetischen Tatsachen drastisch<br />
sinngemäß etwa so formuliert: „Jedes Lebwesen jeglicher Art sei bloß<br />
als Vehikel für den Transport ihrer seit Urzeiten fortgereichten Gene in<br />
die nächste Generation zu betrachten, vergleichbar einer Stafette, bei<br />
<strong>der</strong> allein <strong>der</strong> Stab noch wichtig sei.― Daß eine solche unsent<strong>im</strong>entale<br />
Biologie-Betrachtung weithin Wi<strong>der</strong>willen erweckte ist verständlich.<br />
WEISMANNs Erkenntnis von <strong>der</strong> Tatsache, daß es keine Vererbung<br />
erworbener Eigenschaften gibt, wurde seit langem grundsätzlich <strong>im</strong><br />
oben genannten Sinne – nämlich einer gezielten und richtunggebenden<br />
Einwirkung - von <strong>der</strong> genetischen Wissenschaft bestätigt. Allerdings sind<br />
heute gezielte „Gen-Manipulationen― molekulargenetisch nicht nur<br />
theoretisch, son<strong>der</strong>n auch praktisch möglich und zum Beispiel bei <strong>der</strong><br />
Pflanzenzucht sogar seit Jahrzehnten schon weitverbreitet. Daß<br />
innerhalb <strong>der</strong> menschlichen Gesellschaft hier politische und<br />
Ethikprobleme aufgeworfen worden sind, ist seit langem bekannt und<br />
selbst <strong>der</strong> einst international sehr anerkannte österreichische Biologe<br />
Paul KAMMERER, 1880-1928, hat sich nicht davor gescheut, mit<br />
pr<strong>im</strong>itiven Fälschungen August WEISMANNs These <strong>der</strong><br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 42<br />
Nichtvererbbarkeit erworbener Eigenschaften zu wi<strong>der</strong>legen. Nach <strong>der</strong><br />
Aufdeckung <strong>der</strong> Fälschungen durch einen amerikanischen Genetiker<br />
beging er bei Wien Selbstmord.-<br />
Doch noch einmal abschließend zurück zu LEIBNIZ’ Monaden und<br />
Goethes Dämon, einer hier auffälligen Geistesverwandtschaft! Wir<br />
zitieren hier nochmals E. Chr. HIRSCH aus seinem o. g. Buch: „LEIBNIZ<br />
wollte das neue mechanische Weltbild und das alte christlichmetaphysische<br />
miteinan<strong>der</strong> versöhnen. … In einem Brief schreibt<br />
LEIBNIZ: „Ich schmeichle mir, in die Harmonie <strong>der</strong> verschiedenen<br />
Reiche eingedrungen zu sein und erkannt zu haben, daß beide Parteien<br />
recht haben, vorausgesetzt, daß sie gegenseitig ihre Kreise nicht stören,<br />
daß also alles in den Naturerscheinungen gleichzeitig auf<br />
mechanische und auf metaphysische Weise geschieht, daß aber<br />
die Quelle <strong>der</strong> Mechanik in <strong>der</strong> Metaphysik liegt.“ Das wurde sein<br />
Vermächtnis. Hat man erst einmal die Schwäche des LEIBNIZschen<br />
Systems dargestellt, um es in scharfer Beleuchtung erkennbar zu<br />
machen, so muß doch endlich auch gesagt werden, daß diese<br />
Philosophie den wohl größten Gedanken enthält, den das Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
hervorgebracht hat. Es ist dieser, daß <strong>der</strong> Determinismus nicht das<br />
letzte Wort <strong>der</strong> Wissenschaft sein darf, son<strong>der</strong>n daß es erlaubt bleiben<br />
muß, an Geist und Freiheit zu glauben.― [Kurzum: Der Determinismus<br />
muß als göttliche Vorherbest<strong>im</strong>mung verstanden werden, quasi als ein<br />
„getaufter― Determinismus innerhalb einer „prästabilierten Harmonie―].<br />
Beschließen wir diesen ersten LEIBNIZ-Ausflug mit den Worten von<br />
HIRSCH: „Die Monade erinnert speziell an das Individuum LEIBNIZ,<br />
genauer an sein Selbstbild. Er war eine typische Monade, denn nichts<br />
sollte auf ihn einwirken, deswegen hat er <strong>im</strong>mer bestritten, von an<strong>der</strong>en<br />
Denkern abhängig zu sein, das Entscheidende kam aus ihm selbst. …<br />
An<strong>der</strong>erseits stand er mit <strong>der</strong> gesamten Welt in Briefwechsel, spiegelte<br />
also, wie er das von <strong>der</strong> Monade sagte, den Kosmos. Das tat er auch,<br />
indem er ein leidenschaftlicher Sammler von Informationen war, <strong>der</strong> kein<br />
Archiv, keinen Nachlaß, kein Wissen ungenutzt lassen wollte. Er mußte<br />
über alles, selbst in <strong>der</strong> Politik, informiert sein und glaubte wirklich, das<br />
Ganze überblicken zu können. Die Monade ist drittens Teil einer großen<br />
Ordnung und Harmonie. Da spricht <strong>der</strong> Mann, <strong>der</strong> selbst eine tiefe<br />
Sehnsucht nach Harmonie in sich verspürte. Daß er alles ordnen wollte<br />
– den Staat, das Wissen, den Glauben -, ist ebenso deutlich erkennbar<br />
wie sein Streben, Gegensätze in Einklang zu verwandeln.― Entspricht<br />
diese LEIBNIZ-Schil<strong>der</strong>ung nicht auch in vielem dem Wesen von<br />
Goethe? - nur eben aus einer an<strong>der</strong>en Perspektive, wo sie sich<br />
schließlich auch hier eng berühren! -<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 43<br />
1.6 Goethes Vorahnung und Gregor MENDELs<br />
Entdeckung<br />
Der große Vorahner Goethe gebraucht auch schon anschauliche<br />
Begriffe aus seinen Beobachtungen („Vermischung und<br />
Durchkreuzung―) die <strong>der</strong> Augustinerpater Gregor MENDEL, 1822-1884,<br />
etwa 50 Jahre später an Pflanzen sah und neugierig, mit beson<strong>der</strong>em<br />
mathematischem Instinkt ausgestattet, durch systematische<br />
Kreuzungsversuche in seinem Klostergarten verfolgte und damit eines<br />
<strong>der</strong> fundamentalsten Gesetze <strong>der</strong> Vererbungslehre (Genetik) entdeckte.<br />
Goethe hätte wohl nicht nur als großer Pflanzenfreund an diesen<br />
Ergebnissen seine helle Freude gehabt! Wenn er auch allen<br />
mathematischen Gesetzmäßigkeiten aufgrund seiner ganz an<strong>der</strong>s<br />
gearteten Veranlagung wenig Verständnis entgegenbringen konnte.<br />
Indessen hat er sich durch elementaren mathematischen<br />
Privatunterreicht in We<strong>im</strong>ar bemüht, hier wenigstens auch etwas<br />
mitsprechen zu können.-<br />
Wenn Gregor MENDEL nur knapp zwei Generationen früher seine<br />
Ergebnisse hätte gewinnen können - die dann über eine weitere<br />
Generation noch völlig unbeachtet bei den Biologen geblieben sind und<br />
MENDELs Ruhm lei<strong>der</strong> erst nach seinem Tode (1884) nach 1900<br />
begründet haben - dann hätte Goethe gewiß allein die Tatsache<br />
hocherfreut, daß sich seine „dämonischen“ Erbelemente, die er in<br />
„hartnäckiger Persönlichkeit“ „sogar durch Generationen<br />
hindurch(!)“ <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> sah, nicht einfach verschmelzen und<br />
verdünnen, son<strong>der</strong>n mosaikartig nach best<strong>im</strong>mten Gesetzen sich<br />
weitervererben und sich dann neu und auch wie<strong>der</strong> alt(!) kombinieren.<br />
Vielleicht hätte Goethe in Gregor MENDEL nach einem Besuch bei ihm<br />
<strong>im</strong> Brünner Klostergarten (von einem seiner zahlreichen böhmischen<br />
Kuraufenthalte aus), sogar einen neuen Geistesverwandten und Freund<br />
gefunden.-<br />
Eine unmathematische Darstellung allein <strong>der</strong> Spaltungsverhältnisse <strong>der</strong><br />
„diamantharten Identität <strong>der</strong> Gene― (Richard Dawkins) bei <strong>der</strong> Kreuzung<br />
verschieden-farbiger Pflanzen -„<strong>der</strong> Dämon freilich hält sich durch<br />
alles durch“… „durch Generationen hindurch“ -<br />
hätte dann gewiß auch in seinem We<strong>im</strong>arer Hausgärtchen am<br />
Frauenplan neugierige Nachahmung gefunden. Er hätte einen<br />
Schematismus gesehen, <strong>der</strong> das frühere angenommene<br />
Vererbungsprinzip fundamental korrigieren sollte, wie aus den beiden<br />
folgenden Bil<strong>der</strong>n hier doch recht farbenanschaulich(!) hervorgeht.-<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 44<br />
Abbildung 1-1: Vor Mendel (nach Francis Galton, 1822 - 1911)<br />
Abbildung 1-2: Mendels Vererbungsprinzip (1865)<br />
Autosomale Gen - Kombinationen<br />
Schließlich hat Goethe aber auch lebenslänglich dem Phänomen des<br />
geistigen Erbes, das auch weitgehend unverän<strong>der</strong>t an Kin<strong>der</strong> und<br />
Kindeskin<strong>der</strong> weitergereicht wird, wie kaum ein an<strong>der</strong>er seines<br />
<strong>Zeit</strong>genossen, allergrößte Beachtung geschenkt. Er hat dieses Erbe<br />
bereits als segensreiche, aber zugleich auch als dämonische und<br />
schöpferische Mitgift aller Menschen angesehen. Als „Naturseher― hat<br />
er intuitiv aus dieser Erkenntnis heraus seine Romanhelden - vom Götz<br />
über den Tasso bis zum Faust – mit größter Lebenswahrheit darstellen<br />
können.<br />
Da unser Thema auch „Erbe und Umwelt― heißt, hier noch etwas zu<br />
Gregor MENDEL. Der schon oben zitierte Prof. Hubert MARKL schreibt<br />
über diesen in dem 2001 erschienenen Buch „Vererbung und Milieu―, in<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 45<br />
dem verschiedene Autoren Beiträge lieferten, in seinem Beitrag „Wi<strong>der</strong><br />
die Gen-Zwangsneurose―:<br />
„Warum freuen wir uns also nicht darüber, wenn endlich weithin bekannt<br />
wird, daß es zwar ein Geistlicher, aber doch einer mit soli<strong>der</strong><br />
naturwissenschaftlich-mathematischer Ausbildung war, nämlich Gregor<br />
MENDEL, <strong>der</strong> nicht nur die Gene entdeckte (die an<strong>der</strong>e erst später so<br />
benannten), son<strong>der</strong>n auch den ersten tatsächlich exper<strong>im</strong>entalempirischen<br />
Beweis für die genetisch-biologische Gleichwertigkeit von<br />
Ei- und Samenzellen und damit <strong>der</strong> beiden Geschlechter, die sie<br />
hervorbringen, erbrachte und <strong>der</strong> damit, gleichsam be<strong>im</strong> Erbsenzählen,<br />
wenigstens ideel das wie<strong>der</strong> gutmachte, was seine eigene<br />
Glaubensgemeinschaft jahrhun<strong>der</strong>telang dem weiblichen Geschlecht an<br />
Herabsetzung angetan hatte, während grünschwarze Fundamentalisten<br />
demgegenüber fast wie<strong>der</strong> mittelalterlich argumentieren: Samenspende<br />
zulässig, Eispende verbrecherisch!―<br />
MENDEL bezeichnete die Gene noch - aber bereits recht zutreffend -<br />
als Erb-„Elemente“. Erst 1909 wird die Bezeichnung „Gen“ durch den<br />
dänischen Botaniker Wilhelm JOHANNSEN, 1857-1927, erstmals<br />
verwendet. Am Ende des späteren Kapitels „Goethes Vorausschau―<br />
werden wir nochmals auf die Rolle <strong>der</strong> Vererbung <strong>im</strong> Rahmen <strong>der</strong><br />
Abstammungslehre zurückkommen. Denn auch hier war Goethe ein<br />
weitblicken<strong>der</strong> Naturforscher, wie kaum ein an<strong>der</strong>er seiner<br />
<strong>Zeit</strong>genossen. Noch wenige Tage vor seinem Tode hat Goethe <strong>im</strong> März<br />
1832 sein allerletztes Werk abgeschlossen; es war ein<br />
naturwissenschaftliches! Dort bekennt er sich <strong>im</strong> berühmten Pariser<br />
Akademiestreit an<strong>der</strong>erseits aber auch entschieden zu<br />
„vordarwinistischen― Ansichten, d. h. zu einer dynamischen Verän<strong>der</strong>ung<br />
<strong>der</strong> Arten.<br />
Wir kommen <strong>im</strong> Abschnitt „Goethes Vorausschau – kurz vor seinem<br />
Tode― - ausführlicher darauf zurück.<br />
_________________________________________________________<br />
Bei <strong>der</strong> Vorahnung von Entwicklungsgesetzen des Lebens (z. B.<br />
Evolution, Vererbung) o<strong>der</strong> auch analoger Baupläne zwischen Tier und<br />
Mensch (z. B. Zwischenkieferknochen!) liegt es vielfach an <strong>der</strong><br />
<strong>Zeit</strong>epoche, wann eine Entdeckung reif für begnadete Geister ist, um<br />
hier einen Durchbruch zu erzielen und wissenschaftliches Neuland zu<br />
erschließen.<br />
Bereits vor über 25 Jahren hatte sich <strong>der</strong> Autor sehr gründlich mit<br />
Gregor MENDELs Ahnenschaft beschäftigt, die von an<strong>der</strong>en<br />
Genealogen vorher schon erfreulich gut hinsichtlich <strong>der</strong> Lebensdaten<br />
erforscht worden war, nachdem MENDEL durch seine Entdeckung<br />
Weltruhm erlangt hatte. Mich interessierten hier zusätzlich beson<strong>der</strong>s<br />
die „quantitativen― Verhältnisse <strong>der</strong> verwandtschaftlichen<br />
Ahnenverflechtungen, die noch nicht hinreichend untersucht waren<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 46<br />
(„Inzucht― aufgrund von Verwandtenehen) und eine anschauliche<br />
Darstellung aller Verwandtschaftswege zwischen Gregor MENDLs<br />
Eltern. Also: „wie sind MENDELS Eltern miteinan<strong>der</strong> verwandt?― wollte<br />
ich graphisch darstellen und daraus den sog. Inzuchtkoeffizienten für<br />
Gregor MENDEL berechnen. Meine Vermutung einer starken<br />
verwandtschaftlichen Verflechtung („Inzucht―) wurde noch weit<br />
übertroffen!<br />
Kurzum: Es sei hier die wohl nicht unbegründete These ausgesprochen<br />
werden:<br />
Gregor MENDELs Entdeckung wurde auch aus persönlichen<br />
Vorahnungen genährt und angetrieben! Und zwar aufgrund eigener<br />
Beobachtungen in <strong>der</strong> engeren Familie und auch bei seinen<br />
Seitenverwandten (wie<strong>der</strong>holtes Auftreten gleicher Eigenschaften!?) in<br />
seinem Geburtsort Heinzendorf und den umliegenden Dörfern, die in<br />
einer Art Enklave <strong>im</strong> ehemaligen Österreichisch-Schlesien lagen. Viele<br />
deutschstämmige „Kolonisten― waren durch Kaiserin Marie Theresia<br />
dorthin angesiedelt worden und hatten das Bestreben, „untereinan<strong>der</strong> zu<br />
bleiben―. MENDEL konnte es eigentlich nicht entgangen sein, daß in<br />
seinem Geburtsort Heinzendorf und den Nachbardörfern vorwiegend<br />
sehr enge „Heiratskreise― bestanden, die meist zu Verwandtenehen<br />
(Vetter-Base-Ehen verschiedenen Grades!) führten. Lag es deshalb<br />
nicht sehr nahe, daß er hier die Anregungen für seine<br />
Pflanzenkreuzungsversuche mit „enger Verwandtschaft― (Reinerbigkeit!)<br />
bekam?<br />
Siehe dazu in des Autors „<strong>GeneTalogie</strong>―-Internetseite<br />
www.genetalogie.de den Link:<br />
„Die Ahnenschaft Gregor Mendels― (zu seinem 100. Todestag<br />
1984)<br />
http://www.genetalogie.de/artikel/html/ar_gena84/ar_gena84.htm<br />
sowie beson<strong>der</strong>s die graphische Übersicht von Gregor Mendels<br />
Ahnentafel,<br />
http://www.genetalogie.de/bil<strong>der</strong>htm/ahnmendel.html<br />
die aufgrund meiner Vorgaben seinerzeit unser Sohn Udo - damals 20-<br />
jähriger Medizinstudent - noch in „Letraset―-Klebetechnik für eine<br />
genealogische Fachzeitschrift zur Veröffentlichung „zusammengeklebt―<br />
hat. Aus dem weiteren Text dieses MENDEL-Artikels geht hervor, daß<br />
Gregor Mendels Eltern auf 64 urkundlich nachweisbaren Wegen<br />
miteinan<strong>der</strong> verwandt sind! Es war dann reizvoll, den<br />
„Inzuchtkoeffizienten― von Gregor Mendels Eltern nach den<br />
Rechenregeln <strong>der</strong> Populationsgenetik, die ja auf den Mendelschen<br />
Gesetzen basieren, manuell mühsam auszurechnen und sich diesen<br />
Rechenwert von einem amerikanischen Wissenschaftler<br />
(Humangenetiker) durch sein mo<strong>der</strong>nes Rechnerprogramm exakt auf die<br />
letzte Kommastelle bestätigen zu lassen.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 47<br />
1.7 Goethe als Genealoge<br />
Im Rahmen dieses Exkurses wird hervorgehoben, daß Goethe in <strong>der</strong><br />
Genealogie zumindest ein unerläßliches Hilfsmittel zum besseren<br />
Verständnis geschichtlicher Zusammenhänge gesehen hat. Dabei wird<br />
auf zwei genealogische Tafeln verwiesen, die Goethe selbst erstellt und<br />
eigenhändig gezeichnet hat (die MEDICI in Florenz) bzw. nach Angaben<br />
eines Rechtsgelehrten in Palermo selbst zusammenstellte und in seine<br />
Werke als Verwandtschaftstafel übernahm (Proband: <strong>der</strong> sizilianische<br />
Abenteurer und Betrüger „Graf von CAGLIOSTRO ―, richtig: Guiseppe<br />
Balsamo, 1743-1795).<br />
In seiner Italienreise von 1786 in Sizilien wendet Goethe sehr viel Mühe<br />
auf, um sich über das Ahnenerbe „eines <strong>der</strong> son<strong>der</strong>barsten Ungeheuer<br />
… welche in unserem Jahrhun<strong>der</strong>t erschienen sind―, des Grafen<br />
Alessandro CAGLIOSTRO, Kenntnisse zu verschaffen. CAGLIOSTRO<br />
war <strong>der</strong> Sohn eines bankrotten Händlers aus Palermo, <strong>der</strong> unter<br />
verschiedenen Namen durch ganz Europa reiste und den Abglauben<br />
vieler sich zu zunutze machte, Existenzen zerstörte und sich als<br />
göttlicher Tugendritter anbeten ließ. Auch war CAGLIOSTRO 1785 in<br />
die „Halsbandaffäre― <strong>der</strong> französischen Aristokratie verwickelt; diese<br />
Affäre wird symptomatisch für Korruption und sittlichen Verfall <strong>der</strong><br />
Hofgesellschaft und beschleunigt ihren Sturz durch die Französische<br />
Revolution 1789.<br />
Vor seiner Italienreise hatte sich Goethe bereits seit 1781 ausführlich<br />
aus psychologischen Gründen mit CAGLIOSTRO beschäftigt. Für<br />
Goethe war CAGLIOSTRO <strong>der</strong> Typ des dämonischen Menschen, <strong>der</strong><br />
durch eine vermeintlich irrationale Kraft unglaubliche Gewalt über seine<br />
abergläubischen Mitmenschen erlangte (Goethes Tag- und Jahreshefte<br />
1805). Aber CAGLIOSTRO war auch für Goethe eine<br />
zeitsymptomatische Erscheinung für das durch Aufklärung und<br />
Vernunftglauben nur oberflächlich verdeckte Bedürfnis <strong>der</strong> Menschen<br />
nach Wun<strong>der</strong>- und Geisterglauben, Mystizismus, Alchemie, Zauberei,<br />
Wun<strong>der</strong>heilung und Hellseherei. An<strong>der</strong>s als einige Schriftsteller,<br />
Aristokraten und Frauen seiner <strong>Zeit</strong> (u.a. Johann Caspar LAVATER,<br />
Johann Georg SCHLOSSER, Elisabeth von <strong>der</strong> RECKE und Maria<br />
Antonia BRANCONI) zeigte Goethe, <strong>der</strong> nie mit CAGLIOSTRO<br />
persönlich zusammentraf, von Anfang an tiefes Mißtrauen gegenüber<br />
dem genialen Schwindler mit seinen angeblich gehe<strong>im</strong>en Künsten (Gero<br />
v. Wilpert).<br />
Goethes beson<strong>der</strong>es Interesse galt <strong>der</strong> individuellen Persönlichkeit<br />
CAGLIOSTRO mit ihren familiären Wurzeln. Er informierte sich anhand<br />
aller verfügbaren Nachrichten und Schriften für und gegen<br />
CAGLIOSTRO, die beson<strong>der</strong>s von Christoph Friedrich NICLOAI in<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 48<br />
Berlin, aber auch <strong>im</strong> We<strong>im</strong>arer Kreis (BERTUCH, BOIE, JAGEMANN)<br />
übersetzt und publiziert wurden (Gero v. Wilpert). Seine Neugier<br />
hinsichtlich CAGLIOSTROS Herkunft veranlaßten Goethe in Palermo<br />
sich von dem dortigen Rechtsgelehrten VIONA eine<br />
Verwandtschaftsaufstellung CAGLIOSTROs auszuleihen, die er sich<br />
abzeichnete. Am 13. und 14. 4. 1787 nahm Goethe in Palermo als<br />
angeblicher Englän<strong>der</strong> Kontakt mit <strong>der</strong> Familie BALSAMO auf und ließ<br />
sich die Identität CAGLIOSTROs mit Guiseppe BALSAMO bestätigen<br />
und nahm sogar einen Brief <strong>der</strong> Mutter CAGLIOSTROs an<br />
CAGLIOSTRO mit, da sich dieser gerade in England aufhielt.<br />
Goethe berichtet darüber selbst in einer „umständlich erteilten Nachricht―<br />
in seiner „Italienischen Reise―:<br />
„Schon die ganze <strong>Zeit</strong> meines Aufenthaltes hörte ich an unserm<br />
öffentlichen Tische manches über CAGLIOSTRO, dessen Herkunft und<br />
Schicksale reden. Die Palermitaner waren darin einig, daß ein gewisser<br />
Joseph BALSAMO, in ihrer Stadt geboren, wegen mancherlei schlechter<br />
Streiche berüchtigt und verbannt sei. Ob aber dies <strong>der</strong> mit dem Grafen<br />
CAGLIOSTRO nur eine Person sei, darüber waren die Meinungen<br />
geteilt. Einige, die ihn ehemals gesehen hatten, wollten seine Gestalt in<br />
jenem Kupferstiche wie<strong>der</strong>finden, <strong>der</strong> bei uns bekannt genug ist und<br />
auch nach Palermo gekommen ist.<br />
Unter solchen Gesprächen berief sich einer <strong>der</strong> Gäste auf die<br />
Bemühungen, welche ein palermitanischer Rechtsgelehrter<br />
übernommen, diese Sache ins klarer zu bringen.(!!!) Er war durch das<br />
französische Ministerium veranlaßt worden, dem Herkommen eines<br />
Mannes nachzuspüren, welcher die Frechheit gehabt hatte, vor dem<br />
Angesichte Frankreichs, ja man darf wohl sagen <strong>der</strong> Welt, bei einem<br />
wichtigen und gefährlichen Prozesse die albernsten Märchen<br />
vorzubringen.<br />
Es habe dieser Rechtsgelehrte, erzählte man, den Stammbaum des<br />
Joseph BELSAMO aufgestellt und ein erläuterndes Memoire mit<br />
beglaubigten Beilagen nach Frankreich abgeschickt, wo man<br />
wahrscheinlich davon öffentlich Gebrauch machen werde. Ich äußerte<br />
den Wunsch, diesen Rechtsgelehrten, von welchem außerdem viel<br />
Gutes gesprochen wurde, kennen zu lernen, und <strong>der</strong> Erzähler erbot<br />
sich, mich bei ihm anzumelden und zu ihm zu führen. Nach einigen<br />
Tagen gingen wir hin und fanden ihn mit seinen Klienten beschäftigt. Als<br />
er diese abgefertigt und wir das Frühstück genommen hatten, brachten<br />
er ein Manuskript hervor, welches den Stammbaum CAGLIOSTROs,<br />
die zu dessen Begründung nötigen Dokumente in Abschrift und das<br />
Konzept eines Memoire enthielt, das nach Frankreich abgegangen war.<br />
Er legte mir den Stammbaum vor und gab mir die nötigen Erklärungen<br />
darüber, wovon ich hier so viel anführe, als zu leichterer Einsicht nötig<br />
ist.<br />
Joseph Balsamos Urgroßvater mütterlicher Seite war Matthäus<br />
MARTELLO. Der Geburtsname seiner Urgroßmutter ist unbekannt. Aus<br />
dieser Ehe entsprangen zwei Töchter, eine namens Maria, die an<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 49<br />
Joseph BRACCONERI verheiratet und Großmutter Joseph BALSAMOS<br />
ward. Die an<strong>der</strong>e, namens Vincenza, verheiratete sich an Joseph<br />
CAGLIOSTRO, <strong>der</strong> von einem kleinen Orte La Noara, acht Meilen von<br />
Messina, gebürtig war. Ich bemerke hier, daß zu Messina noch zwei<br />
Glockengießer dieses Namens leben. Diese Großtante war in <strong>der</strong> Folge<br />
Pate bei Joseph BALSAMO; er erhielt den Taufnamen ihres Mannes<br />
und nahm endlich auswärts auch den Zunamen CAGLIOSTRO von<br />
seinem Großonkel an. Die Eheleute BRACCONERI hatten drei Kin<strong>der</strong>:<br />
Felicitas, Matthäus und Antonin. Felicitas ward an Peter BALSAMO<br />
verheiratet, den Sohn eines Bandhändlers in Palermo, Antonin<br />
BALSAMO, <strong>der</strong> vermutlich von jüdischem Geschlecht abstammte. Peter<br />
BALSAMO, <strong>der</strong> Vater des berüchtigten Josephs, machte Bankrott und<br />
starb in seinem fünfundvierzigsten Jahre. Seine Witwe, welche noch<br />
gegenwärtig lebt, gab ihm außer dem benannten Joseph noch eine<br />
Tochter, Johanna Joseph-Maria, welche an Johann Baptista<br />
CAPITUMMINO verheiratet wurde, <strong>der</strong> mit ihr drei Kin<strong>der</strong> zeugte und<br />
starb.<br />
Das Memoire, welches uns <strong>der</strong> gefällige Verfasser vorlas und mir auf<br />
mein Ersuchen einige Tage anvertraute, war auf Taufscheine,<br />
Ehekontrakte und an<strong>der</strong>e Instrumente gegründet, die mit Sorgfalt<br />
gesammelt waren. Es enthielt ungefähr die Umstände (wie ich aus<br />
einem Auszug, den ich damals gemacht, ersehe), die uns nunmehr aus<br />
den römischen Prozeßakten bekannt geworden sind, daß Joseph<br />
BALSAMO anfangs Juni 1743 zu Palermo geboren, von Vincenza<br />
MARTELLO, verheirateter CAGLIOSTRO, aus <strong>der</strong> Taufe gehoben sei,<br />
daß er in seiner Jugend das Kleid <strong>der</strong> Barmherzigen Brü<strong>der</strong> genommen,<br />
eines Ordens, <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>s Kranke verpflegt, daß er bald viel Geist<br />
und Geschick für die Medizin gezeigt, doch aber wegen seiner übeln<br />
Aufführung fortgeschickt worden, daß er in Palermo nachher den<br />
Zauberer und Schatzgräber gemacht.<br />
Seine große Gabe, alle Hände nachzuahmen, ließ er nicht unbenutzt<br />
(so fährt das Memoire fort). Er verfälschte o<strong>der</strong> verfertigte vielmehr ein<br />
altes Dokument, wodurch das Eigentum einiger Güter in Streit geriet. Er<br />
kam in Untersuchung, ins Gefängnis, entfloh und ward ediktaliter zitiert.<br />
Er reiste durch Kalabrien nach Rom, wo er die Tochter eines Gürtlers<br />
heiratete. Von Rom kehrte er nach Neapel unter dem Namen Marchese<br />
PELLEGRINI zurück. Er wagte sich wie<strong>der</strong> nach Palermo, ward erkannt,<br />
gefänglich eingezogen und kam nur auf eine Weise los, die wert ist, daß<br />
ich sie umständlich erzähle―.<br />
Diese weitere Erzählung mag <strong>der</strong> interessierte Leser selbst in Goethes<br />
„Italienischer Reise― unter dem 14. April 1787 nachlesen.<br />
Goethe berichtete unter diesem Datum dann schließlich noch:<br />
„Das Memoire endigte sich mit einem scharfsinnigen Beweise, daß<br />
CAGLIOSTRO und BALSAMO ebendieselbe Person sei, eine These,<br />
die damals schwerer zu behaupten war, als sie es jetzt ist, da wir von<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 50<br />
dem Zusammenhang <strong>der</strong> Geschichte vollkommen unterrichtet sind. (…)<br />
Als ich in dem Stammbaum so manche Personen, beson<strong>der</strong>s Mutter<br />
und Schwester, noch lebend angegeben fand, bezeigte ich dem<br />
Verfasser des Memoire meinen Wunsch, sie zu sehen und die<br />
Verwandten eines so son<strong>der</strong>baren Menschen kennen zu lernen. Er<br />
versetzte, daß es schwer sein werde, dazu zu gelangen, indem diese<br />
Menschen, arm, aber ehrbar, sehr eingezogen lebten, keine Fremden zu<br />
sehen gewohnt seien, und <strong>der</strong> argwöhnische Charakter <strong>der</strong> Nation sich<br />
aus einer solchen Erscheinung allerlei deuten werde; doch er wolle mir<br />
seinen Schreiber schicken, <strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Familie Zutritt habe und durch<br />
den er die Nachrichten und Dokumente, woraus <strong>der</strong> Stammbaum<br />
zusammengesetzt worden, erhalten.―<br />
Über das Treffen mit <strong>der</strong> Familie BALSAMO möge man wie<strong>der</strong> Goethes<br />
eigenen ausführlichen Bericht in seiner „Italienischen Reise― nachlesen.<br />
Am 1. Juni 1791 schreibt Goethe an JACOBI:<br />
„CAGLIOSTROs Stammbaum und Nachrichten von seiner Familie, die<br />
ich in Palermo kennen gelernt, werde ich wohl auch jetzt herausgeben,<br />
damit über diesen Nichtswürdigen gar kein Zweifel übrig bleibe. Ich weiß<br />
nicht, ob Du schon den Auszug von seinem Prozesse gelesen hast, den<br />
man in Rom hat drucken lassen. Er enthält nichts, was man nicht schon<br />
wußte, aber wie viele Menschen wollten es nicht wissen. Es ist<br />
erbärmlich anzusehen, wie die Menschen nach Wun<strong>der</strong>n schnappen,<br />
um nur in ihrem Unsinn und Albernheit beharren zu dürfen, und um sich<br />
gegen die Ohnmacht des Menschenverstandes und <strong>der</strong> Vernunft<br />
wehren zu können.―<br />
Goethe fertigte dann selbst aus den Angaben dieses Memoires einen<br />
Stammbaum CAGLIOSTROs an, den er für so wichtig hielt, daß er ihn<br />
in den Ausgaben seiner Werke 1792 in Berlin veröffentlichen ließ<br />
(„Goethes neue Schriften― 1. Band bei Johann Friedrich Unger). Dieser<br />
Band enthält den „Groß-Cophta―, „Des Joseph BALSAMO, genannt<br />
CAGLIOSTRO Stammbaum mit einigen Nachrichten von seiner in<br />
Palermo noch lebenden Familie― und den „Römischen Carneval―. Die<br />
zweite Ausgabe von „Goethes Werken― enthält den Aufsatz über die<br />
Abstammung CAGLIOSTROs, <strong>im</strong>mer noch als selbständige Abhandlung<br />
und mit unverän<strong>der</strong>tem Titel <strong>im</strong> 12. Bande, Tübingen, in <strong>der</strong> J. G.<br />
Cotta’schen Buchhandlung, 1808 (S. 131-156) und ist an die<br />
„Fragmente eines Reisejournals―, welche unter dem Titel „Über Italien―<br />
zusammengefaßt sind, angereiht. Auch noch in <strong>der</strong> dritten Ausgabe von<br />
„Goethes Werken― von 1817 ist die Arbeit über den großen Abenteurer<br />
enthalten (13. Band). Erst als sich Goethe später daran machte, auf<br />
Grund <strong>der</strong> vorhandenen Aufzeichnungen und Briefe die „Italienische<br />
Reise― zu schreiben, entschloß er sich, die Schrift über den<br />
Stammbaum CAGLIOSTROS darin zu verarbeiten. Der seitdem in<br />
Goethes Werken nicht mehr veröffentlichte Stammbaum ist nun hier<br />
wie<strong>der</strong>gegeben.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 51<br />
Eine solche Tafel bezeichnen wir heute in <strong>der</strong> Genealogie ganz<br />
allgemein als Verwandtschaftstafel. Sie hat hier den Zweck, nicht bloß<br />
die Abstammung einer o<strong>der</strong> mehrer Person(en) bis zu einem<br />
gemeinsamen Stammvater aufzuzeigen , son<strong>der</strong>n sie soll auch die<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 52<br />
durch Verschwägerung verwandten Personen erkennen lassen. Ja, sie<br />
legt darauf sogar beson<strong>der</strong>en Wert. Dabei steckt in dem Ganzen auch<br />
eine kleine Ahnentafel CAGLIOSTROs zu vier Ahnen, also bis zu den<br />
zwei väterlichen und den zwei mütterlichen Großeltern. Diese<br />
Gegebenheiten führen zu einer etwas eigentümlichen Anordnung <strong>der</strong><br />
Tafel. Die Namen <strong>der</strong> einzelnen Personen sind in Kreise<br />
eingeschrieben. Der Kreis, in dem CAGLIOSTROs Name steht, ist durch<br />
eine doppelte Kreislinie kenntlich gemacht. Da, wo es sich um<br />
Geschwister handelt, hat <strong>der</strong> Zeichner zwischen den Kreisen einen<br />
Zwischenraum gelassen; da, wo es sich um ein Ehepaar handelt, sind<br />
die Kreise dicht aneinan<strong>der</strong> gerückt und durch einen kleinen Bogen<br />
verbunden. Die Abstammung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> von den Eltern wird durch eine<br />
punktierte Linie verdeutlicht, welche von dem Kreise, <strong>der</strong> den Namen<br />
des Kindes einschließt, nach dem kleinen Bogen gezogen ist, <strong>der</strong> die<br />
beiden Kreise, welche die Namen <strong>der</strong> Eltern enthalten, untereinan<strong>der</strong><br />
verbindet. Es sind <strong>im</strong> Ganzen 23 Kreise, welche sich auf 5 Generationen<br />
<strong>der</strong>art verteilen, daß in <strong>der</strong> untersten Reihe zwei, in den zweiten, dritten<br />
und vierten Reihe je sechs und in <strong>der</strong> fünften Reihe drei Personen o<strong>der</strong><br />
Kreise vorhanden sind. Dabei ist die Anordnung <strong>der</strong>art, daß die älteren<br />
Generationen unten, die jüngeren Generationen oben stehen (also ganz<br />
richtig <strong>im</strong> <strong>Zeit</strong>richtungssinne des Baumwachstums: unten (Stamm) alt,<br />
oben (Zweige) jung!). Die verstorbenen Personen sind durch kleine<br />
Kreuze markiert (Erklärung in Ahnlehnung an Stephan Kekule von<br />
Stradonitz; aus: „Der Deutsche Herold― 1900, Nr.2).<br />
Die Anordnung <strong>der</strong> Tafel geht wohl allerdings <strong>im</strong> wesentlichen auf den<br />
palermitanischen Rechtsgelehrten VIONA zurück, <strong>der</strong> durch das<br />
französische Ministerium beauftragt worden war, dem Herkommen<br />
dieses Mannes nachzuspüren. Aus Goethes Bericht in <strong>der</strong> „Italienischen<br />
Reise― geht unzweideutig hervor, daß Goethe sich eine möglichst<br />
getreue Kopie des Stammbaumes mitgenommen und diese wie<strong>der</strong>um<br />
in getreuer Nachbildung seinem Aufsatze beigegeben hat.<br />
Goethe schrieb dort:<br />
„Er legte mir den Stammbaum vor, wie man ihn auf <strong>der</strong> beigefügten<br />
Tafel gezeichnet findet, und gab mir die nötigen Erklärungen darüber,<br />
wovon ich hier soviel anführe, als zu leichterer Übersicht desselben<br />
nötig ist.―<br />
Diese Schlußworte Goethes lassen auch deutlich genug erkennen, daß<br />
er sich <strong>der</strong> mangelnden Übersichtlichkeit <strong>der</strong> aufgezeichneten Tafel<br />
bewußt war. Allein es schien Goethe wichtiger, seine Quelle in <strong>der</strong><br />
ursprünglichen Gestalt [wohl etwas gekürzt] vorzulegen, als ihr durch<br />
eigene Umarbeitung eine verständlichere Gestalt zu geben, wie das z.B.<br />
von Heinrich DÜNTZER in seiner Ausgabe von Goethes Werken (24.<br />
Teil, S. 597) geschehen ist (wie<strong>der</strong> nach Stephan Kekule von Stradonitz;<br />
aus: „Der Deutsche Herold― 1900, Nr. 2).<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 53<br />
Diese „Düntzerische Ummodelung― ist ein schönes Beispiel für seine oft<br />
kritisierte besserwisserische Art und Weise, des sonst sehr<br />
verdienstvollen Goethe-Forschers.<br />
Am 23. März 1792 „überraschte― Goethe sogar die Freitagsgesellschaft<br />
<strong>der</strong> Herzogin Amalie mit dem Vortrage: „CAGLIOSTROS Stammbaum―<br />
(Goethe-Jahrbuch, XIX. Bd. 1898, S. 19). -<br />
Goethe, <strong>der</strong> mit lebhafter Einbildungskraft an dem Schicksal des<br />
CAGLIOSTROs selbst teilgenommen hatte, ließ dieser wun<strong>der</strong>same<br />
Mann lange nicht los und er hat daher seine Erlebnisse auch in einem<br />
Schauspiel gestaltet, das er nach einem <strong>der</strong> zahleichen Namen, die sich<br />
CAGLIOSTRO gegeben hatte, „Groß-Cophta― nannte. CAGLIOSTRO<br />
hatte sich in den Fre<strong>im</strong>aurerorden aufnehmen lassen und gab sich in <strong>der</strong><br />
ägyptischen Maurerei als <strong>der</strong> Sendbote des Elias o<strong>der</strong> „Groß-Cophta―<br />
aus. Nach zahlreichen Entwürfen (anfangs für eine Oper gedacht)<br />
erschien Goethes „Groß-Cophta― schließlich 1791 und erlebte in We<strong>im</strong>ar<br />
nur einige Aufführungen, bis es dann 1792 als Lustspiel in fünf Akten in<br />
Prosa als Buch erschien. Diesen stellte Goethe <strong>der</strong> Familie Balsamo in<br />
Palermo zur Verfügung.<br />
Eine etwas spätere genealogische Aktivität steht mit Goethes großer<br />
Übersetzungsarbeit <strong>der</strong> Biographie von Benvenuto CELLINI, 1500-1571,<br />
in Zusammenhang. Goethe hatte die mit heiterer Unbefangenheit<br />
nie<strong>der</strong>geschriebene Autobiographie des großen Florentiner Bildhauers,<br />
Erzgießers, Gold- und Silberschmiedes als erster ins Deutsche<br />
übertragen. Nach Vorabveröffentlichungen in Schillers „Horen― erschien<br />
die vollständige Überarbeitung mit eigenen Erläuterungen und Zusätzen<br />
1803 in Goethes Werken bei Cotta unter dem Titel „Leben des<br />
Benvenuto Cellini“ Es wird von <strong>der</strong> Goethe-Forschung angenommen,<br />
daß diese Biographie mit Anreiz und Vorspiel für die eigene<br />
Selbstbiographie „Dichtung und Wahrheit“ gewesen ist. Im Anhang XI.<br />
dieser Übersetzung ist eine Stammtafel <strong>der</strong> MEDICI in Florenz von<br />
Goethes eigener Hand veröffentlicht. Diese Auszugs-Stammtafel ist<br />
nur eine Darstellung <strong>der</strong> von CELLINI in seiner Autobiographie<br />
erwähnten MEDICIs in Florenz durch die Jahrhun<strong>der</strong>te. Goethe sieht in<br />
ihr wohl ein unerläßliches Hilfsmittel zum besseren Verständnis <strong>der</strong><br />
historischen Zusammenhänge.<br />
Die Persönlichkeit Benvenuto CELLINI war wohl für Goethe beson<strong>der</strong>s<br />
anziehend, da dieser „charakterlich und temperamentmäßig eine<br />
übersteigerte Form des Kraftgenies aus Goethes Sturm und Drang-<strong>Zeit</strong><br />
verkörperte. Genialisch, religiös mit Neigung zum Mystischen,<br />
gerechtigkeitsliebend, aber auch ungebändigt, unstet, heftig,<br />
leidenschaftlich, stolz und ehrgeizig, wurde er Goethe zum<br />
Repräsentanten und zur Schlüsselfigur seiner <strong>Zeit</strong> auch durch seine<br />
abenteuerlichen Schicksale― (Gero von WILPERT: Goethe-Lexikon,<br />
1998), wie sie in CELLINIs um 1556-66 verfaßten Autobiographie<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 54<br />
geschil<strong>der</strong>t sind. Mit an<strong>der</strong>en, mit Goethes Worten, handelt es sich bei<br />
CELLINI um eine dämonische Natur!<br />
Die eigenhändige Tafel Goethes ist hier dem Aufsatz „Goethe als<br />
Familienforscher― von Dr. Adalbert BRAUER (ehemals Chefarchivar des<br />
Börsenvereins des Deutschen Buchhandels) entnommen, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> in<br />
Frankfurt erschienen „Leipziger Neusten Nachrichten― –Mitteldeutsche<br />
Rundschau, vom März 1982, Nr. 3 erschienen ist. Außerdem ist noch<br />
eine „buchstabengedruckte― Tafel wie<strong>der</strong>gegeben, die ich in „Goethes<br />
sämtlichen Werken― in 44 Bänden von Ludwig Geiger <strong>im</strong> 34. Band auf<br />
Seite 173 fand.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />
S e i t e | 55
S e i t e | 56<br />
In diesem Zusammenhang seien hier noch einige erläuternde<br />
Formulierungen zur Tafel selbst und einige allgemeine m. E. sehr<br />
treffliche Sätze zum allgemeinen Nutzen von Stammtafeln in<br />
Geschichtswerken von Stephan KEKULE VON STRADONITZ zitiert, die<br />
er zum 150. Geburtstag Goethes 1899 in einem Vortrag <strong>im</strong> Verein<br />
„Herold― am 3.11.1899 in Berlin mit dem Titel „Goethe als Genealoge―<br />
gehalten hat. (Wie<strong>der</strong>abdruck <strong>im</strong> „Herold―, 1900, Nr. 2 und ergänzt von<br />
Adalbert BRAUER: Zu Goethes 150. Todestag; in: Genealogie (1982),<br />
31. Jg., H.7, S. 193-202).<br />
Goethes Übersetzung liegt die erst 1728 in Neapel gedruckte<br />
Autobiographie Benvenuto CELLINIS zugrunde. „ Das von Goethe<br />
benutzte Exemplar dieser Ausgabe ist erhalten. Es befindet sich jetzt <strong>im</strong><br />
Goethe-National-Museum zu We<strong>im</strong>ar. Vorn eingeklebt ist die<br />
„Stammtafel des Hauses Medicis“ von Goethes Hand, in, dem<br />
Wesentlichen nach, <strong>der</strong>selben Gestalt, in <strong>der</strong> sie Goethe später seinem<br />
Benvenuto Cellini beigab. Es ist daraus ersichtlich, daß Goethe die<br />
Stammtafel ursprünglich zu eigenem Gebrauch gefertigt und zum<br />
besseren Verständnis <strong>der</strong> Lebensgeschichte des Benvenuto CELLINI in<br />
sein italienisches Exemplar dieser Lebensgeschichte eingeklebt hat.<br />
1796 schreibt Goethe an Schiller: „Zur nächsten Lieferung Cellini habe<br />
ich einen Stammbaum <strong>der</strong> Medicis aufgesetzt, insofern sie in dieser<br />
Lebensbeschreibung genannt werden―. „Goethe kennzeichnet also<br />
selbst den von ihm gefertigten Stammbaum als einen<br />
Stammtafelauszug, um mich desjenigen Ausdrucks zu bedienen, den<br />
ich seiner <strong>Zeit</strong> für solche Stammtafeln vorgeschlagen habe, die<br />
best<strong>im</strong>mten Zwecken dienen sollen und auf denen deshalb alle für den<br />
betreffenden Zweck unwesentlichen Personen weggelassen worden<br />
sind―.<br />
In einem von Goethe selbst verfaßten „Anhang zur Lebensbeschreibung<br />
des Benvenuto Cellini, bezüglich auf Sitten, Kunst und Technik“ <strong>der</strong> 17<br />
Kapitel umfaßt, ist in Kapitel 11 die Stammtafel des Hauses Medici<br />
abgedruckt.<br />
Stephan KEKULE VON STRADONITZ schreibt zur Stammtafel weiter:―<br />
Über die Stammtafel selbst ist nicht viel zu sagen. Sie ist angeordnet<br />
ganz in <strong>der</strong>jenigen Weise, in welcher gewöhnlich die Abstammung von<br />
einem Stammvater dargestellt zu werden pflegt. Sie beginnt mit Johann<br />
(geb. 1360; gest. 1428) und enthält seine sämtlichen Nachkommen,<br />
soweit sie von Cellini erwähnt werden, bis auf die, durch die Pariser<br />
Bluthochzeit berüchtigte Katharina und ihren Halbbru<strong>der</strong> Alexan<strong>der</strong>, den<br />
ersten Herzog (geb. 1510; gest. 1537). Bei letzterem ist die Bemerkung<br />
Goethes erwähnenswert, daß es „ungewiß ist, ob er ein Sohn<br />
Lorenzens, Herzogs von Urbino, o<strong>der</strong> Clemens VII. gewesen―. Dieser<br />
Zweifel entspricht dem damaligen Stand <strong>der</strong> Wissenschaft. Noch in den<br />
„Genealogischen Tabellen zur Erläuterung <strong>der</strong> Europäischen<br />
Staatengeschichte― von Voigtel, Halle 1811, findet sich auf Tafel 256 ein<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 57<br />
ähnlicher Vermerk, während die heutige Geschichtswissenschaft, so<br />
weit ich sehen kann, darüber einig ist, daß Alexan<strong>der</strong> ein natürlicher<br />
Sohn Lorenzos und nicht des Papstes Clemens VII. gewesen ist. Man<br />
darf daraus schließen, daß Goethe den Stammbaum lediglich aus leicht<br />
zugänglichen gedruckten Quellen – vielleicht ausschließlich aus<br />
CELLINIS Selbstbiographie – zusammengeschrieben hat. Trotzdem<br />
kann die „Stammtafel des Hauses Medicis“ein weitgehendes<br />
Interesse beanspruchen, ist sie doch ein deutliches Zeichen dafür, daß<br />
Goethe sich <strong>der</strong> Einsicht nicht verschloß, wie nützlich genealogische<br />
Tafeln zum Verständnis <strong>der</strong> Geschichte sind. Dabei ist noch beson<strong>der</strong>s<br />
zu beachten, daß es sich bei <strong>der</strong> Lebensbeschreibung CELLINIs<br />
keineswegs um Staatengeschichte, son<strong>der</strong>n um ein lediglich kultur- und<br />
kunstgeschichtlich bedeutsames Werk handelt.<br />
Diese Einsicht von <strong>der</strong> Nützlichkeit genealogischer Tafeln ist<br />
durchaus nicht so allgemein verbreitet, wie die Genealogie von Fach zu<br />
glauben geneigt sein mögen. [Ottokar] LORENZ hat bereits<br />
hervorgehoben, daß die bekannte und weit verbreitete, von Wilhelm<br />
ONCKEN herausgegebene „Allgemeine Geschichte in<br />
Einzeldarstellungen― den Beweis dafür liefert, „daß in einer gewaltigen<br />
Zahl von Bänden eine Reihe von Gelehrten sich vereinigen konnte, die<br />
mannigfaltigsten künstlerischen Hilfsmittel herbeizuziehen, um das<br />
Verständnis geschichtlicher Dinge zu erleichtern, aber nicht eine einzige<br />
Stammtafel beizufügen für nötig fand.― Den Beifall eines Goethes hätte<br />
diese Unterlassung sicherlich auch nicht gefunden.―<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
1.8 Goethe-Genealogie als Bezugspunkt einer<br />
europäischen Universalgenealogie<br />
Im folgenden sei auf eine sehr gut erforschte Genealogie hingewiesen,<br />
die nach Meinung des Autors geeignet erscheint, weiteres Licht auf das<br />
große Streitthema „Erbe und Umwelt― zu werfen und diese Genealogie<br />
in die Nachbarwissenschaften einzubinden. Es handelt sich um die<br />
Goethe-Genealogie, die ja neben <strong>der</strong> Nachkommenschaft Karl des<br />
Großen, als Hauptbezugspunkt <strong>der</strong> mitteleuropäischen Dynasten-<br />
Genealogie, als bügerliches Gegenstück einen Hauptbezugspunkt für<br />
eine europäische Universalgenealogie sein könnte und sollte.<br />
Hierfür genügt es aber nicht nur die seit über 100 Jahren relativ gut<br />
erforschte Ahnentafel (bzw. –liste) zu betrachten, son<strong>der</strong>n es sollten<br />
auch alle Geschwister <strong>der</strong> Goethe-Ahnen mit betrachtet werden, soweit<br />
sie erforscht sind. Und nicht nur diese, son<strong>der</strong>n auch alle Nachkommen<br />
dieser Geschwisterahnen. Darüber hinaus sollten auch die<br />
einheiratenden Nichtverwandten tunlichst hinsichtlich ihrer Ahnenschaft<br />
betrachtet werden, um die Eigenschaften des neu hinzugekommen<br />
Erbgutes abgrenzen zu können. Mit an<strong>der</strong>en Worten für unsere Zwecke<br />
sollte die Goethe-Gesamtverwandtschaft betrachtet werden, <strong>der</strong>en<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 58<br />
Definition wir auf die knappe Formel bringen können. Alle<br />
Nachkommen aller erforschten Goethe-Ahnen. Wobei auch die<br />
Ahnenschaft <strong>der</strong> einheiratenden nichtverwandten Personen ahnenmäßig<br />
und auch stammtafelmäßig mit berücksichtigt werden sollte.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
1.9 Goethes Ahnen-Gesinnung<br />
Ohne hier Goethe etwa zu einem Repräsentanten <strong>der</strong> Genealogenschaft<br />
machen zu wollen, wissen wir doch von Goethes lebenslangem<br />
Interesse an <strong>der</strong> Persönlichkeit und seiner Neugier bezüglich<br />
biologischer Verwandtschaft, die <strong>im</strong> „Stammbaum― - <strong>der</strong> seinerzeit<br />
üblichen Bezeichnung für die Ahnentafel - zum Ausdruck kommt, und<br />
uns aus einer Begebenheit <strong>im</strong> Alter sichtbar wird.<br />
In seinem Tagebuch unter dem 11. August 1815 schreibt <strong>der</strong> Goethe-<br />
Freund Sulpiz BOISSERÉE, <strong>der</strong> dem 66-jährigen Goethe die Kunst des<br />
deutschen Mittelalters neu erschloß, daß er mit Goethe am Vormittag<br />
ein eigenartiges Gespräch scherzhaft über die Seelenwan<strong>der</strong>ung geführt<br />
habe, das er (BOISSERÉE) zwar als einen „Wahn― bezeichnet aber sich<br />
Gedanken darüber gemacht habe und diese auch fast schämend<br />
Goethe vorgetragen habe: „Als ich <strong>im</strong> vorigen Sommer die Geburtsstadt<br />
von EYCK besucht und zugleich die meines Vaters, nur zwei Stunden<br />
davon, <strong>der</strong> Großonkel sei von Tongern und die Großmutter väterlicher<br />
Seite. Die Großmutter mütterlicher Seite von Köln, wer weiß, was das für<br />
Blutsverwandtschaft und Zusammenhang mit Meister EYCK und dem<br />
Dom-Meister sich denken ließe!―. „Ja nun,― war Goethes Antwort, „lobe<br />
ich Euch, Ihr seid gescheiter als Ihr wißt. So hat doch Euere Sache<br />
Fug und Schick, und durch die Zuziehung <strong>der</strong> Ahnen kömmt es<br />
<strong>im</strong>mer besser ins klare.“ Ich neckte ihn darüber, und wir lachten<br />
fröhlich über dies gehe<strong>im</strong>e Gespräch, das wir am Tisch führten.<br />
Diese Erzählung hat <strong>der</strong> genealogisch sehr interessierte Professor und<br />
Schriftsteller Dr. Peter BERGLAR aufgefunden und in einer<br />
genealogischen <strong>Zeit</strong>schrift mit folgendem Kommentar veröffentlicht<br />
((Lit.)): Mit den Worten „Ihr seid gescheiter als Ihr wißt― und mit<br />
phänomenaler Sicherheit trifft er ins Schwarze: „so hat doch Eure Sache<br />
Fug und Schick, und durch die Zuziehung <strong>der</strong> Ahnen kömmt es <strong>im</strong>mer<br />
besser ins klare― „Euere Sache― – das ist BOISSERÉE’s Entdeckung<br />
und Erweckung <strong>der</strong> mittelalterlichen Kunst und damit des Mittelalters als<br />
hoch entwickelter europäischer Epoche. (…) Daß Goethe hier die<br />
Wörter „Fug― und „Schick― für „Fügung― und „Schicksal― braucht, o<strong>der</strong><br />
genauer: daß Boisserée’s Bericht sie ihm in den Mund legt, gibt <strong>der</strong><br />
Aussage Gewicht und Leichtigkeit zugleich – und Glaubwürdigkeit. In<br />
<strong>der</strong> Tat: genauso sprach <strong>der</strong> Dichter, <strong>der</strong> nicht mehr Pathos und<br />
Emphase liebte, <strong>der</strong> inzwischen seinem ANTONIO näher stand als<br />
seinem TASSO und <strong>der</strong> in einem langen bewegten Leben die Erfahrung<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 59<br />
gemacht hatte, daß auch die Helden des „Sturm und Drang―, die<br />
wirklichen wie die erdichteten, nicht aus sich heraus, nicht aus ihrem<br />
„Einzeln-Sein― etwas vermochten, daß sie, für sich alleinstehend und<br />
aus <strong>der</strong> Kette von Vorfahr zu Nachfahr herausgebrochen, nur Wirrnis<br />
und Tod fanden und daß es ein Zeichen <strong>der</strong> Reife, <strong>der</strong> Gesundheit und<br />
des Maßes, kurzum, daß es unumgänglich war, die Ahnen „zuzuziehen―,<br />
um „<strong>im</strong>mer noch besser ins klare― zu kommen.(…) BOISSERÉE hatte<br />
auf den Spuren van EYCKs die Geburtsstadt seines Vaters besucht,<br />
hatte die kölnische Mutter erwähnt und den Begriff <strong>der</strong><br />
Blutsverwandtschaft ins Spiel gebracht, um seine Hinneigung zur<br />
künstlerischen Welt des Mittelalters, beson<strong>der</strong>s in den Nie<strong>der</strong>landen und<br />
am Rhein, zu erklären. Auf diese Erklärung zielte Goethes Replik: „so<br />
hat doch Eure Sache Fug und Schick , mit an<strong>der</strong>en Worten: was wir<br />
<strong>im</strong> Leben vollbringen, welchen Weg wir gehen, kurz, unser Sein und<br />
Sinn ist „gefügt― und „geschickt― einfach schon dadurch, daß wir uns<br />
„nicht selbst gemacht― haben, son<strong>der</strong>n, daß wir von Eltern, die sich<br />
damit selbst bezeugten, gezeugt und in die Welt geschickt wurden.<br />
Mögen wir heute in modischer Verblendung dem „Milieu― nahezu alles,<br />
<strong>der</strong> Anlage fast nichts zuschreiben, mögen wir Geschichte einseitig als<br />
„sozioökonomischen Strukturierungsprozeß― auffassen und das freie<br />
Handeln <strong>der</strong> Individualität negieren – es bleibt doch dabei, daß am<br />
Anfang von allem, von Umwelt und Gesellschaft, von Produktionsprozeß<br />
und Herrschaft, von Systemen jeglicher Art und ihrer Überwindung, und<br />
natürlich auch vom Reden und Schreiben darüber <strong>der</strong> Mensch als<br />
zoologisches Wesen steht, welches die Weise seines In-die-Welt-<br />
Eintretens prinzipiell mit allen an<strong>der</strong>en Säugetieren teilt. Er mag sich<br />
drehen und wenden wie er will: er stammt ab.<br />
Und <strong>im</strong> Unterschied zu allen an<strong>der</strong>en Lebewesen weiß er es. Er weiß<br />
sich nicht nur <strong>im</strong> Jetzt seiend, son<strong>der</strong>n auch als von Früherem<br />
herkommend. (…) Ahnen <strong>im</strong> biologischen Sinn hat je<strong>der</strong> Mensch; aber<br />
nur selten treten sie über Eltern und Großeltern hinaus ins persönliche<br />
Bewußtsein. Nur ein verschwinden<strong>der</strong> Bruchteil tritt ins Licht allgemeiner<br />
Kenntnis, gewinnt Konturen, wird „geschichtlich―. Um Ahnen zu haben<br />
genügt es, geboren zu sein; um sie zu wissen, müssen sie zu <strong>der</strong><br />
kleinen Schar gehört haben, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Schritt aus <strong>der</strong> Anonymität in die<br />
bezeugte Bekanntheit gelang. So haftet <strong>der</strong> Genealogie<br />
notwendigerweise <strong>der</strong> Ruch des Selektiv-Elitären an; das bedeutet<br />
heute leicht Makel und Vorwurf. Doch zu unrecht. Auch<br />
Geschichtsbewußtsein mußte werden und wachsen und sich wandeln;<br />
es war und ist keine feste Größe. (…) Doch müssen wir uns, wie in je<strong>der</strong><br />
früheren, so auch in <strong>der</strong> gegenwärtigen Weltstunde fragen: woher droht<br />
Gefahr? Sie droht heute nicht von Historismus o<strong>der</strong> Historizismus, nicht<br />
von ungesundem Überfor<strong>der</strong>n des Geschichtlichen, nicht von lähmen<strong>der</strong><br />
Wucht des Überlieferten, wir ächzen nicht unter dem „Diktat― <strong>der</strong> Ahnen<br />
und brauchen wahrlich nicht Freiheit <strong>der</strong> Progression gegen Zwang <strong>der</strong><br />
Tradition zu verteidigen! Heute sind wir von zunehmendem Schwund<br />
des Geschichtsbewußtseins bedroht, nicht zufällig gibt es <strong>im</strong> Reiche<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 60<br />
ORWELLs von „1984― und in <strong>der</strong> „Brave New World― HUXLEYs keine<br />
Erinnerung, keine Geschichte, keine Ahnen, keine Familie mehr.<br />
----------------------------------------------------------------------------------------------<br />
Wenig bekannt ist wohl, daß Goethe nicht nur wußte, daß in Artern<br />
Goethe-Vorfahren ansässig waren, son<strong>der</strong>n daß er sogar selbst dort<br />
versuchte, diesen Spuren nachzugehen. Der Thüringer Goethe-<br />
Genealoge Friedrich SCHMIDT, Sangershausen, berichtet in seinem<br />
Bändchen „Goethe und seine Ahnen in <strong>der</strong> Kyffhäuserlandschaft―<br />
(Sangerhausen 1927, 84 Seiten): „Es ist daher auch vielfach die<br />
Meinung ausgesprochen worden, daß Goethe von Artern, dem bis<br />
1900 als ältesten Stammorte seiner Vorfahren geltenden Städtchen,<br />
nichts habe wissen wollen, wie er auch des als Schnei<strong>der</strong> nach Frankfurt<br />
ausgewan<strong>der</strong>ten Großvaters nicht gern gedacht habe. Damit tut man<br />
dem Dichter unrecht―...―Obgleich in Goethes Schriften und Tagebüchern<br />
nichts erwähnt wird, ist doch nach den Erzählungen eines <strong>Zeit</strong>genossen<br />
bekannt, daß Goethe zwe<strong>im</strong>al in Artern gewesen, wohin ihn die<br />
Poststraße auf dem Wege von We<strong>im</strong>ar nach Allstedt führte― und sich<br />
Goethe sehr eingehend nach seinen Vorfahren und Seitenverwandten<br />
erkundigt habe. Sogar be<strong>im</strong> Bürgermeister von Artern sei er vorstellig<br />
geworden, wenn auch ohne Erfolg. Bei seinem späteren Aufenthalt in<br />
Artern sei ihm dann sogar das frühere Goethe-Wohnhaus gezeigt<br />
worden, was allerdings nicht das wahre Stammhaus gewesen sei.<br />
SCHMIDT schreibt weiter:<br />
―Artern wird in Goethes Schriften nur einmal erwähnt. Um 1776<br />
machte Goethe in We<strong>im</strong>ar mit dem Herzog Karl August tolle Ritte und<br />
Fahrten ins Land. Da tanzten <strong>der</strong> junge Herzog und Goethe auf den<br />
Dörfern o<strong>der</strong> auf dem Schützenplatz zu Apolda bis tief in die Nacht mit<br />
hübschen Bauernmädchen, die sie in ihrer Sprache kurzweg „Misels―<br />
nannten. Ein solches hübsches Miselchen, mit dem Goethe auf dem<br />
Schützenfest zu Apolda nach Herzenslust getanzt und „gemiselt― hatte,<br />
war die „Christel von Artern―, die <strong>der</strong> Dichter in einem frischen Gedicht<br />
unsterblich gemacht hat:<br />
Hab’ oft einen dumpfen, düstern Sinn,<br />
Ein gar so schweres Blut!<br />
Wenn ich bei meiner Christel bin,<br />
Ist alles wie<strong>der</strong> gut.<br />
An Frau von STEIN schreibt Goethe am 16.Juli 1776: „Gestern auf dem<br />
Vogelschießen zu Apolda habe ich mich in die Christel von Artern<br />
verliebt.― Wer diese Christel gewesen ist, weiß man nicht. DÜNTZER<br />
(Liebesbriefe an Frau Stein) bemerkt, daß eine junge Bäuerin aus <strong>der</strong><br />
Umgebung von Apolda gemeint sei. „Misel― war ein Frankfurter<br />
Ausdruck für Mäuschen―. SCHMIDT weist auch darauf hin, daß ein<br />
Autor namens Dr. HUTHER, Cottbus, in seiner Arbeit „Über realistische<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 61<br />
Elemente in Goethes Hermann und Dorothea― (1888) sogar in Artern<br />
den vermeintlichen Schauplatz jener Dichtung Goethes sah.<br />
Man hört zuweilen, daß Goethe gegen seine eigenen Blutsverwandten<br />
wenig Familiensinn an den Tag gelegt habe Gern wird in diesem<br />
Zusammenhang auch Goethes:<br />
„Name ist Schall und Rauch― (Faust I. Marthes Garten V. 3457)<br />
zitiert. Auch in einem <strong>Zeit</strong>ungsbericht ((...)) anläßlich meiner Goethe-<br />
Genealogie-Ausstellung auf dem Deutschen Genealogentag 1998 in<br />
Lünen wurde er ironisch zitiert. Dies sagte Faust aber nur, als er sich vor<br />
<strong>der</strong> Gretchenfrage drücken wollte (Gero v. WILPERT: Goethe-Lexikon,<br />
1998).<br />
Wir wissen jedoch, daß gerade Goethe die Bedeutung des<br />
Familiennamens sehr hoch einschätzte. Als HERDER ihm ganz am<br />
Anfang ihrer bedeutsamen Bekanntschaft 1770 in Straßburg spöttisch<br />
auf einem Billett schrieb:<br />
„Der von Göttern Du stammst, von Gothen o<strong>der</strong> vom Kothe―<br />
nahm Goethe diesen Spott sehr übel auf. Er bemerkte dazu:<br />
„Der Eigenname eines Menschen ist nicht etwa ein Mantel, <strong>der</strong> bloß<br />
um ihn her hängt und an dem man allenfalls noch zupfen und zerren<br />
kann, son<strong>der</strong>n ein vollkommen passendes Kleid, ja wie eine Haut selbst<br />
ihm über und über angewachsen, an <strong>der</strong> man nicht schaben und<br />
schinden darf, ohne ihn selbst zu verletzten― (Dichtung und Wahrheit, 2.<br />
Band, 10. Buch).<br />
Über die unerwartete und so folgenschwere Bekanntschaft mit<br />
HERDER, die in Goethes Naturbild tiefe Spuren hinterlassen sollte,<br />
spricht Goethe in „Dichtung und Wahrheit― vorher die großen Worte, die<br />
bereits das große geschichtliche - ja man kann hier sagen<br />
genealogisch-heraldisches - Interesse des erst 21-Jährigen erkennen<br />
lassen:<br />
„Und so hatte ich von Glück zu sagen, daß, durch eine unerwartete<br />
Bekanntschaft, alles was in mir von Selbstgefälligkeit, Bespielungslust,<br />
Eitelkeit, Stolz und Hochmut ruhen o<strong>der</strong> wirken mochte, einer sehr<br />
harten Prüfung ausgesetzt ward, die in ihrer Art einzig, <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />
keineswegs gemäß, und nur desto eindringen<strong>der</strong> und empfindlicher war.<br />
Denn das bedeutendste Ereignis, was die wichtigsten Folgen für<br />
mich haben sollte, war die Bekanntschaft mit HERDER. Er hatte den<br />
Prinzen von Holstein-Eutin, <strong>der</strong> sich in Gemütszuständen befand, auf<br />
Reisen begleitet und war mit ihm bis Straßburg gekommen. Unsere<br />
Sozietät, sobald sie seine Gegenwart vernahm, trug ein großes<br />
Verlangen sich ihm zu nähern, und mir begegnete dies Glück zuerst<br />
ganz unvermutet und zufällig. (…). Durch mannigfaltige Fragen suchte<br />
er sich mit mir und meinen Zustande bekannt zu machen, und seine<br />
Anziehungskraft wirkte <strong>im</strong>mer stärker auf mich. Ich war überhaupt sehr<br />
zutraulicher Natur, und vor ihm beson<strong>der</strong>s hatte ich gar kein Gehe<strong>im</strong>nis.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 62<br />
Es währte jedoch nicht lange, als <strong>der</strong> abstoßende Puls seines Wesens<br />
eintrat und mich in nicht geringes Mißbehagen versetzte. Ich erzählte<br />
ihm mancherlei von meinen Jugendbeschäftigungen und Liebhabereien,<br />
unter an<strong>der</strong>en von einer Siegelsammlung, die ich hauptsächlich durch<br />
des korrespondenzreichen Hausfreundes Teilnahme zusammengebracht.<br />
Ich hatte sie nach dem Staats-Kalen<strong>der</strong> eingerichtet, und war<br />
bei dieser Gelegenheit mit sämtlichen Potentaten, größeren und<br />
geringeren Mächten und Gewalten, bis auf den Adel herunter wohl<br />
bekannt geworden, und meinem Gedächtnis waren diese heraldischen<br />
Zeichen gar oft, und vorzüglich bei <strong>der</strong> Krönungsfeierlichkeit zustatten<br />
gekommen. Ich sprach von diesen Dingen mit einiger Behaglichkeit;<br />
allein er war andrer Meinung, verwarf nicht allein dieses ganze<br />
Interesse, son<strong>der</strong>n wußte es mir auch lächerlich zu machen, ja beinahe<br />
zu verleiden.―<br />
Von dieser frühen Sammlung hat sich lei<strong>der</strong> nichts erhalten. Die<br />
wenigen überlieferten Siegelabdrücke aus <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> vor <strong>der</strong> Übersiedlung<br />
nach We<strong>im</strong>ar zeigen keine heraldischen Motive. (nach einem Dichtungund-Wahrheits-Kommentar<br />
von Walter HETTCHE, 1991). Vielleicht<br />
gehörten zu seiner Sammlung auch noch Wappen.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
1.10 Wesen und Wirken <strong>der</strong> Ahnen bei Goethe<br />
Über die „Vorväter― und ihre He<strong>im</strong>at in Goethes Sicht hat <strong>der</strong> Goethe-<br />
Genealoge Dr. Theodor GÜNTHER in seinem Buch „Goethes<br />
Crailshe<strong>im</strong>er Vorfahren und ihre fränkisch-thüringische Verwandtschaft―<br />
(1970) Treffliches geschrieben:<br />
„Wesen und Wirken <strong>der</strong> Ahnen als Vorläufer nachfolgen<strong>der</strong><br />
Geschlechter („Nachkommen―) ganz allgemein bezieht Goethe durchaus<br />
in seine Gedankenwelt ein und würdigt sie nicht nur, son<strong>der</strong>n räumt<br />
ihnen zuweilen vorherrschende Stellung ein, wenn er über die<br />
Urgehe<strong>im</strong>nisse <strong>der</strong> Natur <strong>im</strong> Wandel ihrer Formen nachdenkt:<br />
„Und umzuschaffen das Geschaffene,<br />
Damit sich’s nicht zum Starren waffne,<br />
Wirkt ewiges lebendges Tun …<br />
Es soll sich regen, schaffend handeln,<br />
Erst sich gestalten, dann verwandeln,<br />
Nur scheinbar steht’s Momente still ―<br />
heißt es <strong>im</strong> Gedicht: „Eins und alles―. Auch Goethe fühlt sich einesteils<br />
eingebettet und geborgen, an<strong>der</strong>erseits mitgerissen und abhängig <strong>im</strong><br />
ewigen Strom, <strong>der</strong> von <strong>der</strong> Herkunft durch die Gegenwart in die Zukunft<br />
fließt.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
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„Uns hebt die Welle.<br />
Verschlingt die Welle,<br />
Und wir versinken.<br />
Ein kleiner Ring,<br />
Begrenzt unser Leben,<br />
Und viele Geschlechter<br />
Reihen sich dauernd<br />
An ihres Daseins<br />
unendliche Kette.―<br />
empfindet <strong>der</strong> 32-jährige Goethe <strong>im</strong> Gedicht „Grenzen <strong>der</strong><br />
Menschheit“. Die Ahnen sind die Gebilde, die uns Menschen die<br />
Verbindung vom Ursprung zur Gegenwart geschaffen haben und<br />
deshalb verehrungswürdig sind. Noch zu Goethes <strong>Zeit</strong>en verstand man<br />
unter Einzahl „Ahn“ den vertrauten, konkreten, eigenen Großvater.<br />
„Vom Ahn zum Enkel― war die Bezeichnung für den überschaubaren<br />
Weg <strong>der</strong> Generationen <strong>der</strong> jeweiligen Gegenwart, <strong>der</strong> bekannt und<br />
individuell ist. Aber die Pluralbildung „Ahnen“ bedeutet für Goethe eine<br />
Heraushebung aus <strong>der</strong> individuellen, int<strong>im</strong>en Sphäre, eine Übertragung<br />
und Kenntlichmachung für hervorragende, <strong>im</strong> einzelnen ungenannte<br />
Wesen <strong>der</strong> Vorzeit, Männer, Mächte, gänzlich verallgemeinert und fast<br />
mythologisiert, losgelöst aus persönlichem Familien- und<br />
Generationenbereich.<br />
„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust. …<br />
Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust<br />
Zu den Gefilden hoher Ahnen―<br />
(Faust I, Vor dem Tor, Faust zu Wagner, V. 1112f.)<br />
O<strong>der</strong>:<br />
„Als, angesichts <strong>der</strong> höchsten Ahnen,<br />
Der Nacht, des Chaos, ich mich stark betrug<br />
Und, in Gesellschaft von Titanen,<br />
Mit Pelion und Ossa als mit Ballen schlug―<br />
(Faust II, Klassische Walpurgisnacht, V. 7558 f).<br />
O<strong>der</strong>:<br />
„Zur Tugend <strong>der</strong> Ahnen ermannt sich <strong>der</strong> Held―.<br />
(Gedicht „Rinaldo-Kantate, Chor, auch in: Lexikon <strong>der</strong> Goethe-Zitate,<br />
Sp. 933, 17-18)<br />
Diese Beispiele beziehen sich auf Goethes Verhältnis zum Wesen und<br />
Wirken <strong>der</strong> Ahnen schlechthin, über uns walten<strong>der</strong>, entrückter Wesen.<br />
Wie empfindet er aber nun die Beziehung zu seinen eigenen Goetheund<br />
Textor-Vorfahren? Auch hierüber liegen Äußerungen vor, bei denen<br />
bemerkenswert ist, daß Goethe seine eigenen Vorväter als „Vorfahren“<br />
o<strong>der</strong> „Väter“ bezeichnet, auch das Wort „Ahnherr“ verwendet, alles<br />
Begriffe, die ihm menschlich wahrnehmbar, unpathetischer,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
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entmythologisiert und individueller vorkommen, als das beinahe<br />
kultische Wort „Ahnen“ mit ihrer nebulosen Distanzierung vom<br />
Menschlich-Int<strong>im</strong>en. Die Unterscheidung zwischen „Vorfahren― und<br />
„Ahnen― tritt z. B. in Goethes Bemerkung zutage:<br />
„Dem Englän<strong>der</strong> aber beson<strong>der</strong>s entschuldigen wir, wenn er sich hart<br />
und ungerecht gegen das Ausland erweist: denn wer SHAKESPEARE<br />
unter seinen Vorfahren sieht, darf sich wohl vom Ahnenstolz hinreißen<br />
lassen.― (Schriften zur italienischen Literatur, Abhandlung über Conte di<br />
Carmagnola, Tragödie von Alessandro Manzoni, Mailand, geschrieben<br />
1820/21[ z. B. in Goethes Werken von Ludwig GEIGER, 31. Bd., S.<br />
152). Für Goethe lebte <strong>der</strong> von ihm höchstverehrte, fast<br />
übermenschliche SHAKESPEARE, in den Gefilden hoher Ahnen. Zählte<br />
er zu seinen persönlichen Goethe-Vorfahren, so würde Goethe<br />
„Ahnenstolz“ empfinden, nicht nur regulären Vorfahrenstolz, wie es<br />
sich für uns Sterbliche ziemt. Man überhört keineswegs die Resignation<br />
Goethes, daß er keinen Ahnenstolz empfinden könne. Hätte er<br />
allerdings gewußt, daß Lucas CRANACH sein unmittelbarer Vorfahr ist,<br />
wäre ihm vielleicht „Ahnenstolz― zuteil geworden.<br />
Seinen Vorfahren und Vätern aber bringt Goethe als <strong>der</strong>en<br />
Nachkomme zeitlebens in <strong>der</strong> Hauptsache auf Dankbarkeit beruhende<br />
Zuneigung, Verehrung und herzliches Gedenken entgegen. Seine aus<br />
Iphigeniens Mund offenbarte eigene Überzeugung:<br />
„Wohl dem, <strong>der</strong> seiner Väter gern gedenkt!― (Iphigenie, I, 3)<br />
entspringt dankbarer Verehrung, die ihm genau so verbindlich ist wie die<br />
Erkenntnis, daß das von den Vätern ererbte Geistesgut und auch Geld<br />
zu „erwerben― sind, um ihrer teilhaftig zu sein, d. h. für ihn, in<br />
dichterische Schöpfungen umzuwandeln, um sie <strong>der</strong> Mit- und Nachwelt<br />
als Besitz abendländischer Kultur zu überlassen. Es gilt ihm eben,<br />
„umzuschaffen das Geschaffene―. Goethe sagt auch:<br />
„Wenn Familien sich lange erhalten, so kann man bemerken, daß die<br />
Natur endlich ein Individuum hervorbringt, das die Eigenschaften seiner<br />
sämtlichen Ahnherren in sich begreift, und alle bisher vereinzelten und<br />
angedeuteten Anlagen vereinigt und vollkommen ausspricht<br />
(Anmerkungen zu Goethes Übersetzung: Rameaus Neffe, Voltaire,<br />
Schriften zur Kunst. [1805, z. B. in Goethes Werke von Ludwig GEIGER,<br />
32. Bd. S. 102]).<br />
„Goethes Aussage über seine Großmutter Cornelia GOETHE geb.<br />
WALTHER, 1668-1754, entspringt außer lebendiger Erinnerung<br />
intensivem Augenschein. Die Atmosphäre um diese Frau, ihre Gestalt,<br />
Art und Farbe ihrer Kleidung, ihr Wesen, ihre Gesinnung – alles das<br />
atmet und ist dem sorgsamen Porträtisten sinnlich wahrnehmbar.― In<br />
„Dichtung und Wahrheit“ (1. Teil, 2. Buch) schreibt Goethe über sie:<br />
„meine Großmutter mußte eine sehr schöne Frau gewesen sein, und<br />
von gleichem Alter mit ihrem Manne. [tatsächlich aber war sie 11 Jahre<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
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jünger als ihr Mann]. Goethe: „Meines Vaters Mutter, bei <strong>der</strong> wir<br />
eigentlich <strong>im</strong> Hause wohnten, lebte in einem großen Z<strong>im</strong>mer hinten<br />
hinaus, unmittelbar an <strong>der</strong> Hausflur, und wir pflegten unsere Spiele bis<br />
an ihren Sessel, ja wenn sie krank war, bis an ihr Bett hin auszudehnen.<br />
Ich erinnere mich ihrer gleichsam als eines Geistes, als einer schönen,<br />
hageren, <strong>im</strong>mer weiß und reinlich gekleideten Frau. Sanft, freundlich,<br />
wohlwollend, ist sie mir <strong>im</strong> Gedächtnis geblieben.― (1. Teil, 1. Buch).<br />
Theodor GÜNTHER: „Sein Bild über Großvater Friedrich Georg<br />
GOETHE, 1657-1730, <strong>der</strong> ja fast 20 Jahre vor Goethes Geburt<br />
gestorben ist, hat hingegen nur aus Schil<strong>der</strong>ungen geformt werden<br />
können. Trotz des Fehlens persönlicher Inaugenscheinnahme, <strong>der</strong><br />
menschlich-lebendigen unmittelbaren Verbindung mit dem Großvater,<br />
trotz aller nur vager Vorstellungen hat sich <strong>der</strong> Dichter dennoch auch<br />
über den Großvater nachdenklich geäußert, gestärkt durch die<br />
Eindrücke des Großvater-Porträts, das in <strong>der</strong> Wohnung hing. Goethe:<br />
„Ich hatte von meinem Großvater wenig reden hören, außer daß sein<br />
Bildnis mit dem meiner Großmutter in einem Besuchsz<strong>im</strong>mer des alten<br />
Hauses gehangen hatte, welche beide, nach Erbauung des neuen, in<br />
einer oberen Kammer aufbewahrt wurden― (1. Teil, 2. Buch). GÜNTHER:<br />
„Daß es Goethe versagt war, Auge in Auge seinen Großvater zu sehen<br />
und zu erleben, hat ihn geschmerzt.― Goethe: „Es sei mir nur leid, daß<br />
<strong>der</strong> gute Mann schon so lange gestorben: denn ich habe mich auch ihn<br />
persönlich zu kennen öfters gesehnt, sein Bildnis vielmals betrachtet, ja<br />
sein Grab besucht und mich wenigstens bei <strong>der</strong> Inschrift an dem<br />
einfachen Denkmal seines vorübergegangenen Daseins gefreut, dem<br />
ich das meine schuldig geworden.― (1. Tei, 2. Buch). GÜNTHER:<br />
„Ehrenrührige Anpöpeleien gegenüber dem Großvater durch<br />
Schulkameraden und Altersgenossen wehrte <strong>der</strong> Schulknabe Goethe<br />
mit verbaler Vehemenz ab. Er ist wütend über „die Unverschämtheit―,<br />
„diese hämischen Worte―, „schon fing die Galle mir an zu kochen― (1.<br />
Teil, 2. Buch).<br />
GÜNTHER: „Jahrzehnte nach diesen Anwürfen schreibt er „Dichtung<br />
und Wahrheit― und ereifert sich trotz erheblicher <strong>Zeit</strong>spanne noch <strong>im</strong>mer<br />
so heftig, daß er auf 2 Druckseiten diesem Vorkommnis Beachtung<br />
schenkt. Der Enkel empfand nicht nur verletzten Familienstolz und<br />
gekränktes Ehrgefühl, son<strong>der</strong>n Abscheu vor <strong>der</strong> Arroganz törichter<br />
Menschen, die ihrem Dünkel freien Lauf gelassen haben gegenüber<br />
einem fleißigen und ehrbaren Menschen kleinbürgerlicher Herkunft, <strong>der</strong><br />
seinen jüngsten Sohn, Goethes Vater, aus eigens ersparten Geldmitteln<br />
akademische Berufsausbildung vermittelt, ein ansehnliches Vermögen<br />
aus eigener Arbeitskraft erworben und dem Enkel, Staatsminister in<br />
We<strong>im</strong>ar, einen fürstlichen Lebensstil mit Dienstpersonal und<br />
Auslandsreisen, großräumigem Wohnhaus auf dem Frauenplan und<br />
Aufwand für Kunstinteressen ermöglicht hat. Die Gel<strong>der</strong> aus den<br />
großväterlichen Ersparnissen sind noch lange nach We<strong>im</strong>ar geflossen,<br />
nachdem sie die Studienjahre auch des Enkels haben finanzieren<br />
helfen. FRIEDENTHAL äußert mit Recht: „Wir wollen dankbar dafür<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
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sein, daß das Geschick ihm (Goethe) einen tüchtigen und tätigen<br />
Großvater und einen großzügigen Fürsten gewährt hat.― Goethe selbst<br />
war sich über diese Gunst völlig <strong>im</strong> klaren. Am Freitag, 13. 2. 1829 sagt<br />
er zu ECKERMANN: „Eine halbe Million meines Privatvermögens ist<br />
durch meine Hände gegangen, um das zu lernen, was ich jetzt weiß,<br />
nicht allein das ganze Vermögen meines Vaters, son<strong>der</strong>n auch mein<br />
Gehalt und mein bedeutendes literarisches Einkommen seit mehr als<br />
fünfzig Jahren … Es ist nicht genug, daß man Talent habe, es gehört<br />
mehr dazu, um gescheit zu werden; man muß auch in großen<br />
Verhältnissen leben.― Da nun Goethes Vater zur Mehrung des<br />
elterlichen Vermögens kaum beigetragen hat, wie hinlänglich bekannt<br />
ist, war sich Goethe <strong>der</strong> Bedeutung des großväterlichen Vermögens für<br />
sich und sein Schaffen durchaus bewußt.<br />
Den Großeltern TEXTOR stand Goethe nahe, weil er sie während<br />
seiner gesamten Frankfurter Kindheits- und Jugendjahre noch um sich<br />
gehabt hat.―<br />
Der Goethe-Forscher Prof. Franz Koch, (1888-) sieht in HERDER den<br />
eigentlichen Ahnherrn des biologisch-geistesgeschichtlichen Denkens,<br />
soweit dieser Begriff überhaupt <strong>im</strong> 18. Jahrhun<strong>der</strong>t zu Recht besteht.<br />
„An HERDERs Namen knüpft sich alles das, was in <strong>der</strong> Folge für den<br />
Auf- und Ausbau des organischen Weltbildes fruchtbar wird.― „Es gibt<br />
keine anerschaffenen Fertigkeiten― – verkündet schon eine seiner<br />
[Her<strong>der</strong>s] frühen Arbeiten-: „Der Ke<strong>im</strong> zur Pflanze trägt Pflanzen und<br />
nicht Tiere: alles bleibt in <strong>der</strong> Natur, was es ist (…) ich werde, was ich<br />
bin!“ (hervorgehoben AR) So spricht er schon in einem Briefe vom April<br />
1769. Franz KOCHs abschließende Charakterisierung von Goethes<br />
Naturbild soll nun wie<strong>der</strong> eine Überleitung zu Goethes berühmten<br />
Fragment „Die Natur― sein:<br />
„Den Blick für lebendige Wirklichkeit, für Organisches und<br />
Gewachsenes hat HERDER Goethe vermittelt. In Goethes Dichtung,<br />
„Goldene Äpfeln in silberner Schale―, erhält, was bei HERDER bloß<br />
Vision, Ahnung, geniale Skizze bleibt, zum ersten Male die neue Form, -<br />
„innre Form― nennt sie Goethe -, in seinen naturwissenschaftlichen<br />
Schriften die tiefere Begründung. Längst ist <strong>der</strong> dynamische und<br />
ganzheitliche Charakter von Goethes Weltbild, wie er sich in seiner<br />
Dichtung seit den siebziger Jahren zu offenbaren beginnt, erkannt und<br />
beschrieben, längst die dichterische Form seines Werkes als das<br />
vollkommene gestalterische Analogon seiner organischen<br />
Weltanschauung gesehen worden. Die Ideen <strong>der</strong> Einheit und Ganzheit,<br />
<strong>der</strong> Polarität und Steigerung, endlich <strong>der</strong> Metamorphose sind<br />
erkenntnistheoretische Mittel, mit denen er das intuitiv erfühlte und<br />
erschaute Gehe<strong>im</strong>nis des Lebens begrifflich zu vermitteln sucht.<br />
Lebendiges ist ihm Abwandlung und Verwandlung eines Ur- und<br />
Erbbildes [Hervorhebung AR], „geprägte Form, die lebend sich<br />
entwickelt―, „best<strong>im</strong>mt, sich selbst zu zeichnen, erst Nächstes, dann sich<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
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Fremdes anzueignen―. (aus: Franz KOCH: Geist und Leben. Vorträge<br />
und Aufsätze, Hamburg, 1939).<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
1.11 Goethes Naturbild <strong>im</strong> Lichte <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne<br />
…<br />
1.12 Das Naturepos „Die Natur“<br />
von TOBLER und Goethe (Fragment 1782/1783)<br />
„Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen – unvermögend,<br />
aus ihr herauszutreten, und unvermögend, tiefer in sie hineinzukommen.<br />
Ungebeten und ungewarnt n<strong>im</strong>mt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes<br />
auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arme<br />
entfallen.<br />
Sie schafft ewig neue Gestalten; was da ist, war noch nie, was war,<br />
kommt nicht wie<strong>der</strong> – alles ist neu und doch <strong>im</strong>mer das Alte.<br />
Wir leben mitten in ihr, und sind ihr fremd. Sie spricht unaufhörlich mit<br />
uns, und verrät uns ihr Gehe<strong>im</strong>nis nicht. Wir wirken beständig auf sie<br />
und haben doch keine Gewalt über sie.<br />
Sie scheint alles auf Individualität angelegt zu haben und macht sich<br />
nichts aus den Individuen. Sie baut <strong>im</strong>mer und zerstört <strong>im</strong>mer, und ihre<br />
Werkstätte ist unzugänglich.<br />
Sie lebt in lauter Kin<strong>der</strong>n, und die Mutter, wo ist sie? – Sie ist die einzige<br />
Künstlerin; aus dem s<strong>im</strong>pelsten Stoff zu den größten Kontrasten; ohne<br />
Schein <strong>der</strong> Anstrengungen zu <strong>der</strong> größten Vollendung – zur genausten<br />
Best<strong>im</strong>mtheit, <strong>im</strong>mer mit etwas Weichem überzogen. Jedes ihrer Werke<br />
hat ein eigenes Wesen, jede ihrer Erscheinungen den isoliertesten<br />
Begriff, und doch macht alles Eins aus.<br />
Sie spielt ein Schauspiel: ob sie es selbst sieht, wissen wir nicht, und<br />
doch spielt sie’s für uns, die wir in <strong>der</strong> Ecke stehen.<br />
Es ist ein ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr, und doch rückt<br />
sie nicht weiter. Sie verwandelt sich ewig, und ist kein Moment<br />
Stillestehen in ihr. Fürs Bleiben hat sie keinen Begriff, und ihren Fluch<br />
hat sie ans Stillestehen gehängt. Sie ist fest. Ihr Tritt ist gemessen, ihre<br />
Ausnahmen selten, ihre Gesetze unwandelbar.<br />
Gedacht hat sie und sinnt beständig; aber nicht als ein Mensch,<br />
son<strong>der</strong>n als Natur. Sie hat sich einen eigenen allumfassenden Sinn<br />
vorbehalten, den ihr niemand abmerken kann.<br />
Die Menschen sind alle in ihr und sie in allen. Mit allen treibt sie ein<br />
freundliches Spiel und freut sich, je mehr man ihr abgewinnt. Sie treibt's<br />
mit vielen so <strong>im</strong> Verborgenen, daß sie’s zu Ende spielt, ehe sie’s<br />
merken.<br />
Auch das Unnatürliche ist Natur, auch die plumpste Philisterei hat<br />
etwas von ihrem Genie. Wer sich nicht allenthalben sieht, sieht sie<br />
nirgendwo recht.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 68<br />
Sie liebt sich selber und haftet ewig mit Augen und Herzen ohne Zahl<br />
an sich selbst. Sie hat sich auseinan<strong>der</strong>gesetzt, um sich selbst zu<br />
genießen. Immer läßt sie neue Genießer erwachsen, unersättlich sich<br />
mitzuteilen.<br />
Sie freut sich an <strong>der</strong> Illusion. Wer diese in sich und an<strong>der</strong>en zerstört,<br />
den straft sie als <strong>der</strong> strengste Tyrann. Wer ihr zutraulich folgt, den<br />
drückt sie wie ein Kind an ihr Herz.<br />
Ihre Kin<strong>der</strong> sind ohne Zahl. Keinen ist sie überall karg, aber sie hat<br />
Lieblinge, an die sie viel verschwendet und denen sie viel aufopfert. Ans<br />
Große hat sie ihren Schutz geknüpft.<br />
Sie spritzt ihre Geschöpfe aus dem Nichts hervor und sagt ihnen nicht,<br />
woher sie kommen und wohin sie gehen. Sie sollten nur laufen; die<br />
Bahn kennt sie.<br />
Sie hat wenige Triebfe<strong>der</strong>n, aber nie abgenutzte, <strong>im</strong>mer wirksam,<br />
<strong>im</strong>mer mannigfaltig<br />
Ihr Schauspiel ist <strong>im</strong>mer neu, weil sie <strong>im</strong>mer neue Zuschauer schafft.<br />
Leben ist ihre schönste Erfindung, und <strong>der</strong> Tod ist ihr Kunstgriff, viel<br />
Leben zu haben.<br />
Sie hüllt den Menschen in Dumpfheit ein und spornt ihn ewig zum<br />
Lichte. Sie macht ihn abhängig zur Erde, träg und schwer, und schüttelt<br />
ihn <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> auf.<br />
Sie gibt Bedürfnisse, weil sie Bewegung liebt. Wun<strong>der</strong>, daß sie alle<br />
diese Bewegung mit so wenigem erreicht. Gibt sie eins mehr, so ist’s ein<br />
neuer Quell <strong>der</strong> Lust; aber sie kommt bald ins Gleichgewicht.<br />
Sie setzt alle Augenblicke zum längsten Lauf an und ist alle<br />
Augenblicke am Ziel.<br />
Sie ist die Eitelkeit selbst, aber nicht für uns, denen sie sich zur<br />
größten Wichtigkeit gemacht hat.<br />
Sie läßt jedes Kind an sich künsteln, jeden Toren über sich richten,<br />
Tausende stumpf über sich hingehen und nichts sehen und hat an allen<br />
ihre Freude und findet bei allen ihre Rechnung.<br />
Man gehorcht ihren Gesetzen, auch wenn man ihnen wi<strong>der</strong>strebt: man<br />
wirkt mit ihr, auch wenn man gegen sie wirken will.<br />
Sie macht alles, was sie gibt, zur Wohltat, denn sie macht es erst<br />
unentbehrlich. Sie säumt, daß man sie verlange; sie eilet, daß man sie<br />
nicht satt werde.<br />
Sie hat keine Sprache noch Rede, aber sie schafft Zungen und<br />
Herzen, durch die sie fühlt und spricht.<br />
Ihre Krone ist die Liebe. Nur durch sie kommt man ihr nahe. Sie macht<br />
Klüfte zwischen allen Wesen, und alles will sich verschlingen. Sie hat<br />
alles isoliert, um alles zusammen zu ziehen. Durch ein paar Züge aus<br />
dem Becher <strong>der</strong> Liebe hält sie für ein Leben voll Mühe schadlos.<br />
Sie ist alles. Sie belohnt sich selbst und bestraft sich selbst, erfreut<br />
und quält sich selbst. Sie ist rauh und gelinde, leiblich und schrecklich,<br />
kraftlos und allgewaltig. Alles ist <strong>im</strong>mer da in ihr. Vergangenheit und<br />
Zukunft kennt sie nicht. Gegenwart ist ihre Ewigkeit. Sie ist gütig. Ich<br />
preise sie mit allen ihren Werken. Sie ist weise und still. Man reißt ihr<br />
keine Erklärung vom Leibe, trutzt ihr kein Geschenk ab, das sie nicht<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 69<br />
freiwillig gibt. Sie ist listig, aber zu gutem Ziele, und am besten ist’s, ihre<br />
List nicht zu merken.<br />
Sie ist ganz und doch <strong>im</strong>mer unvollendet. So, wie sie’s treibt, kann<br />
sie's <strong>im</strong>mer treiben.<br />
Jedem erscheint sie in einer eignen Gestalt. Sie verbirgt sich in<br />
tausend Namen und Termen und ist <strong>im</strong>mer dieselbe.<br />
Sie hat mich hereingestellt, sie wird mich auch herausführen. Ich<br />
vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten. Sie wird ihr Werk nicht<br />
hassen. Ich sprach nicht von ihr. Nein, was wahr ist, und was falsch ist,<br />
alles hat sie gesprochen. Alles ist ihre Schuld, alles ist ihr Verdienst.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
1.13 Goethes Erläuterung zum aphoristischen Aufsatz „Die<br />
Natur“<br />
(Goethe an den Kanzler v. Müller, 1828)<br />
„Jener Aufsatz ist mir vor kurzem aus <strong>der</strong> brieflichen Verlassenschaft<br />
<strong>der</strong> ewig verehrten Herzogin Anna Amalia mitgeteilt worden; er ist von<br />
einer wohlbekannten Hand geschrieben, <strong>der</strong>en ich mich in den achtziger<br />
Jahren in meinem Geschäften zu bedienen pflegte.<br />
Daß ich diese Betrachtungen verfaßt, kann ich mich faktisch zwar<br />
nicht erinnern, allein sie st<strong>im</strong>men mit den Vorstellungen wohl überein, zu<br />
denen sich mein Geist damals ausgebildet hatte. Ich möchte die Stufe<br />
damaliger Einsicht einen Komparativ nennen, <strong>der</strong> seine Richtung gegen<br />
einen noch nicht erreichten Superlativ zu äußern gedrängt ist. Man sieht<br />
die Neigung zu einer Art von Pantheismus, indem den<br />
Welterscheinungen ein unerforschliches, unbedingtes, humoristisches,<br />
sich selbst wi<strong>der</strong>sprechendes Wesen zum Grunde gedacht ist, und mag<br />
als Spiel, dem es bitterer Ernst ist, gar wohl gelten.<br />
Die Erfüllung aber, die ihm fehlt, ist die Anschauung <strong>der</strong> zwei großen<br />
Treibfe<strong>der</strong>n aller Natur: <strong>der</strong> Begriff von Polarität und von Steigerung,<br />
jene <strong>der</strong> Materie, insofern wir sie materiell, diese ihr dagegen, insofern<br />
wir sie geistig denken, angehörig, jene ist in <strong>im</strong>merwährendem Anziehen<br />
und Abstoßen, diese in <strong>im</strong>merstrebendem Aufsteigen. Weil aber die<br />
Materie nie ohne Geist, <strong>der</strong> Geist nie ohne Materie existiert und wirksam<br />
sein kann, so vermag auch die Materie sich zu steigern, so wie sich’s<br />
<strong>der</strong> Geist nicht nehmen läßt, anzuziehen und abzustoßen; wie <strong>der</strong>jenige<br />
nur allein zu denken vermag, <strong>der</strong> genugsam getrennt hat, um zu<br />
verbinden, genugsam verbunden hat, um wie<strong>der</strong> trennen zu mögen.<br />
In jenen Jahren, wohin gedachter Aufsatz fallen möchte, war ich<br />
hauptsächlich mit vergleichen<strong>der</strong> Anatomie beschäftigt und gab mir<br />
1786 [richtig 1784?] unsägliche Mühe, bei an<strong>der</strong>en an meiner<br />
Überzeugung: dem Menschen dürfe <strong>der</strong> Zwischenknochen nicht<br />
abgesprochen werden, Teilnahme zu erregen. Die Wichtigkeit dieser<br />
Behauptung wollten selbst sehr gute Köpfe nicht einsehen, die<br />
Richtigkeit leugneten die besten Beobachter, und ich mußte, wie in so<br />
vielen an<strong>der</strong>n Dingen, <strong>im</strong> stillen meinen Weg für mich fortgehen.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 70<br />
Die Versatilität <strong>der</strong> Natur <strong>im</strong> Pflanzenreiche verfolgte ich unablässig,<br />
und es glückte mit Anno 1788 [1787] in Sizilien die Metamorphose <strong>der</strong><br />
Pflanze, so <strong>im</strong> Anschauen, wie <strong>im</strong> Begriffe, zu gewinnen. Die<br />
Metamorphose des Tierreiches lag nahe dran, und <strong>im</strong> Jahre 1790<br />
offenbarten sich mir in Venedig <strong>der</strong> Ursprung des Schädels aus<br />
Wirbelknochen; ich verfolgte nun eifriger die Konstruktion des Typus,<br />
diktierte das Schema <strong>im</strong> Jahre 1795 an Max Jacobi in Jena und hatte<br />
bald die Freude, von deutschen Naturforschern mich in diesem Fache<br />
abgelöst zu sehen.<br />
Vergegenwärtigt man sich die hohe Ausführung, durch welche die<br />
sämtlichen Naturerscheinungen nach und nach vor dem menschlichen<br />
Geiste verkettet worden, und liest alsdann obigen Aufsatz, von dem wir<br />
ausgingen, nochmals mit Bedacht, so wird man nicht ohne Lächeln<br />
jenen Komparativ, wie ich ihn nannte, mit dem Superlativ, mit dem hier<br />
abgeschlossen wird, vergleichen und eines fünfzigjährigen<br />
Fortschreitens sich erfreuen.<br />
We<strong>im</strong>ar, 24. Mai 1828<br />
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„Die Natur“ erschien erstmals als anonymes Prosafragment unter<br />
dem Titel „Fragment“ <strong>im</strong> Tiefurter Journal Nr. 32 (1782/83), einer<br />
handschriftlich verbreiteten <strong>Zeit</strong>schrift, die 1781 von Herzogin Anna<br />
Amalia von SACHSEN-WEIMAR-EISENACH, gegründet wurde.<br />
Anna Amalia, 1739-1807, Tochter des Herzogs Carl von<br />
BRAUNSCHWEIG-WOLFENBÜTTEL und <strong>der</strong> Philippine Charlotte von<br />
PREUSSEN, einer Schwester FRIEDRICH des GROSSEN, hatte 1781<br />
ein Schlößchen in Tiefurt als Sommersitz erworben, das sie 1782-88<br />
nach dem Muster von Wörlitz unter Mitwirkung Goethes zu einem<br />
englischen Landschaftspark umgestalten und erweitern ließ. Tiefurt<br />
wurde <strong>der</strong> Lieblingsort <strong>der</strong> We<strong>im</strong>arer Hofgesellschaft, von Literaten und<br />
Künstlern, einer arkadischen Stätte einfachen Landlebens und zwanglos<br />
rustikaler Geselligkeit für die Teilnehmer ihrer Tafelrunde, die hier<br />
Gespräche führten, musizierten, zeichneten, vorlasen und ländliche<br />
Feste feierten. Zur Tafelrunde gehörten u.a. Goethe, SCHILLER,<br />
WIELAND, HERDER, BERTUCH, Louise v. GÖCHHAUSEN, J. H.<br />
VOSS und Gäste wie Jean PAUL und die Brü<strong>der</strong> HUMBOLDT. Die<br />
fröhliche Unbeschwertheit dieser Tiefurter Literaturgesellschaft fand<br />
Nie<strong>der</strong>schlag <strong>im</strong> Tiefurter Journal.<br />
In seinen Erläuterungen zum Fragment „Die Natur― schreibt Goethe:<br />
„Jener Aufsatz (…) ist von einer wohlbekannten Hand geschrieben,<br />
<strong>der</strong>en ich mich in den achtziger Jahren in meinen Geschäften zu<br />
bedienen pflegte.― Damit war Goethes seinerzeitiger Schreiber und<br />
enger Vertrauter Philipp Friedrich SEIDEL, 1755-1820, gemeint. SEIDEL<br />
war 1775 aus Frankfurt von Goethe als Kammerdiener und Sekretär<br />
nach We<strong>im</strong>ar geholt worden. In Frankfurt war er bereits in Goethes<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 71<br />
Elternhaus als Schreiber des Vaters und Hauslehrer von Goethes<br />
Schwester Cornelia tätig gewesen. ,<br />
Als Kanzler Friedrich von MÜLLER, 1779-1849, ab 1815 Kanzler, d. h.<br />
Justizminister in We<strong>im</strong>ar, und engster Freund und Vertrauter Goethes,<br />
<strong>im</strong> Jahre 1828 Goethe das handschriftliche Manuskript aus dem<br />
Nachlaß von Anna Amalia mit Goethes eigenen Korrekturen zeigte, hielt<br />
Goethe das „Fragment― - 46 Jahre nach dem Erscheinen! - für<br />
möglicherweise ein eigenes Werk, identifizierte sich mit dessen<br />
Gedanken und kommentierte es in seinen Erläuterungen (siehe oben!).<br />
Auf diesem Weg geriet <strong>der</strong> Text unter dem Titel „Die Natur― in Goethes<br />
Nachgelassene Werke. Goethe hatte vergessen, daß er Carl Ludwig<br />
von KNEBEL schon am 3. 3. 1783 (!) geschrieben hatte, <strong>der</strong> Aufsatz sei<br />
nicht von ihm, aber er kenne den Verfasser. Tatsächlich stammt das<br />
Fragment von dem Schweizer Theologen Georg Christoph TOBLER,<br />
1757-1812, beruht allerdings teilweise auf dessen Unterhaltungen mit<br />
Goethe <strong>im</strong> Jahre 1781, wo er Gast von KNEBEL, 1744-1834, Goethes<br />
lebenslangem<br />
„Ur-„ und Duzfreund und auch Erzieher von Prinz Constantin, dem<br />
jüngeren Bru<strong>der</strong> von Carl August von WEIMAR (lt. Gero v. WILPERT:<br />
„Goethe-Lexikon, 1998).<br />
„Die Natur“ hat schon manchen <strong>der</strong> großen Geister beeindruckt, die<br />
<strong>der</strong>en Aussagen als einen wesentlichen Teil von Goethes Naturbild<br />
betrachten.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
2<br />
2.1 Werner HEISENBERG und Goethe<br />
Der bedeutende Physiker und Nobelpreisträger Werner HEISENBERG,<br />
1901-1976, zitiert in seinem Vortrag „Die Einheit <strong>der</strong> Natur bei<br />
Alexan<strong>der</strong> von HUMBOLDT und in <strong>der</strong> Gegenwart“ , den er 1969 in<br />
Bonn zum 200. Geburtstag von Alexan<strong>der</strong> von HUMBOLDT gehalten<br />
hat, aus „Die Natur“ drei Absätze.<br />
Es heißt dort: „Er (HUMBOLDT) kannte die Naturschil<strong>der</strong>ungen in den<br />
Werken ROUSSEAUs, und von den französischen Schriftstellern zog in<br />
vor allem Bernardin de Saint PIERRE an. (…) Aber <strong>der</strong> stärkste Einfluß<br />
zugunsten dieser Art von Naturauffassung ist doch wohl von Goethe<br />
ausgegangen, und vielfach sollte man zur Charakterisierung dieses<br />
Goetheschen Naturbegriffs Aphorismen aus einem Fragment zitieren,<br />
das zwischen 1781 und 1784 <strong>im</strong> Tagebuch von Tiefurt erschienen war<br />
und dessen Verfasser Goethes Freund Johann Georg TOBLER<br />
gewesen ist:<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 72<br />
„Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen – unvermögend,<br />
aus ihr herauszutreten, und unvermögend, tiefer in sie hineinzukommen.<br />
Ungebeten und ungewarnt n<strong>im</strong>mt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes<br />
auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arme<br />
entfallen.<br />
Sie schafft ewig neue Gestalten; was da ist, war noch nie, was war,<br />
kommt nicht wie<strong>der</strong> – alles ist neu und doch <strong>im</strong>mer das Alte.(…)<br />
Es ist ein ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr, und doch rückt<br />
sie nicht weiter. Sie verwandelt sich ewig, und ist kein Moment<br />
Stillestehen in ihr. Fürs Bleiben hat sie keinen Begriff, und ihren Fluch<br />
hat sie ans Stillestehen gehängt.(…)<br />
Jedem erscheint sie in einer eignen Gestalt. Sie verbirgt sich in<br />
tausend Namen und Termen und ist <strong>im</strong>mer dieselbe.―<br />
HEISENBERG nach diesen Zitaten: :<br />
„Daß eine solche Naturbetrachtung durchaus vereinbar ist mit äußerster<br />
Sorgfalt <strong>der</strong> Empirie, daß sie sich vor reiner Naturschwärmerei und vor<br />
nebelhaften Naturmythen durch Strenge und Genauigkeit <strong>der</strong><br />
Beobachtung zu schützen vermag, das konnte HUMBOLDT auch von<br />
Goethe lernen, und das hat sicher für HUMBOLDT zur<br />
Überzeugungskraft des Goetheschen Naturbegriffs wesentlich<br />
beigetragen.― (zitiert nach <strong>der</strong> Süddeutschen <strong>Zeit</strong>ung vom 27./28.<br />
Dezember 1969).<br />
Derselbe HEISENBERG, dem Goethe ein lebenslanger Begleiter war,<br />
hatte schon am 5. Mai 1941 in <strong>der</strong> Gesellschaft für kulturelle<br />
Zusammenarbeit in Budapest als 40-jähriger einen bedeutsamen<br />
Vortrag mit dem Titel „Die Goethesche und die Newtonsche<br />
Farbenlehre <strong>im</strong> Lichte <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Physik.“ gehalten. Dort finden<br />
wir die vielleicht manchen überraschenden großen Worte:<br />
„NEWTON hat einen großen Teil seines Lebens philosophischen und<br />
religiösen Untersuchungen gewidmet, und es ist wohl richtiger zu<br />
glauben, daß allen wirklich großen Naturforschern auch die Sphäre <strong>der</strong><br />
Dichtung wohl vertraut gewesen ist. Jedenfalls ist es ja auch das<br />
Bestreben <strong>der</strong> Physiker gewesen, den Harmonien in den<br />
Naturereignissen nachzuspüren. Umgekehrt wäre es auch ein Irrtum zu<br />
glauben, daß etwa dem Dichter Goethe an dem Erwecken eines<br />
lebendigen Eindrucks von <strong>der</strong> Welt mehr gelegen habe als an dem<br />
Sammeln wirklicher Erkenntnisse. Schon jede echte große Dichtung<br />
vermittelt wirkliche Einsicht in sonst schwer erkennbare Bereiche<br />
<strong>der</strong> Welt, …(hervorgehoben AR). Auf HEISENBERG gehen wir später<br />
nochmals in an<strong>der</strong>em Zusammenhang ein („Urpflanze― –DNS).<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
2.2 Die Brü<strong>der</strong> v. HUMBOLDT und Goethe<br />
Goethe war bekanntlich mit beiden Brü<strong>der</strong>n HUMBOLDT befreundet.<br />
Der jüngere, <strong>der</strong> geniale Naturforscherreisende Alexan<strong>der</strong> von<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 73<br />
HUMBOLDT, 1769-1859, erlangte auf den Gebieten <strong>der</strong> Geographie<br />
und Geologie Weltruhm und begründete auch zahlreiche neue<br />
Wissensgebiete, wie Pflanzengeographie, Kl<strong>im</strong>akunde, Vulkanismus<br />
und Erdmagnetismus.<br />
An ihn schrieb Goethe in jugendlich frischem Stil <strong>im</strong> Alter <strong>im</strong> Mai 1821<br />
von We<strong>im</strong>ar:<br />
„Gruß und Sendung durch Herrn BREDT von meinem verehrten und<br />
geprüften Freunde war mir höchst erquicklich; in Eile schlug ich den<br />
Band grad in <strong>der</strong> Mitte ohne Zau<strong>der</strong>n auf und stürzte mich mit Ihnen in<br />
die wildesten Gegenden, wo mächtige Flüsse nicht allein für sich<br />
unaufhaltsam dahin strömen, son<strong>der</strong>n sich auch, auf eine lange nicht<br />
entdeckte Weise, zu vereinigen suchen. [das Buch war wohl ein Band<br />
von Humboldts berühmtem „Kosmos“] Sie sehen daraus, daß ich<br />
gleich in medias res gesprungen bin; wie will man Ihnen aber nur<br />
einigermaßen beikommen, wenn man nicht so anfinge.<br />
Nun darf ich von mir mit <strong>der</strong> größten Wahrhaftigkeit sagen, daß ich Sie<br />
nie aus dem Sinne gelassen, mit frommen Wunsch und treuem Willen<br />
Sie je<strong>der</strong>zeit begleitet.<br />
Wie ich denn hinzusetzen muß, daß unter den angenehmsten<br />
Erinnerungen früherer <strong>Zeit</strong> mir das Zusammenleben mit Ihnen und Ihrem<br />
Herrn Bru<strong>der</strong> <strong>im</strong>mer ein lichtester Punkt bleibt: denn wie viele hoffnungsund<br />
tatenreiche Anfänge habe ich denn in meinem Leben so folgereich<br />
fortsetzen und glanzreich wachsen sehen?<br />
Es tut mir sehr wohl, und ich danke Ihnen, daß Sie mir Gelegenheit<br />
geben, dieses auszusprechen; hiernach aber kann ich mich nicht<br />
enthalten, auch von mir soviel zu sagen, daß ich diesen Winter durch<br />
entschiedenste Einsamkeit und durch diäteste Schonung mich besser<br />
befunden als seit vielen Jahren und meine <strong>Zeit</strong> auf mancherlei Weise<br />
genutzt habe, <strong>der</strong>gestalt, daß ich auf <strong>der</strong> Jubilate-Messe ordentlich<br />
einmal wie<strong>der</strong> als Autor erscheine. Wäre es geziemend, Käuzlein nach<br />
Athen zu tragen, so sollte Ihnen auch etwas von solcher Brut zu Hause<br />
kommen. [1821 erscheinen „Wilhelm Meisters Wan<strong>der</strong>jahre“ 1. Band<br />
und die Gedichtsammlung „Zahme Xenien“].<br />
Von Ihrem Herrn Bru<strong>der</strong> habe ich lange nichts unmittelbar<br />
vernommen, durch Fremde jedoch, daß er einen meiner alten<br />
sehnlichsten Wünsche zu erfüllen gedenkt, eine anschauliche [sic!] Karte<br />
auszuarbeiten, wie die Sprachen über das Erdenrund ausgeteilt sind. Er<br />
hatte früher die Gefälligkeit, mir in einem ähnlichen Unternehmen<br />
beizustehen, wovon ich noch allerliebste Mitteilungen verwahre; das ich<br />
aber von den Dämonen [AR] öfters hin und wie<strong>der</strong> geführt werde und<br />
manches Gute durchzusetzen mir nicht <strong>im</strong>mer gelingt, so bin ich<br />
höchlich erfreut, daß ich ihm als dem echten und geeigneten Freunde<br />
diese befriedigende Belehrung schuldig werde.<br />
Und so mit aufrichtigen Wünschen und dringen<strong>der</strong> Empfehlung<br />
We<strong>im</strong>ar, den 16. Mai 1821<br />
Goethe―<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 74<br />
Die große Bedeutung von Alexan<strong>der</strong> HUMBOLDTs „Kosmos“ liegt<br />
nicht nur in <strong>der</strong> ungewöhnlichen Fülle <strong>der</strong> Einzelheiten aus den<br />
verschiedensten Gebieten in <strong>der</strong> Naturwissenschaften, son<strong>der</strong>n beruht<br />
vielmehr auf <strong>der</strong> Gesamtschau <strong>der</strong> Natur, <strong>der</strong> Ordnung und<br />
Zusammenfassung <strong>der</strong> zerstreuten Beobachtungen und Erfahrungen.<br />
Wie Goethe, dem es wie Humboldt nicht so sehr allein darum ging<br />
„Neues zu entdecken, son<strong>der</strong>n … das Entdeckte nach meiner [Goethes]<br />
Art anzusehen.― „Anschauende Urteilskraft― überschrieb er den Aufsatz,<br />
in dem er seine intuitive Geistesrichtung als das Bestreben<br />
kennzeichnete, „daß wir uns durch das Anschauen einer <strong>im</strong>mer<br />
schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen<br />
würdig machten.―<br />
Noch engeren Kontakt hatte Goethe zu Alexan<strong>der</strong>s etwas jüngerem<br />
Bru<strong>der</strong> Wilhelm von HUMBOLDT, 1767-1835, dem großen<br />
Sprachforscher, Politiker und Philosophen. Im Dezember 1831 schreibt<br />
ihm Goethe:<br />
„…Im Allgemeinen kann ich wohl sagen, daß das Gewahrwerden<br />
großer produktiver Naturmax<strong>im</strong>en uns durchaus nötigt, unsere<br />
Untersuchungen bis ins Allereinzelnste fortzusetzen, wie ja die letzten<br />
Verzweigungen <strong>der</strong> Arterien mit ihren verschwisterten Venen ganz am<br />
Ende <strong>der</strong> Fingerspitzen zusammentreffen.<br />
Im Beson<strong>der</strong>en aber darf ich wohl sagen, daß ich Ihnen oft näher<br />
geführt werde, als Sie wohl denken, indem, die Unterhaltungen mit<br />
RIEMER gar oft aufs Wort, dessen etymologische Bedeutung, Bildung<br />
und Umbildung, Verwandtschaft und Fremdheit hingeführt werden.<br />
Ihrem Herrn Bru<strong>der</strong>, für den ich keinen Beinamen finde, bin ich für<br />
einige Stunden offner freundlicher Unterhaltung höchlich dankbar<br />
geworden. Denn obgleich seine Ansichten <strong>der</strong> geologischen<br />
Gegenstände aufzunehmen und darnach zu operieren meinem<br />
Zerebralsystem ganz unmöglich wird, so hab’ ich mit wahrem Anteil und<br />
Bewun<strong>der</strong>ung gesehen, wie dasjenige, wovon ich mich nicht<br />
überzeugen kann, bei ihm folgerecht zusammenhängt und mit <strong>der</strong><br />
ungeheueren Masse seiner Kenntnisse in eins greift, wo es denn durch<br />
seinen unschätzbaren Charakter zusammengehalten wird.<br />
Darf ich mich, mein Verehrtester, in altem Zutrauen ausdrücken, so<br />
gesteh’ ich gern, daß in meinen hohen Jahren mir alles mehr und mehr<br />
historisch wird: ob etwas in <strong>der</strong> vergangenen <strong>Zeit</strong>, in fernen Reichen<br />
o<strong>der</strong> mir ganz nah räumlich <strong>im</strong> Augenblicke vorgeht, ist ganz eins, ja ich<br />
erscheine mir selbst <strong>im</strong>mer mehr und mehr geschichtlich; und da mir<br />
meine gute Tochter abends den PLUTARCH [sic! Die „Mütter―!] vorliest,<br />
so komm’ ich mir oft lächerlich vor, wenn ich meine Biographie in dieser<br />
Art und Sinn erzählen sollte.<br />
Verzeihen Sie mir <strong>der</strong>gleichen Äußerungen! Im Alter wird man<br />
redselig, und da ich diktiere, kann mich diese Naturbest<strong>im</strong>mung gar wohl<br />
auch überraschen.<br />
Von meinem Faust ist viel und wenig zu sagen; gerade zu einer<br />
günstigen <strong>Zeit</strong> fiel mir das Diktum ein:<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 75<br />
Gebt ihr euch einmal für Poeten,<br />
So kommandiert die Poesie;<br />
Und durch eine gehe<strong>im</strong>e psychologische Wendung, welche vielleicht<br />
näher zu studiert zu werden verdient, glaube ich mich zu einer Art<br />
Produktion erhoben zu haben, welche bei völligem Bewußtsein<br />
dasjenige hervorbrachte, was ich jetzt noch selbst billige, ohne vielleicht<br />
jemals in diesem Flusse wie<strong>der</strong> schw<strong>im</strong>men zu können, ja was<br />
Aristoteles [sic!] und an<strong>der</strong>e Prosaisten einer Art von Wahnsinn<br />
zuschreiben würden.<br />
Die Schwierigkeit des Gelingens bestand darin, daß <strong>der</strong> zweite Teil<br />
des Faust, dessen gedruckten Partien Sie vielleicht einige<br />
Aufmerksamkeit geschenkt haben, seit fünfzig Jahren in seinen<br />
Zwecken und Motiven durchgedacht und fragmentarisch, wie mir eine<br />
o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Situation gefiel, durchgearbeitet war, das Ganze aber<br />
lückenhaft blieb.<br />
Nun hat <strong>der</strong> Verstand an dem zweiten Teile mehr For<strong>der</strong>ung als an<br />
dem ersten, und in diesem Sinne mußte dem vernünftigen Leser mehr<br />
entgegengearbeitet werden, wenn ihm auch noch an Übergängen zu<br />
supplieren genug übrigblieb.<br />
Das Ausfüllen gewisser Lücken war sowohl für historische als<br />
ästhetische Stetigkeit nötig, welches ich so lange fortsetzte, bis ich<br />
endlich für rätlich hielt hier auszurufen:<br />
Schließet den Wäss’rungskanal, genugsam tranken die Wiesen!<br />
Und nun mußte ich mir ein Herz nehmen, das geheftete Exemplar, worin<br />
Gedrucktes und Ungedrucktes in einan<strong>der</strong> geschoben sind, zu<br />
versiegeln, damit ich nicht etwa hie und da weiter auszuführen in<br />
Versuchung käme; wobei ich freilich bedaure, daß ich es – was <strong>der</strong><br />
Dichter doch so gern tut – meinen wertesten Freunden nicht mitteilen<br />
kann.<br />
Eine Übersetzung meiner Metamorphose <strong>der</strong> Pflanzen von Herrn<br />
SORET [ins Französische] mit einem Nachtrag sende ich nicht, es<br />
müßte denn sein, daß gewisse Lebenskonfessionen Ihrer Freundschaft<br />
genug täten. Ich bin neuerer <strong>Zeit</strong> in diese Naturerscheinungen mehr und<br />
mehr verstrickt worden; sie haben mich zum Fortarbeiten in meinem<br />
uranfänglichen Felde angelockt und zuletzt darin zu verharren genötigt.<br />
Wir wollen sehen, was auch da zu tun ist, und das übrige <strong>der</strong> Folgezeit<br />
überlassen, <strong>der</strong> wir, unter uns gesagt, ein beschwerlicheres Tagewerk<br />
zuschieben, als man glauben sollte.<br />
Lassen Sie uns bei<strong>der</strong>seits von <strong>Zeit</strong> zu <strong>Zeit</strong> einen Anklang<br />
fortwährenden Daseins nicht vermissen.<br />
We<strong>im</strong>ar, den 1. Dezember 1831<br />
G.―<br />
Darauf antwortet Wilhelm von HUMBOLDT am 6. Januar 1832 von<br />
Tegel (jetzt Berlin) Goethe <strong>im</strong> letzten Brief vor seinem Tode. Auch dieser<br />
Brief soll <strong>im</strong> wesentlichen wegen seines Inhalts hier so wie<strong>der</strong>gegeben<br />
werden, wie er mir in einer Brief-Auswahl von Julius BAB: „Goethes<br />
Leben in seinen Briefen― in zwei Bänden von 1949 vorliegt:<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 76<br />
„Die Güte, mit welcher Sie, verehrtester Freund, so unbedeutende<br />
Zeilen, als es die meinigen waren, einer so schönen und ausführlichen<br />
Antwort gewürdigt haben, hat mich aufs tiefste gerührt, und ich bringe<br />
Ihnen mit meinen innigsten Wünschen zum neubegonnenen Jahre<br />
meinen wärmsten Dank dar. Es hat mich unendlich gefreut, aus Ihrem<br />
Briefe zu sehen, daß Sie gesund, heiter mit Ideen beschäftigt und rüstig<br />
zu je<strong>der</strong> schönsten und gelingendsten Hervorbringung sind. Auch ich bin<br />
wohl und mehr als je zur Arbeit aufgelegt. Viel davon schreibe ich<br />
allerdings <strong>der</strong> Nordsee (denn für die baltische Schwester habe ich nur<br />
geringen Respect) zu. Indeß ist es mir auch, als wäre ich mehr, als je<br />
bisher <strong>der</strong> Fall war, auf den Punkt gekommen, auf den sich alle meine<br />
früheren Arbeiten und Studien in Eins zusammenziehen. …<br />
Die Stelle Ihres Briefes über den Faust hat mich aufs höchste<br />
interessiert. Ich schicke Ihnen dieselbe in Abschrift zurück, weil Sie<br />
gewiß keine behalten haben und die Sache zu wichtig ist, um nicht<br />
künftig darauf zurückzukommen. Versuchen Sie doch einmal, ob Sie (da<br />
dies in <strong>der</strong> Stelle mir dunkel bleibt) aus Ihrer Erinnerung entnehmen<br />
können, ob Ihnen jene Art <strong>der</strong> Production mit völligem Bewußtsein wol<br />
<strong>im</strong>mer beigewohnt hat, o<strong>der</strong> ob Sie dieselbe als erst in einer gewissen<br />
Epoche eingetreten betrachten? Ich möchte, wenn auch natürlich <strong>im</strong><br />
Grade Verschiedenheiten gewesen sein mögen, an das erstere glauben.<br />
Der Aristotelische Ausdruck wenigstens, wenn man ihn auch noch so<br />
sehr als ein bloßes Extrem ansieht, hat gewiß niemals auf Sie gepaßt<br />
und paßt auf keines Ihrer Werke, auch nicht auf den Werther und den<br />
Götz. Ihre Dichtung stammte von jeher aus Ihrer ganzen Natur – und<br />
Weltansicht. Daß diese in Ihnen nur eine dichterische sein konnte, und<br />
daß Ihre Dichtung durch den ganzen Natur- und Weltzusammenhang<br />
bedingt sein mußte, darin liegt Ihre Individualität. Ich möchte daher Ihre<br />
Dichtung eine solche nennen, die sich verhältnismäßig nur langsam aus<br />
dem mächtigen Stoffe entwickeln konnte, und die Sie in keiner Periode<br />
Ihres Lebens unterlassen konnten, sich möglicherweise verständlich zu<br />
machen. Denn wenn Sie auch nicht dies Streben auf Ihre Dichtung<br />
selbst richteten, so mußten Sie dasselbe doch, durch Ihre Natur selbst<br />
gezwungen, auf das noch tiefere und ungeheuere Element richten,<br />
welches Ihrer Dichtung in Ihnen zu Grunde lag [AR]. Sie sehen<br />
liebster Freund, daß ich hier ganz eigentlich von dem Wesen <strong>der</strong><br />
Dichtungskraft, nicht von <strong>der</strong>, obgleich allerdings auch davon<br />
abhängigen Form <strong>der</strong> Dichtungswerke rede. Das klare Bewußtsein über<br />
diese könnte allerdings und ist wol unbezweifelterweise später<br />
eingetreten, obgleich auch das vielleicht an<strong>der</strong>s sein könnte. Denn es<br />
hat mir in jener glücklichen <strong>Zeit</strong>, wo ich mit Ihnen und SCHILLER<br />
zusammen lebte, <strong>im</strong>mer geschienen, daß Sie um kein Haar weniger<br />
(wenn Sie mir den Ausdruck erlauben) eine philosophirende und<br />
grübelnde Natur waren, als er. Nur war er zugleich mehr eine<br />
dialektische, da es gerade in <strong>der</strong> Ihrigen liegt, nichts durch die Dialektik<br />
für abgemacht zu halten. Wenn also sich in ihm Meinung, Max<strong>im</strong>e,<br />
Grundsatz, Theorie überhaupt schnell gestaltete und in Wort überging,<br />
auch wie<strong>der</strong> in an<strong>der</strong>er <strong>Zeit</strong> umgestaltete, so fanden Sie bei dem<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 77<br />
gleichen Bestreben sich mehr gehemmt, weil Sie allerdings etwas<br />
An<strong>der</strong>es und schwerer zu Erreichendes, ja eigentlich wol nicht an<strong>der</strong>s,<br />
als in ewiger Annäherung zu Erreichendes for<strong>der</strong>ten …<br />
Was Ihre Werke an Fortsetzungen des Fausts enthalten, habe ich<br />
natürlich oft und mit größten Genusse gelesen, auch oft versucht, mir es<br />
als ein Ganzes vorzustellen. Es bleiben aber da natürlich noch viele<br />
Lücken und man geräth auch wol auf irrige Ausfüllungen. Schon das<br />
steigert das Verlangen, den Knoten von Ihnen selbst gelöst zu sehen,<br />
und es ist schon darum Ihre Maßregel des Versiegelns ein wahrhaft<br />
grausames Beginnen. Ich weiß auch nicht einmal, ob es dem Zecke<br />
entspricht, den Sie dabei zu haben scheinen, nicht mehr in die<br />
Versuchung zu gerathen, weiter daran zu arbeiten. Solche ein<br />
versiegeltes Manuscript gleicht einem Testament, das man <strong>im</strong>mer<br />
zurücknehmen kann, dagegen stellt nichts ein eigenes Product dem<br />
Verfasser so außer sich und reißt es von ihm los, als <strong>der</strong> Druck. Wenn<br />
ich Sie recht verstehe, daß Sie es wirklich nicht erleben wollen, den<br />
Faust zusammen gedruckt zu sehen, so beschwöre ich Sie wirklich,<br />
diesen Vorsatz wie<strong>der</strong> aufzugeben. Berauben Sie sich selbst nicht des<br />
Genusses, denn ein solcher ist es doch, eine Dichtung hinzustellen, die<br />
schon so tief empfunden worden ist, und nun in einem noch höheren<br />
Sinne aufgenommen werden muß, berauben Sie aber vorzüglich die<br />
nicht <strong>der</strong> Freude, das Ganze zu kennen, die den Gedanken nicht<br />
ertragen mögen, Sie zu überleben.<br />
Noch hat mich in Ihrem Briefe die Stelle über das Geschichtliche sehr<br />
beschäftigt, aber <strong>der</strong> meinige ist schon überlang geworden, und zu<br />
große Länge <strong>der</strong> Briefe thut leicht ihrer Häufigkeit Eintrag und doch<br />
wünsche ich herzlich, nach so langem Schweigen, daß wir von jetzt an<br />
oft voneinan<strong>der</strong> hörten. Erfüllen Sie, verehrtester Freund, diese Bitte und<br />
leben Sie innigst wohl.<br />
Mit <strong>der</strong> liebevollsten Verehrung <strong>der</strong> Ihrige<br />
Humboldt―.<br />
5 Tage vor seinem Tode schrieb Goethe an Wilhelm von HUMBOLDT<br />
noch folgenden Brief, <strong>der</strong> das letzte Mal Goethes tiefste Überzeugung<br />
von <strong>der</strong> Gewalt und Dämonie des Angeborenen <strong>im</strong> Menschen zum<br />
Ausdruck bringen sollte:<br />
„ Nach einer langen unwillkürlichen Pause beginne folgen<strong>der</strong>maßen<br />
und doch nur aus dem Stegreife. Die Tiere werden durch Organe<br />
belehrt, sagten die Alten; ich setze hinzu: die Menschen gleichfalls, sie<br />
haben jedoch den Vorzug ihre Organe dagegen wie<strong>der</strong> zu belehren.<br />
Zu jedem Tun, daher zu jedem Talent, wird ein Angeborenes<br />
gefor<strong>der</strong>t, das von selbst wirkt und die nötigen Anlagen unbewußt<br />
mit sich führt, deswegen auch so geradehin fortwirkt, daß, ob es<br />
gleich die Regel in sich hat, es doch zuletzt ziel- und zwecklos<br />
ablaufen kann.“<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 78<br />
[Noch einmal sagt er hier, was er 15 Jahre vorher schon in den<br />
„Urworten― <strong>der</strong> Dämon-Strophe ausgesprochen hat:<br />
Bist alsobald und fort und fort gediehen,<br />
Nach dem Gesetz wonach du angetreten.<br />
So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen.]<br />
Je früher <strong>der</strong> Mensch gewahr wird, daß es ein Handwerk, daß es eine<br />
Kunst gibt, die ihm zur geregelten Steigerung seiner natürlichen Anlagen<br />
verhelfen, desto glücklicher ist er;<br />
was er auch von außen empfange, schadet seiner eingebornen<br />
Individualität nichts.<br />
[Und keine <strong>Zeit</strong> und keine Macht zerstückelt<br />
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt. ]<br />
Das beste Genie ist das, welches alles in sich aufn<strong>im</strong>mt, sich alles<br />
zuzueignen weiß, ohne daß es <strong>der</strong> eigentlichen Grundbest<strong>im</strong>mung,<br />
demjenigen, was man Charakter nennt, <strong>im</strong> mindesten Eintrag tue,<br />
vielmehr solches noch erst recht erhebe und durchaus nach Möglichkeit<br />
befähige.<br />
Hier treten nun die mannigfaltigen Bezüge ein zwischen dem<br />
Bewußten und Unbewußten; denke man sich ein musikalisches Talent,<br />
das eine bedeutende Partitur aufstellen soll: Bewußtsein und<br />
Bewußtlosigkeit werden sich verhalten wie Zettel und Einschlag, ein<br />
Gleichnis, das ich so gerne brauche.<br />
Die Organe des Menschen, durch Übung, Lehre, Nachdenken,<br />
Gelingen, Mißlingen, För<strong>der</strong>nis und Wi<strong>der</strong>stand und <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong><br />
Nachdenken, verknüpfen ohne Bewußtsein in einer freien Tätigkeit das<br />
Erworbene mit dem Angebornen, so daß es eine Einheit hervorbringt,<br />
welche die Welt in Erstaunen setzt.<br />
Dieses Allgemeine diene zu schneller Beantwortung <strong>der</strong> Frage und zur<br />
Erläuterung des wie<strong>der</strong> zurückkehrenden Blättchens.<br />
Es sind über sechzig Jahre, daß die Konzeption des Faust bei mir<br />
jugendlich von vorne herein klar, die ganze Reihenfolge hin weniger<br />
ausführlich vorlag. Nun hab’ ich die Absicht <strong>im</strong>mer sachte neben mir<br />
hergehen lassen und nur die mir gerade interessantesten Stellen einzeln<br />
durchgearbeitet, so daß <strong>im</strong> zweiten Teil Lücken blieben, durch ein<br />
gleichmäßiges Interesse mit den Übrigen zu verbinden. Hier trat nun<br />
freilich die große Schwierigkeit ein, dasjenige durch Vorsatz und<br />
Charakter zu erreichen, was eigentlich <strong>der</strong> freiwillig tätigen Natur allein<br />
zukommen sollte. Es wäre aber nicht gut, wenn es nicht auch nach<br />
einem so langen, tätig nachdenkenden Leben möglich geworden wäre,<br />
und ich lasse mich keine Furcht angehen, man werde das Ältere vom<br />
Neueren, das Spätere vom Früheren unterscheiden können, welches wir<br />
denn den künftigen Lesern zur geneigten Einsicht übergeben wollen.<br />
Ganz ohne Frage würd’ es mir unendliche Freude machen meinen<br />
werten, durchaus dankbar anerkannten, weit verteilten Freunden auch<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 79<br />
bei Lebzeiten diese sehr ernsten Scherze zu widmen, mitzuteilen und<br />
ihre Erwi<strong>der</strong>ung zu vernehmen. Der Tag aber ist wirklich so absurd und<br />
konfus, daß ich mich überzeuge, meine redlichen, lange verfolgten<br />
Bemühungen um dieses seltsame Gebäu würden schlecht belohnt und<br />
an den Strand getrieben, wie ein Wrack in Trümmern daliegen und von<br />
dem Dünenschutt <strong>der</strong> Stunden zunächst überschüttet werden.<br />
Verwirrende Lehre zu verwirrtem Handel waltet über die Welt, und ich<br />
habe nichts angelegentlicher zu tun, als dasjenige, was an mir ist und<br />
geblieben ist, wo möglich zu steigern und meine Eigentümlichkeit zu<br />
kohobieren, wie Sie es, würdiger Freund, auf Ihrer Burg ja auch<br />
bewerkstelligen,<br />
Teilen Sie mir deshalb auch etwas von Ihren Arbeiten mit; RIEMER ist,<br />
wie Sie wohl wissen, an die gleichen und ähnlichen Stunden geheftet,<br />
und unsere Abendgespräche führen oft auf die Grenzen dieses Faches.<br />
Verzeihung diesem verspäteten Blatte! Ohngeachtet meiner<br />
Abgeschlossenheit findet sich selten eine Stunde, wo man sich diese<br />
Gehe<strong>im</strong>nisse des Lebens vergegenwärtigen mag.<br />
treu angehörig<br />
We<strong>im</strong>ar, den 17. März 1832<br />
J. W. v. Goethe „<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
2.3 Goethes Vorausschau – kurz vor seinem Tode (1832)<br />
Fachleute sind <strong>im</strong>mer böse, wenn einem Laien etwas einfällt,<br />
was ihnen nicht eingefallen ist.<br />
(John STEINBECK)<br />
Goethes allerletztes veröffentliche Werk ist nicht <strong>der</strong> Abschluß seines<br />
Faust II, den er <strong>im</strong> Sommer 1831 zum endgültigen Abschluß brachte. Im<br />
Frühjahr 1832, nur wenige Tage vor seinem Tode vollendete er noch<br />
sein allerletztes Werk, das ihm ein Herzensanliegen war.<br />
Dieses Werk war eigentlich eine umfassende Rezension zu einer<br />
Abhandlung des Franzosen Etienne GEOFFROY de SAINT-HILAIRE,<br />
1772-1844, zu dem ihn eine Geistesverwandtschaft des methodischen<br />
Schauens und Forschens auf engste verband. Goethe gab dieser<br />
rezensierende Abhandlung deshalb auch den französischen Titel <strong>der</strong><br />
Abhandlung von GEOFFROY de SAINT-HILAIRE: „Principes de<br />
Philosophie Zoologique. Discutés en Mars 1830 au sein de l’académie<br />
royale de sciences par Mr. Geoffroy de Saint-Hilaire Paris 1830―. Die<br />
Pariser Akademie <strong>der</strong> Wissenschaften waren <strong>der</strong> Austragungsort eines<br />
mehrwöchigen Streites vom 15. 2.- 5.4. 1830 zwischen Baron Georges<br />
CUVIER, 1769-1832, und seinem französischen Landsmann ETIENNE<br />
GEOFFROY de SAINT-HILAIRE 1772-1844. Beide waren sehr<br />
angesehen Naturforscher mit allerdings recht unterschiedlichen<br />
Forschungsmethoden und Betrachtungsweisen, die seit langem die<br />
europäische Naturforschung und Naturphilosophie ihrer Kollegen<br />
schieden. CUVIER vertrat die analysierende, GEOFFROY de SAINT-<br />
HILAIRE die synthetisierende Richtung. Dieser Akademiestreit über<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
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die grundsätzlichen Forschungsmethoden fand auch ein<br />
überraschendes öffentliches Interesse in <strong>der</strong> französischen und<br />
internationalen Presse. Er fand gerade statt, als die französische<br />
Julierevolution sich ihrem Höhepunkt näherte. Frédéric Jacob SORET,<br />
1795-1865, seinerzeit Erzieher am We<strong>im</strong>arer Hof, schil<strong>der</strong>t anekdotisch<br />
wie sich Goethe viel mehr für den Akademiestreit in Paris interessiert<br />
hat, als für die gärende St<strong>im</strong>mung <strong>im</strong> Vorfeld <strong>der</strong> schicksalhaften<br />
Französischen Julirevolution. – nachzulesen in „ECKERMANNs<br />
Gesprächen mit Goethe― vom 2. August 1830 (2.Band).<br />
Goethe spricht damals: „Jetzt ist nun auch GEOFFROY de ST.<br />
HILAIRE entschieden auf unserer Seite und mit ihm alle seine<br />
bedeutenden Schüler und Anhänger Frankreichs. Dieses Ereignis ist für<br />
mich von ganz unglaublichem Wert, und ich juble mit Recht über den<br />
endlich erlebten allgemeinen Sieg einer Sache, <strong>der</strong> ich mein Leben<br />
gewidmet habe [sic!] und die ganz vorzüglich auch die meinige ist!―<br />
Im wesentlichen handelte es sich bei jener entscheidenden<br />
Akademiesitzung um die strittige Frage, ob Pflanzen- und Tierarten<br />
konstant sind o<strong>der</strong> nicht. Georges CUVIER, ein berühmter Anatom,<br />
vertrat beharrlich nach wie vor die Lehre von <strong>der</strong> Konstanz <strong>der</strong> Arten,<br />
während GEOFFROY de ST. HILAIRE ihm entgegentrat und sich für die<br />
Entwicklung <strong>der</strong> Arten einsetzte. Der große schwedische<br />
Naturforscher Karl von LINNÈ, 1707-1778, <strong>der</strong> Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
biologischen Wissenschaften, hatte zu Mitte des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts in<br />
beson<strong>der</strong>s scharfer Weise die Lehre von <strong>der</strong> Konstanz <strong>der</strong> Arten betont:<br />
Species tot sunt, quot formae ab initio create sunt. Das will heißen: Alle<br />
Pflanzen- und Tierarten sind in <strong>der</strong>selben Gestalt, in welcher sie uns<br />
heute umgeben, vor Jahrtausenden aus <strong>der</strong> Hand des Schöpfers<br />
hervorgegangen und er stand damit ganz auf dem Boden <strong>der</strong> biblischen<br />
Schöpfungsgeschichte. Je tiefer man aber be<strong>im</strong> Studium <strong>der</strong> Erdrinde<br />
ins Innere eindrang, um so mehr kam man zur Überzeugung, daß Tiere<br />
und Pflanzen nicht zu allen <strong>Zeit</strong>en dieselben gewesen sind. Zeigten<br />
doch übereinan<strong>der</strong>lagernde Erdschichten Reste so ganz verschiedener<br />
Lebewesen, daß <strong>der</strong> Gedanke einer <strong>im</strong> Laufe <strong>der</strong> Erdgeschichte<br />
zustande gekommenen Umbildung <strong>der</strong> Organismuswelt bald festere<br />
Gestalt annehmen mußte. Es war hier auch beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> englische<br />
Geologe Charles LYELL, 1797-1875, welcher an <strong>der</strong> Hand einer langen<br />
Reihe von Tatsachen in meisterhaften Weise darlegte, daß die<br />
Anschauung CUVIERs nicht zu Recht bestand. CUVIER glaubte anhand<br />
<strong>der</strong> Fossilfunde, daß verschiedene Erdperioden miteinan<strong>der</strong><br />
abgewechselt haben mußten. Jede einzelne Periode sollte durch eine<br />
große Katastrophe (Erdbeben, Flut) beschlossen worden sein, worauf<br />
<strong>der</strong> Schöpfer dann <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> neue Organismenwelten geschaffen<br />
hat. Zuletzt glaubte CUVIER sogar an zehn solche neue<br />
Schöpfungsakte. Hier trat nun GEOFFROY de ST. HILAIRE auch gegen<br />
CUVIER auf. „Er behauptete die Verän<strong>der</strong>lichkeit <strong>der</strong> organischen<br />
Species, die gemeinschaftliche Abstammung <strong>der</strong> einzelnen Arten<br />
von gemeinsamen Stammforen, und die Einheit <strong>der</strong> Organisation,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
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o<strong>der</strong> die Einheit des Bauplanes, wie man sich damals ausdrückte.―<br />
(zitiert nach Ernst HAECKEL, lt. „Natürliche Schöpfungsgeschichte―,<br />
1879).<br />
Ohne genauer auf die Lebensgeschichte dieser beiden französischen<br />
Forscher einzugehen, die Goethe eingehend beschreibt, wollen wir hier<br />
nur noch einige von Goethes Gedanken aus seiner letzten Arbeit<br />
wie<strong>der</strong>geben:<br />
„CUVIER arbeitet unermüdlich als Unterscheiden<strong>der</strong>, das Vorliegende<br />
genau Beschreiben<strong>der</strong> und gewinnt sich eine Herrschaft über eine<br />
unermeßliche Breite. GEOFFROY de SAINT-HILAIR hingegen ist <strong>im</strong><br />
stillen um die Analogien <strong>der</strong> Geschöpfe und ihrer gehe<strong>im</strong>nisvollen<br />
Verwandtschaften [sic!] bemüht; jener geht aus dem Einzelnen in ein<br />
Ganzes, welches zwar vorausgesetzt, aber als nie erkennbar betrachtet<br />
wird; dieser hegt das Ganze <strong>im</strong> inneren Sinne und lebt in <strong>der</strong><br />
Überzeugung fort: das Einzelne könne daraus nach und nach entwickelt<br />
[sic!] werden. […] Denn eine Voranschauung, Vorahnung des Einzelnen<br />
<strong>im</strong> Ganzen will <strong>der</strong> Trennende, Unterscheidende, auf <strong>der</strong> Erfahrung<br />
Beruhende, von ihr Ausgehende nicht zugeben. Dasjenige erkennen<br />
und kennen zu wollen, was man nicht mit Augen sieht, was man nicht<br />
greifbar darstellen kann, erklärt er nicht undeutlich für eine Anmaßung.<br />
Der an<strong>der</strong>e jedoch, auf gewisse Grundsätze haltend, einer hohen<br />
Leitung sich überlassend, will die Autorität jener Behandlungsweise nicht<br />
gelten lassen.―<br />
Der Augenmensch Goethe ist hier durchaus bereit, einem Grundsatz,<br />
einem einheitlichem „Bauplan―, einer erkannten Leitidee, <strong>der</strong> „Würde des<br />
Gesetzes― (Goethe), die er noch nicht mit „Augen sehen― kann,<br />
gegenüber einem sichtbaren Objekt den Vorrang einzuräumen! So<br />
prophezeite er auch das Vorhandensein des Zwischenkieferknochens<br />
(des „Schnauzenknochens―) be<strong>im</strong> Menschen, da dieser in die Reihe <strong>der</strong><br />
Wirbeltiere zweifelsfrei als Entwicklungsglied hineingehören müßte, als<br />
er ihn noch nicht sehen konnte. Diese Voraussage hat sich dann<br />
bekanntlich auch gegen den anfänglichen Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> bekanntesten<br />
europäischen Zoologen bestätigt, die <strong>im</strong> Fehlen des<br />
Zwischenkieferknochens geradezu einen Beweis dafür sehen wollten,<br />
daß <strong>der</strong> Mensch nicht in die Entwicklungsreihe <strong>der</strong> Säugetiere<br />
hineingehöre und auch anatomisch einen einmaligen Son<strong>der</strong>status<br />
habe.<br />
„Haben wir die Geschichte <strong>der</strong> Wissenschaften und eine lange<br />
Erfahrung vor Augen, so möchte man befürchten, die menschliche Natur<br />
werde sich von diesem Zwiespalt kaum jemals retten können.― Nun, die<br />
weitere Entwicklung <strong>der</strong> Chemie, für die Goethe auch lebenslänglich ein<br />
starkes Interesse zeigte - in Jena gründete er als We<strong>im</strong>arer Minister<br />
den ersten Lehrstuhl für Chemie in Deutschland – ließ die Berechtigung<br />
bei<strong>der</strong> Betrachtungs- und Forschungsmethoden in <strong>der</strong> analytischen und<br />
synthetischen (organischen) Chemie ganz offensichtlich erkennen; -<br />
aber auch den Wert von bloß gedachten Strukturvorstellungen<br />
(wie später z. B. August KEKULÈs Benzolring!).<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
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Den I. Abschnitt seiner Abhandlung beschließt Goethe mit einer<br />
„Begründung― zu seiner rezensierenden Arbeit. Goethe sagt: „Nun aber<br />
möchte man wohl fragen; welche Ursache, welche Befugnis hat <strong>der</strong><br />
Deutsche, von diesem Streit nähere Kenntnis zu nehmen? Ja vielleicht<br />
als Partei sich zu irgendeiner Seite zu gesellen? Darf man aber wohl<br />
behaupten, daß jede wissenschaftliche Frage, wo sie auch zur Sprache<br />
komme, jede gebildete Nation interessiere, wie man denn auch wohl die<br />
szientifische [wissenschaftliche] Welt als einen einzigen Körper<br />
betrachten darf, so ist hier nachzuweisen, daß wir diesmal beson<strong>der</strong>s<br />
aufgerufen sind.<br />
GEOFFROY de SAINT-HILAIRE nennt mehrere deutsche Männer als<br />
mit ihm in gleicher Gesinnung begriffen; Baron CUVIER dagegen<br />
scheint von unsern deutschen Bemühungen in diesem Felde die<br />
ungünstigsten Begriffe sich gebildet zu haben; es äußert sich <strong>der</strong>selbe in<br />
einer Eingabe vom 5. April folgen<strong>der</strong>maßen: ―Ich weiß wohl, ich weiß,<br />
daß für gewisse Geister hinter dieser Theorie <strong>der</strong> Analogien, wenigstens<br />
verworrenerweise, eine an<strong>der</strong>e, sehr alte Theorie sich verbergen mag,<br />
die, schon längst wi<strong>der</strong>legt, von einigen Deutschen wie<strong>der</strong><br />
hervorgesucht worden, um das pantheistische System zu begünstigen,<br />
welches sie<br />
N a t u r philosophie nennen.― Diese Äußerung Wort zu Wort zu<br />
kommentieren, den Sinn <strong>der</strong>selben deutlich zu machen, die fromme<br />
Unschuld deutscher Naturdenker klar hinzulegen, bedürfte es wohl auch<br />
eines Oktavbändchens; wir wollen in <strong>der</strong> Folge suchen, auf die kürzeste<br />
Weise unsern Zweck zu erreichen. […]<br />
Die deutschen Naturforscher, welche bei dieser Gelegenheit genannt<br />
werden, sind: KIELMEYER, MECKEL, OKEN, SPIX, TIEDEMANN, und<br />
zugleich werden unsrer Teilnahme [Goethes] an diesen Studien dreißig<br />
Jahre zugestanden. Allein ich darf wohl behaupten, daß es über fünfzig<br />
sind, die uns schon mit wahrhafter Neigung an solche Untersuchungen<br />
gekettet sehen. Kaum erinnert sich noch jemand außer mir jener<br />
Anfänge, und mir sei gegönnt, hier jener treuen Jugendforschungen zu<br />
erwähnen, wodurch sogar einiges Licht auf gegenwärtige Streitigkeiten<br />
fallen könnte. „Ich lehre nicht, ich<br />
erzähle.“ (MONTAIGNE).― Damit endet <strong>der</strong> I. Abschnitt von Goethes<br />
Abhandlung, den er schon <strong>im</strong> September 1830 abgeschlossen hatte.<br />
Der Hallenser Anatom Johann MECKEL, 1781-1833, hatte eine<br />
ähnliche Theorie <strong>der</strong> Schädelentstehung wie Goethe aufgestellt, über<br />
die er recht günstig urteilte. Ein anatomisches Kabinett hatte schon<br />
MECKELs Vater aufgebaut. Johann MECKEL gehörte einer berühmten<br />
anatomischen Mediziner-Dynastie an, die in Generationen ihre<br />
Erfahrungen gesammelt hatten und weitergaben. Ihre<br />
Familiengeschichte war damals schon ein genealogischer<br />
Forschungsgegenstand, <strong>der</strong> heute interessante Ergebnisse erbracht hat,<br />
selbst eine Beziehung zur Goethe-Verwandtschaft ließ sich später<br />
nachweisen. Dasselbe gilt für Ernst HAECKEL, 1834-1919, den größten<br />
Biologen und Zoologen des ausgehenden 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts, einem Fels<br />
<strong>im</strong> politisch-religiös brandenden Kulturkampf, dessen Ahnenschaft und<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
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Seitenverwandtschaft (Ahnengemeinschaft) zu Goethe seit langem gut<br />
erforscht ist (siehe Ahnentafeln berühmter Deutscher 1. Band, 1932).<br />
Auf HAECKEL, den wissenschaftlichen Heißsporn und von einigen<br />
Kreisen bestgehaßten Mann, kommen wir hier <strong>im</strong> nächsten Kapitel<br />
ausführlich zu sprechen.<br />
Aus dem II. Abschnitt von Goethes Abhandlung, den Goethe erst<br />
wenige Tage vor seinem Tod abgeschlossen hatte, hier noch einige<br />
weitere typische Zitate, um vor allem Goethes organisch-dynamisches<br />
Denken zu belegen:<br />
„CUVIER hält sich entschieden und in einem systematisch ordnenden<br />
Sinne ans Einzelne; denn eine größere Übersicht leitet schon und nötigt<br />
zu einer Methode <strong>der</strong> Aufstellung. GEOFFROY, seiner Denkart gemäß,<br />
sucht ins Ganze zu dringen, aber nicht wie BUFFON ins Vorhandene,<br />
Bestehende, Ausgebildete, son<strong>der</strong>n ins Wirkende, Werdende, sich<br />
Entwickelnde. […] so tritt GEOFFROY bereits <strong>der</strong> großen abstrakten,<br />
von jenem nur geahneten Einheit näher, erschrickt nicht vor ihr und<br />
weiß, indem er sie auffaßt, ihre Ableitung zu seinem Vorteil zu nutzen.<br />
[…] Vielleicht kommt <strong>der</strong> Fall in <strong>der</strong> Geschichte des Wissens und <strong>der</strong><br />
Wissenschaft nicht wie<strong>der</strong> vor, daß an dem gleichen Ort, auf<br />
eben<strong>der</strong>selben Stelle, in bezug auf dieselben Gegenstände […] so<br />
höchst bedeutende Männer […] nicht durch den Gegenstand, son<strong>der</strong>n<br />
durch die Art ihn anzusehen bis zu feindseligem Wi<strong>der</strong>streit<br />
hingerissen, gegeneinan<strong>der</strong> auftreten. Ein so merkwürdiger Fall aber<br />
muß uns allen, muß <strong>der</strong> Wissenschaft selbst zum besten gereichen!<br />
Möge doch je<strong>der</strong> von uns bei dieser Gelegenheit sagen, daß Son<strong>der</strong>n<br />
und Verknüpfen zwei unzertrennliche Lebensakte sind. Vielleicht ist es<br />
besser gesagt: daß es unerläßlich ist, man möge wollen o<strong>der</strong> nicht, aus<br />
dem Ganzen ins Einzelne, aus dem Einzelnen ins Ganze zu gehen, und<br />
je lebendiger diese Funktionen des Geistes, wie Aus- und Einatmen,<br />
sich zusammen verhalten, desto besser wird für die Wissenschaften und<br />
ihre Freunde gesorgt sein.―<br />
Hier habe wir sie wie<strong>der</strong>, die große Lebenserkenntnis des greisen<br />
Dichter-Forschers: die Polarität! Welch an<strong>der</strong>er großer Gegenstand als<br />
die aufke<strong>im</strong>ende Entwicklungslehre könnte diese Polarität mit Goethes<br />
zweiter Lebenserkenntnis, <strong>der</strong> Steigerung des Lebendigen sinnhafter<br />
verbinden? „Die Organe komponieren sich nicht als vorher fertig, sie<br />
entwickeln sich aus- und aneinan<strong>der</strong> zu einem notwendigen, ins Ganze<br />
greifenden Dasein. Da mag denn von Funktion, Gestalt, Farbe, Maß,<br />
Masse, Gewicht o<strong>der</strong> von an<strong>der</strong>n Best<strong>im</strong>mungen, wie sie heißen mögen,<br />
die Rede sein, alles ist be<strong>im</strong> Betrachten und Forschen zulässig; das<br />
Lebendige geht ungestört seinen Gang, pflanzt sich weiter, schwebt,<br />
schwankt und erreicht zuletzt seine Vollendung.“<br />
Wie schön hat doch Goethes hier auch <strong>der</strong> gegnerischen<br />
Betrachtungsweise seine Berechtigung ausgleichend ausgesprochen<br />
und damit sein Harmoniebedürfnis bekundet. Es liegt aber nahe, daß<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
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Goethe in dieser letzten Arbeit auch nochmals auf die<br />
Wissenschaftsgeschichte des von ihm entdeckten<br />
Zwischenkieferknochens eingeht und dabei auch eine menschliche<br />
Schwäche <strong>der</strong> Gelehrten zur Sprache bringt. Dabei wird <strong>der</strong> bekannte<br />
hier nachfolgende Ausspruch Goethes an einem Wissenschaftler <strong>der</strong><br />
Anatomie verständlich, einem Gebiet wo Goethe recht behalten sollte<br />
(<strong>im</strong> Gegensatz zu seinem an<strong>der</strong>en naturwissenschaftlichen,<br />
jahrzehntelangem Lieblingsgebiet: <strong>der</strong> Farbenlehre):<br />
Goethe zu ECKERMANN am 30. 12. 1823: „Ich habe durch nichts die<br />
Menschen besser kennen gelernt als durch meine wissenschaftlichen<br />
Bestrebungen. Ich habe es mich viel kosten lassen und es ist mit<br />
manchen Leiden verknüpft gewesen; aber ich freue mich dennoch die<br />
Erfahrung gemacht zu haben. Darauf ECKERMANN:― In den<br />
Wissenschaften scheint auf eine beson<strong>der</strong>e Weise <strong>der</strong> Egoismus <strong>der</strong><br />
Menschen angeregt zu werden; und wenn dieser einmal in Bewegung<br />
gesetzt ist, so pflegen sehr bald alle Schwächen des Charakters zum<br />
Vorschein zu kommen.― Goethe: „Die Fragen <strong>der</strong> Wissenschaft sind sehr<br />
häufig Fragen <strong>der</strong> Existenz. Eine einzige Entdeckung kann einen Mann<br />
berühmt machen und sein bürgerliches Glück begründen. Deshalb<br />
herrscht auch in den Wissenschaften diese große Strenge und dieses<br />
Festhalten und diese Eifersucht auf das Apercu eines an<strong>der</strong>en. Im<br />
Reiche <strong>der</strong> Ästhetik dagegen ist alles weit läßlicher; die Gedanken sind<br />
mehr o<strong>der</strong> weniger ein angeborenes Eigentum aller Menschen, wobei<br />
alles auf die Behandlung und Ausführung ankommt und billigerweise<br />
wenig Neid stattfindet. Ein einziger Gedanke kann das Fundament zu<br />
hun<strong>der</strong>t Epigrammen hergeben, und es fragt sich bloß, welcher Poet<br />
denn nun diesen Gedanken auf die wirksamste und schönste Weise zu<br />
versinnlichen gewußt habe.―<br />
Goethes „ wissenschaftlich-ambivalente „Zielscheibe― ist <strong>der</strong> seinerzeit<br />
sehr namhafte, ihm auch persönlich noch bekannt gewesene<br />
holländische Anatom Peter CAMPER, 1722-1789, den er zunächst<br />
wissenschaftlich sehr rühmt und dabei auch GEOFFROYs Urteil über<br />
ihn wie<strong>der</strong>gibt und dabei nochmals trefflich das Dynamische des<br />
Lebendigen einerseits und die Würde des Gesetzes an<strong>der</strong>erseits<br />
unterstreicht.<br />
GEOFFROY: „Ein weitumfassen<strong>der</strong> Geist, hochgebildet und <strong>im</strong>merfort<br />
nachdenkend; er hatte von <strong>der</strong> Übereinst<strong>im</strong>mung organischer Systeme<br />
so ein lebhaftes und tiefes Gefühl, daß er mit Vorliebe alle<br />
außerordentlichen Fälle aufsuchte, wo er einen Anlaß fände, sich mit<br />
Problemen zu beschäftigen, eine Gelegenheit, Scharfsinn zu üben, um<br />
sogenannte Anomalien auf die Regel zurückzuführen.― Goethe dazu:<br />
„Hier möchte nun <strong>der</strong> Ort sein zu bemerken, daß <strong>der</strong> Naturforscher auf<br />
diesem Wege am ersten und leichtesten den Wert, die Würde des<br />
Gesetzes, <strong>der</strong> Regel erkennen lernt. Sehen wir <strong>im</strong>merfort nur das<br />
Geregelte, so denken wir, es müsse so sein, von jeher sei es also<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 85<br />
best<strong>im</strong>mt und deswegen stationär. Sehen wir aber die Abweichungen,<br />
Mißbildungen, ungeheure Mißgestalten, so erkennen wir, daß die Regel<br />
zwar fest und ewig, aber zugleich lebendig sei, daß die Wesen zwar<br />
nicht aus <strong>der</strong>selben heraus, aber doch innerhalb <strong>der</strong>selben sich ins<br />
Unförmliche umbilden können, je<strong>der</strong>zeit aber, wie mit Zügeln<br />
zurückgehalten, die unausweichliche Herrschaft des Gesetzes<br />
anerkennen müssen.―<br />
Es drängen sich hier unwillkürlich die Schicksalsmächte seiner<br />
„Urworte“ auf:<br />
ΣΤΥΗ, das Zufällige versus ΔΑΙΜΩΝ, Dämon.<br />
Doch wie<strong>der</strong> zurück in die Nie<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> menschlichen Schwächen<br />
<strong>der</strong> Gelehrten.<br />
Ehe Goethe auf den ihn zu tieftst enttäuschenden Peter CAMPER in<br />
seiner Abhandlung näher eingeht, erwähnt er noch überaus lobend<br />
Samuel Thomas [von] SÖMMERING, 1755-130, Prof. <strong>der</strong> Anatomie<br />
und Chirurgie in Kassel und Johann Heinrich MERCK, 1741-1791,<br />
Kriegsrat in Darmstadt, Schriftsteller, Naturforscher und Jugendfreund<br />
Goethes. Über SÖMMERING schreibt Goethe: „Ein höchst fähiger, zum<br />
Schauen, Bemerken, Denken aufgeweckter lebendiger Geist. Seine<br />
Arbeit über das Gehirn und <strong>der</strong> höchst sinnige Ausspruch: <strong>der</strong> Mensch<br />
unterscheide sich von den Tieren hauptsächlich dadurch, daß die Masse<br />
seines Gehirns den Komplex <strong>der</strong> übrigen Nerven in einem hohen Grad<br />
überwiege, welches bei den übrigen Tieren nicht statthabe, war höchst<br />
folgereich.― […] Dann schreibt Goethe: „Johann Heinrich MERCK, als<br />
Kriegszahlmeister <strong>im</strong> Hessen-Darmstädtischen angestellt, verdient auf<br />
alle Weise hier genannt zu werden. Er war ein Mann von unermüdeter<br />
geistiger Tätigkeit, die sich nur deswegen nicht durch bedeutende<br />
Wirkungen auszeichnete, weil er, als talentvoller Dilettant, nach allen<br />
Seiten hingezogen und getrieben wurde. Auch er ergab sich <strong>der</strong><br />
vergleichenden Anatomie mit Lebhaftigkeit, wo ihm denn auch ein<br />
zeichnerisches Talent, das sich leicht und best<strong>im</strong>mt auszudrücken<br />
wußte, glücklich zu Hülfe kam. Die eigentliche Veranlassung jedoch<br />
hierzu gaben die merkwürdigen Fossilien, auf die man in jener <strong>Zeit</strong> erst<br />
eine wissenschaftliche Aufmerksamkeit richtete und welche mannigfaltig<br />
und wie<strong>der</strong>holt in den Flußregionen des Rheins ausgegraben wurden.<br />
Mit habsüchtiger Liebhaberei bemächtigte er sich mancher vorzüglicher<br />
Exemplare, <strong>der</strong>en Sammlung nach seinem Ableben in das<br />
Großherzoglich-Hessische Museum geschafft und eingeordnet und auch<br />
daselbst durch den einsichtigen Kustus von SCHLEIERMACHER<br />
sorgfältig verwahrt und vermehrt worden.<br />
Mein inniges Verhältnis zu beiden Männern steigerte zuerst bei<br />
persönlicher Bekanntschaft, sodann durch fortgesetzte Korrespondenz<br />
meine Neigung zu diesen Studien; deshalb suchte ich, meiner<br />
angeborenen Anlage gemäß, vor allen Dingen nach einem Leitfaden<br />
o<strong>der</strong>, wie man es auch nennen möchte, nach einem Punkt, wovon man<br />
ausginge, eine Max<strong>im</strong>e, an <strong>der</strong> man sich halten, einen Kreis, aus<br />
welchem nicht abzuirren wäre. […] Aber ich bemerkte gar bald, daß<br />
man sich bisher ohne Methode nur in die Breite bemüht habe, man<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
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verglich, wie es gerade vorkam, Tier mit Tier, Tiere mit Tieren, Tiere mit<br />
Menschen, woraus eine unübersehbare Weitläufigkeit und eine<br />
sinnbetäubende Verworrenheit entstand, indem es teils allenfalls<br />
paßte, teils aber ganz und gar sich nicht fügen wollte.<br />
Nun legte ich die Bücher beiseite und ging unmittelbar an die Natur,<br />
an ein übersehbares Tierskelett; die Stellung auf vier Füßen war die<br />
entschiedenste, und ich fing an, von vorne nach hinten, <strong>der</strong> Ordnung<br />
nach, zu untersuchen. Hier fiel <strong>der</strong> Zwischenknochen vor allen als <strong>der</strong><br />
vor<strong>der</strong>ste in die Augen, und ich betrachtete ihn daher durch die<br />
verschiedensten Tiergeschlechter.<br />
Aber ganz an<strong>der</strong>e Betrachtungen wurden eben dazumal rege. Die<br />
nahe Verwandtschaft des Affen zu dem Menschen nötigte den<br />
Naturforscher zu peinlicher [sic.!] Überlegung, und <strong>der</strong> vortreffliche<br />
CAMPER glaubte den Unterschied zwischen Affen und Menschen darin<br />
gefunden zu haben, daß jenem ein Zwischenknochen <strong>der</strong> oberen<br />
Kinnlade zugeteilt sei, diesem aber ein solcher fehle. Ich kann nicht<br />
ausdrücken, welche schmerzlichen Empfindungen es mir war, mit<br />
demjenigen in entschiedenem Gegensatz zu stehen, dem ich soviel<br />
schuldig geworden, dem ich mich zu nähern, mich als seinen Schüler zu<br />
bekennen, von dem ich alles zu lernen hoffte.―<br />
Hier sei <strong>der</strong> Auszug eines Briefes eingeschoben, den Goethe an<br />
MERCK schon am 13. Februar 1785 (!) geschrieben hatte:<br />
„Das Skelett <strong>der</strong> Giraffe ist gestern angekommen, ich danke dir, es ist<br />
ein sehr interessantes Stück, recht gut und ausführlich gezeichnet,<br />
schicke mir bald ein korrigiertes Exemplar. Daß dir meine Abhandlung<br />
einige Freude gemacht hat, gibt mit wie<strong>der</strong> Freude ob du gleich von <strong>der</strong><br />
Wahrheit meines Asserti nicht durchdrungen zu sein scheinst.<br />
Deswegen schicke ich dir hier eine gesprengte obere Kinnlade vom<br />
Menschen und vom Trichechus da vergleiche und n<strong>im</strong>m deine<br />
an<strong>der</strong>en Schädel zu Hilfe und sieh am Affenschädel nach was denn<br />
das für eine Sutur ist die das Os intermaxillare von <strong>der</strong> Apophysis<br />
palatina maxillae superioris trennt, gib nur auf die Lage <strong>der</strong> canalium<br />
incisivorum acht und ich brauche nichts zu sagen. –<br />
Von SÖMMERING habe ich einen sehr leichten [sic.] Brief. Er will<br />
mir’s gar ausreden. Ohe! Schicke mir die Knöchlein ja bald wie<strong>der</strong> ich<br />
brauche sie notwendig, und gehe säuberlich mit um sie gehören zu<br />
ganzen Köpfen. NB <strong>der</strong> Trichechus hat 4 Dentes incisores zwei auf je<strong>der</strong><br />
Seite. In <strong>der</strong> Maxilla die ich dir schicke, sitzt einer noch <strong>im</strong> Osse<br />
Intermaxillare, vom an<strong>der</strong>en siehst du die Lücke. […] Auf CAMPERs<br />
Wort bin ich neugierig. Die untere Maxille vom Kassler Elefanten habe<br />
ich lei<strong>der</strong> nicht zeichnen lassen ich hatte mit dem Oberkopfe genug zu<br />
tun, da ich voriges Jahr so zerstreut war und doch alles recht erklärt<br />
haben wollte. […] Daß mir an den ossibus turbinatis des Trichechus kein<br />
Schade geschehe. Packe es wie<strong>der</strong> wohl ein.―<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
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Ein Jahr vorher (7. Juni 1784) schrieb Goethe über den<br />
Elefantenschädel, den SÖMMERING ihm aus Kassel geschickt hatte, an<br />
seine Freundin Charlotte von STEIN:<br />
„Zu meiner großen Freude ist <strong>der</strong> Elefantenschädel von Kassel hier [er<br />
war damals gerade in Eisenach!] angekommen und was ich suche ist<br />
über meine Erwartungen daran sichtbar. Ich halte ihn <strong>im</strong> innersten<br />
Z<strong>im</strong>merchen versteckt, damit man mich nicht für toll halte. Meine<br />
Hauswirtin glaubt, es sei Porzellan in <strong>der</strong> ungeheuren Kiste.―<br />
Nun wie<strong>der</strong> 48 Jahre(!) nach vorwärts zu Goethes letztem Werk von<br />
1832, wo er schreibt: „Nicht allein die ganz frische Jugend, son<strong>der</strong>n<br />
auch <strong>der</strong> schon herangebildete Mann wird, sobald ihm ein prägnanter<br />
folgerechter Gedanke aufgegangen, sich mitteilen, bei an<strong>der</strong>n eine<br />
gleiche Denkweise aufregen wollen. Ich merkte daher den Mißgriff nicht,<br />
da ich die Abhandlung, die man soeben finden wird, ins Lateinische<br />
übersetzt, mit teils umrissenen, teils ausgeführten Zeichnungen<br />
ausgestattet, an Peter CAMPER zu übersenden die unbesonnene<br />
Gutmütigkeit hatte. Ich erhielt darauf eine sehr ausführliche,<br />
wohlwollende Antwort, worin er die Aufmerksamkeit, die ich diesen<br />
Gegenständen geschenkt, höchlich lobte, die Zeichnungen zwar nicht<br />
mißbilligte, wie aber solche Gegenstände besser von <strong>der</strong> Natur<br />
abzunehmen seien, guten Rat erteilte und einige Vorteile zu beachten<br />
gab. Er schien sogar über diese Bemühung etwas verwun<strong>der</strong>t, fragte, ob<br />
ich dieses Heft etwa abgedruckt haben wollte, zeigte die Schwierigkeiten<br />
wegen <strong>der</strong> Kupfer umständlich an, auch die Mittel, sie zu überwinden.<br />
Genug, er nahm als Vater und Gönner allen billigen Anteil an <strong>der</strong> Sache.<br />
Aber davon war nicht die geringste Spur, daß er meinen Zweck<br />
bemerkt habe, seiner Meinung entgegenzutreten und irgend etwas<br />
an<strong>der</strong>es als ein Programm zu beabsichtigen.<br />
Ich erwi<strong>der</strong>te bescheiden und erhielt noch einige ausführliche<br />
wohlwollende Schreiben, genau besehen nur materiellen Inhalts, die<br />
sich aber keineswegs auf meinen Zweck bezogen, <strong>der</strong>gestalt, daß ich<br />
zuletzt, da diese eingeleitete Verbindung nichts för<strong>der</strong>n konnte, sie ruhig<br />
fallen ließ, ohne jedoch daraus, wie ich wohl hätte sollen, die<br />
bedeutende Erfahrung zu schöpfen, daß man einen Meister nicht<br />
von seinem Irrtum überzeugen könne, weil er ja in seine<br />
Meisterschaft aufgenommen und dadurch legit<strong>im</strong>iert ward.“<br />
Aber auch bei dem namhaften Göttinger Anthropologen Johann<br />
Friedrich BLUMENBACH, 1752-1840, fand Goethe nicht den erhofften<br />
Wi<strong>der</strong>hall, da dieser in einem Kompendium auf die Seite von CAMPER<br />
trat und dem Menschen den Zwischenkiefer absprach. Goethe dazu:<br />
„Meine Verlegenheit wurde dadurch aufs höchst gesteigert, indem ein<br />
schätzbares Lehrbuch, ein vertrauenswürdiger Lehrer meine Gesinnung,<br />
meine Absichten durchaus beseitigen sollte. – Aber ein so geistreicher,<br />
fort untersuchen<strong>der</strong> und denken<strong>der</strong> Mann konnte nicht <strong>im</strong>mer bei einer<br />
vorgefaßten Meinung verharren, und ich bin ihm, bei traulichen<br />
Verhältnissen, über diesen Punkt wie über viele an<strong>der</strong>e eine<br />
teilnehmende Belehrung schuldig geworden, indem er mich<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 88<br />
benachrichtigte, daß <strong>der</strong> Zwischenknochen bei wasserköpfigen Kin<strong>der</strong>n<br />
von <strong>der</strong> oberen Kinnlade getrennt, auch bei dem doppelten Wolfsrachen<br />
als krankhaft abgeson<strong>der</strong>t sich manifestiere.― – Nun aber kann ich jene<br />
damals mit Protest zurückgewiesenen Arbeiten, welche so viele Jahre<br />
<strong>im</strong> stillen geruht, hervorrufen und für dieselben mir einige<br />
Aufmerksamkeit erbitten.―<br />
Hier bezieht sich Goethe nun auf seine Veröffentlichung, die er bereits<br />
1786 geschrieben hatte „Über den Zwischenkiefer des Menschen<br />
und <strong>der</strong> Thiere von Goethe, Jena, 1786― und die jetzt für eine<br />
Veröffentlichung von <strong>der</strong> illustren „Kaiserlichen Leopoldinisch-<br />
Carolinischen Akademie <strong>der</strong> Naturforscher“ akzeptiert worden war<br />
und die 1831 in Bonn erschienen war. Zur Vorgeschichte noch:<br />
„Schon― 1820 - also etwa 34 Jahre nachdem er den Text als Handschrift<br />
durch seinen geschickten Privatschreiber Chr. Georg Karl VOGEL,<br />
1760-1819, sowohl in deutsch und lateinisch mit Tafeln an Peter<br />
CAMPER nach Holland geschickt hatte - erschien <strong>der</strong> Erstdruck in<br />
Goethes Schrift „Zur Morphologie“, allerdings – vielleicht auch wegen<br />
<strong>der</strong> Kritik von CAMPER – hier noch ohne Tafeln!<br />
Goethe schreibt nun weitschweifig, aber doch wohl recht bemerkenswert<br />
tiefsinnig bezüglich einer organischen Gesamtschau, zunächst unter<br />
Bezugnahme auf seine Rezension in „Zur Morphologie― (1824) über „Die<br />
Skelette <strong>der</strong> Nagetiere― des Malers, Archäologen und Pferdezüchters<br />
(für den Großherzog Karl August von WEIMAR!) Eduard Joseph<br />
D’ALTON, 1772-1840. D’ALTONs großes Tafelwerk erschien in 12<br />
Lieferungen von 1821-1828. Dann verweist Goethe auf seine Akademie-<br />
Veröffentlichung von 1831 mit Tafeln:<br />
„Auf die erwähnten Abbildungen habe ich mich zunächst,<br />
vollkommener Deutlichkeit wegen, zu berufen, noch mehr aber auf das<br />
D’ALTONische große osteologische Werk hinzudeuten, wo eine weit<br />
größere, freiere, ins Ganze gehende Übersicht zu gewinnen ist.<br />
Bei allem diesem aber hab ich Ursache, den Leser zu ersuchen,<br />
sämtliches bisher Gesagte und noch zu Sagende als mittelbar o<strong>der</strong><br />
unmittelbar bezüglich auf den Streit jener beiden trefflichen<br />
französischen Naturforscher, von welchem gegenwärtig <strong>im</strong>mer die Rede<br />
bleibt, durchaus anzusehen. Sodann darf ich voraussetzen, man werde<br />
jene soeben bezeichnete Tafeln vor sich zu nehmen und sie mit uns<br />
durchzugehen geneigt sein.―<br />
Hier sei das Zitieren abgebrochen und nur noch Goethes einleitende<br />
Worte zur fünften und letzten Tafel (Affe und Mensch!) wie<strong>der</strong>gegeben:<br />
„Denn hier ist es, wo uns <strong>der</strong> Genius <strong>der</strong> Analogie als Schutzengel zur<br />
Seite stehen möge, damit wir eine an vielen Beispielen erprobte<br />
Wahrheit nicht in einem einzigen zweifelhaften Fall verkennen, son<strong>der</strong>n<br />
auch da dem Gesetz gebührende Ehre erweisen, wo es sich uns in<br />
<strong>der</strong> Erscheinung entziehen möchte.<br />
Auf <strong>der</strong> fünften Tafel ist Affe und Mensch einan<strong>der</strong> entgegengestellt.<br />
Was den letzteren betrifft, so ist, nach einem beson<strong>der</strong>n Präparat,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 89<br />
Trennung und Verschmelzung des gedachten Knochens deutlich genug<br />
angegeben. Vielleicht wären beide Gestalten als Ziel <strong>der</strong> ganzen<br />
Abhandlung mannigfaltiger und klarer abzubilden und gegeneinan<strong>der</strong> zu<br />
stellen gewesen. Aber gerade zuletzt, in <strong>der</strong> prägnantesten <strong>Zeit</strong>, stockte<br />
Neigung und Tätigkeit in jenem Fache, so daß wir schon dankbar<br />
anerkennen müssen, wenn eine hochzuverehrende Sozieät <strong>der</strong><br />
Naturforscher diese Fragmente ihrer Aufmerksamkeit würdigen<br />
und das Andenken redlicher Bemühungen in dem unzerstörbaren<br />
Körper ihrer Akten aufbewahren wollen.“<br />
Das Erscheinen dieses Akademie-Bandes mit seiner Zwischenkiefer-<br />
Studie hat Goethe 1831 noch erleben können, während <strong>der</strong> II.<br />
Abschnitt seiner „Principes de Philosophie Zoologique― erst wenige<br />
Tage nach seinem Tode <strong>im</strong> März 1832 in den „Berliner Jahrbüchern für<br />
wissenschaftliche Kritik― erschienen ist. Der I. Abschnitt war dort aber<br />
bereits <strong>im</strong> September 1830 veröffentlicht worden.<br />
Es mag wohl den greisen Dichterfürst-Naturforscher sehr erfreut haben,<br />
als er den Akademieband <strong>der</strong> „Verhandlungen <strong>der</strong> kaiserlichen<br />
Leopoldinisch-Carolinischen Akademie <strong>der</strong> Naturforscher“ endlich<br />
in <strong>der</strong> Hand hielt, <strong>der</strong> unter dem Titel „NOVA ACTA PHYSICO-MEDICA,<br />
ACADEMIAE CAESAREAE LEOPOLDINO CAROLINAE NATURAE<br />
CURIOSORUM – TOMI DECIMI QUINTI PARS PRIOR. Cum tabulis aeneis et<br />
lithographicis. Bonnae, MDCCCXXXI erschienen ist. Der Band enthält<br />
außer Goethes Beitrag, mit dem <strong>der</strong> Band beginnt (48 Seiten) noch vier<br />
an<strong>der</strong>e Beiträge. Goethes Aufsatz beginnt nach dem o.g. Titel noch mit<br />
<strong>der</strong> nachfolgenden kurzen würdigenden Einleitung <strong>der</strong> Akademie:<br />
„Der gegenwärtige Aufsatz <strong>im</strong> Jahre 1786 bereits verfaßt, und seinem<br />
Inhalte nach, durch Privat-Mittheilungen zuerst einzelnen Naturforschern<br />
bekannt, ist erst <strong>im</strong> Jahre 1817 in <strong>der</strong> Schrift zur Morphologie I. Band mit<br />
einem Theil <strong>der</strong> übrigen vergleichend-anatomischen Arbeiten des<br />
ruhmvollen Verfassers, ohne Abbildungen zu allgemeiner Kenntnis<br />
gekommen; allein es war <strong>der</strong> Akademie vorbehalten, diese denkwürdige<br />
und den Naturforschern wichtig gewordene Urkunde vollständig und<br />
ihrer ursprünglichen Gestalt mit den bildlichen Erläuterungen<br />
mitzutheilen. Die Untersuchungen über den Zwischenkiefer <strong>der</strong> Thiere<br />
haben seither eine große Breite erlangt, während die gegenwärtigen<br />
Abbildungen mit Recht die dem Menschen näher stehenden und zu<br />
vergleichenden Thiere betreffen. Wir glauben indess den Freunden <strong>der</strong><br />
Naturforschung sicherlich einen Dienst zu erweisen, wenn wir von<br />
GOETHE’S Arbeiten nur in ihrer ursprünglichen Gestalt und mit den<br />
bildlichen Anschauungen, die ihr zur Grundlage dienten, wie<strong>der</strong>geben<br />
und in Gefolge <strong>der</strong>selben einige schätzbare Mittheilungen umsichtiger<br />
Zerglie<strong>der</strong>er namhaft machen.― –<br />
Mit Goethes eigenen Worten beginnt <strong>der</strong> Aufsatz dann, wovon wir hier<br />
nur noch den ersten Satz wie<strong>der</strong>geben, da dieser Aufsatz ja in je<strong>der</strong><br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 90<br />
größeren Goethe-Ausgabe mit naturwissenschaftlichern Teil zu finden<br />
ist:<br />
„Einige Versuche osteologischer Zeichnungen sind hier in <strong>der</strong> Absicht<br />
zusammen geheftet worden, um Kennern und Freunden vergleichen<strong>der</strong><br />
Zerglie<strong>der</strong>ungskunde eine kleine Entdeckung vorzulegen, die ich glaube<br />
gemacht zu haben.―<br />
Goethes Akademie-Beitrag enthält dann am Ende noch eine<br />
„Anmerkung <strong>der</strong> Redaktion― als Fußnote zum letzten Wort des 15-<br />
zeiligen Schlußsatzes Goethes – eines typischen Goethe’schen<br />
Altersstil-Schachtelsatzes, den wir glauben uns hier ersparen zu<br />
können:<br />
*) Anmerkung <strong>der</strong> Redaktion:<br />
„Zur Geschichte jener Entdeckung gehört noch Herrn v. G o e t h e’s<br />
Mittheilung in <strong>der</strong> Schrift zur Naturwissenschaft überhaupt, beson<strong>der</strong>s<br />
zur Morphologie, II. B., I. H., p.50, die wir hier wörtlich abdrucken lassen:<br />
v. G o e t h e sagt: „Ebenso war es mit dem Begriff, dass <strong>der</strong> Schädel<br />
aus Wirbelknochen bestehe. Die drei hintersten erkannte ich bald, aber<br />
erst <strong>im</strong> Jahr 1791 [richtig 1790, als er in Venedig war. AR], als ich, aus<br />
dem Sande des dünenhaften Juden-Kirchhofs zu Venedig, einen<br />
zerschlagenen Schöpfenkopf aufhob, gewahrte ich augenblicklich, dass<br />
die Gesichtsknochen gleichfalls aus Wirbeln abzuleiten seien, indem ich<br />
den Uebergang vom ersten Flügelbein zum Siebbein und den Muscheln<br />
ganz deutlich sah; da hatte ich denn das Ganze <strong>im</strong> Allgemeinen<br />
beisammen. So viel möge diesmal das früher Geleistete aufzuklären<br />
hinreichen.― Die Redaktion bemerkte dann abschließend noch:<br />
„Da Deutschen und Franzosen seit dem Anfang des Jahrhun<strong>der</strong>ts,<br />
sich die Priorität jener Entdeckung streitig machen, ist es interessant zu<br />
vernehmen, dass G o e t h e schon vor dem Jahre 1791 diese<br />
Entdeckung gemacht hat.― -<br />
Auch für den Autor war es eine große Überraschung, als er Anfang<br />
Mai 1980 <strong>im</strong> großen Lesesaal <strong>der</strong> Bayerischen Staatsbibliothek in einem<br />
ehrwürdigen Akademie-Halble<strong>der</strong>band ganz überraschend als ersten<br />
Beitrag Goethes „Zwischenkiefer-Studie― entdeckte. Den Band hatte ich<br />
mir wegen einer an<strong>der</strong>en botanisch-biomathematischen Arbeit für<br />
meinen 81-jährigen väterlichen Freund Prof. Siegfried RÖSCH, Wetzlar,<br />
bestellt, nicht ahnend, daß es gerade <strong>der</strong> „Goethe-Band― von 1831 mit<br />
seiner „Zwischenkiefer-Studie― war. Ich schrieb seinerzeit RÖSCH:<br />
„Eines <strong>der</strong> faszinierendsten naturwissenschaftlichen bibliophilen<br />
Kostbarkeiten (nach AGRICOLAs „Bergwerkstechnik― in <strong>der</strong> Deutschen<br />
Museums-Biliothek), die ich je in den Händen hatte. Also saß ich einmal<br />
wie<strong>der</strong> einen Samstagvormittag mehr in einer Bibliothek! Aber gegen<br />
solch ―son<strong>der</strong>baren Neigungen― ist eben kein Kraut gewachsen!― Prof.<br />
RÖSCH schrieb mir daraufhin am 8. Mai. 1980: „Wie schön und<br />
pietätvoll Sie von dem Band <strong>der</strong> Leop.-Carol. Akad. von 1831 schreiben!<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 91<br />
Ja, es berührt einen schon, wenn man ein Buch mit einer Arbeit des<br />
noch lebenden Goethe vor Augen hat! Ich hatte nie darauf geachtet, wo<br />
Goethe über den Zwischenkieferknochen publiziert hat.- Übrigens haben<br />
Sie auch dabei unbewußt eine Bildungslücke bei mir berührt: Da Sie als<br />
Erscheinungsort Bonn erwähnen, schaute ich <strong>im</strong> Lexikon nach, da mir<br />
von <strong>der</strong> Akademie <strong>im</strong>mer nur <strong>der</strong> Ort Halle a. S. bekannt war. Nun erfuhr<br />
ich, daß diese Gesellschaft 1652 in Scheinfurt gegründet wurde und bei<br />
wechselndem Sitz erst seit 1878 in Halle ist. – Hoffentlich haben Sie sich<br />
mit meiner Tannenzapfenarbeit nicht zu viel Mühe (Kosten) gemacht. Ich<br />
wußte nicht, daß sie so umfangreich ist!―<br />
Zu dieser besagten Tannenzapfen-Studie seien hier zu Autor und<br />
Inhalt noch kurz einige Bemerkungen gemacht, da sie zu Goethes<br />
morphologischen Studien enge Beziehungen hat. Den alten Goethe hat<br />
wohl auch dieser größte letzte Beitrag (fast 250 Seiten, mit 34 schönen<br />
Steindrucktafeln) in „seinem Akademieband― beson<strong>der</strong>s freudig<br />
überrascht! Der Autor war <strong>der</strong> Professors für Botanik, Dr. Alexan<strong>der</strong><br />
BRAUN, * Regensburg 1805, + Berlin 1877, seine Studie, die ebenfalls<br />
unter „NOVA ACTA― erschien war, hat den Titel: „Vergleichende<br />
Untersuchungen über die Ordnung <strong>der</strong> Schuppen an den<br />
Tannenzapfen. Als Einleitung zur Untersuchung <strong>der</strong> Blattstellung<br />
überhaupt von Dr. Alexan<strong>der</strong> BRAUN Mitgl. d. A. d. N.― bei <strong>der</strong><br />
Akademie eingegangen den 16. Jul. 1830.<br />
Dieser Aufsatz des Botanikers Alexan<strong>der</strong> BRAUN ist mit seinen<br />
wun<strong>der</strong>baren Abbildungen nicht nur eine überaus fleißige botanische<br />
Studie, son<strong>der</strong>n zugleich eine interdisziplinäre Kostbarkeit, die in das<br />
seinerzeit noch recht unerschlossene Gebiet <strong>der</strong> Biomathematik führt.<br />
Und zwar in das wun<strong>der</strong>same Reich <strong>der</strong> „Fibonacci-Zahlenreihe“,<br />
sogar zu den symmetrischen Kettenbrüchen und damit zum<br />
berühmten „Goldenen Schnitt“, wovon in diesem Buch später noch<br />
ausführlicher die Rede sein wird. Schon <strong>der</strong> große LEIBNIZ war ja<br />
schon 150 Jahre vorher von dieser Naturharmonie auf höchste<br />
beglückt. Seine "prästabilierte Harmonie" läßt grüßen! Auch <strong>der</strong><br />
Mathematiker und Astronom Johannes KEPLER, 1571-1630, hat die<br />
Fibonacci-Reihe geradezu als „göttlich― empfunden, weshalb sie<br />
manchmal auch als Keplersche Reihe bezeichnet wird. Wie schade, daß<br />
Goethe lebenslänglich trotz Mathematik-Unterricht <strong>im</strong> Erwachsenenalter<br />
nicht zu diesem „göttlichem Geschenk― (PLATON, HEISENBERG)<br />
finden konnte. Aber die schönen Tannenzapfen-Schuppen-Steindrucke<br />
in BRAUNs Arbeit werden ihn gewiß künstlerisch ergriffen haben. An<br />
einen Satz in seiner letzten Lebensarbeit „Principes de Philosophie<br />
Zoologique“, die er lei<strong>der</strong> vollständig (II. Abschnitt) nicht mehr gedruckt<br />
erleben sollte, hat er sich be<strong>im</strong> Anblick <strong>der</strong> Tannenzapfen-Abbildungen<br />
mit Sicherheit erinnert, da sie schönste Illustrationen dazu sind. Es ist<br />
Goethes Satz:<br />
―Es ist nichts anmutiger anzusehen als das Eichhörnchen, das<br />
einen Tannenzapfen abschält: die mittlere Säule wird ganz rein<br />
weggeworfen, und es wäre wohl <strong>der</strong> Beobachtung wert, ob diese<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 92<br />
Geschöpfe nicht die Samenkörner in <strong>der</strong> Spiralfolge, wie sie sich<br />
entwickelt haben, abknuspern und sich zueignen.“ Vielleicht tut es<br />
das sogar in <strong>der</strong> von BRAUN beschriebenen und aufgezeichneten Folge<br />
<strong>der</strong> Fibonacci-Reihe? -<br />
Dieses letzte Werk Goethes ist gewissermaßen ein Gefäß <strong>der</strong><br />
„Konfession― auf dem Gebiete seiner 50-jährigen Naturforschung, das<br />
seine Methode in allgemeinster Darstellung wi<strong>der</strong>spiegelt. „Konfession―<br />
ist bekanntlich ein geflügeltes, gern von Goethe benutztes Wort, das<br />
etwa die Begriffe: Anstoß, Motivation, Rechtfertigung und Selbstaussage<br />
zusammenfaßt. Naturschau und Naturforschung beschäftigten Goethe ja<br />
fast genauso lange wie die künstlerische Darstellung eines nach Weltund<br />
Naturerkenntnis ringenden und sich abmühenden Menschen: seines<br />
Faust, dem er typische Züge seiner eigenen dynamischen<br />
Seelenstruktur gegeben hat.<br />
Dieses eindrucksvolle Bekenntnis eines <strong>im</strong> 83. Lebensjahr stehenden<br />
Dichters und Naturforschers dokumentiert Goethe zweifelsfrei auch als<br />
den großen Vorahner und „Vorkämpfer― des natürlichen<br />
Entwicklungsgedankens, den seine zahlreichen verstreuten<br />
Meinungsäußerungen ganz zweifelsfrei erkennen lassen .<br />
An dieser Stelle sei abschließend auch noch eine interessante<br />
Äußerung Goethes zitiert, die er schon 1807 gegenüber RIEMER<br />
machte und auf die wir später nochmals <strong>im</strong> Kapitel „Goethes<br />
Wahlverwandtschaft mit SPINOZA und Ideengemeinschaft mit LEIBNIZ―<br />
zurückkommen werden: „Die Natur kann zu allem, was sie machen<br />
will, nur in einer Folge gelangen. Sie macht keine Sprünge. Sie<br />
könnte zum Exempel kein Pferd machen, wenn nicht alle übrigen<br />
Tiere voraufgingen, auf denen sie wie auf einer Leiter bis zur<br />
Struktur des Pferdes heransteigt. So ist <strong>im</strong>mer Eines um Alles,<br />
Alles um Eines willen da, weil ja eben das Eine auch das Alles ist.“<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
2.4 Ernst HAECKEL, 1834-1919 und Charles DARWIN,<br />
1809-1882<br />
Ernst HAECKEL, <strong>der</strong> oben bereits genannte unerschrockene mutige<br />
Kämpfer für den Entwicklungsgedanken des großen englischen<br />
Naturforschers Charles DARWIN, 1809-1882, in Deutschland, bestätigt<br />
Goethe als eindrucksvollen Wegbereiter dieser Darwinschen „Dynamik<br />
des Lebendigen“ in seiner „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“<br />
(1868) sehr überzeugend. Wir zitieren aus HAECKELs Werk hier die<br />
wichtigsten Passagen. Ausgehend von Goethes Zwischenkiefer-Arbeit<br />
und den beiden grundsätzlichen Betrachtungsweisen Induktion und<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 93<br />
Deduktion schreibt HAECKEL: „Die I n d u k t i o n ist ein Schluß aus<br />
zahlreichen einzelnen beobachteten Fällen auf ein allgemeines Gesetz;<br />
die D e d u c t i o n dagegen ist ein Rückschluß aus diesem<br />
allgemeinen Gesetz auf einen einzelnen, noch nicht wirklich<br />
beobachteten Fall. Aus den damals gesammelten empirischen<br />
Kenntnissen ging <strong>der</strong> Induktionsschluß hervor, daß sämmtliche<br />
Säugethiere den Zwischenkiefer besitzen.<br />
G o e t h e zog daraus den Deductionsschluß, daß <strong>der</strong> Mensch , <strong>der</strong> in<br />
allen übrigen Beziehungen seiner Organisation nicht wesentlich von den<br />
Säugethieren verschieden sei, auch diesen Zwischenkiefer besitzen<br />
müsse; und letzterer fand sich in <strong>der</strong> That bei eingehen<strong>der</strong><br />
Untersuchung. Es wurde <strong>der</strong> Deductionsschluß durch nachfolgende<br />
Erfahrung bestätigt o<strong>der</strong> verficiert.―<br />
In diesem Zusammenhang sei ein interessanter Satz von Albert<br />
EINSTEIN dazwischen geschoben den Einstein gelegentlich einer<br />
Diskussion mit seinem Biographen Alexan<strong>der</strong> MOSZKOWSKI Anfang<br />
<strong>der</strong> 20er Jahre führte. MOSZKOWSKI: Ihre Erwägungen, Herr<br />
Professor, wären dann wohl auf das Wort des GALILEI auszudehnen:<br />
Das Buch <strong>der</strong> Natur liegt aufgeschlagen vor uns, aber es ist in an<strong>der</strong>en<br />
Lettern geschrieben, als unser Alphabet; seine Buchstaben heißen<br />
Dreiecke, Vierecke, Kreise, Kugeln. EINSTEIN: Die Schönheit des<br />
Spruches in allen Ehren; allein seine restlose Gültigkeit bezweifle ich<br />
allerdings. Wollte man ihn bedingungslos anerkennen, so müßte man<br />
die Wege aller Erforschung als ausschließlich mathematische<br />
bezeichnen, und damit würde man sehr wichtige Möglichkeiten<br />
ausschließen, vor allem gewisse Formen <strong>der</strong> Intuition, die sich höchst<br />
fruchtbar erwiesen haben. So wäre für GOETHE das Buch <strong>der</strong> Natur<br />
nach GALILEIs Deutung unlesbar geblieben; denn sein Geist war<br />
gänzlich unmathematisch, ja sogar ant<strong>im</strong>athematisch gerichtet. Aber er<br />
besaß eine beson<strong>der</strong>e Form <strong>der</strong> Intuition, die sich bei ihm<br />
offenbarte als eine unmittelbare Einfühlung in die Natur, und in<br />
ihrem Buch fand er sich besser zurecht als mancher Exaktforscher.<br />
MOSZKOWSKI: Sind denn intuitive Begabung nach Formen und Arten<br />
überhaupt trennbar? EINSTEIN: Es wäre pedantisch, hier eine<br />
prinzipielle Unterscheidung durchführen zu wollen, wenn man auch den<br />
beson<strong>der</strong>en Fall <strong>der</strong> nicht-mathematischen Intuition Goethes als einen<br />
hervorstechenden nennen darf. Im übrigen liegen, wie ich schon öfter<br />
betonte, sämtliche große Wissenschaftstaten in <strong>der</strong> intuitiven<br />
Erkenntnis, nämlich <strong>der</strong> Axiome, aus denen alsdann deduktiv [sic!]<br />
geschlossen wird. (aus: Alexan<strong>der</strong> Moszkowski: EINSTEIN. Einblicke<br />
in seine Gedankenwelt. Entwickelt aus Gesprächen mit Einstein, Berlin<br />
1922).<br />
Zurück zu HAECKEL über Goethe: „Schon diese wenigen Züge<br />
mögen Ihnen den hohen Werth vor Augen führen, den wir G o e t h e’s<br />
biologischen Forschungen zuschreiben müssen. Lei<strong>der</strong> sind die meisten<br />
seiner darauf bezüglichen Arbeiten so versteckt in seinen gesammelten<br />
Werken, und die wichtigsten Beobachtungen und Bemerkungen so<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 94<br />
zerstreut in zahlreichen einzelnen Aufsätzen, die an<strong>der</strong>e Themata<br />
behandeln, daß es schwer ist, sie herauszufinden. Auch ist bisweilen<br />
eine vortreffliche, wahrhaft wissenschaftliche Bemerkung so eng mit<br />
einem Haufen unbrauchbarer naturphilosophischer Phantasiegebilde<br />
verknüpft, daß letztere <strong>der</strong> ersteren großen Eintrag thun. […]<br />
Von den zahlreichen interessanten und bedeutenden Sätzen, in<br />
welchen sich G o e t h e klar über seine Auffassung <strong>der</strong> organischen<br />
Natur und ihrer beständigen Entwicklung ausspricht, habe ich in meiner<br />
generellen Morphologie <strong>der</strong> Organismen eine Auswahl als Leitworte an<br />
den Eingang <strong>der</strong> einzelnen Bücher und Capitel gesetzt. Hier führe ich<br />
Ihnen zunächst eine Stelle aus dem Gedichte an, welches die<br />
Ueberschrift trägt<br />
„die Metamorphose <strong>der</strong> Thiere― (1819).<br />
Wesen.<br />
Alle Glie<strong>der</strong> bilden sich aus nach ew’gen Gesetzen,<br />
Und die seltenste Form bewahrt <strong>im</strong> Gehe<strong>im</strong>en das Urbild.<br />
Also best<strong>im</strong>mt die Gestalt die Lebensweise des Thiers,<br />
Und die Weise zu leben, sie wirkt auf alle Gestalten<br />
Mächtig zurück. So zeiget sich fest die geordnete Bildung,<br />
Welche zum Wechsel sich neigt durch äußerlich wirkende<br />
Schon hier ist <strong>der</strong> Gegensatz zwischen zwei verschiedenen<br />
organischen Bildungskräften angedeutet, welche sich<br />
gegenüberstehen, und durch ihre Wechselwirkung die Form des<br />
Organismus best<strong>im</strong>men; einerseits ein gemeinsames inneres, fest sich<br />
erhaltendes Urbild, welches den verschiedensten Gestalten zu Grunde<br />
liegt; an<strong>der</strong>erseits <strong>der</strong> äußerlich wirkende Einfluß <strong>der</strong> Umgebung und<br />
<strong>der</strong> Lebensweise, welcher umbildend auf das Urbild einwirkt. Noch<br />
best<strong>im</strong>mter tritt dieser Gegensatz in folgendem Ausspruch hervor:<br />
„Eine innere ursprüngliche Gemeinschaft liegt aller Organisation zu<br />
Grunde; die Verschiedenheit <strong>der</strong> Gestalten dagegen entspringt aus den<br />
nothwendigen Beziehungsverhältnissen zur Außenwelt, und man darf<br />
daher eine ursprüngliche, gleichzeitige Verschiedenheit und eine<br />
unaufhaltsam forschreitende Umbildung mit Recht annehmen, um die<br />
ebenso constanten als abweichenden Erscheinungen begreifen zu<br />
können.―<br />
Das „Urbild― o<strong>der</strong> <strong>der</strong> „Typus―, welcher als „innere ursprüngliche<br />
Gemeinschaft― aller organischen Formen zu Grunde liegt, ist die i n n e<br />
r e B i l d u n g s k r a f t, welche die ursprüngliche Bildungsrichtung<br />
erhält und durch V e r e r b u n g fortpflanzt. Die „unaufhaltsam<br />
fortschreitende Umbildung― dagegen, welche „aus den nothwendigen<br />
Beziehungsverhältnissen zur Außenwelt entspringt―, bewirkt als ä u ß e<br />
r e B i l d u n g s k r a f t, durch A n p a s s u n g an die umgebenden<br />
Lebensbedingungen, die unendliche „Verschiedenheit <strong>der</strong> Gestalten―.<br />
Den inneren Bildungstrieb <strong>der</strong> V e r e r b u n g, welcher die<br />
Einheit des Urbildes erhält, nennt G o e t h e an einer an<strong>der</strong>en<br />
Stelle die C e n t r i p e t a l k r a f t des<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 95<br />
O r g a n i s m u s, seinen Specificationstrieb; <strong>im</strong> Gegensatz dazu<br />
nennt er den äußeren Bildungstrieb <strong>der</strong> A n p a s s u n g, welcher<br />
die Mannichfaltigkeit <strong>der</strong> organischen Gestalten hervorbringt, die<br />
C e n t r i f u g a l k r a f t des Organismus, seinen Variationstrieb.<br />
Die betreffende Stelle, in welcher er ganz klar das „Gegengewicht―<br />
dieser beiden äußerst wichtigen organischen Bildungskräfte bezeichnet,<br />
lautet folgen<strong>der</strong>maßen: „Die Idee <strong>der</strong> M e t a m o r p h o s e ist gleich<br />
<strong>der</strong> Vis centrifuga und würde sich ins Unendliche verlieren, wäre ihr<br />
nicht ein Gegengewicht zugegeben: ich meine den<br />
S p e c i f i c a t i o n s t r i e b, das zähe Beharrlichkeitsvermögen<br />
dessen, was einmal zur Wirklichkeit gekommen, eine Vis centripeta,<br />
welcher in ihrem tiefsten Grunde keine Aeußerlichkeit etwas anhaben<br />
kann.―<br />
Unter M e t a m o r p h o s e versteht G o e t h e nicht allein, wie es<br />
heutzutage gewöhnlich verstanden wird, die Formverän<strong>der</strong>ungen,<br />
welche das organische Individuum während seiner individuellen<br />
Entwicklung erleidet, son<strong>der</strong>n in weiterem Sinne überhaupt die U m b i l<br />
d u g d e r o r g a n i s c h e n F o r m e n. Die „Idee <strong>der</strong><br />
Metamorphose― ist beinahe gleichbedeutend mit unserer<br />
„Entwicklungstheorie―. Das ergiebt sich unter An<strong>der</strong>em auch aus<br />
folgendem Ausspruch:<br />
„Der Triumph <strong>der</strong> physiologischen Metamorphose zeigt sich da, wo<br />
das Ganze sich in Familien, Familien sich in Geschlechter,<br />
Geschlechter in Sippen, und diese wie<strong>der</strong> in an<strong>der</strong>e<br />
Mannichfaltigkeiten bis zur Individualität scheiden, son<strong>der</strong>n und<br />
umbilden. Ganz ins Unendliche geht dieses Geschäft <strong>der</strong> Natur; sie<br />
kann nicht ruhen, noch beharren, aber auch nicht Alles, was sie<br />
hervorbrachte, bewahren und erhalten. Aus dem Samen entwickeln sich<br />
<strong>im</strong>mer abweichende, die Verhältnisse ihrer Theile zu einan<strong>der</strong> verän<strong>der</strong>t<br />
best<strong>im</strong>mende Pflanzen.―<br />
In den beiden organischen Bildungstrieben, in dem conservativen,<br />
centripetalen, innerlichen Bildungstriebe <strong>der</strong> Vererbung o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Specification einerseits, in dem progressiven, centrifugalen, äußerlichen<br />
Bildungstriebe <strong>der</strong> Anpassung o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Metamorphose an<strong>der</strong>erseits,<br />
hatte G o e t h e bereits die beiden großen mechanischen Naturkräfte<br />
entdeckt, welche die wirkenden Ursachen <strong>der</strong> organischen Gestaltungen<br />
sind. Diese tiefe biologische Erkenntniß mußte ihn naturgemäß zu<br />
dem Grundgedanken <strong>der</strong> Abstammungslehre führen, zu <strong>der</strong><br />
Vorstellung, daß die formverwandten organischen Arten wirklich<br />
blutsverwandt sind, und daß dieselben von gemeinsamen<br />
ursprünglichen Stammformen abstammen. Für die wichtigste von<br />
allen Thiergruppen, die Hauptabtheilung <strong>der</strong> Wirbeltiere, drückt dies G o<br />
e t h e in folgendem merkwürdigen Satze aus (1796!):<br />
„Dies also hätten wir gewonnen, ungescheut behaupten zu dürfen,<br />
daß alle vollkommneren organischen Naturen, worunter wir Fische,<br />
Amphibien, Vögel, Säugethiere und an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> letzten den<br />
Menschen sehen, alle nach einem Urbilde geformet seien, das nur in<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 96<br />
seinen sehr beständigen Theilen mehr o<strong>der</strong> weniger hin- und herweicht,<br />
und sich noch täglich durch Fortpflanzung aus- und umbildet.―<br />
Dieser Satz ist in mehrfacher Beziehung von Interesse. Die Theorie,<br />
daß „alle vollkommneren organischen Naturen―, d. h. alle Wirbelthiere,<br />
von einem gemeinsamen Urbilde abstammen, daß sie aus diesem durch<br />
Fortpflanzung (Vererbung) und Umbildung (Anpassung) entstanden<br />
sind, ist daraus deutlich zu entnehmen. Beson<strong>der</strong>s interessant aber ist,<br />
daß G o e t h e auch hier für den Menschen keine Ausnahme gestattet,<br />
ihn vielmehr ausdrücklich in den Stamm <strong>der</strong> übrigen Wirbelthiere<br />
hineinzieht. Die wichtigste specielle Folgerung <strong>der</strong> Abstammungslehre,<br />
daß <strong>der</strong> Mensch von an<strong>der</strong>en Wirbelthieren abstammt, läßt sich hier <strong>im</strong><br />
Ke<strong>im</strong>e erkennen.<br />
Noch klarer spricht G o e t h e diese überaus wichtige Grund-Idee an<br />
einer an<strong>der</strong>en Stelle (1807) in folgenden Worten aus: „Wenn man<br />
Pflanzen und Thiere in ihrem unvollkommensten Zustande betrachtet, so<br />
sind sie kaum zu unterscheiden. So viel aber können wir sagen, daß die<br />
aus einer kaum zu son<strong>der</strong>nden Verwandtschaft als Pflanzen und Thiere<br />
nach und nach hervortretenden Geschöpfe nach zwei<br />
entgegengesetzten Seiten sich vervollkommnen, so daß die Pflanze sich<br />
zuletzt <strong>im</strong> Baume dauernd und starr, das Thier <strong>im</strong> Menschen zur<br />
höchsten Beweglichkeit und Freiheit sich verherrlicht.―<br />
In diesem merkwürdigen Satze ist nicht allein das genealogische<br />
Verwandtschafts-Verhältnis des Pflanzenreichs zum Thierrreiche höchst<br />
treffend beurtheilt, son<strong>der</strong>n auch bereits <strong>der</strong> Kern <strong>der</strong> einheitlichen o<strong>der</strong><br />
monophyletischen Descendenz-Hypothese enthalten, <strong>der</strong>en Bedeutung<br />
ich Ihnen später auseinan<strong>der</strong> zu setzen habe. Vergl. über G o e t h e’s<br />
Transformismus namentlich: S. Kalischer: Goethe’s Verhältniß zur<br />
Naturwissenschaft. Berlin 1878.― –<br />
Soweit Ernst HAECKEL aus seiner „Natürlichen<br />
Schöpfungsgeschichte―, die in 1. Auflage 1868 erschien und die auf<br />
freien Vorträgen vor Laien und Studierenden aller Fakultäten <strong>im</strong><br />
Wintersemester 1867/68 in Jena, basiert (die Vorträge sind von zwei<br />
Sudierenden stenographiert und später von HAECKEL noch redaktionell<br />
überarbeitet worden).<br />
Bevor wir auf HAECKELs Stammbäume eingehen, sei hier noch die<br />
berühmte Äußerung von Immanuel KANT zur Abstammungslehre aus<br />
seiner „Kritik <strong>der</strong> Urteilskraft“ (§80) zitiert, die auch Goethe<br />
aufgegriffen hat. Dr. Dorothea KUHN (* Halle 1923), die textkritisch die<br />
naturwissenschaftlichen Schriften Goethes in <strong>der</strong> Hamburger Goethe-<br />
Ausgabe kommentiert hat, hielt 1998 vor <strong>der</strong> Ortsvereinigung <strong>der</strong><br />
Hamburger Goethe-Gesellschaft einen Vortrag zum Thema: „Bildung<br />
und Umbildung organischer Naturen. Goethe und die Biologie.“ Sie<br />
zitiert dabei Goethe <strong>im</strong> Zusammenhang mit dessen Methode in <strong>der</strong><br />
Biologie: „Betrachten wir aber alle Gestalten, beson<strong>der</strong>s die<br />
organischen, so finden wir, daß nirgend ein Bestehendes, nirgend ein<br />
Ruhendes, ein Abgeschlossenes vorkommt, son<strong>der</strong>n daß vielmehr alles<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 97<br />
in einer steten Bewegung schwanke.― (aus: Zur Morphologie, „Die<br />
Absicht wird eingeleitet― 1817).<br />
Dann Dorothea KUHN: „Da ist also wie<strong>der</strong> das Genetische, die<br />
Dynamik in allem Lebendigen. Goethe hat seiner Schriftenreihe das<br />
biblische Motto aus dem Buch Hiob gegeben: „Siehe er geht vor mir<br />
über, ehe ichs gewahr werde, und verwandelt sich, ehe ichs merke.― Die<br />
Schöpfung und die ablaufende <strong>Zeit</strong> sind hier angesprochen. Neben <strong>der</strong><br />
Gestalt kommt die Entwicklungsgeschichte ins Spiel. Dabei ist<br />
hinzuweisen darauf, daß die Hefte Goethes neben naturgeschichtlichen<br />
Beiträgen auch Philosophisches, Erzählerisches und Poetisches<br />
enthalten, womit Goethe beson<strong>der</strong>s seine eigene<br />
Entwicklungsgeschichte dokumentiert. „Vorhandenes und sich<br />
Wandelndes s<strong>im</strong>ultan und sukzessiv gleichzeitig zu betrachten, es<br />
könne einen in eine Art von Wahnsinn versetzen―, stellt Goethe fest.<br />
Dennoch sieht er darin die Aufgabe des Morphologen. Goethe läßt sich<br />
darauf ein, er kommt hier ganz natürlich in das Vorfeld von<br />
Verwandtschafts- und Abstammungsfragen. In mehreren Beiträgen<br />
zu seinen Heften „Zur Morphologie― beschäftigt er sich mit dem Einfluß,<br />
den die neuere Philosophie auf seine Studien gehabt habe. Es habe ihn<br />
angesprochen, berichtet er, daß KANT in <strong>der</strong> „Kritik <strong>der</strong> Urteilskraft― auf<br />
einen göttlichen Verstand hinweise, <strong>der</strong> von <strong>der</strong> Anschauung eines<br />
Ganzen zu <strong>der</strong> seiner Teile hinführe. Goethe bemerkt dazu, daß <strong>der</strong><br />
menschliche Verstand doch wohl auch „durch das Anschauen einer<br />
<strong>im</strong>mer schaffenden Natur― befähigt werden könne, sie als Ganzes zu<br />
verstehen. Er bezieht sich beson<strong>der</strong>s auf den §80 <strong>der</strong> „Kritik <strong>der</strong><br />
Urteilskraft―, in dem KANT es als „ein gewagtes Abenteuer <strong>der</strong><br />
Vernunft“[sic!] bezeichnet, wenn man eine Hypothese bilde – und nun<br />
geht er ganz ins naturwissenschaftliche Detail – eine Hypothese, die<br />
besagt, daß „gewisse Wassertiere sich nach und nach zu Sumpftieren―<br />
und diese zu „Landtieren ausbildeten―. Aus Fossilien könne man solche<br />
Abläufe rekonstruieren. Die „Analogie <strong>der</strong> Formen― lege „die Vermutung<br />
einer wirklichen Verwandtschaft <strong>der</strong>selben in <strong>der</strong> Erzeugung von einer<br />
gemeinschaftlichen Urmutter nahe.“<br />
Dies wäre also eine Entwicklungsvorstellung mit sich in den<br />
Generationsfolgen verän<strong>der</strong>nden Arten, die man sich wohl als eine<br />
Evolution in einem begrenzten Umfelde vorzustellen hat. KANT nennt<br />
sie „nicht ungere<strong>im</strong>t―, wenn auch die Erfahrung kein Beispiel davon<br />
zeige. Er geht also sehr vorsichtig damit um – und Goethe noch<br />
vorsichtiger, denn er nennt nur den Paragraphen und überläßt es<br />
uns, die Stelle bei Kant aufzusuchen. [sic!]. Aber er hatte selbst <strong>der</strong><br />
Morphologie das Kennwort „genetisch― zugeteilt, das wies in die gleiche<br />
Richtung wie KANTs Vermutung allgemeiner Verwandtschaften aus <strong>der</strong><br />
Sicht des göttlichen Verstandes.― Soweit Dorothea KUHN. Für den<br />
neugierigen Leser sei hier die Stelle aus dem §80 zitiert, die KANT<br />
sogar noch „sicherheitshalber― in eine Fußnote „eingepackt― hat. In<br />
dieser Fußnote heißt es nun in KANTs typisch-schwierigem Stil:<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 98<br />
„[…] Denn ungere<strong>im</strong>t ist es eben nicht, wie die generatio aequivoca,<br />
worunter man die Erzeugung eines organisierten Wesens durch die<br />
Mechanik <strong>der</strong> rohen unorganischen Materie versteht. Sie wäre <strong>im</strong>mer<br />
noch generatio univoca in <strong>der</strong> allgemeinsten Bedeutung des Wortes,<br />
sofern nur etwas Organisches aus einem an<strong>der</strong>en Organischen, obzwar<br />
unter dieser Art Wesen spezifisch von ihm unterschiedenen, erzeugt<br />
würde; z. B. wenn gewisse Wassertiere sich nach und nach zu<br />
Sumpftieren, und aus diesen nach einigen Zeugungen zu<br />
Landtieren ausbildeten. A priori, <strong>im</strong> Urteile <strong>der</strong> bloßen Vernunft,<br />
wi<strong>der</strong>streitet sich das nicht. Allein die Erfahrung zeigt davon kein<br />
Beispiel; […]―. ( I. KANT: Kritik <strong>der</strong> Urteilskraft. Philosophische Bibliothek<br />
Band 39 a, S. 286f. ; Verlag Felix Meiner, Hamburg, 1974).<br />
Nun wie<strong>der</strong> zur HAECKEL. Be<strong>im</strong> Betrachten <strong>der</strong> 21 Stammbäume in<br />
HAECKELs „Natürlicher Schöpfungsgeschichte“ kann sich <strong>der</strong> Autor<br />
als biologisch orientierter Genealoge (= „GeneTaloge―) recht gut in<br />
DARWINs peinliches Bedenken hineindenken, wenn dieser zunächst<br />
HAECKELs überstürztes kühnes Fortentwickeln seiner<br />
Abstammungstheorie so konkret vor Augen geführt bekommt, zumal<br />
seinerzeit DARWIN wohl noch keinen einzigen Stammbaum konkret<br />
zeichnerisch veröffentlicht hatte!<br />
In HAECKELs „Natürlicher Schöpfungsgeschichte― (1868) findet man<br />
aber nun erstmals und vor allem schematisch-tafelmäßige<br />
Stammbäume von den einfachsten organischen Lebewesen<br />
(Einzellern) bis zu den höchstentwickelten Pflanzen- und Tierreich, hier<br />
bis zum Menschen dargestellt. Und darüber hinaus sogar auch noch<br />
eine Aufglie<strong>der</strong>ung vom Urmenschen sich verzweigend in die einzelnen<br />
Rassen <strong>der</strong> Menschheit, wie sie seinerzeit klassifiziert waren.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />
S e i t e | 99
S e i t e | 100<br />
In zwei Abbildungen (Entwurf von 1866, Skizze) sind die in HAECKELs<br />
„Natürlicher Schöpfungsgeschichte“ dargestellten Stammbäume <strong>der</strong><br />
organischen Welt aufgeführt. Daneben hat HAECKEL noch zusätzlich<br />
erklärende Tabellen aufgestellt, die die Stammbäume ergänzen.<br />
HAECKELs Stammbäume haben das statische System <strong>der</strong><br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 101<br />
Organismen in eine entwicklungsgeschichtliche Form gebracht.<br />
Diese „phylogenetische― Form war die Basis für spätere<br />
Detailforschungen. HAECKELs Stammbäume bildeten die Grundlage für<br />
die ständig korrigierten und erweiterten Darstellungen <strong>der</strong><br />
Verwandtschaftsverhältnisse. Inzwischen hat sich hieraus die<br />
eigenständige Wissenschaft <strong>der</strong> Taxonomie mit ihren Darstellungen in<br />
Phylogrammen und Kladogrammen entwickelt, die <strong>im</strong> wesentlichen<br />
nichts an<strong>der</strong>es sind als Stammbaumdarstellungen <strong>der</strong> Organismen in<br />
computergerechter Form.<br />
[Im Jahr 2008 schrieb ich:]<br />
Bald werden wir die 150. Wie<strong>der</strong>kehr des Erscheinens von Charles<br />
DARWINs epochemachenden Hauptwerk „On the Origin of Species by<br />
Means of Natural Selection― (meist übersetzt mit „Die Entstehung <strong>der</strong><br />
Arten durch natürliche Zuchtwahl (o<strong>der</strong> auch: … Auslese―) zu gedenken<br />
haben. Das Werk erschien am 24. November 1859 und die erste<br />
Auflage von 1250 Exemplaren war am Tage des Erscheinens vergriffen.<br />
Die 6. Auflage 1872 war die letzte, die DARWIN selbst noch besorgen<br />
konnte. Aus dieser seien hier nur die 3 Passagen zitiert, wo Goethe von<br />
DARWIN zitiert wird. Im „Geschichtlichen Überblick über die Entwicklung<br />
<strong>der</strong> Ansichten von <strong>der</strong> Entstehung <strong>der</strong> Arten― kommt Goethe gleich auf<br />
Seite 3 vor. Zuvor erwähnt DARWIN Jean Baptiste Chevalier de<br />
LAMARCK, 1744-1829, Prof. <strong>der</strong> Naturgeschichte in Paris, Begrün<strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> Milieutheorie, mit <strong>der</strong> bekannten Feststellung: „LAMARCK war <strong>der</strong><br />
erste, dessen Äußerungen über die Entstehung <strong>der</strong> Arten lebhaftes<br />
Aufsehen erregten. Dieser mit Recht gefeierte Naturforscher<br />
veröffentlichte seine Ansichten zuerst <strong>im</strong> Jahre 1801 und erweiterte sie<br />
in seiner 1809 erschienenen Philosophie Zoologique. […] Die Mittel <strong>der</strong><br />
Abän<strong>der</strong>ung sucht er zum Teil <strong>im</strong> unmittelbaren Einfluß <strong>der</strong><br />
Lebensbedingungen zum Teil in <strong>der</strong> Kreuzung bereits bestehen<strong>der</strong><br />
Formen; einen bedeutenden Einfluß schreibt er ferner dem Gebrauch<br />
o<strong>der</strong> Nichtgebrauch <strong>der</strong> Organe, also <strong>der</strong> Macht <strong>der</strong> Gewohnheit zu. Auf<br />
diese letztere scheint er alle die schönen Anpassungen in <strong>der</strong> Natur<br />
zurückführen, z. B. den langen Hals <strong>der</strong> Giraffe, <strong>der</strong> ihr das Abfressen<br />
<strong>der</strong> Blätter von hohen Bäumen ermöglicht. […] Er nahm aber zugleich<br />
ein Gesetz fortschreiten<strong>der</strong> Entwicklung an, und da nach diesem alle<br />
Lebensformen die Neigung zur Aufwärtsentwicklung besitzen, so nahm<br />
er <strong>im</strong> Hinblick auf das Vorhandensein äußerst einfacher Organismen in<br />
unseren Tagen für <strong>der</strong>artige Formen Generatio spontanea an. *)<br />
In <strong>der</strong> zweiten Fußnote dieses Überblickes heißt es nun unter<br />
an<strong>der</strong>em: „Es ist merkwürdig, wie vollständig mein Großvater Dr.<br />
Erasmus DARWIN in seiner 1794 veröffentlichten Zoonomia (I, 500-<br />
510) die Ansichten LAMARCKs und ihre irrige Begründung<br />
vorweggenommen hatte. Nach GEOFFROY war zweifellos auch<br />
GOETHE eifriger Anhänger ähnlicher Ansichten, was aus einer<br />
Einleitung eines seiner Werke, das 1794/95 verfaßt wurde, aber erst viel<br />
später erschien, klar hervorgeht. Er wies darauf hin (s. „Goethe als<br />
Naturforscher― von Karl MEDING), daß für den Naturforscher <strong>der</strong><br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 102<br />
Zukunft die Frage z. B. nicht mehr lauten werde, w o z u das Rind<br />
seine Hörner bekommen, son<strong>der</strong>n w i e es sie bekommen habe. Das<br />
ist ein merkwürdiges Beispiel dafür, wie sich gleichartige Ansichten<br />
gleichzeitig bilden. GOETHE in Deutschland, Erasmus DARWIN in<br />
England und GEOFFROY SAINT-HILAIRE in Frankreich kamen (wie<br />
wir gleich sehen werden) 1794/95 zu dem gleichen Schluß in bezug<br />
auf Artenentstehung.“ Am Ende dieses geschichtlichen Überblickes<br />
schreibt DARWIN: „Der bekannte französische Botaniker M. LECOQ<br />
schreibt (1854, Études sur la géographie botanique, Bd. I): „Man sieht,<br />
daß unsere Forscher über die Konstanz o<strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>lichkeit <strong>der</strong><br />
Arten uns direkt zu den Ideen zweier mit Recht gefeierter Männer<br />
zurückführt: zu GEOFFROY SAINT-HILAIRE und GOETHE.“<br />
Im 5. Kapitel „Gesetze <strong>der</strong> Abän<strong>der</strong>ung―, Unterkapitel „Kompensation<br />
und Ökonomie des Wachstums― schreibt DARWIN: „Der ältere<br />
GEOFFROY und GOETHE stellten fast gleichzeitig ein Gesetz <strong>der</strong><br />
Kompensation o<strong>der</strong> des Gleichgewichts des Wachstums auf, dem<br />
zufolge, wie GOETHE sagt, „die Natur gezwungen ist, auf <strong>der</strong> einen<br />
Seite sparsam zu sein, um auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en geben zu können“.<br />
Erst <strong>im</strong> Jahr 1871 veröffentlichte Charles DARWIN sein Buch „Die<br />
Abstammung des Menschen“, das nun das damals sehr heikle Thema<br />
<strong>der</strong> menschlichen Stammesgeschichte behandelt und damit in<br />
mancherlei Hinsicht noch berühmter, wenn auch weltanschaulich noch<br />
umstrittener geworden ist.<br />
Hier seien nur einige Zitat daraus wie<strong>der</strong>gegeben, die die<br />
Wertschätzung für Ernst HAECKEL wohl nicht deutlicher aussprechen<br />
können. In <strong>der</strong> Einleitung schreibt DARWIN: „Die Folgerung, daß <strong>der</strong><br />
Mensch ebenso wie an<strong>der</strong>e Arten von einer alten, tiefstehenden,<br />
ausgestorbenen Form abstamme, ist keineswegs neu. Sie wurde schon<br />
vor langer <strong>Zeit</strong> von LAMARCK gezogen, ebenso wie später von<br />
mehreren hervorragenden Naturforschern und Philosophen, von<br />
WALLACE, LYELL, HUXLEY, VOGT, LUBBOCK, BÜCHNER, ROLLE u.<br />
a., beson<strong>der</strong>s aber von Ernst HAECKEL. Außer seiner großen<br />
„Generellen Morphologie <strong>der</strong> Organismen“ (1866) hat <strong>der</strong> zuletzt<br />
genannte Naturforscher die Genealogie des Menschen auch in seiner<br />
„Natürlichen Schöpfungsgeschichte“ eingehend erörtert (1868).<br />
Wäre dieses Buch schon vor <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>schrift meiner Arbeit<br />
erschienen, so wäre diese wahrscheinlich nie beendet worden. Fast<br />
alle Schlüsse, zu denen ich gekommen bin, finde ich durch diesen<br />
Naturforscher bestätigt, dessen Kenntnisse in vielen Punkten viel<br />
vollkommener sind als die meinigen.“<br />
In einer Fußnote zum 2. Kapitel heißt es: „HAECKEL erörtert in<br />
ausgezeichneter Weise die Schritte, durch welche <strong>der</strong> Mensch ein<br />
Zweifüßler wurde: Natürliche Schöpfungsgeschichte 1868, S. 507. In<br />
einer an<strong>der</strong>en Fußnote zum 6. Kapitel schreibt er: „Ausführliche<br />
Tabellen gibt er in seiner „Generellen Morphologie―, Bd. 2. S. CLIII und<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 103<br />
425, und mit speziellerer Beziehung auf den Menschen in seiner<br />
„Natürlichen Schöpfungsgeschichte“. In seiner Besprechung des<br />
letzteren Werkes in The Academy, 1869, S. 42 sagt Prof. HUXLEY, daß<br />
er das Phylum o<strong>der</strong> die Deszendenzlinien <strong>der</strong> Wirbeltiere von<br />
HAECKEL für ausgezeichnet erörtert hält, wenngleich er von ihm in<br />
einigen Punkten abweicht. Er äußert auch seine hohe Wertschätzung<br />
<strong>der</strong> allgemeinen Haltung und des Geistes des ganzen Werkes.―<br />
Neben mir liegt Ernst HAECKELs Halble<strong>der</strong>band aus meiner<br />
Bibliothek: „Natürliche Schöpfungsgeschichte“ „siebte<br />
umgearbeiteten und vermehrten Auflage von 1879―. „Mit dem Porträt<br />
des Verfassers (nach einer Photographie) und mit 17 Tafeln, 20<br />
Holzschnitten, 21 Stammbäumen und 27 systematischen Tabellen.―<br />
[zum Teil farbig und als Ausklapptafeln!] Der lange Untertitel lautet:<br />
„Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die<br />
Entwicklungslehre <strong>im</strong> ‚Allgemeinen und diejenige von DARWIN,<br />
GOETHE und LAMARCK <strong>im</strong> beson<strong>der</strong>en. Von Dr. Ernst HAECKEL,<br />
Professor an <strong>der</strong> Universität Jena.“ Dieses Buch betrachte ich als<br />
eine beson<strong>der</strong>e bibliophile Kostbarkeit in meiner Bibliothek, die sich über<br />
drei Stockwerke erstreckt. Vor einigen Jahrzehnten hatte ich diesen<br />
Halble<strong>der</strong>band wegen des hohen Preises nur zögerlich aus einem<br />
Münchner Antiquariat erworben. Er trägt einen Exlibris-Stempel des<br />
vormaligen Besitzers Prof. Dr. Müller, Alzey und einen gekrönten roten<br />
Wappensiegel-Aufkleber <strong>der</strong> „Hofbuchhandlung von August<br />
Klingelhoeffer, Darmstadt―. Ein solches Buch konnte wohl nur ein<br />
Naturforscher mit großer künstlerischer Begabung schaffen! Interessant<br />
wäre es, den Verän<strong>der</strong>ungen nachzugehen, die HAECKEL in den<br />
einzelnen Auflagen vorgenommen hat. In <strong>der</strong> ersten Auflage hieß <strong>der</strong><br />
Untertitel noch ausführlicher: …<strong>im</strong> Beson<strong>der</strong>n, über die Anwendung<br />
<strong>der</strong>selben auf den Ursprung des Menschen und an<strong>der</strong>e damit<br />
zusammenhängende Grundfragen <strong>der</strong> Naturwissenschaft.“ Das<br />
Porträt des Verfassers links neben <strong>der</strong> Titelseite fehlte. Dafür waren dort<br />
in <strong>der</strong> ersten Auflage 12 Köpfe abgebildet, von oben bis unten numeriert<br />
von 1 bis 12. Nummer 1 ist ein edler Homo-sapiens-Kopf, während die<br />
untere Reihe Affenköpfe zeigt, die darüber liegenden Zwischenformen<br />
sind negride Köpfe. Also eine selbst heute noch höchst provozierende<br />
Darstellung, womit sich HAECKEL verständlicherweise den Titel eines<br />
„bösen Affenprofessors― eingebrockt hatte.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 104<br />
Der von mir sehr geschätzte Wissenschaftsjournalist Herbert WENDT,<br />
1914- , zitiert in seinem Beitrag über Ernst HAECKEL, <strong>der</strong> in <strong>der</strong><br />
Enzyklopädie „Die Großen <strong>der</strong> Weltgeschichte―, Kindler Verlag, Zürich<br />
1978, erschienen ist, eingangs einen Brief, den Charles DARWIN an<br />
Ernst HAECKEL schon 1868 geschrieben hat: „Ich habe seit langem<br />
beobachtet, daß allzu große Strenge die Leser verführt, die Partei <strong>der</strong><br />
angegriffenen Person zu ergreifen. Da Sie, sehr verehrter Herr<br />
Professor HAECKEL, sicherlich eine große Rolle in <strong>der</strong> Wissenschaft<br />
spielen werden, gestatten Sie mir als älterem Mann, Sie ernstlich zu<br />
bitten, über das nachzudenken, was ich zu sagen mir erlaubt habe―, so<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 105<br />
schreib <strong>der</strong> Meister <strong>im</strong> Jahre 1868 an seinen begeisterten Jünger und<br />
fuhr fort: „ Ich weiß, daß es leicht ist zu predigen, und scheue mich nicht<br />
zu sagen, daß ich – wenn ich das Vermögen besäße, mit treffen<strong>der</strong><br />
Schärfe zu schreiben – meinen Triumph darein setzen würde, den<br />
armen Teufeln das Innerste nach außen zu kehren. Aber ich bin<br />
überzeugt, daß dies nicht guttut, son<strong>der</strong>n nur Unannehmlichkeiten<br />
verursacht. Es scheint mir <strong>im</strong>mer etwas zweifelhaft, wenn man zu positiv<br />
über irgendeinen komplizierten Gegenstand spricht. Können Sie mir<br />
meine Fre<strong>im</strong>ütigkeit verzeihen?―<br />
WENDT fährt fort: „Diesen Brief, den Charles DARWIN an Ernst<br />
HAECKEL richtete, erklärt besser als je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Kommentar die<br />
anfängliche Wirkung, die <strong>der</strong> mutigste, waghalsigste, aber auch<br />
trotzigste und risikofreudigste Vorkämpfer für Darwins Lehre auf seine<br />
<strong>Zeit</strong>genossen ausübte. Selbst DARWIN, so scheint es, hat HAECKEL<br />
wegen seiner Polemik getadelt, seine Extravaganzen mißbilligt und ihn<br />
mit aller Noblesse in seine Schranken verwiesen. Aber es scheint nur<br />
so. Charles DARWIN richtete diesen Appell zur Mäßigung an Ernst<br />
HAECKEL, als er selbst noch recht unsicher war, nämlich wenige Jahre<br />
nach <strong>der</strong> Veröffentlichung seines Buches über die Entstehung <strong>der</strong> Arten.<br />
Zu dieser <strong>Zeit</strong> fühlte sich DARWIN – nach seinen eigenen Worten – fast<br />
wie ein Monomane, zweifelte an sich selbst und fürchtete eine<br />
enthusiastische Zust<strong>im</strong>mung zu seiner Selektionstheorie fast noch mehr<br />
als jeden kritischen Angriff. In HAECKELs Werk Generelle<br />
Morphologie <strong>der</strong> Organismen fielen ihm nicht so sehr die genialen<br />
Entwürfe zur Untermauerung des Evolutionsgedankens auf als vielmehr<br />
die leidenschaftlich vorgetragenen philosophischen Folgerungen, die<br />
HAECKEL aus DARWINs Lehre zog. […] Nur ein paar Jahre später aber<br />
sahen die Dinge ganz an<strong>der</strong>s aus. Die Auseinan<strong>der</strong>setzungen um die<br />
Abstammungstheorie waren inzwischen lebhaft <strong>im</strong> Gange. Längst hatten<br />
Naturwissenschaftler, Philosophen und Theologen die Waffen geschärft<br />
und ihre Duelle um das Thema „Evolution― in aller Öffentlichkeit<br />
begonnen. DARWIN selbst stand mitten <strong>im</strong> Kreuzfeuer <strong>der</strong> Meinungen<br />
und konnte <strong>der</strong> „Frage aller Fragen― (dem Problem <strong>der</strong><br />
Menschabstammung) jetzt nicht mehr ausweichen, da seine Paladine in<br />
England – an ihrer Spitze Thomas Henry HUXLEY („Darwins<br />
Bulldogge―, wie ihn die <strong>Zeit</strong>genossen nannten) – mittlerweile die nötige<br />
Vorarbeit geleistet hatte. So fiel DARWINs Urteil über HAECKEL jetzt<br />
ganz an<strong>der</strong>s und ausgesprochen positiv aus. In seinem Vorwort zur<br />
Abstammung des Menschen (1870) schrieb ja er: ―Wäre HAECKELs<br />
’Natürliche Schöpfungsgeschichte’ erschienen, bevor meine Arbeit<br />
nie<strong>der</strong>geschrieben war, dann würde ich sie wahrscheinlich nie zu Ende<br />
geführt haben―.<br />
Eine für mich als biologisch-orientierten Genealogen sehr<br />
bemerkenswerte Äußerung DARWINs ist: ―Der deutsche Philosoph<br />
SCHOPENHAUER bemerkt: ‚das endliche Ziel aller Liebeshändel,<br />
mögen sie nun komisch o<strong>der</strong> tragisch sein, ist tatsächlich von größerer<br />
Bedeutung als alle an<strong>der</strong>en Zwecke des menschlichen Lebens. Hier<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 106<br />
dreht sich alles um nichts Geringeres als um die Bildung <strong>der</strong> nächsten<br />
Generation. Nicht das Wohl o<strong>der</strong> Wehe des Individuums, son<strong>der</strong>n das<br />
<strong>der</strong> künftigen Menschheit steht auf dem Spiel’ (Schopenhauer and<br />
Darwinismus; in: Journal of Anthropology, Jan. 1871, S. 323).―<br />
Das Zitat stammt aus DARWINs Buch Selection in Relation to sex;<br />
deutsch: „Die Geschlechtliche Zuchtwahl“ (1871) , das in England<br />
gemeinsam mit <strong>der</strong> „Abstammung des Menschen― mit über 75<br />
Illustrationen (Stichen) und Quellenhinweisen erschienen ist, aber in<br />
Deutschland erst 1909 in <strong>der</strong> Übersetzung von Dr. Heinrich Schmidt,<br />
Jena und 1919 in <strong>der</strong> Übersetzung von J. Victor Carus veröffentlicht<br />
wurde - dann 1919 nochmals von J. Viktor CARUS ins Deutsche<br />
übersetzt - und heute wohl zu den Raritäten <strong>im</strong> Antiquariatshandel zählt.<br />
Dieses Zitat hat viel mit dem Inhalt von DARWINs Buch <strong>im</strong> engeren<br />
Sinne und dem allgemeinen Thema <strong>der</strong> menschlichen Soziologie und<br />
Kulturgeschichte zu tun und damit natürlich auch mit <strong>der</strong> Genealogie<br />
und <strong>GeneTalogie</strong>, die zu diesem Thema reichlich Material bietet. Im<br />
letzten Kapitel dieses Buches werden wir dieses Thema nochmals<br />
streifen.-<br />
Charles DARWINs „On the Origin of Species by Means of Natural<br />
Selection― („Die Entstehung <strong>der</strong> Arten durch natürliche Zuchtwahl― und<br />
Erich HAECKELs „Natürliche Schöpfungsgeschichte“ sind beides<br />
bahnbrechende Klassiker <strong>der</strong> Naturgeschichte! Kein Denkverbot<br />
hin<strong>der</strong>te die beiden großen Naturforscher ihre jahrzehntelangen<br />
Forschungsergebnisse zu veröffentlichen. HAECKELs Bekenntnis zu<br />
seinen Veröffentlichungen, das er 1903 in <strong>der</strong> Neuauflage seiner über<br />
200.000 Exemplaren verkauften „Welträtseln“ (1. Aufl. 1899)<br />
gegenüber seinen Kritikern aussprach gilt wohl sinngemäß auch für<br />
DARWIN:<br />
„Auch dieses Buch ist nur das offene und ehrliche Bekenntnis<br />
eines Mannes, <strong>der</strong> ein halbes Jahrhun<strong>der</strong>t hindurch nach<br />
Erkenntnis <strong>der</strong> W a h r h e i t geforscht hat, und <strong>der</strong> nun die<br />
allgemeinen Ergebnisse seiner mühsamen Forschungen nach<br />
bestem Wissen und Gewissen seinen Mitmenschen nutzbar<br />
machen möchte.―<br />
Interessant ist, was DARWIN und HAECKEL seinerzeit über die<br />
„Wilden― bzw. noch unkultivierten Naturvölkern geschrieben haben. Es<br />
ist uns heutzutage wohl kaum noch begreiflich. DARWIN schreibt in<br />
seinem Buch „Über die Abstammung des Menschen― am Schluß:<br />
„Das bedeutungsvollste Resultat dieses Buches, daß <strong>der</strong> Mensch von<br />
einer niedrig organisierten Form abstammt, wird für viele ein großes<br />
Ärgernis sein. Ich bedauere das. Aber es kann schwerlich ein Zweifel<br />
darüber bestehen, daß wir von Barbaren abstammen. Mein Erstaunen<br />
be<strong>im</strong> ersten Anblick einer Herde Feuerlän<strong>der</strong> an einer wilden<br />
zerklüfteten Küste werde ich nie vergessen; denn ganz plötzlich fuhr es<br />
mir durch den Kopf: so waren unsere Vorfahren. Diese Menschen waren<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 107<br />
absolut nackt und mit Farbe beschmiert, ihre langen Haare waren<br />
durcheinan<strong>der</strong> gewirrt, ihr Mund schäumte in <strong>der</strong> Erregung, und ihr<br />
Ausdruck war wild, erschreckt und mißtrauisch. Sie kannten kaum<br />
irgend eine Kunst, und gleich wilden Tieren lebten sie von dem, was sie<br />
gerade erlangen konnten. Sie hatten keine Regierung, und waren<br />
erbarmungslos gegenüber allen, die nicht ihrem eigenen kleinen Stamm<br />
angehörten. Wer einen Wilden in seiner He<strong>im</strong>at gesehen hat, wird sich<br />
nicht mehr schämen, anzuerkennen, daß in seinen A<strong>der</strong>n das Blut noch<br />
niedrigerer Kreaturen fließt. Ich für meinen Teil möchte lieber von jenem<br />
heroischen kleinen Affen abstammen, <strong>der</strong> seinen schrecklichen Feind<br />
angriff, um das Leben seines Wärters zu retten, o<strong>der</strong> von jenem alten<br />
Pavian, <strong>der</strong>, von den Höhen herabsteigend, seinen jungen Kameraden<br />
<strong>im</strong> Triumph aus <strong>der</strong> Mitte einer Hundemeute hinweg trug, als von einem<br />
Wilden, <strong>der</strong> sich an den Qualen seiner Feinde weidet, blutige Opfer<br />
darbringt, ohne Gewissensregung seine Kin<strong>der</strong> tötet, sein Weib als<br />
Sklavin behandelt, keinen Anstand kennt und von dem gräßlichen<br />
Aberglauben gejagt wird.―<br />
Noch temperamentvoller äußert sich HAECKEL in einem seiner<br />
allerletzten Bücher, in: „Die Lebenswun<strong>der</strong>― (1905) einer „Biologischen<br />
Philosophie und Ergänzungsband zu seinem Buch „Die Welträthsel―<br />
(1899), die ja ein Welterfolg waren und ihm Tausende von<br />
internationalen, begeisterten, aber auch vernichtenden Kritiken<br />
eingebracht hatten. Sein Buch beginnt freilich „entschuldigen<strong>der</strong>weise―<br />
hier mit dem Goethe-Motto:<br />
Irrtum verläßt uns nie,<br />
Doch zieht ein höher Bedürfnis,<br />
Immer den strebenden Geist<br />
Leise zur Wahrheit hinan.<br />
Im 17. Kapitel mit <strong>der</strong> Hauptüberschrift „Lebenswerth― und Untertitel:<br />
„Lebenszweck. Natur und Cultur. Naturvölker, Barbarvölker, Civilvölker,<br />
Culturvölker. Persönlicher und socialer Lebenswerth― schreibt HAECKEL<br />
unter „Lebenswerth <strong>der</strong> Menschenrassen―: „Obgleich die bedeutenden<br />
Unterschiede <strong>im</strong> Geistesleben und Culturzustand <strong>der</strong> höheren und<br />
nie<strong>der</strong>en Menschenrassen allgemein bekannt sind, werden sie doch<br />
meistens sehr unterschätzt und demgemäß ihr sehr verschiedener<br />
Lebenswerth falsch bemessen. Das, was den Menschen so hoch über<br />
die Thiere, auch die nächst verwandten Säugethiere, erhebt, und was<br />
seinen Lebenswerth unendlich erhöht, ist die C u l t u r, und die höhere<br />
Entwicklung <strong>der</strong> V e r n u n f t, die ihn zur Cultur befähigt. Diese ist<br />
aber größtentheils nur Eigenthum <strong>der</strong> höheren Menschenrassen und bei<br />
den nie<strong>der</strong>en nur unvollkommen o<strong>der</strong> gar nicht entwickelt. Diese<br />
Naturmenschen (z. B. Weddas, Australneger) stehen in psychologischer<br />
Hinsicht näher den Säugethieren (Affen, Hunden), als dem<br />
hochcivilisierten Europäer; daher ist auch ihr individueller Lebenswerth<br />
ganz verschieden zu beurtheilen. Die Anschauungen darüber sind bei<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 108<br />
europäischen Cultur-Nationen, die große Colonien in den Tropen<br />
besitzen und seit Jahrhun<strong>der</strong>ten in engster Berührung mit Naturvölkern<br />
leben, sehr realistisch und sehr verschieden von den bei uns in<br />
Deutschland noch herrschenden Vorstellungen. Unsere idealistischen<br />
Anschauungen, durch unsere Schulweisheit in feste Regeln gebracht<br />
und von unseren Metaphysikern in das Schema ihres abstracten Ideal-<br />
Menschen gezwängt, entsprechen sehr wenig den realen Thatsachen.<br />
Daraus erklären sich auch viele Irrthümer unserer idealistischen<br />
Philosophie, ebenso wie viele praktischen Mißgriffe, die von uns in den<br />
deutschen erst neuerdings erworbenen Colonien begangen werden;<br />
diese würden vermieden worden sein, wenn wir eine gründliche<br />
Kenntniß vom nie<strong>der</strong>en Seelenleben <strong>der</strong> Naturvölker besäßen. (Vgl.<br />
GOBINEAU und LUBBOCK, S. 444).―-<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
3<br />
3.1 Zur Rassenfrage: Rückblick und Ausblick<br />
Es wäre nun aber völlig falsch aufgrund dieser persönlichen<br />
Äußerungen, die beiden großen Naturforscher als Protagonisten einer<br />
bereits damals aufkommenden „qualitativen― Rassentheorie in<br />
Zusammenhang zu bringen. Die eigentlichen Schrittmacher für die<br />
unrühmliche „Qualitative Rassenlehre“ in Europa waren keine<br />
wirklichen Naturforscher, son<strong>der</strong>n es waren Kulturphilosophen. Vor<br />
allem zwei <strong>Zeit</strong>genossen von DARWIN und HAECKEL haben die Basis<br />
zum Rassismus und damit zum Rassenhaß gelegt: Arthur Graf von<br />
GOBINEAU, 1816-1882 und Houston Stewart CHAMBERLAIN, 1855-<br />
1927.<br />
Der Franzose Graf von GOBINEAU, Schriftsteller und Diplomat,<br />
erregte mit seinem großen Hauptwerk „Essai sur l’inégalité des races<br />
humaines― (4 Bände, 1853-55) großes Aufsehen. Er vertrat darin die<br />
Ansicht, daß die verschiedenen Rassen best<strong>im</strong>mte unverän<strong>der</strong>liche<br />
Eigenschaften und Fähigkeiten bewahren. Die in NW-Europa lebenden,<br />
langköpfigen germanischen ‚Arier’ bezeichnete er als die Eliterasse, <strong>der</strong><br />
die Beherrschung aller an<strong>der</strong>en zukomme. Obwohl er in den heutigen<br />
Deutschen keltisch-slawische Mischlinge sah, fand seine Lehre lei<strong>der</strong><br />
gerade in Deutschland größten Wi<strong>der</strong>hall. GOBINEAU wirkte nachhaltig<br />
auf Friedrich NIETZSCHE, Richard WAGNER und Houston Stewart<br />
CHAMBERLAIN (lt. Großer Brockhaus 1954).<br />
Der Englän<strong>der</strong> Houston Stewart CHAMBERLAIN, Schwiegersohn von<br />
Richard WAGNER, 1813-1883, wurde beson<strong>der</strong>s durch sein stark<br />
umstrittenes Hauptwerk „Die Grundlagen des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts―<br />
(1899, 2 Bände), das eine sehr große Auflage erreichte, bekannt. Dieses<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 109<br />
Werk zielt in <strong>der</strong> Nachfolge GOBINEAUs auf eine Verherrlichung<br />
‚arischen Geistes’ und wirkte stark auf die Rassenlehre des<br />
Nationalsozialismus. Weitere Werke von ihm sind u. a.: „Immanuel Kant―<br />
(1905) und „Goethe― (1912). Als Wahldeutscher, <strong>der</strong> vom deutschen<br />
Geist die Heilung <strong>der</strong> Welt erwartete, wurde er während des 1.<br />
Weltkrieges einer <strong>der</strong> schroffsten Verfechter alldeutscher For<strong>der</strong>ungen.<br />
(lt. Großer Brockhaus 1954).<br />
Nach dem 2. Weltkrieg erschien über den in Mißkredit geratenen Stoff<br />
<strong>der</strong> Rassenlehre in Deutschland 1947 wohl als erstes Buch: „Die<br />
Rassenfrage in Wissenschaft und Politik “, eine deutsche Ausgabe<br />
des Originals von: „Race: Science and Politics― (1940) von Ruth<br />
BENEDICT (übersetzt von E. STARK) und herausgegeben von <strong>der</strong><br />
Military Goverment Information Control Licence Nr. US-E-144 bei Müller<br />
Kiepenneuer Verlag, Bergen /Oberbayern in einer Auflage von 10. 000<br />
Stück.<br />
Im gleichen Jahr 1947 erscheint das Buch „Vererbung und Rasse“<br />
des schwedischen Gelehrten Gunnar DAHLBERG, 1893-1956,<br />
Professor an <strong>der</strong> Universität Uppsala, das auf das schwedische Original<br />
von 1940 zurückgeht in deutscher Übersetzung von Josef WAGNER<br />
(Phönix-Verlag, Hamburg). Das Buch ist eine gute<br />
populärwissenschaftliche Darstellung und behandelt auch beson<strong>der</strong>s<br />
das Gebiet <strong>der</strong> Vererbung in Zusammenhang mit Rassenfragen. Im<br />
vorletzten Kapitel „Über Juden― geht <strong>der</strong> Verfasser auf die<br />
Unwissenschaftlichkeit des „Antisemitismus― ein. Auch Prof. Siegfried<br />
RÖSCH, auf den später noch ausführlicher eingegangen wird, erwähnt<br />
DAHLBERGs Buch bereits in seinem grundlegenden Büchlein<br />
„Grundzüge einer quantitativen Genealogie― von 1955 (S. 9).<br />
Beson<strong>der</strong>s möchte <strong>der</strong> Verfasser <strong>im</strong> Rahmen <strong>der</strong><br />
Nachkriegserscheinungen hier nun aber auf ein Buch des deutschen<br />
Gelehrten und Humanisten Prof. Gerhard von FRANKENBERG, 1892-<br />
1969, Zoologe, zeitweise Direktor des Naturhistorischen Museums<br />
Braunschweig und a. o. Professor an <strong>der</strong> Technischen Hochschule<br />
daselbst, hinweisen, da hier die Rassenfrage vom Standpunkt <strong>der</strong><br />
Biologie und <strong>im</strong> Geiste echten Menschentums kompetent behandelt und<br />
<strong>der</strong> politischen Pseudowissenschaft des NS-Reiches gegenübergestellt<br />
wird. Ich zitiere aus diesem schönen reich illustrierten Buch<br />
„Menschenrassen und Menschentum“, Berlin 1956, Safari Verlag;<br />
507 Seiten, 157 Fotos u. 178 Zeichnungen <strong>im</strong> Text, hier ungekürzt die<br />
„Einleitung― und dann die letzten vier Textseiten ebenfalls ungekürzt,<br />
das vor 50 Jahren (!) erschienen ist:<br />
„Einleitung. Es gibt Fragen, die den Menschen beschäftigt haben,<br />
seit er den Namen „Mensch― verdient, seit er über die Welt und sich<br />
selbst und seine Stellung <strong>im</strong> Naturganzen nachzusinnen begonnen hat.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 110<br />
Er ringt um eine Weltanschauung und damit – wenn er so veranlagt<br />
ist, daß sein Erkennen ihn sittlich verpflichtet – um Religion – das Wort<br />
<strong>im</strong> tolerantesten Sinne genommen. Er steht vor <strong>der</strong> Sozialen Frage: Wie<br />
kann das Zusammenleben <strong>der</strong> Menschen gütig und sinnvoll geordnet<br />
werden? Er sieht die Menschheit aufgespalten in Nationen, die ihren<br />
„Platz an <strong>der</strong> Sonne― wollen und darum einan<strong>der</strong> bedrängen.<br />
In all diese Probleme spielt das hinein, dem unser Buch gewidmet ist:<br />
die Rassenfrage. Zu den Ungleichheiten des Besitzes und <strong>der</strong> Bildung,<br />
zu den individuellen Verschiedenheiten des Körpers, des Charakters<br />
und <strong>der</strong> geistigen Veranlagung, wie sie sich selbst unter Geschwistern<br />
finden, treten Unterschiede, die man „rassische― nennt.<br />
Welche tatsächliche Bedeutung ihnen zukommt, werden wir prüfen.<br />
Aber die Seltsamkeit des Rassenproblems liegt darin, daß es in seinem<br />
Bereich bisher keineswegs auf Tatsachen allein angekommen ist,<br />
son<strong>der</strong>n mehr fast auf die Deutung, die man ihnen gab, und die<br />
Bedeutung, die man ihnen beilegte. Denn jene nicht zu leugnenden<br />
Verschiedenheiten sind durch mancherlei Gedankenverbindungen<br />
positiv o<strong>der</strong> negativ belastet. Wollen wir also die Frage<br />
unvoreingenommen studieren, so müssen uns neben den Ergebnissen<br />
<strong>der</strong> Anthropologie auch psychologische Erwägungen beschäftigen: Wie<br />
kam es zu <strong>der</strong> starken Gefühlsbetonung des Rassischen.<br />
Doch <strong>der</strong> Mensch ist ein Wesen aus Fleisch und Blut – die<br />
Grundgesetze des Lebensgeschehens, <strong>der</strong> Vererbung und Entwicklung<br />
gelten auch für ihn. Diese Gesetze also muß man kennen, wenn man<br />
seine Beson<strong>der</strong>heit verstehen will, sein blitzendes Auge und seine<br />
schaffende Hand, sein planendes Hirn und sein tapferes Herz. Denn erst<br />
auf dem Fundament des Lebens konnte sich Menschentum entfalten,<br />
jenes höhere, nur einem denkenden Wesen mögliche Sein.<br />
Um klar zu sehen, müssen wir uns also darüber unterrichten, wie sich<br />
Wandlung und Anpassung in <strong>der</strong> lebendigen Welt vollziehen, wie Arten<br />
und Rassen <strong>der</strong> Organismen sich bilden, welche Kräfte das<br />
stammesgeschichtliche Werden best<strong>im</strong>men. Wir müssen auch darüber<br />
nachsinnen, wie es zu <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>stellung des Menschen kam. Durch<br />
das Denkvermögen und alles, was damit zusammenhängt – wie<br />
Überlieferung, Sprache und was daraus wie<strong>der</strong> folgt -, hat „Homo<br />
sapiens― die Grenzen <strong>der</strong> Systematik, in die wir die Arten einordnen,<br />
gesprengt! Trotz seiner Herkunft aus dem Tierreich, über die es in <strong>der</strong><br />
wissenschaftlichen Welt keinen Streit mehr gibt, ist er kein Tier. Er ist<br />
„ein neuer Organismentyp―.<br />
Von solchen Betrachtungen ausgehend werden wir besser in <strong>der</strong> Lage<br />
sein, Entstehung und Wesen <strong>der</strong> Menschenrassen und dessen, was<br />
man so zu nennen pflegt, zu beleuchten, verfehlte Vorstellungen und<br />
Vorurteile zu überwinden. Und nur so dürfen wir hoffen, die mit dem<br />
Rassenproblem verknüpften Fragen, die die „Koexistenz― <strong>der</strong> Völker und<br />
die weitere Entwicklung <strong>der</strong> Menschheit betreffen, einer Lösung <strong>im</strong><br />
Geiste echten Menschentums näher zu führen.<br />
Im Geiste des Menschentums! Denn darin scheint man sich nach<br />
schrecklichen Erlebnissen einig zu werden, daß dies auf Erden „das<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 111<br />
Maß <strong>der</strong> Dinge― werden muß. Das Gedeihen des Menschen –<br />
körperlich, geistig und seelisch – ist wichtiger als die gewaltigen Bauten<br />
und Maschinen, als die größten Konzerne und Umsätze, ja selbst als die<br />
herrlichsten Kunstwerke. Alle jene Menschheitsfragen, zu denen auch<br />
das Rassenproblem gehört, können überhaupt nur gelöst werden, wenn<br />
wir nicht die Vernunft allein walten lassen, son<strong>der</strong>n auch die<br />
Menschlichkeit.―<br />
Das über 500 Seiten starke Buch schließt mit dem Kapitel<br />
„Ausblicke“ mit dem einführenden HÖLDERLIN-Motto:<br />
Was wir sind, ist nichts -<br />
Was wir suchen, ist alles.<br />
[…]<br />
Zwei Gefahren – heute erst von wenigen erkannt – bedrohen die<br />
Zukunft des Menschengeschlechts: wachsende Überbevölkerung <strong>der</strong><br />
Erde – und Entartung durch Störung <strong>der</strong> Naturauslese. Noch sehen wir<br />
keinen Ausweg – aber vielleicht haben die beiden Probleme eine<br />
gemeinsame Lösung, vielleicht läßt sich die eine Not gegen die an<strong>der</strong>e<br />
ausspielen!<br />
DER MENSCH DER ZUKUNFT<br />
„Wer weiß―, sagte Goethe einmal, „ob nicht auch <strong>der</strong> Mensch wie<strong>der</strong><br />
nur ein Wurf nach einem höheren Ziele ist!― Und wohl je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> dem<br />
großen Gedanken <strong>der</strong> Schöpfung – zumal in seiner mo<strong>der</strong>nen Form –<br />
nachsann, hat sich schon die Frage vorgelegt, ob denn die Entwicklung,<br />
die von unscheinbarsten Anfängen heraufgeführt hat bis zum Menschen,<br />
nicht noch weitergehen werde, über uns hinaus…<br />
Wir haben freilich schon einmal davon gesprochen, weshalb sich nach<br />
<strong>der</strong> Menschwerdung die biologische Fortentwicklung verlangsamte – in<br />
dem Maß, wie kultureller Fortschritt an ihre Stelle trat. Es scheint auch,<br />
mindestens <strong>im</strong> Augenblick, ein wenig fraglich, ob die Eugenik dazu<br />
helfen kann, uns „hinaufzupflanzen―. Wir dürfen froh sein, wenn es<br />
gelingt, das zu verteidigen, was wir die „Basis― des Menschen nannten,<br />
von <strong>der</strong> er vorstieß und auf <strong>der</strong> er seine Kultur aufbaute. Vermag er dies<br />
sein biologisches Erbe zu bewahren, so braucht er we<strong>der</strong> neue Organe<br />
noch verän<strong>der</strong>te Instinkte – geschweige denn ein größeres Gehirn.<br />
Nichts hin<strong>der</strong>t ihn dann, Schätze des Wissens und <strong>der</strong> Kunst zu<br />
sammeln und nach dem Vorbild <strong>der</strong> wahrhaft Großen zu leben, des<br />
Daseins froh und gütig gegen seinesgleichen.<br />
Überlassen wir also die Träume vom Übermenschen einstweilen den<br />
philosophischen Dichtern und dichtenden Philosophen! Unwesentlich ist<br />
es jedenfalls, ob <strong>der</strong> Mensch <strong>der</strong> Zukunft helleres o<strong>der</strong> dunkleres Haar<br />
tragen wird als wir, ob seine Gedanken in einem schmalen o<strong>der</strong> runden<br />
Schädel wohnen. Vielleicht gäbe es einige Wünsche, die sich auf unser<br />
Gebiß, unsere Sinnesorgane, unsere Wi<strong>der</strong>standsfähigkeit gegen<br />
Krankheiten bezögen. Vielleicht wäre zu hoffen, daß die Menschen Leid<br />
und Freude an<strong>der</strong>er stärker mitempfänden, daß ihr Herdentrieb<br />
schwände, ihre Tapferkeit <strong>im</strong> Denken zunähme…<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 112<br />
Wir müssen es <strong>der</strong> Zukunft anhe<strong>im</strong>stellen, ob und wann sich solche<br />
Wünsche erfüllen. Und wir möchten uns gar nicht ausmalen, daß man<br />
vielleicht <strong>der</strong>einst durch künstlich gelenkte Mutationen am Erbgut des<br />
Menschen zu modeln in <strong>der</strong> Lage wäre. Menschentum läßt sich nicht auf<br />
biologischem Wege allein schaffen! Dichter und Denker, Rassen und<br />
Völker haben die olympische Flamme <strong>der</strong> Kultur voran getragen und<br />
einan<strong>der</strong> zugereicht. Helfen wir nur, daß <strong>der</strong> Mensch <strong>im</strong>mer fähig bleibe,<br />
dies heilige Feuer zu unterhalten!<br />
Nicht so sehr <strong>im</strong> Sinne einer biologischen Veredlung als einer<br />
geistigen und sittlichen Aufwärtsentwicklung verstehen wir Schillers<br />
schönes Wort:<br />
MENSCHENTUM<br />
„Kunst ist, aus dem Marmor meißeln<br />
Venus und Apoll,<br />
Höh’re Kunst, den Menschen bilden,<br />
Wie er werden soll.―<br />
Ja, es ist die Aufgabe eines Künstlers – mag ein junger Mensch sein<br />
Leben und seine Persönlichkeit zu formen streben o<strong>der</strong> die Menschheit<br />
um Erfüllung ihres ewigen Auftrages ringen! Und wäre nicht gerade <strong>im</strong><br />
Menschen die Schöpferkraft <strong>der</strong> Natur lebendig, so müßte er verzagen<br />
vor <strong>der</strong> Größe dessen, was das Schicksal von ihm for<strong>der</strong>t.<br />
Freilich, wer nur an sich und seine Umgebung denkt, kann diese<br />
Aufgabe nicht meistern. Wessen Blick sich verengt und we<strong>der</strong> die<br />
Gefahren noch die Möglichkeiten <strong>der</strong> weiten Welt umfaßt, <strong>der</strong> dient auch<br />
dem eigenen Volke schlecht. „Die Menschheit kennen wir nicht“, hieß es<br />
in einem Buche, das in Deutschland vor dem ersten Weltkrieg viel<br />
gelesen wurde (Daniel Fryman, Wenn ich <strong>der</strong> Kaiser wär. Leipzig 1913).<br />
„und lehnen es ab, für sie zu sorgen o<strong>der</strong> gar uns für sie zu begeistern.<br />
Wo fängt das an und hört es auf, was uns zugemutet werden soll, als<br />
zur Menschheit gehörig zu lieben und in unser Streben einzuschließen?<br />
Ist <strong>der</strong> verkommene o<strong>der</strong> halb tierische russische Bauer des Mir, <strong>der</strong><br />
Schwarze in Ostafrika, das Halbblut Deutsch-Südwests o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
unerträgliche Jude Galiziens o<strong>der</strong> Rumäniens ein Glied dieser<br />
Menschheit?― Das war <strong>der</strong> Ungeist, <strong>der</strong> in den Abgrund geführt hat!<br />
Wie an<strong>der</strong>s mutet es an, was ein Mensch von durchdringendem Blick<br />
und warmem Herzen zum gleichen Thema zu sagen weiß! Charles<br />
Darwin schreibt in <strong>der</strong> „Abstammung des Menschen― (Kap. 4): „Wenn<br />
<strong>der</strong> Mensch in <strong>der</strong> Zivilisation vorschreitet und kleine Stämme sich zu<br />
größeren Gemeinschaften verbinden, so wird <strong>der</strong> schlichteste Verstand<br />
jedem Individuum sagen, daß es seine geselligen Instinkte und<br />
Sympathien auf alle Mitglie<strong>der</strong> des Stammes ausdehnen müsse, mögen<br />
sie ihm auch persönlich unbekannt sein. Ist das einmal erreicht, so<br />
verhin<strong>der</strong>t nur noch eine künstliche Schranke, daß er seine Sympathie<br />
auf die Individuen aller Völker und Rassen erstreckt. Wenn gewisse<br />
Leute von ihm <strong>im</strong> Aussehen und <strong>der</strong> Gewohnheit bedeutend abstechen,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 113<br />
bedarf es lei<strong>der</strong>, wie die Erfahrung lehrt, langer <strong>Zeit</strong>, bis er sie als<br />
Mitmenschen betrachtet.―<br />
Wo wir Rassen und Völker in Roheit und Schmutz versunken, in<br />
Unwissenheit und Aberglauben verharrend finden, sollte uns das alles<br />
an<strong>der</strong>e als ein Anlaß zum Hochmut sein! Es ist eine Mahnung, das<br />
kulturelle Erbe <strong>der</strong> Menschheit zu bewahren und allen zuteil werden zu<br />
lassen. Und es ist eine Warnung: Sind wir so sicher, daß unsere Kultur<br />
<strong>im</strong> Kern gesund ist und auch die Gegenauslese nicht zu fürchten hat, die<br />
ihre wertvollsten Träger ohne Rücksicht auf rassische Herkunft<br />
dez<strong>im</strong>iert? Die abendländische Kultur ist zu retten, aber nicht, wenn sie<br />
sich selbstgefällig abkapselt. Die kulturell fortgeschrittenen Gruppen <strong>der</strong><br />
Menschheit können sich gar keinen besseren Dienst erweisen, als wenn<br />
sie den zurückgebliebenen helfen wie ein älterer Bru<strong>der</strong> dem jüngeren,<br />
und ihren Anteil geben an ihrem geistigen Besitz. Nicht, um an ihnen<br />
Kunden zu gewinn o<strong>der</strong> Arbeitskräfte, son<strong>der</strong>n um endlich mit ihnen<br />
zusammen die großen Probleme <strong>der</strong> Menschheit in Angriff zu nehmen!<br />
An vielen Stellen <strong>der</strong> Erde häuft sich Sprengstoff o<strong>der</strong> schwelt<br />
verborgene Glut. Wir brauchen nur an Kenya zu denken o<strong>der</strong> an<br />
Südafrika o<strong>der</strong> an den französischen Kolonialbesitz. Aber wahrlich nicht<br />
aus Furcht wollen wir den an<strong>der</strong>en ihr Lebensrecht zugestehen, son<strong>der</strong>n<br />
in klarer Erkenntnis geschichtlichen Werdens! Wir wollen nicht länger<br />
statisch sehen, was doch Geschehen ist. Wir dürfen uns nicht von dem<br />
Augenblicksbild betören lassen, das uns den weißen Mann als<br />
Erdbeherrscher zeigt. Er soll und wird seinen Platz als Kulturträger<br />
behalten, aber an<strong>der</strong>e werden ihm zur Seite stehen, klug und stark wie<br />
er, und sie werden Lust und Leid, Sorge und Verantwortung mit ihm<br />
teilen.<br />
Kein einzelnes Volk, keine einzelne Rasse kann sich rühmen, die<br />
Menschheitskultur geschaffen zu haben, und alle haben ein Recht, an<br />
ihr teilzunehmen. Es wird auch <strong>im</strong>mer deutlicher, daß we<strong>der</strong> nationale<br />
noch rassische Schranken die Menschen auf die Dauer zu trennen<br />
vermögen.<br />
Gewiß sind die Rassen eine Realität, mit <strong>der</strong> wir rechnen müssen,<br />
schon weil sie in den Köpfen vieler so großen Platz einn<strong>im</strong>mt. Aber man<br />
hat ihre Bedeutung maßlos übertrieben, oft aus selbstischen Gründen,<br />
wenn auch selten klar bewußt. Der Mensch glaubt eben gar zu leicht,<br />
was ihm gefällt. So nahmen die Weißen ihren kulturellen und<br />
zivilisatorischen Besitz als Beweis für rassische Überlegenheit und<br />
stehen nun verwirrt dem „Erwachen <strong>der</strong> Farbigen― gegenüber. Man hatte<br />
gerade die biologischen Werte unterschätzt, die allen Menschen<br />
gemeinsam sind und <strong>im</strong> Vergleich zu denen die Unterschiede <strong>der</strong><br />
Hautfarbe o<strong>der</strong> Nasenform, so auffällig sie dem naiven Betrachter<br />
erscheinen, herzlich wenig bedeuten.<br />
Gewiß gibt es wichtige Erbunterschiede zwischen den Menschen,<br />
körperliche, geistige und seelische. Aber die wichtigsten sind eben nicht<br />
jene <strong>im</strong> Grunde belanglosen Beson<strong>der</strong>heiten, die sich bei <strong>der</strong><br />
geographischen Aufspaltung <strong>der</strong> Menschheit herausgebildet haben. In<br />
je<strong>der</strong> Rasse findet man Starke und Kränkliche, Kluge und Dumme,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 114<br />
Redliche und Schufte. Mögen daneben in <strong>der</strong> einen Gruppe diese, in <strong>der</strong><br />
an<strong>der</strong>en jene Temperamente und Neigungen häufiger sein – das ist kein<br />
Grund, sie als überlegen o<strong>der</strong> „inferior― anzusehen. Solche<br />
Mannigfaltigkeit wird eher zu dem beitragen, was man die<br />
„Orchestrierung <strong>der</strong> Kulturen― genannt hat.<br />
*<br />
Die Rassenfrage ist nur zu lösen, wenn man vorurteilsfrei an sie<br />
herantritt, wenn man nicht von einer einzelnen Rasse ausgeht, son<strong>der</strong>n<br />
vom Menschen als Gesamterscheinung. Es gibt nur einen Maßstab,<br />
nach dem wir werten dürfen: „Was dient dem Menschengeschlecht?―<br />
Das Ziel kann nicht irgendein Rassentyp sein, son<strong>der</strong>n nur <strong>der</strong><br />
wohlgebildete, allem Großen zugewandte Mensch. Das soll uns nicht<br />
hin<strong>der</strong>n, an Menschen unserer Art, unseres Volkes und unserer Sippe<br />
beson<strong>der</strong>s Gefallen zu finden. Es umschließt auch kein Bekenntnis zu<br />
möglichster Vermischung <strong>der</strong> Rassen. Aber es bedeutet allerdings, daß<br />
wir den Menschen nach seinem wirklichen Wert beurteilen und nicht<br />
nach Äußerlichkeiten, die zu lange den Blick vom Wesentlichen<br />
abgelenkt haben.<br />
Wie soll jemals eine erdumspannende Kultur – die in sich so<br />
mannigfaltig wie möglich sein mag – geschaffen werden, wenn<br />
Rassenvorurteile uns entzweien? Wir alle, ob schwarz, weiß o<strong>der</strong> gelb,<br />
stehen vor <strong>der</strong> gleichen Aufgabe, und nur gemeinsam können wir sie<br />
lösen. Mögen wir aus blauen o<strong>der</strong> aus braunen Augen in die Welt<br />
schauen, mag blondes o<strong>der</strong> dunkles Haar unser Haupt bedecken – wir<br />
sind doch Brü<strong>der</strong>, Söhne des einen Stammes, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Tierheit<br />
entwuchs. Uns allen gehört das Erbe <strong>der</strong> Väter: Leib und Seele, Werke<br />
und Gedanken! Und in uns allen lebt, bewußt o<strong>der</strong> unbewußt, die<br />
Sehnsucht nach dem gleichen Ziel:<br />
M e n s c h e n t u m! „<br />
In einem vorangegangenem Texte hieß es:<br />
„Noch sind wir nicht am Ziel, noch ringen wir um unser eigenes<br />
Wesen. Menschentum ist kein Besitz, es ist eine Aufgabe!―<br />
------------------------------------------------------------------------------------<br />
Von diesem „mo<strong>der</strong>nen― Exkurs über Rassenfragen nach dem 2.<br />
Weltkrieg in Deutschland hier noch ein Streiflicht auf Ernst HAECKELs<br />
Genealogie und Ahnengemeinschaft mit Goethe.<br />
HAECKEL ist genealogisch sehr gut erforscht. Das liegt auch daran,<br />
daß er Angehöriger von zwei großen Familienstiftungen war<br />
(Fideikommisse; SETHE’sches Fräuleinstift, Aurich/Ostfriesland und<br />
Hofrat-Sack'sche-Familienstiftung). Seine Ahnentafel ist von dem<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 115<br />
namhaften Genealogen Dr. Johannes HOHLFELD, 1888-1950, in den<br />
„Ahnentafeln berühmter Deutscher― (1. Band, 1929-1932, S. 58-62)<br />
veröffentlicht worden. Dort ist auch eine Ahnengemeinschafts-Übersicht<br />
GOETHE-HAECKEL dargestellt: Von dem Ahnenpaar Johann LAUCK,<br />
Bürgermeister zu Frankenberg + 1580; ∞ Hetta CONRADS (früher<br />
Cunradine NETTNAGEL), stammen sowohl HAECKEL als auch<br />
GOETHE ab (Goethe-Ahnen Nr. 486/487 = Haeckel-Ahnen Nr.<br />
464/465); dabei ist auffallend, daß dieses Ahnenpaar bei beiden ínfolge<br />
Generationsverschiebung in <strong>der</strong> gleichen 8. Ahnengeneration steht,<br />
obwohl HAECKEL 85 Jahre später als Goethe geboren wurde.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
3.2 Gottfried BENN: Goethe und die Naturwissenschaften<br />
Es würde etwas fehlen, wenn wir hier nicht das berühmte Essay von<br />
Gottfried BENN, 1886-1956, des Dichters und Arztes mit einigen<br />
Zitaten erwähnten, 1932 zum Goethe-Jubiläum des hun<strong>der</strong>tsten<br />
Todestages veröffentlicht. Es trägt den schlichten Titel. „Goethe und die<br />
Naturwissenschaften―. Hieraus folgende Zitate: „Goethe sah ja alles<br />
Entstehen <strong>im</strong>mer weit mehr vom Grund aus, vom Schöpferischen, vom<br />
pr<strong>im</strong>är Generativen <strong>der</strong> Natur: „Sie macht keine Sprünge. Sie könnte<br />
zum Exempel kein Pferd machen, wenn nicht alle übrigen Tiere vorauf<br />
gingen, auf denen sie wie auf einer Leiter bis zur Struktur des Pferdes<br />
heran steigt.― BENN: „Wenn wir also das Vorhergehende bis hierher<br />
zusammenfassen, würden wir als erste Etappe HELMHOLTZ<br />
zust<strong>im</strong>men, <strong>der</strong> Mitte des vorigen Jahrhun<strong>der</strong>ts schrieb, jedenfalls<br />
gebühre GOETHE <strong>der</strong> große Ruhm, die leitenden Ideen zuerst<br />
vorausgeschaut zu haben, zu denen <strong>der</strong> eingeschlagene<br />
Entwicklungsgang <strong>der</strong> Naturwissenschaft hindrängte; aber wir könnten,<br />
die ganze Epoche überblickend, noch weitergehen und hinzufügen,<br />
wenn man gewisse technische Großentdeckungen <strong>der</strong> letzten hun<strong>der</strong>t<br />
Jahre wie den Augenspiegel, die Röntgenstrahlen, die Hertzwellen in die<br />
Reihe <strong>der</strong> nicht weniger glänzenden und folgereichen Erfindungen <strong>der</strong><br />
vorausgegangenen Epochen setzt: zu Schießpulver, Buchdruck,<br />
Kompaß, Luftpumpe, Blitzableiter, so bleiben aus <strong>der</strong> biologischen<br />
Forschung des ganzen Jahrhun<strong>der</strong>ts übrig zwei Lehrsätze von<br />
LAMARCK (vergleiche Oskar HERTWIG, Das Werden <strong>der</strong> Organismen)<br />
und die Mendelschen Gesetze, beides innerhalb <strong>der</strong> Goetheschen<br />
Lehre gelegen, innerhalb seiner theoretischen Normen, seines<br />
naturwissenschaftlichen Instinkts-: <strong>der</strong> Rest ist Diskussion,<br />
Züchtungstohuwabohu, Brutschrankeuphorie, und die Kardinalfrage <strong>der</strong><br />
neuzeitlichen Lebensforschung: wie entstehen neue Gene, blieb bis<br />
heute ungelöst.― [Nun, das schrieb BENN 1932, heute <strong>im</strong> 21.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t können Gene von je<strong>der</strong> Laborantin <strong>im</strong> gentechnischen<br />
Labor synthetisch „nach Rezept― erzeugt werden. AR]. BENN weiter:<br />
„Das äußere Erlebnis war seine Erfahrung mit den Gelehrten, die er<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 116<br />
gelegentlich seiner früheren wissenschaftlichen Arbeit gemacht hatte.<br />
Gegen die Arbeit über den Zwischenkieferknochen zum Beispiel<br />
verhielten sie sich völlig ablehnend, diesen Knochen gibt es nicht,<br />
behaupteten sie nach wie vor weiter; SOEMMERING nannte die Arbeit<br />
„in manchem Betracht recht artig―, aber auch „ein wenig schulfüchsig―;<br />
KAMPER, ein sehr bedeuten<strong>der</strong> und, soweit man sich unterrichten kann,<br />
auch universeller Geist, Anatom in Holland, dem Goethe persönlich das<br />
Manuskript geschickt hatte, äußerte sich in einem Brief an einen Dritten,<br />
er habe ein sehr elegantes Manuskript erhalten, bewun<strong>der</strong>nswert gut<br />
geschrieben, glänzende Handschrift, „c’est-á-dire d’une main<br />
admirable―, aber <strong>der</strong> Inhalt sei unmöglich, was solle er damit anfangen,<br />
niemand interessiere sich für diesen Knochen, den es nicht gibt.― –<br />
BENN zitiert Goethe: „Der Mensch an sich selbst, insofern er sich seiner<br />
gesunden Sinne bedient, ist <strong>der</strong> größte und genauste physikalische<br />
Apparat, den es geben kann, und das ist eben das größte Unheil <strong>der</strong><br />
neuen Physik, daß man die Exper<strong>im</strong>ente gleichsam vom Menschen<br />
abgeson<strong>der</strong>t hat und bloß in dem, was künstliche Instrumente zeigen,<br />
die Natur erkennen will―. [hiervor hatte Goethe wohl Angst wie<br />
HEISENBERG vermutet, dem Erkenntnistrieb des Menschen können<br />
aber keine Grenzen gesetzt werden. AR].<br />
BENN: „Das zielt auf die Gene, die Erbmasse, es sind die Mütter [z.B.<br />
mt-DNS], die Altväter [z. B. Y-Chromosom], es ist das Urphänomen,<br />
das entwickelt ein innewohnendes Bild [Doppelhelix-Struktur <strong>der</strong> DNS].<br />
Auf antiken Tempeln, da wohnen wir und wissen es nicht mehr, wie die<br />
Frau in dem Gedicht „Der Wan<strong>der</strong>er― geboren über Resten heiliger<br />
Vergangenheit, die Worte weggewandelt, die Urworte orphisch. Es ist<br />
ein Wissenschaftler, <strong>der</strong> dies denkt, die Stuben voll gestellt mit Wirbeln,<br />
Flöten und Gestein, ein Beobachter, exakt wie FARADAY, ein Stilist, wo<br />
es sein soll, rationalistisch kalt wie VOLTAIRE, <strong>der</strong> sich dahin wendet.<br />
Noch einmal das Archaische, noch einmal das Dasein, das von einem<br />
Tag zum an<strong>der</strong>en sich durchhilft, die Blätter abfallen sieht und nichts<br />
dabei denkt, als daß <strong>der</strong> Winter kommt. Noch einmal das Haus und <strong>der</strong><br />
steingefaßte Brunnen, die Urbeschäftigung auf <strong>der</strong> Weide und dem<br />
Acker, die begleitenden Tiere: Hund und Roß, die Geräte: Ru<strong>der</strong>,<br />
Schaufel und Netz – und dann die Zivilisation. Noch einmal Luna in <strong>der</strong><br />
groß gemessenen Weite, noch einmal die Sterne <strong>im</strong> alten Raum, noch<br />
einmal <strong>der</strong> Regenbogen, in dem sich ein Gott versöhnte – ― Soweit<br />
Gottfried BENN.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
3.3 Neodarwinismus und Sowjetbiologie<br />
Der Autor meint, daß Goethe hinsichtlich des Entwicklungs- und<br />
Abstammungsgedankens als Vorahner in gewissem Sinne sogar noch<br />
über Charles DARWIN und WALLACE hinausreicht! Goethe hat die<br />
gegensätzlichen Begriffe: das Unverän<strong>der</strong>liche (Gen, ΔΑΙΜΩΝ, Dämon )<br />
einerseits und das Bewegliche (Umwelt, ΣΤΥΗ, Zufällige) an<strong>der</strong>erseits<br />
<strong>im</strong> Sinne eines seiner Lebensprinzipien: <strong>der</strong> Polarität, noch<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 117<br />
umfassen<strong>der</strong> durchschaut! Insofern ist Goethe auch ein Vorahner <strong>der</strong><br />
Prinzipien <strong>der</strong> Vererbungsgesetze nach Gregor Mendel! Die<br />
„kristallhart―-unverän<strong>der</strong>lichen Erbfaktoren (Gene) einerseits und die<br />
Erbän<strong>der</strong>ungen an<strong>der</strong>erseits, letztere durch die geschlechtliche<br />
Vermischung (Rekombination <strong>der</strong> Gene) o<strong>der</strong> auch durch<br />
Umwelteinflüsse (sog. Gen-Mutationen durch Umwelt o<strong>der</strong> Zufall)<br />
hervorgerufenen. Das von Goethe in den „Urworten. Orphisch“ mit<br />
wie<strong>der</strong>holter Beteuerung ausgesprochene Beständige, das „zähe<br />
Beharrlichkeitsvermögen― „sogar durch Generationen hindurch―(!), die<br />
Konstanz des „Dämon― (= Genom) ist eine Goethe-Schau, die DARWIN<br />
und HAECKEL so hier noch nicht hatten. Denn beide glaubten noch,<br />
daß die ererbten Anlagen !― „weicher― seien, d. h. durch die Umwelt o<strong>der</strong><br />
auch durch eine „LAMARCK’sche übende Anstrengung o<strong>der</strong> auch<br />
Erziehung ―formbar und abän<strong>der</strong>lich wären.―<br />
Auch die Prinzipien <strong>der</strong> genetischen Vererbung waren DARWIN und<br />
HAECKEL noch gänzlich unbekannt. In <strong>der</strong> letzten 6. Auflage <strong>der</strong><br />
„Entstehung <strong>der</strong> Arten durch natürliche Zuchtwahl― schreibt DARWIN<br />
<strong>im</strong>mer noch: „Die Gesetze, denen die Vererbung unterliegt, sind<br />
größtenteils unbekannt. Niemand weiß, warum dieselbe<br />
Eigentümlichkeit bei verschiedenen Individuen einer Art o<strong>der</strong><br />
verschiedener Arten zuweilen erblich ist und zuweilen nicht; warum ein<br />
Kind oft diese und jene Merkmale des Großvaters o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Großmutter<br />
o<strong>der</strong> noch früherer Ahnen aufweist; warum eine Eigentümlichkeit sich oft<br />
von einem Geschlecht auf beide vererbt o<strong>der</strong> nur auf ein Geschlecht,<br />
und zwar gewöhnlich, wenn auch nicht <strong>im</strong>mer, auf dasselbe.―<br />
Diese Lücke in den DARWIN’schen Vorstellungen überbrückte<br />
MENDELs Entdeckung in genialer Weise. Er war sich übrigens <strong>der</strong><br />
weittragenden Bedeutung seiner Entdeckung wohl bewußt, denn er soll<br />
sich später seinem Freund, dem Naturwissenschaftler Professor G. von<br />
NIESSL, gegenüber folgen<strong>der</strong>maßen geäußert haben: „Soviel sehe ich<br />
schon: daß es die Natur auf diesem Wege <strong>im</strong> Speziesmachen nicht<br />
weiterbringt; da muß noch irgend etwas an<strong>der</strong>es dabeisein.―<br />
Heute kann diese Frage fast schon je<strong>der</strong> Oberschüler aufgrund <strong>der</strong><br />
Reduktionsteilung <strong>der</strong> Zellen (Meiose) in Verbindung mit den<br />
MENDEL’schen Vererbungsgesetzen einfach beantworten! MENDELs<br />
Vererbungsprinzip hatten wir bereits oben bei den „Urworten. Orphisch―<br />
schaubildlich wie<strong>der</strong>gegeben.<br />
HAECKEL und auch DARWIN sahen allerdings - neben <strong>der</strong><br />
„geschlechtlichen Zuchtwahl― (Selektion) - beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> „Vererbung<br />
erworbener Eigenschaften“ irrtümlich die wesentliche Ursache für eine<br />
artmäßige Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Lebewesen, d. h. mo<strong>der</strong>n ausgedrückt: den<br />
hauptsächlichsten Evolutionsfaktor. Noch 1905 schrieb Ernst<br />
HAECKEL: ―Man kann den Scharfsinn und die Tief <strong>der</strong> Speculation<br />
bewun<strong>der</strong>n, die WEISMANN bei dem kunstreichen Aufbau seiner<br />
verwickelten Molecular-Theorie aufgewendet hat. Aber je mehr man sich<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 118<br />
in ihre Fundamente vertieft, desto unhaltbarer erscheinen sie; auch hat<br />
in den zwanzig Jahren, die seit dem Erscheinen <strong>der</strong> Ke<strong>im</strong>plasma-<br />
Theorie verflossen sind, kein einziger ihrer zahlreichen Anhänger sie<br />
fruchtbar zu verwerthen gewußt. Dagegen hat sie sehr nachtheilig<br />
dadurch gewirkt, daß sie die „Vererbung erworbener<br />
Eigenschaften“ leugnete und bekämpfte, die ich mit L a m a r c k<br />
und D a r w i n für eine <strong>der</strong> festesten und unentbehrlichsten [sic!]<br />
Stützen <strong>der</strong> Descendenz-Theorie halte. (E. HAECKEL: Die<br />
Lebenswun<strong>der</strong>. Gemeinverständliche Studien über Biologische<br />
Philosophie, Ergänzungsband zu dem Buche über die Welträthsel,<br />
Stuttgart 1905).<br />
Die Deszendenz-Theorie DARWINs war seinerzeit um die<br />
Jahrhun<strong>der</strong>twende tatsächlich in einer sehr schweren Krise, nachdem<br />
sich herausgestellt hatte, daß <strong>der</strong> deutsche Zoologe und Genetiker<br />
August WEISMANN, 1834-1914, - ein gleichaltriger scharfsinniger<br />
Kollege von HAECKEL! - mit seiner Ke<strong>im</strong>plasma-Theorie doch recht<br />
behielt und diese Tatsache allgemein von <strong>der</strong> Fachwelt akzeptiert<br />
werden mußte: „erworbene Eigenschaften sind nicht erblich“<br />
(körperlich und geistig). Derselbe WEISMANN war es auch, <strong>der</strong> bereits<br />
1887 hypothetisch for<strong>der</strong>te, daß bei <strong>der</strong> Geschlechtszellen-Bildung eine<br />
Halbierung <strong>der</strong> Chromosomenzahl – und damit <strong>der</strong> Gene – eintreten<br />
müsse (Meiose). 5 Jahre später konnte dies tatsächlich mikroskoptechnisch<br />
bestätigt und somit die Gesetzte MENDELs auch noch<br />
zellmorphologisch untermauert werden!<br />
Das waren Erkenntnisse, die lei<strong>der</strong> auch ideologisch-politisch eine<br />
unheilvolle Rolle gespielt haben, da sie z. B. vom Sowjetkommunismus<br />
<strong>im</strong> stalinistischen Rußland nicht anerkannt wurden (Mitschurin-<br />
Lyssenko’sche Vererbungslehre). Sogar <strong>der</strong> österreichische Sowjet-<br />
Sympathisant und „Ideologie-Biologe― Paul KAMMERER, 1880-1926,<br />
scheute sich nicht, an Geburtshelferkröten Wissenschaftsfälschung zum<br />
Nachweis <strong>der</strong> „Vererbung erworbener Eigenschaften― durchzuführen<br />
und zu veröffentlichen. Eine zeitlang hatte KAMMERER sogar die<br />
Genetiker in verschiedenen Län<strong>der</strong>n verunsichert und beson<strong>der</strong>s den<br />
„linken Ideologien Wasser auf ihre Mühlen― geleitet. Im September 1926<br />
beging KAMMERER <strong>im</strong> österreichischen Puchberg Selbstmord,<br />
nachdem schließlich seine grob-naiven Fälschungen<br />
(Tintenmarkierungen!) durch eine Gelehrtenkommission unter Führung<br />
des englischen Biologen NOBLE an KAMMERERs Präparaten in Wien<br />
aufgedeckt worden waren. Unter KAMMERERs Hinterlassenschaft<br />
befanden sich Papiere, aus denen hervorging, daß er als Nachfolger des<br />
greisen Biologen Iwan Wlad<strong>im</strong>irowitsch MITSCHURIN, 1855-1935, an<br />
die Akademie <strong>der</strong> Wissenschaften zu Moskau berufen werden sollte! -<br />
Ironie des wissenschaftlichen Schicksals: KAMMERER war einer <strong>der</strong><br />
begabtesten Schüler des Wiener Genetikers Erich von TSCHERMAK-<br />
SEYSENEGG, 1871-1962, <strong>der</strong> einer von den Wie<strong>der</strong>entdeckern <strong>der</strong><br />
MENDEL’schen Gesetze war! Die von TSCHERMAK-SEYSENEGGs,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 119<br />
waren eine bedeutende Gelehrtenfamilie (Vater: Gustav, 1836-1927:<br />
Mineraloge; Bru<strong>der</strong>: Armin, 1870-1952: Physiologe).<br />
Trotz <strong>der</strong> Ablehnung <strong>der</strong> Mitschurin-Lyssenko’schen Vererbungslehre<br />
in <strong>der</strong> westlichen Welt, wurde 1936 LYSSENKOs Pseudogenetik von <strong>der</strong><br />
„Vererbung erworbener Eigenschaften― von STALIN zur Grundlage <strong>der</strong><br />
Sowjetbiologie erklärt. Die Vertreter <strong>der</strong> klassischen Genetik – die<br />
„Mendelisten, Weismannisten und Morganisten― – wurden verhaftet und<br />
in Arbeitslagern abgeschoben. Erst nach CHRUSCHTSCHOWs<br />
Abdankung 1964 wurde <strong>der</strong> Lyssenkoismus beseitigt und die Genetik in<br />
Rußland wie<strong>der</strong>belebt, nachdem die „neue― Pflanzen- und Tierzucht die<br />
Landwirtschaft in <strong>der</strong> Sowjetunion zum Ruin heruntergewirtschaftet<br />
hatte. Ein abschreckendes Bild ideologischer Doktrin und von<br />
Personenkult einer „Wissenschaft― <strong>im</strong> totalitären Staat! Das 1969 in<br />
englischer Sprache erschienene Buch von Shores A. MEDWEDJEW:<br />
„The Rise an Fall of T. D. Lyssenko―, deutsch: „Der Fall Lyssenko―<br />
(Hamburg 1969, Hoffmann und Campe), ist ein bestürzendes Dokument<br />
in <strong>der</strong> sowjetischen Wissenschaftsgeschichte.<br />
Erst das Bekanntwerden <strong>der</strong> MENDEL’schen Erbgesetze in<br />
Verbindung mit umfangreichen Untersuchungen über plötzliche<br />
Erbän<strong>der</strong>ungen (Mutationen), beson<strong>der</strong>s durch den holländischen<br />
„Wie<strong>der</strong>entdecker― <strong>der</strong> MENDEL’schen Gesetze Hugo de VRIES, 1848-<br />
1935, und die beiden US-amerikanischen Medizin-Nobelpreisträger von<br />
1933 und 1946, Thomas Hunt MORGAN, 1866-1945, und Hermann<br />
Joseph MULLER, 1890-1967, lieferten schließlich den endgültigen<br />
wissenschaftlich überzeugenden Nachweis plötzlicher Erbän<strong>der</strong>ungen,<br />
die auf <strong>der</strong> Fähigkeit <strong>der</strong> Gene zur Selbstverän<strong>der</strong>ung basieren: den<br />
sog. Mutationen. Diese sich weitervererbenden Mutationen können<br />
künstlich, z. B. durch Röntgen- und Höhenstrahlung verstärkt werden<br />
(Mutationsrate). Damit war DARWINs Abstammungslehre (Deszendenz-<br />
Theorie) <strong>im</strong> Kern „gerettet―! Als wichtigster Evolutionsfaktor waren jetzt<br />
mutationsbedingte Än<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Ke<strong>im</strong>zellen-Gene erkannt, auf die<br />
eine Selektion <strong>im</strong> Darwinschen Sinne einwirkt und somit die<br />
Abstammungslehre auf wissenschaftliches Fundament gestellt hat.<br />
Dieser modifizierte Darwinismus trägt seitdem den Namen<br />
„Neodarwinismus“ und erklärt nun grundsätzlich und folgerichtig die<br />
Entstehung <strong>der</strong> Arten durch die DARWIN’sche Selektion auf genetischer<br />
Basis.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
4 „CHEMIE-STAMMBAUM“ IN LISTENFORM<br />
Von PARACELSUS und AGRICOLA bis zur Chemie <strong>der</strong> Goethe-<strong>Zeit</strong><br />
„Auf dem naturgegebenen Boden <strong>der</strong> menschlichen<br />
Lebensbedürfnisse erwächst aus einem winzigen Bäumchen <strong>im</strong> Laufe<br />
<strong>der</strong> einan<strong>der</strong> ablösenden Jahrtausende ein vielästiger und<br />
weitausladen<strong>der</strong> Wun<strong>der</strong>baum [<strong>der</strong> Chemie]. Er wächst um so<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 120<br />
schneller, je älter er wird o<strong>der</strong> je mehr er ins Licht <strong>der</strong> Gegenwart rückt,<br />
und er trägt um so mehr Früchte, je mehr <strong>der</strong>selben ihm entzogen<br />
werden. Noch brauchen wir nicht – mit dem Blick in die Zukunft – zu<br />
fragen: Wie lange wird o<strong>der</strong> kann die gegenwärtige Wachstumsperiode<br />
andauern?―<br />
(Paul WALDEN, 1952, Über die Wachstumserscheinungen des<br />
chemischen Wissens).<br />
Bevor wir Goethe als „Chemie-Lobbyist“ zeigen, soll hier zunächst<br />
ein kleines Streiflicht auf die Vorgeschichte <strong>der</strong> Chemie <strong>der</strong> Goethezeit<br />
und dann ein Blick auf die Biographien <strong>der</strong> bedeutendsten Chemie-<br />
Schrittmacher des 16. und 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts geworfen werden, die die<br />
mo<strong>der</strong>ne Chemie begründet haben.<br />
Die Chemie ist eine sehr junge Wissenschaft. Noch bis zum 17.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t gab es noch keine wissenschaftlich orientierte Chemie,<br />
während die Mathematik, aber auch die Physik durch Männer wie<br />
LEIBNIZ und NEWTON schon einen hohen Wissenschaftsgipfel erreicht<br />
hatten. Der Begriff des chemischen Elementes, also eines Grundstoffes,<br />
<strong>der</strong> sich nicht mehr in weitere Stoffe zerlegen läßt, existierte überhaupt<br />
noch nicht. Noch wurde das Dogma <strong>der</strong> antiken 4 Urlemente von<br />
ARISTOTELES, 384-322 v. Chr., noch weitgehend akzeptiert, wenn dies<br />
auch <strong>im</strong>mer diffuser wurde. Man bedenke über 2000 Jahre lang galten<br />
so unterschiedliche Stoffe und Eigenschaften wie:<br />
Feuer – Luft – Erde – Wasser<br />
mit den Grundeigenschaften<br />
„warm― – „kalt― und „trocken – „feucht―<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 121<br />
als die eigentlichen „Urelemente― <strong>der</strong> Erde! Der Begriffsinhalt „Element―<br />
war <strong>im</strong> Alterum noch ein gänzlich an<strong>der</strong>er. Man verstand darunter nicht<br />
die Stoffe selbst son<strong>der</strong>n Grundeigenschaften <strong>der</strong> Dinge, wie anfgeführt.<br />
Noch weitere Eigenschaften ordnete man diesen „Urlementen― zu:<br />
Erde und Wasser hatten die Eigenschaft <strong>der</strong> Schwere. Feuer und Luft<br />
bezeichneten Leichtes. Erde galt für fest. Wasser für flüssig.<br />
Freilich können wir uns mit unserem neuzeitlichen<br />
naturwissenschaftlichen Denkmustern kaum noch in die Welt <strong>der</strong> Antike,<br />
ja nicht einmal in die Stoffwelt eines jungen Goethes hinversetzen, dem<br />
noch nicht einmal die Zusammensetzung des wichtigsten Lebensstoffes,<br />
des Wassers, bekannt sein konnte. Die beiden chemischen Elemente<br />
des Wassers wurden erst zur Goethe-<strong>Zeit</strong> entdeckt! Auch daß die Luft<br />
eine Mischung aus verschiedenen Grundstoffen (Elementen) ist, war zur<br />
<strong>Zeit</strong> des jungen Goethes noch nicht bekannt. Die Worte Wasserstoff,<br />
Sauerstoff und Stickstoff, die heute wohl jedes Vorschulkind kennt,<br />
waren einem Goethe – zumindest dem jüngeren – noch völlig fremd. Hat<br />
er sie später <strong>im</strong> Alter verwendet? Und wann und wo? Erst <strong>der</strong> Jenaer<br />
Chemie-Professor Johann Wolfgang DÖBEREINER, 1780-1849, hat um<br />
1820 dem über 70-jährigen Goethe Knallgasversuche (Verbrennung von<br />
Wasserstoff und Sauerstoff) mit beeindrucken<strong>der</strong> Bewun<strong>der</strong>ung<br />
vorgeführt, die heute jedem Schulkind in <strong>der</strong> ersten Chemie-Klasse<br />
gezeigt werden. DÖBEREINER hatte um diese <strong>Zeit</strong> gerade sein<br />
Feuerzeug erfunden, das auf <strong>der</strong> Entflammung strömenden<br />
Wasserstoffgases über „Platinschwamm― beruht. Goethe verspürte<br />
schon von Jungend an einen Drang zur Chemie, <strong>der</strong>en Bezeichung<br />
Chemie damals freilich schon üblich war. Allerdings war das, womit<br />
Goethe in seinem Frankfurter Elternhaus in seinem Dachstübchen mit<br />
Windöfchen und Kolben laborierte noch eine „schoalstisch― verdunkelte<br />
Chemie, die noch ganz alchemistisch geprägt war und noch mit<br />
„Apotheker-Chemie“ (Iatrochemie) verwoben war. Aus<br />
alchemistischen Büchern schöpfte <strong>der</strong> neugierige Knabe Goethe sein<br />
Wissen; zusätzlich noch angefacht durch eine pietistisch-alchemisitsch<br />
angehauchte Freundin von Goethes Mutter: Susanne Catharina von<br />
KLETTENBERG, 1723-1774.<br />
Bedauerlich, daß die geschichtliche Entwicklung unseres Wissens<br />
über unsere alltäglichen Stoffe heute kaum noch Eingang in die<br />
Lehrpläne <strong>der</strong> Schulen findet. Im 16. Jahrhun<strong>der</strong>t bis weit ins 18.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t beherrschte noch alchemistischer Aberglaube und ein<br />
naives Stoffwissen die Menschen. Dazu kam <strong>der</strong> alte Traum den „Stein<br />
<strong>der</strong> Weisen“ zu finden, d. h. einen Stoff bzw. ein Rezept um aus<br />
unedlen Metallen edlere Metalle, beson<strong>der</strong>s Gold, herzustellen.<br />
Eigentliche Laboratorien gab es so gut wie noch nicht. In Europa waren<br />
es vor allem einige Apotheker, die sich nebenberuflich als<br />
„Scheidekünstler― in ihren Offizien mit alchemistischen Versuchen<br />
abgaben, beson<strong>der</strong>s aber mit „Apothekerchemie― (Kräuterauszügen,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 122<br />
Salben und Pulver) aus Pflanzen und mineralischen Stoffen ihr<br />
Hauptgeschäft betrieben.<br />
Neben das ehrliche Bemühen einiger „Scheidekünstler― trat aber seit<br />
dem 15. Jahrhun<strong>der</strong>t auch marktschreierisches „Schwarzkünstlertum―<br />
und Scharlatanerie, den Zauberglauben <strong>der</strong> damaligen <strong>Zeit</strong>genossen<br />
ausnützend. Das prominentes Beispiel <strong>im</strong> scholastischen 15.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t ist ja Johannes FAUST auf den Marktplätze in Europa,<br />
später fand er auch Eingang in die Puppentheater <strong>der</strong> Jahrmarktplätze,<br />
wo Goethe dessen Geist zuerst aufnahm. Goethe hat ihn dann<br />
schließlich in seinem ―FAUST― - sechs Jahrzehnte ihn gestaltend! - zu<br />
literarischem Weltrum verholfen (- auch dies, und das sogar beson<strong>der</strong>s,<br />
war Goethes persönliche Erlebnisdichtung!).<br />
Sein ganzes Leben lang hat sich Goethe lebhaft für die Chemie<br />
interessiert und sich darin beachtliche Kenntnisse angeeignet.<br />
Bekanntlich hat er sogar die unterschiedlichen Affinitäten zwischen den<br />
chemischen Verbindungen, die damals schon in chemischen Schriften<br />
beschreiben worden waren, in seinem Roman „Die<br />
Wahlverwandtschaften“ (1809) symbolisch auf die menschlichen<br />
Partnerschaftsbeziehungen übertragen. Dazu ließ sich Goethe vom<br />
ersten Professor <strong>der</strong> Chemie in Jena, Johann Friedrich GÖTTLING,<br />
1755-1809, seinem „trefflichen― Schützling, beraten und hat ganze<br />
Textpassagen aus dessen chemischen „Probiercabinet― wortwörtlich in<br />
seinen Roman „Die Wahlverwandtschaften― übernommen. Doch darüber<br />
später noch mehr.-<br />
Die Goethe-<strong>Zeit</strong> war hinsichtlich <strong>der</strong> Entwicklung chemischer<br />
Kenntnisse durch einen enormen geistigen Aufbruch in Europa<br />
gekennzeichnet, nachdem in einer sehr langen „toten <strong>Zeit</strong>“ von mehr<br />
als an<strong>der</strong>thalb Jahrtausend (etwa 100 v. Chr. bis um 1500) die<br />
naturwissenschaftliche Deutung und Forschung fast stillstand. Der<br />
Erkenntnisschatz des stofflichen Wissens, über das bereits die<br />
Babylonier und Ägypter verfügten, beschränkte sich beson<strong>der</strong>s auf die<br />
Metalle Gold, Kupfer, Zinn, Silber, Blei, Eisen und Quecksilber. Auch<br />
verschiedene Farbstoffe wußte man schon aus pflanzlichen und<br />
tierischen Stoffen zu gewinnen. Die alkoholische Gärung und die<br />
Essiggewinnung waren bekannt. Von <strong>der</strong> ältesten chemischen<br />
„Feuertechnik―, <strong>der</strong> Ziegelherstellung aus Lehmstoffen des Nilufers<br />
entwickelte sich eine Keramik- und Glasherstellung schon zu hoher<br />
Stufe. In den antiken Museen können wir den hohen Stand des<br />
Kunsthandwerkes mit diesen Materialen bewun<strong>der</strong>n. Das menschliche<br />
Wissen über Heilmittel, Salben und Schminken wurde z. B. von <strong>der</strong><br />
ägyptischen Priesterkaste geradezu als Heiligtum gepflegt und nur<br />
innerhalb dieses Kreises vertraulich untereinan<strong>der</strong> weitergeben.<br />
In Europa wurde dieses Wissen von Arabern und an<strong>der</strong>en<br />
Volksstämmen in Form einer Flut von alchemistischen Schriften nach<br />
Europa (Spanien und Italien) weiter getragen. Die Rezepturen dienten<br />
nicht nur menschlichen Grundbedürfnissen; son<strong>der</strong>n waren auch noch<br />
mit religiös-mystischen Vorstellungen <strong>der</strong> Alchemie verbunden. Ein<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 123<br />
Kernproblem <strong>der</strong> Alchemie drehte sich um die Verwandlung unedler<br />
Metalle in Edelmetalle. Vor allem suchte man Gold zu machen („Stein<br />
<strong>der</strong> Weisen“). Da die griechischen Philosophen das Wesen <strong>der</strong> Stoffe<br />
in ihrer „Eigenschaft― - und nicht in ihrer elementaren unteilbaren<br />
Grundsubstanz - sahen, glaubte man die beson<strong>der</strong>e Eigenschaft eines<br />
Stoffes durch Zusammenmischen verschiedener „Eigenschaften― , d. h.<br />
Stoffen zu erreichen. Noch zu <strong>Zeit</strong>en eines Gottfried Wilhelm, LEIBNIZ,<br />
1646-1716, war man in diesen Vorstellungen verfangen. Bei <strong>der</strong><br />
Goldsuche durch LEIBNIZ’ Mathematiker-Freund Ehrenfried Walter von<br />
TSCHIRNHAUS, 1651-1708 und seinem Apothekergehilfen Johann<br />
Friedrich BÖTTGER, 1682-1719, erfanden diese beiden unter <strong>der</strong><br />
Regentschaft Kurfürst August des Starken von SACHSEN, - <strong>der</strong><br />
BÖTTGER gefangen hielt - , bei solchen Goldversuchen das<br />
europäische Porzellan (1708/09).<br />
„Im ganzen Altertum kann von einer Chemiewissenschaft <strong>im</strong> heutigen<br />
Sinne nicht gesprochen werden, obwohl die Menschheit über viele<br />
praktische Kenntnisse verfügte, die zur chemischen Technologie<br />
gehören. Man färbte Gewebe, gerbte Le<strong>der</strong>, kochte Seife, backte Brot,<br />
erzeugte aus Trauben Wein und aus Gerste Bier, konservierte<br />
Lebensmittel und stellte Gefäße aus Stein und Glas her. Die Frauen<br />
benutzten mindestens ebenso viele kosmetische Präparate wie in<br />
unseren Tagen; zu ihrer Herstellung mußte man fette Öle pressen und<br />
ätherische destillieren. Vor allem aber verstand man, aus Erzen Metalle<br />
zu gewinnen. Man konnte sie legieren und weiterverarbeiten. Sieben<br />
Metalle waren bekannt: Gold, Silber, Kupfer, Eisen, Blei, Zinn und<br />
Quecksilber. Man kannte auch ihre Oxide. Von den Säuren war wohl<br />
nur Essigsäure bekannt, von den Basen kannte man Kalk und die durch<br />
Kaustifizierung <strong>der</strong> Soda o<strong>der</strong> Pottasche gewonnenen Laugen. Aus <strong>der</strong><br />
Reihe <strong>der</strong> Salze wurden hauptsächlich die natürlich vorkommenden, wie<br />
Soda, Salpeter, Borax, Kochsalz, Bittersalz, benutzt. Unter <strong>der</strong><br />
Bezeichnung Vitriol (Atramentum) verstand man sowohl Eisen- als auch<br />
Kupfersulfat. Durch Auflösen von Metallen in Essigsäure wurden auch<br />
einzelne Azetate erhalten. Damit ist die Aufzählung <strong>der</strong> <strong>im</strong> Altertum<br />
bekannten Elemente und Verbindungen schon beendet.<br />
Von chemischen Operationen waren Destillieren, Kristallisieren,<br />
Eindampfen und Filtrieren bekannt. Alle diese Stoffe und Operationen<br />
wurden jedoch nur <strong>im</strong> praktischen Leben von den Handwerkern zur<br />
Herstellung ihrer verschiedenen Erzeugnisse verwandt.―<br />
(aus F. SZABADVÁRY/G. KERSTEIN: Geschichte <strong>der</strong> analytischen<br />
Chemie, 1966).<br />
Bis zum 16. Jahrhun<strong>der</strong>t hat sich an diesem Kenntnisstand kaum viel<br />
geän<strong>der</strong>t. Um 1250 entdeckte Albertus MAGNUS das Arsen. Im 16.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t hat dann noch AGRICOLA das Wismut beschrieben, wenn<br />
es auch erst <strong>im</strong> 18. Jahrhun<strong>der</strong>t als chemisches Element erkannt wurde.<br />
Im ganzen 17. Jahrhun<strong>der</strong>t kam lediglich Zink und <strong>der</strong> Phosphor als<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 124<br />
neues Element hinzu, das 1669 vom Apothekerarzt Henning BRAND in<br />
Hamburg entdeckt wurde.<br />
Alle nachfolgenden Elemente wurden erst <strong>im</strong> 18. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
entdeckt:<br />
Chlor (1774, SCHEELE),<br />
Chrom (1797, VAUQUELIN),<br />
Kobalt (1735, BRANDT),<br />
Mangan (1774 GAHN),<br />
Molybdän (1782, HJELM),<br />
Nickel (1751, CRONSTEDT),<br />
Platin (1750 WATSON/WOOD),<br />
Sauerstoff (1774, SCHEELE, PRIESTLEY),<br />
Stickstoff (1777, SCHEELE),<br />
Uran (1789, KLAPROTH),<br />
Wasserstoff (1766, CAVENDISH),<br />
Yttrium (1794, GADOLIN).<br />
Alle an<strong>der</strong>en Elemente wurden erst später <strong>im</strong> 19. o<strong>der</strong> 20. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
entdeckt! Darunter so bekannte Elemente wie:<br />
Aluminium,<br />
Barium,<br />
Bor,<br />
Calcium,<br />
Fluor,<br />
Jod,<br />
Kalium,<br />
Magnesium,<br />
Natrium,<br />
Selen,<br />
Silicium,<br />
(Aufstellung nach RÖMPP-Chemie-Lexikon, 1962)<br />
In Europa waren es vor allem zuerst zwei Männer, die nach <strong>der</strong> langen<br />
„toten <strong>Zeit</strong>― <strong>der</strong> Naturwissenschaften Licht in das antike Dunkle <strong>der</strong><br />
Chemie brachten. Und zwar <strong>der</strong> schwäbisch-schweizerische Arzt<br />
Theophrastus PARACELSUS (eigentlich Theophrast Bombast von<br />
HOHENHEIM), 1493-1541, und <strong>der</strong> Sachse Georg AGRICOLA, 1494-<br />
1555, Arzt und später auch Bürgermeister von Chemnitz. Doch<br />
nochmals 200 Jahre mußten vergehen, bis man die<br />
Wesenseigentümlichkeiten <strong>der</strong> Chemie, den Begriff <strong>der</strong> „chemischen<br />
Elemente― (Unteilbarkeit <strong>der</strong> Atome) und den Grundvorgang <strong>der</strong><br />
Verbrennung, richtig deuten konnte. An diesen mo<strong>der</strong>nen Erkenntnissen<br />
sind vor allem zwei Englän<strong>der</strong> und ein deutschstämmiger Schwede<br />
maßgeblich beteiligt; sie haben die Elemente Wasserstoff und<br />
Sauerstoff, die Grundbausteine des Wassers, entdeckt. Ein Franzose<br />
war es dann, <strong>der</strong> nach diesen elementaren Entdeckungen, den<br />
chemischen Vorgang <strong>der</strong> Verbrennung (Oxydation) als erster richtig<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 125<br />
deutete und damit eine falsche Übergangstheorie (Phlogistonlehre)<br />
stürzte und dadurch das Tor zur mo<strong>der</strong>nen neuzeitlichen Chemie<br />
aufgestoßen hat. Die Namen und Lebensdaten dieser Männer sind:<br />
Henry CAVENDISH, 1731-1810;<br />
Joseph PRIESTLEY, 1733-1804;<br />
Karl Wilhelm SCHEELE, 1742-1786;<br />
Antoine Laurent LAVOISIER, 17423-1794.<br />
Von diesen großen originellen Persönlichkeiten soll und kann in<br />
diesem Buchkapitel <strong>der</strong> Chemie <strong>der</strong> Goethe-<strong>Zeit</strong> nicht <strong>im</strong> einzelnen<br />
fachspezifisch berichtet werden. Sie sind Repräsentanten einer<br />
gemeinsamen deduktiven und induktiven Denkweise und - <strong>im</strong><br />
beson<strong>der</strong>en Falle <strong>der</strong> Chemie auch - des „synthetischen― und<br />
„analytischen― Forschens. Alle diese Persönlichkeiten zeichnete eines<br />
gemeinsam aus: Sie waren <strong>im</strong> weitesten Sinne Autodidakten mit einem<br />
großen über ihr Fachgebiet weit hinausreichendem Universalwissen.<br />
Trotzdem ist es verlockend, sich von diesen Großen <strong>der</strong> Chemie ihre<br />
beson<strong>der</strong>en menschlichen Eigenschaften und persönlichen Eigenheiten<br />
zu betrachten. Auch ist es reizvoll, an diesen Pionieren <strong>der</strong> Chemie<br />
typisch nationale Merkmale zu entdecken, wie sie häufig beschrieben<br />
worden sind. Vielleicht sind diese Männer hierfür geradezu<br />
repräsentativ! Kleine Charakterportraits bzw. Psychoprofile dieser<br />
Entdecker sollen also hier versucht werden, wie sie nur in ausführlichen<br />
Forscherbiographien <strong>der</strong> Chemiegeschichte zwischen den Zeilen zu<br />
lesen sind. Manches dort zur Familiengeschichte Fehlende konnte ich<br />
als mit <strong>der</strong> einschlägigen Quellenkunde einigermaßen vertrauter<br />
Freizeitgenealoge aus seltenen Quellen noch zusätzlich in Erfahrung<br />
bringen.<br />
Biographische und genealogische Literatur zur Geschichte<br />
Wissenschaften hat den Autor seit seiner Jugend interessiert – gar<br />
manches Wochenende saß er früher in <strong>der</strong> großartigen Bibliothek des<br />
größten Technischen Museums <strong>der</strong> Welt, dem Deutschen Museum,<br />
München.<br />
Es war schon ein bibliophiles Gefühl ganz beson<strong>der</strong>er Art, z. B. in<br />
einem über 400 Jahre altem Original des berühmten Bergwerksbuchs<br />
von AGRICOLA De re metallica, das nach seinem Erscheinen 1556 in<br />
Basel in Lateinisch und auch ein Jahr später auf Deutsch („Vom Bergund<br />
Hüttenwesen“) erschien ist, <strong>im</strong> schönen Lesesaal auf <strong>der</strong> Isarinsel<br />
blättern zu dürfen! Die zahlreichen Illustrationen in Form künstlerischer<br />
Holzstiche aus <strong>der</strong> Bergwerkstechnik des Erzgebirges hatte ein Team<br />
von Gelehrten, Künstlern und Handwerkern nach den Entwürfen von<br />
AGRICOLA gestaltet. AGRICOLA war <strong>der</strong> erste systematische<br />
Mineraloge Deutschlands.<br />
Hier zunächst die Biographien <strong>der</strong> beiden Persönlichkeiten, die <strong>der</strong><br />
erstarrten Chemie (Alchemie) des Mittelalters die ersten mo<strong>der</strong>nen<br />
Wege zeigten: PARACELSUS von <strong>der</strong> Medizin, AGRICOLA von <strong>der</strong><br />
Mineralogie ausgehend.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 126<br />
4.1 PARACELSUS, 1493-1541<br />
„Theophrastus (Aureolus) Bombastus von HOHENHEIM, genannt<br />
Paracelsus, wurde als Sproß eines alteingesessenen schwäbischen<br />
Geschlechts in Einsiedeln (Schweiz) <strong>im</strong> Jahre 1493 geboren, woselbst<br />
sein Vater Wilhelm Bombastus von HOHENHEIM in bescheidenen<br />
Verhältnissen eine ärztliche Praxis ausübte. Im Jahre 1502 verzog <strong>der</strong><br />
Vater nach <strong>der</strong> Bergstadt Villach (Kärnten), wo er als Bergarzt und<br />
Lehrer an <strong>der</strong> Bergschule (bis zu seinem Tode 1534) tätig war. Hier<br />
empfing unser Theophrastus nicht nur seinen Anfangsunterricht durch<br />
den Vater, son<strong>der</strong>n auch seine Unterweisung durch die Mönche des<br />
Lavanttales und die bleibenden Eindrücke von <strong>der</strong> Arbeits- und<br />
Lebensweise <strong>der</strong> Bergleute sowie von <strong>der</strong> rätselvollen Bergwelt mit ihren<br />
Erzen und <strong>der</strong>en Aufarbeitung. Etwa 15jährig verläßt er das Vaterhaus<br />
und beginnt ein rastloses Lehr- und Wan<strong>der</strong>leben, während dessen er<br />
als ein Erkenntnisfanatiker und Wahrheitssucher alles Sein und Wirken<br />
in den drei Naturreichen erschauen und erfassen will. Nach praktischer<br />
Tätigkeit in den Bergwerken und Hüttenlaboratorien, z. B. in <strong>der</strong> Silberund<br />
Bleistadt Schwaz (Tirol) in den Laboratorien des Grafen Sigm.<br />
FUEGER, wendet er sich dem Studium <strong>der</strong> Medizin zu. Er selbst<br />
berichtet, daß er die Hohen Schulen in Deutschland, Frankreich und<br />
Italien besucht habe, in Ferrara (Italien) um 1515 dürfte er den<br />
medizinischen Doktorgrad erworben haben. Indessen ist er enttäuscht<br />
durch das Bücherwissen und beschließt, die menschlichen Krankheiten<br />
und <strong>der</strong>en Heilung unmittelbar unter den Menschen selbst und bei den<br />
verschiedenen Völkern kennenzulernen. Aus seinen gelegentlichen<br />
Hinweisen entnehmen wir, daß er durch ganz Deutschland, Spanien,<br />
Portugal, Frankreich, England, die Nie<strong>der</strong>lande, Dänemark (etwa 1518)<br />
und Schweden (diese beiden in Kriegszeiten), Brandenburg, Preußen,<br />
Litauen, Polen, Ungarn, Venedig (etwa 1522) gewan<strong>der</strong>t, dann in Villach<br />
(1523) angelangt ist, um nun 1524/25 in Salzburg zu weilen bzw. sich<br />
dort nie<strong>der</strong>zulassen. Er wird aber <strong>der</strong> Teilnahme an den Salzburger<br />
Bauernunruhen beschuldigt und verläßt fluchtartig die Stadt; über<br />
Bayern und den Schwarzwald führt ihn sein Weg nach Straßburg.<br />
Nachdem er 1526 das dortige Bürgerrecht erworben hat, scheint es, daß<br />
er nun endlich seine Bleibe gefunden hat. Das Schicksal will es an<strong>der</strong>s:<br />
eine glückliche Kur an dem bedeutenden Buchdrucker FROBEN in<br />
Basel bringt ihm 1527 die Berufung als Stadtarzt nach Basel ein, mit <strong>der</strong><br />
Verpflichtung, an <strong>der</strong> Universität als Medizinprofessor zu wirken. Damit<br />
bahnt sich ein dramatischer Höhepunkt in <strong>der</strong> Tragik dieses<br />
Gelehrtenlebens an: PARACELSUS als Professor setzt sich sogleich in<br />
einen offenen Gegensatz zu allen Traditionen des akademischen<br />
Arzttums, er tritt als ein Revolutionär in Worten und Handlungen auf,<br />
indem er nicht <strong>im</strong> Gelehrtenlatein, son<strong>der</strong>n <strong>im</strong> Volksdeutsch vorträgt,<br />
und indem er zum Zeichen seiner Abkehr von <strong>der</strong> medizinischen<br />
altverehrten Bücherweisheit diese Bücher öffentlich verbrennt.<br />
Fluchtartig muß er, den nun die empörte Zunft mit Haß und<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 127<br />
Lebensbedrohung verfolgt, Basel verlassen und vorerst in Kolmar<br />
(Februar 1528) Unterschlupf finden. Wie<strong>der</strong> beginnt das alte<br />
Wan<strong>der</strong>leben und wie von Ferrara (1515) bis Kolmar, so währt von<br />
Kolmar (1528) bis zu seinem Sterbedatum (1541) in Salzburg auch<br />
diese zweite Periode des „Landfahrens― dreizehn Jahre: über Nürnberg<br />
(1529), Regensburg, St. Gallen (1531) und Zürich, nach Schwaz und<br />
Innsbruck (1534), Meran und Bad Pfäffers (1535), von dort nach<br />
Schwaben und Bayern (Augsburg 1536), dann wie<strong>der</strong> nach Österreich<br />
(Linz 1537) und Mähren über Preßburg nach Wien, Villach (1538) und<br />
Klagenfurt, endlich (1540) zurück nach Salzburg. Hier erledigt er noch<br />
etliche ärztliche Gutachten und ärztliche Fahrten, um <strong>im</strong> September<br />
1541 zu erkranken und am 24. September 1541, <strong>im</strong> Alter von nur 48<br />
Jahren, seine Seheraugen für <strong>im</strong>mer zu schließen infolge vorzeitiger<br />
Erschöpfung seines Kräftevorrates. Als ein Einsamer und Armer wurde<br />
er seinem Wunsche entsprechend auf dem St. Sebastian-Friedhof in<br />
Salzburg unter den Armen beigesetzt, als „ein seltzam wun<strong>der</strong>lich mann―<br />
(so schrieb schon Seb. FRANCK 1531) ist er in Sage und Dichtung<br />
eingegangen, und als ein eigenwilliger außergewöhnlicher Selbstdenker<br />
hat er die Geisteswelt bis heute dauernd beschäftigt. In den knapp zwei<br />
Jahrzehnten seiner rastlosen Erdenwan<strong>der</strong>ung hat er rund 350<br />
medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften<br />
verfaßt, darunter etwa 120 mit chemischen Einschlag. (In <strong>der</strong> Sudhoff-<br />
Ausgabe umfassen sie 14 Bände in Großformat mit 8200 Druckseiten.)<br />
Außerdem liegen noch mehr als 10 theologische, sowie mehrere<br />
staatspolitische Schriften vor. Als ein großer Reformator hat er drei<br />
altehrwürdige „Künste“ umgestaltet, und zwar: Die „ärztliche<br />
Kunst“, die „alchemistische Kunst“ und die „pharmazeutische<br />
Kunst“.<br />
(aus: Paul WALDEN: Drei Jahrtausende Chemie, Berlin<br />
1944, S. 59f).<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 128<br />
Von PARACELSUS’ Vorfahren sind nur über die patrilineare<br />
Namenslinie weitreichende Daten überliefert, da die Adelsfamilie<br />
Bombast von HOHENHEIM in <strong>der</strong> Geschichte des Herzogtums<br />
Württemberg eine gewisse Rolle gespielt hat. Dieses Geschlecht läßt<br />
sich stammbaummäßig bis um 1100 zurück verfolgen. Die Familie <strong>der</strong><br />
Bombaste von HOHENHEIM hatte ihren Stammsitz HOHENHEIM be<strong>im</strong><br />
Dorf Plieningen in <strong>der</strong> Nähe von Stuttgart. Ein Georg (Jörg) Bombast<br />
von HOHENHEIM, von 1446-1496 genannt, zog 1468 mit dem Grafen<br />
Eberhard von Württemberg als Kreuzzügler ins Heilige Land. Dieser<br />
Georg war Verwalter („Komtur―) in einem Johanniterorden. Er war<br />
höchstwahrscheinlich PARACELSUS’ Großvater. Der illegit<strong>im</strong>e Sohn<br />
Wilhelm dieses Georg (Jörg) war PARACELSUS’ Vater. Er hieß auch<br />
Wilhelm Bombast von Riet (o<strong>der</strong> „de Riett―), lebte von 1457-1534 und<br />
studierte ab 1482 an <strong>der</strong> damals noch jungen Universität Tübingen, die<br />
er als Lizentiat <strong>der</strong> Medizin ohne Doktorprüfung verläßt. Über Wilhelms<br />
Mutter ist nichts bekannt. Unter Abt Konrad von HOHENRECHENBERG<br />
kommt Wilhelm um 1491 von Hohenhe<strong>im</strong> als Arzt nach<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 129<br />
Einsiedeln/Schweiz (Kanton Schwyz). Am Ortsende des Städtchen<br />
Einsiedeln lag die Abtei Maria Einsiedeln, ein vielbesuchter Wallfahrtsort<br />
(„Schwarze Madonna―). Wilhelm heiratet 1492 in Einsiedeln Els(e)<br />
OCHSNER, PARACELSUS’ Mutter. Sie ist eine „Gotteshausfrau―, das<br />
heißt, sie ist eine Leibeigene (Hörige) des Benediktinerklosters. Die<br />
OCHSNER sind dort ein alteingesessenes Einsiedlergeschlecht (Lehen<br />
des Klosters). Els’ Vater - PARACELSUS’ Großvater mütterlicherseits -<br />
ist ein Rüdi OCHSNER, <strong>der</strong> nach einer Urkunde 1480 in Einsiedeln an<br />
<strong>der</strong> Sihlbrücke („Teufelsbrücke―) ansässig war. Das Bräutigamsbild von<br />
PARACELSUS’ Vater zeigt das Wappen <strong>der</strong> Bombaste von<br />
HOHENHEIM (drei Kugeln auf dem Schrägbalken des Schildes) und das<br />
Wappen <strong>der</strong> OCHSNER (einen Stierkopf ohne Nasenring). Als einziges<br />
Kind dieser Ehe wird PARACELSUS vermutlich am 10. November 1493<br />
<strong>im</strong> Bauernhaus bei <strong>der</strong> Teufelsbrücke in Einsiedeln geboren. Der<br />
Geburtstag steht nicht ganz fest, doch kann als sicher angenommen<br />
werden, daß er zwischen dem 25. September und 31. Dezember 1493<br />
liegt. Es wird aus Äußerungen vermutet, daß <strong>der</strong> Vater mit Vorbedacht<br />
den Hauptvorname Theophrast gewählt hat; und zwar nach dem<br />
großen ARISTOTELES-Schüler, Naturforscher und Redner<br />
Theophrastus von Eresos auf Lesbos (heute noch durch seine trefflichen<br />
„Charakterskizzen― bekannt). Nach zehnjähriger Ehe starb Els<br />
OCHSNER, PARACELSUS’ Mutter, <strong>im</strong> reißenden Fluß Sihl; sie soll<br />
jahrelang unter Schizophrenie gelitten haben. Der Vater verließ<br />
daraufhin mit seinem neunjährigen Sohn Theophrast Einsiedeln und zog<br />
nach Villach/Kärnten. Er folgte einer Berufung als Lehrer an die dortige<br />
Bergschule und zugleich als Stadtarzt. Er hat nicht wie<strong>der</strong> geheiratet.<br />
PARACELSUS’ soziale A<strong>der</strong> wurde vielleicht von seinen beschränkten<br />
ärmlichen frühen Jugendverhältnissen geprägt, denn er schreibt: daß er<br />
„in armut und hunger seine jugent verzert habe.― Aber: daß er Gott dafür<br />
Dank wisse, in Armut aufgewachsen zu sein und nicht zu den<br />
„Katzreinen, Superfeinen― zu gehören, er sei mit „Käs, Milch und<br />
Haferbrot groß geworden, nicht mit Met und Feigen.― Indessen: „Je<br />
ärmer wir erzogen werden, je größer die Ehre gegen Vater und Mutter<br />
sein soll.―<br />
PARACELSUS gedenkt oft seines Vaters, <strong>der</strong> einen großen Einfluß<br />
auf ihn ausgeübt haben muß. Offensichtlich bewertet er auch sein<br />
biologisches Erbe sehr hoch wenn er sagt: „dan ein iegliches kint<br />
schlegt in die art seines vatters―, o<strong>der</strong> an an<strong>der</strong>er Stelle: „also wird ein<br />
ietlicher geboren in die art sines vaters, was <strong>im</strong> vom selben ingelibet<br />
wird, mag er volstrecken, also ist <strong>der</strong> son gewalti in sinem veterlichen<br />
erb zehandlen―. Aber auch seine Mutter muß er sehr verehrt haben, „zur<br />
Ehr und Feier― hat er ihr manches gewidmet. Er schreibt einmal: „das<br />
Kind bedarf keines Gestirns und keines Planeten; seine Mutter ist<br />
sein Planet sein Stern.“<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 130<br />
PARACELSUS starb unverheiratet. 1993 zu seinem 500. Geburtstag<br />
warteten österreichische Wissenschaftler mit einer sensationellen<br />
Pressemeldung auf. Ein Wissenschaftler vom Naturhistorischen<br />
Museum in Wien und zwei Gerichtsmediziner hatten Skelettreste von<br />
PARACELSUS untersucht und dabei eine Zwitternatur festgestellt. An<br />
Schädel und Becken fanden sie angeblich „adrenogenitale<br />
Syndrome“, die sie als Grund für seine „Enthaltsamkeit― deuteten. In<br />
<strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>schrift „Die Woche― vom 13. Mai 1993 heißt es dazu: „Sein<br />
Chromosomensatz war weiblich―. Von DNA-Analysen war indes dort<br />
nichts zu lesen.<br />
„Die scholastischen Lehren <strong>der</strong> Medizin schiebt PARACELSUS achtlos<br />
beiseite und lauscht dafür die tieferen St<strong>im</strong>men, mit denen die beseelte<br />
Natur zu ihm spricht, gleichwie sie zum Volk, zu Bauern und Schäfern,<br />
redet. Kostbare Entdeckungen schenkt er damit <strong>der</strong> Heilkunde. Doch<br />
wurde er mit dem Los jedes stürmischen Neuerers bezahlt: die alte<br />
Schule verschrie ihn als Scharlatan und hätte ihn am liebsten als<br />
Zauberer auf dem Scheiterhaufen brennen gesehen. Sein ganzes Leben<br />
hindurch hastete er, getrieben vom eigenen Dämon und verfolgt vom<br />
neidischen Haß <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>sacher, durch die Weiten <strong>der</strong> Welt― (lt. K. R.<br />
GANZER).<br />
„Eine eigentliche Chemie, die man als Wissenschaft bezeichnen kann,<br />
ist denknotwendig mit den beiden Grundfragen verknüpft: „Woraus<br />
besteht etwas?― ferner: „Warum geschieht etwas?― Damit sind die<br />
Grundprobleme <strong>der</strong> Chemie angeschnitten, nämlich: Das Problem <strong>der</strong><br />
chemischen Zusammensetzung <strong>der</strong> Stoffe und das Problem des<br />
Verhaltens <strong>der</strong> Stoffe zueinan<strong>der</strong> bzw. das Wesen <strong>der</strong> chemischen<br />
Vorgänge. Das historische Verdienst, diese Probleme zuerst gestellt<br />
und ihre Lösung in Angriff genommen zu haben gebührt deutschen<br />
Chemikern, vornehmlich PARACELSUS, GLAUBER, BECHER und<br />
STAHL.“<br />
(Paul WALDEN, Drei Jahrtausende Chemie, 1944, S. 59).<br />
Betrachten wir nun noch was Goethe in seinen „Materialen zur<br />
Farbenlehre“ <strong>im</strong> Kapitel: „16. Jahrhun<strong>der</strong>t―, über Paracelsus<br />
geschrieben hat:<br />
„Paracelsus<br />
geboren 1493, gestorben 1541<br />
Man ist gegen den Geist und die Talente dieses außerordentlichen<br />
Mannes in <strong>der</strong> neuern <strong>Zeit</strong> mehr als in einer früheren gerecht, daher<br />
man uns eine Schil<strong>der</strong>ung <strong>der</strong>selben gern erlassen wird. Uns ist er<br />
deshalb merkwürdig, weil er den Reihen <strong>der</strong>jenigen anführt, welche auf<br />
den Grund <strong>der</strong> chemischen Farbenerscheinung und –verän<strong>der</strong>ung zu<br />
dringen suchen.<br />
Paracelsus ließ zwar noch vier Elemente gelten, jedes war aber<br />
wie<strong>der</strong> aus dreien zusammengesetzt, aus Sal, Sulphur und Mercuris,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 131<br />
wodurch sie denn sämtlich, ungeachtet ihrer Verschiedenheit und<br />
Unähnlichkeit, wie<strong>der</strong> in einen gewissen Bezug untereinan<strong>der</strong> kamen.<br />
Mit diesen drei Uranfängen scheint er dasjenige ausdrücken zu wollen,<br />
was man in <strong>der</strong> Folge alkalische Grundlagen, säuernde Wirksamkeiten<br />
und begeistende Vereinigungsmittel genannt hat. Den Ursprung <strong>der</strong><br />
Farben schreibt Paracelsus dem Schwefel zu, wahrscheinlich daher,<br />
weil ihm die Wirkung <strong>der</strong> Säuren auf Farbe und Farbenerscheinung am<br />
bedeutendsten auffiel, und <strong>im</strong> gemeinen Schwefel sich die Säure <strong>im</strong><br />
hohen Grade manifestiert. Hat sodann jedes Element seinen Anteil an<br />
dem höher verstandenen mystischen Schwefel, so läßt sich auch wohl<br />
ableiten, wie in den verschiedenen Fällen Farben entstehen können. So<br />
viel für diesmal; in <strong>der</strong> Folge werden wir sehen, wie seine Schüler und<br />
Nachkommen diese Lehre erweitert und ihr durch mancherlei<br />
Deutungen zu helfen gesucht. Auf ebendiesem Wege gingen die<br />
Alchymisten fort und mußten sich, weil darunter wenig originelle<br />
Geister, hingegen viele Nachahmer sich befanden, <strong>im</strong>mer tiefer zur<br />
Gehe<strong>im</strong>niskrämerei ihre Zuflucht nehmen, <strong>der</strong>en Dunkelheiten aus dem<br />
vorigen Jahrhun<strong>der</strong>t herübergekommen waren. Daher die Monotonie<br />
aller dieser Schriften.[…]―.<br />
Später erwähnt Goethe PARACELSUS nochmals in seinen<br />
„Materialien zur Geschichte <strong>der</strong> Farbenlehre― in Kapitel „18.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>―, Abschnitt „Chemiker“:<br />
„Das Verhalten <strong>der</strong> Lackmustinktur gegen Säuren und Alkalien, so<br />
bekannt es war, blieb doch <strong>im</strong>mer wegen seiner Eminenz und seiner<br />
Brauchbarkeit den Chemikern merkwürdig, ja das Phänomen wurde<br />
gewissermaßen für einzig gehalten. Die früheren Bemerkungen des<br />
PARACELSUS und seiner Schule, daß die Farben aus dem Schwefel<br />
und dessen Verbindung mit den Salzen sich herschreiben möchten,<br />
waren auch noch in frischem Andenken geblieben. Man gedachte mit<br />
Interesse eines Versuchs von MARIOTTE, <strong>der</strong> einen roten<br />
französischen Wein durch Alkalien gebräunt und ihm das Ansehen eines<br />
schlechten verdorbenen Weins gegeben, nachher aber durch<br />
Schwefelgeist die erste Farbe, und zwar noch schöner, hergestellt. Man<br />
erklärte damals daraus das Vorteilhafte des Aus- und Aufbrennens <strong>der</strong><br />
Weinfässer durch Schwefel, und fand diese Erfahrung bedeutend.―<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
4.2 Georg AGRICOLA, 1494-1555<br />
Der an<strong>der</strong>e große Repräsentant <strong>der</strong> Chemie und chemischen Technik<br />
in <strong>der</strong> unruhigen <strong>Zeit</strong> <strong>der</strong> aufflackernden Religionskriege und <strong>der</strong><br />
aufstrebenden Epoche <strong>der</strong> Renaissance und des sich entwickelnden<br />
Humanismus war Georg AGRICOLA, von dem wir hier zunächst eine<br />
kurze Lebensbeschreibung bringen, ohne natürlich auf seine<br />
mineralogischen Leistungen <strong>im</strong> einzelnen einzugehen. Allgemein gilt<br />
AGRICOLA als „Vater <strong>der</strong> Mineralogie“. An<strong>der</strong>e sprechen vom<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 132<br />
Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> Bergbaukunde. Vor allem ist er aber <strong>der</strong> erste<br />
chemische Technologe; so wird er wohl heute vor allem gesehen,<br />
wenn man sein berühmtes Hauptwerk über die Metalle „Re de metallica<br />
libri XII“ (1556), betrachtet, auf das noch eingegangen werden muß.<br />
Hier zunächst AGRICOLAs Lebenslauf unter beson<strong>der</strong>er<br />
Berücksichtigung <strong>der</strong> Ausbildung, seiner örtlichen Wirkungsstätten und<br />
Familienverhältnisse, von denen lei<strong>der</strong> nicht allzuviel überliefert worden<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 133<br />
ist. Zunächst vorab einiges über die sächsische Stadt Glauchau an <strong>der</strong><br />
Zwickauer Mulde und <strong>der</strong>en Herrschaft in <strong>der</strong> Georg(ius) AGRICOLA<br />
am 24. März 1494 als Georg PAWER (BAWER = Bauer) geboren<br />
wurde. Glauchau zeichnete sich bereits damals durch eine rege<br />
Textilindustrie aus, was aus den Überlieferungen zur Tuchmacher- und<br />
Färberzunft zu ersehen ist, <strong>der</strong>en Zunft AGRICOLAs Vater angehörte.<br />
Bereits 1410 erhielten die Tuchmacher dort von <strong>der</strong> SCHÖNBURGer<br />
Herrschaft ihren Innungsbrief.<br />
Bei <strong>der</strong> Stadt Glauchau, <strong>der</strong> heutigen west-sächsischen Großen<br />
Kreisstadt (Regierungsbezirk Chemnitz), fällt es schwer, ihr eine<br />
damalige Herrschaft zuzuordnen. Es war damals eine<br />
„Landeshauptstadt―, ja fast eine „Residenzhauptstadt― des<br />
Adelsgeschlechts von SCHÖNBURG! Die in Sachsen einmalige<br />
Doppelschloßanlage - dem Schloß For<strong>der</strong>glauchau und dem Schloß<br />
Hinterglauchau - kündet noch heute von <strong>der</strong> einstigen Bedeutung dieses<br />
Hauses in Sachsen.<br />
Neun Jahre nach <strong>der</strong> sogenannten Wettiner Teilung von 1485 in die<br />
„ernestinische― (damals Kurfürstentum Sachsen) und die „albertinische<br />
Linie― (damals Mark Meißen) wird auf den meisten zeitgenössischen<br />
Landkarten Glauchau zu keinen <strong>der</strong> beiden wettiner Gebieten<br />
zugerechnet, son<strong>der</strong>n zur Grafschaft Schönburg zugehörig<br />
angegeben. Im Wettiner Teilungsvertrag von 1485 war Glauchau aber<br />
rechtlich zum albertiner Teil zugeschlagen worden. Das Gebiet <strong>der</strong><br />
Herrschaft von SCHÖNBURG reichte damals als schmaler Streifen von<br />
Waldenburg <strong>im</strong> Norden über Glauchau bis an die Grenze des<br />
Königreiches Böhmen <strong>im</strong> Süden. Später kamen noch als Herrschaften<br />
Penig und Wechselburg (seit 1543) sowie die Herrschaft Rochsburg<br />
(seit 1548) hinzu, während die Grenzgebiete <strong>im</strong> Süden (Vogtland) ganz<br />
an die Wettiner kamen.<br />
„Die von SCHÖNBURGischen Landesherren waren als Reichsstände<br />
unmittelbar dem Kaiser untergeordnet, über die aber die Wettiner eine<br />
teils begründete, teils angemaßte Hoheit beanspruchten. Die<br />
SCHÖNBURGER blieben bis ins 19. Jahrhun<strong>der</strong>t in einem<br />
Schwebezustand zwischen Reichsunmittelbarkeit [Reichsafterlehen] und<br />
kursächsischer Oberhoheit in ihren Herrschaften Glauchau,<br />
Waldenburg, Lichtenstein und Hartenstein.― (nach Karlheinz<br />
BLASCHKE: Geschichte Sachsens <strong>im</strong> Mittelalter, München 1990).<br />
Im Laufe <strong>der</strong> Geschichte erfolgte mehrfach eine „Adelsverbesserung―<br />
bis zum Titel „Durchlaucht― und „Erlaucht― sowohl für die „ältere Linie―<br />
(Waldenburg) als auch die „jüngere Linie― (Hartenstein). Genealogisch<br />
wird das Geschlecht von SCHÖNBURG als reichsministerialische<br />
Familie in den Herrenstand eingereiht und erscheint in den<br />
Adelshandbüchern des „Gotha― in <strong>der</strong> Abeilung II. (Genealogie <strong>der</strong><br />
Standesherren). Tatsächlich waren die von SCHÖNBURG adelsrechtlich<br />
„ebenbürtig― zu den „regierenden Dynasten― <strong>der</strong> Abteilung I. und durch<br />
zahllose Eheverbindungen mit diesen verwandtschaftlich eng<br />
verflochten. In <strong>der</strong> Ahnentafel des letzten deutschen Kaisers Wilhelm II.<br />
von PREUSSEN kommen zum Beispiel vier verschiedene<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 134<br />
SCHÖNBURG-Linien vor. Sie entstanden durch Einheirat von<br />
SCHÖNBURG-Töchtern, die aber natürlich alle wie<strong>der</strong> auf ihren<br />
gemeinsamen Stammvater des Geschlechtes zurückführen! Auf diese<br />
Weise entstanden <strong>im</strong> Prinzip alle verwandtschaftlichen Verflechtungen<br />
<strong>im</strong> mitteleuropäischen Adel, <strong>der</strong>en quantitativ-genealogische Maßstab<br />
<strong>der</strong> „Ahnenverlust― (Implex) ist. Interessenten seien auf die<br />
„Ahnenverlust―-Literaturzusammenstellung in meiner <strong>GeneTalogie</strong>-<br />
Internetseite hingewiesen:<br />
http://www.genetalogie.de/ahn/litlistindex.html<br />
Dem Hause von SCHÖNBURG - als dem vornehmsten adligen Hause<br />
nach den WETTINERN - gelang es als sogar eine autonome<br />
Gerichtsbarkeit und damit eine Son<strong>der</strong>stellung innerhalb Sachsens bis<br />
1878 zu behaupten.<br />
Die bekannteste Namensträgerin <strong>der</strong> von SCHÖNBURG ist wohl<br />
Gräfin Mariae Gloria von Schönburg-Glauchau, die 1960 in Stuttgart<br />
geboren, 1980 Fürst Johannes von THURN und TAXIS, 1926-1990,<br />
heiratete. Aber auch Glorias Vater und ihre Geschwister wurden durch<br />
beson<strong>der</strong>e Leistungen bekannt. Vater Joach<strong>im</strong> Graf Joach<strong>im</strong> von<br />
SCHÖNBURG-Glauchau, 1929-1998, war Naturschützer und<br />
Jagdschriftsteller und nach Deutschlands „Wende― wurde er als<br />
Direktkandidat <strong>der</strong> CDU für die Wahlkreise Glauchau, Hohenstein-<br />
Ernstthal, Rochlitz und Hainichen von 1990-1994 in den Deutschen<br />
Bundestag gewählt; seine Gemahlin, Glorias Mutter Beatrix (* 1930),<br />
entstammt dem gräflichem Geschlecht SZÉCHENYI. Glorias jüngster<br />
Bru<strong>der</strong> Alexan<strong>der</strong> (* 1969) ist Journalist und Schriftsteller; durch seinen<br />
Bestseller „Die Kunst des stilvollen Verarmens― (2005 bei Rowohlt)<br />
wurde er berühmt. Die älteste Schwester Glorias, Maya-Felicitas (*<br />
1958), verheiratete FLICK, ist in <strong>der</strong> Prominenten-Presse als „Society-<br />
Lady― bekannt.<br />
Nach Schil<strong>der</strong>ung von AGRICOLAs westsächsischer He<strong>im</strong>at und<br />
ihrem damaligen Herrschergeschlecht von SCHÖNBURG, nun wie<strong>der</strong><br />
zurück zu AGRICOLA, wobei ich mich hier beson<strong>der</strong>s auf die<br />
Veröffentlichungen des Deutschen Museums, München, beziehe, das<br />
sich beson<strong>der</strong>s für die Verbreitung <strong>der</strong> wissenschaftlichen Verdienste<br />
AGRICOLAs in vielerlei Hinsicht tatkräftig eingesetzt hat.<br />
AGRICOLA stammt aus einer <strong>der</strong> zahlreichen in Glauchau ansässigen<br />
Tuchmacher- und Färberfamilien, die es zu einem gewissen Wohlstand<br />
gebracht hatte. AGRICOLAs Vater konnte es sich leisten, von seinen<br />
vier Söhnen drei studieren zu lassen, während einer offensichtlich den<br />
väterlichen Färbereibetrieb übernahm und dieser – AGRICOLAs Bru<strong>der</strong><br />
- ebenfalls seine zwei Söhne auf die Universität schickte. Der Vater<br />
Gregor PAWER (BAUER) wurde vor 1465 vermutlich auch in Glauchau<br />
geboren (und verstarb vor 1535 in Glauchau). Er hatte nachweislich 7<br />
Kin<strong>der</strong>, 4 Söhne und 3 Töchter. AGRICOLA wurde als 3. Kind in<br />
Glauchau am 24. 3. 1494 in Glauchau geboren und als Georg PAWE<br />
(BAUER) getauft. Er besuchte die Lateinschule in Glauchau und<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 135<br />
vermutlich 1510 die Lateinschule <strong>im</strong> benachbarten Zwickau. Erst 1514<br />
wurde er an <strong>der</strong> Universität Leipzig <strong>im</strong>matrikuliert, erwarb 1515 das<br />
Baccalaureat und wurde spätestens 1517 Lektor für Griechisch bei dem<br />
bekannten Humanisten Petrus MOSELLANUS. Nach Studienabschluß<br />
nannte er sich nach Humanistenbrauch Georgius AGRICOLA und wurde<br />
1518 als Konrektor an die Lateinschule in Zwickau berufen. 1519 wurde<br />
ihm dort sogar das Rektorat <strong>der</strong> neuen griechischen Schule übertragen,<br />
die 1520 unter seiner Leitung mit <strong>der</strong> Lateinschule vereinigt worden war.<br />
1520 veröffentlichte AGRICOLA seine erste Schrift; eine<br />
reformpädagogische elementare Einführung in die lateinische<br />
Grammatik (Libellus de pr<strong>im</strong>a ac s<strong>im</strong>plici institutione grammatica).<br />
Zunächst fühlte sich AGRICOLA zur Theologie, <strong>der</strong> damals größten<br />
Fakultät, hingezogen. Anläßlich <strong>der</strong> Trauerfeierlichkeiten für den<br />
verstorbenen Kaiser MAXIMILIAN I. befestigte er am 20. Februar 1519<br />
ein Epigramm gegen den Ablaßhandel an <strong>der</strong> Tür <strong>der</strong> Marienkirche in<br />
Zwickau: „Das H<strong>im</strong>melreich wird nicht durch Gold und Silber erkauft!―<br />
Zwei Jahre vorher hatte Martin LUTHER seine Thesen in Wittenberg<br />
angeschlagen. In AGRICOLAs Lateinschule herrschte offensichtlich ein<br />
Kl<strong>im</strong>a <strong>der</strong> Sympathie für die Reformation. AGRICOLA blieb jedoch <strong>im</strong><br />
Schoße <strong>der</strong> katholischen Kirche; mit zunehmendem Alter entwickelte er<br />
sich sogar zu einem bewußten Vertreter des katholischen Glaubens.<br />
1522 ging AGRICOLA aber erneut an die Universität Leipzig, um<br />
Medizin zu studieren. Das Medizinstudium war damals <strong>im</strong><br />
deutschsprachigen Raum fast ausschließlich auf die philologische<br />
Auslegung <strong>der</strong> Texte antiker Autoritäten (GALEN, HIPPOKARATES)<br />
beschränkt. Wer sich für praktische(!) Medizin o<strong>der</strong> gar Anatomie<br />
interessierte, mußte ins Ausland gehen, nach Montpellier in<br />
Südfrankreich etwa, o<strong>der</strong> nach Italien. An deutschen Universitäten gab<br />
es gegenüber Leichenuntersuchungen viel größere Vorbehalte als in<br />
Italien o<strong>der</strong> Frankreich. Schon 1523 setzte er das Studium in Italien<br />
(Bologna, Ferrara?, Padua) fort, promovierte dort zum Dr. med. und<br />
reiste danach nach Rom. Als eine Gruppe von Fachleuten unter <strong>der</strong><br />
Leitung des aus Padua stammenden Professors Johann Battista OPIZO<br />
daranging, das Gesamtwerk GALENs herauszubringen, arbeitete er als<br />
einziger Deutscher als Lektor zwei Jahre lang bis 1526 in Venedig daran<br />
mit: „Hat bei <strong>der</strong> Berichtigung des GALEN seinen Fleiß und seine<br />
Arbeitskraft voll eingesetzt―, meinte <strong>der</strong> Verleger <strong>im</strong> Vorwort des 5.<br />
Bandes, <strong>der</strong> schon <strong>im</strong> August 1525 erschien. GALEN, ca. 129-199, war<br />
als griechisch-römischer Arzt neben HIPPOKRATES <strong>der</strong> bedeutendste<br />
Arzt <strong>der</strong> Antike (auch Leibarzt von Marc AUREL).<br />
Im Spätherbst 1526 kehrte AGRICOLA nach Zwickau zurück, weilte<br />
kurz in Chemnitz, um dort Anna ARNOLD, die Witwe des Magister<br />
Matthias MEINER (Meyner), Zehntner und Kammermeister in<br />
Schneeberg, noch 1526 o<strong>der</strong> auch erst 1527 zu heiraten. Annas Vater<br />
Matthias ARNOLD war Ratsherr und 1484, 1488 und 1492<br />
Bürgermeister in Chemnitz (gestorben schon 1504 in Chemnitz). Von<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 136<br />
Anna ARNOLD sind noch zwei Geschwister bekannt: Hans, ein<br />
Geleitsmann in Chemnitz mit Nachkommen und eine Ottilie, die einen<br />
Heinrich von ELTERLEIN heiratete, diese letzteren sind die Eltern <strong>der</strong><br />
bekannten Barbara UTHMANN (Uttmann) , 1514-1575. Barbaras Tante<br />
Anna MEINER, geb. ARNOLD, war also in zweiter Ehe mit AGRICOLA<br />
verheiratet. Barbara heiratete Christoph UTHMANN (Uttmann), <strong>der</strong> aus<br />
Schlesien nach Sachsen gekommen war und es hier zum reichen<br />
Bergherren gebracht hat. Barbara UTHMANN ist als „gütige Fee― durch<br />
die Einführung des Spitzenklöppelns in He<strong>im</strong>arbeit bekannt geworden;<br />
sie hat dadurch manche soziale Not <strong>im</strong> Erzgebirge behoben.<br />
Genealogisch ist bemerkenswert, daß von ihren 12 Kin<strong>der</strong>n mindestens<br />
66 Enkel abstammen.<br />
Nach dieser seitenverwandtschaftlichen Abschweifung wie<strong>der</strong> zurück<br />
zu AGRICOLAs Lebenslauf. Nach seiner Heirat folgte AGRICOLA 1527<br />
einem Ruf als Stadtarzt und Apotheker nach Sankt Joach<strong>im</strong>sthal <strong>im</strong><br />
böhmischen Erzgebirge (tschechisch Jáchymov) bei Karlsbad.<br />
„St. Joach<strong>im</strong>sthal hatte eine steile Karriere hinter sich. Im Frühjahr<br />
1516 wurde in <strong>der</strong> Nähe des Dorfes Conradsgrün erstmals Silber<br />
gefunden. Das „Berggeschrei― lockte die Menschen von weither an. Aus<br />
zunächst „fliegenden Bauten― entstand schließlich <strong>der</strong> neue Bergort<br />
Joach<strong>im</strong>sthal. Zum Jahresschluß siedelten bereits mehr als 1000<br />
Menschen hier. Es ging weiter zügig voran. War die Stadt 1520 auf 5000<br />
Einwohner angewachsen, so waren es 1530 schließlich 18.000.<br />
Joach<strong>im</strong>sthal war nächst Prag die größte Stadt Böhmens geworden. In<br />
den 30er Jahren arbeiteten in Joach<strong>im</strong>sthal 8000 Häuer, 300<br />
Schichtmeister und 800 Steiger. 1533 wurde eine Spitzenproduktion von<br />
14.000 Kilo Silber erzielt. 1548 etablierte sich ein Oberbergamt in<br />
Joach<strong>im</strong>sthal. Ebenso schnell wie <strong>der</strong> Aufstieg kam <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>gang.<br />
1550 ging die För<strong>der</strong>ung auf 1500 Kilo zurück, die Stadt schrumpfte auf<br />
2177 Einwohner, die Inflation bei den Lebensmittelpreisen erreichte 300<br />
%.<br />
AGRICOLA kam über die Heilmittelkunde zum Bergbau. Er<br />
interessierte sich vor allem für die aus Mineralien gewonnenen Heilmittel<br />
<strong>der</strong> Antike. Im Zuge <strong>der</strong> Beschäftigung mit den antiken Texten mußte<br />
er verwun<strong>der</strong>t feststellen, daß die antiken Schriftsteller zwar den<br />
Landbau mehrfach und umfänglich behandelt hatten (COLUMELLA<br />
[Junius Mo<strong>der</strong>atus, praktischer Landwirt, gab um 60 n. Chr. in 12<br />
Büchern „De re rustica― ein Bild des Landbaus und <strong>der</strong> Viehzucht seiner<br />
<strong>Zeit</strong>], CATO [Marcus Porcius, 234-149 v. Chr. schrieb das Buch „De<br />
agricultura―]), daß aber <strong>der</strong> Bergbau, als Kulturtechnik mindestens<br />
ebenso alt und volkswirtschaftlich von gleicher Bedeutung wie <strong>der</strong><br />
Landbau, keine entsprechende Würdigung gefunden hatte. Schl<strong>im</strong>mer<br />
noch, <strong>der</strong> Bergbau galt als Symbol menschlicher Gier, wurde mit<br />
Kriegsgerät und Zerstörung fruchtbaren Bodens in Verbindung gebracht.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 137<br />
Diese Erkenntnis ließ in AGRICOLA den Entschluß reifen, dem<br />
Bergbau zu einem seiner Bedeutung angemessenen Ansehen in <strong>der</strong><br />
Gesellschaft zur verhelfen und ihn auf eine wissenschaftliche<br />
Grundlage zu stellen. So wurde er zum Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Montanwissenschaft. Bis dahin sollten aber noch mehr als zwanzig<br />
Jahre intensiver Arbeit vergehen. Für Joach<strong>im</strong>sthal war AGRICOLA für<br />
seine Pläne am rechten Ort. Der hiesige Silberbergbau lieferte ihm<br />
reichlich Anschauungsmaterial. Be<strong>im</strong> umfangreichen Studium antiker<br />
und mittelalterlicher Autoren (ARISTOTELES, ALBERTUS MAGNUS)<br />
konnte er das Gesehene theoretisch durchdringen. In langen<br />
Fachgesprächen mit seinem Freund, dem Hüttenschreiber Lorenz<br />
WERMANN entwickele er neue, eigene Anschauungen. Frucht dieser<br />
Beschäftigung war die 1530 erschienene, als Dialog abgefaßte Schrift<br />
„Bergmannus sive de re metallica―, AGRICOLAs erstes<br />
bergbaukundliches Werk. Im Titel ist einer <strong>der</strong> drei Gesprächspartner<br />
genannt, Bergmannus. Es handelt sich um die latinisierte Form des<br />
Namens von AGRICOLAs Bergbaufreund WERMANN. Kein geringerer<br />
als <strong>der</strong> europaweit bekannte Humanist Erasmus von ROTTERDAM<br />
verfaßte das Widmungsschreiben und formulierte den bedeutsamen<br />
Satz: „Das Neuartige des Gegenstandes hat mir sehr gefallen―<br />
In seiner Schrift versucht AGRICOLA, den Bergbau zu entmystifizieren<br />
und zu systematisieren. Die antike Anschauung von den sieben<br />
Planeten und den von ihnen beeinflußten sieben Metallen (Gold,<br />
Silber, Blei, Quecksilber, Zinn, Kupfer, Eisen) weist er zurück, indem<br />
er zugleich ein achtes Metall, das Wismut, erstmals benennt.<br />
AGRICOLA führt auch einige in Deutschland vorkommende<br />
mineralische Heilmittel an, die in <strong>der</strong> Antike noch nicht bekannt waren.<br />
Insgesamt liegt ihm daran, das Interesse einer breiten Öffentlichkeit für<br />
den Bergbau zu wecken. Das „sive de re metallicum― <strong>im</strong> Titel kommt<br />
nicht von ungefähr. Im Vorwort deutet AGRICOLA an, daß er in einigen<br />
Jahren noch ein umfassendes Werk zum Thema schreiben wird, eben<br />
„De re metallicum.―<br />
(Internettext zu AGRICOLA vom Deutschen Museum München, 2007).<br />
Die Stadt St. Joach<strong>im</strong>sthal hat übrigens be<strong>im</strong> Wort Dollar Pate<br />
gestanden. Die Grafen von SCHLICK ließen seit 1517 den<br />
Joach<strong>im</strong>staler Guldengroschen aus Bergsilber prägen (mit dem Bild<br />
des heiligen Joach<strong>im</strong> und dem des böhmischen Löwens). Aus den<br />
Namen Joach<strong>im</strong>staler gingen die Worte „Taler― und als Ableitung <strong>der</strong><br />
amerikanische „Dollar― hervor, <strong>der</strong> in USA seit 1792 Währungseinheit ist.<br />
Bis Anfang des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts war St. Joach<strong>im</strong>sthal fast alleiniger<br />
Erzeuger von Radium. Das radioaktive Radium ist eines <strong>der</strong><br />
allerseltesten chemischen Elemente auf <strong>der</strong> Erde, das nur spurenweise<br />
in Uranmineralien vorkommt. Bis 1938 wurden in St. Joach<strong>im</strong>sthal 50 g<br />
Radium geliefert mit einer jährlichen Höchstleistung von 5 g <strong>im</strong> Jahre<br />
1936.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 138<br />
1531 zieht AGRICOLA von St. Joach<strong>im</strong>sthal nach Chemnitz, damals<br />
ein Städtchen mit etwa 4000 Einwohnern, wo er ein Haus erwarb und<br />
das nunmehr sein Wohnsitz bis zu seinem Tode blieb. Es ist nicht<br />
ersichtlich, weshalb AGRICOLA schon nach 4 Jahren St. Joach<strong>im</strong>sthal<br />
verließ, zumal er sich als Arzt, Apotheker und Gelehrter dort einen<br />
geachteten Namen gemacht und gut verdient hatte. Vermutlich waren es<br />
fürstliche Angebote; denn bald trat er in herzoglich-albertinischsächsische<br />
Dienste, wo er außer Stadtarzt noch zu diplomatischen<br />
Diensten durch Herzog GEORG(„den Bärtigen―), 1471-1539, berufen<br />
wurde. Er diente insgesamt vier albertinischen Fürsten: dem erwähnten<br />
Georg; Herzog HEINRICH („dem Frommen―), 1473-1541; Herzog, ab<br />
1547 Kurfürst MORITZ, 1521-1553; und AUGUST, 1526-1586. Er war<br />
viermal Bürgermeister von Chemnitz (1546, 1547, 1551 und 1553). Als<br />
Bürgermeister nahm er am Landtag in Freiberg teil.<br />
1547 begleitet er den Herzog und nunmehrigen Kurfürsten MORITZ<br />
von Sachsen <strong>im</strong> Schmalkaldischen Krieg, 1548 wirkte er als Vertreter<br />
<strong>der</strong> Stadt an den Verhandlungen über das Leipziger Inter<strong>im</strong> mit. 1550<br />
weilte er längere <strong>Zeit</strong> zu Besuch in St. Joach<strong>im</strong>sthal, wo er die<br />
Bekanntschaft mit MATHESIUS machte. 1555 vertrat er die Stadt auf<br />
dem Torgauer Landtag.<br />
Nach dem Tode seiner Frau Anna um 1540 heirate AGRICOLA um<br />
1542 ein zweites Mal eine Anna SCHÜTZ, Tochter des Chemnitzer<br />
Ratsherrn Ulrich SCHÜTZ d. J., ca. 1472-1553, Ritter des Heiligen<br />
Grabes, 1506 Bürgermeister von Chemnitz. AGRICOLAs bekannte 6<br />
Kin<strong>der</strong> (2 Söhne und 4 Töchter) stammen alle aus seiner zweiten Ehe.<br />
Ob aus <strong>der</strong> ersten Ehe, die <strong>im</strong>merhin 14 Jahre bestanden hat, Kin<strong>der</strong><br />
hervorgingen, konnte aufgrund <strong>der</strong> schlechten Quellenlage bis heute<br />
noch nicht mit Sicherheit festgestellt werden. Von <strong>der</strong> ersten Ehefrau<br />
AGRICOLAs, <strong>der</strong> Anna ARNOLD, die mit Matthäus MEINER verheiratet<br />
war, sind zumin<strong>der</strong>st noch heute lebende Nachkommen bekannt.<br />
AGRICOLA starb am 21. November 1555 in Chemnitz. Da er nicht<br />
zum Protestantismus übergetreten war, wurde ihm das Begräbnis in <strong>der</strong><br />
Stadtkirche St. Jakobi verweigert; er fand seine letzte Ruhestätte <strong>im</strong><br />
Dom zu <strong>Zeit</strong>z, mit dessen Bischof Julius PFLUG er schon seit seiner<br />
Jugend befreundet war. Wie die neuen Forschungen von H. WILSDORF<br />
ergeben haben, zählte AGRICOLA zu den reichsten Bürgern von<br />
Chemnitz, sein Vermögen (1542: 2300 Gulden, 1551: 8062 Gulden)<br />
verdankte er wohl in <strong>der</strong> Hauptsache seinem Kuxbesitz, beson<strong>der</strong>s an<br />
<strong>der</strong> Zeche „Gabe Gottes― zu Abertham. Daneben bezog er seit 15311<br />
eine ziemlich geringfügige Vergütung als Stadtleibarzt und herzoglicher<br />
bzw. kurfürstlicher Beamter; als Arzt war er außerordentlich geschätzt.<br />
Es ist geradezu erstaunlich, daß er bei seiner großen ärztlichen<br />
Praxis und sonstigen amtlichen Tätigkeit als herzoglicher und<br />
städtischer Vertreter die <strong>Zeit</strong> zu seinen umfassenden wissenschaftlichen<br />
Arbeiten fand, von denen hier nur die mineralogischen erwähnt seien.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 139<br />
1530: Bergmannus sive de re metallica.<br />
1546: De ortu et causis subterraneorum Libri V. (Von den<br />
Entstehungsursachen <strong>der</strong><br />
unterirdischen Körper und Erscheinungen).<br />
De natura fossilium Libri X. (Über die Mineralien).<br />
De veteribus et novis metallis Libri II. (Von alten und neuen<br />
Metallvorkommen).<br />
Fachwörterverzeichnis <strong>der</strong> Bergbaubezeichnungen.<br />
1556: De re metallica Libri (1557: „Vom Bergwerck XII Bücher―,<br />
übersetzt von Philipp<br />
BECH).<br />
Der in <strong>der</strong> Fachwelt namhafte Mineraloge und Wissenschaftshistoriker<br />
Dr. Walther FISCHER, 1955 beruflich in Idar-Oberstein tätig, hat<br />
ausgiebig AGRICOLA-Forschung betrieben und kommt zur Erkenntnis,<br />
daß AGRICOLA nicht nur als „Vater <strong>der</strong> Mineralogie und<br />
Montanwissenschaft“ bezeichnet werden kann, son<strong>der</strong>n daß er mit<br />
Recht als <strong>der</strong> Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Naturwissenschaften zu<br />
ehren sei. Wir zitieren dazu Dr. Walther FISCHER aus <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>schrift<br />
„Der Aufschluß (1955) 6. Jg. H.11):<br />
„Wenn [Abraham Gottlob] WERNER [angesehener Professor für<br />
Mineralogie und Bergbaukunde an <strong>der</strong> Bergakademie in Freiberg;<br />
Goethe verdanke ihm viel Anregungen] ihn als „V a t e r d e r M i n e r a<br />
l o g i e― pries, so würdigte er damit die Tatsache, daß Mineralogie und<br />
Geologie erst durch AGRICOLA zu eigenen Wissenschaften wurden und<br />
eine solche Bereicherung erfuhren, daß <strong>der</strong> Stand <strong>der</strong> Erkenntnisse m e<br />
r k l i c h gegenüber dem zur <strong>Zeit</strong> des ARISTOTELES und<br />
THEOPHRAST erreichten erweitert wurde. Schon damit hätte<br />
AGRICOLA eine hervorragende Bedeutung für die<br />
Wissenschaftsgeschichte errungen. Aber sein Wirken war<br />
unvergleichlich weitreichen<strong>der</strong>! Er darf mit gutem Recht als <strong>der</strong> B e g r ü<br />
n d e r d e r m o d e r n e n N a t u r w i s s e n s c h a f t e n<br />
überhaupt angesehen werden. Sein Verdienst war nicht nur, daß er<br />
begann, die Beobachtung <strong>der</strong> Naturobjekte und –ereignisse in den<br />
Vor<strong>der</strong>grund zu stellen, nachdem die Wissenschaft bis dahin wesentlich<br />
auf <strong>der</strong> literarischen Überlieferung gefußt hatte – fast zur gleichen <strong>Zeit</strong><br />
hat eine Reihe von Forschern einzelne Naturbeobachtungen<br />
aufgezeichnet -, ihm war es vorbehalten, das in Jahrhun<strong>der</strong>ten<br />
gesammelte Wissen und den Erfahrungsschatz vieler Generationen von<br />
Berg- und Hüttenleuten als Grundlage seiner Mineralogie und Geologie<br />
zu übernehmen und auszuwerten. Erstmalig in <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong><br />
Wissenschaft fand er die Synthese zwischen technischer Praxis<br />
und wissenschaftlicher Deutung, nur was von <strong>der</strong> überlieferten<br />
„Wissenschaft― mit den Beobachtungen und Erfahrungen <strong>der</strong> Praxis in<br />
Einklang stand, wurde von ihm anerkannt. Damit aber begann erst das<br />
<strong>Zeit</strong>alter <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Naturwissenschaft, und Hermann TERTSCH<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 140<br />
konnte mit vollem Recht behaupten, daß die Mineralogie die Mutter<br />
aller Naturwissenschaften sei. Nicht nur, daß Physik und Chemie etwa<br />
ihren Ausgang von Beobachtungen an Mineralien nahmen, son<strong>der</strong>n die<br />
ganze Methodik naturwissenschaftlicher Forschung wurde in<br />
AGRICOLAs Mineralogie entwickelt. Indem er versuchte, die Befunde<br />
des Erzprobierens für die Kenntnisse <strong>der</strong> Mineralogie auszuwerten,<br />
indem er die einfachen Mineralien von chemischen Verbindungen und<br />
mechanischen Gemengen unterschied, half er zugleich das<br />
Hüttenwesen zu vergeistigen. Wenn er die Lagerstätten unter<br />
Berücksichtigung genetischer Gesichtspunkte zu deuten versuchte,<br />
schuf er zugleich für den Bergbau wichtige theoretische Grundlagen.<br />
Erst die Wechselwirkung zwischen Praxis und Theorie ermöglichte in<br />
<strong>der</strong> Folgezeit den bewun<strong>der</strong>nswerten Aufschwung <strong>der</strong><br />
Naturwissenschaften. Wir vermögen ein abschließendes Urteil über<br />
AGRICOLAs geistige Leistung nur zu gewinnen, wenn wir an die<br />
abson<strong>der</strong>lichen Anschauungen denken, die man sich zu seiner <strong>Zeit</strong> und<br />
noch sehr viel später etwa von <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> Insekten machte,<br />
obwohl doch auch hier die Erfahrungen von Bienen- und<br />
Seidenraupenzüchtern vorlagen!<br />
Bergbau und Hüttenwesen gehörten zu den ältesten Errungenschaften<br />
<strong>der</strong> Menschheit, und doch mußte erst ein AGRICOLA kommen, <strong>der</strong><br />
diesen Erfahrungsschatz für die Wissenschaft nutzbar machte! Es kann<br />
nur bedauert werden, daß gerade die grundlegenden mineralogischen<br />
Schriften AGRICOLAs nur lateinisch herausgegeben wurden und so <strong>der</strong><br />
Mehrzahl <strong>der</strong> Berg- und Hüttenleute verschlossen blieben: Damit wurde<br />
eine dauernde Berücksichtigung seiner Gedankengänge in <strong>der</strong> Praxis<br />
unmöglich gemacht und die Entwicklung <strong>der</strong> Mineralogie auf lange <strong>Zeit</strong><br />
hin gehemmt. Immerhin ist durch die Tätigkeit vor allem des St.<br />
Joach<strong>im</strong>sthaler Pfarrers Johannes MATHESIUS und später des Petrus<br />
ALBINUS AGRICOLAs geistiges Gut auch in die breite Öffentlichkeit<br />
getragen und ausgewertet worden, nur eben ohne daß sein Name dabei<br />
jeweils in den Vor<strong>der</strong>grund gerückt worden wäre. Nicht zuletzt ist es<br />
diesen Männern zu danken, daß das Sammeln von Mineralien und<br />
Fossilien zunehmende Beachtung fand und überall in <strong>der</strong> Folge<br />
wertvolle Sammlungen entstanden, die eine einwandfreie Beschreibung<br />
<strong>der</strong> Mineralien ermöglichten. Wenn wissenschaftliche Freunde<br />
AGRICOLAs wie <strong>der</strong> nachmalige Rektor <strong>der</strong> Meißner Fürstenschule<br />
Georg FABRICIUS und <strong>der</strong> Mediziner KENTMANN uns mineralogische<br />
Beobachtungen hinterlassen, aber zugleich sich um Fauna und Flora<br />
Sachsens bemüht haben, so erkennt man am besten den<br />
grundlegenden Einfluß von AGRICOLAs Gedankengut!<br />
Dabei ist beson<strong>der</strong>s zu berücksichtigen, daß er nicht als<br />
Hochschullehrer einen großen Schülerkreis um sich sammeln konnte,<br />
son<strong>der</strong>n nur durch seine Publikationen und seinen Briefwechsel wirkte.<br />
[Eine Parallele dürfte hier LEIBNIZ sein!] Lei<strong>der</strong> sind seine<br />
Korrespondenz nur sehr lückenhaft erhalten geblieben und wird erst jetzt<br />
in <strong>der</strong> Jubiläumsausgabe seiner mineralogischen Schriften vom Museum<br />
für Mineralogie und Geologie zu Dresden zusammengefasst; aber schon<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 141<br />
die spärlichen Reste lassen erkennen, daß er mit den bedeutendsten<br />
Humanisten seiner <strong>Zeit</strong> in Verbindung stand und sich allgemeiner<br />
Hochachtung erfreute. Erst wenn einmal alle seine Werke, auch die<br />
bisher kaum gewürdigten über Münzen, Maße und Gewichte, in einer<br />
mo<strong>der</strong>nen Bearbeitung vorliegen, wird man voll ermessen können,<br />
welche Bedeutung ihm zukommt.―<br />
Prof. Dr. Friedrich KLEMM, 1904-1983, <strong>der</strong> ehemalige Direktor <strong>der</strong><br />
Bibliothek des Deutschen Museums München, hat sich als<br />
Technikhistoriker sehr kompetent mit Georg AGRICOLA befaßt und wir<br />
folgen hier einer verkürzten Textauswahl, die KLEMM dem ersten Band<br />
von AGRICOLAs „De re metallica libri XII― entnommen und in seinem<br />
Buch „Technik - Eine Geschichte ihrer Probleme, 1954― veröffentlicht<br />
hat.<br />
AGRICOLA ist aufgrund seiner vorzüglichen humanistischen Bildung<br />
(Latein, Griechisch) ein Glücksfall für die chemische Technik. Er<br />
verbindet Philologie mit den Naturwissenschaften auf geniale Weise.<br />
Wobei wir hier Philologie <strong>im</strong> Sinne einer Deutung <strong>der</strong> überlieferten<br />
antiken Texte und des Vergleichens <strong>der</strong> von ihm beobachtenden<br />
empirischen Erkenntnisses verstehen, vor allem aus dem Mineralreich<br />
und des Bergbaues. Dem ersten Band <strong>der</strong> „De re metallica libri XII― stellt<br />
AGRICOLA eine „Apologie― (begründende Verteidigung) dieses<br />
einzigartigen Werkes voran. Man ist überrascht wieviele Probleme <strong>der</strong><br />
damaligen <strong>Zeit</strong> vor über 500 Jahren auch heute noch aktuell und<br />
brennend sind! Daraus sei nun zitiert:<br />
„Viele sind <strong>der</strong> Meinung, <strong>der</strong> Bergbau sei etwas Zufälliges und eine<br />
schmutzige Tätigkeit und überhaupt ein Geschäft, das nicht sowohl<br />
Kunst und Wissenschaft als körperliche Arbeit verlange. Allein wie mir<br />
scheint, wenn ich seine einzelnen Teile <strong>im</strong> Geist durchlaufe, so verhält<br />
sich die Sache ganz an<strong>der</strong>s. Denn <strong>der</strong> Bergmann muß in seiner Kunst<br />
die größte Erfahrung besitzen, so daß er ernstlich weiß, welcher Berg<br />
o<strong>der</strong> Hügel, welche Stelle <strong>im</strong> Tal o<strong>der</strong> Feld nutzbringend beschürft<br />
werden könne, o<strong>der</strong> ob er auf Schürfung verzichten muß. Sodann<br />
müssen Erzgänge, die Klüfte und Verwerfungen des Gesteins ihm<br />
bekannt sein. Bald muß er die vielfachen und mannigfaltigen Erdarten,<br />
die Arten <strong>der</strong> Lösungen, <strong>der</strong> Edelsteine, <strong>der</strong> gewöhnlichen Steine, des<br />
Marmors, <strong>der</strong> Felsen, <strong>der</strong> Metalle und ihrer Mischungen und sodann die<br />
Art und Weise erkennen, wie jedes Handwerk unter <strong>der</strong> Erde zu<br />
vollbringen sei. Bekannt endlich soll ihm sein die Kunst, allerlei Stoffe zu<br />
probieren und zur Schmelzung zu bereiten….<br />
Immer hat unter den Menschen eine gar große<br />
Meinungsverschiedenheit über den Bergbau geherrscht, indem die<br />
einen ihm hohes Lob zollten, die an<strong>der</strong>en ihn heftig tadelten. So schien<br />
es mir gut, die Sache selbst sorgfältig zu erwägen, um die Wahrheit zu<br />
erforschen…. Die <strong>der</strong> Ansicht sind, die Bergwissenschaft nütze denen,<br />
die ihren Fleiß auf sie verwenden, nichts, behaupten vor allen, kaum <strong>der</strong><br />
Hun<strong>der</strong>tste von denen, die Erze schürfen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>es <strong>der</strong> Art tun, habe<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 142<br />
davon Ausbeute; die Bergleute aber, weil sie ihr ganzes sicheres und<br />
gut angelegtes Vermögen einem zweifelhaften und wankenden Glücke<br />
anvertrauen, würden zumeist in ihrer Hoffnung betrogen und führten,<br />
durch Kosten und Verluste erschöpft, schließlich ein höchst bitteres und<br />
elendes Leben. Aber diese Leute sehen nicht, wie verschieden ein<br />
gelehrter und erfahrener Bergmann von einem unwissenden und<br />
unerfahrenen ist. Dieser baut ohne Auswahl und Unterscheidung<br />
Gänge, jener dagegen probt und versucht erst, und wenn er dabei<br />
findet, daß sie zu eng und zu fest o<strong>der</strong> zu locker und taub sind, so<br />
schließt er daraus, daß sie nicht mit Nutzen abgebaut werden können;<br />
daher baut er nur auserlesene ….<br />
Es behaupten ferner dieselben Tadler des Bergwesens, daß sein<br />
Gewinn keineswegs beständig sei, und loben aufs höchste den<br />
Landbau. Mit welchem Rechte sie dies behaupten, kann ich nicht<br />
verstehen. Dauern doch Silberbergwerke in Freiberg schon an die 400<br />
Jahre unerschöpft, die Bleiwerke in Goslar schon an die 600 Jahre.<br />
Beides kann man aus den Denkmälern ihrer Geschichte entnehmen. In<br />
Schemnitz und Kremnitz aber hat <strong>der</strong> gemeinsame Silber- und<br />
Goldbergbau schon gegen 800 Jahre gewährt; das verraten die ältesten<br />
Privilegien <strong>der</strong> Einwohner….<br />
Alsdann behaupten die Gegner, es sei gefährlich, sich um den<br />
Bergbau zu bemühen, weil die Berghäuer bald von ver<strong>der</strong>blichem<br />
Grubendunste getötet würden, den sie mit dem Atem einziehen, bald<br />
durch Abmagerung dahinschwinden, weil sie Staub in sich aufnehmen,<br />
<strong>der</strong> die Lungen zum Eitern bringt, bald verunglücken, erdrückt durch<br />
Zusammensturz <strong>der</strong> Berge, bald auch von <strong>der</strong> Fahrt in die Schächte<br />
fallen und dabei Beine, Arme und Hals brechen. Man dürfe aber keinen<br />
wirtschaftlichen Nutzen so hoch schätzen, daß wegen seiner Größe Heil<br />
und Leben <strong>der</strong> Menschen in höchstem Maße aufs Spiel gesetzt werden.<br />
Diese Dinge sind, wie ich gern bekenne, sehr schwerwiegend und voller<br />
Schrecken und Gefahr. So sollte ich urteilen: Um sie zu vermeiden,<br />
dürfe man keinen Bergbau treiben, vorausgesetzt, daß die Berghäuer<br />
entwe<strong>der</strong> häufiger in diese Gefahren geraten o<strong>der</strong> sich vor ihnen auf<br />
keine Weise zu schützen vermögen. Denn sollte nicht <strong>der</strong> Lebenstrieb<br />
mächtiger sein, als selbst das Streben, alle Güter <strong>der</strong> Welt zu besitzen,<br />
ganz abgesehen von den Metallen? Freilich kann man bei einem, <strong>der</strong><br />
unter solchen Umständen sein Leben einbüßt, vom „Besitzen― nicht<br />
mehr sprechen, son<strong>der</strong>n nur noch vom „Hinterlassen an Erben―. Da aber<br />
<strong>der</strong>artige Fälle selten vorkommen und doch nur bei unvorsichtigen<br />
Berghäuern, so halten sie die Bergleute nicht ab vom Bergbau, wie es<br />
auch die Z<strong>im</strong>merleute nicht von ihrem Handwerke abschreckt, wenn<br />
einer von ihnen, weil er unvorsichtig handelte, von einem hohen<br />
Gebäude herabgestürzt ist und seine Seele ausgehaucht hat….<br />
Jetzt komme ich zu denen, die behaupten, <strong>der</strong> Bergbau nütze auch<br />
den übrigen Menschen nichts, weil ja die Metalle und die Edelsteine und<br />
die Gesteine, die man aus <strong>der</strong> Erde gräbt, für sie unnütz seien. Sie<br />
strengen sich an, diese Behauptung teils mit Beweisen und Beispielen<br />
zu stützen, teils durch Besch<strong>im</strong>pfung, um uns zu erpressen. Sie<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 143<br />
bedienen sich aber zuerst folgen<strong>der</strong> Beweise: Die Erde verbirgt nicht<br />
und entzieht auch nicht den Augen diejenigen Dinge, die dem<br />
Menschengeschlechte nützlich und nötig sind, son<strong>der</strong>n wie eine<br />
wohltätige und gütige Mutter spendet sie mit größter Freigebigkeit von<br />
sich aus und bringt Kräuter, Hülsenfrüchte, Feld- und Obstfrüchte vor<br />
Augen und ans Tageslicht. Dagegen hat sie die Dinge, die man graben<br />
muß, in die Tiefe gestoßen, und darum dürfen diese nicht herausgewühlt<br />
werden…. Ihre zweite Beweisführung ist diese: Die Metalle gewähren<br />
dem Menschen keinen fruchtbringenden Nutzen, darum dürfen wir nicht<br />
nach ihnen forschen. Da je<strong>der</strong> Mensch aus Seele und Leib besteht, so<br />
bedarf keines dieser beiden Dinge, die ausgegraben werden….<br />
Außerdem betonen sie folgende Beweismittel: Durch das Schürfen<br />
nach Erz werden die Fel<strong>der</strong> verwüstet; deshalb ist einst in Italien durch<br />
ein Gesetz dafür gesorgt worden, daß niemand um <strong>der</strong> Erze willen die<br />
Erde aufgrabe und jene überaus fruchtbaren Gefilde und die Wein- und<br />
Obstbaumpflanzungen ver<strong>der</strong>be. Wäl<strong>der</strong> und Haine werden<br />
umgehauen: denn man bedarf zahlloser Hölzer für die Gebäude und das<br />
Gezeug sowie um die Erze zu schmelzen. Durch das Nie<strong>der</strong>legen <strong>der</strong><br />
Wäl<strong>der</strong> und Haine aber werden die Vögel und an<strong>der</strong>e Tiere ausgerottet,<br />
von denen sehr viele den Menschen als feine und angenehme Speise<br />
dienen. Die Erze werden gewaschen; durch dieses Waschen aber<br />
werden, weil es die Bäche und Flüsse vergiftet, die Fische entwe<strong>der</strong> aus<br />
ihnen vertrieben o<strong>der</strong> getötet. Da also die Einwohner <strong>der</strong> betreffenden<br />
Landschaften infolge <strong>der</strong> Verwüstung <strong>der</strong> Fel<strong>der</strong>, Wäl<strong>der</strong>, Haine, Bäche<br />
und Flüsse in große Verlegenheit kommen, wie sie die Dinge, die sie<br />
zum Leben brauchen, sich verschaffen sollen, und da sie wegen des<br />
Mangels an Holz größere Kosten zum Bau ihrer Häuser aufwenden<br />
müssen, so ist es vor aller Augen klar, daß bei dem Schürfen mehr<br />
Schaden entsteht als, als in den Erzen, die durch den Bergbau<br />
gewonnen werden, Nutzen liegt…. Sodann werden die Metalle selbst<br />
besch<strong>im</strong>pft. Zuerst nämlich schmähen die Gegner mutwillig Gold und<br />
Silber und nennen beide unheilvolle und ruchlose Ver<strong>der</strong>ber des<br />
Menschengeschlechts, denn die sie besitzen, schweben in größter<br />
Gefahr, und die, denen sie fehlen, stellen den Besitzenden nach, und so<br />
sind beide oft die Ursache zu ihrem Untergange und Ver<strong>der</strong>ben<br />
gewesen…. Sodann besch<strong>im</strong>pfen sie sehr die übrigen Metalle,<br />
beson<strong>der</strong>s aber das Eisen. Denn dieses hat dem menschlichen Leben<br />
das größte Ver<strong>der</strong>ben gebracht; werden doch aus ihm Schwerter,<br />
Wurfspieße, Lanzen, Piken, Pfeile gefertigt, mit denen die Menschen<br />
verwundet und Morde, Straßenräubereien und Kriege ausgeführt<br />
werden….Aber ein Wurfgeschoß wird in eines Menschen Körper<br />
geschossen, ebenso ein Pfeil, mag ihn nun ein Bogen o<strong>der</strong> ein Skorpion<br />
o<strong>der</strong> ein Katapult entsenden; dagegen eine eiserne Kugel einer<br />
Donnerbüchse (Bombarde) kann, herausgeschossen, durch vielerlei<br />
Menschen Körper gehen, und kein Marmor o<strong>der</strong> Fels, <strong>der</strong> entgegensteht<br />
ist so hart, daß sie ihn mit ihrem Stoß und ihrer Kraft nicht durchdringe.<br />
Darum macht sie die höchsten Türme dem Boden gleich und spaltet die<br />
festesten Mauern, durchbricht sie und wirft sie nie<strong>der</strong>…. Weil aber<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 144<br />
heutzutage die Donnerbüchsen, die in <strong>der</strong> Hand gehalten werden<br />
können, selten, die großen niemals aus Eisen gemacht werden, son<strong>der</strong>n<br />
aus einer Mischung von Kupfer und Zinn, so schelten sie das Kupfer und<br />
Zinn noch mehr als das Eisen….<br />
Allein <strong>der</strong> Mensch vermag ohne Metalle nicht die Dinge zu beschaffen,<br />
die zur Lebensführung und zur Kleidung dienen. Denn in <strong>der</strong><br />
Landwirtschaft, die unserem Leibe den größten Teil des<br />
Lebensunterhaltes gewährt, wird erstens keine Arbeit geleistet und<br />
vollendet ohne Werkzeuge…. Doch wozu bedarf es noch weiterer<br />
Worte? Wenn die Metalle aus dem Gebrauche <strong>der</strong> Menschen<br />
verschwinden, so wird damit jede Möglichkeit genommen, sowohl die<br />
Gesundheit zu schützen und zu erhalten als auch ein unserer Kultur<br />
entsprechendes Leben zu führen.…<br />
Nunmehr muß ich auf die Vorwürfe antworten, die man gegen die<br />
Erzeugnisse des Bergbaues erhebt. So nennt man zuerst Gold und<br />
Silber das Ver<strong>der</strong>ben <strong>der</strong> Menschen, weil sie für die Besitzer Ursache<br />
des Unterganges und des Ver<strong>der</strong>bens wären. Aber welche Sache, die<br />
wir besitzen, wird da nicht ein Ver<strong>der</strong>b des Menschen genannt werden<br />
müssen?.... Darum machen die Schmähreden, die gegen das Eisen,<br />
Kupfer, Blei erhoben werden, auf kluge und bedeutende Männer<br />
keinerlei Eindruck. Denn wenn jene Metalle verschwinden, so werden<br />
die Menschen jedenfalls heftiger vor Zorn entbrennen und in zügelloser<br />
Wut aufgereizt mit Fäusten, Nägeln und Zähnen wie wilde Tiere<br />
kämpfen…. Und so sehen wir hieraus, daß nicht die Metalle zu<br />
besch<strong>im</strong>pfen sind, son<strong>der</strong>n unsere Herrschsucht, die Habgier, die<br />
Wollust…. Aber hier erhebt sich die Frage, ob wir das, was man aus <strong>der</strong><br />
Erde gräbt, zu den guten o<strong>der</strong> zu den schlechten Dingen rechnen<br />
sollen…. Treffliche Männer nämlich brauchen sie gut, und ihnen sind sie<br />
nützlich, schlechte aber schlecht, und ihnen sind sie unnütz…. Deshalb<br />
ist es nicht recht und billig, sie ihrer Stellung und Würde, die sie unter<br />
den Gütern einnehmen, zu berauben. Wenn einer sie aber schlecht<br />
anwendet, so werden sie darum noch nicht mit Recht Übel genannt<br />
werden. Denn welche guten Dinge können wir nicht gleichermaßen in<br />
übler wie in guter Weise gebrauchen? …<br />
Nachdem wir so die Gründe und die Schmähungen <strong>der</strong> Gegner<br />
zurückgewiesen haben, wollen wir die nützlichen Seiten des Bergbaues<br />
behandeln. Zuerst nützt er den Ärzten; denn er liefert eine Menge von<br />
Arzneien, mit denen Wunden und Eiterungen geheilt zu werden pflegen,<br />
sogar die Pest. Darum müßten wir schon <strong>der</strong> Medizin allein wegen in <strong>der</strong><br />
Erde graben, selbst wenn wir keinen an<strong>der</strong>en Grund zu ihrer<br />
Durchsuchung hätten. Sodann nützt er den Malern; denn er bringt die<br />
verschiedenen Arten von Anstrichen hervor. Wenn mit diesen Wänden<br />
bemalt sind, so schadet ihnen von außen eindringende Feuchtigkeit<br />
weniger als den übrigen Wänden. Weiter nützt <strong>der</strong> Bergbau dem<br />
Baumeister; denn er läßt Marmor finden, <strong>der</strong> sich für dauerhafte und<br />
feste große Gebäude eignet und auch zum Schmuck und zur Zierde<br />
dient. Nützlich ist er außerdem denjenigen, <strong>der</strong>en Seele nach<br />
unsterblichem Ruhme strebt; denn er för<strong>der</strong>t Metalle zutage, aus denen<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 145<br />
Münzen, Standbil<strong>der</strong> und an<strong>der</strong>e Gegenstände gemacht werden, die<br />
nächst den literarischen Denkmälern den Menschen gewissermaßen<br />
Ewigkeit und Unsterblichkeit schenken. Auch den Kaufleuten nütz er;<br />
denn, wie ich schon gesagt habe, ist die aus den Metallen hergestellte<br />
Münze aus vielen Gründen bequemer als <strong>der</strong> Warenaustausch. Wem ist<br />
er schließlich nicht nützlich? Übergehen will ich die so gefälligen,<br />
geschmackvollen, kunstreich gearbeiteten, nützlichen Gegenstände des<br />
Kunsthandwerks, welche in mannigfachen Gestalten die Gold- und<br />
Silberschmiede, Kupfer, Zinn- und Eisengießer aus den Metallen<br />
herstellen. Welcher Kunsthandwerker kann ohne die Metalle ein<br />
vollkommenes und schönes Werk schaffen? Wenn er nicht aus Eisen<br />
o<strong>der</strong> Kupfer gefertigte Werkzeuge gebracht, so wird er auch sicherlich<br />
we<strong>der</strong> steinerne noch hölzerne Kunstwerke bilden können. Aus alledem<br />
gehen deutlich <strong>der</strong> Nutzen und die Bequemlichkeit hervor, die wir den<br />
Metallen verdanken. Diese Dinge aber hätten wir gar nicht, wenn die<br />
Kunst des Bergbaues nicht erfunden wäre und uns dazu diente. Wer<br />
erkennt also nicht ihren großen Nutzen und die Notwendigkeit für die<br />
Menschheit? Kurz, <strong>der</strong> Mensch hat den Bergbau nicht entbehren<br />
können, noch wollte Gottes Güte, daß er dem Menschen fehle. Weiter<br />
wirft man die Frage auf, ob <strong>der</strong> Bergbau ein ehrlicher Beruf für<br />
anständige Leute o<strong>der</strong> ob er verächtlich und unehrlich sei. Wir aber<br />
rechnen ihn zu den ehrlichen Künsten. Denn jede Kunst, <strong>der</strong>en<br />
Erwerbsweise nicht gottlos, wi<strong>der</strong>wärtig o<strong>der</strong> schmutzig ist, können wir<br />
für ehrlich halten. Solcher Art aber ist <strong>der</strong> Erwerb be<strong>im</strong> Berg- und<br />
Hüttenwesen; denn er vermehrt Hab und Gut auf gute und ehrliche<br />
Weise…<br />
Ferner ist <strong>der</strong> Erwerb des Bergmannes auch nicht schmutzig. Wie<br />
könnte er es auch sein, <strong>der</strong> so groß, so reich und so redlich ist? …<br />
Endlich weisen diejenigen, die von dem Berg- und Hüttenwesen<br />
schändlich reden, um es zu verkleinern, darauf hin, daß einst die <strong>der</strong><br />
Verbrechen Überführten verurteilt worden wären, in Bergwerken zu<br />
arbeiten, und als Sklaven Gänge gehauen hätten. Jetzt aber wären die<br />
Bergleute Lohnarbeiter und beschäftigen sich wie an<strong>der</strong>e Werkleute mit<br />
einem schmutzigen Handwerke. Fürwahr, wenn <strong>der</strong> Bergbau aus dem<br />
Grunde für einen freien Mann als nicht anständig gelten soll, weil einmal<br />
Sklaven Erzgänge gegraben haben, dann wird <strong>der</strong> Ackerbau nicht ein<br />
ehrbares Gewerbe sein; denn auch die Äcker haben einst Sklaven<br />
bebaut und bebauen sie bei den Türken noch heute, ebenso die<br />
Baukunst, denn manche Baumeister waren Sklaven, sowie die<br />
Heilkunst, sind doch nicht wenige Ärzte Sklaven gewesen, und noch<br />
manche an<strong>der</strong>e Künste, weil Kriegsgefangene sie ausgeübt haben. Aber<br />
Ackerbau, Baukunst und Heilkunst werden trotzdem zur Zahl <strong>der</strong><br />
ehrbaren Künste gerechnet. So werde auch <strong>der</strong> Bergbau darum aus<br />
dieser Zahl nicht ausgeschlossen.―-<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 146<br />
4.3 ‚Habent fata sua libelli’<br />
Bücher haben Geschichte gemacht und haben selber ihre Schicksale.<br />
Für kein an<strong>der</strong>es wissenschaftliches Buch trifft dies wohl so zu wie für<br />
AGRICOLAs „De re metallica―. Friedrich KLEMM schreibt dazu in: „Zur<br />
Kulturgeschichte <strong>der</strong> Technik― (Deutsches Museum München 1982):<br />
„Auf die Verteidigung des Bergbaues folgen in AGRICOLAs „De re<br />
metallica― Kapitel über die Erzlagerstätten, über <strong>der</strong>en Aufschluß und<br />
Abbau, über Markscheidewesen, über die Bergwerkmaschinen, über<br />
das Probieren <strong>der</strong> Erze, über die Aufbereitung, über Schmelzöfen und<br />
Metallgewinnung, über die Scheidung <strong>der</strong> Edelmetalle, über das<br />
Entsilbern des Kupfers und schließlich über Salze, Schwefel, Erdöl und<br />
Glas. Bestechend in dem Buche ist die Verbindung gelehrten und<br />
geschichtlichen Wissens mit realistischer Naturbetrachtung und<br />
sicherem Blick für die technischen Gegenstände. AGRICOLA hat keine<br />
neuen Vorrichtungen o<strong>der</strong> Verfahren erfunden, aber er versteht es, das<br />
gesamte Berg- und Hüttenwesen in beispielhafter Anschaulichkeit<br />
systematisch darzustellen. Der <strong>im</strong> flüssigen Latein des guten<br />
Humanisten abgefaßte Text wird durch beson<strong>der</strong>s eindringliche<br />
Illustrationen erläutert. Alles, was beschrieben und dargestellt wird,<br />
beruht <strong>im</strong> allgemeinen auf wirklicher Einsichtnahme in die Berg- und<br />
Hüttenwerke, auf Autopsie. Das ist keineswegs selbstverständlich. Man<br />
denke an die zahlreichen Maschinenbücher des ausgehenden 16. und<br />
17. Jahrhun<strong>der</strong>ts, die vielfach Bil<strong>der</strong> von Maschinen bringen, die nie<br />
ausgeführt wurden und meist auch nie ausgeführt werden konnten,<br />
son<strong>der</strong>n nur auf dem Papier existieren.<br />
AGRICOLA hat wenig Vorläufer hinsichtlich <strong>der</strong> Schil<strong>der</strong>ung des Bergund<br />
Hüttenwesens seiner <strong>Zeit</strong>. […] Beson<strong>der</strong>s eindringlich stellt<br />
AGRICOLA das Bergmaschinenwesen dar. So schil<strong>der</strong>t er ein riesiges<br />
Kehrrad, also ein Wasserrad, von 10,7 m Durchmesser, große<br />
Pferdegöpel, Bulgen- und Heinzenkünste, dann das erst 1512 erfundene<br />
Naßpockwerk, sinnreiche Drehkrane, den Antrieb verschiedener<br />
Arbeitsmaschinen durch ein Wasserrad, gußeiserne Zahnrä<strong>der</strong> mit<br />
eingeschraubten Zähnen, die wohl aus Schmiedeeisen sind, ferner<br />
Antifriktionsrollen, auf hölzernen Gleisen durch einen Spurnagel geführte<br />
För<strong>der</strong>karren und vieles mehr. […]<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />
S e i t e | 147
S e i t e | 148<br />
Wesenszug von AGRICOLAs Buch ist die Gegenstandstreue in Wort<br />
und Bild. Hier begegnet uns zum erstenmal die wirklich technische<br />
Illustration, die ein getreues Abbild gibt <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Praxis benutzten<br />
Maschinen und geübten Verfahren. […] Die nach <strong>der</strong> Natur gefertigten<br />
Zeichnungsvorlagen für die trefflichen Illustrationen in AGRICOLAs<br />
Werk De re metallica liefert Blasius WEFFRING aus St. Joach<strong>im</strong>sthal in<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 149<br />
Gemeinschaft mit AGRICOLA. Über 60 von den fast dreihun<strong>der</strong>t<br />
Entwürfen [genau 292 Holzschnitte!] überträgt <strong>der</strong> Berner Künstler Hans<br />
Rudolf MANUEL (genannt DEUTSCH), 1525-1571, <strong>der</strong> Sohn des<br />
großen Malers, Dichters und Kriegsmannes Niklaus MANUEL, 1484-<br />
1530, in künstlerischer Gestaltung auf den Holzblock. Wer die andren<br />
Zeichnungen übertragen hat, wissen wir nicht. Verschiedene<br />
Formschnei<strong>der</strong> besorgen das Schneiden in die Holztafel. Die<br />
Holzschnitte in AGRICOLAs Buch sind das Ergebnis gemeinsamer<br />
Arbeit von technischem Gelehrten und Künstler. Der Künstler mag<br />
dabei, wie es bei je<strong>der</strong> wissenschaftlichen Illustration <strong>der</strong> Fall ist, auf<br />
manche beson<strong>der</strong>e spezifisch-künstlerische Ausdrucksmöglichkeit<br />
verzichten müssen zugunsten <strong>der</strong> sachlichen Darstellung, aber es<br />
entstehen doch Illustrationen unvergleichlicher Art, die einen Höhepunkt<br />
<strong>der</strong> technischen Abbildungen überhaupt darstellen. […].<br />
AGRICOLAs Werk erscheint in Basel, einem Mittelpunkt des<br />
humanistischen Buchdruckes diesseits <strong>der</strong> Alpen. Hier in Basel bei<br />
FROBEN, dem gelehrten Druckerverleger, in dessen Hause Desi<strong>der</strong>ius<br />
Erasmus von ROTTERDAMM als Gast und Berater weilt, waren auch<br />
die übrigen Bücher AGRICOLAs verlegt. Das Werk „De re metallica― ist<br />
lateinisch geschrieben. AGRICOLA meinte, die oft komplizierten<br />
Vorrichtungen und verwickelten Verfahren in Latein, <strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong><br />
Wissenschaft, besser ausdrücken zu können als in Deutsch. Aber, und<br />
da taucht sofort das Problem <strong>der</strong> sprachlichen Darstellung<br />
wissenschaftlicher und technischer Gegenstände auf, für viele neuere<br />
bergbauliche und hüttentechnische Objekte und Prozesse gibt es keine<br />
lateinischen Fachwörter. AGRICOLA prägt sie, paßt also das Latein den<br />
Erfor<strong>der</strong>nissen seiner <strong>Zeit</strong> an. Am Ende seines Werkes bringt er u. a. ein<br />
lateinisch-deutsches Verzeichnis solcher termini technici. Vor gerade<br />
umgekehrten Schwierigkeiten war einst, 1525, Albrecht DÜRER<br />
gestanden, als er sein Buch über die „Messung mit Zirkel und<br />
Richtscheit― abfaßte, ein Werk über praktische Geometrie in deutscher<br />
Sprache. Da mußte er für mathematische Termini, die es bis dahin nur<br />
in lateinischer o<strong>der</strong> griechischer Form, nicht aber in Deutsch gab,<br />
deutsche Fachwörter prägen. So setzte er, um nur ein Beispiel seiner<br />
sprachschöpferischen Tätigkeiten anzuführen, für sectio conica das<br />
deutsche Wort Kegelschnitt. AGRICOLAs Werk „De re metallica― war<br />
<strong>der</strong> Wissenschaft und zugleich <strong>der</strong> Praxis verhaftet. So wurde denn,<br />
gerade wegen <strong>der</strong> in dem Buche enthaltenen reichen praktischen<br />
Kenntnisse, <strong>der</strong> Wunsch laut nach einer deutschen Ausgabe für die<br />
Hand des Praktikers, <strong>der</strong> Latein nicht beherrscht. Schon Kurfürst August<br />
von SACHSEN schrieb <strong>im</strong> Januar 1555 an AGRICOLA, er möchte doch<br />
sein demnächst erscheinendes Buch über das Bergwesen auch „in die<br />
deutsch Sprach verdolmetschen―, aber nur ein solches Exemplar<br />
schreiben lassen. Der Kurfürst wollte, daß das reiche praktische Wissen,<br />
das in dem Werk nie<strong>der</strong>gelegt war, zunächst nicht an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n<br />
zugute komme. AGRICOLA konnte den Wunsch des Kurfürsten nicht<br />
mehr erfüllen. Der Gelehrte starb schon <strong>im</strong> November 1555. Aber in<br />
Basel kam bereits 1557, ein Jahr nach <strong>der</strong> lateinischen Erstausgabe,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 150<br />
eine deutsche Übersetzung des Werkes heraus. Diese Übertragung, die<br />
allerdings viel zu wünschen übrig läßt, wurde von dem Basler Professor<br />
<strong>der</strong> Logik und Medizin Philipp BECH besorgt.<br />
Von AGRICOLAs Werk „De re metallica― erschienen bis 1657, also in<br />
einem Jahrhun<strong>der</strong>t, acht Ausgaben in lateinischer, deutscher und<br />
italienischer Sprache. [Um 1640 wurde „De re metallica― sogar ins<br />
Chinesische übersetzt. Zwischen 1556-1991 erschienen 36 Ausgaben in<br />
elf Sprachen.] Zahlreiche technische Bücher des 17. und beginnenden<br />
18. Jahrhun<strong>der</strong>ts griffen auf AGRICOLA zurück. Selbst noch <strong>der</strong><br />
sächsische namhafte Mechaniker Jakob LEUPOLD, 1674-1727,<br />
entnahm für sein großes deutsch geschriebenes „Theatrum<br />
machinarum― [9 Bände] das von 1724 an erschien, vieles dem<br />
maschinentechnischen Abschnitt von AGRICOLAs Buch. Um<br />
LEUPOLDs berühmtes „Theatrum machinarum― studieren zu können,<br />
nahm James WATT eigens Unterricht in <strong>der</strong> deutschen Sprache. Der<br />
große Isaac NEWTON, auch Münzmeister in London, zog AGRICOLAs<br />
Werk für seine metallchemischen Arbeiten heran. [Auch LEIBNIZ in<br />
Deutschland und <strong>der</strong> Chemiker LOMONOSSOW in Rußland besaßen<br />
seine Werke und benutzen sie für eigene Forschungen.] Und Goethe<br />
lobte das Buch AGRICOLAs als ein „köstliches Geschenk―. So wirkte<br />
AGRICOLAs Werk in eine ungemein weite Zukunft dank <strong>der</strong><br />
meisterhaften Darstellungsweise, die humanistisches Gelehrtentum mit<br />
einem auf reale Naturbetrachtung und praktische technische Betätigung<br />
gerichteten Geist verbindet―.<br />
In seiner mo<strong>der</strong>nen englischen Ausgabe von „De re metallica―<br />
bezeichnete es Herbert Clark HOOVER, 1874-1964, zunächst<br />
Bergbauingenieur, später 30. Präsident <strong>der</strong> USA (1929-1933) als<br />
Ehrenpflicht <strong>der</strong> deutschen Wissenschaft, für eine Neuausgabe <strong>der</strong><br />
mineralogischen Schriften AGRICOLAs zu sorgen. HOOVER hat<br />
zusammen mit seiner Frau Lou Henry HOOVER, die große Arbeit<br />
vollbracht, nicht nur <strong>der</strong> englisch verstehenden Welt eine<br />
ausgezeichnete Übersetzung AGRICOLAs zu schenken, son<strong>der</strong>n diese<br />
auch durch zahlreiche, wertvolle, geschichtliche Anmerkungen zu<br />
ergänzen. In seinem Vorwort weist HOOVER mit Recht auf die<br />
Unzulänglichkeit <strong>der</strong> alten deutschen Ausgaben hin, und wun<strong>der</strong>t sich,<br />
daß wir Deutsche unsern Landsmann noch nicht durch eine neue<br />
deutsche Ausgabe seines Hauptwerkes weiteren Kreisen zugänglich<br />
gemacht haben. HOOVER organisierte bekanntlich nach dem 1.<br />
Weltkrieg die Quäkerspeisungen in Mitteleuropa.<br />
Auf Vorschlag von Oskar von MILLER, 1855-1934, dem Direktor des<br />
Deutschen Museums München, wurde nun eine AGRICOLA-<br />
Gesellschaft gegründet und <strong>der</strong> Direktor des Vereins deutscher<br />
Ingenieure (VDI) Conrad MATSCHOSS, 1871-1942, damit beauftragt,<br />
neben diese neuste Ausgabe in englischer Sprache, eine neue deutsche<br />
Volksausgabe erstellen zu lassen. Einem Konsortium aus<br />
Fachverbänden und kompetenten Einzelpersönlichkeiten – unterstützt<br />
durch zahlreiche Geldgeber – gelang es schließlich, eine mo<strong>der</strong>ne<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 151<br />
deutsche Ausgabe zu erstellen; sie konnte schließlich auch 1928 vom<br />
VDI-Verlag herausgegeben werden. Wohlfeile Ausgaben sind davon<br />
heute erfreulicherweise durch Nachdrucke noch <strong>im</strong> Handel (z. B. Marix<br />
Verlag, Wiesbaden 2006). Freunde bibliophiler Kostbarkeiten sollten<br />
sich dieses Buch nicht entgehen lassen!-<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
4.4 AGRICOLA als Genealoge und Hofhistoriograph<br />
Erst in neuster <strong>Zeit</strong> konnte die mehrfach erwähnte, aber auch wie<strong>der</strong><br />
bestrittene Stellung AGRICOLAs als „Hofhistoriograph― des sächsischen<br />
Hofes nachgewiesen werden! Das AGRICOLA-Forschungszentrum<br />
Chemnitz schreibt dazu in seinem Internettext unter dem Titel: „Die<br />
Sippschaft des Hauses zu Sachsen, 1555: Dies ist ein in mehrfacher<br />
Hinsicht eigenartiges Werk: Die Sippschaft ist die einzige Arbeit<br />
AGRICOLAs in deutscher Sprache, sie ist die letzte, die er überhaupt<br />
geschrieben hat und liegt ihrem Inhalt nach weit ab von seinen<br />
sonstigen Werken. Sie ist nur in zwei Handschriften aus <strong>der</strong> zweiten<br />
Hälfte des 16. Jahrhun<strong>der</strong>ts überliefert gewesen und wurde erst 1963<br />
gedruckt. - Nachdem Kurfürst MORIZ 1549 AGRICOLA mit <strong>der</strong><br />
Abfassung eines solchen Werkes beauftragt hatte, und Kurfürst<br />
AUGUST ab 1554 dem Wunsche seines verstorbenen Bru<strong>der</strong>s<br />
Nachdruck verlieh, vollendete AGRICOLA es <strong>im</strong> Oktober 1555. Buch I<br />
enthält die Vorgeschichte <strong>der</strong> Sachsen bis hin zu KARL DEM<br />
GROSSEN, Buch II dem Stamm BRUN, Buch III WITKIND und seine<br />
Nachkommen und Buch IV die WETTINER bis zu AGRICOLAs <strong>Zeit</strong>en.<br />
AGRICOLA nahm sich vor, einen nahezu vollständigen Stammbaum<br />
aufzustellen, und er ging dabei auf Wesen und Taten – auch <strong>der</strong><br />
schl<strong>im</strong>men – <strong>der</strong> einzelnen Personen ein. Georgius FABRICIUS hat<br />
dann auf Befehl von Kurfürst AUGUST das Werk ins Lateinische<br />
übersetzt, verbessert(?) und ergänzt.<br />
Ob AGRICOLA selbst eine über mehrere Generationen reichende<br />
Nachkommenschaft besitzt (vielleicht bis zu Gegenwart) konnte meines<br />
Wissens genealogisch noch nicht mit Sicherheit geklärt werden. In<br />
einem Beitrag des AGRICOLA-Forschers und Genealogen Dr.-Ing.<br />
Ulrich HORST, Hannover-Buchholz, in <strong>der</strong> genealogischen<br />
Fachzeitschrift „Mitteldeutsche Familienkunde― (1983), Heft 4, S. 369-<br />
378, konnten die Nachkommen von AGRICOLAs Eltern nur bis zu einem<br />
Urenkel AGRICOLAs: Johannes Georgius <strong>im</strong> Mannesstamm BAUER<br />
bzw. AGRICOLA nachgewiesen werden (getauft am 7. 8. 1603 in<br />
Chemnitz). Lei<strong>der</strong> konnte nach 1609 über diesen Johannes Georgius<br />
keine Nachricht mehr gefunden werden. Er ist <strong>der</strong> einzig bekannte<br />
AGRICOLA-Enkel <strong>im</strong> Mannesstamm, obwohl AGRICOLA nachweislich 2<br />
Söhne und 4 Töchter hatte. AGRICOLAs Enkel Johannes Georgius ist<br />
<strong>der</strong> Sohn von Valerius AGRICOLA, des ältesten um 1545 in Chemnitz<br />
geborenen Sohnes. Der jüngere in Chemnitz am 14. April 1550<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 152<br />
geborene Sohn Theodor verstarb wahrscheinlich schon 1555. Von den 4<br />
Töchtern verstarb die älteste Tochter vor 1548 geborene ebenfalls 1555.<br />
Alle drei überlebenden Töchter: N.N.(Vorname unbekannt), Lukrezia<br />
(beide vor 1548 geboren) und Anna, geboren in Chemnitz am 22. März<br />
1552 verheiraten sich. Die älteste dieser drei mit Wolf STRAUBE aus<br />
<strong>der</strong> Tuchmacherzunft vor 1582; Lukrezia am 21. 1. 1581, vermutlich in<br />
Chemnitz, mit Dr. Martin WIDERIN von OTTERSBACH, Rat am<br />
königlichen Appelationsgericht in Prag. Ein vermutlicher Sohn ist August<br />
WIDERIN von OTTERSBACH, gestorben 1620, vermutlich in Bautzen,<br />
er war eingeschrieben an <strong>der</strong> Universität Perugia, promovierte zum Dr.<br />
theol. und war Dekan des seit <strong>der</strong> Reformation evangelischen Stiftes St.<br />
Petri in Bautzen von 1609-1620.<br />
Die jüngste Tochter Anna, geboren am 22. März 1552 in Chemnitz,<br />
gestorben daselbst am 15. November 1616 heiratete 1581 in Chemnitz<br />
Christoph von PFEFFERKORN, er war Freischöffe und Stadthauptmann<br />
in Chemnitz. Annas Tochter Anna Maria starb in Chemnitz am 15. Mai<br />
1584; ihr Sohn Georg Ulrich – also AGRICOLAs Enkel - , geboren 1587<br />
in Chemnitz, heiratete 1609 eine Maria N.N., verließ Frau und Kind und<br />
wurde aus unbekannten Gründen ins Gefängnis geworfen und am 20.<br />
Mai 1614 in Chemnitz enthauptet.<br />
Der Verfasser <strong>der</strong> kleinen AGRICOLA-Genealogie Dr.-Ing. Ulrich<br />
HORST überschrieb seinen Beitrag von 1983 mit: Stammfolge <strong>der</strong><br />
Familie des sächsischen Humanisten Dr. Georgius AGRICOLA, des<br />
„Vaters <strong>der</strong> Mineralogie―, und die Frage seiner Nachkommenschaft.<br />
HORST beschließt seinen Beitrag mit dem Absatz: „Wenn auch bisher<br />
nicht weiter verfolgt, so kann doch angenommen werden, daß Dr.<br />
Georgius AGRICOLA über die weiblichen Familienmitglie<strong>der</strong><br />
Nachkommen gehabt hat, zumal noch heute Nachkommen seiner ersten<br />
Frau aus <strong>der</strong>en erster Ehe leben. Die Weitergabe von wertvollen<br />
Eigenschaften durch weibliche Nachkömmlinge sollte ganz allgemein<br />
nicht unbeachtet bleiben.―<br />
Hier spricht mir <strong>der</strong> Autor aus dem Herzen. Ich darf in diesem<br />
Zusammenhang auf meine Broschüre „Die Welt <strong>der</strong> vernachlässigten<br />
Abstammungen: „Mutterstämme“ – Töchterketten“ hinweisen und<br />
Interessenten auf den Internetlink<br />
http://www.genetalogie.de/mgross/fana.html verweisen. Die meisten <strong>der</strong><br />
<strong>im</strong> „reinen― Mannesstamm ausgestorbenen Familien könnten noch<br />
wesentlich weiter verfolgt werden und oft sogar in Nachkommenschaften<br />
einmünden, die praktisch nicht mehr aussterben, da ihre<br />
Nachkommenschaft inzwischen eine solche große Basis als „kritische<br />
Masse― erreicht hat, daß ein Aussterben nur noch mit einer<br />
aussterbenden Bevölkerung einhergehen könnte.<br />
Während <strong>im</strong> statistischen Durchschnitt eine Nachkommenschaft in <strong>der</strong><br />
ersten Generation noch 50% männliche und 50 % weibliche<br />
Namensträger aufweist, ist das Verhältnis in <strong>der</strong> Enkelgeneration nur<br />
noch 25 zu 75 %; und in <strong>der</strong> Urenkelgeneration nur noch 12, 5 zu 87,5<br />
% . Das heißt also, daß in <strong>der</strong> Urenkelgeneration <strong>im</strong> statistischen<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 153<br />
Durchschnitt die Töchternachkommen das 8-fache von den <strong>im</strong><br />
Mannesstammgeborenen Namensträger ausmachen, also die<br />
Namensträger einer Familie allein aus rein statistischen Gründen<br />
wesentlich früher aussterben müssen. Dazu seien Interessierte noch auf<br />
einen an<strong>der</strong>en Link in meiner <strong>GeneTalogie</strong>-Internetseite hingewiesen:<br />
http://www.genetalogie.de/schema/sfam.html<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
4.5 Auszüge über Goethes Materialien über AGRICOLA<br />
Nun noch zu Goethes Bericht in seinen „Materialien zur Geschichte<br />
<strong>der</strong> Farbenlehre“, wo er über AGRICOLA <strong>im</strong> Kapitel: 16. Jahrhun<strong>der</strong>t,<br />
<strong>im</strong> Anschluß zum Abschnitt über BACO von Verulam schreibt:<br />
„Technischen und artistischen abgeschlossenen Tätigkeitskreisen sind<br />
die Wissenschaften mehr schuldig als hervorgehoben wird, weil man auf<br />
jene treu fleißige Menschen oft nur als auf werkzeugliche Tätler<br />
hinabsieht. Hätte jemand zu Ende des sechzehnten Jahrhun<strong>der</strong>ts sich in<br />
die Werkstätten <strong>der</strong> Färber und Maler begeben und nur alles redlich und<br />
konsequent aufgezeichnet, was er dort gefunden; so hätten wir einen<br />
weit vollständigeren und methodischeren Beitrag zu unserm<br />
gegenwärtigen Zweck, als er uns durch Beantwortung tausend<br />
Baconischer Fragen nicht hätte werden können.<br />
Damit man aber nicht denke, daß dieses nur ein frommer Wunsch<br />
o<strong>der</strong> eine For<strong>der</strong>ung ins Blaue sei, so wollen wir unsres Landsmannes<br />
Georg AGRICOLA gedenken, <strong>der</strong> schon in <strong>der</strong> ersten Hälfte des<br />
sechzehnten Jahrhun<strong>der</strong>ts in Absicht auf das Bergwesen dasjenige<br />
geleistet, was wir für unser Fach hätten wünschen mögen. Er hatte<br />
freilich das Glück, in ein abgeschlossenes, schon seit geraumer <strong>Zeit</strong><br />
behandeltes, in sich höchst mannigfaltiges und doch <strong>im</strong>mer auf einen<br />
Zweck hingeleitetes Natur- und Kunstwesen einzutreten. Gebirge,<br />
aufgeschlossen durch Bergbau, bedeutende Naturprodukte, roh<br />
aufgesucht, gewältigt, behandelt, bearbeitet, geson<strong>der</strong>t, gereinigt und<br />
menschlichen Zwecken unterworfen: dieses war es, was ihn als einen<br />
Dritten, denn er lebte <strong>im</strong> Gebirge als Bergarzt, höchlich interessierte,<br />
indem er selbst eine tüchtige und wohl um sich her schauende Natur<br />
war, dabei Kenner des Altertums, gebildet durch die alten Sprachen,<br />
sich bequem und anmutig darin ausdrückend. So bewun<strong>der</strong>n wir ihn<br />
noch jetzt in seinen Werken, welche den ganzen Kreis des alten und<br />
neuen Bergbaus, alter und neuer Erz- und Steinkunde umfassen und<br />
uns als ein köstliches Geschenk vorliegen. Er war 1494 geboren und<br />
starb 1555. lebte also in <strong>der</strong> höchsten und schönsten <strong>Zeit</strong> <strong>der</strong> neu<br />
hervorbrechenden, aber auch sogleich ihren höchsten Gipfel<br />
erreichenden Kunst und Literatur. Wir erinnern uns nicht, daß BACO des<br />
AGRICOLA gedenke, auch nicht, daß er das, was wir an diesem Manne<br />
so höchlich schätzen, an an<strong>der</strong>n zu würdigen gewußt habe.<br />
Ein Blick auf die Umstände, unter welchen beide Männer gelebt, gibt<br />
zu einer heiteren Vergleichung Anlaß. Der mittelländische Deutsche<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 154<br />
findet sich eingeladen, in dem abgeschlossenen Kreise des Bergwesens<br />
zu verweilen, sich zu konzentrieren und ein beschränktes Ganzes<br />
wissenschaftlich auszubilden. BACO als ein meerumgebener Insulaner,<br />
Glied einer Nation, die sich mit <strong>der</strong> ganzen Welt <strong>im</strong> Rapport sah, wird<br />
durch die äußeren Umstände bewogen, ins Breite und Unendliche zu<br />
gehen und das unsicherste aller Naturphänomene, die Winde, als<br />
Hauptaugenmerk zu fassen, weil Winde den Schiffahrern von so großer<br />
Bedeutung sind.―<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 155<br />
5 RÜCKSCHAU: ZUR CHEMIE-GESCHICHTE DER<br />
URZEIT<br />
Die Urgeschichte <strong>der</strong> Chemie beginnt mit den Beobachtungen <strong>der</strong><br />
vorzeitlichen Menschen: „Das rasche Ver<strong>der</strong>ben tierischer Nahrung, das<br />
Sauerwerden <strong>der</strong> Milch, die Gärung süßer Pflanzensäfte, die Gift- o<strong>der</strong><br />
Heilwirkung von Pflanzen konnten ebensowenig verborgen bleiben wie<br />
die zerstörenden Wirkungen des Feuers, das Auftreten [leicht]<br />
schmelzbarer Steine [Mineralien wie Schwefel, Bleiglanz, Ant<strong>im</strong>onglanz],<br />
<strong>der</strong> Geschmack natürlich vorkommen<strong>der</strong> Salze. [Der Ziegelstein ist <strong>der</strong><br />
erste Baustoff, welcher durch die Beherrschung <strong>der</strong> vier Elemente Erde,<br />
Luft, Wasser und Feuer vom menschlichen Intellekt geschaffen wurde.<br />
In Moses 2, Kapitel 5 steht geschrieben wie <strong>der</strong> Pharao (Ramses II.)<br />
seinen Vögten und Amtleuten zur Unterdrückung <strong>der</strong> Israeliten befahl:<br />
―Ihr sollt dem Volk nicht mehr Stroh sammeln und geben, daß sie Ziegel<br />
machen wie bisher; laßt sie selbst hingehen und Stroh zusammenlesen,<br />
und die Zahl <strong>der</strong> Ziegel, die sie bisher gemacht haben, sollt ihr ihnen<br />
gleichwohl auflegen und nichts min<strong>der</strong>n; denn sie gehen müßig, …―].<br />
Eine <strong>der</strong> einschneidendsten chemisch-technischen Erfindungen, die<br />
Metallgewinnung, hat den jüngeren und jüngsten Epochen <strong>der</strong><br />
Vorgeschichte den Namen gegeben. Wir können verfolgen, wie die<br />
wichtigsten Kulturvölker aus <strong>der</strong> jüngeren Steinzeit in die <strong>Zeit</strong>alter des<br />
Kupfers, <strong>der</strong> Bronze, des Eisens eintreten. In ähnlicher Weise<br />
entwickelt sich die Keramik aus rohen Anfängen zu <strong>im</strong>mer höheren<br />
Stufen, bis man farbige Schmelzen und Gläser herstellen und zu<br />
erlesenen Kunstwerken verarbeiten lernt. Farbenreich werden<br />
Behausungen und Gewän<strong>der</strong>, Schmuck, und Geräte; Tierzucht und<br />
Pflanzenbau bereichern das Leben, führen zu neuen Genüssen, bringen<br />
auch die Kenntnis von todbringenden und heilenden Stoffen,<br />
Zaubermitteln und Giftwirkungen. […] Kein Denkmal kündet uns den<br />
Ruhm des Mannes, <strong>der</strong> das erste Metall erschmolzen, den ersten Krug<br />
<strong>im</strong> Feuer gebrannt hat. Götter sind es meistens und Halbgötter, die den<br />
Völkern die entscheidenden Kulturgüter gebracht, das Feuer vom<br />
H<strong>im</strong>mel geholt, die Künste und Fertigkeiten gelehrt, die die gehe<strong>im</strong>en<br />
Kräfte <strong>der</strong> Natur geoffenbart haben.― (Prof. Dr. Julius RUSKA, Berlin; in:<br />
Das Buch <strong>der</strong> großen Chemiker, Bd. I, S. 1).<br />
Nach <strong>der</strong> Antike, <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> <strong>der</strong> Griechen und Römer, wird gern in <strong>der</strong><br />
Wissenschaftsgeschichte von einer „Toten <strong>Zeit</strong>“ gesprochen, die man<br />
grob von 100 v. Chr. bis etwa 1500 n. Chr. ansetzt. Eine auf Biographien<br />
aufgebaute Geschichte <strong>der</strong> Chemie und damit also ein „Chemie-<br />
Stammbaum“ wird erst nach <strong>der</strong> „Toten <strong>Zeit</strong>― möglich. Auch Goethe<br />
spricht in seinen „Materialien zur Geschichte <strong>der</strong> Farbenlehre“ (1810)<br />
von einer „Lücke― (III. Abt. „Zwischenzeit―), wo er nach den Römern hier<br />
nur noch Roger BACON, 1216-1294, nennt und dann in <strong>der</strong> IV. Abt.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 156<br />
gleich mit dem 16. Jahrhun<strong>der</strong>t fortfährt. Über Roger BACON, den<br />
herausragenden englischen Franziskanermönch, schreibt Goethe<br />
ausführlicher („einer <strong>der</strong> reinsten, leibenswürdigsten Gestalten―). Im<br />
Kapitel 16. Jahrhun<strong>der</strong>t erwähnt Goethe ihn rückblickend abermals und<br />
schreibt:<br />
―Roger BACON, zu seinen Ehren sei gesagt, ist bei allem<br />
Wun<strong>der</strong>baren, womit er sich beschäftigt, bei allem Seltsamen, das er<br />
verspricht, fast gänzlich frei von Aberglauben; denn sein Vorahnden<br />
zukünftiger Möglichkeiten ruht auf einem sichern Fundament, so wie<br />
sein köstliches Büchlein De mirabili potestate artis et naturae gegen das<br />
Wüste, Absurde des Wahnes ganz eigentlich gerichtet ist, nicht mit jener<br />
negierenden erkältenden Manier <strong>der</strong> Neuern, son<strong>der</strong>n mit einem<br />
Glauben erregenden heiteren Hinweisen auf echte Kunst und Naturkraft.<br />
So hatte sich manches bis zu PORTAs <strong>Zeit</strong>en fortgepflanzt, doch lagen<br />
die Kenntnisse zerstreut. Sie waren mehr <strong>im</strong> Gedächtnisse bewahrt als<br />
geschrieben, und selbst dauerte es eine <strong>Zeit</strong>lang, bis die<br />
Buchdruckerkunst durch alle Fächer des Wissens durchwirkte und das<br />
Wissenswerte durchaus zur Sprache för<strong>der</strong>te.― Goethe schätzte<br />
BACONs vorurteilsfreie Klarheit und verübelte ihm nicht einmal, daß er<br />
die Goethe verhaßte Mathematik als Fundament <strong>der</strong><br />
Naturwissenschaften betrachtete. Über die Mathematik schreibt Roger<br />
BACON: „Es ist unmöglich, ohne die Mathematik zu einer richtigen<br />
Erkenntnis über die Dinge <strong>der</strong> Welt zu gelangen. Von <strong>der</strong> Astronomie ist<br />
dies an sich klar. Zahl und Größe <strong>der</strong> Gestirne, ihre Form, Entfernung<br />
und Bewegung unterliegen mathematischen Gesetzen, die wir in Tafeln<br />
und Kanons nie<strong>der</strong>legen. Aber auch die Vorgänge hier auf Erden<br />
bedürfen <strong>der</strong> Erforschung dieser Wissenschaft. Denn jedes Ding wirkt<br />
durch Kräfte, die in ihm liegen, und dies nach Linien, Winkeln und<br />
Figuren.<br />
(Opus maius. Bd. 2, übersetzt nach S. VOGEL. 1897).<br />
„BACONs Feuernatur war wenig für das Mönchsleben geeignet und<br />
seine exper<strong>im</strong>entellen Studien waren mit <strong>der</strong> Ordensregel schwer<br />
vereinbar. Der Gebrauch geschliffener Gläser o<strong>der</strong> durchsichtiger<br />
Mineralien (Quarz, Beryll) zur Vergrößerungszwecken – Vorläufer <strong>der</strong><br />
späteren Brillen – die Herstellung kunstvoller Mechanismen (Automaten)<br />
und an<strong>der</strong>e seiner <strong>Zeit</strong> weit vorauseilende Beschäftigungen machten ihn<br />
verdächtig, mit dem Teufel <strong>im</strong> Bunde zu stehen. Mit seinem Grundsatz:<br />
„Sine exper<strong>im</strong>entis nihil sufficienter sciri potest― ist er <strong>der</strong><br />
ausgesprochene Vertreter <strong>der</strong> induktiven Naturforschung. Dabei<br />
unterscheidet er eine „Alch<strong>im</strong>ia speculativa― und eine „Alch<strong>im</strong>ia<br />
practica―. […] Von seines Ordens-Oberen scharf gerügt, wurde er in das<br />
Pariser Kloster verbannt, wo er starken Demütigungen durch seine<br />
Klostergenossen ausgesetzt war und schließlich die letzen an<strong>der</strong>thalb<br />
Jahrzehnte seines Lebens <strong>im</strong> Kerker zubringen mußte. BACON glaubte<br />
an den Stein <strong>der</strong> Weisen, aber er wollte die letzten Gehe<strong>im</strong>nisse <strong>der</strong><br />
Natur durch Exper<strong>im</strong>entalforschung ergründen und suchte so die Mystik<br />
mit Naturforschung zu vereinen.― (Prof. Dr. Georg LOCKEMANN; in:<br />
Geschichte <strong>der</strong> Chemie I, 1950).<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 157<br />
„In Deutschland wachsen die Gelehrten auf wie das Gras, und<br />
deshalb werden sie auch von Ochsen und Schafen oft genug<br />
getreten. In Frankreich ist die Gelehrsamkeit ein schöner, seltener<br />
Baum in einem schönen Garten des vornehmen, reichen Mannes.“<br />
Diese burschikose Aussage aus einem vor 150 Jahren erschienenen<br />
Lehrbuches <strong>der</strong> „Chemie für Laien― (1858) von einem W. F. A.<br />
Z<strong>im</strong>mermann enthält wohl tatsächlich einen wahren Kern. Man sollte<br />
diese Aussage über Frankreich dann allerdings auch noch auf England<br />
ausdehnen, da sie hierfür meines Erachtens gleichermaßen gilt.<br />
Bezüglich Deutschland ist die saloppe Aussage auch zu relativieren,<br />
denn nicht alle Wegbereiter tauchen aus <strong>der</strong> grauen Masse plötzlich als<br />
Lichter auf. Es ist daher interessant, <strong>im</strong> 21. Jahrhun<strong>der</strong>t nach den<br />
Wurzeln dieser Persönlichkeiten zu graben. Manches hat die<br />
Wissenschaftsgeschichte inzwischen schon erforscht, aber auch die<br />
noch tiefschürfen<strong>der</strong>e Genealogie hat teilweise manch Weiterführendes<br />
ans Licht gebracht.<br />
Der Autor kann es sich daher nicht versagen, in diesem<br />
Zwischenbetrachtungs-Kapitel ein bzw. „sein― Thema einzuflechten, das<br />
man auch als einen großen geistigen Stammbaum bezeichnen könnte.<br />
Nämlich den Stammbaum des Wissens vom 15. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
(Humanismus/ Renaissance/ Reformation) bis zur Mitte des 17.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts über ein Gebiet, das bei Goethe seit seiner Kindheit große<br />
Beachtung fand und mit dem er sich ein Leben lang ausgiebig<br />
beschäftigt hat. Dieses Gebiet ist wohl nur selten in das Bewußtsein des<br />
„normalen Goethe-Freundes― gedrungen, selbst nicht bei denen, die sich<br />
für Goethe als Naturforscher interessiert haben. Denn hier fand ja in<br />
erster Linie die Farbenlehre und die Morphologie <strong>der</strong> Pflanzen und Tiere<br />
Beachtung. Goethes Beschäftigung mit <strong>der</strong> Chemie ist aber<br />
merkwürdigerweise nur in einigen ganz wenigen Veröffentlichungen<br />
behandelt und ebenso damit seine Verdienst um die Chemie und ihre<br />
Weiterentwicklung in Jena, wo Goethe ja für die Universität amtlich<br />
zuständig war. Diese Unkenntnis beruht wohl darauf, daß Goethe keine<br />
eigene zusammenhängende Veröffentlichung über seine chemische<br />
Tätigkeit bzw. die Chemie selbst veröffentlich hat. Schließlich begann<br />
sich die wirklich mo<strong>der</strong>ne Chemie auch erst zur Goethezeit zu<br />
entwickeln.<br />
Zunächst sehe ich mich herausgefor<strong>der</strong>t, die eingangs angeführte<br />
Feststellung eines früheren Chemie-Buchautors bezüglich des<br />
Gegensatzes deutscher zu französischen und englischen Gelehrten zu<br />
untermauern. Und zwar mit einem biographischen Datenskelett über die<br />
bedeutendsten Wegbereiter <strong>der</strong> Chemie, da dies Thema mich nun<br />
einmal als genetisch orientierten Genealogen reizt. Hinzu kommt, daß<br />
ich diese Persönlichkeiten auch als allergrößte Berufsvorgänger<br />
betrachten kann und mir daher diese „Chemie-Walhalla― seit meiner<br />
Schulzeit großenteils wohlvertraut ist. Schließlich hoffe ich, den einen<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 158<br />
o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en interessierten Leser zu finden, den ich über den Weg<br />
dieses „geistigen Stammbaumes“ ins Schlepptau nehmen kann; und<br />
zwar über die personengeschichtlichen Streiflichter zu meinem<br />
Hauptanliegen hinzuführen: Nämlich zum besseren Verständnis meiner<br />
abschließenden Werbung für ein verstärktes Erarbeiten von<br />
umfangreichen Gesamtverwandtschaftstafeln und<br />
Gesamtnachkommenschaften von Bezugspersonen<br />
(„Koordinatennullpunkt―: Probanden bzw. Stammeltern), die sich<br />
aufgrund guter Quellenlage hierfür eignen, bzw. die bereits durch eine<br />
(patrilineare) Stammtafel einen genealogischen Bezugspunkt besitzen!<br />
Ein statistischer Vergleich solcher Forschungsergebnisse verspricht <strong>im</strong><br />
21. Jahrhun<strong>der</strong>t neue interdisziplinäre Erkenntnisse zwischen den Naturund<br />
Geisteswissenschaften.-<br />
Im folgenden biographisch- und chemie-geschichtlichen Streiflicht<br />
nach Paracelsus bis zur Goethezeit beziehe ich mich <strong>im</strong> wesentlichen<br />
auf folgende Quellen:<br />
„Das Buch <strong>der</strong> großen Chemiker (1929), Herausgeber Dr. Günther<br />
BUGGE; Paul WALDEN: Drei Jahrtausende Chemie (1944), Georg<br />
LOCKEMANN: Geschichte <strong>der</strong> Chemie I und II (1950), Göschen-Band<br />
264 und 265/265a und Ferenc SZABADVÁRY: Geschichte <strong>der</strong><br />
analytischen Chemie, 1966.<br />
Vor PARACELSUS und AGRICOLA erscheint nach <strong>der</strong> „Toten <strong>Zeit</strong>―<br />
als einzige prägende Persönlichkeit nur<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
5.1 Vannocio BIRINGUCCIO, 1480-1538<br />
In Siena/ Italien geboren, stand er dort <strong>im</strong> Dienste des Stadttyrannen<br />
Pandolfo PETRUCCI und war hier als Architekt, Büchsenmeister,<br />
Metallurge und technischer Chemiker tätig. Er war ein ausgesprochener<br />
Gegner <strong>der</strong> Alchemie. In <strong>der</strong> kampferfüllten, wildbewegten <strong>Zeit</strong> hat er ein<br />
sehr wechselvolles Schicksal erlitten. BIRINGUCCIO machte auch<br />
größere Studienreisen nach Süddeutschland, wo er die Bergwerke und<br />
Hütten kennenlernte. Nachdem er - zeitweise als Geächteter vertrieben<br />
– noch oberster DOM-Baumeister in Siena geworden war, trat er<br />
schließlich 1538 in den Dienst des Papstes und ist dann bald darauf in<br />
Rom gestorben.<br />
******************<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />
S e i t e | 159
S e i t e | 160<br />
Seine reichen Erfahrungen legte er in dem umfassenden Werke „De la<br />
pirotechnica libri X― nie<strong>der</strong>, das erst nach seinem Tode <strong>im</strong> Jahre 1540 <strong>im</strong><br />
Druck erschienen ist; es ist mit Holzschnitten <strong>der</strong> chemie-technischen<br />
Verfahren illustriert. BIRINGUCCIO rühmt nach seinen Besuchen<br />
deutscher Salzbergwerke, Metallhütten, Geschützfabriken u. ä.<br />
„Deutschland, wo diese Kunst vielleicht mehr geübt wird und blüht als an<br />
irgendeiner an<strong>der</strong>en Stelle <strong>der</strong> Christenheit.― AGRICOLA hat dieses<br />
Buch in seiner „De re metallica libri XII― mehrfach erwähnt und<br />
zahlreiche Stellen daraus zitiert. BIRINGUCCIOs Werk lehnt die<br />
Alchemie ironisch ab und gibt dagegen folgendes Urteil über die neue<br />
werdende Chemie ab: „die chemische Forschung zeigt jeden Tag<br />
wun<strong>der</strong>schöne neue Erscheinungen und außerdem liefert die Chemie<br />
Heilmittel, Farben, Wohlgerüche und unzählige Verbindungen. Viele<br />
Künste wären ohne sie nicht erfunden worden.― Nachweislich als erster<br />
hat BIRINGUCCIO in seinem Buch erwähnt, daß das Gewicht <strong>der</strong><br />
Metalle be<strong>im</strong> Verbrennen zu n<strong>im</strong>mt.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 161<br />
Das Meisterstück seiner Metallgießkunst war ein Bronzerohr von 6,7 m<br />
Länge, eines <strong>der</strong> größten Geschützrohre, die je gegossen worden sind.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
5.2 Andreas LIBAVIUS (LIBAU), 1550? – 1616.<br />
LIBAVIUS wurde in Halle a. d. Saale „von armen, doch ehrlichen Eltern<br />
geboren.― Sein Vater Johann LIBAU war vom Harz gebürtig, wo er<br />
Leinweber war. Nachdem er das Gymnasium in Halle besucht hatte,<br />
studierte er in Jena Philosophie und Medizin, promovierte zum Dr. med.<br />
und wurde zum „Poeta laureatus― ernannt. Ein tüchtiger Mann konnte<br />
sich zu jener <strong>Zeit</strong> auf sehr verschiedenen Gebieten betätigen. So war<br />
LIBAU zunächst Lehrer an den Schulen in Ilmenau/Thüringen (seit<br />
1581) und dann <strong>im</strong> damals noch sächsischen Coburg (seit 1586) und<br />
später von 1588-1591 „Professor historiarum et poeseos― in Jena. 1591<br />
wurde LIBAVIUS Stadtarzt in Rothenburg o. d. Tauber, wo er<br />
gleichzeitig als „Inspector scholae― am Gymnasium Unterricht erteilte.<br />
1607 wurde er Direktor des neu gegründeten „Gymnasiumm<br />
Cas<strong>im</strong>iranum― in Coburg, wo er noch 9 Jahre wirken konnte.<br />
******************<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 162<br />
Von <strong>der</strong> großen Zahl seiner Schriften (philosophische und theologische<br />
Abhandlungen, auch lateinische Gedichte) ragt als erstes Lehrbuch <strong>der</strong><br />
neuausgerichteten Chemie gegen Ende des 16. Jahrhun<strong>der</strong>ts seine<br />
„Alchemia― (1957) hervor, das als vorzügliches chemisches Lehrbuch<br />
wie<strong>der</strong>holt neu aufgelegt worden ist. Die veraltete Bezeichnung darf<br />
keineswegs irreführen, denn <strong>der</strong> Verfasser gibt die folgende Definition:<br />
„Alchemie ist die Kunst, reine Magisterien und Essenzen aus<br />
gemischten Stoffen auszuziehen.― Unter „Magisterium― versteht er eine<br />
chemische Substanz (species chymica), die unter Entfernung <strong>der</strong> nicht<br />
dazugehörigen unreinen Teile, aus einem zusammengesetzten Stoff (ex<br />
toto) extrahiert und gewonnen wird. Weiterhin hat er die analytischen<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 163<br />
Lehrbücher „Arxprobandi mineralia―, „De judicio aquarum mineralium―<br />
und „Alchymistische Practic― (1603) veröffentlicht. LIBAVIUS war zwar<br />
ein Anhänger und Verehrer von PARACELSUS, war aber dessen<br />
Lehren gegenüber durchaus kritisch eingestellt und hat in seiner<br />
ärztlichen Praxis den von manchen an<strong>der</strong>en getriebenen Mißbrauch mit<br />
chemischen Heilmitteln, wie z. B. den Ant<strong>im</strong>onpräparaten, gemieden.<br />
Als tüchtiger Analytiker wies er den Gehalt <strong>der</strong> natürlichen Bleierze an<br />
Silber nach; an<strong>der</strong>erseits hat er aber auch die grundsätzlichen<br />
Möglichkeiten <strong>der</strong> Metallumwandlung in einer beson<strong>der</strong>en Schrift<br />
gegenüber <strong>der</strong> Universität Paris verteidigt. Er untersuchte die<br />
Mineralwässer und wies in den Säuerlingen den Gehalt an<br />
Kohlensäure nach. Auch mit chemisch-technischen Fragen<br />
beschäftigte er sich viel. Den „spiritus salis“ (Salzsäure) gewann er<br />
durch Glühen eines Gemenges von Kochsalz und Ton, Schwefelsäure<br />
stellte er durch Verbrennen von Schwefel und Oxydation <strong>der</strong> Dämpfe an<br />
<strong>der</strong> Luft o<strong>der</strong> durch Zusatz von Salpeter dar, und er wies <strong>der</strong>en<br />
Anwesenheit in den Vitriolen und Alaunen nach. Durch Erhitzen eines<br />
Gemenges von amalgiertem Zinn und Quecksilbersubl<strong>im</strong>at gewann er<br />
das Zinntetrachlorid, das unter dem Namen „Spiritus fumans Libavii―<br />
seinen Namen in <strong>der</strong> Chemie bis heute lebendig gehalten hat. Auch mit<br />
verschiedenen an<strong>der</strong>en technischen Fragen, wie z. B. mit <strong>der</strong><br />
Herstellung farbiger Gläser, hat er sich beschäftigt. Beson<strong>der</strong>s<br />
bemerkenswert ist noch <strong>der</strong> von ihm entworfene Plan eines großartig<br />
ausgestatteten Laboratoriumsgebäudes mit allen möglichen, auch<br />
hygienischen Einrichtungen, <strong>der</strong> allerdings niemals zur praktischen<br />
Ausführung gekommen ist.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
5.3 Leonhard THURNEYSSER, 1531-1596<br />
Diesen schweizer Arzt des 16. Jahrhun<strong>der</strong>ts findet man nur selten <strong>im</strong><br />
„Chemie-Stammbaum“ erwähnt. Ihm sei hier gedacht, da <strong>der</strong><br />
ungarische Chemiehistoriker Ferenc SZABADVÁRY ein hübsches<br />
Gedicht über die chemische Analyse von Mineralwässern durch<br />
Verdampfen und Glühen des Rückstandes in <strong>der</strong> Flamme<br />
„ausgegraben― hat, das THURNEYSSER 1572 in seinem Buch mit dem<br />
Titel: „Pison, o<strong>der</strong> von kalten, warmen, mineralischen und metallischen<br />
Wassern― veröffentlicht hat. Das Buch enthält die Beschreibung <strong>der</strong><br />
Flüsse und Bäche, die er auf seinen Reisen kennengelernt hat, ihre<br />
chemischen und physikalischen Eigenschaften sowie eine Erläuterung<br />
<strong>der</strong> Untersuchungsverfahren, seltsamerweise zum Teil in Versform:<br />
„Des Schlichs Gehalt du <strong>im</strong> Glühen kennst<br />
An <strong>der</strong> Farbe und Flamme, wenn du ihn brennst.<br />
Lasur gibt eine blaue Flamme,<br />
Sie ist dunkel und schwarz be<strong>im</strong> Kobaltschlamme.<br />
Wenn sie gelb ist, schließe auf Arsenik,<br />
Bei Bergwachs ist die Flamme schwarz und dick.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 164<br />
Wenn Blaugrün, Gelb und Weiß vermischt,<br />
Es Kobalt, Kies und Schwefel ist.<br />
Das Salz <strong>im</strong> Feuer klopft und springt,<br />
Grau-blau heißt Schwefel so es stinkt.<br />
Wenn’s aber grau und mächtig raucht,<br />
Im Feuer schwindet und verschmaucht,<br />
Und wenn eine dunkle graue Flamm<br />
So ist es merkurialischer Schlamm.<br />
Wenn die Farbe zu Dunkelrot, Leibfarb neigt,<br />
Sie Eisen, Stahl und Kupfer anzeigt.<br />
Was aber weißfarbig lebhaft verbrannt<br />
Ist als Salpeter o<strong>der</strong> Niter bekannt.<br />
Den Ant<strong>im</strong>onium erkennst du auch<br />
Am dunkeln, schwarzen, stinkenden Rauch.<br />
Alaun verän<strong>der</strong>t die Flamme nicht,<br />
Kampfer, Agat wohltuend riecht,<br />
Recht grasgrün sich Gold und Kupfer aufführt,<br />
So man dabei ein Sulphur verspürt.<br />
Also hast du die Arten alle,<br />
Wie’s Feuer anzeigt die Metalle.<br />
Sei in dem Erz Schlich o<strong>der</strong> Gestein –<br />
Der Dinge Erkenntnis ist nicht gemein …―<br />
Schlich ist feinkörniges Erz. Methodisch ist THURNEYSSER mit<br />
seinem Verfahren eigentlich schon ein früher Vorläufer <strong>der</strong> chemischen<br />
Analyse durch Flammenfärbung, bzw. <strong>der</strong> auch noch <strong>im</strong> 20. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
üblichen Lötrohranalyse, die <strong>der</strong> berühmte Chemiker Jöns Jacob<br />
BERZELIUS, 1779-1848, später perfektioniert und womit er Goethe<br />
genau 250 Jahre später begeistert hat. Goethes Briefe an seinen Sohn<br />
und an KNEBEL vom 23. 8. 1822 beweisen dies. Goethe hatte<br />
BERZELIUS in Marienbad während eines Kuraufenthaltes kennen<br />
gelernt und dann mit ihm eine zweitägige mineralogisch-mikrochemische<br />
Exkursion auf den Kammerberg bei Eger gemacht (30./31. 7. 1822).<br />
Von Leonhard THURNEYSSERs Lebenslauf war zu ermitteln: 1531 in<br />
Basel geboren, als Nachfolger von PARACELSUS reiste er viel in <strong>der</strong><br />
Welt herum und erwarb als Leibarzt des Kurfürsten Johann Georg von<br />
BRANDENBURG ein großes Vermögen. In Berlin richtete er ein<br />
alchemistisch-pharmazeutisches Laboratorium ein, legte einen Kräuterund<br />
Tiergarten an, gründete verschiedene Handelsunternehmungen, in<br />
<strong>der</strong> er seine mit Holzschnitten illustrierten Bücher, beson<strong>der</strong>s Kräuterund<br />
Arzneibücher, drucken ließ. Als armer Mann starb er nach 1596 in<br />
Basel (nach SZABADVÁRY), nach dem „Großen Brockhaus― (1957)<br />
aber in Köln. Wenn THURNEYSSERs Gedicht auch nicht <strong>im</strong>mer<br />
zutreffende Schlußfolgerungen zugrunde liegen und manches<br />
phantastisch und wirr ist (Alchemistenzeit!), so ist er wohl jedenfalls<br />
einer <strong>der</strong> ersten, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Flammenfärbung eine analytische<br />
Möglichkeit erkannte, die dann erst viel später um 1860 Robert<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 165<br />
BUNSEN, 1811-1899, und Gustav KICHHOFF, 1824-1887, zur<br />
mo<strong>der</strong>nen Spektralanalyse ausgebaut haben.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
5.4 Pseudo „Basilius VALENTINUS“<br />
(= Johannes THÖLDE)<br />
(geb. Ende 16. Jahrhun<strong>der</strong>ts)<br />
Ganz zu Anfang des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts wurden die Schriften eines<br />
angeblichen Benediktinermönchs namens „Basilius Valentinus“<br />
bekannt, die bei den <strong>Zeit</strong>genossen gewaltiges Aufsehen erregten und<br />
großen Anklang fanden. Über die Persönlichkeit des „Basilius<br />
VALENTINUS― selbst kam anfangs be<strong>im</strong> Erscheinen seiner Werke so<br />
gut wie nichts zutage, und das, was sich darüber aus seinen Schriften<br />
entnehmen ließ, war mehr als dürftig. Als Benediktinermönch soll er um<br />
das Jahr 1413 <strong>im</strong> St. Peterskloster zu Erfurt gelebt haben. In <strong>der</strong> Schrift<br />
„Triumphwagen Ant<strong>im</strong>onii― (1604) wird das hohe Deutschland oberhalb<br />
des Rheins als sein Vaterland genannt. Er soll in <strong>der</strong> Welt viel<br />
herumgekommen sein und in Spanien und Italien geweilt haben; auch<br />
eine schwierige Reise nach St. Jacob wird erwähnt. In Belgien und<br />
England will er in jüngeren Jahren gewesen sein. In hohem Alter soll ihn<br />
sein Weg nach Ägypten an den Nil geführt haben. Sonst lag über Leben<br />
und Wirken des „Basilius Valentinus― ein gehe<strong>im</strong>nisvoller Schleier, was<br />
aber zur damaliger <strong>Zeit</strong> nicht beson<strong>der</strong>s auffällig o<strong>der</strong> gar verdächtig<br />
erschien. Im Gegenteil machten die Bewun<strong>der</strong>er <strong>der</strong> auf so<br />
eigentümliche Weise <strong>der</strong> Vergessenheit entrissenen Schriften geltend,<br />
es könne kaum an<strong>der</strong>s sein, da in Anbetracht <strong>der</strong> kirchlichen Verbote<br />
„Basilius Valentinus― sich den schl<strong>im</strong>msten Verfolgungen und schweren<br />
Strafen ausgesetzt hätte, wenn er fre<strong>im</strong>ütig und offen seine Tätigkeit<br />
eingestanden und die Ergebnisse seiner Arbeit bekannt gemacht hätte.<br />
Die Erinnerung an die einstigen Klosterlaboranten und ihre Leistungen<br />
waren noch zu Beginn des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts <strong>im</strong> Volke so gefestigt, daß<br />
man z. B. für ein an neuen Tatsachen reiches Werk einen<br />
Benediktinermönch „Basilius Valentinus“ als Verfasser erfand und<br />
ihn ins Jahr 1413 zurückdatierte. Der Herausgeber dieser Schriften<br />
und Kreator des „Mönches Basilius Valentinus vom Jahre 1413― war ein<br />
Johannes THÖLDE, sachlich und sprachlich st<strong>im</strong>men sie mit den<br />
PARACELSUS-Schriften überein.<br />
Einem Freiburger Mönch Berthold SCHWARZ wird von <strong>der</strong> Chronik<br />
die Erfindung des Pulvers zugeschrieben. Auch hier dürfte es sich um<br />
eine Erfindung <strong>der</strong> Klosterlaboratorien handeln, d. h. um die Anwendung<br />
<strong>der</strong> treibenden Kraft des Pulvers zu Pulvergeschützen und<br />
Steinbüchsen. Parallel damit entstanden in Deutschland die<br />
Salpeterfabrikation; sie lieferte nachher den Salpeter zum Export. Der<br />
Frankenhausener (Thüringen) Johannes THÖLDE war in den<br />
Salzwerken als Pfannenherr und Ratskämmerer tätig. Er hat eine Anzahl<br />
von „Basilius Valentinus―-Schriften herausgegeben, ohne jemals zu<br />
behaupten, <strong>der</strong> Autor zu sein.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 166<br />
*******************<br />
Eine erste Schrift von 1599 hat den Titel „Von dem großen Stein <strong>der</strong><br />
Uralten“ und enthält außer dieser Abhandlung noch „Die zwölf<br />
Schlüssel― und „Die Wie<strong>der</strong>holung vom großen Stein <strong>der</strong> Uralten, de<br />
Microcosomo o<strong>der</strong> <strong>der</strong> kleinen Welt des Menschen und von <strong>der</strong> großen<br />
He<strong>im</strong>ligkeit <strong>der</strong> Welt und ihrer Arznei dem Menschen Zugehörigkeit,<br />
nebst <strong>der</strong> Meisterschaft <strong>der</strong> sieben Planeten―.<br />
Die „Basilius―-Schriften enthalten viele neue Verfahren, z. B. die<br />
Herstellung von Salzsäure, Wismut, Ant<strong>im</strong>on und die Beschreibung<br />
<strong>der</strong> Weingeistlampe. Auf die Bedeutung <strong>der</strong> in wäßrigen Lösungen<br />
verlaufenden Vorgänge machte zunächst „Basilius Valentinus―<br />
aufmerksam: „Das Silber nun aus dem Kupfer zu bringen und ihm seine<br />
eigene Farbe wie<strong>der</strong>zugeben, ist eine große Kunst, welche die<br />
Schmelzer nicht wissen, son<strong>der</strong>n sie gehört in die chemische Kunst und<br />
in das Laboratorium. - Zuletzt merke , daß die Philosophie zwei Wege<br />
gehabt, den nassen Weg, welchen ich gebraucht habe, sodann den<br />
trockenen Weg―. An gleicher Stelle erwähnt er, daß das ungarische<br />
Eisen deswegen brüchig ist, weil es Kupfer enthält; es kann also nur<br />
nach dem Reinigen verwendet werden. Das ungarische Silber hingegen<br />
enthalte Gold. Auch <strong>der</strong> Begriff des Fällens und das Wort Nie<strong>der</strong>schlag<br />
(praecipitatum) findet sich be<strong>im</strong> ihm. Er erwähnt es bei <strong>der</strong><br />
Beschreibung des Fällens von Gold aus einer Königswasserlösung<br />
mittels Pottasche und empfiehlt, das Präzipitat an <strong>der</strong> Luft zu trocknen,<br />
da es <strong>im</strong> Feuer geglüht explodiere[Knallgold!].―<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
5.5 Alchemie in Goethes Faust<br />
„Soweit sich die alchemistischen Bestrebungen auf die Herstellung<br />
von medizinischen Heilmitteln beziehen, haben sie ihre treffendste<br />
Schil<strong>der</strong>ung in den Worten gefunden, die Goethe seinen Faust auf dem<br />
Osterspaziergang sprechen läßt― (Faust I, V. 1034-1054):<br />
Mein Vater war ein dunkler Ehrenmann,<br />
Der über die Natur und ihre heil’gen Kreise<br />
In Redlichkeit, jedoch auf seine Weise<br />
Mit grillenhafter Mühe sann;<br />
5 Der, in Gesellschaft von Adepten,<br />
Sich in die schwarze Küche schloß<br />
Und, nach unendlichen Rezepten,<br />
Das Widrige zusammengoß.<br />
Da ward ein roter Leu, ein kühner Freier,<br />
10 Im lauen Bad <strong>der</strong> Lilie vermählt,<br />
Und beide dann mit offnem Flammenfeuer<br />
Aus einem Brautgemach ins an<strong>der</strong>e gequält.<br />
Erschien darauf mit bunten Farben<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 167<br />
Die junge Königin <strong>im</strong> Glas,<br />
15 Hier war die Arzenei, die Patienten starben,<br />
Und niemand fragte: wer genas?<br />
So haben wir mit höllischen Latwergen<br />
In diesen Tälern, diesen Bergen<br />
Weit schl<strong>im</strong>mer als die Pest getobt.<br />
20 Ich habe selbst den Gift an Tausende gegeben:<br />
Sie welkten hin, ich muß erleben,<br />
Daß man die frechen Mör<strong>der</strong> lobt.<br />
*<br />
Der namhafte Faust-Kommentator Adolf TRENDELENBURG, 1844-<br />
1941, <strong>der</strong> auch als Mitarbeiter von Heinrich SCHLIEMANN die<br />
Ausgrabungen in Mykene in Griechenland leitete, machte sich die Mühe,<br />
in den Schriften von PARACELSUS nach Analogien zu Goethes<br />
alchemistischer Faust-Szene zu suchen. Er schreibt dazu zunächst über<br />
PARACELSUS u. a.:<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 168<br />
„Ungesucht bietet <strong>der</strong> Abriß des äußeren Lebens Parallelen zu<br />
PARACELSUS’ <strong>Zeit</strong>genossen, dem historischen und dem sagenhaften<br />
Dr. Faust. Daß man wie in diesem auch in PARACELSUS einen<br />
Betrüger und Zauberer sieht, ist bei dem Haß <strong>der</strong> zünftigen<br />
Wissenschaft und rechtgläubigen Kirche nicht zu verwun<strong>der</strong>n.<br />
PARACELSUS’ Bedeutung ist erst spät erkannt worden; um so<br />
rühmlicher für Goethe, daß er sich durch Vorurteile nicht hat irre machen<br />
lassen. „Man ist gegen den Geist und die Talente dieses<br />
außerordentlichen Mannes in <strong>der</strong> neuen <strong>Zeit</strong> mehr als in einer früheren<br />
gerecht― beginnt er den Abschnitt über ihn in seiner Geschichte <strong>der</strong><br />
Farbenlehre. Und dies Urteil wird um so berechtigter erscheinen, je<br />
besser man seine Bestrebungen und Verdienste kennen lernt.<br />
PARACELSUS ist Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> neueren Chemie, Entdecker wichtiger<br />
Heilmethoden und darin ein echter Vorgänger Goethes, daß er aus dem<br />
lebendigen Buch <strong>der</strong> Natur mehr lernen zu können glaubt als aus totem<br />
Pergament. Wie Goethes Faust zu Wagner, so steht PARACELSUS zu<br />
seinen zünftigen Kollegen. Hätte er weiter kein Verdienst als gegen die<br />
Lustseuche, die zu seiner <strong>Zeit</strong> furchtbar wütete und häufig zum Tode<br />
führte, das unfehlbare Heilmittel des Quecksilbers gefunden zu haben,<br />
sein Name lebte in <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Medizin fort. Wer wollte ihn<br />
schelten, daß er in einem Metall, dessen Heilkraft sich so sichtlich<br />
bewährte, eine Art Universalmittel entdeckt zu haben meint und es auch<br />
da anwendet, wo es schadet? Zweifellos ist seine Entdeckung für die<br />
Alch<strong>im</strong>istenzunft Ansporn gewesen, auf dem Wege chemischer<br />
Versuche jene „jungfräuliche Erde― zu gewinnen, die zum Stein <strong>der</strong><br />
Weisen werden sollte.<br />
Goethe gibt Faust einen Arzt zum Vater, wie ihn PARACELSUS hatte,<br />
und macht ihn zum Alch<strong>im</strong>isten, <strong>der</strong> sich mit Herstellung <strong>der</strong> Panacee<br />
[Allheil- , Wun<strong>der</strong>mittel] beschäftigt, um dem Wüten <strong>der</strong> Pest Einhalt zu<br />
tun. Die entscheidenden Verse des ersten Teils, die dem Verständnis<br />
noch <strong>im</strong>mer nicht ganz erschlossen sind, lauten (1034) [siehe oben!].<br />
Versdeutung:<br />
1-16 Herstellung des Heilmittels, 17-22 seine Anwendung und<br />
Wirkung. Seine Herstellung ist ein Werk des Vaters, <strong>der</strong> in ehrlichem<br />
Streben, <strong>der</strong> Pest Herr zu werden, zur dunklen Kunst (1) <strong>der</strong> Alch<strong>im</strong>isten<br />
greift, weil die gewöhnlichen Mittel <strong>der</strong> Medizin versagen. Auf<br />
PARACELSUS’ Spuren wandelt er, wenn er dem Weben <strong>der</strong> Natur<br />
redlich nachgeht (2) und sich darauf versteift (4), ihr mit den Mitteln <strong>der</strong><br />
schwarzen Kunst Gehe<strong>im</strong>nisse abzulocken, die sie freiwillig herzugeben<br />
nicht gesonnen ist. Im Verein mit Eingeweihten (5) braut er <strong>im</strong><br />
verschlossenen Laboratorium (6) geduldig an dem unerreichbaren<br />
Allheilmittel, zwingt wi<strong>der</strong>strebende (PARACELSUS und Goethe nennen<br />
sie auch „wi<strong>der</strong>wärtig―) Stoffe (8) in einen gemeinsamen Behälter, setzt<br />
ihn erst einer lauen Wärme (10), dann in einem an<strong>der</strong>en Kolben offenem<br />
Feuer (11) aus und gewinnt durch Destillieren, Cohobieren (mehrfaches<br />
Destillieren) und Subl<strong>im</strong>ieren (Verdampfen fester Stoffe), wobei die<br />
Masse aus einem Behälter in den an<strong>der</strong>en wandelt (12), schließlich in<br />
<strong>der</strong> „jungen Königin― (14) ein Destillat, das die ersehnte Heilkraft<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 169<br />
vermeintlich besitzt. Der Weg dazu ist endlos mühsam. Denn da sich<br />
bald herausstellt, daß es versagt, fügt je<strong>der</strong> Adept <strong>der</strong> langen Reihe <strong>der</strong><br />
Rezepte ein neues hinzu in <strong>der</strong> Hoffnung, das Mittel zu vervollkommnen<br />
(7). Diese Tätigkeit wie<strong>der</strong>holt sich mit tödlicher Gleichmäßigkeit und<br />
findet in den Schriften <strong>der</strong> Alch<strong>im</strong>isten so einförmigen Ausdruck, daß sie<br />
den Leser „mit einem unerträglichen Einerlei, wie ein anhaltendes<br />
Glockengeläute, mehr zum Wahnsinn als zur Andacht hindrängen―<br />
(Goethe, Geschichte <strong>der</strong> Farbenlehre). Soweit vermag auch ein Laie<br />
den Sinn <strong>der</strong> schönen Verse zu fassen. […]<br />
Die oben genannten Ausführungen des Verfassers in seinen<br />
Vorarbeiten zum Faustkommentar nahm Herr Prof. Dr. Edmund O. von<br />
LIPPMANN in Halle, <strong>der</strong> anerkannte Führer auf dem Felde <strong>der</strong><br />
Geschichte <strong>der</strong> Chemie, zum Anlaß, in einem inhaltreichen Aufsatz <strong>der</strong><br />
„Chemiker-<strong>Zeit</strong>ung― (1920, Nr. 31) seine Ansichten über die Stelle<br />
darzulegen, wofür ihm mit dem Verfasser, einem völligen Laien in<br />
chemischen Fragen, auch die Fachwissenschaft dankbar sein wird.<br />
„Das Mittel, dessen sich Fausts Vater bedienen wollte, um dieser<br />
Seuche [<strong>der</strong> Pest] Herr zu werden, ist … nichts an<strong>der</strong>es als das<br />
gol<strong>der</strong>zeugende „Elixier―, <strong>der</strong> „Stein <strong>der</strong> Weisen―, den man auch als<br />
„Panacee― ansah, weil er …―ebensowohl das bleiche, kranke und<br />
unreine Metall wie das bleiche, kranke und unreine Blut in reines,<br />
gesundes und rotes verwandle.― Zu seiner Bereitung war es<br />
erfor<strong>der</strong>lich, von den beiden Bestandteilen auszugehen, die man … als<br />
die aller Körper betrachtete, vom „Schwefel― und vom „Quecksilber―. Der<br />
Schwefel, die aktiven, wirksamen, gestaltenden Elemente Feuer und<br />
Luft in sich schließend, galt als das männliche Prinzip, das Quecksilber,<br />
aus den passiven, leidenden, empfangenden Elementen Wasser und<br />
Erde bestehend, als das weibliche ... In <strong>der</strong> Fauststelle tritt als Symbol<br />
des „weiblichen― Quecksilbers die weiße Lilie auf …; <strong>der</strong> „kühne Freier―,<br />
also das „männliche― Prinzip, ist „roter Schwefel―, als welcher<br />
ursprünglich (neben allerlei roten Substanzen) in erster Linie das<br />
Realgar (rotes Schwefelarsen) in Betracht kommt. Aus dem Vergleich<br />
<strong>der</strong> chemischen mit <strong>der</strong> ehelichen Verbindung erklärt sich jener <strong>der</strong><br />
benutzten Destillationsapparate mit „Brautgemächern―, während sich die<br />
„bunten Farben― auf die stufenweise Umwandlung des „Anthroparion"<br />
[des Menschleins, des Homunkulus, <strong>der</strong> zuerst kupferfarbig, dann<br />
silbern und schließlich golden erscheint] in <strong>im</strong>mer edleres Metall und<br />
zuletzt in Gold beziehen. … Für das Elixier, den Stein <strong>der</strong> Weisen, die<br />
Panacee, benutzen die Alch<strong>im</strong>isten den Ausdruck „König― … o<strong>der</strong><br />
„Königin―, vielleicht „rex― mehr <strong>im</strong> Sinne von „Stein <strong>der</strong> Weisen― und<br />
„regina― in jenem von „Panacee―. Daß sich letztere, bei innerlichem<br />
Genusse, in Wirklichkeit statt als heilbringend oft als schädlich, ja als<br />
tödlich erwies, kann angesichts ihrer Darstellung aus den gefährlichsten<br />
Giftstoffen nicht wun<strong>der</strong>nehmen.― [Latwerge = Arznei, dicker Saft, den<br />
man <strong>im</strong> Munde zergehen läßt] … „Einen für Goetheforscher wichtigen<br />
Vorbehalt macht Herr von LIPPMANN für seine Deutung. „Kaum braucht<br />
schließlich noch hervorgehoben zu werden, daß Goethe … sich in <strong>der</strong><br />
Verwertung und Ausgestaltung <strong>der</strong> [dem PARACELSUS und an<strong>der</strong>en]<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 170<br />
entnommenen Züge volle dichterische Freiheit wahrte; mit <strong>der</strong><br />
For<strong>der</strong>ung eines quellengemäßen, in wissenschaftlichem Sinne<br />
folgerichtigen Zusammenst<strong>im</strong>mens aller Einzelheiten wird man also<br />
nicht an ihn heranzutreten haben.[…]<br />
Vom Stein <strong>der</strong> Weisen wird nur erzählt, H o m u n k u l u s aber<br />
ersteht vor aller Augen. Die Bühne zeigt ein Alch<strong>im</strong>isten-Laboratorium<br />
<strong>im</strong> Betrieb. Professor Wagner, Fausts einstiger Famulus, jetzt sein<br />
Nachfolger an <strong>der</strong> Universität, hat sich in die schwarze Küche<br />
eingeschlossen, um in die Tat umzusetzen, was er, <strong>der</strong> Verehrer<br />
würdigen Pergamens, aus den Schriften <strong>der</strong> Adepten herausgelesen<br />
hat. Die Ausstattung des Laboratoriums „<strong>im</strong> Sinne des Mittelalters,<br />
weitläufige unbehilfliche Apparate zu phantastischen Zwecken― [Goethes<br />
Szenen-Beschreibung des Laboratoriums [Faust II, V 6819 f.], liefert<br />
jedes holländische Alch<strong>im</strong>istenbild. Hinten in <strong>der</strong> Ecke <strong>der</strong> Feuerherd mit<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 171<br />
dem großen Blasebalg und engen Rauchfang, auf dessen Ges<strong>im</strong>s<br />
allerhand Gläser, Näpfe, Flaschen und Krüge, daneben ein<br />
Stampfmörser auf hohem Untersatz, ein Tisch, Amboß, Kübel und<br />
vielerlei Werkzeug, <strong>der</strong> große Raum für „die Gesellschaft <strong>der</strong> Adepten―.<br />
Im Vor<strong>der</strong>grund links ein zweiter Herd, für feinere Untersuchungen. An<br />
ihm sitzt <strong>der</strong> Alch<strong>im</strong>ist in großem gepolsterten Lehnstuhl, die Pelzmütze<br />
auf dem Kopfe, einen kleinen Blasebalg in den Händen, das Feuer<br />
anfachend. Um ihn herum eine Legion von Apparaten, auf und an dem<br />
Herde, liegend, hängend, Zangen, Leuchter, Töpfe, Kolben, Röhren,<br />
Kessel, Schädel. Daneben Tisch mit Büchsen, Schachteln, Sanduhr,<br />
Rezepten, Schemel mit Reibmörser, <strong>der</strong> Boden dicht bedeckt mit<br />
Schüsseln, Wannen, Sieben, Büchern, das Ganze ein Chaos<br />
wun<strong>der</strong>licher Werkstücke, das sinnbildliche Abbild <strong>der</strong> Wirrnis, die in den<br />
Arbeitsräumen wie in den Köpfen <strong>der</strong> Goldmacher herrschte. Der<br />
Vor<strong>der</strong>raum kann durch einen schweren Vorhang gegen das große<br />
Gelaß hin abgesperrt und so zu einer unbeobachteten Werkstatt für die<br />
gehe<strong>im</strong>sten Versuche gemacht werden (nach einem Bild von TENIERS<br />
d. J. in Dresden).<br />
In so einem verschwiegenen Raume sitzt Wagner am Herde [Faust II,<br />
V. 6673 f.] und <strong>der</strong> Famulus beschreibt ihn]:<br />
Monate lang, des großen Werkes willen,<br />
Lebt’ er <strong>im</strong> allerstillsten Stillen.<br />
Der zarteste gelehrter Männer,<br />
Geschwärzt vom Ohre bis zur Nasen,<br />
Die Augen rot vom Feuerblasen;<br />
So lechzt er jeden Augenblick,<br />
Geklirr <strong>der</strong> Zange gibt Musik.<br />
In diesem Augenblicke höchster Erwartung, kurz vor Krönung <strong>der</strong><br />
Mühen, betritt Mephisto das Laboratorium, unerwartet und ungerufen,<br />
vermeintlich ein Störer, tatsächlich <strong>der</strong> Vollen<strong>der</strong> des Werkes. Denn<br />
wenn es in <strong>der</strong> Phiole auch leuchtet und blitzt, die Mischung sich klärt<br />
und klingt, und des Professors erhitzte Phantasie in <strong>der</strong> Masse schon<br />
die Gestalt eines zierlichen Männleins zu gewahren meint, es fehlt doch<br />
noch „das Tüpfchen auf dem i“, Sprache und L e b e n. Hier sind wir<br />
auf dem toten Strang, auf den alle Versuche geraten, organisches<br />
Leben auf mechanischem Wege zu erklären o<strong>der</strong> gar zu erzeugen. Naiv<br />
bemerkt PARACELSUS lib I cap. 2 p. 26 C, wo er die Ärzte belehrt, wie<br />
sie aus <strong>der</strong> großen sichtbaren Natur (dem Makrokosmos) die Kenntnis<br />
<strong>der</strong> kleinen unsichtbaren (des Mikrokosmos) schöpfen können: „ Die drei<br />
Substanzen, die einem jeglichen Dinge sein corpus geben, sind sulphur<br />
mercuris sal. Die drei werden zusammengesetzt, alsdann heißt’s ein<br />
corpus, und ihnen wird n i c h t s hinzugetan, als a l l e i n d a s<br />
L e b e n“. Nichts als allein das Leben! Da es aber auf diese Kleinigkeit<br />
einigermaßen ankommt, so wäre wie bei Tausenden vorher auch bei<br />
Wagner das Glasmännlein trotz allen Leuchtens und Tönens hübsch tot<br />
geblieben, hätte nicht Mephisto, „<strong>der</strong> Mann, das Glück ihm zu<br />
beschleunen― (V. 6684), seinen Segen dazu gegeben. Er erst macht das<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 172<br />
chemische Destillat zu einer Kreatur und wird deshalb von ihr mit Recht<br />
als „Herr Vetter―, begrüßt. Jetzt ist Homunkulus lebendig.―-<br />
Eine bemerkenswerte Deutung zur Laboratoriumsszene in Faust II,<br />
die Goethe ja erst kurz vor seinem Tode nie<strong>der</strong>schrieb, lieferte Dr. med.<br />
Hans KIRSTE in einer kleinen Abhandlung: „Goethes Kritik <strong>der</strong> exakten<br />
Naturwissenschaften in seiner Faustdichtung― (Münchener Medizinische<br />
Wochenschrift (1950) Nr. 37/38). Daraus sei noch einiges zitiert: :<br />
„Goethe hat seinen Wagner weitgehend umgebildet, und trotz <strong>der</strong><br />
Kürze seines Auftretens mit beson<strong>der</strong>er Sorgfalt gezeichnet und seinen<br />
beson<strong>der</strong>en Zwecken dienstbar gemacht. Schon <strong>im</strong> Urfaust finden wir<br />
ihn und auch <strong>im</strong> Faust II läßt <strong>der</strong> Dichter ihn in <strong>der</strong> spät (1829) verfaßten<br />
Laboratoriumsszene auftreten. In Faust I tritt uns Wagner als<br />
Scholastiker, als ein typischer Vertreter pedantischer<br />
Büchergelehrsamkeit entgegen. Im Faust II dagegen sehen wir ihn als<br />
den mo<strong>der</strong>nen exakten Naturforscher wie<strong>der</strong>kehren. Es ist ein kühner,<br />
aber feiner Kunstgriff, in <strong>der</strong> e i n e n Person des Wagner die<br />
Wissenschaftsentwicklung von Jahrhun<strong>der</strong>ten zu rekapitulieren und zu<br />
allegorisieren. Der Kunstgriff ist durchaus tragbar, weil ja die<br />
Menschentypen in den verschiedensten <strong>Zeit</strong>en <strong>im</strong>mer dieselben bleiben,<br />
ja es ist ganz beson<strong>der</strong>s reizvoll zu sehen, wie die sich gleichbleibende<br />
geistig-seelische Struktur eines Individuums sich gegenüber<br />
gewandeltem <strong>Zeit</strong>geist dokumentiert. Wenn Wagner in Faust I und II<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 173<br />
auch mit verschiedenen Methoden arbeitet, das eine Mal mit<br />
philologischer, das an<strong>der</strong>e Mal mit exper<strong>im</strong>enteller Akribie, so bleibt<br />
seine Wissenschaftsgesinnung doch stets die gleiche. Und diese<br />
Wissenschaftsgesinnung ist nüchternster Rationalismus, überspitzter<br />
Intellektualismus, hinter denen alle menschlichen Regungen, alle Boten<br />
aus den Tiefenregionen <strong>der</strong> Seele zum Schweigen gebracht werden.<br />
[…] Dem Chemiker Wagner des zweiten Teils gelingt es nach endlosen<br />
Versuchen den Homunkulus, das Menschlein in <strong>der</strong> Retorte,<br />
darzustellen. Die Idee des Homunkulus ist eine alte. Die Alchemisten<br />
prunkten damit, Rezepte zur Herstellung des künstlichen Menschen zu<br />
besitzen. Goethe fand bei PARACELSUS, den er in Straßburg fleißig<br />
studiert hatte; in dessen Werk: de generatione rerum naturalium I eine<br />
Anleitung zur Erzeugung des Homunkulus, dem hellseherische<br />
Fähigkeiten zu eigen sein sollten. Goethe entschloß sich erst <strong>im</strong> Jahre<br />
1829, die Gestalt des Homunkulus <strong>der</strong> seltsamen Schar seiner<br />
Faustgestalten beizugesellen.<br />
Diesen Entschluß brachte sehr wahrscheinlich folgendes Geschehnis<br />
zur Auslösung. 1828, ein Jahr zuvor, gelang nämlich Friedrich WÖHLER<br />
die Synthese des Harnstoffs aus cyansaurem Ammoniak. Zum<br />
erstenmal wurde hier eine organische Verbindung aus organischen<br />
Bestandteilen dargestellt und damit die Entwicklung <strong>der</strong> organischen<br />
Chemie inauguriert. Die WÖHLERsche Synthese erweckte innerhalb <strong>der</strong><br />
wissenschaftlichen Welt und weit darüber hinaus das größte Aufsehen<br />
und schien ungeheure Perspektiven zu eröffnen. So schrieb <strong>der</strong><br />
Würzburger Philosoph Johann Jakob WAGNER damals: „es müsse <strong>der</strong><br />
organischen Chemie mit <strong>Zeit</strong> und Weile gelingen, organische Körper zu<br />
erzeugen und durch Kristallisation Menschen zu erzeugen.― Es ist ein<br />
merkwürdiger Zufall, daß dieser oben genannte Prophet des<br />
Homunkulus und <strong>der</strong> Darsteller des Homunkulus <strong>im</strong> Faust beide<br />
denselben Namen trugen.<br />
Ein Jahr später, <strong>im</strong> Jahre 1829, dichtete Goethe die<br />
Laboratoriumsszene, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> synthetische Mensch in <strong>der</strong> Retorte<br />
entsteht. Ein Zusammenhang zwischen <strong>der</strong> aufsehenerregenden<br />
Entdeckung WÖHLERs, die sicher auch Goethe zu Ohren kam und ihn<br />
beeindruckte, sowie <strong>der</strong> endgültigen dichterischen Konzeption des<br />
Homunkulus ist durchaus naheliegend und <strong>im</strong> hohen Grade<br />
wahrscheinlich. Soweit ich sehe, ist in <strong>der</strong> Goetheliteratur die<br />
Möglichkeit dieses Zusammenhangs noch nie diskutiert worden. Und<br />
doch wäre ein solcher Zusammenhang auch insofern von hohem<br />
Interesse, weil er den Nachweis liefern würde, daß Goethe in <strong>der</strong> Gestalt<br />
des Wagners und seines Homunkulusgeschöpfes bewußte Kritik üben<br />
wollte an dem neu auftauchenden naturwissenschaftlichen Positivismus<br />
und Rationalismus, die damals ihre Flügel zu regen begannen. Ende <strong>der</strong><br />
Zwanzigerjahre begann ja mit <strong>der</strong> Wöhlerschen Entdeckung und mit <strong>der</strong><br />
Entdeckung <strong>der</strong> Zellstruktur <strong>der</strong> Organismen <strong>der</strong> Sieg des<br />
wissenschaftlichen Positivismus über die naturphilosophische<br />
Betrachtungsweise eines SCHELLING, CARUS, HUMBOLDT und auch<br />
Goethe; ein Sieg, <strong>der</strong> bekanntlich <strong>im</strong> ganzen 19. Jahrhun<strong>der</strong>t und fast<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 174<br />
bis auf unsere Tage sich so vollständig behauptete, daß eine<br />
philosophische Betrachtungsweise <strong>der</strong> Natur bei den Naturforschern<br />
strenger Observanz durchaus verpönt war.<br />
Goethe distanzierte sich von <strong>der</strong> neu aufkommenden Geistesrichtung.<br />
Ein auf die Spitze getriebener Rationalismus war ihm in <strong>der</strong> Religion<br />
wie auch in <strong>der</strong> Wissenschaft fatal und unsympathisch, er schien ihm<br />
gefährlich zu sein und darum glaubte er, vor ihm warnen zu müssen.<br />
Wie das Aufkommen und Umsichgreifen des Maschinenwesens Goethe<br />
schwere soziale Sorgen bereitete, so erblickte er in dem<br />
wissenschaftlichen Rationalismus eine einseitige Entwicklung, <strong>der</strong> die<br />
sittliche Entwicklung nicht Schritt halten konnte, so daß ihm <strong>der</strong> so viel<br />
gepriesene Fortschritt als fragwürdig erschien. Goethe war nicht<br />
fortschrittsgläubig in landläufigem Sinn. Der Goethesche Homunkulus<br />
kann zwar nur in <strong>der</strong> Phiole existieren und die rauhe Außenwelt darf<br />
nicht mit ihm in Berührung kommen. Aber eine völlig neue Perspektive,<br />
ein in seinen Folgen unübersehbares Problem eröffnet sich dem<br />
Menschengeschlecht: Die künstliche Darstellung des Menschen macht<br />
die Zeugung überflüssig:<br />
So flüstert Wagner dem Mephisto zu [V. 6838]:<br />
Behüte Gott! wie sonst das Zeugen Mode war,<br />
Erklären wir für eitel Possen.<br />
Der zarte Punkt, aus dem das Leben sprang,<br />
Die holde Kraft, die aus dem Innern drang<br />
Und nahm und gab, best<strong>im</strong>mt, sich selbst zu zeichnen,<br />
Erst Nächstes, dann sich Fremdes anzueignen,<br />
Die ist von ihrer Würde nun entsetzt;<br />
Wenn sich das Tier noch weiter dran ergetzt,<br />
So muß <strong>der</strong> Mensch mit seinen großen Gaben<br />
Doch künftig reinern, höhern Ursprung haben. …<br />
Was man an <strong>der</strong> Natur Gehe<strong>im</strong>nisvolles pries, [V. 6857]<br />
Das wagen w i r verständig zu probieren,<br />
Und was s i e sonst organisieren ließ,<br />
Das lassen w i r kristallisieren.―<br />
Das geglückte Retortenexper<strong>im</strong>ent droht die Geschlechtsliebe, jenen<br />
mächtigsten Hebel <strong>im</strong> menschlichen Getriebe, wie Goethe sie einmal<br />
nennt, zu entthronen. Aber die Natur erweist sich dem künstlichen<br />
Gebilde doch überlegen. An dem Muschelwagen Galatheas, <strong>der</strong><br />
Vertreterin Aphrodites, <strong>der</strong> Göttin <strong>der</strong> Liebe, zerschellt die Phiole des<br />
Homunkulus unter Flammen und Blitzen, während die Göttin gelassen<br />
ihres Weges weiterzieht. Die Sirenen aber begleiten die Katastrophe mit<br />
einem ergreifenden Chorgesang, dessen Schlußworte lauten:<br />
So herrsche denn Eros, <strong>der</strong> alles begonnen! (V. 8479].<br />
In solch wun<strong>der</strong>vollen Gleichnissen zeigt Goethe, wie die Hybris, die<br />
Überheblichkeit des Menschen, nicht dauernd bestehen kann gegenüber<br />
dem ruhigen Walten <strong>der</strong> ewigen Natur. Uns heutigen Menschen muß die<br />
Weisheit des Dichters ganz beson<strong>der</strong>s zu denken geben. Die<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 175<br />
exper<strong>im</strong>entelle Physik und Chemie ist es in unseren Tagen gelungen,<br />
Atomkräfte, die die Natur so lange und so sorgfältig vor den Menschen<br />
behütet hatte, zu entfesseln. Die große schicksalhafte Frage lautet heute<br />
für uns: Ist die Menschheit sittlich reif genug, um die unvorstellbare<br />
Macht, die ihr in die Hand gegeben ist, nicht zu mißbrauchen?―<br />
In den neueren beiden großen Faust-Kommentaren von 1999 ist<br />
inzwischen <strong>der</strong> Hinweis auf die <strong>im</strong> Jahre 1828 gelungene<br />
Harnstoffsynthese durch WÖHLER aufgenommen worden (Albrecht<br />
SCHÖNE und Ulrich GAIER). Bemerkenswert, was SCHÖNE dazu noch<br />
schreibt:<br />
Das auf halbem Weg steckenbleibende ’Wöhlersche’ Exper<strong>im</strong>ent<br />
Wagners aber verlangt nun eine <strong>im</strong> ursprünglichen Plan gar nicht<br />
vorgesehene Fortsetzung, die man mit einigem Recht als<br />
’prädarwinistisch’ bezeichnen kann. Sie wird in den Felsbuchten des<br />
Aegäischen Meers beginnen. Mit den Versen 8347-8487, die dieser<br />
schon abgeschlossenen Szene <strong>im</strong> Dezember 1830 [sic!] nachträglich<br />
noch angefügt wurden. Dort erst wird die Phiole zerbrechen und wird<br />
Wagners ’kristallisierter’ Homunkulus in das Element sich auflösen, aus<br />
dem das organische Leben hervorgegangen ist. Thales V. 8324:<br />
Da regst du dich nach ewigen Normen,<br />
Durch tausend abertausend Formen,<br />
Und bis zum Menschen hast du <strong>Zeit</strong>.<br />
□<br />
Es sei hier nun noch eine „Zwischenbetrachtung“ eingeschoben:<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
5.6 Der junge Goethe als Alchemist,<br />
die wohl gerade an dieser zeitlichen Übergangsphase unsres „Chemie-<br />
Stammbaumes― zwischen Alchemie und mo<strong>der</strong>ner Chemie passend ist.<br />
Erwähnt doch Goethe selbst die Namen [Chemie-] Stammbaum,<br />
„Basilius VALENTINUS“ und van HELMONT in einem<br />
Zusammenhang als Stammbaum-„Elemente― ! In seiner großen<br />
Lebensbeschreibung „Dichtung und Wahrheit― (II. Teil, 8. Buch) heißt es:<br />
„Ich schaffte das Werk an, das, wie alle Schriften dieser Art, seinen<br />
Stammbaum in gera<strong>der</strong> Linie bis zur Neuplatonischen Schule verfolgen<br />
konnte.[…] Gedachtes Werk erwähnt seiner Vorgänger mit vielen Ehren,<br />
und wir wurden daher angeregt jene Quellen selbst aufzusuchen. Wir<br />
wendeten uns nun an die Werke des Theophrastus PARACELSUS<br />
und Basilius Valentinus; nicht weniger an HELMONT, STARKEY und<br />
an<strong>der</strong>e, <strong>der</strong>en mehr o<strong>der</strong> weniger auf Natur und Einbildung beruhende<br />
Lehren und Vorschriften wir einzusehen und zu befolgen suchten.― Bei<br />
dem Werk handelt es sich um – wie Goethe zuvor erwähnt – um<br />
WELLINGs „Opus mago-cabbalisticum―, darinnen <strong>der</strong> Ursprung,<br />
Natur, Eigenschaften und Gebrauch des Salzes, Schwefels und<br />
Mercurii in dreyen Theilen beschrieben und nebst sehr vielen<br />
son<strong>der</strong>baren mathematischen, theosophischen, magischen und<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 176<br />
mystischen Materien, auch die Erzeugung <strong>der</strong> Metallen und<br />
Mineralien, aus dem Grunde <strong>der</strong> Natur erwiesen wird; samt […]<br />
vielen curieusen mago-cabbalistischen Figuren von Georg von<br />
WELLING (1652-1727). Das Werk war in <strong>der</strong> Ausgabe Frankfurt a. M.<br />
1760 in Johann Caspar GOETHEs Bibliothek vorhanden.<br />
Möglicherweise ist es dasselbe Exemplar, das sich heute noch in<br />
Goethes We<strong>im</strong>arer Bibliothek befindet und das er vor allem für die<br />
Eingangsszenen des Faust benutzte. – (nach <strong>der</strong> wohlfeilen Reclam-<br />
Ausgabe von Goethes „Dichtung und Wahrheit― von 1991,<br />
herausgegeben und ausführlich kommentiert von Walter HETTCHE ).<br />
Das weitere mag <strong>der</strong> wißbegierige Leser selbst nachlesen – er wird<br />
kaum enttäuscht sein, und dann manches aus den Studierz<strong>im</strong>mer-<br />
Szenen des Faust I und <strong>der</strong> Laboratoriums-Szene des Faust II noch<br />
verständnisvoller wie<strong>der</strong>erleben.- Es sei an dieser Stelle nur ein kleiner<br />
Auszug aus dem Büchlein „Goethe als Chemiker und Techniker― (1932)<br />
von Prof. Dr. chem. Paul WALDEN, 1863-1957, gebracht, Goethe-<br />
Verehrer und namhafter Chemiker (Schüler von Chemie-<br />
Nobelpreisträger Wolfgang OSTWALD und Entdecker des Struktur-<br />
Phänomens WALDEN’SCHE Umkehr). In seiner interessanten<br />
Autobiographie „Wege und Herbergen― (erst 1974 als Veröffentlichung<br />
<strong>der</strong> Deutschen Gesellschaft für Geschichte <strong>der</strong> Medizin,<br />
Naturwissenschaft und Technik als Heft 13 herausgegeben) bekennt<br />
Paul WALDEN:<br />
„Die tiefsten Eindrücke, die ich in meinem Leben von Büchern<br />
empfangen konnte, kamen von Goethe. Er sagt u. a.: „Es ist sehr zu<br />
wünschen, daß … SENCKENBERGs Wille in Erfüllung gehen möchten,<br />
<strong>der</strong> die Wichtigkeit <strong>der</strong> Chemie zu würdigen wußte und sie in einem<br />
angewiesenen Lokal in dem Stiftshause betrieben wissen wollte, um so<br />
mehr da diese Wissenschaft in unseren Tagen beinahe alle hinter<br />
sich läßt.“ Diese Worte setzten sich in mir fest, führten mich zu<br />
intensiven Nachdenken, steigerten mein Interesse schließlich bis zu<br />
einer Art von Besessenheit. Plötzlich lag mir mein Weg klar vor Augen,<br />
und ich entschied mich für die Chemie.― – In seinem famosen Büchlein<br />
„Goethe als Chemiker und Techniker―, das hier wärmstens zum Lesen<br />
empfohlen wird, schreibt er also <strong>im</strong> I. Kapitel „Wie kam Goethe in die<br />
Chemie hinein?―:<br />
„Im Herbst 1765 wird <strong>der</strong> Sechzehnjährige auf Wunsch des Vaters<br />
zum Studium <strong>der</strong> Rechtswissenschaft nach Leipzig geschickt. Dem<br />
Jüngling behagt we<strong>der</strong> das Rechtsstudium noch die Universität, wohl<br />
aber findet er eine ihm zusagende und ihn bildende Tischgesellschaft,<br />
aus Medizinern und Naturwissenschaftlern bestehend. Infolge eines<br />
Sturzes mit dem Pferde, eines recht unregelmäßigen Lebens und einer<br />
falschen Diät wacht er in einer Nacht (Juni 1768) mit einem heftigen<br />
Blutsturz auf und „… schwankte mehrere Tage zwischen Leben und<br />
Tod― („Dichtung und Wahrheit―, II. Teil, 8. Buch). Nachdem er sich etwas<br />
erholt hat, tritt er (<strong>im</strong> September 1768) die He<strong>im</strong>reise nach Frankfurt an.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 177<br />
Hier ist es nun, wo er (vom September 1768 bis März 1770) eine<br />
körperliche Genesung und eine innerliche Wandlung erfährt. Seine<br />
Mutter ("Frau Aja") zieht ihn während <strong>der</strong> langwierigen Krankheit in<br />
einen mystisch-alchemistischen Kreis, dem auch ein Fräulein<br />
[Susanna] von KLETTENBERG und <strong>der</strong> Hausarzt [Dr. Johann Friedrich<br />
METZ, 1721-1782] – <strong>der</strong> ebenfalls „unter die abgeson<strong>der</strong>ten Frommen―<br />
gehörte – angehörten. Es werden magisch-kaballistische Werke<br />
gemeinsam gelesen. (WELLING, PARACELSUS, die Alchemisten<br />
BASIL[IUS] VALENTINUS, van HELMONT, STARKEY; die „Aurea<br />
Catena Homeri―). Beson<strong>der</strong>s zog ihn die „Aurea Catena Homeri― an, weil<br />
in ihr die „Natur, wenn auch vielleicht auf phantastische Weise, in einer<br />
schönen Verknüpfung dargestellt wird― („Dichtung und Wahrheit―, II. Teil,<br />
8. Buch). Hierzu kam noch ein zweites Moment: In einem beson<strong>der</strong>s<br />
kritischen Moment seiner Krankheit, wo Goethe „unter großen<br />
Beängstigungen das Leben zu verlieren glaubte― und keine<br />
angewandten Mittel weiter etwas helfen wollten, da griff <strong>der</strong><br />
paracelsisch-alchemistische Hausarzt ein, nachdem Goethes Mutter in<br />
ihrer Sorge mit beson<strong>der</strong>em Ungestüm ihn um die gehe<strong>im</strong>nisvolle<br />
Universalmedizin gebeten hatte: nach langem Wi<strong>der</strong>stand eilte er tief in<br />
<strong>der</strong> Nacht nach Hause und kommt „mit einem Gläschen kristallisierten<br />
trockenen Salzes zurück, welches, in Wasser aufgelöst, von dem<br />
Patienten verschluckt wurde. – Das Salz war kaum genommen, so<br />
zeigte sich eine Erleichterung des Zustandes, und von dem Augenblick<br />
an nahm die Krankheit eine Wendung, die stufenweise zur<br />
Verbesserung führte― und eine allmähliche Genesung brachte.<br />
(„Dichtung und Wahrheit―, II. Teil, 8. Buch.) So schil<strong>der</strong>te Goethe noch<br />
nach 42 Jahren (1811) diese seine Errettung durch ein (alkalisch<br />
schmeckendes) chemisches Salzpräparat. Werden wir es nicht als<br />
selbstverständlich empfinden, daß diese an ein Wun<strong>der</strong> grenzende<br />
Heilung durch die Wirkung eines chemischen Mittels aus <strong>der</strong> Hand eines<br />
alchemistischen, mit Gehe<strong>im</strong>tuerei sich umgebenden Arztes Goethes<br />
Gemüt aufs tiefste ergriff, seinem Geiste den Glauben o<strong>der</strong> die<br />
Erinnerung an das Mystische <strong>der</strong> Alchemie und Chemie dauernd<br />
einprägte und ihn in <strong>der</strong> Folgezeit in seinem Schaffen beeinflußte? Soll<br />
ich daran erinnern, daß diese Lehre des PARACELSUS, das Magische,<br />
Kabbalistische und Alchemistische als geistiges Erbgut<br />
hinübergegangen sind in Goethes Dichtungen: „Der Großkophta―<br />
(1790/91), „Cagliostros Stammbaum― (1792) und insbeson<strong>der</strong>e in<br />
Faust (I. Teil begonnen 1797, II. Teil versiegelt 1831)! Wie fest diese<br />
Beschäftigung mit <strong>der</strong> Alchemie in Goethes Gedächtnis Wurzeln gefaßt<br />
hatte, ersehen wir z. B. aus <strong>der</strong> Äußerlichkeit, daß – als er an seinem<br />
82. Geburtstag (28. August 1831) in seinem Tagebuch den<br />
Quecksilberstand <strong>im</strong> Barometer notiert, er für Quecksilber das Zeichen<br />
[♀] Zeichen hinschreibt: „♀ Höhe 26.7,6 Morgens 5 Uhr―.<br />
Neben dieser seelischen und physischen Tiefenwirkung von Alchemie<br />
und Chemie auf den 20jährigen phantasiereichen Jüngling ist noch ein<br />
dritter Faktor zu erwähnen, <strong>der</strong> ebenfalls seine chemische Denkweise<br />
dauernd beeinflußte. Eine Folgewirkung <strong>der</strong> Genesung war, daß sein<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 178<br />
Interesse für Chemie und chemische Praxis geweckt war: Er begann<br />
sogleich <strong>im</strong> Giebelz<strong>im</strong>mer seines Elternhauses eigenhändig und<br />
selbständig chemische Versuche auszuführen; er schreibt selbst, daß<br />
er alsbald daranging, sich „einen kleinen Apparat zuzulegen, ein<br />
Windöfchen mit einem Sandbade war zubereitet, ich lernte sehr<br />
geschwind, mit einer brennenden Lunte die Glaskolben in Schalen<br />
verwandeln, in welchen die verschiedenen Mischungen abgeraucht<br />
werden sollten― […] „vor allem suchte man Mittelsalze auf eine unerhörte<br />
Art hervorzubringen―. Neben diesen praktischen chemischen Arbeiten <strong>im</strong><br />
Elternhause treibt Goethe auch das theoretische Studium <strong>der</strong><br />
Chemie, indem er „BOERHAAVEs systematische Compendium<br />
„Elementa chemia― (1732) und „Aphorismen― durcharbeitet. Als er nun<br />
<strong>im</strong> Frühjahr 1770 zur Fortsetzung seiner juristischen Studien die<br />
Universität Straßburg bezieht, da hört er zugleich Anatomie bei<br />
LOBSTEIN und Chemie bei SPIELMANN; er n<strong>im</strong>mt sich vor, „recht<br />
fleißig zu sein, weil ich bei unserer Sozietät (d. h. Tischgesellschaft, die<br />
meist aus Medizinern bestand) durch meine wun<strong>der</strong>lichen Vor- o<strong>der</strong><br />
vielleicht Überkenntnisse schon einiges Ansehen und Zutrauen<br />
erworben hatte― („Dichtungen und Wahrheit― II. Teil, 9. Buch). Da Prof.<br />
SPIELMANN seine Vorlesungen und Demonstrationen in seiner<br />
Apotheke abhielt, so dürfen wir wohl annehmen, daß <strong>der</strong><br />
fleißigseinwollende Goethe bei dem viel gerühmten Chemielehrer<br />
manches Neue und Nützliche gehört und gesehen haben wird. Sei es<br />
nun, daß diese chemischen Vorlesungen ihn mit beeinflußt haben,<br />
jedenfalls untern<strong>im</strong>mt er <strong>im</strong> Mittsommer 1770 einen Ausflug nach dem<br />
unteren Elsaß und nach Lothringen (Saarbrück, Duttweiler usw.). Über<br />
diesen Landstrich sagt er („Dichtung und Wahrheit―, II. Teil, 10. Buch):<br />
„Hier wurde ich nun eigentlich in das Interesse <strong>der</strong> Berggegenden<br />
eingeweiht, und die Lust zu ökonomischen und technischen<br />
Betrachtungen, welche mich einen großen Teil meines Lebens<br />
beschäftigt haben, zuerst erregt. Wir hörten von den reichen Duttweiler<br />
Steinkohlengruben, von Eisen- und Alaunwerken, ja sogar von einem<br />
brennenden Berg, und rüsteten uns, diese Wun<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Nähe zu<br />
bestaunen.― Alles wird genau besehen, auch eine Sensenschmiede und<br />
ein Drahtzug werden besucht, nach <strong>der</strong> Gewinnung und Reinigung des<br />
Alauns wird gefragt, <strong>der</strong> brennende Berg mit seinem Schwefelgeruch<br />
wird bewun<strong>der</strong>t, eine Glashütte, sowie die Eisenschmelzhütten<br />
werden bestaunt, die Steinkohlenvorkommen und die Verarbeitung <strong>der</strong><br />
Steinkohlen eingehend studiert! Dort wurden in einer Reihe von Öfen die<br />
Steinkohlen abgeschwefelt und zum Gebrauch in Eisenwerken tauglich<br />
gemacht, gleichzeitig sollten auch Öl und Harz sowie Ruß (also eine<br />
richtige Steinkohlendestillation!) gewonnen werden. Dort lernte er auch<br />
einen eigenartigen, in <strong>der</strong> Praxis stehenden „angewandten― Chemiker,<br />
Erfin<strong>der</strong> und Fabrikdirektor erstmalig kennen. Nach vier Jahrzehnten<br />
schil<strong>der</strong>t uns Goethe das Los eines solchen Vertreters <strong>der</strong> angewandten<br />
Chemie um 1770: es ist Herr STAUF, ein „Philosophus per ignem―, <strong>der</strong><br />
(<strong>im</strong> Saargebiet) zwischen Bergen und Wäl<strong>der</strong>n, inmitten von<br />
Kohlenflözen und rauchenden Alaunschiefern sich angesiedelt hat: „Er<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 179<br />
gehörte unter die Chemiker jener <strong>Zeit</strong>, die, bei einem innigen Gefühl<br />
dessen, was mit Naturprodukten alles zu leisten wäre, sich in einer<br />
abstrusen Betrachtung von Kleinigkeiten und Nebensachen gefielen und<br />
bei unzulänglichen Kenntnissen nicht fertig genug dasjenige zu leisten<br />
verstanden, woraus eigentlich ökonomischer und merkantiler Nutzen zu<br />
ziehen ist […] Bereitwillig und froh, seine Klagen einem menschlichen<br />
Ohr mitzuteilen, schleppte sich das hagere abgelebte Männchen in<br />
einem Schuh und einem Pantoffel, herabhängenden, vergebens<br />
wie<strong>der</strong>holt von ihm heraufgezogenen Strümpfen den Berg hinauf, wo die<br />
Harzhütte steht, die er selbst errichtet hat um nun verfallen sieht.―<br />
(„Dichtung und Wahrheit―, 10 Buch.) Dieses Bild eines chemischtechnischen<br />
Erfin<strong>der</strong>s aus dem Saargebiet soll durch das gleichzeitige<br />
Bild eines Universiätschemikers aus Erfurt ergänzt werden. An <strong>der</strong><br />
dortigen Universität gab es (1754) auch ein „Laboratorium Chymicum―,<br />
dessen Leiter JAEGER hieß. Wohl laborierte er fleißig an <strong>der</strong> Erfindung<br />
des goldmachenden „Labis philosophorum―, doch dessen Gold blieb aus<br />
und die irdische Not zog ein: er ging ohne Strümpfe nur in Stiefeln<br />
einher.<br />
Sinnend und vergleichend stehen wir vor diesen Schicksalsbil<strong>der</strong>n,<br />
aus <strong>der</strong> guten alten <strong>Zeit</strong> vor 150 Jahren [jetzt sind es über 250Jahre] ,<br />
wo es den Chemikern und Erfin<strong>der</strong>n so gleichmäßig schlecht ging.<br />
Sollten wir Gegenwartsmenschen – auch trotz aller Not – es nicht<br />
besser und wohnlicher in <strong>der</strong> Welt haben?―<br />
An an<strong>der</strong>er Stelle sagt WALDEN: „Wenn man sagt, daß <strong>der</strong> junge<br />
Werther (Leiden des jungen Werther, 1774) Goethe berühmt gemacht<br />
habe, so möchte man behaupten, daß Goethe die vielgeschmähte<br />
Alchemie rehabilitiert, durch seine Dichtung „Faust― unsterblich gemacht<br />
und mit einem poetischen N<strong>im</strong>bus umkleidet hat. Die alten<br />
Menschheitsträume – vom goldwandelnden Stein <strong>der</strong> Weisen, von <strong>der</strong><br />
Universalmedizin, die alle Krankheiten heilt und Verjüngung schafft, von<br />
<strong>der</strong> Palingenesie (<strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>geburt <strong>der</strong> Pflanzen u. ä. aus <strong>der</strong> Asche)<br />
bis hinan zu dem Homunculus – sie gehören ja zu den Requisiten <strong>der</strong><br />
Alchemie und Jatrochemie und werden verklärt weiterleben, solange das<br />
Faustdrama Goethes die Kulturmenschen packt und erhebt.―<br />
Soweit Paul WALDEN (um 1932) über Goethe und die Alchemie. Be<strong>im</strong><br />
Lesen von Goethes Krankenbericht in „Dichtung und Wahrheit― mag<br />
mancher sich fragen, was es wohl für ein „weißes Wun<strong>der</strong>mittel―<br />
gewesen sein könnte? Prof. Dr. Georg SCHWEDT, TU Clausthal,<br />
Verfasser des Buches „Goethe als Chemiker― (1998) schreibt hier dazu:<br />
„Die Beschreibung Goethes – kristallisiertes Salz, gut löslich in Wasser,<br />
alkalischer Geschmack -, alle drei Kriterien sprechen für ein Mineralsalz<br />
wie z. B. das Glaubersalz (Natriumsulfat). GLAUBERs Wun<strong>der</strong>salz<br />
wurde <strong>im</strong> 18. Jahrhun<strong>der</strong>t als Sal mirabile Glauberi (seit 1680) mit den<br />
Wirkungen als Laxans (Abführmittel) und auch als Diuretikum<br />
(harntreibendes Mittel) in den amtlichen Arzneibüchern (Pharmakopoen)<br />
aufgeführt. Johann Rudolf GLAUBER (geb. Karlsbad am Main 1604,<br />
gest. Amsterdam 1670) hat es erstmals beschrieben, hergestellt und<br />
auch vertrieben. Mit seiner Wirkung wurde bei Goethe auch sein<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 180<br />
Interesse für die alchemistisch-paracelsische Heilmittelchemie<br />
(Chemiatrie) geweckt.<br />
Jetzt noch eine kleine v. Klettenberg-Story, zitiert aus Georg Schwedt:<br />
"Goethe als Chemiker", die auch zur nachgefragten Nachkommenschaft<br />
etwas Aufschluß gibt: "Susanna Katharina von Klettenberg (1723-1774)<br />
war die älteste Tochter des Arztes, Ratsmitgliedes und zeitweise auch<br />
Bürgermeisters von Frankfurt Remigius Seyfart von Klettenberg (1693-<br />
1766) und mit den Textors, Goethes Vorfahren mütterlicherseits,<br />
["zugeheiratet"]verwandt (als Nichte einer Großtante Goethes) und<br />
zugleich auch eine Nichte eines berühmten betrügerischen Alchemisten,<br />
des Johann Hector von Klettenberg (1684-1720) [vermutlich Bru<strong>der</strong> von<br />
Karl Heinrich v. Kl. oo Rebecca v. Barckhausen?]. In den vornehmen<br />
Frankfurter Patrizierhäusern <strong>der</strong> Familien Goethe, Textor o<strong>der</strong> von<br />
Klettenberg dürfte man über diesen Alchemisten kaum laut gesprochen<br />
haben. Als Alchemist, unter dem Namen eines Freiherrn von Wildeck,<br />
war er zu Beginn des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts in Bremen, Mainz und schließlich<br />
in Prag tätig. Von dort gelangte er 1713 nach Thüringen, wo ihn<br />
offensichtlich die Familie <strong>der</strong> Grafen von Schwarzburg (erst 1971<br />
erloschenes thüring. Adelsgeschlecht, Hauptlinien in Son<strong>der</strong>shausen<br />
und Rudolfstadt, 1909 in Personalunion verbunden, ab 1920 <strong>im</strong> Lande<br />
Thüringen aufgegangen) aufnahm, und er für den Herzog Wilhelm Ernst<br />
von Sachsen-We<strong>im</strong>ar <strong>im</strong> sächsischen Silberbergbau metallurgische<br />
Arbeiten, d. h. die Entwicklung von Scheidewasser, vorantreiben sollte.<br />
Der größere Erfolg bei den Frauen veranlaßte ihn schließlich, sich an<br />
den Hof des Kurfürsten August I. von Sachsen, genannt August <strong>der</strong><br />
Starke, in Dresden zu begeben, dem er die Kunst des Goldmachens<br />
vortäuschte. Als er dem Kurfürsten auch noch eine Verjüngungstinktur<br />
versprach, wurde er von diesem zum Kammerherrn mit tausend Talern<br />
Lohn und weiteren 3000 für ein chemisches Laboratorium ernannt. Da er<br />
keine Erfolge vorweisen konnte, nahm man ihn 1718 auf <strong>der</strong> Feste<br />
Königsstein in Haft und verurteilte ihn nach zwei mißglückten<br />
Fluchtversuchen zum Tode durch Enthaupten, <strong>der</strong> am 1. März 1720<br />
erfolgte."-<br />
Durch eine Umfrage innerhalb einer genealogischen Mailingliste und<br />
aufgrund des genealogischen Archivs des Verfassers, konnte die<br />
Verwandtschaft Susanna von KLETTENBERGs zur Goethe-<br />
Verwandtschaft noch etwas genauer festgestellt werden. Der Onkel von<br />
Goethes Mutter, Johann Nikolaus TEXTOR, [Rösch-Sig.-Nr.: (12/3)-II;5]<br />
heiratet 1737 Catharina Elisabeth v. KLETTENBERG, 1706-1756; ihr<br />
Vater: Karl Heinrich von Klettenberg (1681-1720, Hess.-Homb. Oberst-<br />
Stallmeister, Ritter des Heiligen Grabes, in Frankfurt, 1705 verheiratet<br />
mit Rebecca von BARCKHAUSEN aus Eschborn), war ein Bru<strong>der</strong> des<br />
Vaters <strong>der</strong> Susanna von KLETTENBERG, des Remigius Seyfart v.<br />
KLETTENBERG, Dr. med. Schöffe und Bürgermeister in Frankfurt,<br />
1693-1766, verheiratet 1721 mit Susanne Margarethe JORDIS, <strong>der</strong><br />
Mutter von Susanna von KLETTENBERG. Ein weiterer Bru<strong>der</strong> ihres<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 181<br />
Vaters war dieser Johann Hector von KLETTENBERG, 1684-1720, <strong>der</strong><br />
berüchtigte „Goldmacher―, den AUGUST <strong>der</strong> STARKE 1720 hinrichten<br />
ließ. Der Vater dieser 3 Brü<strong>der</strong> war Johannes Erasmus SEYF(F)ART<br />
von KLETTENBERG, 1634-1716, kaiserl. Rat, ältester Bürgermeister in<br />
Frankfurt a.M. 1696-1716, verheiratet mit Anna Katharina OLDEKOPP.<br />
Er hat durch Kauf das Gut <strong>der</strong> ausgestorbenen Familie von<br />
KLETTENBERG erworben und ist anschließend mit dem Adel von<br />
KLETTENBERG nobilitiert worden. Sein Vater war wie<strong>der</strong>um Erasmus<br />
SEIFFARTH, 1593-1664, aus Penig/Sa. gebürtig, <strong>der</strong> nach Frankfurt<br />
a.M. zog und in 2. Ehe mit Anna Maria BAUR von EYSSENECK, 1610-<br />
1665, verheiratet war.<br />
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch Goethes durchaus<br />
positive Einstellung zur Homöopathie, die Goethes <strong>Zeit</strong>genosse, <strong>der</strong><br />
aus Meißen gebürtige Arzt Samuel HAHNEMANN, 1755-1843, gerade<br />
erst entwickelt hatte. Hier dazu zwei Zeugnisse. Durch seinen Faust<br />
(Teil I, sieh oben!) übt Goethe ja zunächst scharfe Kritik am Stande <strong>der</strong><br />
damaligen Heilwissenschaft, <strong>im</strong> Teil II geht er dann schon auf die neue<br />
Heillehre <strong>der</strong> Homöopathie ein. Mephisto versetzt einer „schönen<br />
Braunen―, die ihn um eine Arznei für ihren lahmenden Fuß bittet, da er<br />
be<strong>im</strong> Tanzen hin<strong>der</strong>lich sei, einen Fußtritt:<br />
Braune:<br />
Die Menge drängt heran, Euch zu umschranzen.<br />
Ich bitt um Mittel! Ein erfrorner Fuß<br />
Verhin<strong>der</strong>t mich am Wandeln wie am Tanzen,<br />
Selbst ungeschickt beweg ich mich zum Gruß.<br />
Mephistopheles:<br />
Erlaubet einen Tritt von meinem Fuß.<br />
Braune:<br />
Nun, das geschieht wohl unter Liebesleuten.<br />
Mephistopheles:<br />
Mein Fußtritt, Kind! Hat Größres zu bedeuten.<br />
Zu Gleichem Gleiches, was auch einer litt!<br />
Fuß heilet Fuß, so ist’s mit allen Glie<strong>der</strong>n.<br />
Heran! Gebt acht! Ihr sollt es nicht erwi<strong>der</strong>n.<br />
(Faust II, V. 6329-6338, Kaiserl. Pfalz).<br />
Man hat dies freilich manchmal auch bloß ironisch gedeutet. Doch<br />
lesen wir, was Goethe am 2. 9. 1820 an Marianne von WILLEMER<br />
geschrieben hat: „[…] Theorie des Dr. Hahnemann […] Dieser lehrte<br />
nämlich: daß <strong>der</strong> millionste Teil einer angedeuteten kräftigen Arznei<br />
gerade die vollkommenste Wirkung hervorbringe und jeden Menschen<br />
zur höchsten Gesundheit sogleich wie<strong>der</strong> herstelle. […] und ich glaube<br />
jetzt eifriger als je an die Lehre des wun<strong>der</strong>samen Arztes, seitdem ich<br />
die Wirkung einer allerkleinsten Gabe so lebhaft gefühlt und <strong>im</strong>mer<br />
wie<strong>der</strong> empfinde.― Dies war gerade zu einer <strong>Zeit</strong>, als HAHNEMANN <strong>im</strong><br />
Kreuzfeuer seiner schulmedizinischen Gegner stand und die<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 182<br />
Homöopathie <strong>im</strong> November 1819 sogar in Österreich durch ein<br />
kaiserliches Dekret verboten worden war.<br />
Mephistos scherzhafte Rezepte sind Kin<strong>der</strong> desselben Humors wie die<br />
prächtigen Glossen, mit denen in <strong>der</strong> nächsten Szene Damen und<br />
Herren <strong>der</strong> Hofgesellschaft das Auftreten von Paris und Helena<br />
begleiten (V. 6453-6565).<br />
□<br />
Von „Goethe, dem Alchemisten“ nun wie<strong>der</strong> zurück zu unserem<br />
„Chemie-Stammbaum“. Es mußten Jahrtausende vergehen, bis man<br />
in <strong>der</strong> chemischen Praxis und Theorie die geistige Freiheit aufbrachte,<br />
die „Luft― aus <strong>der</strong> Aristotelischen Vier-Elemente-Lehre als<br />
Eigenschaftsträger herauszulösen und sie als ein chemisch-stoffliches<br />
Problem behandelt hat. Bevor diese Gas-Chemie am Anfang des 18.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts entstehen konnte, mußte <strong>im</strong> 17. Jahrhun<strong>der</strong>t erst einmal<br />
die stoffliche Natur <strong>der</strong> Luft erkannt werden. Solches geschah<br />
beson<strong>der</strong>s zunächst durch zwei Persönlichkeiten: Johann Baptist van<br />
HELMONT und Otto von GUERICKE, zwei bahnbrechende<br />
Naturforscher, wobei <strong>der</strong> letzte meist nur als großer Physiker und<br />
Ingenieur seiner <strong>Zeit</strong> allgemein bekannt ist. Zunächst zu<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
5.7 Johann Baptist van HELMONT, 1577-1644.<br />
Als Naturforscher, Arzt und Philosoph hat Johann Baptist van<br />
HELMONT in <strong>der</strong> nachparacelsischen Chemie Hollands und<br />
Deutschlands einen klangvollen Namen. Als Sproß alten<br />
nie<strong>der</strong>ländischen, katholischen Adels bei<strong>der</strong> Eltern wurde er <strong>im</strong> Jahre<br />
1577 in Brüssel geboren. Im 17. Lebensjahr bezog er die Universität<br />
Löwen, wo er den philosophischen Lehrkurs besuchte und Medizin,<br />
Algebra und Astronomie studierte. Zugleich beschäftigte er sich<br />
eingehend mit den Schriften des SENECA, EPIKTET und<br />
PYTHAGORAS, vor allem aber mit PARACELSUS, <strong>der</strong> in ihm<br />
reformatorische Ideen weckte. 1599 wurde van HELMONT Doktor <strong>der</strong><br />
Medizin <strong>der</strong> Universität Löwen. Von 1604-1605 weilte er in London, wo<br />
er vielgefeiert und bewun<strong>der</strong>t wurde. Auch von den Mystikern und vom<br />
Neuplatonismus hat van HELMONT viel gelernt. Im inneren Wesen war<br />
er Pess<strong>im</strong>ist und Skeptiker in stoischer Resignation und Schwermut.<br />
Nichts verbindet ihn in dieser Hinsicht mit PARACELSUS! Von London<br />
zurückgekehrt hat er in einem stillen Vorort bei Brüssel (Vilvorden) als<br />
schlichter Arzt und Gelehrter gewirkt. Er starb dort Ende des Jahres<br />
1644. Van HELMONT war auch Graf von Mérode in Vilvorden bei<br />
Brüssel.<br />
Ein künstlerisch hochinteressantes Doppelkopf-Portrait (Radierung mit<br />
Stichel übergangen) von Johann Baptist van HELMONT und seinem<br />
ebenfalls berühmten Sohn Franciscus Mercurius van HELMONT, 1644-<br />
1699, hat ein Künstler vermutlich als Titelbild für „Opus medicinae―, das<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 183<br />
Werk des Ältern, geschaffen. Es zeigt auch die Wappen jeweils aller vier<br />
Großelternfamilien des Johann Baptist van HELMONT und seiner Frau.<br />
Diese Familien – wohl alles „ebenbürtige― Adelige - seien hier<br />
aufgezählt: HELMONT, BAUW, STASSART und RENIALME sowie<br />
RANST, VILAIN, HALMALE und MÉRODE. Der strenge Charakterkopf<br />
des Vaters mit gescheiteltem kurzen Haar <strong>im</strong> Vor<strong>der</strong>grund; <strong>der</strong><br />
freundlicher blickende Sohn seitlich dahinter, mit einem Auge verdeckt,<br />
gescheitelter langer, heller Lockenpracht, die bis zur Schulter reicht.<br />
Beide Köpfe werden von den acht Familienwappen umkreist. Der Kopf<br />
des Vaters steht auf einem Dreieck, das auf <strong>der</strong> Spitze steht; <strong>der</strong> Kopf<br />
des Sohnes dagegen auf dem oberen Rand eines Kreises. Ein<br />
eigenwillig seltsam anmutendes Kunstwerk! (Abb. in Paul WALDEN:<br />
Drei Jahrtausende Chemie, 1944, s.21).<br />
********************<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 184<br />
In Fortbildung paracelsischer Naturphilosophie för<strong>der</strong>te Johann Baptist<br />
van HELMONT vor allem die chemischen Kenntnisse <strong>der</strong> Gase und<br />
lehrte die Unterscheidung des Kohlendioxides (CO 2 ) von Luft und<br />
Grubengas. HELMONT führte den Namen „Gas“ für den dritten<br />
Aggregatzustandes in die chemische Sprache ein. Den aus dem<br />
Griechischen stammenden Sammelbegriff „Chaos“ ( = leerer Raum),<br />
den schon PARACELSUS verwendet hatte, bildete er wortlautlich um zu<br />
„Gas“.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 185<br />
HELMONTs Sohn Francis Mercuris Baron van HELMONT, 1614-1699,<br />
lehrte als Philosoph - in den Fußspuren seines Vaters wandelnd - einen<br />
Atomismus physischer und geistiger Letztelemente. Dieser Baron<br />
Francis Mercuris van HELMONT, führte ein abenteuerliches Leben an<br />
den europäischen Fürstenhöfen – er war <strong>der</strong> großen Kurfürstin SOPHIE<br />
von HANNOVER, 1630-1714, lange Jahre freundschaftlich verbunden –<br />
und führte auch lange persönliche Gespräche mit LEIBNIZ in Hannover.<br />
Von ihm soll LEIBNIZ in einem „dialektischen― Meinungsaustausch zu<br />
seiner Monadenlehre mit angeregt worden sein. Der große LEIBNIZ,<br />
auf den wir später noch in an<strong>der</strong>em Zusammenhang zu sprechen<br />
kommen, wirkte durch seine Monadenlehre auch indirekt auf die<br />
naturphilosophische Betrachtung seiner chemie-forschenden<br />
<strong>Zeit</strong>genossen. Er wird dafür „verantwortlich― gemacht, daß seine geistige<br />
Monadenlehre die sog. „chemische Phlogistonlehre― von Georg Ernst<br />
STAHL, 1660-1734, - von <strong>der</strong>en Basis aus fast alle jetzt nachfolgenden<br />
mo<strong>der</strong>nen Chemie-Begrün<strong>der</strong> ihre weiteren Entdeckungen machten -<br />
zulange naturphilosophisch unterstützt habe und damit den letzten<br />
Durchbruch zum mo<strong>der</strong>nen Verständnis <strong>der</strong> chemischen Basisvorgänge,<br />
<strong>der</strong> Oxydation und <strong>der</strong> Reduktion, gehemmt haben. Im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
scheinen sich aber wie<strong>der</strong> durchaus Brücken von <strong>der</strong> korpuskularatomistischen<br />
zur „geistig-energetischen― Betrachtung <strong>der</strong> Materie<br />
(Quantenphysik; Doppelbild: Materie-Wellen-Theorie) anzubahnen,<br />
womit möglicherweise LEIBNIZ’ Philosophie seiner <strong>Zeit</strong> nur einfach zu<br />
weit voraus war.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
5.8 Joach<strong>im</strong> JUNGIUS, 1587-1657<br />
Als Überleitung zur Chemie-Geschichte sei <strong>der</strong> lange <strong>Zeit</strong> völlig<br />
übersehene bedeutende Chemie-Theoretiker Joach<strong>im</strong> JUNGIUS<br />
genannt, <strong>der</strong> als Joach<strong>im</strong> JUNGE in Lübeck am 21. Okt. 1587 in einer<br />
Professorenfamilie geboren wurde. Wir folgen hier einem Abschnitt aus<br />
Paul WALDENs Buch: Drei Jahrtausende Chemie (1944), wo er<br />
zunächst die Situation während und nach dem 30-jährigen Krieg<br />
schil<strong>der</strong>t:<br />
„So wird <strong>der</strong> Krieg als <strong>der</strong> Zerstörer alter Kulturwerte zugleich<br />
Schöpfer neuer Formen des Kulturlebens, die gewaltsamen Eingriffe in<br />
den deutschen Staats- und Volksorganismus durch die fremdländischen<br />
Kriegsmächte wecken in dem deutschen Volk die latenten geistigen<br />
Abwehrkräfte, die zur allmählichen Gesundung und zu neuen<br />
Leistungen hinüberleiten. Aus den Kreisen <strong>der</strong> praktischen Chemie<br />
treten Männer hervor – ein GLAUBER, BECHER, KUNCKEL -, die durch<br />
Wort und Tat neue Wege weisen. Die chemische Theorie empfängt<br />
eine neue Ausrichtung durch die Atomistik eines SENNERT und<br />
JUNGIUS, durch die Phlogistontheorie eines BECHER und STAHL. Der<br />
große Denker und Mathematiker Gottfr. Wilh. LEIBNIZ (1646-1716), <strong>der</strong><br />
einer „mönchischen, in leeren Gedanken und Grillen befangenen<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 186<br />
Gelehrsamkeit― <strong>der</strong> Universitäten seine Geringschätzung bezeugt, die<br />
Substanz als lebendige Aktivität auffaßt und eine Vielheit<br />
substanzieller Einzelwesen o<strong>der</strong> Monaden postuliert, sowie die<br />
Differential- und Integralrechnung (um 1675, unabhängig von NEWTON)<br />
erfindet, verkündet seine Lehre von <strong>der</strong> Harmonie zwischen dem<br />
physischen Reich <strong>der</strong> Natur und dem moralischen Reich <strong>der</strong> Gnade.―<br />
Paul WALDEN ist es vor allem, <strong>der</strong> Joach<strong>im</strong> JUNGIUS aus<br />
jahrhun<strong>der</strong>telanger Vergessenheit wie<strong>der</strong> ans Licht gebracht hat, um<br />
seine großen Verdienste für die Chemie aus seinen Schriften zu<br />
würdigen. Der Chemie-Historiker Georg LOCKEMANN faßt JUNGIUS’<br />
Lebenslauf kurz zusammen: „In Lübeck [1587] geboren, studiert er in<br />
Rostock zunächst Philosophie und Mathematik, erhielt bereits mit 22<br />
Jahren einen Lehrstuhl <strong>der</strong> Mathematik an <strong>der</strong> Universität Gießen, den<br />
er nach fünf Jahren wie<strong>der</strong> aufgab, um sich nach längerem Aufenthalt in<br />
Augsburg und Lübeck dem Studium <strong>der</strong> Medizin wie<strong>der</strong>um in Rostock<br />
zu widmen und schließlich 1619 in Padua zum Dr. med. zu<br />
promovieren. Als Arzt war er in Lübeck und Rostock tätig; er gründete<br />
eine gelehrte Gesellschaft die „Societas ereunetica―, und wurde 1623<br />
Professor <strong>der</strong> Ethik und Mathematik in Rostock, zwei Jahre später als<br />
Professor <strong>der</strong> Medizin nach Helmstedt berufen. Nach dieser<br />
wechselvollen Tätigkeit wurde er 1628 zum Rektor des Gymnasiums<br />
Johanneum in Hamburg ernannt, welchen Posten er bis zu seinem<br />
Tode fast 30 Jahre lang innegehabt hat. Am 23. Sept. 1657 ist er dort<br />
gestorben. Von einer umfassenden naturwissenschaftlichen Bildung –<br />
auch als Botaniker hat er Grundlegendes geleistet, indem er die<br />
Begriffe von Art und Gattung aufstellte und die, später von LINNÉ<br />
weiterentwickelte Kunstsprache begründet – war er ein schroffer Gegner<br />
<strong>der</strong> Scholastiker. Von LEIBNIZ wurde er Männern wie COPPERNICUS<br />
und GALILEI an die Seite gestellt.―<br />
Meine LEIBNIZ-Recherchen ergaben nun tatsächlich, daß sich<br />
LEIBNIZ schon als 32-jähriger von Celle aus mit einem Werk von<br />
JUNGIUS beschäftigt hat, das erst 21 Jahre nach dessen Tode <strong>im</strong> Jahre<br />
1678 erschien war. Diese Veröffentlichung „Harmonica et phytoscopica<br />
scripta― las LEIBNIZ nicht nur, son<strong>der</strong>n schrieb sogar <strong>im</strong> Jahre des<br />
Erscheinens eine Rezension darüber und bemüht sich darin um die<br />
Erhaltung des Nachlasses „dieses Mathematikers und Philosophen―. Nur<br />
wenige Tage vor seiner großen, fast 3-jährigen Reise nach<br />
Süddeutschland, Österreich und Italien machte sich LEIBNIZ <strong>im</strong> Oktober<br />
1687 aus einem an<strong>der</strong>en Werk von JUNGIUS einen schriftlichen<br />
Auszug, und zwar aus „Logica Hamburgensis―, das <strong>im</strong> Jahre 1681<br />
erschienen war. Zwei Jahre nach seiner Rückkehr aus Italien<br />
verhandelte LEIBNIZ 1692 abermals mit dem Hamburger Mathematiker<br />
Augustin VAGETIUS (+ 1706) über den Nachlaß von J. JUNGIUS.-<br />
*******************<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 187<br />
Geben wir nochmals WALDEN das Wort: „Eine Son<strong>der</strong>stellung n<strong>im</strong>mt<br />
als Vorkämpfer <strong>der</strong> atomistischen Lehre Joach<strong>im</strong> JUNGIUS (1587-<br />
1657) ein. […] Als Gelehrter, und zwar als Philosoph und Mathematiker,<br />
erfreute er sich <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Wertschätzung eines LEIBNIZ, als<br />
Botaniker <strong>der</strong>jenigen eines GOETHE, <strong>der</strong> ihn gleichsam entdeckte.<br />
[Goethe veröffentlichte als eines seiner letzten Schriften <strong>im</strong> Jahre 1831,<br />
also ein Jahr vor seinem Tode: „Leben und Verdienste des Doctor<br />
Joach<strong>im</strong> JUNGIUS, Rectors zu Hamburg“, das nur in den größten<br />
Goethe-Werksausgaben, zu finden ist. AR.]. In Hamburg (seit 1629) als<br />
Professor und Rektor des Johanneums und des Akademischen<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 188<br />
Gymnasiums tritt er 1642 in zwei Dissertationen mit einer<br />
Neubegründung <strong>der</strong> Atomistik Demokrits und einer Definition des<br />
Begriffs chemischer Elemente hervor (also zwei Jahrzehnte vor<br />
Robert BOYLE, [sic!]), gleichzeitig bekämpft und verwirft er die „tria<br />
pr<strong>im</strong>a― Salz, Schwefel und Mercurius <strong>der</strong> Iatrochemiker, lehnt die<br />
Umwandlung eines Metalles in ein an<strong>der</strong>es Metall ab, und ebenso<br />
verneint er die Ansicht, daß die bei <strong>der</strong> Verbrennung o<strong>der</strong> etwa durch<br />
Destillation und dgl. erhaltenen Stoffe ursprüngliche Bestandteile<br />
(Prinzipien) z. B. des Holzes usw. sind. Durch den Begriff<br />
„Metasyncrisis― (= Umlagerung o<strong>der</strong> Umordnung <strong>der</strong> Teile) n<strong>im</strong>mt er die<br />
Isomerie-Erscheinungen vorweg; er sieht bei einem Körper, „<strong>der</strong> etwa<br />
aus 4 <strong>der</strong> Art nach verschiedenen Atomen besteht― (die Atome können<br />
kugelförmig, eckig und insbeson<strong>der</strong>e von unregelmäßiger Figur sein),<br />
verschiedene Anordnungen voraus, <strong>der</strong>en Zahl noch größer wird bei<br />
einem Körper von drei D<strong>im</strong>ensionen (d. h. bei räumlicher Gruppierung)<br />
und erblickt in „<strong>der</strong> Anordnung <strong>der</strong> Atome― bzw. in <strong>der</strong> „Weite und Enge<br />
<strong>der</strong> leeren Räume zwischen den Atomen― eine <strong>der</strong> möglichen Ursachen<br />
für die Verschiedenheit <strong>der</strong> physikalischen Eigenschaften <strong>der</strong> Körper (<br />
Durchsichtigkeit, Opazität, Dichte, Dünne, Härte, Weichheit usw.). Diese<br />
o<strong>der</strong> ähnliche grundlegende Ansichten JUNGIUS vom Jahre 1642 (in<br />
Hamburg gedruckt) wurden 20 Jahre später auch von BOYLE in dessen<br />
„Sceptical Chymist― (1661) vorgebracht und dienten mit dazu, ihn als<br />
den „Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Chemie― hinzustellen. JUNGIUS hat<br />
seine Ansichten bereits 1630 in seinem erst 1662 gedruckten Werk<br />
„Doxoscopiae physicae minores― auseinan<strong>der</strong>gesetzt; dort wird auch <strong>der</strong><br />
‚Scheinbeweis für die Transmutation des in Kupfervitriollösung<br />
eingetauchten Eisenstückes wi<strong>der</strong>legt.― Die Rotfärbung eines blanken<br />
Eisenstabes in <strong>der</strong> Lösung von blauem Kupfervitriol erklärt er zum<br />
ersten Male dadurch richtig, daß die „Atome des Kupfers an die Stelle<br />
<strong>der</strong> Atome des Eisens treten―. Er betont auch die Bedeutung <strong>der</strong> Waage<br />
zur Feststellung <strong>der</strong> Gewichtsverhältnisse bei den chemischen<br />
Vorgängen, und zwar reichlich ein Jahrhun<strong>der</strong>t vor den Versuchen von<br />
LAVOISIER um 1774! „Wenn die Gesamtheit <strong>der</strong> chemischen<br />
Verän<strong>der</strong>ungen auf dem Hinzutreten o<strong>der</strong> Austreten von Atomen bzw.<br />
Umlagerung des so gebildeten Atomkomplexes beruht, so folgt daraus<br />
mit Notwendigkeit, daß die Natur des einzelnen Vorganges nur mit Hilfe<br />
<strong>der</strong> Waage erkannt werden kann― (Jungius).<br />
Überblickt man die Fülle <strong>der</strong> von JUNGIUS entwickelten Begriffe und<br />
Folgerungen, so kann man nicht umhin, ihn als einen <strong>der</strong> ersten<br />
Bahnbrecher in <strong>der</strong> wissenschaftlichen bzw. theoretischen Chemie<br />
zu bezeichnen. Er war seiner <strong>Zeit</strong> um Jahrhun<strong>der</strong>te voraus, denn die<br />
praktischen Chemiker als seine <strong>Zeit</strong>genossen lasen und kannten nicht<br />
seine Werke, während die Alchemisten-Goldmacher ihn als Gegner von<br />
vornherein ablehnen mußten. Es war eine tiefe Tragik, größer für die<br />
Entwicklung <strong>der</strong> Chemie als für den Ruhm von JUNGIUS, daß seine<br />
Lehren auch in <strong>der</strong> Folgezeit den Chemikern unbekannt blieben; da, wo<br />
er 1642 aufgehört hatte, begann man erst um 1800 wie<strong>der</strong><br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 189<br />
weiterzubauen, indem man die Atomtheorie (DALTON 1803ff.) und<br />
Elementenlehre in die Oxydationstheorie LAVOISIERs einbaute und<br />
1830 zum Isomeriebegriff (BERZELIUS) gelangte― (WALDEN).<br />
Erst durch Otto von GUERICKEs berühmte späteren Versuche, ein<br />
Vakuum herzustellen, kam man schließlich zu ganz neuen<br />
Erkenntnissen über die „antike― Luft als eines <strong>der</strong> aristotelischen Vier-<br />
Einzel-Elemente! „Chemisch gesehen ergab sich, daß das unsichtbare<br />
Luftmeer uns <strong>im</strong>mer umgibt, daß wir als dessen Bewohner durch die Luft<br />
leben und unser Feuer haben, und daß man diese Luft entfernen und<br />
hinzutun, wie einen chemischen Stoff wiegen und dem Exper<strong>im</strong>ent<br />
unterwerfen kann. Dadurch, daß man den Raum luftleer machte, wurde<br />
man erst gewahr, daß die Luft überall uns umgab und wirkte.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
5.9 Otto von GUERICKE, 1602-1686<br />
Otto von GUERICKE wurde als Sproß einer hoch angesehenen<br />
Magdeburger Rats- und Patrizierfamilie am 20. November 1602 in<br />
Magdeburg als Otto GERICKE geboren. Den Namen GUERICKE mit „u―<br />
erhielt er erst 1666 aufgrund seiner Verdienste bei <strong>der</strong> Erhebung seiner<br />
Familie in den Reichsadelsstand. Sein Vater Hans GERICKE, 1555-<br />
1620, war lange Jahre <strong>im</strong> Dienste des polnischen Königs Gesandter in<br />
Moskau und Konstantinopel. Otto genoß eine sorgfältige Erziehung und<br />
studierte auf den Universitäten Leipzig (1717-1619, „Artistenfakultät―),<br />
kurze <strong>Zeit</strong> in Helmstedt und <strong>im</strong> Fachstudium Jura in Jena von 1621-<br />
1623, sowie dann in Leiden/Holland von 1623-1624 Jura und<br />
Festungsbau. Es folgten Bildungsreisen durch England und Frankreich.<br />
Im November 1625 war er wie<strong>der</strong> in Magdeburg und heiratete 1626<br />
Margaretha ALEMANN ebenfalls aus altem Patriziergeschlecht und<br />
wurde in den Rat seiner He<strong>im</strong>atstadt gewählt.<br />
1652, sieben Jahre nach dem Tode seiner ersten Frau, heiratete<br />
Otto von GUERICKE Dorothea LENTKE, die Tochter seines<br />
Amtskollegen Steffan LENTKE in Magdeburg. Über die Ahnen- und<br />
Nachkommenschaft von Otto von GUERICKE wissen wir erstaunlich<br />
viel, da sich sein Enkel Leberecht von GUERICKE, 1662-1737, eifrig mit<br />
Genealogie beschäftigt hat und sich von ihm noch eine große<br />
Ahnentafel aus den Jahren 1721-1724 von 3, 23 x 0,65 m Größe mit<br />
220 (!) farbigen Wappen erhalten hat. Im 16. und 17. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
gehörte es bei den Patizierfamilien fast zur Standesehre ein<br />
Familienwappen zu führen. Be<strong>im</strong> 48. Deutschen Genealogentag vom<br />
20. – 23. 9. 1996 in Magdeburg war die Genealogie Otto von<br />
GUERICKEs sogar das Hauptthema eines Lichtbil<strong>der</strong>vortrages <strong>der</strong><br />
sonntäglichen Festveranstaltung. Durch die gute Erforschung <strong>der</strong><br />
Nachkommenschaft Otto von GUERICKEs können heute noch viele<br />
Familienforscher ihre direkte Abstammung zu GUERICKE nachweisen.<br />
In seiner Ahnentafel lassen sich nicht weniger als 13 Bürgermeister<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 190<br />
Magdeburgs nachweisen! In einer biographischen Schrift konnte Otto<br />
von GUERICKE bereits alle 16 Urgroßeltern wie folgt aufzählen:<br />
„Werden also die 8 Ahnen/ ohne was noch weiter hinaus erwehnet/<br />
anlangende von mütterlichen Herkommen und Linie gezehlet: 1. Die<br />
von Zweydorffe. 2. Die Plauen. 3. Die von Peine. 4. Die Prallen. 5.<br />
Die von Grönehagen. 6. Die von Vechelt. 7. Die Ziegenmeyer. 8. Die<br />
Plangenmeyer.“ Es folgt dann seine väterliche Linie, die er fast mit den<br />
gleichen Worten einleitet und dann wie<strong>der</strong> aufzählt: 1. Die von<br />
Guericken. 2. Die Alemänner. 3. Die von Wansleben. 4. Die<br />
Kleinschmiede. 5. Die Feuerhacken. 6. Die von Keller. 7. Die<br />
Witteköppe. 8. Die von Emden.<br />
Otto von GUERICKE hatte nachweislich nur 3 Kin<strong>der</strong> aus erster Ehe,<br />
wovon die Tochter Anna Katharina und <strong>der</strong> Sohn Jakob Christoph jung<br />
verstarben. Nur Sohn Otto <strong>der</strong> Jüngere hatte 5 Kin<strong>der</strong> mit seiner zweiten<br />
Frau, <strong>der</strong> Hedwig von ULCKEN, woraus sich eine wachsende<br />
Nachkommenschaft durch Töchternachkommen entwickelte, <strong>der</strong><br />
patrilineare Mannesstamm aber bereits in <strong>der</strong> übernächsten Generation<br />
mit Friedrich Wilhelm von GUERICKE, 1709-1777, einem Urenkel von<br />
Otto dem Älteren, aussterben sollte. 1681 siedelte Otto von GUERICKE<br />
– angeblich wegen Pestgefahr in Magdeburg – zu seinem Sohn nach<br />
Hamburg um, wo er 1686 starb und nach <strong>der</strong> Überführung in die<br />
Magdeburger Johanniskirche in <strong>der</strong> Familiengruft ALEMAN/GUERICKE<br />
beigesetzt wurde. Otto von GUERICKEs Wappen, das sich bis vor <strong>der</strong><br />
Zerstörung <strong>im</strong> letzten Weltkrieg in <strong>der</strong> Johanniskirche befand, hat einen<br />
geteilten Schild: in <strong>der</strong> oberen Hälfte befindet sich in Blau ein<br />
wachsen<strong>der</strong> silberner Löwe, Symbol für Mut, Kraft und Standhaftigkeit,<br />
unten in Rot eine silberne Rose.<br />
Nach <strong>der</strong> Zerstörung <strong>der</strong> Stadt Magdeburg durch Tilly trat Otto von<br />
Guericke als Festungsbauingenieur in Erfurt und ab 1632 in<br />
Magdeburg in schwedische Dienste, ab 1636 bis 1646 in Magdeburg in<br />
kursächsische Dienste. 1646 wurde er nach ersten großen<br />
diplomatischen Erfolgen zu einem <strong>der</strong> vier Bürgermeister <strong>der</strong> Stadt<br />
Magdeburg gewählt. 1642 bis 1663 war er <strong>im</strong> Auftrag <strong>der</strong> Stadt in<br />
diplomatischen Missionen unterwegs; darunter fällt u. a. auch die<br />
Teilnahme an den Verhandlungen zum Westfälischen Frieden, zum<br />
Exekutionstag in Nürnberg 1649/50 und zum Reichstag in<br />
Regensburg 1653/54.<br />
******************<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 191<br />
Etwa ab 1645 stellte von GUERICKE Untersuchungen zur Pneumatik<br />
an, nachdem er durch astronomische Diskussionen zur Hypothese des<br />
horror vacui, „des Abscheus vor dem Nichts, des leeren Weltraumes―,<br />
dazu angeregt worden war und dadurch dann berühmt werden sollte.<br />
Die spektakulären „Magdeburger Halbkugel-Exper<strong>im</strong>ente“ von 1657<br />
– vorher bereits noch vereinfacht <strong>im</strong> Jahre 1654 auf dem Reichstag zu<br />
Regensburg in Anwesenheit von Kaiser Ferdinand III. – sorgten für<br />
großes europäisches Aufsehen! Zwei große aufeinan<strong>der</strong> passende<br />
Kupferhalbkugeln wurden luftleer gepumpt und anschließend sollten vor<br />
jede Halbkugel gespannte acht Pferde, diese auseinan<strong>der</strong>reißen, was<br />
nicht gelang. Bei <strong>der</strong> Füllung <strong>der</strong> Kugel mit Luft fielen sie indes von allein<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 192<br />
auseinan<strong>der</strong>. Voraus gegangen war die Erfindung <strong>der</strong> Luftpumpe durch<br />
Otto von GUERICKE <strong>im</strong> Jahre 1650 und eines Manometers ein Jahr<br />
später. Auch dem „Großen Kurfürsten“ in Berlin zeigte er später seine<br />
Halbkugel-Exper<strong>im</strong>ente und widmete ihm auch sein großes Buch<br />
Exper<strong>im</strong>enta nova Magdeburgica de vacuo spatio, das erst 1672 in<br />
Amsterdam erschienen konnte. Otto von GUERICKE war auch ein<br />
Wegbereiter <strong>der</strong> Meteorologie und statischen Elektrizität. Er erfand<br />
1663 die erste Elektrisiermaschine, die auf Reibungselektrizität einer<br />
rotierenden selbst gegossenen Schwefelkugel aufgebaut war. Er stand<br />
übrigens auch mit LEIBNIZ in Gedankenaustausch (rege<br />
Korrespondenz vor allem <strong>im</strong> Jahre 1671) und überließ LEIBNIZ eine<br />
seiner Elektrisiermaschinen.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />
S e i t e | 193
S e i t e | 194<br />
In wissenschaftlichen GUERICKE-Biographien wird nur selten darüber<br />
berichtet, daß er zusammen mit LEIBNIZ auch zu den Geburtshelfern<br />
<strong>der</strong> Paläontologie (Fossilienkunde) gehört. Als man in den Gipsbrüchen<br />
des nördlichen Harzvorlandes Versteinerungen von Tieren fand,<br />
interessierte sich von GUERICKE nicht nur dafür, son<strong>der</strong>n grub selber<br />
und sammelte Unmengen solcher Versteinerungen. Er verglich sie mit<br />
den Fabelwesen <strong>der</strong> Bibel und <strong>der</strong> alten Sagengeschichten. „Eines<br />
Tages hob er am Zeunickenberg bei Quedlinburg ein wahres<br />
Stapellager mächtiger Knochen und Zähne aus, und da stand für ihn<br />
fest, daß dies nur das Gebein des <strong>im</strong> Buche HIOB erwähnten Einhorns<br />
sein könne. Er setzte den Knochenstapel zu einem phantastischen<br />
Skelettbild zusammen, alarmierte die Öffentlichkeit und ließ ein<br />
Einhornbild drucken. Diese Rekonstruktion wurde später durch den<br />
Philosophen LEIBNIZ sanktioniert. LEIBNIZ bildete sie in seinem Werk<br />
„Protogaea“ ab [einer Erdgeschichte, auf die wir später <strong>im</strong> LEIBNIZ-<br />
Kapitel noch genauer zu sprechen kommen], und die Professoren<br />
mußten sie nun wohl o<strong>der</strong> übel in ihre Lehrbücher übernehmen― (nach<br />
Herbert WENDT: Ich suchte Adam, 1953).<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 195<br />
Später stellte sich von GUERICKEs Rekonstruktion zwar als Irrtum<br />
heraus, da es hier um die ersten ausgegrabenen Stoßzähne einer<br />
Mammutart handelte und nicht um das kopfschmückende Horn eines<br />
Tieres. Indessen regte dieser Fund lange <strong>Zeit</strong> die Forschung an. Einige<br />
spätere Forscher meinten sogar, eine große Seeschlange vor sich zu<br />
haben. „LEIBNIZ jedoch, obwohl er auf GUERICKEs „Einhorn―<br />
hereingefallen war, glaubte nicht an die Seeschlange. Er schrieb den<br />
wichtigen Satz nie<strong>der</strong>: „Kann man schließlich nicht annehmen, daß die<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 196<br />
großen Umwälzungen des Altertums eine große Zahl tierischer Arten<br />
umgestaltet haben? Mit an<strong>der</strong>en Worten: Waren die Fossilien am Ende<br />
Vorfahren <strong>der</strong> heutigen Lebewesen? Das war keine weltumstürzende<br />
Theorie, […] keine Rebellion gegen die gültigen Meinungen, son<strong>der</strong>n nur<br />
eine bescheidene Frage. LEIBNIZ hatte nicht den Ehrgeiz, den<br />
Zoologen und Geologen ins Handwerk zu pfuschen. Aber die Sache<br />
schien ihm doch so wichtig, daß er in einem an<strong>der</strong>en Zusammenhang<br />
noch einmal darauf zurückkam: Vielleicht haben zu irgendeiner <strong>Zeit</strong>, an<br />
irgendeinem Ort des Universums mehrere Tierformen, welche etwas von<br />
<strong>der</strong> Katze an sich hatten, wie <strong>der</strong> Löwe, <strong>der</strong> Tiger, <strong>der</strong> Luchs, zu einer<br />
Rasse gehört und sind vielleicht heute nichts als neue Unterordnungen<br />
<strong>der</strong> einen Art Katze. Zwe<strong>im</strong>al ein „Vielleicht― in einem Satze – LEIBNIZ<br />
wußte besser als <strong>der</strong> französische Konsul wie weit er gehen und was er<br />
seinen aufgeklärten Mitbürgern zumuten durfte.― [Benoit de MAILLET<br />
hatte vorher eine Theorie <strong>der</strong> Lebewesen aufgestellt, wonach Ke<strong>im</strong>e von<br />
fremden Weltkörpern zu uns ins Urmeer gekommen sein sollten. Selten<br />
wurde ein Mann mit soviel viel Hohn übergossen, nachdem MAILLETs<br />
Buch nach seinem Tode veröffentlich worden war. Das war sogar für die<br />
Aufklärungszeit zu starker Tobak]. (ebenfalls nach H. WENDT zitiert).<br />
□<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
5.10 Johann Rudolf GLAUBER, 1604-1670<br />
Der bedeutendste Vertreter und För<strong>der</strong>er <strong>der</strong> angewandten und<br />
technischen Chemie <strong>im</strong> 17. Jahrhun<strong>der</strong>t war Johann Rudolf GLAUBER.<br />
Sein Leben fällt zum Teil in die <strong>Zeit</strong> des großen Krieges, <strong>der</strong> alle<br />
kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung jäh unterbrochen und<br />
Deutschland 30 Jahre lang verwüstet hat. Seine Bedeutung ist ebenso<br />
wie die des Begrün<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Iatrochemie vielfach verkannt worden. Die<br />
Lebenslinien GLAUBERs sind erst <strong>im</strong> 20. Jahrhun<strong>der</strong>t – und zwar<br />
wesentlich aus seinen eigenen Werken – rekonstruiert worden<br />
(beson<strong>der</strong>s durch W. BRIEGER und Paul WALDEN). Als Sohn eines<br />
Barbiers 1604 in Karlstadt in Franken geboren, hat er früh verwaist, ein<br />
unstetes, wechselvolles Leben geführt, so daß man ihn den<br />
„Paracelsus des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts“ genannt hat. Er begibt sich auf<br />
Wan<strong>der</strong>schaft und lernt „ein ziemlich Theil von Europa― kennen. Als<br />
21jähriger, <strong>der</strong> sich mit Spiegelmachen unterwegs den Lebensunterhalt<br />
verdient, finden wir ihn 1625 in Wien und erfahren, daß er dort an <strong>der</strong><br />
„ungarischen Krankheit― (offenbar Flecktypus) heftig erkrankt ist. Auf den<br />
Rat mitleidiger Menschen – so berichtet er selbst – „schleppte ich mich<br />
zu einer Quelle, die eine Stunde von Neustadt, in <strong>der</strong> Nähe eines<br />
Weinberges hervorsprudelte.― Er trinkt von diesem Wasser und wird<br />
wie<strong>der</strong> gesund. „Erstaunt über diese wun<strong>der</strong>bare Wendung, fragte ich<br />
nach <strong>der</strong> Natur dieses Wassers und erhielt zur Antwort, daß es<br />
Salpeterwasser sei.― Wir werden wohl nicht fehlgehen, wenn wir dieses<br />
Erlebnis als einen Wendepunkt in seinem Leben, richtungsgebend für<br />
seine ferneren geistigen Interessen betrachten. Wir erfahren von ihm<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 197<br />
selbst, daß er in Salzburg gewesen, wo er das Grabmahl des von ihm<br />
stets verehrten PARACELSUS besucht, sowie in Basel und Paris<br />
geweilt hat. Als Autodidakt will er überall sehen und lernen. Und vieles<br />
muß er erlernt und exper<strong>im</strong>entell durchprobiert haben, - die<br />
Zwischenzeit von 1626-1644 muß seine eigentliche Lehrzeit gewesen<br />
sein, denn 1644 tritt er uns unvermittelt in Gießen wie<strong>der</strong> entgegen, wo<br />
er als Leiter <strong>der</strong> „Fürstlichen HoffApothecken― tätig gewesen sein soll.<br />
Doch schon <strong>im</strong> nächsten Jahr muß er infolge des „Hessenkrieges― seine<br />
Stellung aufgeben; er zieht nach Bonn und von dort 1646 nach<br />
Amsterdam. Wegen des schlechten Kl<strong>im</strong>as vertauscht er diesen Ort mit<br />
Utrecht und Arnhe<strong>im</strong>, kehrt aber bald „wegen ermanglung<br />
nothwendiger requisiten o<strong>der</strong> materialien― nach Amsterdam zurück. In<br />
dieser Stadt bezog er ein großes, vorher von einem Alchemisten(!)<br />
bewohntes Haus und richtete dort ein schönes Laboratorium ein. In<br />
dieser Lebensperiode, wo er noch gesund und exper<strong>im</strong>entierfreudig war,<br />
hat GLAUBER <strong>im</strong> eigenen Laboratorium sicherlich viel gearbeitet, neue<br />
Verfahren ausprobiert und neue Apparate konstruiert. Als eine<br />
denkwürdige Frucht dieses ersten Amsterdamer Aufenthaltes (1646-<br />
1648/9) kann sein grundlegendes und chemisches Hauptwerk „Furni<br />
Novi Philosophica― (Amsterdam, in 5 Teilen, 1648-1650) betrachtet<br />
werden, „certainly one of the most remarkable books on chemistry of the<br />
XVII th Century (lt. J. FERGUSON, 1906).<br />
Als <strong>im</strong> Oktober 1648 <strong>der</strong> Westfälische Friede den Dreißigjährigen<br />
Krieg formal abschloß, gedachte GLAUBER, „einmahl das geliebte<br />
Vatterland wie<strong>der</strong> zu sehen― und auf dem Wasserwege, den Rhein<br />
aufwärts nach Frankfurt zu gelangen. Der Schiffer verlangt aber 500<br />
Thaler, da „an etlichen Orten große Gefahr wegen einiger<br />
Außländischen Besatzung o<strong>der</strong> Guarnison am Rhein …― besteht! So<br />
reiste er denn <strong>im</strong> Frühjahr 1649 über, Bremen, Kassel, Hanau nach<br />
Werthe<strong>im</strong>. Dort richtete er ein Laboratorium ein, nahm „eines und<br />
an<strong>der</strong>s― vor, indem er mit 2 „Studenten― Weinverbesserung und –handel<br />
betrieb. Doch schon 1651 ist er in Kitzingen, wo er ein geräumiges<br />
steinernes Haus (das „Schlößlein― genannt) kauft und wie<strong>der</strong>um ein<br />
Laboratorium errichtet. Hier wird ihm vom Kurfürsten von Mainz ein<br />
Privileg auf sein Verfahren erteilt. „den Wein aus <strong>der</strong> Heffen zu pressen /<br />
zu Essig zu machen 7 und aus dem Rest den Weinstein in Mengde zu<br />
ziehen.― Hier bereitet er auch sein „―Panacea ant<strong>im</strong>onials―<br />
(Ant<strong>im</strong>onpentasulfid), die wegen ihrer Heilkraft ihm so viele Kranke<br />
zuführt, daß er täglich „eine Stunde benehmen müssen / ihnen Audientz<br />
und Medicin zu geben / und solches gar nicht umb Geldt/ son<strong>der</strong>n Reich<br />
und Arm umbsonst,― Und hier beginnt auch sein Streit mit Christ.<br />
FARNER, „Speyrischen Dohm-Stiffts Schaffner,― <strong>der</strong> von ihm gegen<br />
entsprechende Zahlungszusage einige „Secrete― entlehnt, nachher aber,<br />
statt <strong>der</strong> Zahlung, böse Nachrede und Schmähschriften verfaßt. In<br />
literarischer Hinsicht ist <strong>der</strong> Kitzinger Aufenthalt dadurch denkwürdig,<br />
daß er hier sein iatrochemisches Hauptwerk, die „Pharmacopoea<br />
spargyrica―, verfaßt und <strong>der</strong>en ersten Teil 1654 in Nürnberg (sowie<br />
gleichzeitig in Amsterdam) drucken läßt. Etwa um die Wende<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 198<br />
desselben Jahres verläßt er Kitzingen, das ihm durch den Prozeß mit<br />
FARNER stark verleidet worden ist, zumal auch die „Wein-Küffer― sich<br />
gegen ihn empören, und zieht nach Frankfurt a.M., von dort nach Köln,<br />
um endlich 1655 o<strong>der</strong> 1656 wie<strong>der</strong>um in Amsterdam seinen Wohn- und<br />
Wirkungsort zu nehmen. „Auff <strong>der</strong> Keysers Grafft / an einem bekannten<br />
Orth / und in keinem Winkel― bezieht er ein Haus. Es ist keine<br />
„Alchemistenküche―, die GLAUBER in diesem Hause errichtet. Ein<br />
französischer Besucher vom Jahre 1660 berichtet, daß GLAUBER 4<br />
Laboratorien <strong>im</strong> Hinterhause eines großen Gebäudes, mit 5 o<strong>der</strong> 6<br />
Mitarbeitern gehabt habe und <strong>im</strong> anstoßenden Garten auf sandigem<br />
Boden ein Versuchsfeld (Getreidezucht) besaß, das mit Mineraldünger<br />
gedüngt war. Doch diese bewun<strong>der</strong>ten Laboratorien bargen einen<br />
kranken chemischen Meister; 1660 war GLAUBER von einer Lähmung<br />
ergriffen worden und wurde ganz bettlägrig. 1668 klagt er, daß „alles<br />
Fleisch an meinem Leib durch so viel Jahren nach einan<strong>der</strong><br />
ausgestandene große Krankheiten alsoverzehret / und verschwunden ist<br />
/ daß ich nicht glaube / daß aufs höchste 10. pfundt Fleisch (Haut / und<br />
Beyne ungerechnet) übrig gebleiben seyn.― Es liegt nahe, als Ursache<br />
dieser Erkrankung eine Vergiftung durch Quecksilber, bzw. Arsen- o<strong>der</strong><br />
Ant<strong>im</strong>onverbindungen anzunehmen, da GLAUBER, wie überhaupt<br />
Chemiker jener Periode, gerade die Versuche mit diesen Stoffen bei<br />
ungenügen<strong>der</strong> Ventilation beson<strong>der</strong>s durchführte. Die<br />
Exper<strong>im</strong>entalarbeiten setzen aus; die zahlreichen und vielgestaltigen<br />
„Furni Novi Philosophici― stehen kalt und leer an den Wänden; <strong>der</strong><br />
Meister bietet sie zum Kauf an, löst sein Laboratorium auf und stirbt<br />
1760. – am 10. März 1670 wird er in <strong>der</strong> „Wester Kerk― in Amsterdam<br />
begraben. Seine Erfahrungen, Methoden, Apparate und Ansichten hat<br />
GLAUBER in etwa 40 gedruckten Schriften nie<strong>der</strong>gelegt, die unter<br />
lateinischen Titeln in deutscher Sprache verfaßt sind und den <strong>Zeit</strong>raum<br />
von 1646 bis 1669 umfassen. Einige Werke wurden in französischer,<br />
englischer und lateinischer Sprache herausgegeben. Eine<br />
ungewöhnliche geistige Produktivität war GLAUBER eigen.<br />
GLAUBERs Interessen beschränkten sich aber nicht auf die<br />
chemischen Vorgänge <strong>im</strong> Laboratorium und <strong>der</strong>en technische<br />
Anwendung, sein Blick geht weiter. Ihn beschäftigten aufs lebhafteste<br />
national-ökonomische Fragen. Obwohl er den Hauptteil seiner<br />
schöpferischen Tätigkeit außerhalb Deutschlands in Amsterdam<br />
ausgeübt hat, ist er gesinnungsgemäß seinem Vaterlande treu<br />
geblieben. Davon legt sein 1656-1661 in Amsterdam erschienenes<br />
sechbändiges Werk „Des Teutschlands Wolfarth“ glänzendes Zeugnis<br />
ab. Nach den Verwüstungen des großen Krieges gibt er eingehende<br />
Ratschläge zum Wie<strong>der</strong>aufbau und zur Weiterentwicklung des<br />
landwirtschaftlichen und gewerblichen Wirtschaftslebens. Er rät<br />
dringend, die in Deutschland gewonnenen Erze, Mineralien und<br />
sonstigen Rohstoffe nicht erst ins Ausland auszuführen und sie von dort<br />
in bearbeitetem Zustande für teures Geld wie<strong>der</strong> zurückzuholen,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 199<br />
son<strong>der</strong>n sie selbst <strong>im</strong> eigenen Vaterlande zu bearbeiten, also die<br />
deutsche Industrie zu entwickeln. Er schreibt:<br />
Teutschland ist von Gott son<strong>der</strong>lich hoch begabt mit allerhand<br />
Bergwerken […] mangelt nur an erfarnen Leuten, welche dieselbe zu<br />
recht wissen bringen […] Warum sind wir so schlecht, daß wir unser<br />
Kupffer nach Frankreich o<strong>der</strong> Hispanien, und das Bley in Holland und<br />
Venedig schicken, Spanichgrün und Bleyweiß daraus zu machen, denen<br />
wir es hernach so teuer abkauffen müssen? Ist unser Holz, Sand und<br />
Asche in Teutschland nicht so gut, Crystallinisch Glas daraus zu<br />
machen, als jenes zu Venedig o<strong>der</strong> Frankreich?<br />
*****************<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 200<br />
GLAUBERs Bedeutung liegt vor allem in dem Verdienst, das er sich<br />
um die praktische Anwendung <strong>der</strong> Chemie erworben hat. Und das ist<br />
außerordentlich groß. Man könnte ihn als den Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
chemischen Industrie bezeichnen, nicht nur <strong>der</strong> anorganischen,<br />
son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> ersten Anfänge <strong>der</strong> organischen Chemie. Seiner<br />
schöpferischen Tätigkeit ist außerdem eine große Menge<br />
wissenschaftlicher Beobachtungen und auch Begriffsbildungen zu<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 201<br />
verdanken, so daß dieser Autodidakt auch <strong>der</strong> wissenschaftlichen<br />
Chemie seinen geistigen Stempel aufgedrückt hat.<br />
Auf dem Gebiet <strong>der</strong> anorganischen Chemie hat sich GLAUBER vor<br />
allem mit <strong>der</strong> Darstellung <strong>der</strong> Mineralsäuren beschäftigt<br />
(Schwefelsäure, Salpetersäure und Salzsäure). . In seinem Werke „Furni<br />
Novi Philosophica― gibt er dafür Vorschriften, soweit er diese zur<br />
öffentlichen Kenntnis geben wollte. Außer <strong>der</strong> gewöhnlichen<br />
konzentrierten Salzsäure stellt er auch die rauchende dar, die noch fast<br />
zwei Jahrhun<strong>der</strong>te als „Spiritus― o<strong>der</strong> ―Acidum salis fumans Glauberi―<br />
bezeichnet wurde. Das dabei entstehende schön kristallisierende<br />
Natriumsulfat, dessen wun<strong>der</strong>bare Eigenschaften zu beschreiben er<br />
nicht müde wird, hält als „Sal mirabile Glauberi― o<strong>der</strong> als „Glaubersalz“<br />
noch heute seinen Namen in <strong>der</strong> Chemie lebendig.<br />
Auch mehrere organisch-chemische Verbindungen hat GLAUBER<br />
in seinem Laboratorium, das sich ja zu einer kleinen Fabrik chemischer<br />
Präparate entwickelt hatte, dargestellt. Den Weingeist entwässert er mit<br />
geglühter Pottasche und er unterwirft ihn, ebenso wie den Essig und die<br />
durch trockne Destillation gewonnene „Holzsäure“ <strong>der</strong> fraktionierten<br />
Destillation. Er stellt die verschiedensten Salze <strong>der</strong> Essigsäure dar<br />
und gewinnt sogar manche bis dahin noch ganz unbekannte Produkte,<br />
wie Aceton und Akroléin. Auch die Steinkohle hat er zu seinen<br />
Untersuchungen herangezogen, und er hat, wie sich bei näherer<br />
Prüfung seiner Angaben herausstellte, bereits Benzol und Phenol aus<br />
den Destillationsprodukten isolieren können. Das letztere beschreibt er<br />
als „hitziges und blutrothes Oleum, welches alle feuchte Ulcera gewaltig<br />
trocknet und heilet.― So hat GLAUBER schon zwei Jahrhun<strong>der</strong>te vor <strong>der</strong><br />
wissenschaftlichen Großtat LISTERs (1867) die antiseptische Wirkung<br />
<strong>der</strong> Karbolsäure entdeckt.<br />
Die wirksamen Stoffe <strong>der</strong> Arzneipflanzen suchte GLAUBER durch<br />
Behandeln <strong>der</strong> zerschnittenen Pflanzenteile mit warmer Salpetersäure<br />
o<strong>der</strong> Schwefelsäure zu gewinnen, und durch Zusatz von<br />
Pottaschelösung erhält er als „zartes Pulver― tatsächlich Pflanzenbasen<br />
o<strong>der</strong> Alkaloide, <strong>der</strong>en Entdeckung an<strong>der</strong>thalb Jahrhun<strong>der</strong>te später<br />
(1805) den Namen SERTÜRNER unsterblich gemacht hat. Wie aus<br />
seinen Berichten hervorgeht, hat GLAUBER tatsächlich schon Morphin,<br />
Brucin und Strychnin in Händen gehabt. Die Gewinnung <strong>der</strong><br />
aromatischen Öle und die Darstellung von Brechweinstein hat er<br />
verbessert. Er hat ferner das Vorkommen von Traubenzucker <strong>im</strong> Honig<br />
und an<strong>der</strong>en Naturerzeugnissen beobachtet und <strong>der</strong> Färbereitechnik<br />
verbessernde Vorschläge gemacht. So hat dieser ganz auf sich und<br />
seine mit unverdrossenem Eifer ausgeführten exper<strong>im</strong>entellen<br />
Forschungen gestellte Autodidakt für die Chemie ganz<br />
Außerordentliches geleistet, in vielen Dingen ist er seiner <strong>Zeit</strong> weit<br />
voraus gewesen.<br />
Auch die Laboratoriumseinrichtungen und Gerätschaften hat<br />
GLAUBER vielfach verbessert. Er hat nicht nur neue Formen <strong>der</strong><br />
„philosophischen Öfen“, <strong>der</strong> Destillations- und<br />
Kondensationsapparate angegeben, er hat auch viele Geräte statt aus<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 202<br />
Metall o<strong>der</strong> Ton aus Glas anfertigen lassen und dabei praktische<br />
Neurungen (eingeschliffene Stopfen, Quecksilberverschluß, Rührwerke<br />
usw.) eingeführt. Von seinen erstaunlich vielseitigen Leistungen sei nur<br />
noch die Herstellung verschiedenfarbiger künstlicher Edelsteine und<br />
seine durch kriegerische <strong>Zeit</strong> bedingte Betätigung als<br />
Sprengstoffchemiker erwähnt. Er hat sogar Füllungen für eine Art von<br />
Gasgranaten angegeben.<br />
Trotz all dieser neu gewonnenen Erkenntnisse sollte sich jedoch<br />
zunächst noch eine theoretische Erklärungsweise für die Oxydationsund<br />
Reduktionsvorgänge für längere <strong>Zeit</strong> behaupten, die nun sogar fast<br />
alle zeitgenössischen Chemiker akzeptierten und zu neuen Versuchen<br />
anspornte, wenn sie auch die tatsächlichen Verhältnissen noch nicht<br />
richtig erklärten konnte und aus heutiger Sicht als „Irrtum― bezeichnet<br />
werden muß. Die Wege <strong>der</strong> Forschung sind oft nicht geradlinig.<br />
Indessen war die neue Theorie berufen, die Vorstellungen <strong>der</strong> Elemente<br />
aus Antike und Alchemie endgültig abzulösen und nach neuen<br />
Erklärungen zu suchen.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
5.11 Georg Ernst STAHL, 1660-1734, <strong>der</strong> Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Phlogistontheorie und sein Kreis.<br />
Zwei Männer aus Englands Adel haben <strong>im</strong> 17. und 18. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
den Stammbaum <strong>der</strong> Chemie durch grundlegende Exper<strong>im</strong>ente zum<br />
weiteren Gedeihen verholfen. Robert BOYLE <strong>im</strong> 17. Jahrhun<strong>der</strong>t und<br />
Joseph PRISTLEY <strong>im</strong> 18. Jahrhun<strong>der</strong>t. Bleiben wir zunächst noch <strong>im</strong><br />
17. Jahrhun<strong>der</strong>t, das auch in England durch politisch unruhige <strong>Zeit</strong>en<br />
(Revolution) gekennzeichnet war, bevor wir auf die geistigen<br />
Auswirkungen <strong>der</strong> Phlogistontheorie von Johann Joach<strong>im</strong> BECHER und<br />
Georg Ernst STAHL innerhalb <strong>der</strong> Chemie eingehen, um damit später<br />
auch noch auf Joseph PRISTLEY, einen <strong>der</strong> letzten Anhänger <strong>der</strong><br />
Phlogistontheorie sprechen zu kommen.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
5.12 Robert BOYLE, 1627-1691<br />
Über ihn entnehmen wir aus dem „Buch <strong>der</strong> großen Chemiker― (<br />
Herausgeber: Dr. Günther BUGGE, 1929), daß er als 14. Kind und <strong>der</strong><br />
7. Sohn des „Earl of CORK― <strong>im</strong> Jahre 1627 geboren ist, und dieser Earl<br />
of COKE „einer <strong>der</strong> größten Männer seines <strong>Zeit</strong>alters― gewesen sein<br />
soll. Nun, in meinem alten 12-bändigen „Großen Brockhaus― (Bd. 2,<br />
1953), den ich wegen seiner ausführlichen biographischen Daten sehr<br />
schätze (und ihn deshalb noch nicht gegen eine mo<strong>der</strong>nere Ausgabe<br />
ersetzt habe), ist unter „BOYLE― nur sein Sohn Robert BOYLE als<br />
„Physiker und Chemiker― verzeichnet und beschrieben und <strong>im</strong> nächsten<br />
□<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 203<br />
Absatz dann das Boyle-Mariottsche Gesetz aufgeführt, das nach<br />
Robert BOYLE mit benannt worden ist. Der Verfasser erinnert sich an<br />
dieses Gesetz (- nach dem er <strong>im</strong> Chemie-Unterricht seine ersten<br />
Rechenaufgaben auszuführen hatte!). In einem englischen Lexikon wird<br />
man gewiß auch seinen Vater, den Earl of COKE, finden. Meine<br />
weiteren genealogischen Recherchen führten mich zunächst auf das in<br />
meinem Besitz befindliche große englische Ahnentafelwerk von Gerald<br />
PAGET (London 1977), die voluminöse großformatige Ahnenliste des<br />
Prince Charles of WALES (* 1948) und ich fand diesen „Earl of CORK―<br />
tatsächlich dort unter <strong>der</strong> Ahnenlisten-Signatur-Nummer L 3681. Hier<br />
findet man nun auch den Vornamen und die nackten trockenen Daten<br />
von Richard BOYLE und seiner Frau, soweit bekannt. Hier sind sie:<br />
„Richard BOYLE, 1st Earl of CORK, geboren 13. 10. 1566, gestorben<br />
15. 9. 1643, verheiratet am 25. 7. 1603 mit Catherine FENTON,<br />
gestorben 16. 2. 1630 [ohne Geburtsdaten].―<br />
Mehr ist nicht angegeben. Es handelt sich also um einen <strong>Zeit</strong>genossen<br />
von William SHAKESPEARE, 1564-1616, - fast gleichaltrig mit ihm!<br />
Während wir über die Herkunft SHAKESPEAREs ja bis heute noch sehr<br />
<strong>im</strong> Dunkeln tappen, kann man das vom Richard BOYLE Earl of CORK<br />
allerdings nicht sagen, dessen patrilineare Stammlinie sich <strong>im</strong>merhin<br />
hier bis zu seiner Urgroßelterngeneration weiterverfolgen läßt, was für<br />
einen Probanden zur damaligen <strong>Zeit</strong> schon beachtlich ist, zumal seine<br />
Vorfahren kleinadelig o<strong>der</strong> bürgerlich waren, wenigstens nicht zum<br />
dynastischen Adel zählten. Übrigens haben fleißige Genealogen aus<br />
aller Welt inzwischen große Mengen von Genealogien in Internet-<br />
Datenbanken eingegeben; auf diesen heute komfortablen<br />
Wissensspeicher sei hier konkret hingewiesen. Zwei internationale<br />
Genealogie-Datenbanken wetteifern untereinan<strong>der</strong> und damit auch um<br />
unsere Gunst. Hier die Links:<br />
http://geneweb.inria.fr/roglo?lang=de;i=103017 (GeneWeb)<br />
http://www.genealogics.org/getperson.php?personID=I00115989&tree=L<br />
EO<br />
(Genealogics – Leo van de Pas)<br />
In <strong>der</strong> ersten Datenbank ist die Kin<strong>der</strong>reihe sogar mit 15 Kin<strong>der</strong>n<br />
angegeben , wobei Robert tatsächlich an 14. Stelle als 7. Sohn steht.<br />
Bei <strong>der</strong> zweiten Datenbank umfaßt diese Reihe nur 13 Kin<strong>der</strong>, wobei<br />
Robert als letzter aufgeführt ist, aber auch als 7. Sohn. Natürlich ist<br />
diese Tatsache bzw. kleine Unst<strong>im</strong>migkeit für uns ziemlich belanglos.<br />
Wir erfahren aber über die Person von Richard BOYLE, Roberts Vater<br />
<strong>im</strong>merhin jetzt aus <strong>der</strong> ersten Datenbank etwas über seinen<br />
gesellschaftlichen Rang:<br />
Richard BOYLE, The Great Earl; Lord High Treasurer of the<br />
kingdom of Ireland.<br />
Nun, als Kind des Schatzmeisters des Königreichs Irland ist man<br />
wahrlich kein „arme Leute Kind―! Doch bevor wir Robert BOYLEs<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 204<br />
Lebensweg kurz skizzieren sei hier noch die Stellung seines Vaters, des<br />
„Great Earl―, in <strong>der</strong> Ahnenschaft des englischen Königshauses<br />
angegeben. Diese vornehme Linie führt nicht über unseren Robert<br />
selbst in das Königshaus; - denn dieser blieb unverheiratet- , son<strong>der</strong>n<br />
über den ältern Bru<strong>der</strong> Richard Boyle, 1612-1698, 2nd Earl of CORK,<br />
(Ahnenlisten-Signatur-Nummer K 1841); und zwar in die Ahnenschaft<br />
<strong>der</strong> Lady Elizabeth Bowes-Lyon, 1900-2002, <strong>der</strong> „Queen Mum“, <strong>der</strong><br />
„Lieblings-Oma <strong>der</strong> Nation―. Eine Ur-ur-urenkelin jenes Richard BOYLE<br />
des Jüngeren ist Dorothy CAVENDISH, 1750-1794, (Sig.-Nr. F 58),<br />
<strong>der</strong>en Mutter eine geborene BOYLE war. Diese Dorothey war nun eine<br />
Ur-urgroßmutter von „Queen Mum―. Während bei Dorothy also die<br />
prominente Linie zu den Earls of CORKs über ihre Mutter führt, gehört<br />
Dorothys Vater William CAVENDISH zu einer an<strong>der</strong>en hochadligen<br />
Familie, die eine weitere „edle Frucht <strong>der</strong> Wissenschaft― hervorgebracht<br />
hat, auf die wir in unserem „Chemie-Stammbaum“ später auch noch<br />
zu sprechen kommen. Lady Elizabeth Bowes-Lyon, bekanntlich<br />
überraschend durch nicht vorher gesehene Umstände zur Queen<br />
geworden, und damit später zur Königinmutter von Queen Eliszabeth II.,<br />
braucht sich mit ihrer Ahnenschaft also wahrlich nicht „verstecken―;<br />
wenn auch in best<strong>im</strong>mten Adelskreisen oft herablassend davon<br />
gesprochen wird, daß viele bürgerliche, nicht ebenbürtige Familien in<br />
ihrer Ahnentafel erscheinen, <strong>der</strong>en Wurzeln sich nicht mehr weit<br />
erforschen lassen und somit große Lücken in ihrer Ahnentafel stehen<br />
bleiben (etwa ein Drittel <strong>der</strong> 64er Ahnenreihe von „Queen Mum― ist<br />
unbekannt!).-<br />
Nach dieser genealogischen Einführung nun wie<strong>der</strong> zurück zu Robert<br />
BOYLE selbst (nach G. LOCKEMANN). Wie gesagt wurde er <strong>im</strong> Jahre<br />
1627 als 14. Kind geboren und zwar in Lismore in <strong>der</strong> irischen<br />
Grafschaft Waterford. Schon frühzeitig als Elfjähriger trat er unter <strong>der</strong><br />
Führung eines Hausmeisters die damals in den vornehmen Familien<br />
übliche „große Fahrt― an, die ihn durch Frankreich in die Schweiz und<br />
nach Italien führte. Bei längerem Aufenthalt in Genf und in Florenz<br />
widmete er sich dem Studium <strong>der</strong> Juristerei, <strong>der</strong> Philosophie und<br />
Theologie, zugleich auch <strong>der</strong> Mathematik und <strong>der</strong> Naturwissenschaften.<br />
Durch die inzwischen in seiner He<strong>im</strong>at ausgebrochenen revolutionären<br />
Unruhen – es war die CROMWELL-<strong>Zeit</strong> – zurückgerufen, fand er nach<br />
achtjähriger Abwesenheit (1646) den Vater tot und die Güter verwüstet.<br />
In ländlicher Einsamkeit jahrelang zurückgezogen lebend, beschäftigten<br />
ihn naturwissenschaftliche wie auch religiöse Fragen, und er schrieb ein<br />
Buch über Ethik. Er siedelte dann 1654 nach Oxford, 1668 nach<br />
London über und wurde Mitglied <strong>der</strong> naturwissenschaftlichen<br />
Gesellschaft, die drei Jahre später als „Royal Society“ die königliche<br />
Bestätigung erhielt; sie wurde von dem Gesandten <strong>der</strong> Freien<br />
Hansestadt Bremen Heinrich OLDENBURG, 1615-1677, <strong>im</strong> Verein mit<br />
einigen englischen Gelehrten, 1660 begründet. LEIBNIZ traf während<br />
seines einmonatigen Besuches in London <strong>im</strong> Jahre 1673 sowohl mit<br />
BOYLE als auch mit OLDENBURG zusammen und wurde daraufhin<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 205<br />
bald auch ausländisches Mitglied <strong>der</strong> „Royal Society―. Bei BOYLE<br />
gewann Leibniz auch Einblick in dessen chemischen Exper<strong>im</strong>ente. Ganz<br />
<strong>der</strong> Wissenschaft hingegeben hat BOYLE von 1680 ab bis zu seinem<br />
Tode (1691) das Amt des Präsidenten <strong>der</strong> Gesellschaft verwaltet.<br />
<strong>Zeit</strong>lebens war er ein schwächlicher, blasser, hagerer Mensch, stark<br />
kurzsichtig und viel krank. Er blieb unverheiratet und lebte ausschließlich<br />
seiner Wissenschaft.<br />
******************<br />
BOYLE bekämpfte die alten alchemistischen und iatrochemischen<br />
Anschauungen und suchte sich von überkommenen Vorurteilen zu<br />
befreien und die Chemie wie die Naturwissenschaften überhaupt auf<br />
den Boden <strong>der</strong> exper<strong>im</strong>entellen Erfahrung zu stellen. „Die Chemiker―,<br />
sagte er, „erblickten ihre Aufgabe in <strong>der</strong> Bereitung von Heilmitteln, in <strong>der</strong><br />
Extraktion und Transmutation <strong>der</strong> Metalle. Ich habe versucht, die<br />
Chemie von einem ganz an<strong>der</strong>en Standpunkt aus zu behandeln, nicht<br />
wie dies ein Arzt o<strong>der</strong> Alchemist, son<strong>der</strong>n ein Philosoph zu tun hat. –<br />
Läge den Menschen <strong>der</strong> Fortschritt <strong>der</strong> wahren Wissenschaft mehr am<br />
Herzen als ihre eigenen Interessen, dann könnte man ihnen leicht<br />
nachweisen, daß sie <strong>der</strong> Welt den größten Dienst leisten würden, wenn<br />
sie alle ihre Kräfte einsetzten, um Versuche anzustellen,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 206<br />
Beobachtungen zu machen und keine Theorien auszusprechen,<br />
ohne zuvor die darauf bezüglichen Erscheinungen geprüft zu<br />
haben.― Hiermit wird als die eigentliche Aufgabe <strong>der</strong> Chemie die<br />
exper<strong>im</strong>entelle Erforschung <strong>der</strong> Stoffe ohne jede an<strong>der</strong>e Nebenabsicht<br />
erklärt, und die Chemie wird erst jetzt eine selbständige<br />
Wissenschaft. BOYLE war auch Anhänger <strong>der</strong> Corpusculartheorie.<br />
Die kleinsten „Körperchen― <strong>der</strong> verschiedenen Elemente sollten sich<br />
durch die drei Grundeigenschaften <strong>der</strong> Gestalt, Größe und Bewegung<br />
voneinan<strong>der</strong> unterscheiden. Auch <strong>im</strong> festen Zustande dachte er sich die<br />
Corpusceln in dauern<strong>der</strong>, mit steigen<strong>der</strong> Temperatur zunehmen<strong>der</strong><br />
Bewegung. So erklärte er auch das Leuchten geriebener Diamanten <strong>im</strong><br />
Dunkeln. Als stets „skeptischer Chemiker“ läßt er dabei die Frage<br />
offen, ob diese Elemente nicht vielleicht aus drei, vier o<strong>der</strong> fünf<br />
Grundstoffen, etwa den „spagyrischen Principien―, o<strong>der</strong> den<br />
empedokleisch –aristotelischen Elementen fest<br />
zusammengeschlossenen „clusters“ gebildet sind. Wenn man die<br />
neusten Ergebnisse <strong>der</strong> Atomforschung bedenkt und an die Stelle <strong>der</strong><br />
Principien o<strong>der</strong> Elemente die Protonen, Neutronen, Elektronen usw.<br />
setzt, so muß man zugestehen, daß BOYLE mit seinen Anschauungen<br />
von dem mo<strong>der</strong>nen Standpunkt nicht sehr weit entfernt war.<br />
Nicht nur als Theoretiker hat sich BOYLE ausgezeichnet, er hat auch<br />
durch eigene exper<strong>im</strong>entelle Forschungen die Chemie sehr geför<strong>der</strong>t.<br />
Während die Untersuchungen bei den verschiedenen Stoffen sich bis<br />
dahin meist darauf beschränkten, <strong>der</strong>en Verän<strong>der</strong>ungen be<strong>im</strong> starken<br />
Erhitzen, bis zum Glühen, zu beobachten, führte BOYLE die<br />
Untersuchung in wäßriger Lösung ein, indem er die mit best<strong>im</strong>mten<br />
Lösungen an<strong>der</strong>er Stoffe entstehenden Nie<strong>der</strong>schläge o<strong>der</strong> Färbungen<br />
als charakteristische Kennzeichen benutzte. BOYLE ist <strong>der</strong> eigentliche<br />
Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> analytischen Chemie <strong>im</strong> heutigen Sinne geworden.<br />
Auch das Wort „Analyse“, eigentlich „Auflösung― bedeutend, hat er als<br />
Bezeichnung für diese Untersuchungsart eingeführt. Er hat auch die<br />
Verwendung best<strong>im</strong>mter Pflanzensäfte (Lackmus, Veilchen, Galläpfel)<br />
als „Indikatoren“ angegeben. Auch hat er sich vielfach mit Fragen <strong>der</strong><br />
technischen Chemie beschäftigt. Nicht nur fraktionierte Destillation hat<br />
er ausgeführt, son<strong>der</strong>n sogar schon Destillationen unter vermin<strong>der</strong>tem<br />
Druck, also sogenannte „Vacuumdestillationen“.<br />
Die pneumatischen Versuche von Otto von GUERICKE waren für<br />
BOYLE Anregung, darauf quantitativ aufzubauen. Bei Versuchen mit U-<br />
förmige gebogenen Röhren best<strong>im</strong>mte er das spezifische Gewicht von<br />
Quecksilber bereits sehr genau zu 13,76 (statt 13,54). Bei diesen<br />
Versuchen verfolgte er messend die Volumenabnahme <strong>der</strong> Luft und<br />
konnte dabei das Verhältnis zwischen Druck und Volumen feststellen.<br />
So entdeckte er 1660 das Naturgesetz, daß das Volumen eines Gases<br />
dem auf das Gas ausgeübten Druck umgekehrt proportional ist (v 1 : v 2<br />
= p 2 : p 1 ). Dieselbe Entdeckung machte 16 Jahre später unabhängig von<br />
ihm <strong>der</strong> französische Geistliche Edme MARIOTTE, 1620-1684, weshalb<br />
man vom Boyle-Mariotte’schen Gasgesetz spricht.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 207<br />
Ehe wir nun auf Georg Ernst STAHL selbst zu sprechen kommen,<br />
wollen wir hier noch auf einen an<strong>der</strong>en Mann eingehen, da er STAHL<br />
wesentliche Anregungen für seine Phlogistontheorie gegeben hat:<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
5.13 Johann Joach<strong>im</strong> BECHER, 1635-1682<br />
BECHER ist wie Otto von GUERICKE ein Wissenschaftsvertreter <strong>der</strong><br />
unruhevollen <strong>Zeit</strong> des Dreißigjährigen Krieges. Er besaß eine<br />
außerordentliche Vielseitigkeit, einen erstaunlichen Tatendrang und eilte<br />
seinen <strong>Zeit</strong>genossen weit voraus. Mit seinen theoretischen<br />
Anschauungen hat er einen ganz beson<strong>der</strong>en Einfluß auf die weitere<br />
Entwicklung <strong>der</strong> Chemie ausgeübt. BECHER wurde in Speyer geboren<br />
und war <strong>der</strong> Sohn eines lutherischen Geistlichen aus Wittenberg. Nach<br />
seiner Promotion zum Dr. med. an <strong>der</strong> Universität Mainz erhielt er dort<br />
bald eine Professur und wurde Leibarzt des Kurfürsten. Diesen Posten<br />
vertauschte er mit einem gleichartigen in München. Doch hielt er es<br />
auch dort nicht lange aus. Er hat ein äußerst unruhiges Leben geführt<br />
und sich mit den allerverschiedensten Dingen beschäftigt. Dabei war er<br />
ein unerschöpflicher Plänemacher (Rhein-Donau-Kanal,<br />
Kolonialgründungen, Weltsprache, industrielle Gründungen usw.).<br />
Auch als diplomatischer Unterhändler war er vielfach sogar in<br />
kaiserlichem Auftrage tätig. Er hat sich wie<strong>der</strong>holt in Holland, in Wien<br />
und an an<strong>der</strong>en Orten kürzere o<strong>der</strong> längere <strong>Zeit</strong> aufgehalten, bis er<br />
schließlich (1680) nach England übersiedelte, wo er sich vorwiegend<br />
dem Kohlenbergbau und <strong>der</strong> industriellen Verwertung <strong>der</strong> Steinkohle<br />
widmete. Er ist <strong>der</strong> eigentliche Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> Steinkohlen-Teer- und<br />
Gasindustrie und hat zum ersten Mae das Steinkohlengas als<br />
„philosophisches Licht“ zum Leuchten benützt. BECER, <strong>der</strong> sich in<br />
seiner erstaunlichen Vielseitigkeit völlig zersplitterte, hat nur ein Alter<br />
von 47 Jahren erreicht; er ist in <strong>der</strong> St. James-Kirche in London<br />
beigesetzt. BECHER hat eine größere Zahl von Schriften verfaßt,<br />
darunter eine solche mit dem Titel Närrische Weisheit und weise<br />
Narrheit“. Während seines Münchner Aufenthaltes ließ er 1669 ein<br />
Buch in Druck erscheinen, durch das er einen außerordentlichen Einfluß<br />
auf die weitere Entwicklung <strong>der</strong> Chemie ausgeübt hat. Das Buch hat den<br />
Titel „Acta laboratorii chymici Monacensis seu Physica subterranea―. In<br />
gedanklicher Weiterentwicklung des Prinzips „Sulfur― von<br />
PARACELSUS hat dort BECHER eine „terra ignescens in composito<br />
seu inflammabilis― als einen Bestandteil <strong>der</strong> metallischen Körper<br />
vorgeschlagen, die er auch als „fettige Erde― („terra pinguis―) nannte.<br />
Diese sei in allen brennbaren und verkalkbaren Stoffen enthalten und<br />
sie entweicht be<strong>im</strong> Erhitzen o<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Flamme. STAHL wandelte<br />
diese „terra― später (1697) in ein „brennliches Wesen― o<strong>der</strong> „Phlogiston―<br />
um, worauf wir bald noch eingehen werden.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 208<br />
Es ist in <strong>der</strong> ganzen Wissenschaftsgeschichte <strong>der</strong> Chemie wohl<br />
einmalig, daß eine These, die man heute leichthin <strong>im</strong> Chemie-Unterricht<br />
als „völlig falsch― gelehrt bekommt, die zeitgenössische Avantgarde <strong>der</strong><br />
Chemiker in Europa stark befruchtet hat und damit zu bahnbrechenden<br />
Erkenntnissen führte, die Jahrtausende lang <strong>im</strong> Dunkeln gelegen hatten.<br />
Innerhalb von nur zwei(!) Jahrzehnten wurden grundlegende<br />
Erkenntnisse zur eigentlichen Natur <strong>der</strong> Elemente exper<strong>im</strong>entell<br />
erforscht, die die antike bzw. alchemistische Vorstellung <strong>der</strong> „Elemente―<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 209<br />
(Feuer, Luft, Wasser und Erde bzw. Schwefel, Quecksilber und Salz)<br />
endgültig abgelöst haben. Dies wurde nur möglich, nachdem die<br />
Analyse des Wassers und <strong>der</strong> Luft in ihre „Einzelteile―, in die<br />
eigentlichen chemischen Elemente, nämlich in Wasserstoff und<br />
Sauerstoff einerseits bzw. in Stickstoff und Sauerstoff an<strong>der</strong>erseits<br />
gelungen war und sich anschließend eine quantitativ-rechnerische<br />
Chemie entwickelt hat, die sogenannte Stöchiometrie.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
5.14 Über Georg Ernst STAHLs Ahnen<br />
Bevor wir auf diese überaus fruchtbare, wenn auch noch falsche<br />
Theorie, die „Phlogiston-Theorie bzw. -lehre― von BECHER und STAHL<br />
noch kurz eingehen, um dann die bahnbrechenden wissenschaftlichen<br />
Leistungen ihrer Nachfolger knapp zu schil<strong>der</strong>n, nun endlich zur Person<br />
von Georg Ernst STAHL selbst. Hier ist es dem Autor als Goethe-<br />
Genealogen ein Bedürfnis zunächst auf seine Biographie und hier<br />
beson<strong>der</strong>s zunächst auf seine Ahnenschaft einzugehen, da wir hier<br />
überraschen<strong>der</strong>weise auf einen Sektor in Goethes Ahnentafel<br />
vordringen, <strong>der</strong> erst Ende des 20. Jahrhun<strong>der</strong>t erforscht werden konnte.<br />
Dieser Personenkreis beansprucht durch seine Nachkommenschaft bis<br />
zur Gegenwart hohes soziologisches Interesse, da wir hier auf Personen<br />
stoßen, die wissenschaftliche und kulturelle, ja sogar politischgeschichtliche<br />
Bedeutung haben. Auf diese Tatsache ist wohl bei<br />
STAHL <strong>im</strong> Rahmen <strong>der</strong> Chemie-Geschichte noch niemals hingewiesen<br />
worden. Zudem hatte <strong>der</strong> Autor schon lange beabsichtigt, über diesen<br />
genealogischen Personenkreis zu berichten, da hier auch seine/meine<br />
genetische These von <strong>der</strong> „beson<strong>der</strong>en Mittlerrolle X-chromosomaler<br />
Gene bei <strong>der</strong> Ausprägung geistiger Eigenschaften― weiter untermauert<br />
wird.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
6 GENEALOGISCHE ZWISCHENBETRACHTUNG ZUR<br />
WISSENSCHAFTSGESCHICHTE DER CHEMIE<br />
Es sei hierzu eine genealogische Zwischenbetrachtung eingeschoben<br />
und am Ende die genetische These auch auf diese Familien<br />
ausgedehnt. Zunächst eine allgemeine Bemerkung zur Bedeutung <strong>der</strong><br />
Familie <strong>im</strong> Lichte <strong>der</strong> Genealogie überhaupt. Denn die Familie ist<br />
damals - noch mehr wie heute – schließlich die wichtigste Zelle von<br />
Staat, Gesellschaft und auch <strong>der</strong> Wissenschaftsgeschichte gewesen.<br />
Wolfgang HUSCKE, <strong>der</strong> bekannte Historikers und Genealoge aus<br />
We<strong>im</strong>ar sagte in diesem Zusammenhang einmal (in: „Staat und<br />
Gesellschaft <strong>im</strong> <strong>Zeit</strong>alter Goethes―, 1977):<br />
„Ist doch die Familie auch damals die wichtigste Zelle von Staat und<br />
Gesellschaft gewesen. Manche unsere <strong>Zeit</strong>genossen wollen dies<br />
allerdings nicht wahrhaben. Denn wie an<strong>der</strong>s sollte es zu erklären sein,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 210<br />
daß z. B. bei <strong>der</strong> Neueinrichtung des Goethe-Nationalmuseums in<br />
We<strong>im</strong>ar 1960 jene Schautafel entfernt worden ist, die eine Übersicht gab<br />
über Goethes Familie und Herkunft. Eine Antwort auf die Frage nach<br />
den Ursachen für solch wirklichkeitsfremde Ausklammerung<br />
genealogischer Tatsachen findet sich in dankenswerter Klarheit in Peter<br />
BERGLARs gedankenreichem Aufsatz „Tiefend<strong>im</strong>ensionen <strong>der</strong><br />
Genealogie― (Archiv für Sippenforschung (1973), H. 50, S. 83 ff.), in dem<br />
es u. a. heißt. „ Die Genealogie mißt Geschichtstheorien, kühne<br />
Hypothesen, gewagte Entwürfe, aber auch platte „-ismus―-Phraseologie<br />
mit <strong>der</strong> unerbittlichsten Elle, die es gibt: <strong>der</strong> Kenntnis vom tatsächlichen<br />
Menschen, welcher nicht am Schreibtisch eines Romanciers o<strong>der</strong> eines<br />
Philosophen ausgedacht, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> gezeugt und geboren wurde und<br />
in nüchternen Fakten nachweisbar ist. Da gibt’s dann freilich<br />
Überraschungen, die für alle Systemfin<strong>der</strong>, für die ‚Verallgemeinerer’, für<br />
die, die Wörter wie ‚prinzipiell’, ‚typisch’, ‚generell’ über alles lieben,<br />
ärgerlich sind. Die alten Stände waren keine abgeschlossenen Kasten;<br />
es gab Durchlässigkeit, Aufstieg und Abstieg, Konnubium, soziale<br />
Fluktuation; schollenpflichtige Bauern wurden nicht nur mißhandelt, als<br />
Fröner getreten, mitsamt ihren Familien ausgesaugt, son<strong>der</strong>n oft lebten<br />
sie in patriarchalischer Geborgenheit, vom Herrn ernährt und in <strong>der</strong> Not<br />
geschützt, es war in je<strong>der</strong> Epoche von Fall zu Fall, von Landschaft zu<br />
Landschaft verschieden. Die Beispiele lassen sich beliebig nach je<strong>der</strong><br />
Richtung fortsetzen. Es soll damit nur gesagt sein: die wissenschaftliche<br />
Genealogie ist das Differenzierungs-Instrument des mo<strong>der</strong>nen<br />
Historikers. Er muß und darf verallgemeinern; aber er sollte von <strong>Zeit</strong> zu<br />
<strong>Zeit</strong> <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> einmal die Kontrolle in concreto suchen, die dieses<br />
Instrumentarium gestattet. „Durch die Zuziehung <strong>der</strong> Ahnen―, sagte<br />
Goethe zu BOISSERÉE, „kömmt es <strong>im</strong>mer noch besser ins klare.―<br />
Nun endlich zu Georg Ernst STAHL, <strong>der</strong> fast ein Jahrhun<strong>der</strong>t die<br />
Chemie-Geschichte mit seiner „Phlogistontheorie― dominiert hat. Und<br />
zwar zuerst zu seiner genealogischen Stellung in <strong>der</strong> Ahnenschaft von<br />
Goethe:<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
6.1 STAHLs Großmutter war eine Ahnfrau Goethes!<br />
Georg Ernst STAHLs Großmutter mütterlicherseits war eine Ahnfrau<br />
Goethes von <strong>der</strong> sogar noch ein Bild auf einem prächtigen Grabmal<br />
(Epitaph), existiert, das heute <strong>im</strong> Crailshe<strong>im</strong>er He<strong>im</strong>atmuseum steht.<br />
Diese Verwandtschaft STAHLs führt in einen Ahnentafel-Sektor<br />
Goethes, <strong>der</strong> erst ziemlich spät erforscht werden konnte. Es handelt sich<br />
hier um den fränkisch-schwäbischen Personenkreis, vor allem in und um<br />
die Stadt Crailshe<strong>im</strong>/Württ., die erst ab 1810 zu Baden-Württemberg<br />
kam, aber vorher zum fränkischen Amt Ansbach/Bay. gehörte, das<br />
wie<strong>der</strong>um erst 1807 von Preußen an Bayern gekommen war. Georg<br />
Ernst STAHL wurde am 21. Oktober 1659, o<strong>der</strong> am 21. Oktober 1660, -<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 211<br />
die Angaben sind hier lei<strong>der</strong> verschieden - in Ansbach/Bayern geboren.<br />
Seine Eltern waren <strong>der</strong> Hofrats- und Ehegerichtssekretär Johann Lorenz<br />
STAHL in Ansbach und dessen Ehefrau Marie Sophie MEELFÜRER;<br />
beide wurden ebenfalls in Ansbach geboren. Die Mutter dieser Marie<br />
Sophie, die Anna Margaretha KÖHLER (auch Cöler), 1607-1652, ist nun<br />
eine Ahnfrau Goethes mütterlicherseits. Nach <strong>der</strong> genealogisch üblichen<br />
Ahnentafelbezeichnung hat sie die Ahnen-Nr. 51 in Goethes Ahnentafel.<br />
Anna Margaretha KÖHLER war zwe<strong>im</strong>al verheiratet; in erster Ehe 1628<br />
mit Johann Burkard MEELFÜRER, in zweiter Ehe 1639 mit Wolf(gang)<br />
Heinrich PRIESTER. Aus erster Ehe MEELFÜRER/KÖHLER stammt<br />
Georg Ernst STAHL, aus zweiter Ehe PRIESTER/KÖHLER stammt<br />
Goethe über <strong>der</strong>en Tochter Anna Margaretha PRIESTER ab (= Goethe-<br />
Ahnen-Nr. 25), getauft in Crailshe<strong>im</strong> 17. 7. 1640, die den gleichen<br />
Vornamen wie ihre Mutter hatte. Sie heiratete in Neuenstein am 20. 4.<br />
1663 Johann Wolfgang TEXTOR (den Älteren), 1638-1701, Goethes<br />
Ururgroßvater (= Ahnen-Nr. 24). Dieser ist in Goethes Ahnentafel <strong>der</strong><br />
erste, <strong>der</strong> den Vornamen Johann Wolfgang führt, dessen Enkel, heißt<br />
wie<strong>der</strong>um Johann Wolfgang TEXTOR (<strong>der</strong> Jüngere), 1638-1701,<br />
welcher nun Goethes Großvater mütterlicherseits ist. Johann Wolfgang<br />
TEXTOR <strong>der</strong> Ältere studierte in Jena und Straßburg und wird als<br />
promovierter Jurist 1661 gräflich Hohenlohischer Kanzleirat zu<br />
Neuenstein und ist seit 1666 Professor an <strong>der</strong> Universität Altdorf bei<br />
Nürnberg, wo er ein Jahr später <strong>der</strong> Doktorvater des größten deutschen<br />
Universalgenies Gottfried Wilhelm LEIBNIZ, 1646-1716, wird.<br />
Doch wie<strong>der</strong> zurück zu Johann Wolfgang d. Ä. Ehefrau Anna<br />
Margaretha PRIESTER, und <strong>der</strong>en Mutter gleichen Vornamens Anna<br />
Margaretha geb. KÖHLER (Cöler), die zwe<strong>im</strong>al verheiratet war. Sie hat<br />
eine hochinteressante Vorfahren- und Nachfahrenschaft, die erst Ende<br />
des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts erforscht worden ist und somit auch zu einer<br />
erheblichen Erweiterung von Goethes Ahnenschaft durch zahlreiche<br />
namhafte Genealogen führte. Auf einige dieser Veröffentlichungen, die<br />
auch wertvolle Beiträge zur deutschen Geistes- und Kulturgeschichte<br />
sind, werden wir hier nun kurz eingehen.<br />
Dr. Carl KNETSCH, 1874-1938, Archivdirektor in Marburg, <strong>der</strong> 1908<br />
die erste grundlegende Goethe-Genealogie „Goethes Ahnen―<br />
herausgegeben hat, war von dieser Anna Margaretha geb. KÖHLER nur<br />
ihre zweite Ehe mit Wolf(gang) Heinrich PRIESTER, Kaplan in<br />
Crailshe<strong>im</strong> und später Dekan in Feuchtwangen bekannt, den sie 1639 in<br />
Ansbach heiratete.<br />
Erst viele Jahre später konnte Dekan Friedrich HUMMEL weitere Daten<br />
zur Goethe-Genealogie erforschen und hat diese 1925 in einer Beilage<br />
des „Staats-Anzeigers für Württemberg―, an einer für die Genealogie<br />
recht entlegenen Stelle in einem kleinen Aufsatz mit dem Titel „Goethes<br />
Ahnen in und um Crailshe<strong>im</strong>― veröffentlicht. HUMMEL stellte darin auch<br />
einige Daten innerhalb <strong>der</strong> damals schon teilweise erforschten<br />
KÖHLER-Linie richtig und ergänzte sie weiter. Hier stellte er nun fest,<br />
daß <strong>der</strong> zweite Ehemann <strong>der</strong> Anna Margaretha KÖHLER, <strong>der</strong> Dekan<br />
Wolf(gang) Heinrich PRIESTER in Crailshe<strong>im</strong> zu seinen Lebzeiten ein<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 212<br />
großes Grabmahl (Epitaph) in Auftrag gegeben hat, das durch den<br />
fränkischen Maler Melchior RAUCK künstlerisch gestaltet und zwei<br />
Jahre nach dem Tode von PRIESTERs Ehefrau Anna Margaretha 1654<br />
in <strong>der</strong> alten Friedhofskapelle in Crailshe<strong>im</strong> aufgestellt worden ist. Dieses<br />
Epitaph stellt in <strong>der</strong> zeitgenössischen Mode <strong>der</strong> Barockzeit seine<br />
Familie als ganze Personen dar, wodurch uns also sogar ein Bilde von<br />
Goethes Ahnenpaar PRIESTER/KÖHLER mit ihren Kin<strong>der</strong>n aus <strong>der</strong><br />
Mitte des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts erhalten geblieben ist. Dieses Grabmahl mit<br />
seinen Daten stellt nun den Schlüssel zur weiteren Erforschung von<br />
Goethes Ahnen dar und hat weitere wertvolle Arbeiten über die<br />
Nachkommenschaft dieses Ahnenpaares ausgelöst und damit auch sehr<br />
interessante Familienverbindungen bis zur Neuzeit aufgeklärt.<br />
In dem in vielen Beziehungen interessanten Epitaph ist <strong>im</strong> Hauptstück<br />
eine schaurige Vision aus <strong>der</strong> Bibel (Ezechiel, Kap. 37) dargestellt. Ein<br />
Feld voller Totenskelette, die lebendig werden. Darunter ist die Familie<br />
PRIESTER gemalt zu Füßen des Gekreuzigten. Dekan HUMMEL<br />
beschreibt die Epitaph-Darstellung dann weiter: „M. Wolf Heinrich<br />
PRIESTER trägt die ernste Amtstracht. Sein Angesicht zeigt etwas von<br />
dem „wohlstudierten Manne―. Seine erste Gattin, Anna Margaretha, geb.<br />
KÖHLER, ist mit dem Kreuz als Verstorbene bezeichnet. Die zwei<br />
Kin<strong>der</strong> aus ihrer ersten Ehe mit MEELFÜRER sind ihr zunächst gestellt.<br />
In harmonischer Art reiht sich die Darstellung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> ihrer zweiten<br />
Ehe mit PRIESTER an. Gleich erkennen wir den ersten Namen: Anna<br />
Margaretha. Ist’s auch nur in solcher Art, es ist die Ururgroßmutter<br />
Goethes, die gemalt ist. Als zweite Gattin ist hinzugesellt die Aemilia,<br />
verwitwete ROTTENBUCH, die erwähnt worden ist. Etwa zwei Jahre<br />
nach dem Tod von Anna Margaretha hat PRIESTER das Epitaphium<br />
herstellen und folgende Inschrift beifügen lassen. Oben: „Herr M. Wolff<br />
Heinrich Priester deß 1654 Jahrs Kaplan allhier ist von Herr M. Johann<br />
Heinrich Priester Decano auch allhier und seiner Haußfrauen Eva<br />
[MEYER] den 23. Januari geboren anno 1611.― In <strong>der</strong> Mitte: „In<br />
Ehestand sich erstmals begeben anno 1639 mit undenbenan<strong>der</strong> Frau<br />
Meelfürer [geb. KÖHLER] und mit ihr in 13 Jahren 3 Söhne und 3<br />
Töchter gezeuget. In <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Ehe mit Frau Amalie Rotenbuchin…―<br />
Unten: „Die Ehrn-Tugendtreiche Frau Anna Margaretha [geb. KÖHLER,<br />
verw. MEELFÜRER] ist ao 1607 die 7 Octobris geboren von M.<br />
Wendelin Cöler <strong>der</strong>malen Pfarrer zu Illschwang: Verehlicht mit Herrn M.<br />
Johann Burk. Meelfürer Diacono zu Onzb. (Ansbach) <strong>im</strong> wittibstand<br />
gelebt, den 4. Nov. Deß 39 Jahrs mit obengedachtem Herrn Priestern<br />
verheuraht und dem 29. November Anno 1652 <strong>im</strong> Jahr 16 tag ihres<br />
alters in Christo seelig verschieden.―<br />
Wertvolle weitere Forschungsergebnisse hat dann Pfarrer Georg<br />
LENCKNER aus Gröningen/Württ. 1933 in einer 4-teiligen Aufsatzreihe<br />
<strong>im</strong> „Archiv für Sippenforschung― veröffentlicht, die er 20 Jahre später<br />
nochmals zusammengefaßt und etwas ergänzt hat („Fränkische<br />
Beiträge zur Ahnentafel Goethes― in: „Württembergisch Franken, Neue<br />
Folge 30, 1955). Dieser Artikel enthält auch zwei Photos vom<br />
Crailshe<strong>im</strong>er Epitaphs, die <strong>der</strong> Naturwissenschaftler und (Goethe-<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 213<br />
)Genealoge Prof. Dr. Siegfried RÖSCH, 1899-1984, aufgenommen hat,<br />
<strong>der</strong> als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei <strong>der</strong> optischen Firma Leitz AG<br />
in Wetzlar auf seinen Reisen stets seine „Leica― bei sich hatte und durch<br />
sein waches Auge bei <strong>der</strong> „Kamera-Pirsch― auch sein<br />
familiengeschichtliches Hobby viel profitierte. Vielleicht war RÖSCH<br />
auch einer <strong>der</strong> allerersten, <strong>der</strong> von LENCKERs Forschungen nicht nur<br />
für seine genealogischen Sammlungen zur Goethe-<br />
Gesamtverwandtschaft profitierte, son<strong>der</strong>n sogar bald aufgrund dieser<br />
Crailshe<strong>im</strong>er Forschungsergebnissen eigene Ahnengemeinschaften zu<br />
schwäbischen Goethe-Ahnen aus Schwäbisch Hall nachweisen<br />
konnte! Denn Goethes Crailshe<strong>im</strong>er Ahnen ließen sich bis nach<br />
Schwäbisch Hall zurückverfolgen!<br />
In einer kurzen Rezension über LENCKNERs „Fränkische Beiträge zur<br />
Ahnentafel Goethes― schreibt Prof. RÖSCH u. a: „Jede genealogische<br />
Forschung, die uns zuverlässige Daten beschert, ist wertvoll.<br />
Ergänzungen zur Goetheschen Ahnentafel sind aus zwei Gründen<br />
beson<strong>der</strong>s erwünscht: Einmal geht unser Streben schon lange dahin,<br />
nachzuweisen, aus welchen Quellen geistiger Erbschaft <strong>der</strong> Strom<br />
zusammenfließt <strong>der</strong> uns in Goethes Genius entgegentritt, zum an<strong>der</strong>en<br />
können mit jedem bekanntwerdenden Ahnenpaar Goethes neue<br />
Seitenverwandte und heute Lebende in das große Verwandtengeflecht<br />
um ihn eingefügt werden. Seit KNETSCHs Publikation 1932 hat Pfarrer<br />
LENCKNER wohl das Meiste an Bausteinen zur Goethe-Ahnentafel<br />
beigetragen, und er gibt damit ein schönes Beispiel, wie Wertvolles ein<br />
Forscher schaffen kann, wenn er nur sich auf die solide und geistvolle<br />
Ausschöpfung <strong>der</strong> ihm zugänglichen Forschungsquellen beschränkt<br />
dort, wohin ihn das Schicksal gestellt hat. Die vorliegende Schrift ist eine<br />
Zusammenfassung all dessen, was LENCKNER <strong>im</strong> fränkischen Raum<br />
Württembergs und Bayerns erforscht hat, teils unter Berichtigung früher<br />
veröffentlichter Vermutungen, teils in Eröffnung neuen Materials. Da die<br />
Neuigkeiten bereits in <strong>der</strong> 6. Ahnengeneration (Urgroßeltern <strong>der</strong><br />
Urgroßeltern Goethes) beginnen und an<strong>der</strong>erseits z. T. bis ins 14.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t zurückreichen (bürgerlich!), bieten sie recht wesentliche<br />
Ergänzungen.―<br />
Das Crailshe<strong>im</strong>er Epitaph wurde später renoviert und kam dann in das<br />
Crailshe<strong>im</strong>er He<strong>im</strong>atmuseum in <strong>der</strong> Spitalkirche am südlichen<br />
Stadteingang. Eine Aufnahmen des Epitaphs nach <strong>der</strong> Renovierung<br />
schmückte dann als Titelbild ein Heft <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>schrift „Archiv für<br />
Sippenforschung― (1985, Heft 98, S. 81-94) mit dem darauf bezüglichen<br />
wertvollen Aufsatz des Schauspielers, Intendanten und bekannten<br />
Genealogen Gero von WILCKE, 1913-1988. Der Titel seines Aufsatzes<br />
„Der Medizin-Klassiker STAHL und seine Enkel in <strong>der</strong><br />
Professorenfamilie BÖHMER“ läßt erkennen, daß Georg Ernst STAHL<br />
auch in <strong>der</strong> Medizingeschichte eine wichtige Rolle spielt. Die neue<br />
Epitaph-Aufnahmen stellte ihm <strong>der</strong> Kölner Goethe-Genealoge Dr.<br />
Theodor GÜNTHER, 1902- 1997, Dipl.-Volkswirt, Bürgermeister a. D.,<br />
zur Verfügung, <strong>der</strong> sich durch sein schönes Buch „Goethes<br />
Crailshe<strong>im</strong>er Vorfahren und ihre fränkisch-thüringische<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 214<br />
Verwandtschaft“ (Köln 1970, Selbstverlag) in <strong>der</strong> Goethe-Genealogie<br />
einen Namen gemacht hat. GÜNTHER hat in seinem Buch darauf<br />
hingewiesen, daß Georg Ernst STAHL ein Enkel <strong>der</strong> Goethe-Ahnfrau<br />
Anna Margaretha KÖHLER aus <strong>der</strong>en erster Ehe ist mit Johann Burkard<br />
MEELFÜRER ist, wobei er sich auf eine Quelle von 1938 bezieht<br />
(Fränkische <strong>Zeit</strong>ung, 1938, Dr. Thomas STETTNER, Goethes fränkische<br />
Ahnen <strong>im</strong> Hohenlohischen und Ansbachischen).<br />
GÜNTHER behandelt in seinem Buch vor allem die<br />
Professorengeschlechter HAMBERGER und REICHHARD in Jena, die<br />
sich von <strong>der</strong> zunächst Handwerk treibenden Crailshe<strong>im</strong>er KÖHLER-<br />
Familie ableiten, und zwar vom KÖHLER-Großvater <strong>der</strong> Goethe-Ahnfrau<br />
Anna Margaretha KÖHLER, dem Caspar KÖHLER, <strong>der</strong> um 1600<br />
Zinnkannengießer und Bürgermeister in Crailshe<strong>im</strong> war. GÜNTHER<br />
beschreibt ausführlich den Aufstieg <strong>der</strong> beiden Professorengeschlechter,<br />
die durch standesgemäße Eheverbindungen (z. B. über WEIGEL) sich<br />
zu einer regelrechten „Professoren-Dynastie― entwickelt haben.<br />
GÜNTHERs Buch ist nicht nur ein nüchternes genealogischen<br />
Datennachschlagewerk, son<strong>der</strong>n auch ein Buch zum Lesen. GÜNTHER<br />
holt hier nach gediegenem Quellenstudium und Zitieren für den<br />
fränkischen und den thüringischen Teil von Goethes Vorfahren das<br />
nach, was für den hessischen Teil schon seit längerer <strong>Zeit</strong> vorliegt. Man<br />
findet hier 226 Literaturangaben, wovon fast die Hälfte als eigentliches<br />
Goetheschrifttum bezeichnet werden kann. In einer kurzen Besprechung<br />
seines Buches durch Prof. Siegfried RÖSCH heißt es u. a.: „Was das<br />
Buch über diese sehr wertvolle genealogische Materialsammlung hinaus<br />
so beson<strong>der</strong>s lesenswert macht, sind die passenden eingestreuten,<br />
sachkundigen allgemein-historischen, wirtschafts- und wissenschaftsgeschichtlichen<br />
Exkursionen, mögen sie nun die Barchentbearbeitung<br />
(S. 18), die Technologie des Zinns (26), Sprachidiome (19, 23),<br />
Physikgeschichte (z. B. 106 ff.), Farbenlehre (119/122), die fränkische<br />
Pfarrergeschichte, Ortsgeschichte von Crailshe<strong>im</strong>, Heilsbronn u. a.<br />
betreffen, o<strong>der</strong> mag es sich um die objektiv, aber äußerst lebendig und<br />
dramatisch geschriebene Schil<strong>der</strong>ung des Regensburger<br />
Religionsgesprächs von 1601 handeln. Überall bemerkt man den<br />
vielseitigen gebildeten Autor und zieht aus <strong>der</strong> Lektüre Gewinn.―<br />
Aus dem Schriftwechsel, den Dr. GÜNTHER mit Prof. RÖSCH führte,<br />
geht hervor, daß GÜNTHER von <strong>der</strong> Persönlichkeit RÖSCHs sehr<br />
beeindruckt gewesen sein muß, nachdem er dessen großes Buch<br />
„Goethes Verwandtschaft― von 1956 kennengelernt hatte. Aufgrund<br />
eines Berichtes in <strong>der</strong> „Frankfurter Allgemeinen <strong>Zeit</strong>ung― (27.10.1966)<br />
über einen Festvortrag, den RÖSCH in Göttingen über das Thema<br />
„Goethes Gesamtverwandtschaft― gehalten hatte, wagte es GÜNTHER,<br />
gleich am 28. 10. 1966 an RÖSCH zu schreiben. Mit fast unterwürfiger<br />
Höflichkeit bittet er ihn darin, ihm einige Fragen zu seiner eigenen<br />
persönlichen genealogischen Beziehung zu Goethes Ahnenschaft zu<br />
beantworten. Unter an<strong>der</strong>em: „Bitte haben Sie die große Güte, mich mit<br />
Hilfe beiliegenden Freiumschlages wissen zu lassen, a.) ob Sie die<br />
Nachkommenschaft des Philipp CÖLER [KÖHLER] ebenfalls in Ihre<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 215<br />
Verwandtschaftsforschungen in Sachen Goethe einbezogen haben, b.)<br />
ob Sie uns als mit Goethe verwandt akzeptieren können o<strong>der</strong> die<br />
Beziehungen für zu weitläufig halten, c.)... d.) …― RÖSCH antworte<br />
Ende November 1966 (bereits <strong>im</strong> „Ruhestand―) nach einer<br />
Vortragsreise, daß ihn sein Brief „erfreut und interessiert hat―, daß ihm<br />
sein Göttinger Vortrag „eine Menge Korrespondenz eingetragen, vor<br />
allem wegen <strong>der</strong> Andeutung, daß ich in Göttingen über Goethes<br />
illegit<strong>im</strong>e Nachkommenschaft reden würde. Dies Thema scheint sehr zu<br />
interessieren, doch mußte ich darin enttäuschen: Ich möchte darüber<br />
gelegentlich in einem geson<strong>der</strong>ten Vortrag sprechen, aber nicht in einem<br />
solchen Festvortrag beiläufig. Ihre genealogische Übersicht zeigt<br />
eindeutig, daß Sie zu G.’s[Goethes] Gesamtverwandtschaft gehören―<br />
Die Goethe-Verwandten in RÖSCHs Buch „Goethes Verwandtschaft―<br />
sind hauptsächlich sog. Seitenverwandte, d. h. Nachkommen, die bis zur<br />
Ahnenreihe <strong>der</strong> Ururgroßeltern Goethes reichen (also bis zur sog. 16er<br />
Ahnenreihe, die bis zur Ahnen-Nr. 31 führt), wodurch aber <strong>im</strong>merhin<br />
über 4200 Goethe-Verwandte erfaßt werden konnten! Als Erweiterung<br />
hatte RÖSCH für einen 2. Band eine Ausdehnung auf die<br />
Nachkommenschaft bis zur 32-er Ahnenreihe vorgesehen (= Ahnen-Nr.<br />
32-55); und hier wäre dann auch die Nachkommenschaft des oben<br />
genannten Goethe-Ahnenpaares PRIESTER/ KÖHLER (= Ahnen-Nr.<br />
50/51) mit dabei gewesen, da RÖSCH schon von beiden Familien<br />
Stammtafeln für seine große Sammlung angelegt hatte, da er sich auch<br />
<strong>im</strong>mer für die ―Wurzeln― <strong>der</strong> einzelnen Familien interessiert hat. Die<br />
weitere Korrespondenz mit RÖSCH dürfte dann GÜNTHER dazu<br />
angespornt haben, sein Buch zur o.g. Goethe-Genealogie zu erarbeiten<br />
und nach 4 Jahren <strong>im</strong> Selbstverlag herauszugeben, das schließlich auch<br />
eine sehr positive Besprechung durch den damaligen Vorsitzenden <strong>der</strong><br />
Zentralstelle für Deutsche Personen- und Familiengeschichte,<br />
Berlin/Frankfurt a.M. Dr. H .F. FRIEDERICHS erhalten hat. Daraus hier<br />
nur zwei Sätze: „In <strong>der</strong> schier unübersichtlich gewordenen Goethe-<br />
Literatur, selbst genealogisch-biographischer Art, verdient diese Arbeit<br />
beson<strong>der</strong>e Beachtung; greift sie doch einen Ahnensektor, die CÖLER in<br />
Crailshe<strong>im</strong>, heraus, um seine soziologische und<br />
wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung zu beleuchten. Dies gelingt dem<br />
Verfasser, Bürgermeister d. D., vortrefflich, er kommt sogar zu<br />
wertvollen Erkenntnissen.―<br />
Doch nochmals zurück zum oben genannten STAHL-Artikel von Gero<br />
von WILCKE, zu dem er wohl beson<strong>der</strong>s durch GÜNTHERs Buch<br />
inspiriert worden ist. Schließlich ist v. WILCKE aufgrund seiner<br />
Forschungen zur eigenen Familie in Thüringen und Sachsen-Anhalt und<br />
als CRANACH-Nachkommen-Forscher auch ein guter Kenner <strong>der</strong><br />
Hallenser Professorenschaft. In Halle war ja Georg Ernst STAHL lange<br />
<strong>Zeit</strong> Professor an <strong>der</strong> durch Christian THOMASIUS, 1655-1728, eben<br />
neu gegründeten Universität, bevor er zuletzt in Berlin Leibarzt von<br />
König Friedrich Wilhelm I. von Preußen wurde. Gero v. WILCKE<br />
beschränkt sich in seinem Artikel in <strong>der</strong> Hauptsache auf die Kin<strong>der</strong><br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 216<br />
STAHLs. Sohn Georg Ernst (<strong>der</strong> Jüngere), 1713-1772, wurde als Dr.<br />
med. praktischer Arzt in Berlin, Unter den Linden; Tochter Regine<br />
Ernstine, geboren 1712, verheiratete sich mit Dr. med. Johann August<br />
ARENDS, preußischer Hofrat und Waisenhaus- und Garnisonmedikus in<br />
Potsdam; die jüngste Tochter Catharina Louise Charlotte STAHL, 1717-<br />
1780 heiratete in Berlin den Hallenser Rechts-Professor Friedrich von<br />
BÖHMER, 1704-1772, <strong>der</strong> mit seinen beiden Geschwistern Ludwig und<br />
Adolph BÖHMER ein berühmtes Professoren-Dreigespann bildete.<br />
Ludwig, 1715-1797, war Rechtsprofessor in Göttingen und Adolph,<br />
1716-1789, Professor für Chirurgie, Medizin und Anatomie in Halle. Die<br />
10 Kin<strong>der</strong>n Catharina Louise Charlotte STAHLs, <strong>der</strong> Tochter unseres<br />
epochalen Chemikers und Mediziners aus ihrer Ehe mit Friedrich von<br />
BÖHMER (er erhielt 1770 den preußischen Adel) bilden die<br />
Probandenreihe in <strong>der</strong> Ahnliste, die den Rahmen von Gero v. WILCKEs<br />
Artikel bildet. Wir gehen auf diese hier nicht weiter ein, erwähnen nur,<br />
daß die umfangreiche Nachkommenschaft gut erforscht und in den<br />
genealogischen Reihenwerken dokumentiert worden ist. Der<br />
berühmteste Nachkomme unseres Chemikers und Mediziners Georg<br />
Ernst STAHL ist Großadmiral Alfred von TIRPITZ, über den <strong>der</strong><br />
namhafte Genealoge Friedrich Wilhelm EULER, 1908-1995, den sehr<br />
aufschlußreichen Aufsatz „Alfred von TIRPITZ und seine Ahnen―<br />
veröffentlicht hat, auf den wir jedoch später noch eingehen wollen, um<br />
dann anschließend mit meiner bereits oben genannten genetischen<br />
These, diese „genealogische Zwischenbetrachtung― abzuschließen.<br />
Zunächst wollen wir jetzt auf die Professorenfamilien HAMBERGER<br />
und REICHARDT eingehen, <strong>der</strong>en genealogischer Ausgangspunkt das<br />
Ehepaar Johann Philipp CÖLER (KÖHLER), 1592-1638, ein jüngerer<br />
Bru<strong>der</strong> des Goethe-Ahn Wendelin CÖLER, und seine Ehefrau Agnes<br />
LAELIUS sind. Johann Philipp CÖLER studierte als<br />
Kannengießerssohn, wie sein älterer Bru<strong>der</strong> Wendelin, ebenso in<br />
Wittenberg Theologie, aber auch Philosophie. Später studierte er noch<br />
in Jena und Gießen, wo er seine Studien dann abgeschlossen hat. 1620<br />
kam er auf Empfehlung als Stadtkaplan und Hofdiakonus in die<br />
markgräfliche Residenzstadt Ansbach, wo er 1621 Agnes LAELIUS<br />
heiratet. Sie ist die 18-jährige Tochter des Ansbacher Stadtpfarrers und<br />
fürstlich-Brandenburgischen Konsistorialrats Magister Lorenz LAELIUS<br />
(Sohn eines Schultheiß in Kleinlanghe<strong>im</strong> bei Kitzingen), <strong>der</strong> eine<br />
markante Persönlichkeit kirchlichen und auch kirchenpolitischen Lebens,<br />
weit über die Grenzen hinaus geworden ist. Von 1602 war er Rektor <strong>der</strong><br />
Fürstenschule in Heilsbronn, ab 1605 ging er mit <strong>der</strong> Würde eines<br />
Generalsuperintendenten wie<strong>der</strong> nach Ansbach und ist auch als Lehrer<br />
und Erzieher <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> des Markgrafen Joach<strong>im</strong> Ernst von Ansbach<br />
in die Geschichte des Fürstentums Ansbach eingegangen.<br />
Aus <strong>der</strong> Ehe Johann Philipp CÖLER und Agnes LAELIUS sind 9<br />
Kin<strong>der</strong> hervorgegangen, von denen sechs <strong>im</strong> jugendlichen Alter<br />
verstorben sind. Die 1624 in Ansbach geborene Tochter Barbara<br />
CÖLER heiratete 1650 Georg Ludwig HAMBERGER, 1622-1689, und<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 217<br />
hat dadurch den CÖLER-Stamm mit dem hochangesehenen fränkischthüringischen<br />
Gelehrtengeschlecht <strong>der</strong> HAMBERGERs verbunden. Der<br />
Sohn Martin Clemens CÖLER, geboren 1629 in Uffenhe<strong>im</strong>, studiert in<br />
Wittenberg Theologie, wo er die Magisterwürde erlangt und kehrt 1655<br />
in die fränkische He<strong>im</strong>at zurück, wo er zunächst zum Konrektor <strong>der</strong><br />
Fürstenschule in Heilsbronn bestellt wird, drei Jahre später überträgt<br />
man ihm das Rektorat, das er bis 1675 behält. Danach wirkt er als<br />
Prediger an <strong>der</strong> Fürstenschule, Professor <strong>der</strong> Theologie und für<br />
hebräische Sprache sowie als Pfarrer <strong>der</strong> Ortsgemeinde Heilsbronn bis<br />
zu seinem Tode 1691. Aus <strong>der</strong> Ehe mit Maria Sibylla Engelmann sind<br />
zwei Söhne bekannt. Christoph Martin CÖLER, Pfarrer in Schwabach<br />
und Johann Achatius CÖLER, Dr. theol., zuletzt Prof. <strong>der</strong> Mathematik<br />
und <strong>der</strong> orientalischen Sprachen am Akademischen Cas<strong>im</strong>ir-<br />
Gymnasium in Coburg. Die jüngere Tochter Anna Rosina CÖLER,<br />
geboren 1634 in Crailshe<strong>im</strong> heiratete 1663 den Pfarrer Georg<br />
PRIELMAYER in Waldtann bei Crailshe<strong>im</strong>.<br />
Nun zur Familie HAMBERGER, in die Barbara CÖLER eingeheiratet<br />
hatte; ihr Ehemann Georg Ludwig (<strong>der</strong> Ältere),1622-1689, war wie sein<br />
Vater und Großvater Pfarrer <strong>im</strong> Fränkischen. Der Urgroßvater<br />
HAMBERGER war noch Tuchmacher in Dinkelsbühl gewesen. Aus <strong>der</strong><br />
Ehe Georg Ludwig HAMBERGER und Barbara CÖLER gingen 7 Söhne<br />
und 3 Töchter hervor, wovon hier nur die überlebenden Kin<strong>der</strong><br />
nachfolgend erwähnt sind: Maria Catharina HAMBERGER heiratete<br />
Johann Friedrich KREBS, Professor an <strong>der</strong> Klosterschule in Heilsbronn<br />
(Nachfolger von Martin Clemens CÖLER). Georg Ludwig<br />
HAMBERGER <strong>der</strong> Jüngere, 1652-1723, wird Dekan in Feuchtwangen;<br />
er heiratet 1716 Maria Sophia HUSSWEDEL, die aus angesehenem<br />
fränkischen Gelehrtengeschlecht entstammt. Von den 14 Kin<strong>der</strong>n sind<br />
nur 6 namentlich bekannt. Drei ihrer Töchter heiraten in Theologenkreise<br />
(Dekan in We<strong>im</strong>ershe<strong>im</strong> bei Treuchtlingen; Pfarrer in Uffenhe<strong>im</strong>;<br />
Stiftsprediger in Feuchtwangen). Die drei Söhne: Jacob Wilhelm<br />
HAMBERGER wird ebenfalls Pfarrer in Feuchtwangen und heiratet<br />
wie<strong>der</strong>um eine Frau Johanna Katharina aus <strong>der</strong> Familie HUSSWEDEL,<br />
<strong>der</strong>en Sohn Georg Christoph wird Professor für Literaturwissenschaften<br />
in Göttingen. Lorenz Andreas HAMBERGER verstarb als junger<br />
Gelehrter nach dem Studium in Jena und Wittenberg schon mit 28<br />
Jahren. Friedrich Joseph HAMBERGER wurde nach kurzem Studium<br />
in Jena Soldat und brachte es bis zum Oberst in Schlüsselburg bei<br />
Leningrad, sein Sohn Karl war Generalleutnant in Danzig und wurde<br />
wegen seiner Verdienste geadelt.<br />
Die weiteren Kin<strong>der</strong> <strong>der</strong> Ehe HAMBERGER/ Köhler:<br />
Maria Sibylla HAMBERGER, sie heiratet den Pfarrer Johann Michael<br />
RÜCKER, zuletzt Pfarrer in Windshe<strong>im</strong>; aus dieser Ehe ging eine<br />
außergewöhnlich eindrucksvolle RÜCKER-Kin<strong>der</strong>schar hervor, die hier<br />
noch aufgezählt sei:<br />
Anna Catharina, verheiratet mit Johann Leonhard MERCKLEIN,<br />
Bürgermeister und Oberzinsherr in Windshe<strong>im</strong>. Johann Daniel,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 218<br />
Magister und berühmter Rektor am Gymnasium in Windshe<strong>im</strong>. Georg<br />
Ludwig, Magister, Gelehrter <strong>der</strong> orientalischen Sprachen in Jena.<br />
Margarethe Polyxena, verheiratet mit Johann Georg SPEYER,<br />
Stadtpfarrer und Dekan in Windshe<strong>im</strong>. Christian Friedrich, Mitglied des<br />
inneren Rates in Windhe<strong>im</strong>. Johann Conrad, Dr. jur., Prof. <strong>der</strong><br />
Rechtswissenschaften an <strong>der</strong> Universität Leiden (Holland). Johann<br />
Christoph, Superintendent und Konsistorialrat in Bayreuth. Augustin<br />
Michael, Superintendent und Konsistorialrat in Rothenburg ob <strong>der</strong><br />
Tauber. Margaretha Sibylla, verheiratet mit Georg Wilhelm DIETZE,<br />
Rektor des Gymnasiums in Windshe<strong>im</strong>. Dann noch aus <strong>der</strong> Ehe<br />
HAMBERGER/KÖHLER:<br />
Georg Friedrich HAMBERGER, er war „Hochgräflicher Hofmeister― in<br />
Leipzig, wo er Jura, Geschichte, Geographie studierte und außerdem<br />
Sprachstudien, Leibesübungen und Fechten betrieben hat. Als<br />
Hofmeister begleitete er viele adlige Herrschaften auf <strong>der</strong>en Reisen.<br />
Hans Georg HAMBERGER, war Bürgermeister in Fürth/Bayern. Und<br />
schließlich noch aus <strong>der</strong> Ehe HAMBERGER/Köhler <strong>der</strong> erste<br />
HAMBERGER-Professor in Jena:<br />
Georg Albrecht HAMBERGER, 1662-1716, war zunächst<br />
Mathematik-Professor in Altdorf und später in Jena; er war mit Sophie<br />
Catharina SPITZ verheiratet, einer Tochter von Prof. Dr. jur Felix SPITZ<br />
und Anna Catharina WEIGEL, <strong>der</strong> einzigen Tochter des berühmten<br />
Jenaer Gelehrten Erhard WEIGEL. Erhard WEIGEL war Mathematiker,<br />
Astronom, Pädagoge, Philosoph und Erfin<strong>der</strong>. „Er hat Ausstrahlungskraft<br />
für das ganze 17. Jahrhun<strong>der</strong>t. Sein Schülerkreis und seine zahlreichen<br />
Veröffentlichungen haben wissenschafts-geschichtlichen Einfluß großen<br />
Maßstabes ausgeübt. In die Geschichte und Wirksamkeit <strong>der</strong> Jenaer<br />
Universität ist WEIGEL als Träger einer beson<strong>der</strong>en Ära eingegangen―<br />
(nach Dr. Theodor Günther). Erhard WEIGEL war auch <strong>der</strong> erste<br />
einflußreiche Mathematiklehrer von Gottfried Wilhelm LEIBNIZ. Er hörte<br />
ihn als 17-jähriger 1663 in Jena und hatte auch später noch einigen<br />
Briefwechsel mit ihm von 1679 bis 1697 über Mathematik und die<br />
Verbesserung <strong>der</strong> Schulen. LEIBNIZ schreibt einmal über WEIGEL, daß<br />
er ihn (LEIBNIZ) wie einen "Exoten" betrachtet habe und fügt hinzu,<br />
„freilich, wer mich nur aus meinen gedruckten Arbeiten kennt, <strong>der</strong> kennt<br />
mich <strong>im</strong> Grunde gar nicht.― Erhard WEIGEL wurde 1625 als Sohn eines<br />
Tuchmachers und späteren Lehrers <strong>im</strong> oberpfälzischen Weiden geboren<br />
und ist 1699 in Jena gestorben. Über seine einzige Tochter Anna<br />
Catharina, die mit Prof. Felix SPITZ verheiratet war, hat sich über die<br />
WEIGEL-Enkelin Sophia Catharina SPITZ, <strong>der</strong> Ehefrau von Georg<br />
Albrecht HAMBERGER, <strong>der</strong> zweite Teil <strong>der</strong> umfangreichen<br />
HAMBERGER-Nachkommenschaft bis zur Gegenwart entwickelt. Auf<br />
diese ersten Generationen sei jetzt noch ein Blick geworfen, ausgehend<br />
vom zuletzt erwähnten Georg Ludwig HAMBERGER, <strong>der</strong> 1662 in<br />
Beyersberg bei Gunzenhausen geboren wurde, in Altdorf und Jena<br />
Mathematik und Physik studierte und Nachfolger des genannten<br />
berühmten Erhard WEIGEL als ordentlicher Mathematik-Professor<br />
wurde. Aus seiner Ehe mit Sophia Catharina SPITZ sind 10 Kin<strong>der</strong><br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 219<br />
hervorgegangen, 7 Töchter und 3 Söhne, wovon die Hälfte jung<br />
verstoben ist. Der einzig überlebende Sohn war Georg Erhard<br />
HAMBERGER, 1697-1755, Theodor GÜNTHER schreibt über ihn: „In<br />
Georg Erhard, dem einzig verbliebenen Sohn Georg Albrecht<br />
HAMBERGERs erreicht die Geisteskraft des Gelehrtengeschlechts,<br />
bereichert von <strong>der</strong> durch die Einheiraten <strong>der</strong> ausgewählten<br />
Ehegatten und <strong>der</strong>en Vorfahren „eingebrachten“ Intelligenz, die<br />
verschmolzen mit Fleiß und systematischem Arbeitsantrieb ist,<br />
Höhepunkt und Krönung. Gewiß finden wir auch in <strong>der</strong> auf Erhard<br />
folgenden <strong>Zeit</strong> hochgeistige, bildungsmäßig qualifizierte<br />
Nachfahrenfamilien. Aber die bisherige Verdichtung kulturell exponierter<br />
Namensträger HAMBERGER verliert sich allmählich: Eine ganz<br />
natürliche, woan<strong>der</strong>s ebenfalls nachweisbare Entwicklung, die jedenfalls<br />
weitaus tröstlicher anmutet, als ein abrupter Sturz in Dekadenz. Von<br />
einer <strong>der</strong>artigen Tendenz kann bei den HAMBERGER-Nachfahren nicht<br />
die Rede sein. Mit dem Vornamen Erhard ist als Hauptpate <strong>der</strong><br />
Großvater <strong>der</strong> Kindesmutter (mütterlicherseits), Erhard WEIGEL, ins<br />
Gedächtnis gerufen worden.― In Jena erhält Georg Erhard<br />
HAMBERGER nach seinen Studien aufgrund seiner außergewöhnlichen<br />
Befähigung zunächst bereits 1737 einen Physik-Lehrstuhl und<br />
anschließend verschiedene Lehrstühle (Medizin, Botanik, Anatomie und<br />
Chirurgie) unter Beibehaltung des Physiklehrstuhles. 1749 nach dem<br />
Tode seines Schwiegervaters Johann Adolph WEDEL erhielt er auch<br />
noch dessen Lehrstuhl für Chemie und praktische Medizin und wurde<br />
zum Rektor <strong>der</strong> Universität Jena gewählt. In dieser Lehrtätigkeit hat<br />
Georg Erhard HAMBERGER bis zu seinem Tode 1755 gewirkt. Georg<br />
Erhard hatte mit seiner Ehefrau Sophia Margaretha WEDEL 11 Kin<strong>der</strong>,<br />
von denen 10 erwachsen wurden und alle in Akademikerkreisen<br />
verblieben. Die Tochter Dorothea Elisabeth Sophia HAMBERGER<br />
heiratete 1756 z. B. in die berühmte Professorenfamilie WIEDEBURG<br />
ein, die Prof. Siegfried RÖSCH in seiner „Gießener Professorengalerie―<br />
(1957), über 5 Generationen dargestellt hat.<br />
Georg Eberhards Schwestern: Anna Catharina, Anna Dorothea,<br />
Clara Elisabeth und Susanna Hedwig HAMBERGER heirateten<br />
ebenfalls wie<strong>der</strong> in Akademikerkreise ( Stiftsprediger in We<strong>im</strong>ar später<br />
Professor in Altdorf; Dr. jur., Syndikus <strong>der</strong> Universität Jena;<br />
Universitätsamtmann in Jena und Superintendent in Osthe<strong>im</strong>/Rhön.<br />
Clara Elisabeth HAMBERGER, die 1731 den Jenaer<br />
Universitätsamtmann Christoph Friedrich REICHARDT heiratete, hat die<br />
Verbindung mit dem REICHARDT-Geschlecht hergestellt, das sich erst<br />
jetzt – wohl durch Clara Elisabeth HAMBERGERs Einheirat! – zu einer<br />
ebenfalls sehr angesehenen Gelehrtenfamilie entwickelt hat, worüber<br />
jetzt noch berichtet werden soll.<br />
Wenn Goethe die beiden Jenaer Naturwissenschaftler HAMBERGER<br />
auch nicht mehr erleben konnte, <strong>der</strong> Sohn Georg Erhard starb 1755, so<br />
sind sie trotzdem seiner Aufmerksamkeit nicht entgangen. Theodor<br />
GÜNTHER hat alle Äußerungen Goethes über Vater Georg Albrecht und<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 220<br />
Sohn Georg Erhard zusammengestellt; es sind 4 Zitate über Georg<br />
Albrecht und 8 Äußerungen über Georg Erhard. Von beiden hat Goethe<br />
„die Lehrauffassungen und Schriften <strong>der</strong> Exper<strong>im</strong>entalwissenschaftler<br />
Vater und Sohn, soweit sie sich mit Farbenlehre befassen, mit<br />
Aufmerksamkeit studiert und, obwohl sie sich <strong>im</strong> Gedankenkreis<br />
NEWTONs bewegen, ernst genommen.― (lt. GÜNTHER). Goethe konnte<br />
sich bezüglich des NEWTON-Anhängers Georg Erhard HAMBERGER<br />
allerdings manches leicht ironischen Seitenhiebes nicht entschlagen,<br />
wenn Gegensätze zu seiner Farbentheorie erkennbar wurden.- So heißt<br />
es z. B. in Goethes beeindruckenden „Materialien zur Geschichte <strong>der</strong><br />
Farbenlehre“ (1810) an zwei Stellen <strong>im</strong> Kapitel unter „18. Jahrhun<strong>der</strong>t―<br />
<strong>im</strong> Abschnitt: Deutsche gelehrte Welt: „Nur eins können wir anführen,<br />
daß Professor HAMBERGER 1743 nach Gotha berufen wird, um die<br />
NEWTONSCHen Versuche, welche die allgemeine Aufmerksamkeit<br />
erregten, bei Hofe vorzuzeigen. Wahrscheinlich hat man das Z<strong>im</strong>mer<br />
recht dunkel gemacht, durch das foramen exiguum <strong>im</strong> Fensterladen erst<br />
den sogenannten Strahl hereingelassen, das fertige prismatische Bild an<br />
<strong>der</strong> Wand gezeigt, mit einem durchlöcherten Bleche die einzelnen<br />
Farben dargestellt und durch eine zweite ungleiche Verrückung, durch<br />
das sogenannte exper<strong>im</strong>entum crucis, auf <strong>der</strong> Stelle die höchsten<br />
Herrschaften und den sämtlichen Hof überzeugt, so daß HAMBERGER<br />
triumphierend zur Akademie zurückkehren konnte.―<br />
Im Abschnitt „Akademie Göttingen― schreibt Goethe: „Es ist interessant<br />
zu sehen, durch welche Reihe von Personen auf einer besuchten<br />
Akademie die NEWTONsche Lehre fortgepflanzt worden. Ein Göttinger<br />
Professor hatte ohnehin, bei <strong>der</strong> nahen Verwandtschaft mit England,<br />
keine Ursache, eine Meinung näher zu prüfen, welche schon<br />
durchgängig angenommen war, und so wird sie denn auch bis auf den<br />
heutigen Tag noch dort so gut als auf an<strong>der</strong>en Akademien gelehrt.[…].<br />
SEGNER, 1736 liest Physik über HAMBERGER, WOLFF,<br />
MUSCHENBROEK, nach Diktaten, von 1744 an; sodann über seine<br />
Anfangsgründe, von 1746 bis zu seinem Abgang 1754.― Goethes<br />
Anspielung auf die nahe Verwandtschaft bezieht sich auf den welfischen<br />
Königsthron in Hannover, wozu Göttingen gehörte, <strong>der</strong> mit dem<br />
britischen Königshaus nahe verwandt war.<br />
Die überlebenden Schwestern Georg Erhard HAMBERGERs Anna<br />
Catharina, Anna Dorothea, Clara Elisabetha und Susanna Hedwig<br />
HAMBERGER heirateten wie<strong>der</strong> in Akademikerkreise ein (Stiftsprediger<br />
in We<strong>im</strong>ar später Professor in Altdorf; Dr. jur., Syndikus <strong>der</strong> Universität<br />
Jena; Universitätsamtmann in Jena; Superintendent in Osthe<strong>im</strong> (Rhön).<br />
Clara Elisabetha HAMBERGER, die 1731 den Jenaer<br />
Universitätsamtmann Christoph Friedrich REICHARDT heiratete, hat die<br />
Verbindung mit dem REICHARDT-Geschlecht hergestellt, das sich erst<br />
jetzt – wohl durch Clara Elisabetha HAMBERGERs Einheirat! – zu einer<br />
ebenfalls sehr angesehenen Gelehrtenfamilie entwickelt hat, worüber<br />
jetzt noch kurz berichtet werden soll.<br />
Die berufliche Stellung Christoph Friedrich REICHARDTs, 1695-<br />
1763, des Ehemannes <strong>der</strong> Clara Elisabetha HAMBERGER, ist ganz eng<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 221<br />
mit den finanziellen Gegebenheiten <strong>der</strong> Universität Jena verbunden, für<br />
die er eine hohe Verantwortung getragen hat. Theodor GÜNTHER<br />
schreibt zu diesem auch kulturgeschichtlich interessanten<br />
Abhängigkeitsverhältnis <strong>der</strong> Jenaer Universität: „Christoph Friedrich<br />
REICHARDT war 1727 Pächter des Dotationsgutes Remda [bei<br />
Rudolstadt] und Amtmann <strong>der</strong> Herrschaft Remda. Herzog Wilhelm von<br />
We<strong>im</strong>ar räumte 1633 das fürstlich sächsische akademische Amt Remda<br />
<strong>der</strong> Universität Jena mit Ober- und Nie<strong>der</strong>gerichten samt allen<br />
Nutzungen und Gerechtigkeiten (Berechtigungen) als ein Dotalgut zur<br />
Besoldung und Unterhaltung <strong>der</strong> Professoren ein. Zu diesem Amt<br />
Remda gehörten die Ortschaften Altremda, Heilsberg, Kirchremda,<br />
Sundremda (Süd-Remda). Für sämtliche Einwohner dieses Amtes<br />
waren die Ober- und Untergerichte <strong>der</strong> Universität zuständig. Die<br />
Stellung REICHARDTs war von großer Selbständigkeit, da er die<br />
Amtsobrigkeit in den Händen hatte und nur <strong>der</strong> Universität Jena<br />
verantwortlich war. Auch die Schäfereien zu Sund- und Kirchremda<br />
waren mit verpachtet und zur Universität gehörig. […] Ohne die sichere<br />
Grundlage, welche die Güter nach dem Dreißigjährigem Krieg gewährt<br />
haben, sei die lang anhaltende Blütezeit <strong>der</strong> Universität Jena in <strong>der</strong> 2.<br />
Hälfte des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts nicht restlos verständlich, besagen<br />
Abhandlungen über die Staatszuschüsse <strong>der</strong> Friedrich-Schiller-<br />
Universität Jena aus neuster <strong>Zeit</strong>. Außer diesem Gut Remda mit 1800<br />
Gulden Ertrag kam das mit 1200 Gulden angesetzte Rittergut Apolda.<br />
Beide zusammen deckten 75% des Universitäts-Besoldungsaufwandes.<br />
Es ist naheliegend, zu verstehen, daß eine solche Berufstätigkeit, die<br />
REICHARDT sein ganzes Leben lang ausgeübt hat, nicht nur solides<br />
landwirtschaftliches und finanztechnisches Wissen vorausgesetzt hat,<br />
son<strong>der</strong>n vor allem absolute Lauterkeit, Unbestechlichkeit, Umsicht und<br />
Überschau. Er galt als Nährvater <strong>der</strong> Jenaer Alma Mater. Da die<br />
Universität Jena ohnehin den Ruf einer Universitas pauperum (<strong>der</strong><br />
Armen) hatte, weil das wirtschaftliche Leben in Jena bei den Studiosi<br />
ausgesprochen spartanisch ablief, allerdings deshalb auch nur geringe<br />
Unterhaltungskosten verursachte, kam es auf äußerst rationelle<br />
Wirtschaftsführung <strong>der</strong> Dotationsgüter und <strong>der</strong>en Verantwortliche an.―<br />
Das Ehepaar REICHARDT/HAMBERGER hatte 3 Töchter und 2<br />
Söhne, die alle in Remda geboren wurden. Von zwei Töchtern ist<br />
bekannt, daß auch sie sich mit Theologen verheirateten (einen Pfarrer in<br />
Kalbsrieth bei Artern, sowie einen späteren Superintendenten in<br />
Remda). Die Genealogie <strong>der</strong> weitverzweigten Familie REICHARDT<br />
wurde erfreulicherweise bereits <strong>im</strong> Deutschen Geschlechterbuch Band<br />
87 (= Thüringisches Geschlechterbuch Band 1) dokumentiert. Die<br />
beiden Söhne Heinrich Ernst, 1740-1801 und Johann August, 1741-<br />
1808, setzten den REICHARDT-Stamm mit jeweils 10 bzw. 2 Kin<strong>der</strong>n<br />
fort. Heinrich Ernst REICHARDT war Herzoglich Sächsischer<br />
Hofadvokat und Gerichtsdirektor in Meuselwitz bei Altenburg und dem<br />
benachbarten Großröda, später Bürgermeister <strong>der</strong> Nachbarstadt<br />
Schmölln. Von den beiden Töchtern Henriette Charlotte Christiane,<br />
1777-1850, und Klara Eleonore, 1780-1857, entstehen durch die Ehen<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 222<br />
mit Obersteuerrat Johann Friedrich August WAGNER bzw. dem Pfarrer<br />
Johann Christian Friedrich HEMPEL vielfältige verwandtschaftliche<br />
Verflechtungen mit ansässigen Familien in den früheren Herzogtümern<br />
Sachsen-Gotha und Sachsen-Altenberg. Es seien hier nur die Familien<br />
WAGNER, HAGER, HAUSCHILD, TRAUTWEIN, WEIBEZAHL, WAITZ<br />
sowie HEMPEL, GÜNTHER, MÖRLIN, PIERER, POSERN, LIST<br />
genannt.<br />
Der um 1 ½ Jahre jüngere Bru<strong>der</strong> Johann August REICHARDT<br />
gelang ein beachtlicher beruflicher Aufstieg. Er erwarb 1763 in Jena die<br />
juristische Doktorwürde, wurde 1771 dort ordentlicher Professor <strong>der</strong><br />
Rechte und war seit 1803 Ordinarius <strong>der</strong> juristischen Fakultät in Jena. Er<br />
stand mit Goethe in naher Verbindung, dem er auch zwei <strong>im</strong> Goethe-<br />
Schiller-Archiv We<strong>im</strong>ar verwahrte Briefe geschrieben hat. Ein Urenkel<br />
von ihm ist <strong>der</strong> frühere Landesbischof von Thüringen D. theol.<br />
Wilhelm REICHARDT in Eisenach, 1871-1941. <strong>der</strong> mit dem NS-Reg<strong>im</strong>e<br />
und den „Deutschen Christen― in Gegensatz geriet und Anfang 1934<br />
sein Amt nie<strong>der</strong>legte.<br />
Die Familie KÖHLER (CÖLER) in Goethes Ahnentafel ist ein typisches<br />
Genealogie-Beispiel, wie von einer bäuerlichen, später handwerklichen<br />
Familie, sich <strong>der</strong> soziale Aufstieg zunächst über eine Reihe von<br />
stabilisierenden Pfarrerfamilien weiter entwickelte und dann in mehreren<br />
Professorenfamilien seine Fortsetzung gefunden hat. Es sei in diesem<br />
Zusammenhang ein Resümee aus einer ähnlichen Untersuchung<br />
eingefügt. Professor Siegfried RÖSCH hat in <strong>der</strong> Festschrift zur 350-<br />
Jahrfeier <strong>der</strong> Universität Gießen in einer Studie „Die<br />
Professorengalerie <strong>der</strong> Gießener Universität“ (1957), zu <strong>der</strong> er als<br />
Professor <strong>der</strong> Mineralogie ebenfalls gehörte, genealogische<br />
Betrachtungen zur verwandtschaftlichen Verflechtung <strong>der</strong><br />
Professorenfamilien – beson<strong>der</strong>s in Gießen - angestellt, da diese zu<br />
regelrechten „Professorendynastien― geführt haben und die<br />
Heiratsverbindungen auch sehr eindrucksvoll durch Grafiken dargestellt.<br />
Dort spielte die Marburger Gelehrtenfamilie ORTH eine große Rolle, aus<br />
<strong>der</strong> bekanntlich auch Goethe mit einer dreifachen-ORTH-Abstammung<br />
hervorgegangen ist. In einer Grafik erscheint dort am Ende auch <strong>der</strong> aus<br />
kleinen Verhältnissen hervorgegangene große Chemiker Justus von<br />
LIEBIG, 1803-1873, nur deshalb, weil seine Kin<strong>der</strong> und Enkel - nun zu<br />
höherem Geburtsstande aufgestiegen - jetzt in die deutsche<br />
Professorenschaft eingeheiratet haben, bzw. „jetzt erst konnten―, und<br />
durch diese Eheverbindungen in die Professorendynastien<br />
eingedrungen sich mit ihnen genealogisch verflochten haben. RÖSCH<br />
schreibt hierzu: „LIEBIGs Vorfahren waren fast ohne Ausnahme „kleine<br />
Leute― (Schuhmacher, Schnei<strong>der</strong>, Ackerleute), sie enthalten keinen<br />
Vertreter eines geistigen Berufs. Betrachten wir aber die Tafel 4, so zeigt<br />
sich: es w<strong>im</strong>melt in seiner Nachkommenschaft und <strong>der</strong>en Ehepartnern<br />
geradezu von Professoren aller Art; wir finden Namen wie Hans<br />
DELBRÜCK, Karl THIERSCH, Adolf von HARNACK! Es ist, als ob <strong>der</strong><br />
göttliche Funke, <strong>der</strong> einen Großen berührt hat, nicht nur neue<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 223<br />
Lichter entzündet, son<strong>der</strong>n auch an<strong>der</strong>e herbeizieht!“ Diese knappe<br />
wohl sehr treffliche Erkenntnis können wir <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> – beson<strong>der</strong>s in<br />
früheren Jahrhun<strong>der</strong>ten – bei genealogischen Untersuchungen bestätigt<br />
finden. Diese Thematik ist natürlich auch aufs engste mit <strong>der</strong><br />
Problematik von Vererbung und Umwelt verbunden.<br />
Nochmals zurück zur Familie KÖHLER (CÖLER). Der verdienstvolle<br />
Pfarrer Georg LENCKNER aus dem württembergischen Gröningen hat<br />
in seinem oben genannten fränkischen Beitrag zur Ahnentafel Goethes,<br />
<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Crailshe<strong>im</strong>er Familie KÖHLER ausgeht, die Familie einer<br />
Goethe-Ahnfrau ermitteln können, von <strong>der</strong> bisher nur <strong>der</strong> Vorname<br />
Esther bekannt war. Und zwar gehört sie zur Crailshe<strong>im</strong>er Familie<br />
RITTER und hat 1572 den Dekan, Dichter und ehemaligen Lehrer <strong>der</strong><br />
Fürstenschule <strong>im</strong> Kloster Heilsbronn Magister Conrad LEY geheiratet.<br />
Dieses Goethe-Ahnfrau Esther RITTER (= Goethe-Ahnen-Nr. 207),<br />
1555-1603, die in <strong>der</strong> 7. Goethe-Ahnengeneration steht, war<br />
jahrzehntelang ein „toter Punkt― in <strong>der</strong> Ahnenschaft Goethes gewesen<br />
und konnte nun zunächst von LENCKNER noch einige Generationen<br />
weiter zurückverfolgt werden. Der Gymnasialprofessor,<br />
He<strong>im</strong>atschriftsteller und Genealoge Dr. Gerd WUNDER aus Schwäbisch<br />
Hall hat ausgehend von dieser Esther RITTER als Probandin <strong>der</strong>en<br />
Ahnentafel noch fünf weitere Generationen mit seltener Vollständigkeit<br />
(einem Erforschtheitsgrad von 75 % ) fortsetzen können. Bezogen auf<br />
Goethe als Bezugspunkt reicht dieser Ahnensektor bis zur 13.<br />
Ahnengeneration zurück. Damit wurde die Familie KÖHLER über die<br />
einheiratende RITTER-Tochter auch zum Ausgangspunkt für die<br />
Fortführung von Goethes Ahnenschaft nach Schwäbisch Hall.<br />
Eine so weit reichende Forschung innerhalb einer <strong>Zeit</strong>, wo noch<br />
keinen Kirchenbücher existierten, ist nur möglich aufgrund von Kaufund<br />
Gerichtsakten für <strong>der</strong>en Ausdeutung ein hohes Allgemeinwissen<br />
und lokalgeschichtliche Kenntnisse unabdingbar sind, wie sie<br />
LENCKNER und WUNDER zweifellos zur Verfügung standen. Diese<br />
schwäbischen Spitzenahnen in Goethes Ahnentafel, die ja gleichzeitig<br />
auch die Ahnen unseres epochalen Chemikers Georg Ernst STAHL<br />
sind, reichen zum Teil bis zum Ende des 14. Jahrhun<strong>der</strong>ts zurück.<br />
Berufsmäßig sind diese „oberen Ahnen― vorwiegend aus dem<br />
bäuerlichen Stande herausgewachsene Handwerker (Müller, Tucher,<br />
Gerber, Bäcker und Metzger). Gerade dieser Ahnentafelbereich<br />
Goethes hat große allgemeine genealogische Bedeutung erlangt durch<br />
die inzwischen sehr zahlreich erforschten Ahnengemeinschaften. Alle<br />
Abstammungslinien zu dieser „oberen Ahnenreihe aus <strong>der</strong> bürgerlichen<br />
Unterschicht― konnten also erst <strong>im</strong> 20. Jahrhun<strong>der</strong>t erforscht werden. Bei<br />
einigen dieser „oberen― schwäbischen Ahnen spricht man von<br />
„Massenahnen―, da viele Gegenwartsprobanden – und natürlich auch<br />
forschende Genealogen! – dieselben Ahnen ebenfalls besitzen, als<br />
sogenannte Ahnengemeinschaften. Aufgrund dieser Tatsache können<br />
über solche „Massenahnen― Ahnengemeinschaften beson<strong>der</strong>s bei<br />
berühmten Personen und auch Familienforschern festgestellt werden,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 224<br />
da diese ja <strong>im</strong> allgemeinen beson<strong>der</strong>s gut erforschte Ahnenschaften<br />
aufweisen.<br />
So konnte z. B. die Abstammung von Caspar GRÄTER, 1474-1552,<br />
Bäcker und Ratsherr in Schwäbisch Hall und seiner Ehefrau Barbara<br />
RÖSSLER, nicht nur bei Goethe, G. E. STAHL, Großadmiral Alfred<br />
von TIRPITZ nachgewiesen werden, son<strong>der</strong>n auch bei den Dichtern<br />
Wilhelm HAUFF, Christian SCHUBART und Ludwig UHLAND, sowie<br />
Friedrich HEGEL, Hermann von SIEMENS, Dieter BONHOEFFER,<br />
Theodor HEUSS und Richard von WEIZSÄCKER, um nur die<br />
bekanntesten zu nennen. Dieses Ehepaar GRÄTER/RÖSSLER belegt in<br />
<strong>der</strong> Goethe-Ahnentafel die Ahnen-Nummern 1660/1661 in <strong>der</strong> 10.<br />
Ahnengeneration; sie sind Urgroßeltern jener Esther RITTER, <strong>der</strong>en<br />
Abstammung Pfarrer LENCKNER zuerst in den 30-er Jahren des 20.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts erforschen konnte.<br />
Es ist mir als Genealoge ein Anliegen, zur Thematik <strong>der</strong><br />
Ahnengemeinschaften an dieser Stelle noch einige allgemeine<br />
Bemerkungen für genealogisch Interessierte zu machen und dabei<br />
einige Beispiele aus einer gut erforschten bürgerlichen Ahnentafel<br />
anzuführen. Wichtig erscheint mir <strong>der</strong> Hinweis, daß das<br />
Ahnengemeinschafts- und „Massenahnen―-Paar GRÄTER/RÖSSLER<br />
nicht erst durch die relativ späten Forschungen von LENCKNER<br />
erforscht worden ist. Die Goethe-Genealogie verdankt LENCKNER die<br />
Tatsache, daß auch Goethe von diesem Ehepaar abstammt, nachdem<br />
er die Zugehörigkeit <strong>der</strong> Ehefrau Esther des Goethe-Ahns Nr. 206<br />
Konrad LEY zur Familie RITTER aufklären konnte, von <strong>der</strong> vorher nur<br />
ihr Vorname Esther bekannt war. Das Ehepaar GRÄTER/RÖSSLER<br />
erscheint aber bereits früher (Anfang des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts) aufgrund<br />
<strong>der</strong> vielfältigen genealogischen Forschungen <strong>im</strong> schwäbischen Raume,<br />
z. B. bei <strong>der</strong> Erforschung <strong>der</strong> Ahnentafel des Dichters Wilhelm HAUFF.<br />
Die GRÄTER/RÖSSLER sind aber in dieser(!) Ahnentafel keine<br />
Stammeltern des Ehepaares LEY/RITTER, diese kommen in <strong>der</strong><br />
HAUFF-Ahnentafel gar nicht vor. In <strong>der</strong> sehr gut erforschten Ahnentafel<br />
von Prof. Siegfried RÖSCH kommt das Ehepaar GRÄTER/RÖSSLER<br />
mit <strong>der</strong> Goethe-Ahnen Nrn. 1660/1661 ebenfalls vor und belegt dort in<br />
<strong>der</strong> 14. Ahnengeneration die Ahnen-Nrn. 20766/20767, ohne daß <strong>der</strong>en<br />
Nachkommenlinie in dieser(!) Ahnentafel über das Paar LEY/RITTER<br />
führt, wie bei Goethe und den oben behandelten Familien STAHL,<br />
MEELFÜRER, BOEHMER, TIRPITZ und auch bei Anna Margaretha<br />
KÖHLER, <strong>der</strong>en Vater eine LEY heiratete, <strong>der</strong>en Mutter wie<strong>der</strong>um jene<br />
Esther RITTER war, <strong>der</strong>en Urgroßeltern wie<strong>der</strong>um jenes<br />
„Massenahnenpaar― LEY/RITTER waren, wovon sich so viele<br />
Ahnengemeinschaften zu Lexikonberühmtheiten und auch<br />
Familienforschern ableiten lassen.<br />
Die Gelehrtenfamilien HAMBERGER und REICHARDT lassen sich<br />
beispielsweise nicht über ihre KÖHLER-Linie auf das Ehepaar<br />
GRÄTER/RÖSSLER weiterführen, da sie nicht von Anna Margaretha<br />
KÖHLER, son<strong>der</strong>n von <strong>der</strong>en Onkel Johann Philipp KÖHLER und damit<br />
nicht von ihrem Vater Wendelin KÖHLER abstammen, <strong>der</strong> mit Maria<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 225<br />
LEY verheiratet war, die allein nur ihre Abstammung auf das Paar<br />
GRÄTER/RÖSSLER zurückführen kann.<br />
Aufgrund <strong>der</strong> duodez-fürstlichen und reichstädtischen Vielfalt <strong>im</strong><br />
früheren Deutschlands ist es verständlich, daß auch die Vorschriften zur<br />
Kirchenbuchführung recht unterschiedlich waren. Der oben genannte<br />
schwäbische Genealoge Dr. Gerd WUNDER schreibt dazu in einem<br />
lesenswerten Aufsatz „Das Problem <strong>der</strong> Ahnengemeinschaften<br />
namhafter Persönlichkeiten“ (in: Genealogisches Jahrbuch, 1962,<br />
Band 2, S. 5-25, hier S. 13): „Daß sich gerade in Schwaben so<br />
zahlreiche Beispiele <strong>der</strong> Blutsverbindung berühmter Leute anbieten, liegt<br />
nicht nur an dem Reichtum an berühmten Männern, den Schwaben<br />
besitzt, son<strong>der</strong>n auch an dem lebendigen Sinn <strong>der</strong> Schwaben für<br />
Familienzusammenhänge in weiten Graden und für<br />
Familienüberlieferung. Es wäre ungerecht, dieses Familiengefühl<br />
lediglich damit zu begründen, daß die zahlreichen schwäbischen<br />
Familienstiftungen dem, <strong>der</strong> seine genealogische Zugehörigkeit<br />
nachweisen konnte, ein billigeres Studium verschafften, wenn auch<br />
diese lockende Aussicht manchen begabten jungen Mann von geringem<br />
Vermögen schon frühzeitig zu eifriger Familienforschung veranlaßt hat.<br />
Aber <strong>der</strong> Vergleich etwa mit Franken zeigt, daß die Schwaben ihre<br />
Überlieferung besser pflegen und bewahren als die Franken; man hat<br />
geradezu den Eindruck, daß ihre Pfarrherren aus brennenden<br />
Pfarrhäusern eher die Kirchenbücher als ihre eigene Habe gerettet<br />
hätten. Daher bedeutet auch – von wenigen Ausnahmen abgesehen –<br />
<strong>der</strong> 30jährige Krieg keine Grenze <strong>der</strong> Forschung.― Dieses verständliche<br />
eigene Schwabenlob möchte ich jedoch aus eigener Kenntnis durch<br />
positive Beispiele aus deutschen Landschaften stark relativieren.<br />
Gerade <strong>der</strong> oben genannte Pionier <strong>der</strong> Goethe-Genealogie-Forschung<br />
in und um Crailshe<strong>im</strong> Dekan Friedrich HUMMEL weist daraufhin, daß<br />
auch <strong>der</strong> fränkische Pfarrer und Dekan in Ansbach und Crailshe<strong>im</strong><br />
Johann Heinrich PRIESTER (Goethe-Ahnen-Nr. 100) ein sehr<br />
verdienstvoller Kirchenbuchführer war. HUMMEL schreibt über ihn: „Es<br />
sei aber auch unvergessen, daß er 1617 das Taufregister, das<br />
Eheregister und das Begräbnisregister in einer so wun<strong>der</strong>schönen Art zu<br />
führen begonnen hat, daß seine Ausmalung <strong>der</strong> Kirchenbücher<br />
allgemeine Bewun<strong>der</strong>ung erregt hat.― So kommt es wohl in erster Linie<br />
auf die allgemeinen Charaktereigenschaft und erst in zweiter Linie auf<br />
„landschaftstypische― Eigenschaften <strong>der</strong> Pfarrer zu ihren Kirchenbüchern<br />
an!<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
6.2 Ahnengemeinschaften am Beispiel einer großen<br />
bürgerlichen Ahnentafel<br />
Zunächst eine grundsätzliche Bemerkung:<br />
Bei <strong>der</strong> Verwandtschaft zweier Personen über eine<br />
Ahnengemeinschaft (Einzelahn o<strong>der</strong> Paar) handelt es sich <strong>im</strong>mer um<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 226<br />
eine sog. Seitenverwandtschaft. Solche Verwandte sind juristisch und<br />
genealogisch definiert als: Verwandte, die von demselben Dritten<br />
abstammen.<br />
(BGB § 1589: Verwandtschaft: Personen, <strong>der</strong>en eine von <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />
abstammt, sind in gera<strong>der</strong> Linie verwandt. Personen, die nicht in gera<strong>der</strong><br />
Linie verwandt sind, aber von <strong>der</strong>selben dritten Person abstammen, sind<br />
in <strong>der</strong> Seitenlinie verwandt.<br />
Daraus folgt zwangsläufig, daß diese (Seiten-)Verwandtschaft <strong>im</strong>mer<br />
über Geschwister (o<strong>der</strong> auch Halbgeschwister) führt, <strong>der</strong>en Eltern<br />
(o<strong>der</strong> auch Einzelahn) eben diese/dieser „Dritte“ darstellt. Die engste<br />
biologische Seitenverwandtschaft ist danach die „Seitenverwandtschaft―<br />
zwischen Geschwistern o<strong>der</strong> auch Halbgeschwistern, <strong>der</strong>en Eltern (o<strong>der</strong><br />
auch nur ein Elter) „<strong>der</strong>selbe Dritte― (= Ahnengemeinschaftspaar bzw. –<br />
einzelperson) ist. Alle Ahnengemeinschaften kann man aus Vetter-Base-<br />
Verwandtschaften („Vettern-Verwandtschaften―) verschiedenen Grades<br />
ableiten. So sind also alle biologischen Verwandtschaften zwischen<br />
Cousin/Cousin o<strong>der</strong> Cousine/Cousin o<strong>der</strong> Cousine/Cousine beliebigen<br />
Grades (d. h. gleichem o<strong>der</strong> unterschiedlichem Generationsabstand)<br />
zum „selben Dritten― solche Verwandtschaften. Ahnengemeinschaften<br />
beziehen sich <strong>im</strong>mer auf die engste Verwandtschaft, d. h. auf den<br />
generationsmäßig kürzesten Weg. Die Vorfahren von<br />
Ahnengemeinschaftspersonen werden <strong>im</strong> allgemeinen nicht mehr als<br />
Ahnengemeinschaftspersonen bezeichnet. Daraus folgt auch, daß<br />
Personen bzw. Paare, die nur ein Kind haben, keine<br />
Ahnengemeinschaftspersonen sein können, da bereits ihr einziges Kind<br />
die eigentliche Ahnengemeinschaftsperson sein muß; selbstverständlich<br />
sind auch <strong>der</strong>en Vorfahren zwar „gemeinsame Ahnen― , aber in diesem<br />
Sinne keine „Ahnengemeinschaftsperson― mehr nach <strong>der</strong> üblich<br />
genealogischen Definition.<br />
Repräsentativ für die Vielzahl möglicher Ahnengemeinschaften bei<br />
Bürgerlichen dürfte die sehr gut erforschte Ahnenschaft von Prof.<br />
Siegfried RÖSCH sein, <strong>der</strong> bereits als 43-jähriger Familienforscher<br />
seinen Eltern und seiner Schwester folgende Ahnengemeinschaften als<br />
Forschungsergebnis zu mehr o<strong>der</strong> weniger „berühmten Verwandten―<br />
von A-Z als Geschenk und Querschnitt zum Weihnachtsfest 1942<br />
präsentieren konnte:<br />
Mattheus ALBER (1495-1570, Reformator); Joh. Valentin ANDREÄ<br />
(1586-1654, Dichter u. Schriftsteller); Jakob ANDREÄ (1528-90; Prof. u.<br />
Kanzler in Tübingen); Chistoph. Gottfried BARDILI (1761-1808,<br />
Philosoph); Johannes BRENZ (1499-1570, Württembergs Reformator);<br />
Max CRAMER (1859-?, Genealoge, Heilbronn); W. DARRÉ (1895-1953,<br />
Reichsbauernführer); Max EYTH (1836-1906) Schriftsteller; Hans<br />
FALLADA (1893-1947, Schriftsteller), Anselm FEUERBACH (1829-80,<br />
Maler); Ludwig FINCKH (1876-1964, Dichter); Joh. Friedr. FLATTICH<br />
(1713-97, Pfarrer u. Original); Karl v.GEROK (1815-90, Prälat und<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 227<br />
Dichter); Joh. Wolfg. v. GOETHE (1749-1832); Leopold u. Otto<br />
GMELIN(1788-1853, Chemiker; 1886-1940, Dichter); Friedrich<br />
HÖLDERLIN (1770-1843, Dichter); Joh. Heinr. JUNG-STILLING (1740-<br />
1817, Schriftsteller, Arzt); Justinius KERNER (1786-1862, Dichter u.<br />
Arzt); Manfred v. KILLINGER (1886-1944, sächs. Ministerpräsident);<br />
Hermann u. Isolde KURZ (1813-73 Dichter u. 1853-1919, Dichter);<br />
Hanns LUFFT (1495-1584, Drucker <strong>der</strong> 1. Lutherbibel); Karl MACK v.<br />
LEIBERICH (1752-1828, österr. General); Michael MÄSTLIN (1550-<br />
1631, Mathematiker, Astronom), Robert MAYER (1814-78, Physiker u.<br />
Arzt); Joh. Heinr. MERCK (1741-1791, Schriftsteller, Goethefreund);<br />
Frdr. NIETHAMMER (1766-1848, Philosoph); Andreas u. Lukas<br />
OSIANDER (1498-1552, Prof. Reformator, Nbg. u. 1534-1604,<br />
Mitverfasser Konkordienformel); Phil. Wilh. OTTERBEIN (Kirchgrün<strong>der</strong><br />
Balt<strong>im</strong>ore) ; Joh. Phil. PALM (1768-1806, Buchhändler); Karl PLANCK<br />
(1819-1880, Philosoph); Max PLANCK (1858-1947, Physiker,<br />
Nobelpreis); Christ. Martin WIELAND (1733-1813, Dichter); Ottilie<br />
WILDERMUTH (1817-77, Schriftstellerin) ; Ferdinand v. ZEPPELIN<br />
(1838-1917, Luftschiffbauer).<br />
RÖSCH präsentierte für jede dieser Personen eine Tafel mit allen(!)<br />
verbindenden Personen und genealog. Lebenskurzdaten: von <strong>der</strong><br />
„berühmten Persönlichkeit― zum i. a. „unberühmten―<br />
Ahnengemeinschaftspaar (oft einem allgemeinen „Massenahnenpaar―)<br />
und zurück zur eigenen Mutter und Schwester.<br />
Auszug aus seinem Begleittext:<br />
„I: Berühmte Verwandte von A bis Z.<br />
Wenn Du diese Seiten flüchtig durchblätterst, so erfreue Dich <strong>der</strong><br />
vielfältigen interessanten Beziehungen, die Dir darin entgegentreten.<br />
Hast Du aber Muße, so versuche, Dich tiefer mit ihnen zu befassen. Du<br />
wirst dann erstaunen, welche Fülle von Leben Dir diese scheinbar so<br />
nüchternen Zahlen und Namen erschließen, auf die sich <strong>der</strong> Schreiber<br />
bewußt beschränkt hat. Bedenke, daß jede Zeile ein ganzes<br />
Menschenleben mit aller Freude und allem Leid umfaßt, daß diese<br />
Siebenmeilenschritte durch Jahrhun<strong>der</strong>te nur eine ganz winzige<br />
Auswahl des Menschengew<strong>im</strong>mels darstellen, daß jede <strong>der</strong> vermerkten<br />
Personen wie<strong>der</strong> Geschwister und Anverwandte hat, die zu weiteren<br />
Beziehungen führen. Vielleicht fällt Dir aber manchmal auf, wie „klein die<br />
Welt ist―, wie unverhofft die Fäden des Schicksals oft zusammenführen,<br />
wie manche Ahnen beson<strong>der</strong>s fruchtbar hinsichtlich bedeuten<strong>der</strong><br />
Geistigkeit zu sein scheinen (Regina, die „schwäbische Geistesmutter―,<br />
kommt mehrfach vor, aber auch an<strong>der</strong>e). Wenn Dir so das ganze<br />
Gewebe unseres großen Volkes vor dem geistigen Auge lebendig wird,<br />
dann haben diese Blätter ihren Zweck erfüllt.―<br />
Dann verordnete Rösch noch ein beson<strong>der</strong>s „Rezept― dazu für seine<br />
Mutter:<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 228<br />
II: ―Die „Wahlverwandtschaften― o<strong>der</strong> Rezept, um aus <strong>der</strong> großen<br />
Verwandtschaft die erwünschteste auszuwählen! Eine kleine Blütenlese<br />
zur Demonstration <strong>der</strong> Nützlichkeit <strong>der</strong> Ahnen und <strong>der</strong> Ahnenforschung!<br />
Für seine liebe Mutter zu Weihnachten 1942 gepflückt.<br />
Gebrauchsanweisung: in <strong>der</strong> kleinen Auslese von<br />
Blutgemeinschaftstafeln, von denen diese Blätter je eine zeigen, findest<br />
Du jeweils am unteren Ende den eigenen Namen vermerkt. Folgst Du<br />
den von da aus gerade o<strong>der</strong> schräg nach oben führenden Linien (o<strong>der</strong><br />
einer von mehreren), so triffst Du oben auf ein rot unterstrichenes<br />
Ahnenpaar, das Du mit <strong>der</strong> Berühmtheit (grün gekennzeichnet)<br />
gemeinsam hast, zu <strong>der</strong> ein ebensolcher Weg von da abwärts führt.<br />
Manchmal führen viele Wege nach Rom, die sich nicht <strong>im</strong>mer leicht in<br />
<strong>der</strong> Papierebene darstellen lassen. Ist die Berühmtheit selbst ein direkter<br />
Vorfahre, so ist die rote Kennzeichnung weggelassen. Die Anzahl <strong>der</strong><br />
zwischen Dir und dem „Grünen― vermittelnden Ehepaar gibt ein Maß <strong>der</strong><br />
Nähe, den Grad <strong>der</strong> Verwandtschaft.- Man vermeide aber bei einer<br />
Sitzung zu viel Berühmtheitsluft auf einmal einzuatmen, da dies <strong>der</strong><br />
Bescheidenheit und <strong>der</strong> nötigen Wirklichkeitsnähe schaden kann.―<br />
Bei weiteren Forschungen RÖSCHs zur Ahnenschaft seiner Frau Mali<br />
geb. STÜRENBURG (AT seiner 4 Kin<strong>der</strong>) ergaben sich dann später z.<br />
B. noch Ahnengemeinschaften zu folgenden Personen:<br />
Hartmann BECKER (1681-1739, ostfriesischer Vizekanzler); Charlotte<br />
BUFF (1753-1828, Goethes „Lotte―); Hermann CONRING (1606-81,<br />
Rechtsgelehrter); Valerius CORDUS (1815-44, Arzt u. Chemiker);<br />
Rudolf v. DELIUS (1878-, Schriftsteller); Ludwig ERK (1807-83,<br />
Komponist); Dietrich FISCHER-DISKAU (1925-, Sänger); Gebrü<strong>der</strong><br />
Jakob u. Wilhelm GRIMM (1785-1863, bzw. 1786-1859, Germanisten);<br />
Stephan HENKELL (1908-, Sektfabrikant); Heinrich HOFFMANN (1809-<br />
94; Arzt, Dichter, „Struwwelpeter―); Rudolph v. JEHRING (1818-92,<br />
Rechtsgelehrter); Friedr. Alfred KRUPP (1854-1902, Stahlfabrikant),<br />
Ernst LEITZ (1871-, Unternehmer, „Leica―); Georg Chr. LICHTENBERG<br />
(1742-1799, Physiker, Schriftsteller); Eilhard MITSCHERLICH (1794-<br />
1863, Chemiker, Mineraloge); Fridtjof NANSEN (1861-1930,<br />
Polarforscher); Sigrid ONEGIN (1891-1943, Konzertsängerin); Paul<br />
PFEIFFER (1875-, Chemiker); Gabriele REUTER (1859-1941,<br />
Dichterin); Manfred v. RICHTHOEN (1892-1918, Kampfflieger); Friedrich<br />
RÜCKERT (1788-1866, Dichter); Heinr. STROMER v. AUERBACH<br />
(1482-1542, Prof. d. Uni Leipzig, Erbauer von „Auerbachs Keller―);<br />
Eilhard WIEDEMANN (1852-1928, Physiker); Ermanno WOLF-<br />
FERRARI (1876-; Komponist).<br />
Damit sei unsere genealogische Zwischenbetrachtung bezüglich<br />
„Ahnengemeinschaften“ abgeschlossen. Für daran Interessierte sei<br />
auf zwei Links hingewiesen. In <strong>der</strong> Goethe-Genealogie-Internetseite auf:<br />
http://goethegenealogie.de/verwandtschaft/ahnengemeinschaftst.html<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 229<br />
In einer Literaturzusammenstellung findet man in meiner <strong>GeneTalogie</strong>-<br />
Internetseite dazu weiters unter:<br />
http://www.genetalogie.de/ahn/ahnengemeinschaften.html<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
7 THESE: VON DER BESONDEREN MITTLERROLLE X-<br />
CHROMOSOMALER GENE BEI DER AUSPRÄGUNG<br />
GEISTIGER EIGENSCHAFTEN<br />
An Beispielen von:<br />
negativ: Carl Edzard CIRKSENA (Ostfriesland), Könige Ludwig II. und<br />
Otto v. Bayern.<br />
positiv: Friedrich <strong>der</strong> Große, Otto v. Bismarck, Johann Wolfgang v.<br />
Goethe, Ernst HAECKEL,<br />
Carl Friedrich GAUSS, August Ferdinand MÖBIUS, Robert BUNSEN,<br />
Friedrich<br />
STROMEYER, August Heinrich HOFFMANN v. FALLERSLEBEN und<br />
Alfred Tirpitz.<br />
Es ist mir nun noch ein wichtiges „geneTalogisches― Anliegen, <strong>im</strong><br />
Rahmen eines Personenkreises, ausgehend von Ahnentafeln <strong>der</strong> oben<br />
genannten Persönlichkeiten, auf meine „These von <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en<br />
Mittlerrolle X-chromosomaler Gene bei <strong>der</strong> Ausprägung geistiger<br />
Eigenschaften“ einzugehen. Sowohl <strong>im</strong> negativen als auch ich<br />
positiven Sinne. Diese These hatte ich 1989 erstmals in einem Aufsatz<br />
„Genealogisch-schaubildlicher Streifzug von Friedrich dem Großen<br />
zu Karl Edzard Cirksena. Mit neuen Gedanken zum Nie<strong>der</strong>gang <strong>der</strong><br />
europäischen Dynastien“ (in: Quellen und Forschungen zur<br />
ostfriesischen Familien- und Wappenkunde (Aurich/Ostfriesland 1989),<br />
H. 1. 38. Jg., S. 7-20), bekannt gegeben, und zwar <strong>im</strong> wesentlichen in<br />
negativer Hinsicht. An gut bekannten und erforschten mutmaßlichen<br />
Krankheitsüberträger-Ahnen, beson<strong>der</strong>s aus dem europäischen<br />
Dynastenadel, habe ich meine These an diesen und noch an<strong>der</strong>en<br />
Negativbeispielen in meinem Buch über „Die Geisteskrankheit <strong>der</strong><br />
bayerischen Könige Ludwig II und Otto. Eine interdisziplinäre<br />
Ahnenstudie mittels Genealogie, Genetik und Statistik“ (Degener,<br />
Neustadt/Aisch 1997) weiter zu untermauern versucht. Diese These<br />
zieht sich dort wie ein „roter Faden― durch das ganze Buch und wird hier<br />
nicht nur aufgrund von zahlreichen überlieferten Krankengeschichten<br />
von mutmaßlich erblich belasteten Ahnen als Krankheitsherde aus <strong>der</strong><br />
Ahnenschaft <strong>der</strong> bayerischen Könige beschrieben. Der Schwerpunkt des<br />
Buches sind statistische Ahnentafelberechnungen, die alle erforschten<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 230<br />
Königsahnen bis zur 14. Generation in eine quantitative Reihenfolge<br />
hinsichtlich ihrer genetischen Erbwahrscheinlichkeit bringen, was nur<br />
mittels eines speziellen Computerprogramms möglich war, das <strong>der</strong><br />
Mathematiklehrer und Genealoge Weert Meyer eigens dafür entwickelt<br />
hatte. Die Hauptschwierigkeit bei dieser dynastischen Ahnentafel, die<br />
kurz vorher erst von erfahrenen Dynasten-Genealogen (Wolfgang<br />
RAIMAR, Riemerling bei München und Hans R. MOSER,<br />
Toronto/Kanada) in seltener Vollständigkeit bis zur 14. Generation weiter<br />
erforscht werden konnte, war die Berechnung auch aller Personen, die<br />
als Mehrfach- und Vielfachahnen in dieser extrem stark<br />
verwandtschaftlich verflochtenen Ahnenschaft des europäischen<br />
Dynastenadels erscheinen.<br />
Diese Tatsache bringt es mit sich, daß aufgrund von Verwandtenehen<br />
bereits ab <strong>der</strong> 4. Ahnengeneration Zweifachahnen erscheinen, in <strong>der</strong> 5.<br />
Gen. Vierfach-, <strong>der</strong> 6. Gen. Neunfach-, <strong>der</strong> 9. Gen. 77-fach, <strong>der</strong> 10. Gen.<br />
154-fach-, <strong>der</strong> 11. Gen. 230-fach, <strong>der</strong> 12. Gen. 430-fach-, <strong>der</strong> 13. Gen.<br />
1152-fach- und schließlich in <strong>der</strong> 14. Generation 2852-fachahnen<br />
erscheinen.<br />
Daraus wird die übliche biologische Einteilung aufgrund nur eines<br />
einzelnen Generationsabstandes hinfällig und es ergeben sich jetzt ganz<br />
an<strong>der</strong>e biologische Reihenfolgen aufgrund <strong>der</strong> Mehrfachabstammungen<br />
(sog. „Generationsspektren― ) zwischen Proband und physischem Ahn,<br />
<strong>der</strong> an mehreren Stellen <strong>der</strong> Ahnentafel auftritt.<br />
Das herausragende statistische Ergebnis war, daß die bisher in <strong>der</strong><br />
Literatur angenommenen mutmaßlichen Krankheitsüberträger-Ahnen<br />
auch eine deutlich größere Erbwahrscheinlichkeit gegenüber den<br />
statistisch zu erwartenden Durchschnittswerten aufwiesen, genetisch<br />
beson<strong>der</strong>s in X-chromosomaler Hinsicht. In <strong>der</strong> quantitativen<br />
Reihenfolge (Ranking-Liste) rückten sie deutlich nach vorne. In <strong>der</strong><br />
Genetik wird diese beson<strong>der</strong>e Form <strong>der</strong> Vererbung als<br />
geschlechtsgebundene bezeichnet und ist in <strong>der</strong> Ahnentafelstruktur<br />
dadurch ausgezeichnet, daß es innerhalb ein und <strong>der</strong>selben Generation<br />
definiert unterschiedliche Erbwahrscheinlichkeiten gibt und auch<br />
einige Ahnentafelplätze von <strong>der</strong> X-chromosomalen Vererbung ganz<br />
ausgeschlossen sind; und zwar sind das diejenigen Ahnentafelplätze,<br />
die in <strong>der</strong> Ahnelinie zum Probanden mindestens eine Vater-Sohn-<br />
Abstammung aufweisen. Die unterschiedlichen<br />
Erbwahrscheinlichkeiten innerhalb ein und <strong>der</strong>selben Generation werden<br />
außerdem durch unterschiedliche Erbwahrscheinlichkeiten für die drei<br />
an<strong>der</strong>en Abstammungen, nämlich Vater-Tochter, Mutter-Tochter und<br />
Mutter-Sohn hervorgerufen. Bei <strong>der</strong> Abstammung Vater-Tochter wird<br />
ein X-chromosomales Gen mit <strong>der</strong> „Wahrscheinlichkeit“ 100 %<br />
weiter vererbt, denn hier bedeutet dieser Erbvorgang ja gleichzeitig die<br />
Geschlechtsbest<strong>im</strong>mung des Kindes durch den Mann (Samenzelle mit<br />
X-Chromosom). Überträgt <strong>der</strong> man aber Mann sein Y-Chromosom<br />
(Samenzelle mit Y-Chromosom) so entsteht ein Junge, was aber<br />
an<strong>der</strong>erseits einer Erbwahrscheinlichkeit von<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 231<br />
0 % für das väterliche X-Chromosom des Sohnes bedeutet, das Jungen<br />
nur von <strong>der</strong> Mutter erhalten können.<br />
Zwischen den Abstammungen Mutter-Tochter und Mutter-Sohn gibt<br />
es keine Unterschiede, in beiden Fällen beträgt die<br />
Erbwahrscheinlichkeit hier 50%. Dieser Wert wird durch den<br />
Zufallscharakter <strong>der</strong> Vererbung <strong>der</strong> X-Chromosomen bei <strong>der</strong> Frau<br />
hervorgerufen. Da eine Frau <strong>im</strong> Gegensatz zum Manne zwei X-<br />
Chromosomen besitzt, aber nur eines bei <strong>der</strong> Vererbung an ihre Kin<strong>der</strong><br />
weitergegeben werden kann, besteht für jedes dieser X-Chromosomen<br />
die gleiche Wahrscheinlichkeit, nämlich 50 %, weiter gegeben zu<br />
werden, und zwar entwe<strong>der</strong> für das vom Vater o<strong>der</strong> das von <strong>der</strong> Mutter<br />
geerbte.<br />
Im Gegensatz zu diesen Studien an mutmaßlichen<br />
Krankheitsüberträger-Ahnen habe ich meine „X-chromosomale These“<br />
aber auch schon in positiver Hinsicht an an<strong>der</strong>en Dynastenahntafeln<br />
(FRIEDRICH <strong>der</strong> Große u. a.) und bürgerlichen Ahnentafeln (GOETHE,<br />
BISMARCK u. a) verifiziert. Es sei hier auf meine <strong>GeneTalogie</strong>-<br />
Internetseite<br />
www.genetalogie.de verwiesen, und hier beson<strong>der</strong>s auch<br />
auf:<br />
http://www.genetalogie.de/mgross/mgross.html ,wo die<br />
mütterlichen Großväter <strong>im</strong> Lichte meiner These „geneTalogie-statistisch―<br />
betrachtet werden.<br />
Beson<strong>der</strong>s Interesse hinsichtlich <strong>der</strong> Erbwahrscheinlichkeit verdient<br />
unter den X-chromosomal möglichen Ahnen- und Nachfahrenlinien<br />
diejenige Linie, bei <strong>der</strong> die Geschlechter Mann-Frau- abwechseln<br />
(alternieren), denn die Personen dieser Linie besitzen die allergrößte<br />
Erbwahrscheinlichkeit. In <strong>der</strong> Ahnenschaft (Aszendenz) ist dies die<br />
„Abstammungslinie dreier mütterlicher Großväter “. Diese Linie<br />
können wir als alternierende Geschlechterkette symbolisch mit ihren<br />
Ahnen-Nummern schreiben:<br />
Proband – Frau - Mann – Frau- Mann – Frau – Mann<br />
Ahnen-Nr.: 1 3 6 13 26 53 106.<br />
Bereits in meinem oben genannten bayerischen Königsbuch von 1997<br />
hatte ich auf diese alternierende Linie und die Ahnen-Nr. 106 beson<strong>der</strong>s<br />
hingewiesen. Ich sprach dort von <strong>der</strong> „ominösen Ahnen-Nr. 106“ und<br />
<strong>der</strong> „Filiationskette dreier mütterlicher Großväter“ (S. 55 f.). Als<br />
markante Beispiele <strong>im</strong> positiven Sinne nannte ich dort Otto von<br />
BISMARCK (Ahn 106: Michael Büttner) und Friedrich den Großen<br />
(Ahn 106: Wilhelm den „Schweiger―). In <strong>der</strong> Goethe-Ahnentafel hat <strong>der</strong><br />
Kupferstecher Cornelius SCHWIND die Ahnen-Nr. 106, dessen Vater,<br />
ein Barchentweber, aus Basel nach Frankfurt eingewan<strong>der</strong>t war und dort<br />
1550 das Bürgerrecht erhielt. Im negativen Sinne Georg III. v. England<br />
als Ahn 106 von Albrecht Friedrich v. Preußen und die<br />
Königsgeschwister Ludwig II./Otto v. Bayern (Ahn 106: Joh. Reinhard III.<br />
v. Hanau-Lichtenberg).<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 232<br />
Auf beson<strong>der</strong>s herausragende Ahnenpersonen in dieser<br />
alternierenden Geschlechterkette stoßen wir zum Beispiel auch in den<br />
Ahnentafeln von Ernst HAECKEL, 1834-1919, auf den wir oben schon<br />
ausführlich zu sprechen kamen und be<strong>im</strong> „Fürsten <strong>der</strong> Mathematik― Carl<br />
Friedrich GAUSS, 1777-1855.<br />
Während bei Ernst HAECKEL, <strong>der</strong> HAECKEL-Ururgroßvater Gottfried<br />
HAECKEL, 1701-1773, (Ahn-Nr. 16) noch ein Bleicharbeiter in<br />
Kunnersdorf (Schlesien) war, war in <strong>der</strong> gleichen Ahnengeneration <strong>der</strong><br />
mütterliche Großvater des mütterlichen Großvaters Ernst HAECKELs<br />
(Ahnen-Nr. 26), <strong>der</strong> Christoph von GROLMANN, 1700-1784, Gehe<strong>im</strong>rat<br />
und königlich-preußischer Regierungsdirektor in Cleve. Und dessen<br />
mütterlicher Großvater war <strong>der</strong> Dr. jur. Hermann von VULTEJUS, 1634-<br />
1723, hessischer Vizekanzler <strong>der</strong> Universität Marburg (Ahnen-Nr. 106!).<br />
In <strong>der</strong> Ahnentafel von Carl Friedrich GAUSS, 1777-1855,<br />
findet man bis zur Ururgroßelterngeneration (Ahnen-Nrn. 16-31) fast nur<br />
kleinbäuerliche Berufe („Kotsaß―, Ackermann, Schweinehirt) sowie einen<br />
Rademacher und den Steinhauermeister Christoph SÜPKE, 1662-1695,<br />
in Velpke bei Wolfsburg/Nie<strong>der</strong>sachsen (Ahnen-Nr. 26). Dessen<br />
mütterlicher Großvater war <strong>der</strong> erste bekannte Akademiker in dieser -<br />
lei<strong>der</strong> sehr lückenhaft bekannten - Ahnengeneration; es ist <strong>der</strong> Pastor<br />
Johannes PETZ in Velpke, mit <strong>der</strong> Ahnen-Nr. 106, gestorben 1636,<br />
dessen Vater war ebenfalls schon Pastor in Velpke. Bemerkenswert ist,<br />
daß dieser Pastor Johannes PETZ nochmals in <strong>der</strong> GAUß-Ahnentafel<br />
durch Verwandtenheirat auftritt, da auch dessen Sohn Hans PETZ,<br />
Steinhauermeister, Kirchvorsteher und Gerichtsschöppe, geboren 1626 ,<br />
mit <strong>der</strong> Ahnen-Nr. 62 in <strong>der</strong> GAUß-Ahnentafel vorkommt und damit<br />
sogar ebenfalls auf einer bevorzugten X-chromosomalen Erblinie liegt!<br />
Durch eine Verwandtenehe entsteht hier eine Mehrfachahnenschaft, so<br />
daß Vater und (!) Sohn eine X-chromosomale Ahnenposition<br />
einnehmen. Die Verwandtenehe ist hier eine Vetter-Base-Ehe 3. Grades<br />
und zwar die <strong>der</strong> mütterlichen Großeltern (Ahnen-Nrn. 6/7). Diese<br />
Verwandtschaft ergibt sich daraus, daß die Urgroßmutter (Ahnen-Nr. 53)<br />
des mütterlichen Großvaters (Ahn-Nr. 6) eine Schwester des<br />
Urgroßvaters (Ahnen-Nr. 62) <strong>der</strong> mütterlichen Großmutter (Ahnen-Nr. 7)<br />
heiratet. O<strong>der</strong> symbolisch als Abstammungskette <strong>der</strong> beiden<br />
Ahnenlinien durch die Ahnen-Nummern. dargestellt:<br />
6 – 13 - 26 – 53 – 106/107<br />
Carl Friedrich GAUSS 1 – 3 - ∞ = Joh. PETZ, +<br />
1636, Pastor in<br />
7 – 15 – 31 – 62 – 124/125 in<br />
Velpke; ∞. N.N.<br />
In <strong>der</strong> Genealogie spricht man in solchen Fällen bekanntlich von<br />
„Ahnenschwund― o<strong>der</strong> besser von „Implex― (vom Lateinischen:<br />
Verflechtung). Alle diese Personen, außer Ahnen-Nr. 124, sind Ahnen,<br />
bei denen eine X-chromosomale Vererbung möglich ist. Bei Ahnen-Nr.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 233<br />
124 ist eine solche Vererbung nicht möglich, da hier eine Vater(Ahn<br />
124)–Sohn(62)-Vererbung den Erbgang unterbricht. Indes ist hier eine<br />
X-chromosomale Vererbung durch die Mutter(125)-Sohn(62)-Vererbung<br />
möglich.<br />
Daraus können wir ersehen, daß man die Ahnentafel <strong>im</strong>mer genauer<br />
ansehen, bzw. „tiefer― erforschen muß, bevor geneTalogische<br />
Schlüsse gezogen werden können. Dann kommt es z. B. nicht zu<br />
Aussagen wie nachfolgen<strong>der</strong> <strong>im</strong> „Handbuch <strong>der</strong> Erbbiologie des<br />
Menschen― (1939) durch H. F. HOFFMANN in seinem Artikel:<br />
„Erbpsychologie <strong>der</strong> Höchstbegabungen―: „Was können wir z. B. damit<br />
beginnen, daß <strong>der</strong> berühmte Mathematiker Carl Friedrich GAUSS<br />
väterlicherseits von Schlächtern, Kotsassen, von einem Schnei<strong>der</strong> und<br />
einem Schweinehirten abstammt? Und auch die mütterliche Familie<br />
versagt, mag in ihr auch eine gewisse Häufigkeit von<br />
Steinhauermeistern vorliegen; eine allerdings auffallende Tatsache,<br />
die aber keineswegs sichere Schlüsse auf mathematische Begabung<br />
zuläßt.―.<br />
Ein ausgezeichnetes Beispiel in diesem Sinne ist auch die<br />
Ahnentafel von<br />
August Ferdinand MÖBIUS, 1790-1868,<br />
die <strong>der</strong> Mathematiker und Genealoge Dr. Richard MÜLLER (bekannt<br />
als Mitautor <strong>der</strong> „Deutschen Geschichte in Ahnentafeln― 2 Bände,<br />
1939-1943) erforscht und <strong>im</strong> Rahmen einer Aufsatzreihe „Aus den<br />
Ahnentafeln deutscher Mathematiker― (in: Familie und Volk (1955), H.<br />
1-6) veröffentlicht hat. MÖBIUS war <strong>der</strong> Mitbegrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> neuen<br />
Geometrie (homogene Koordinaten) wurde aber beson<strong>der</strong>s durch die<br />
nach ihm benannte MÖBIUS’sche Fläche bzw. Band bekannt (eine<br />
Fläche, bei <strong>der</strong> man von einer Seite auf die an<strong>der</strong>e ohne<br />
Überschreitung des Randes gelangen kann).<br />
Dr. MÜLLER hat in seinem verdienstvollen Artikel die Mathematiker-<br />
Ahnentafeln listenmäßig nur bis zur Großelterngeneration<br />
veröffentlicht, aber meist noch kurze Hinweise zur<br />
Urgroßelterngeneration gebracht. Bei beson<strong>der</strong>s bemerkenswerten<br />
Personen macht er dann allerdings auch noch bei Ahnen in höheren<br />
Generationen Angaben. So heißt es z.B. bei <strong>der</strong> Mutter von MÖBIUS’<br />
Großvater (Ahn 6) mütterlicherseits:<br />
„Unter diesen Ahnen fällt <strong>der</strong> Name Sabine LUTHER (Ahn 13) auf.<br />
Sie ist die Tochter des Seniors an <strong>der</strong> Stiftskirche zu <strong>Zeit</strong>z, des<br />
Licentiaten Jur. Johann Martin LUTHER (Ahn 26) und <strong>der</strong> Christine<br />
LEYSER (Ahn 27). Sabines Bru<strong>der</strong> ist <strong>der</strong> Advokat Martin Gottlob<br />
LUTHER, mit dem <strong>der</strong> Stamm des Reformators bekanntlich ausstirbt.<br />
MÖBIUS gehört also zu den „Lutheriden― und ist ein Nachkomme des<br />
Reformators selbst, wohl <strong>der</strong> einzige, dem eine wissenschaftliche<br />
Bedeutung zukommt. MÖBIUS’ Ahnentafel enthält also die von Martin<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 234<br />
LUTHER mit den Ahnenstämmen LUTHER und LINDEMANN, ebenso<br />
die seiner Gattin mit den umstrittenen Ahnen von HAUGWITZ, von<br />
MERGENTHAL usw.<br />
Über Johann Martin LUTHERs Gattin Christine LEYSER (Ahn 27),<br />
1662-1707, gelangen wir dann zu zwei bedeutenden Knotenpunkten<br />
<strong>im</strong> Ahnengeflecht <strong>der</strong> deutschen Geschlechter. Ihre Mutter Christine<br />
Margarethe MALSCH (Ahn 55) ist die Tochter des Hof- und<br />
Pfalzgrafen S<strong>im</strong>on MALSCH (Ahn 110) und die Enkelin des<br />
Magdeburger Kanzlers Chilian STISSER (Ahn 222), womit wir dann<br />
also wie<strong>der</strong> zu <strong>der</strong> Ahnengruppe HEIL, GOLDSTEIN,<br />
BLANKENFELDE kommen, die wir bei [dem Mathematiker Georg<br />
Friedrich Bernhard] RIEMANN, [1826-1866], schon erwähnt haben.<br />
„Stisseriden― sind in großer Anzahl bekannt. Staatsmänner, Heerführer<br />
und Gelehrte gehören zu Chilians Nachkommen: v. HOLSTEIN (die<br />
graue Eminenz), v. FABRICE (sächs. Kriegsminister), v. LOEBEL, v.<br />
WALDOW (Oberpräsidenten), v. BÜLOW, HERWARTH v.<br />
BITTENFELD (Generalfeldmarschälle), die KOTZBUEs (Dichter,<br />
Seefahrer, russ. Gen.-Gouverneur), IMMELMANN (Kampfflieger),<br />
BUNSEN (Chemiker), CARTILLIERI (Historiker), Wilhelm v. BODE<br />
(Kunstgelehrter) u.a. Mit Wilhelm v. BODE erscheint dann auch die um<br />
die Geschichte <strong>der</strong> braunschweigischen Patriziergeschlechter<br />
verdiente Genealogin Sophie REIDEMEISTER und, - was in diesem<br />
Zusammenhang beson<strong>der</strong>s interessiert – ihr Sohn, <strong>der</strong> bedeutende<br />
Mathematiker Kurt REIDEMEISTER (* 1893).<br />
So finden sich also in einem kleinen Ausschnitt aus dieser großen<br />
Nachkommentafel des Chilian STISSER: BUNSEN, MÖBIUS,<br />
RIEMANN und REIDEMEISTER dicht nebeneinan<strong>der</strong>. Die beiden<br />
letzteren sind natürlich durch braunschweigische Patriziergeschlechter<br />
noch mehrfach miteinan<strong>der</strong> „verwandt―. Geht man auf Chilian<br />
STISSERs Vorfahren zurück, so erscheinen in diesem Kreis noch<br />
manche bekannte Namen: KLOPSTOCK (über GOLDSTEIN), o<strong>der</strong> die<br />
Generale v. SEIDLITZ o<strong>der</strong> v. BARFUSS (über WINS) u. a. m.<br />
Der an<strong>der</strong>e bedeutende Ahnherr <strong>der</strong> Christiane Elisabeth LEYSER<br />
(Ahn 27) ist Lucas CRANACH (Ahn 1064), denn ihr Vater Friedrich<br />
Wilhelm LEYSER (Ahn 54) ist ein Enkel von Polycarp LEYSER d. Ä.<br />
(1552-1610) und Elisabeth CRANACH, einer Enkelin von Lukas<br />
CRANACH. In einem Ausschnitt aus <strong>der</strong> Tafel <strong>der</strong> „Cranachiden― steht<br />
MÖBIUS dann zwischen dem Musiker Hans v. BÜLOW und dem Maler<br />
v. RAYSKI auf <strong>der</strong> einen Seite und den Gebrü<strong>der</strong>n SCHLEGEL und<br />
GOETHE auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite.<br />
Es erschien erfor<strong>der</strong>lich, auf diese Zusammenhänge etwas<br />
ausführlicher einzugehen, da MÖBIUS lediglich als „Sohn eines<br />
Tanzmeisters― in die Literatur eingegangen ist und von seinem<br />
hervorragenden Ahnenerbe als Nachkomme eines LUTHER, eines<br />
STISSER und eines CRANACH wenig bekannt zu sein scheint.<br />
In Ergänzung dieser Ahnengemeinschaften mag an dieser Stelle aus<br />
neuerer <strong>Zeit</strong> <strong>der</strong> Münchner Professor Ferdinand LINDEMANN (1852-<br />
1939) genannt werden, <strong>der</strong> durch den Nachweis <strong>der</strong> Transzendenz<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 235<br />
<strong>der</strong> Zahl pi seinen Namen in das Buch <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Mathematik<br />
eingetragen hat. Durch diesen <strong>im</strong> Jahre 1882 geglückten Beweis,<br />
wurde endlich das Jahrtausende alte Problem <strong>der</strong> „Quadratur des<br />
Kreises―, das so lange Gelehrte und Laien in seinen Bann gezogen<br />
hatte, mit einem endgültigen Schlußstrich versehen, ein<br />
eindrucksvolles Beispiel, daß es in unserer Erkenntnis noch wirkliche<br />
Fortschritte gibt.- Ferdinand LINDEMANN ist zwar kein Nachkomme<br />
LUTHERs, aber er stammt aus einem Celler Geschlecht, dessen<br />
Abkunft von dem aus LUTHERS Ahnentafel bekannten Geschlecht<br />
LINDEMANN kaum zu bezweifeln ist. Mütterlicherseits ist er aber ein<br />
nachkomme einer Philologenfamilie CRUSIUS.―<br />
Eine interessante CHEMIKER-Verwandtschaft über X-<br />
chromosomale Vererbungswege<br />
sei hier noch eingeschoben (Vettern 4. Grades!):<br />
Robert BUNSEN: 1- 3 – 7 – 15 – 30 –<br />
NIEMEYER oo<br />
Marg. WICHMANN<br />
Friedrich STROMEYER: 1 - 3 – 7 – 14 – 29 -<br />
60/61 = Johann<br />
58/59= Anna<br />
(Quelle: Genealogie + Heraldik (1949), H. 1, S. 2-8, und Archiv für<br />
Sippenforschung (1967), H. 26, S. 133).<br />
Robert Wilhelm BUNSEN, 1811-1899: Chemiker und Physiker, Prof.<br />
<strong>der</strong> Chemie in Heidelberg, begründet mit KIRCHHOFF die<br />
Spektralanalyse, Konstruktion des Bunsenbrenners (1855).<br />
Friedrich STROMEYER, 1776-1823: Prof. <strong>der</strong> Chemie in Göttingen,<br />
1817 entdeckt er das Element Kadmium (Cd), führt den chemischen<br />
Labor-Unterricht in Göttingen ein.<br />
----------------------------------------------------------------------------------------------<br />
-----------------<br />
Natürlich konnten in den Ahnentafeln die X-chromosomalen Linien<br />
oft nicht genügend weit erforscht werden, um genetische Schlüsse<br />
daraus zu ziehen .Ein solches Beispiel ist zum Beispiel die Ahnentafel<br />
des Dichters des Deutschlandliedes:<br />
August Heinrich HOFFMANN von FALLERSLEBEN, 1798-<br />
1874,<br />
die auch von Dr. Richard MÜLLER sehr gründlich erforscht worden ist.<br />
Be<strong>im</strong> X-chromosomalen Ahnenpaar Nr. 26/27, dem Amtsschreiber<br />
Johann Melchior PHILIIPPI aus Klein Eicklingen und seiner<br />
unbekannten Ehefrau bricht in dieser Linie die Forschung ab. Aber hier<br />
kann man häufig noch zusätzliche Erkenntnisse aus den Seitenlinien<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 236<br />
ableiten, d. h. in diesem Falle außer <strong>der</strong> Tochter Anna Magdalena<br />
PHILIPPI (Ahn-Nr 13), die den HOFFMANN von FALLERSLEBEN-<br />
Ahnen Daniel Richard BALTHASAR, Pastor in Oldenstadt und<br />
Verssen bei Ülzen heiratet (Ahn-Nr. 12), sind hier auch einige<br />
Geschwister und Nachkommen <strong>der</strong> Anna Magdalena PHILIPPI<br />
bekannt. Eine Schwester von HOFFMAN von FALLERSLEBENs<br />
mütterlichem Großvater Christian Ludwig BALTHASAR (Ahn-Nr. 6),<br />
Dorothea Luise, verheiratet mit dem Pastor Johann Heinrich Ludwig<br />
WIESE, war die Ahnfrau <strong>der</strong> Wissenschaftsfamilie STRUVE durch die<br />
WIESE-Tochter Erementia, die Jacob STRUVE heiratete (wegen<br />
seiner wissenschaftlichen, beson<strong>der</strong>s mathematischen Arbeiten<br />
Ehrendoktor <strong>der</strong> Universität Kiel). Dieses von X-chromosomalen Linien<br />
<strong>der</strong> HOFFMANN von FALLERSLEBEN sich ableitende Geschlecht<br />
STRUVE lieferte <strong>der</strong> Welt eine bedeutende Astronomen-Dynastie in<br />
fünf Generationen! „Das Geschlecht STRUVE zeichnete sich aber<br />
nicht nur durch hochwertige Geistigkeit aus, son<strong>der</strong>n ebenso sehr<br />
durch eine auffallende Fruchtbarkeit. Jacob STRUVE und Emerentia<br />
WIESE hatten 14 Kin<strong>der</strong>, von denen 7 groß geworden sind, davon 52<br />
Enkel und 134 Urenkel. Wilhelm STRUVE, <strong>der</strong> Astronom, hatte dazu<br />
mit 18 Kin<strong>der</strong>n aus zwei Ehen (9 verheiratet), einen schönen Beitrag<br />
geleistet und hatte selbst 54 Enkel und 93 Urenkel― (nach Richard<br />
MÜLLER).<br />
Schließlich läßt eine weitere Persönlichkeit die bereits bei HAECKEL,<br />
GAUSS, BUNSEN, STROMEYER, MÖBIUS und FALLERSLEBEN<br />
bevorzugten X-chromosomalen Ahnenlinien beson<strong>der</strong>s deutlich<br />
erkennen:<br />
Großadmiral Alfred von Tirpitz, 1849-1930.<br />
In diesem letzten auffälligen Beispiel <strong>der</strong> Vererbung geistiger<br />
Eigenschaften können wir<br />
die X-chromosomalen Ahnenlinien aufgrund <strong>der</strong> gut erforschten<br />
bürgerlichen Ahnentafel bei Alfred von Tirpitz beson<strong>der</strong>s genau<br />
verfolgen. Großadmiral v. TIRPITZ war nicht nur die höchstdekorierte<br />
Militärperson des 1. Weltkrieges, son<strong>der</strong>n hat auch in <strong>der</strong><br />
Nachkriegspolitik als Parteigrün<strong>der</strong> eine nicht unwesentliche Rolle in <strong>der</strong><br />
Geschichte des 19. und 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts gespielt.<br />
Grundlage meiner Untersuchung war die Veröffentlichung <strong>der</strong><br />
Ahnenliste Alfred von TIRPITZ’ durch Friedrich Wilhel. EULER <strong>im</strong><br />
„Archiv für Sippenforschung― (1989, Heft 114, S. 81-100). EULER geht<br />
in dieser biographisch-genealogischen Studie zunächst auf die <strong>im</strong> Jahre<br />
1979 erstmals erschienene Biographie „TIRPITZ – Aufstieg, Macht und<br />
Scheitern― des Kieler Neuhistorikers Prof. Dr. Michael SALEWSKI ein<br />
und versucht eine zusammenfassende Darstellung <strong>der</strong> genealogischen<br />
Komponenten von Alfred von TIRPITZ. Dabei verweist er auch auf<br />
wichtige Vorarbeiten zur TIRPITZ-Ahnentafel; beson<strong>der</strong>s durch die<br />
Genealogen Dr. Heinrich BANNIZA von BAZAN und Gero von WILCKE.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 237<br />
Wir erfuhren ja oben schon, daß in Gero von WILCKEs Arbeit über die<br />
STAHL-Enkel in <strong>der</strong>en Nachkommenschaft auch Alfred von TIRPITZ<br />
erscheint, was aus dessen Ahnenliste hier nun nachvollziehbar sein soll.<br />
Und zwar führt <strong>der</strong> Abstammungsweg von <strong>der</strong> in Halle geborenen<br />
Urenkelin Johanna Elisabeth von BÖHMER, 1742-1782, (verheiratet<br />
mit dem Medizin-Professor Dr. phil. et med. Peter HARTMANN dem<br />
Älteren, 1727-1791, Helmstedt und Frankfurt/O<strong>der</strong>) auf Alfred von<br />
TIRPITZ. Die genannte Johanna Elisabeth von BÖHMER ist eine<br />
Urenkelin von TIRPITZ mütterlicherseits (Ahnen-Nr. 13); TIRPITZ’<br />
Mutter Malwine HARTMANN, 1815-1880, war eine Tochter von Peter<br />
HARTMANN des Jüngern, 1776-1842, Medizinalrat in<br />
Frankfurt/O<strong>der</strong>(Ahnen-Nr. 6), <strong>der</strong> <strong>der</strong> Sohn des oben genannten Peter<br />
HARTMANN des Älteren ist (Ahnen-Nr. 12) und <strong>der</strong> mehrfach<br />
genannten Urenkelin Johanna Elisabeth von BÖHMER).<br />
Diese Abstammungslinie kann man wie<strong>der</strong> abwechselnd hinsichtlich<br />
des Geschlechts (Mann o<strong>der</strong> Frau) schreiben: Mann (Alfred v. Tirpitz,<br />
Proband, Ahn-Nr. 1) - Frau (Mutter, Ahn-Nr. 3) - Mann (Großvater, Ahn-<br />
Nr. 6) - Frau (Urgroßmutter, Ahnen-Nr. 13). Ahnenlinien mit<br />
abwechselndem (alternierendem) Geschlecht: Mann-Frau-Mann- Frau-<br />
Mann- …besitzen, wie oben bereits gesagt, die größte<br />
Erbwahrscheinlichkeit in Bezug <strong>der</strong> Vererbung X-chromosomaler Gene<br />
auf den Probanden, hier Alfred von TIRPITZ. Es muß hier auf meine<br />
Studie „Erbmäßig bevorzugte Vorfahrenlinien bei<br />
zweigeschlechtigen Lebewesen“ verwiesen werden:<br />
http://www.genetalogie.de/artikel/html/ar_afs79/ar_afs79.htm<br />
Bevor wir die mütterliche Seite <strong>der</strong> TIRPITZ-Ahnentafel <strong>im</strong> Lichte<br />
meiner genetischen These noch näher betrachten, zuvor noch ein Blick<br />
auf die väterliche Seite seiner Ahnentafel: TIRPITZ’ Vater und Großvater<br />
TIRPITZ waren beide Königlich Preußische Justizräte und Notare in<br />
Frankfurt/O<strong>der</strong>. Die beiden weiteren noch bekannten TIRPITZ-<br />
Stammväter hingegen waren Musikanten. Urgroßvater Jacob Friedrich<br />
TIRPITZ, 17590-1830, war Kgl. Preuß. Stabstrompeter <strong>im</strong><br />
Neumärkischen Dragonerreg<strong>im</strong>ent Nr. 3, dann „Salzfaktor zu<br />
Sohnenburg―; Ururgroßvater Christian Ferdinand TIRPITZ, 1701-1790,<br />
war „Stadtmusicus und Feldtrompeter― in Bärwalde, wo er geboren war<br />
und auch verstarb. Von ihm ist nur noch bekannt, daß er mit <strong>der</strong><br />
Bürgerstochter Susanne SCHMIEDECKE, 1722-1778, verheiratet war,<br />
<strong>der</strong>en Vater Johann Jacob Bürger, Brauer, Ratsherr und Zolleinnehmer<br />
in Bärwalde war und dessen Vater Jacob Bürgermeister und<br />
Oberzolleinnehmer ebenda war.<br />
Es ist bei herausragenden Persönlichkeiten sehr auffällig, daß die rein<br />
väterliche (patrilineare) Stammlinie (Namenslinie) meist nicht sehr<br />
weit zurückverfolgt werden kann, meist endet sie <strong>im</strong> Berufstand des<br />
Handwerks o<strong>der</strong> <strong>im</strong> kleinbäuerlichen Bereich. Es sei hier statistisch nur<br />
verwiesen auf die große Sammlung „Ahnentafeln berühmter<br />
Deutscher,“ (1929-1944) und die beiden Bände „Deutsche<br />
Geschichte in Ahnentafeln“ (1939, 1942). Die rein väterliche Linie<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 238<br />
berühmter Persönlichkeiten verdankt ihren späteren Aufstieg oft den<br />
Eheverbindungen mit Töchtern aus Familien höheren sozialen Standes,<br />
wenn auch vielfach <strong>der</strong>en Wurzeln nicht mehr weit zurück verfolgt<br />
werden können. Friedrich Wilhelm EULER weist bei <strong>der</strong> Ahnenschaft<br />
von Alfred von Tirpitz beson<strong>der</strong>s auf das Ahnenpaar Carl ROHLEDER,<br />
1746-1813, zuletzt Superintendent und Oberpfarrer in Sonnenburg und<br />
seine Ehefrau Charlotte SCHMIDT, 1758-1845, eine Pastorentochter<br />
(Ahnen-Nummern 10 und 11) hin. Deren Tochter Ulrike ROHLEDER,<br />
1788-1857, heiratete Alfred von Tirpitz’ Großvater Friedrich Wilhelm<br />
Tirpitz, 1782-1862. EULER erwähnt hier die berühmte<br />
Nachkommenschaft Henriette ROHLEDERs (einer Schwester von<br />
Ulrike). Diese Henriette ROHLEDER heiratet den Gymnasialdirektor D.<br />
Dr. phil. Gustav KÖPKE in Berlin (bekannter Lehrer Otto von<br />
BISMARCKs) und dieses Paar wurden die Großeltern des<br />
Reichskanzlers und Generals <strong>der</strong> Infanterie Leo Graf von CAPRIVI,<br />
1831-1899.<br />
Die in die TIRPITZ-Stammlinie einheiratende Familie ROHLEDER<br />
führt ihre Ursprünge auf Glaubensflüchtlinge in Mähren zurück. Bereits<br />
EULER betont den beson<strong>der</strong>en Einfluß <strong>der</strong> mütterlichen Ahnenlinien:<br />
„Nicht zuletzt ist es auch hier die mütterliche Linie, […] die in den letzten<br />
Generationen genug erstaunliche Leistungen aufweist, um <strong>der</strong><br />
allgemeinen Wertschätzung <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>genossen teilhaftig zu werden. […]<br />
Diesem prägenden Erbe trat <strong>der</strong> Mannesstamm <strong>der</strong> TIRPITZ zurück.<br />
[…] Einen völlig neuen Akzent bringt die Mutter des Admirals mit ihrem<br />
Erbe aus ältesten Gelehrtengeschlechtern in Halle und in diesen schon<br />
bewegten Ahnensaal. Die Ärztefamilie <strong>der</strong> HARTMANN aus Ohrdruf<br />
[Ahnen-Nrn. 6, 12, 48 und 96] hatte durch großen Kin<strong>der</strong>reichtum nicht<br />
für alle Söhne ein Studium ermöglichen können. Aber auch Eduard<br />
HARTMANN [Ahn 24] galt als Faktor <strong>der</strong> Waisenhausdruckerei in Halle<br />
in <strong>der</strong> Franck’schen Stiftung als ein gelehrter Mann. Sein Sohn kehrte<br />
wie<strong>der</strong> in die Universitätslaufbahn zurück und heiratete die Tochter und<br />
Enkelin <strong>der</strong> bedeutenden, geradezu bahnbrechenden Gelehrten<br />
Familien, v. BOEHMER und STAHL. Für diese interessanten Abläufe<br />
müssen wir <strong>im</strong> einzelnen auf die Darstellung in <strong>der</strong> Ahnentafel<br />
verweisen. Auffallend ist <strong>der</strong> große Anteil des patrizischen Erbes<br />
aus den Städten und die unerwartete Ahnengemeinschaft mit<br />
GOETHE [ über Anna Margaretha KÖHLER, Ahnen-Nr. 219] und<br />
Thomas MANN [über Anna GANZLAND, Ahnen-Nr. 221].― Auch Gero<br />
von WILCKE hebt in dem bereits genannten Aufsatz „Der Medizin-<br />
Klassiker STAHL und seine Enkel in <strong>der</strong> Professorenfamilie BÖHMER―<br />
diesen Personenkreis beson<strong>der</strong>s hervor. Es sei nochmals erinnert, daß<br />
in <strong>der</strong> Ahnentafel von Alfred von TIRPITZ unser Chemie- und Medizin-<br />
Professor Georg Ernst STAHL, 1659-1734, auf <strong>der</strong> mütterlichen Seite<br />
vorkommt, und zwar steht STAHL in TIRPITZ’ Ahnentafel nicht nur auf<br />
einer Stelle, bei <strong>der</strong> eine X-chromosomale Vererbung auf den<br />
Probanden (Alfred v. TIRPITZ) möglich ist, son<strong>der</strong>n mit <strong>der</strong> Ahnen-<br />
Nummer 54 sogar auf einer deutlich bevorzugteren X-chromosomalen<br />
Stelle als <strong>im</strong> reinen (matrilinearen) Weibesstamm mit den Ahnen-<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 239<br />
Nummern: Frau (63)-Frau (31)-Frau (15)-Frau (7)-Frau (3)-Mann (1); er<br />
steht nämlich auf <strong>der</strong> Ahnen-Nr. 54, die - bis auf die Abstammung 27-13-<br />
durch die abwechselnde Geschlechterfolge: Mann (54)-Frau (27)-Frau<br />
(13)-Mann (6)-Frau (3)-Mann (1, Proband = A. v. TIRPITZ) )<br />
gekennzeichnet ist. Die Ahnen-Nr. 54, auf <strong>der</strong> G. E. STAHL steht, hat in<br />
<strong>der</strong> Ahnentafel von Alfred von TIRPITZ die doppelte X-chromosomale<br />
Erbwahrscheinlichkeit (12,5 % ) auf den Probanden (v. TIRPITZ)<br />
gegenüber <strong>der</strong> z. B. in gleicher(!) Ahnengeneration stehenden<br />
Ururgroßmutter mit <strong>der</strong> Ahnen-Nr. 63 (6,25%), <strong>der</strong>en Linie in reiner<br />
Frauen-Abstammung 63-31-15-7-3-1 auf den Probanden Alfred von<br />
TIRPITZ führt. Es handelt bei dieser Ahnen-Nr. 63 um eine Gertrud<br />
KRÜGER, die vor 1739 einen Franz Wilhelm MEYER, 1710-1771, (Ahn-<br />
Nr. 62) heiratete, <strong>der</strong> Bürger in Bielefeld und von Herborn eingewan<strong>der</strong>t<br />
war; mehr ist von diesem Ehepaar nicht bekannt.<br />
Zur Verdeutlichung <strong>der</strong> X-chromosomalen Vererbung <strong>im</strong> allgemeinen<br />
und meiner „These von <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Mittlerrolle X-<br />
chromosomaler Gen bei <strong>der</strong> Ausprägung geistiger Eigenschaften“<br />
<strong>im</strong> beson<strong>der</strong>en, seien aus <strong>der</strong> Ahnetafel von Alfred von TIRPITZ<br />
nachfolgend einmal alle Personen mit ihren X-chromosomalen<br />
Erbwahrscheinlichkeiten (= mittlerer biologischer Verwandtschaftsanteil)<br />
bis zur 8. Ahnengeneration aufgezählt, bei denen diese<br />
geschlechtsgebundene Vererbung möglich ist. Es entfallen hier also alle<br />
Ahnen, die durch eine o<strong>der</strong> mehrere Vater-Sohn-Abstammung zum<br />
Probanden Alfred von TIRPITZ , Großadmiral (mit 68 deutschen und<br />
internationalen Auszeichnungen!), gekennzeichnet sind.<br />
1. Gen.<br />
3 Malwine HARTMANN, Frankfurt/O<strong>der</strong> (Mutter), 100 %<br />
2. Gen.<br />
6 Peter HARTMANN, Dr. med., Medizinalrat in Frankfurt/O<strong>der</strong> , 50 %<br />
7 Anne Louise AUNE, Königsberg, 50 %<br />
3. Gen.<br />
13 Johanna Elisabeth von BOEHMER, Halle, 50 %<br />
14 Isaac Adam AUNE, Zollinspektor in Königsberg, 25 %<br />
15 Johanne Marie MEYER, Bielefeld, 25 %<br />
4. Gen.<br />
26 Friedrich von BOEHMER, Dr. jur. Prof. <strong>der</strong> Rechte, Frankfurt/O<strong>der</strong> u.<br />
Berlin, 25 %<br />
27 Catharina Louise Charlotte STAHL, Berlin 25 %<br />
29 Marie SARRE, Berlin, 25 %<br />
30 Franz Wilhelm MEYER, Bürger in Bielefeld, 12,5 %<br />
31 Gertrud KRÜGER, 12,5 %<br />
5. Gen.<br />
53 Eleonore Rosine STÜTZING, Halle, 25 %<br />
54 Georg Ernst STAHL, Dr. med., Prof. <strong>der</strong> Chemie u. Medizin in Halle<br />
u. Berlin, 12,5 %<br />
55 Regina Elisabeth WESENER, Halle, 12,5 %<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 240<br />
58 Pierre SARRE, Bürger und Gärtnermeister in Berlin, 12,5 %<br />
59 Elisabeth BERTIN, Metz, 12,5 %<br />
61 unbekannt, 12,5 %<br />
62 unbekannt, 6,25 %<br />
63 unbekannt, 6,25 %<br />
6. Gen.<br />
106 Johann Gotthilf STÜTZING, Pfänner, Ratskammerschreiber in<br />
Halle, 12,5 %<br />
107 Dorothea HAHN, Halle, 12,5 %<br />
109 Marie Sophie MEELFÜHRER, Ansbach, 12,5 %.<br />
110 Wolfgang Christoph WESENER, Dr. med. Stadtarzt und Pfänner in<br />
Halle, 6,25 %<br />
111 Regina SEYFART, Halle, 6,25 %<br />
117 unbekannt 12,5 %<br />
118 unbekannt 6,25 %<br />
119 unbekannt 6,25 %<br />
122 unbekannt 6,25 %<br />
123 unbekannt 6,25 %<br />
125 unbekannt 6,25 %<br />
126 unbekannt 3,125 %<br />
127 unbekannt 3, 125 %<br />
7. Gen.<br />
213 Helene LUDWIGER, Halle, 12,5 %<br />
214 Laurentius HAHN, Pfänner, Kramermeister, Ratsherr in Halle, 6,25<br />
%<br />
215 Elisabeth SCHADE, Halle, 6,25 %<br />
218 Johann Burkhard MEELFÜHRER, Präzeptor in Ansbach; Gelehrter<br />
u. Dichter, 6,26 %<br />
219 Anna Margaretha KÖHLER (CÖLER), Illenschwang bei<br />
Dinkelsbühl, 6,25 %<br />
221 Anna GANZLAND, Halle, 6,25 %<br />
222 Christian SEYFARTH, Bürger, Pfänner u. Oberbornmeister in Halle,<br />
3,125 %<br />
223 Regina MÜLLER, 3,125 %<br />
die weiteren „X-chromosomalen Ahnen― 234-235, 237-239, 245-247,<br />
250-253, 254-255 sind in <strong>der</strong> veröffentlichten Ahnenliste nicht mehr<br />
enthalten<br />
8. Gen.<br />
426 Caspar LUDWIGER, Pfänner, Ratsherr in Halle, 6,25 %<br />
427 Maria LOTTER, Leipzig, 6, 25 %; sie war eine Enkelin des<br />
Ratsbaumeisters u. Bürgermeisters Hieronymus LOTTER, 1496-1580,<br />
Erbauer des Leipziger Rathauses. 429 unbekannt; 6,25 %<br />
430 Philipp SCHADE, Pfänner u. Kramermeister in Halle, 3,125 %<br />
431 unbekannt, 3,125 %<br />
437 Elisabeth GRAMMANN, 6,25 %; Tochter des Nicolaus G.<br />
Superintendent in Kulmbach.<br />
438 Wendelin KÖHLER (CÖLER), Magister u. Pfarrer in Illenschwang<br />
u. Weißenkirchberg, Goethe-Ahnen-Nr. 102; 3,25 %<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 241<br />
439 Maria LEY, Windsbach, Goethe-Ahnen-Nr. 103, 3,25 %; Tochter<br />
des Magisters, Dekan und Dichters Conrad LEY.<br />
442 Tilemann GANZLAND, Handelsmann in Halle, 3,25 %<br />
443 Catharina SEYFFART, Halle, 3,25 %; Tochter des Fürstl.<br />
Magdeburg. Küchen- u. Bornmeister in Halle.<br />
die weiteren „X-chromosomalen Ahnen―:445-447, 469-470, 471, 474-<br />
475, 477-479, 490-491, 493-495, 501-503, 506-507, 509-511 sind in <strong>der</strong><br />
veröffentlichten Ahnenliste nicht mehr enthalten..<br />
Abschließend zu diesen „geneTalogischen― Überlegungen sei noch<br />
darauf hingewiesen, daß die Anzahl <strong>der</strong> möglichen sog. X-<br />
chromosomalen Ahnen, durch die eine solche Vererbung möglich ist, in<br />
<strong>der</strong> Ahnentafel von Generation zu Generation nicht nach einer<br />
exponentiellen Reihe, nämlich <strong>der</strong> Zweier-Reihe 2 n , also 1, 2, 4, 8, 16,<br />
32 … wächst, son<strong>der</strong>n hier viel langsamer nach einer speziellen<br />
arithmetischen Reihe, <strong>der</strong> berühmten Fibonacci-Reihe, die mit dem<br />
„Goldenen Schnitt“ in enger Berührung steht. Hier wächst die<br />
Personenzahl bei einem männlichen Probanden (die<br />
Probandengeneration als 0. Generation mitgezählt) nach 1, 1, 2, 3, 5, 8,<br />
13, 21, 34, 55 …. während bei einem weiblichen Probanden die Reihe<br />
ebenfalls nach dieser Reihe, allerdings um eine Generation<br />
zurückverschoben, wächst, da eine Frau zwei X-chromosomale<br />
Erbbäume besitzt, da sie ja sowohl vom Vater und <strong>der</strong> Mutter, jeweils<br />
ein X-Chromosom vererbt bekommt; bei ihr ergibt sich die Reihe 1, 2, 3,<br />
5, 8, 13, 21, 34, 55, 89 …<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
8 DER LEBENSLAUF VON GEORG ERNST STAHL,<br />
1660-1734<br />
Georg Ernst STAHL wurde in Ansbach am 22. Oktober 1659 geboren<br />
(lt. Kirchenbuch). Lei<strong>der</strong> wird häufig fälschlich das Jahr 1660<br />
angegeben. Stahl wuchs unter pietistischen Einflüssen auf. Sein Vater<br />
und Großvater wurden ebenfalls in Ansbach geboren. Der Vater Johann<br />
Lorenz STAHL, 1620-1698, war dort als Hofratssekretär höher Beamter<br />
(1664 Konsistorial- und 1672 Ehegerichtssekretär). Der Großvater<br />
Johannes STAHL, 1591-1660, war zunächst Kanzlist, später seit 1624<br />
Spitalmeister in Ansbach. Die bereits als Goethe-Verwandte erwähnte<br />
Mutter G. E. STAHLs, Marie Sophie MEELFÜHRER, 1635 1680, war die<br />
Tochter des ebenfalls in ‚Ansbach geborenen Magisters und Diakonus<br />
Johann Burkhard MEELFÜHRER, 1603-1637 zu St. Johannis in<br />
Ansbach, <strong>der</strong> schon mit 34 Jahren verstorben war. Seine Frau Anna<br />
Margaretha KÖHLER (CÖLER), von <strong>der</strong> schon mehrfach die Rede war,<br />
heiratete 2 Jahre nach dem Tod ihres Mannes 1639 Wolfgang Heinrich<br />
PRIESTER, 1611-1676, Diakon in Crailshe<strong>im</strong>, später bis 1664 Dekan in<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 242<br />
Feuchtwangen; dann eine zeitlang wegen Zulassung einer unerlaubten<br />
Ehe des Amtes enthoben, später wi<strong>der</strong> Pfarrer in Crailshe<strong>im</strong>. Die aus<br />
dieser Ehe hervorgegangene Anna Margaretha PRIESTER, eine<br />
Halbschwester von G. E. STAHLs Mutter Marie Sophie MEELFÜHRER,<br />
war ein Ururgroßmutter Goethes, die 1663 Johann Wolfgang TEXTOR,<br />
Goethes Urgroßvater heiratete, <strong>der</strong> eine Professorenkarriere in Altdorf,<br />
Heidelberg und Frankfurt a. M. zuwege brachte. Wie erwähnt, war er<br />
auch in Altdorf Doktorvater des aus Leipzig entronnenen<br />
„Wun<strong>der</strong>knabens― Gottfried Wilhelm LEIBNIZ!<br />
STAHL studierte in Jena Medizin und promovierte dort 1684. Als<br />
Schüler des hochangesehenen Georg Wolfgang WEDEL, 1645-1721,<br />
schloß er sich zunächst dessen chemiatrischen Richtung an, die von<br />
PARACELSUS über Friedrich HOFFMANN, 1660-1742, seinem<br />
Altersgenossen und Freund bis zu Hermann BOERHAAVE, 1668-1738<br />
führte. STAHL, HOFFMANN und <strong>der</strong> etwas jüngere BOERHAAVE<br />
best<strong>im</strong>mten vor allen an<strong>der</strong>en die Medizin ihres <strong>Zeit</strong>alters – je<strong>der</strong> auf<br />
seine Art und Weise – und erfüllten sie mit ihrem Geiste.<br />
STAHL war nach seiner Promotion zunächst Privatdozent in Jena.<br />
Bereits mit 28 Jahren, also 1687, wurde er in We<strong>im</strong>ar Leibarzt des<br />
Herzogs Johann Ernst III. von Sachsen-We<strong>im</strong>ar, 1664-1707, <strong>der</strong> formal<br />
mit seinem älteren Bru<strong>der</strong> Wilhelm Ernst an <strong>der</strong> Regierung beteiligt war.<br />
Er soll eine labile Persönlichkeit gewesen und schon mit 43 Jahren am<br />
Trunk gestorben sein. Er war <strong>der</strong> Urgroßvater von Großherzog Karl<br />
August von Sachsen-We<strong>im</strong>ar-Eisenach, 1757-1828, Goethes Freund<br />
und För<strong>der</strong>er. Bereits bei <strong>der</strong> Gründung <strong>der</strong> Universität Halle <strong>im</strong> Jahre<br />
1693 durch Kurfürst Friedrich III. v. Brandenburg, später erster König v.<br />
Preußen, wurde STAHL als zweiter Ordinarius <strong>der</strong> Medizin nach Halle<br />
berufen, und hatte die Gebiete („Institutiones―) Physiologie, Diätetik,<br />
Arzne<strong>im</strong>ittelkunde und Botanik zu vertreten. Diese Anstellung verdankte<br />
er seinem Studienkameraden Friedrich HOFFMANN, dem bei <strong>der</strong><br />
Universitätsgründung die Bildung <strong>der</strong> medizinischen Fakultät übertragen<br />
worden war. Erster Professor <strong>der</strong> Medizin war somit HOFFMANN, <strong>der</strong><br />
die Fächer praktische Medizin, Anatomie, Physik und Chemie, also die<br />
wichtigsten praktischen Vorlesungen bekam und Stahl erhielt die mehr<br />
theoretischen Medizinfächer. HOFFMANNs Name ist später durch die<br />
nach ihm benannten „Hoffmannstropfen― (Ätherweingeist: 1 Teil Äther, 3<br />
Teile Alkohol) bekannt geworden.<br />
Stahl heiratete mehrmals, da ihm das früher recht häufige Schicksal<br />
des frühen Todes <strong>der</strong> jungen Frauen <strong>im</strong> Wochenbett lei<strong>der</strong> auch nicht<br />
erspart blieb. Seine erste Frau Catharina Margarethe MICULCI aus<br />
Zerbst stirbt <strong>im</strong> Wochenbett 1696, das geborene Töchterchen drei<br />
Monate später. Seine zweite Frau Barbara Eleonore, erst 19 Jahre alt,<br />
ereilt bereits 1706, ein Jahr nach <strong>der</strong> Hochzeit, das gleiche Schicksal mit<br />
ihrem Töchterchen. Sie war die Tochter des Dr. jur. Johann Christian<br />
TENTZEL, kurbrandenburgischer Steuerrat und Pfänner in Halle und<br />
dessen ersten Gattin Anna Maria Elisabeth UNTZER. Biographen<br />
vermuten, daß diese Schicksalsschläge den Charakter dieses sensiblen<br />
Menschen nachhaltig beeinflußt haben. Seine Gegner nannten ihn auch<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 243<br />
einen Misanthropen. Als 52-jähriger heiratet STAHL 1711 in Halle dann<br />
zum dritten Mal die 24 Jahre jüngere Hallenser Stadtarzttochter Regina<br />
Elisabeth WESENER, 1683-1730, die ihm dann noch 2 Söhne und 3<br />
Töchter schenkt. Der Sohn Georg Ernst d. J. , geboren 1713, wurde<br />
praktischer Arzt in Berlin, Unter den Linden; die jüngste Tochter<br />
Catharina Louise Charlotte, geboren 1717, heiratete in die Hallenser<br />
Professorenfamilie (v.) BOEHMER ein, über die oben bereits berichtet<br />
worden ist.<br />
Die Zusammenarbeit zwischen STAHL und HOFFMANN war zunächst<br />
erfreulich, durch persönliche Freundschaft und das gemeinsame<br />
Interesse vor allem an <strong>der</strong> Chemie getragen. Bals aber wirkten sich<br />
die verschiedenen Temperamente, <strong>der</strong> größere praktische Erfolg<br />
HOFFMANNs und schließlich die unterschiedlichen Auffassungen <strong>im</strong><br />
Theoretischen aus. Aus den Freunden wurden allmählich Rivalen und<br />
Gegner. HOFFMANN unterbrach seine Professorentätigkeit in Halle von<br />
1709-1712, um dem nun König gewordenen Grün<strong>der</strong> <strong>der</strong> Universität als<br />
Leibarzt in Berlin zu dienen. Auf die Dauer hielt HOFFMANN diese<br />
Tätigkeit aber nicht aus und kehrte vom recht üppigen Berliner Leben<br />
nach 3 Jahren wie<strong>der</strong> nach dem engen pietistischen Halle zurück. Als<br />
sich einige Jahre später in Berlin die Gelegenheit bot, die Leibarztstelle<br />
am Hofe zu übernehmen, folgte STAHL 1716 nach 23-jähriger<br />
erfolgreicher akademischer Tätigkeit in Halle dem Ruf nach Berlin, wo er<br />
als Leibarzt von König Friedrich Wilhelm I. („Soldatenkönig―), 1688-<br />
1740, dann bis zu seinem Tode geblieben ist. Bei <strong>der</strong> weiteren<br />
Charakterisierung STAHLS folgen wir Prof. Richard KOCH, Frankfurt a.<br />
M. (Bugge: Das Buch <strong>der</strong> großen Chemiker): „Stahl hatte dort die gewiß<br />
nicht <strong>im</strong>mer leichte Aufgabe, an dem jetzt soldatisch einfach und <strong>der</strong>b<br />
gewordenen Hofe Friedrich Wilhelm I. (1713-1740) zu wirken, wobei ihm<br />
freilich zugute kam, daß dieser schwierige Herr von allen<br />
Wissenschaften nur die Medizin gelten ließ und unterstützte. STAHLs<br />
pietistische Einstellung und bittere, schwerblütige Natur haben vielleicht<br />
gerade dazu beigetragen, daß er in dem Berlin dieses <strong>Zeit</strong>abschnitts zur<br />
Auswirkung, zur Ausbildung von Schülern und zu Ehren gelangte. Im<br />
Alter wurde er melancholisch und einsiedlerisch. Er schloß sich nach<br />
Möglichkeit von den Menschen ab und soll sogar Briefe kaum mehr<br />
beantwortet haben. Er starb am 14. Mai 1734.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 244<br />
Stahl gehört zu den Gestalten <strong>der</strong> Wissenschaftsgeschichte, <strong>der</strong>en<br />
Persönlichkeit in allen Beschreibungen beson<strong>der</strong>s erwähnt und als<br />
wesentlich für sein Wirken betrachtet wird. […]. Er wird gewöhnlich als<br />
finster, schwierig <strong>im</strong> Umgang und mit einem Hange zur Melancholie<br />
bezeichnet. Aus Abbildungen, die wir von ihm besitzen, geht das nicht<br />
unmittelbar hervor. Sie stellen den typischen Menschen <strong>der</strong> Barockzeit,<br />
mit unpersönlich vergeistigtem Gesichte, <strong>im</strong> uniformierenden Rahmen<br />
<strong>der</strong> Allonperücke dar. Erst <strong>im</strong> Vergleich mit an<strong>der</strong>en Porträts <strong>der</strong> zeit,<br />
etwa mit Friedrich HOFFMANNs o<strong>der</strong> Hermann BOERHAAVEs, kann<br />
man den Unterschied vermuten. Er scheint etwa ausgesehen zu haben,<br />
wie man früher den Melancholiker zu typisieren versuchte und wie man<br />
heute etwa den Typus des schizothymen Menschen zu gestalten<br />
versucht. Auch eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Typ <strong>der</strong> großen<br />
Philosophen des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts läßt sich finden. Wir wüßten auch<br />
ohne Überlieferung und ohne Bil<strong>der</strong>, daß er <strong>der</strong> sehr reine Vertreter des<br />
denkenden Menschen <strong>im</strong> Gegensatz zum schauenden und dem<br />
praktisch tätigen gewesen ist. Aber hinter all diesem Denkerischen,<br />
Grüblerischen, Melancholischen, hinter all dem, was geeignet gewesen<br />
wäre, ihn von <strong>der</strong> Welt abzuwenden, stand ein Mensch <strong>der</strong> Tatkraft,<br />
<strong>der</strong> es mit glücklicher Veranlagten wohl aufnehmen konnte. In <strong>der</strong><br />
Jugend muß er auffällig und zu einer Art Freundschaft fähig gewesen<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 245<br />
sein, denn sonst wären seine Beziehungen zu Friedrich HOFFMANN<br />
und seine damit zusammenhängende Berufung nach Halle nicht<br />
denkbar. In <strong>der</strong> zeit <strong>der</strong> vollen Manneskraft war er wohl <strong>im</strong> wesentlichen<br />
schwierig. Denn er stellte sich in rastloser Tätigkeit seiner Umgebung<br />
und dem herrschenden Geiste entgegen, ohne zu rein sachlicher<br />
Behandlung <strong>der</strong> Gegenstände bereit zu sein. Er scheute nicht davor<br />
zurück, sich auch vor Tatsachen zu verschließen, wenn sie seine<br />
Gedanken verletzten. Die Geschlossenheit <strong>im</strong> Gedanklichen blieb ihm<br />
über alle Tatsächlichkeiten hinaus das letzte Ziel. Sein Charakter muß<br />
gut gewesen sein. Denn sonst hätte er sich unter den häufig schwierigen<br />
familiären Verhältnissen um Friedrich Wilhelm I. bei seiner Wesensart<br />
nicht halten können. Daß er <strong>im</strong> Alter schließlich doch ganz auf sich<br />
selbst zurückgeworfen wurde, ist bei einem Manne dieser Art fast<br />
selbstverständlich. Viel erwähnt wird <strong>der</strong> pietistische Zug seines<br />
Wesens. Aber es scheint <strong>im</strong> ganzen, daß er doch weit mehr als durch<br />
Erziehung und Beeinflussung in <strong>der</strong> Jugend durch die natürliche<br />
Beschaffenheit seiner Person best<strong>im</strong>mt gewesen ist. […]. Die<br />
stärksten Linien in <strong>der</strong> Struktur seines Wesens, die ihn vor den meisten<br />
Gefahren bewahren, denen ein so introvertierter Mensch ausgesetzt ist,<br />
zeichnet sich dadurch ab, daß er als Chemiker chemisch, als Arzt<br />
ärztlich dachte, daß er also von dem Endzweck seiner Tätigkeit<br />
durchdrungen war.―<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
8.1 STAHLs Phlogiston-Theorie beflügelt die forschenden<br />
Geister und bricht <strong>der</strong> Chemie breite<br />
Zukunftsbahnen, - obgleich sie „falsch“ ist!<br />
STAHL hat mit seiner Phlogiston-Theorie erstmals die Gesamtheit<br />
<strong>der</strong> Oxydationserscheinungen (Verbrennung, Rosten von Eisen, Rösten<br />
von Metallen, Gärung, Atmung usw.) unter einem einheitlichen<br />
Gesichtspunkt zu deuten versucht. Wie oben bereits angezeigt, baute<br />
STAHL in gedanklicher Weiterentwicklung <strong>der</strong> von BECHER<br />
aufgestellten Theorie eines beson<strong>der</strong>en Bestandteiles <strong>der</strong> metallischen<br />
Körper, die er „fettige Erde― („terra inguis―) nannte, seine Phlogiston-<br />
Theorie auf. Diese Theorie stellte also den ersten Versuch dar, eine<br />
Systematisierung <strong>der</strong> Stoffe auf Grund ihres Verhaltens und die Ursache<br />
<strong>der</strong> Verbrennlichkeit einem Prinzip unterzuordnen. In deduktiver<br />
Erkenntnissuche wurde durch diese Theorie nicht wie bei <strong>der</strong><br />
alchemistischen und technischen Sucharbeit nach Stoffen und <strong>der</strong>en<br />
Verwandlungen die Frage gestellt: Was geschieht? Aufgrund <strong>der</strong> nun<br />
einheitlichen Theorie <strong>der</strong> Oxydations- und Reduktionsprozesse<br />
bedeutete eine an<strong>der</strong>e Frage jetzt etwas Neues, die nun <strong>im</strong>mer häufiger<br />
auftauchte: Warum geschieht es? Das „Warum― aber ist nach<br />
SCHOPENHAUER die Mutter <strong>der</strong> Wissenschaften.<br />
Ausgehend von <strong>der</strong> Tatsache, daß erfahrungsgemäß die Körper durch<br />
erhöhte Temperatur einen Abbau erleiden, so erschien es damals<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 246<br />
naheliegend, auch be<strong>im</strong> Verbrennen, z. B. dem „Verkalken― - wie man<br />
damals das Verbrennen von Metallen und Rösten von Metallerzen<br />
nannte- einen Zerfall eines Zusammengesetzten anzunehmen. Man<br />
faßte danach die Metalle nicht als einen einheitlichen Stoff auf, den sie<br />
ja in Wirklichkeit verkörpern, son<strong>der</strong>n als eine Verbindung, bestehend<br />
aus dem jeweiligen Metalle und einem universellen „Etwas― .. Dieser<br />
einheitliche, unwägbare Bestandteil, eben das Phlogiston wird be<strong>im</strong><br />
Verbrennen durch Zerfall abgeschieden. Je<strong>der</strong> Verbrennungsvorgang<br />
war danach durch das Entweichen von Phlogiston begleitet. Dieses<br />
Phlogiston kann jedoch dem verbrannten Stoff, z. B. den „Metallkalken―<br />
(Metalloxiden) durch Zufügen phlogistonreicher Stoffe (z. B. Kohle, Öl<br />
usw.) wie<strong>der</strong>gegeben werden, wodurch wie<strong>der</strong> die ursprünglichen<br />
Metalle entstehen. Das uralte Verfahren <strong>der</strong> Hüttenleute wird durch<br />
diese Theorie erstmalig theoretisch beleuchtet uns verständlich<br />
gemacht. Schematisch kann man die Phlogiston-Theorie in die<br />
umkehrbare Formel bringen:<br />
Verbrennen<br />
Metall = „Metallkalk― + Phlogiston, o<strong>der</strong><br />
rückläufig<br />
Zusatz von Kohle<br />
Also:<br />
Das Metall durch Dephlogistierung (d. h. Verbrennen bzw. Oxydation)<br />
gibt „Metallkalk―;<br />
„Metallkalk― durch Phlogistierung (d. h. Reduktion) liefert Metall.<br />
Diese Theorie wird auf alle brennbaren Substanzen ausgedehnt.<br />
„Hierbei ist es gleichgültig, ob es sich um die Verbrennung mit<br />
leuchten<strong>der</strong> Flamme, um die Veraschung <strong>der</strong> Metalle, um die Atmung,<br />
um die Verwesung o<strong>der</strong> um die Gärung handelt. Damit waren zum<br />
ersten Male die Naturvorgänge, die sich später allesamt als<br />
Oxydationsvorgänge erklären ließen, in eine Einheit ihres Wesens<br />
zusammengefaßt.“(lt. BUGGE/ KOCH). Holz und Kohle werden als fast<br />
reines Phlogiston aufgefaßt, da sie scheinbar fast rückstandslos<br />
verbrennen, weil man damals noch keine Möglichkeit hatte, die<br />
gasförmigen Endprodukte quantitativ und qualitativ zu best<strong>im</strong>men.<br />
Diese zuerst von BECHER <strong>im</strong> Jahre 1669 begonnene Theorie baute<br />
STAHL später ab 1697 zu einer umfassen<strong>der</strong>en, einheitlichen Lehre<br />
aus. „Dadurch kam er zu Leistungen, die in <strong>der</strong> Welt lang o<strong>der</strong> kurz<br />
bestehen konnten, und <strong>im</strong>mer fruchtbar waren. Soweit die Größe seiner<br />
Bedeutung mit seiner Persönlichkeit zusammenhängt, beruht sie auf<br />
einer natürlichen Fähigkeit, Begriffe von großer Allgemeinheit,<br />
praktischer Anwendbarkeit und Reibung erregen<strong>der</strong> Unbedingtheit<br />
zu bilden. Dadurch zwang er die Denker, sich mit ihm<br />
auseinan<strong>der</strong>zusetzen und auf ihn einzugehen, und ebenso gab er<br />
dadurch den Ärzten und Chemikern Leitgedanken, mit denen sich leicht<br />
arbeiten ließ. Aber so schöpferisch er in seiner Auswirkung war und<br />
wurde, zu den eigentlich großen Entdeckern und Erfin<strong>der</strong>n in <strong>der</strong><br />
Geschichte <strong>der</strong> Wissenschaften und Medizin gehört er als Theoretiker<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 247<br />
nicht. Es war ihm nicht best<strong>im</strong>mt, sein Leben dem Ausbau einer<br />
einzelnen Tatsache zu widmen. Dazu war <strong>der</strong> Drang zur<br />
Systematisierung <strong>der</strong> Gesamtheit <strong>der</strong> Erscheinungen in ihm zu groß.<br />
STAHL hat ungemein viel geschrieben und zwar teils allein, teils in<br />
Gemeinschaft mit Schülern o<strong>der</strong> durch seine Schüler. Albrecht von<br />
HALLER, 1708-1777, verzeichnet in seiner „Bibliotheca medica practica―<br />
über 200 einzelne Schriften von ihm. Dabei steht sein chemisches<br />
Schrifttum geson<strong>der</strong>t neben seinem medizinischen. STAHL schreibt ein<br />
schwerverständliches Latein, mit sehr langen, stark ineinan<strong>der</strong><br />
verschachtelten Perioden. Er ist weitschweifig, aber trotzdem lebendig.―<br />
(lt. BUGGE/ KOCH).<br />
Es war STAHL und seinen Anhängern zwar bekannt, daß die Metalle<br />
be<strong>im</strong> „Verkalken―, also dem Entweichen des Phlogistons, schwerer<br />
werden; man maß dieser Tatsache aber keine größere Bedeutung zu,<br />
son<strong>der</strong>n erklärte sie mit einer Zunahme des spezifischen Gewichtes,<br />
o<strong>der</strong> einige betrachteten das Phlogiston sogar als eine „Substanz mit<br />
negativem Gewicht―. Trotz dieses eigenartigen „quantitativen<br />
Phänomens― wurde die Phlogiston-Theorie etwa von 1670-1775, also<br />
über 100 Jahre, als wichtigste Theorie <strong>der</strong> Verbrennungsvorgänge<br />
allgemein anerkannt. Sie zählte Gelehrte und Forscher ersten Ranges<br />
zu ihren Anhängern, z. B. BOYLE, KUNKEL, LEMERY, HOMBERG,<br />
BLACK, CAVENDISH, PRISTLEY, SCHEELE, WENZEL und Jeremias<br />
Benjamin RICHTER.<br />
Wenn noch gegenwärtig da und dort die Phlogiston-Theorie als<br />
unverständlicher Unsinn bezeichnet wird, so verkannt man vollständig<br />
die durch sie erst bewirkte weitere Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Chemie,<br />
auf die hier noch wenigstens bis zur Entdeckung <strong>der</strong> Elemente des<br />
Wassers und <strong>der</strong> Begründung <strong>der</strong> „Stöchiometrie― eingegangen werden<br />
soll. Es gibt doch zu denken, daß ein Philosoph wie KANT noch 1787 <strong>im</strong><br />
Vorwort zur 2. Auflage <strong>der</strong> „Kritik <strong>der</strong> reinen Vernunft― neben GALILEI<br />
und TORRICELLI auch STAHL nennt, <strong>der</strong> „Metalle in Kalk und diesen<br />
wie<strong>der</strong>um in Metall verwandelte, indem er ihnen etwas entzog und<br />
wie<strong>der</strong>gab; so ging allen Naturforschern ein Licht auf.― Auch selbst <strong>der</strong><br />
große Chemiker Justus von LIEBIG, 1803-1873, spricht <strong>der</strong><br />
STAHLschen Phlogiston-Theorie ein unsterbliches Verdienst als<br />
ordnendes Prinzip zu. Der Chemie-Nobelpreisträger Wilhelm<br />
OSTWALD, 1853-1932, schreibt: „Doch hat diese Theorie die überaus<br />
wichtigen Begriffe <strong>der</strong> Oxydation und Reduktion in ihrer gegenseitigen<br />
Beziehung zum ersten Male klargestellt und dadurch dauernd für die<br />
Wissenschaft erobert. Es war von verhältnismäßig geringer Bedeutung,<br />
daß die stoffliche Auffassung, die ja damals überhaupt noch recht<br />
unbest<strong>im</strong>mt war, zunächst nach <strong>der</strong> verkehrten Seite gelenkt wurde.―<br />
Auch beachtenswert ist, daß Robert MAYER, 1814-1878, bei <strong>der</strong><br />
Aufstellung seines Energiegesetzes (1842) dieser Zusammenhänge<br />
gedenkt und die Beziehung zwischen Phlogiston und Wärmemenge<br />
hervorhebt: „Die Phlogistiker … taten damit einen großen Schritt<br />
vorwärts.― Heute kann man die Oxydations- und Reduktionsvorgänge<br />
(„Redox-Erscheinungen―) sogar „phlogistisch― sehr gut mo<strong>der</strong>n deuten:<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 248<br />
Oxydation = Elektronenabgabe = Phlogistonabgabe.<br />
Reduktion = Elektronenaufnahme = Phlogistonaufnahme.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
8.2 Chemische Entdeckungen <strong>im</strong> <strong>Zeit</strong>alter <strong>der</strong> Phlogiston-<br />
Theorie<br />
Mehr als ein Jahrhun<strong>der</strong>t nach Otto von GUERICKEs Versuchen<br />
mußte verstreichen, bis eine systematische chemische Erforschung <strong>der</strong><br />
Luft und <strong>der</strong> Luftarten überhaupt eingeleitet wurde. Bereits 1738 hatte<br />
Daniel BERNOULLI I., 1700-1782, ein Bild des physikalischen<br />
Zustandes <strong>der</strong> Gase in seiner kinetischen Gastheorie entworfen,<br />
wodurch <strong>der</strong> gasförmige Aggregatzustand auch physikalischerseits jetzt<br />
noch mehr als Forschungsobjekt erkannt worden war. BERNOULLI<br />
gehört zu dem berühmten Geschlecht, das 8 bedeutende Mathematiker<br />
hervorgebracht hat. Die BERNOULLIs stammen aus einer<br />
protestantischen Familie, die unter <strong>der</strong> Schreckensherrschaft des<br />
Herzogs ALBA die nie<strong>der</strong>ländische He<strong>im</strong>at verlassen hatte und nach<br />
Basel ausgewan<strong>der</strong>t war. Mit den Professorenbrü<strong>der</strong>n Jakob I., 1654-<br />
1705, und Johann I., 1667-1748, BERNOULLI hatte LEIBNIZ regen<br />
Briefwechsel; sie waren seine ersten Schüler und Mitarbeiter be<strong>im</strong><br />
Ausbau seiner neuen Rechenmethode, <strong>der</strong> Differential- und<br />
Integralrechnung. Daniel BERNOULLI I. war <strong>der</strong> Sohn von Johann I.<br />
BERNOULLI.<br />
1740 stellte <strong>der</strong> Berliner Apotheker und Chemiker Andreas<br />
MARGGRAF, 1709-1782, be<strong>im</strong> Verbrennen des Phosphors an <strong>der</strong> Luft<br />
eine Gewichtszunahme fest. MARGGRAF ist <strong>der</strong> Prototyp des<br />
doktrinären Phlogistikers, <strong>der</strong> als ausgesprochener Praktiker – <strong>im</strong><br />
Gegensatz zum Theoretiker G. E. STAHL! – überaus erfolgreich gewirkt<br />
hat; wir kommen später noch auf ihn zu sprechen. 1755 folgten<br />
gründliche Untersuchungen über den Verlust und die quantitative<br />
Wie<strong>der</strong>aufnahme des Kohlendioxydes („fixe Luft―) bei<br />
Magnesiumkarbonat, durch den englischen Arzt-Chemiker Joseph<br />
BLACK, 1728-1791.<br />
Wir folgen bei den weiteren Entdeckungen <strong>im</strong> Rahmen <strong>der</strong> Phlogiston-<br />
Theorie jetzt dem Chemiker und Chemie-Historiker Prof. Paul WALDEN<br />
(Geschichte <strong>der</strong> Chemie, 1947): „Man erkannte <strong>im</strong>mer mehr, daß<br />
auch die Luftarten wägbar sind und sich mit Stoffen verbinden. Und<br />
nun geschah das chemische Wun<strong>der</strong>, daß innerhalb zweier<br />
Jahrzehnte durch die große Fülle neuentdeckter Tatsachen eine<br />
Gaschemie geschaffen und von ihr aus ein Neubau <strong>der</strong> Chemie<br />
begonnen werden konnte.<br />
Diese plötzliche Wandlung mutet einen so an, als ob alle diese<br />
erfin<strong>der</strong>ischen Chemie-Phlogistiker mit einem neuen Organ bedacht<br />
worden wären, um nunmehr diejenige Stoffwelt körperlich zu erkennen<br />
und chemisch zu erforschen, die – als Luft – jahrtausendelang sich dem<br />
Zugriff entzogen hatte. Wir möchten diesen gewaltigen Umschwung<br />
zurückführen: erstens auf die zunehmende Erkenntnis von <strong>der</strong> Stoffnatur<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 249<br />
<strong>der</strong> Luft, d. h. <strong>der</strong> Begriff „Stoff― o<strong>der</strong> „wägbarer Körper― muß neben den<br />
festen und flüssigen auch auf die luftförmigen Stoffe ausgedehnt<br />
werden; zu dieser theoretischen Umstellung kam zweitens: eine<br />
Erweiterung <strong>der</strong> exper<strong>im</strong>entellen Hilfsmittel, und zwar durch die<br />
Auffangmethode wasserlöslicher Gase über Quecksilber in <strong>der</strong><br />
„pneumatischen Wanne― (Joseph PRISTLEY 1773), und durch die<br />
Anwendung <strong>der</strong> elektrischen Funken für Gasreaktionen (CAVENDISH).<br />
Da die Hauptentdecker überzeugte Phlogistiker waren, so beweist diese<br />
Tatsache, daß <strong>der</strong> heuristischer [erkenntnisför<strong>der</strong>nde] Wert auch<br />
sogenannter „falscher― (richtiger: unvollständiger) Theorien erheblich<br />
sein kann, o<strong>der</strong> daß ein genialer Kopf auch in einer unvollständigen<br />
Theorie intuitiv die führende Idee erkennt. Indem wir an die quantitativen<br />
Untersuchungen von Joseph BALCK über die „fixe Luft― o<strong>der</strong><br />
Kohlensäure vom Jahre 1755 anknüpfen, haben wir von 1766-1785<br />
chronologisch folgende Gasentdeckungen:<br />
1766 „Brennbare Luft―, d. h. Wasserstoff von Henry CAVENDISH,<br />
1731-1810, entdeckt.<br />
1769-1773 „Feuerluft―, „Vitriolluft―, „Salpeterluft― d. h. Sauerstoff von<br />
Carl Wilhelm SCHEELE, 1742-1786, entdeckt.<br />
1772 „Mephitische― o<strong>der</strong> „phlogistierte Luft― d. h. Stickstoff, von<br />
Daniel RUTHERFORD, 1749-1819, entdeckt.<br />
1773/76 Stickoxydul o<strong>der</strong> Lachgas von Joseph PRISTLEY, 1733-<br />
1804, entdeckt.<br />
1774 „Dephlogistierte Luft―, d. h. Sauerstoff, auch von PRISTLEY<br />
entdeckt.<br />
1774 „Dephlogistierte Salzsäure―, d. h. Chlor, von SCHEELE entdeckt.<br />
1774/75 Salzsäuregas (Chlorwasserstoff) | von<br />
„ Salmiakgeist (Ammoniak) | PRISTLEY<br />
„ Schwefeldioxyd | isoliert.<br />
1776 Schwefelwasserstoff wird isoliert von SCHEELE; die<br />
Zusammensetzung analysiert 1785 Claude Louis BERTHOLLET, 1748-<br />
1822.<br />
1776 Sumpfgas (Grubengas, Methan) wird von Alessandro VOLTA,<br />
1745-1827, eudiometrisch analysiert.<br />
1780 Wasserdampf über glühende Kohlen geleitet, gibt eine brennbare<br />
Luft (Wassergas): Felice FONTANA, 1730-1805, ital. Physiker.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 250<br />
1781 Zusammensetzung <strong>der</strong> be<strong>im</strong> Verbrennen von Kohle<br />
entstehenden Kohlensäure best<strong>im</strong>mt: Antoine Laurent LAVOISIER,<br />
1743-1794.<br />
1783 Erste genaue Luftanalyse: 20,83 Vol. % Sauerstoff, 79,17 Vol.<br />
Stickstoff von CAVENDISH ausgeführt.<br />
1783 Wasserdampf gibt be<strong>im</strong> Durchleiten durch ein glühendes<br />
Eisenrohr Wassserstoff: LAVOISIER.<br />
1784 Wasserstoff und Sauerstoff, <strong>im</strong> Verhältnis von 2,02 Vol.<br />
Wasserstoff zu 1 Vol Sauerstoff vereinigen sich durch den elektrischen<br />
Funken zu Wasser (CAVENDISH).<br />
1785 CAVENDISH führt durch den elektrischen Funken Stickstoff und<br />
Sauerstoff <strong>der</strong> Luft in Salpetersäure über (ein inaktiver Stickstoffrest von<br />
1/120 verbleibt, entspricht dem Gehalt an Edelgasen, die erst seit 1894<br />
von William RAMSAY entdeckt wurden).<br />
Bemerkenswert ist es, daß diese neuartige Stoffwelt nicht von den<br />
berufsmäßigen Fachgelehrten und Hochschullehrern, son<strong>der</strong> von<br />
Liebhabern <strong>der</strong> Forschung erschlossen wurde. Henry CAVENDISH<br />
wurde als <strong>der</strong> reichste Privatgelehrte unter den Chemikern und <strong>der</strong><br />
größte Chemiker unter den Reichen gerühmt. Joseph PRISTLEY war<br />
ein Romantiker und einer <strong>der</strong> vielseitigsten Entdecker, <strong>der</strong> sich als<br />
Chemiker, Physiker und Theologe usw. betätigte. Der deutschblütige<br />
Carl Wilhelm SCHEELE (aus Stralsund) machte seine Entdeckungen als<br />
schwedischer Apothekergehilfe unter den bescheidensten<br />
Verhältnissen, er war ein fanatischer chemischer Entdecker und ein<br />
außergewöhnlicher Augenmensch.―<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
8.3 Andreas Sigismund MARGGRAF, 1709-1782<br />
In Deutschland wurde die phlogistische Chemie vor allem in <strong>der</strong> von<br />
STAHL begründeten „Berliner Schule― gepflegt, als <strong>der</strong>en Hauptvertreter<br />
<strong>der</strong> Hofapotheker und Professor am „Collegium medico-chirurgicum―<br />
Caspar NEUMANN zu nennen ist, 1683-1737. Seine eigentliche<br />
Bedeutung für die Chemie liegt in seiner lehrenden Tätigkeit durch Wort<br />
und Schrift. Ein an<strong>der</strong>er Lehrer an <strong>der</strong>selben militärischen<br />
Bildungsanstalt war <strong>der</strong> Professor <strong>der</strong> Anatomie und Direktor <strong>der</strong><br />
physikalisch-mathematischen Klasse <strong>der</strong> königlichen „Societät <strong>der</strong><br />
Wissenschaften― Johann Theodor ELLER, 1689-1760, auch Leibarzt<br />
FRIEDRICH des Großen.<br />
Der bedeutendste <strong>der</strong> von NEUMANN ausgebildeten Berliner<br />
Chemiker war Andreas Sigismund MARGGRAF, 1709-1782, <strong>der</strong> bei<br />
seinem Vater, <strong>der</strong> königlich preußischer Hofapotheker war, seine erste<br />
pharmazeutische Ausbildung erhielt. Bei Professor NEUMANN genoß er<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 251<br />
dann weiteren Unterricht in Chemie. Seine wissenschaftlichen Studien<br />
setzte er auf den Universitäten Frankfurt/O<strong>der</strong>, Straßburg und Halle,<br />
sowie an <strong>der</strong> Bergakademie Freiberg in Sachsen fort. Nach dieser<br />
gründlichen Ausbildung macht er noch eine berg- und hüttenmännische<br />
Studienreise und kehrte 1735 nach Berlin zurück, wo er bereits mit 29<br />
Jahren Vorsteher des chemischen Laboratoriums <strong>der</strong> Hofapotheke und<br />
zugleich Mitglied <strong>der</strong> königlichen „Societät <strong>der</strong> Wissenschaften― wurde.<br />
Diese stellte ihm 1754 ein Wohnhaus mit chemischen Laboratorium zur<br />
Verfügung, und nach ELLERs Tode ernannte ihn FRIEDRICH <strong>der</strong> Große<br />
zum Direktor <strong>der</strong> physikalisch-mathematischen Klasse, in welcher<br />
Stellung er bis zu seinem Tode blieb. MARGGGRAF war ein eifriger,<br />
ernster wissenschaftlicher Forscher, allen Streitereien abgeneigt, von<br />
großer Bescheidenheit, die Verdienste <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en neidlos<br />
anerkennend. Er hat sich ganz beson<strong>der</strong>s um die Weiterbildung <strong>der</strong><br />
analytischen Chemie verdient gemacht. Zum Beispiel ging er <strong>der</strong><br />
bereits bekannten Vermutung nach, daß in Alaun, Kalk und Bittererde<br />
verschiedene „Erden― vorhanden seien, ohne bisher unterscheidende<br />
Merkmale angeben zu können. MARGGRAF lehrte, wie man sie, jede<br />
für sich, durch best<strong>im</strong>mte Reaktionen nachweisen kann. Zum<br />
Unterscheiden von Natrium- und Kaliumsalzen benützte er bereits die<br />
Flammenfärbung.<br />
Wie bereits vorher erwähnt, machte MARGGRAF die wichtige<br />
Beobachtung, daß Phosphor be<strong>im</strong> Verbrennen an Gewicht zun<strong>im</strong>mt. Er<br />
verbesserte auch die Darstellungsweise des Phosphors und untersuchte<br />
die Eigenschaften <strong>der</strong> Phosphorsäure und ihrer Salze. Ein ganz<br />
beson<strong>der</strong>es Verdienst hat sich MARGGRAF dadurch erwoben, daß er<br />
das von den holländischen Brillenschleifern erfundene Mikroskop in das<br />
chemische Laboratorium einführte. Mit diesem Hilfsmittel gelang ihm<br />
1747 die Entdeckung des Rohrzuckers in <strong>der</strong> Runkelrübe. Er machte<br />
allerdings keine Versuche, diesen wichtigen Fund praktisch zu<br />
verwerten. Erst sein Schüler und späterer Nachfolger Franz Carl<br />
ACHARD, 1753-1821, baute in Kaulsdorf bei Berlin 1786 eine kleine<br />
Fabrikanlage. Nach Abbrand dieser Fabrik errichtete er mit<br />
Unterstützung des Königs FRIEDRICH WILHELM II. auf den Gut Cunern<br />
<strong>im</strong> Bezirk Breslau eine neue Fabrik, in <strong>der</strong> nach Überwindung großer<br />
Anfangsschwierigkeiten zum ersten Male Rübenzucker gewonnen<br />
wurde.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 252<br />
MARGGRAF schrieb seine chemischen Abhandlungen zunächst in<br />
deutscher Sprache nie<strong>der</strong>. Für die „Miscellania Berolinensia― wurden sie<br />
dann ins Lateinische übersetzt und von da weiter ins Französische, um<br />
in <strong>der</strong> „Histoire de l’Académie royal des Sciences et Belles Lettres“<br />
abgedruckt zu werden. Schon 1760 wurde <strong>der</strong> erste Teil seiner<br />
„Chymischen Schriften― auf Drängen des preußischen Bergrats und<br />
späteren Professors <strong>der</strong> Chemie in St. Petersburg Johann Gottlieb<br />
LEHMANN herausgegeben. Mit LEHMANNs humorvollen Worten dieser<br />
Einleitung wollen wir diesen Absatz über MARGGRAF schließen:<br />
„Es ist wohl kein Jahrhun<strong>der</strong>t an chymischen Schriftstellern reicher<br />
gewesen, als gegenwärtiges, und es gehet <strong>der</strong> Chymie wie <strong>der</strong> Arzney-<br />
Kunst, Fingunt se Chymicos omnes [Alle bilden sich ein, Chemiker zu<br />
sein]. Der Staatsmann, <strong>der</strong> Financier, <strong>der</strong> Barbier und Feldscheer, <strong>der</strong><br />
Bierbrauer und Brandteweinbrenner, <strong>der</strong> Färber, <strong>der</strong> Gerber, die alte<br />
Frau, <strong>der</strong> Kohlenträger und Holzhacker, ja auch <strong>der</strong> Projectmacher (o!<br />
welcher kläglicher Name), sind kühn genug, sich unter die Chymisten zu<br />
rechnen. Indessen muß man doch gestehen, dasz diejenigen Schriften,<br />
die wirklich reele Sachen enthalten, allzeit ihren Werth behalten, wenn<br />
an<strong>der</strong>e in kurzer <strong>Zeit</strong> zur Maculatur werden. Unter diese Art gehören die<br />
Schriften unseres Herrn Director MARGGRAF. Ich würde seine<br />
Bescheidenheit beleidigen, wenn ich diejenigen Lobeserhebungen hier<br />
anführen wollte, welche ihm die Auslän<strong>der</strong> wi<strong>der</strong>fahren lassen. Es ist<br />
genug, wenn ich sage, dasz selbst die Herren Franzosen, welche sonst<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 253<br />
den Deutschen nicht eben so gar hoch schätzen, seine Schriften in ihrer<br />
Sprache übersetzt, und dasz auch <strong>der</strong> scharfsichtige Engellän<strong>der</strong> solche<br />
bewun<strong>der</strong>t habe. Ich freue mich daher, dasz ich so glücklich gewesen<br />
bin, eine deutsche Heb-Amme abzugeben, um diese würdige Geburt<br />
des größten deutschen Chymici zur Welt zu bringen.―<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
8.4 Drei Phlogistiker als „Stürmer und Dränger“ des<br />
chemischen Fortschritts<br />
Die zwei höchstproduktiven Jahrzehnte von 1766-1785 in <strong>der</strong><br />
Chemie-Geschichte fallen ziemlich genau in den <strong>Zeit</strong>raum <strong>der</strong> Stürmer<br />
und Dränger in <strong>der</strong> deutschen Literatur. Die Entdeckung <strong>der</strong> Elemente<br />
<strong>der</strong> Luft und des Wassers war jedoch den Phlogistikern <strong>im</strong> europäischen<br />
Ausland vorbehalten. Mit den Biographien von CAVENDISH, PRISTLEY<br />
und SCHEELE wollen wir nun einen kleinen Streifzug wagen, <strong>der</strong> diese<br />
<strong>Zeit</strong> aus <strong>der</strong> Sicht dreier außergewöhnlicher Forscherpersönlichkeiten<br />
und menschlichen Lebensschicksale auch wissenschaftsgeschichtlich<br />
beleuchtet. Wir folgen bei diesen drei Biographien <strong>im</strong> wesentlichen Prof.<br />
Georg LOCKEMANN (BUGGE: „Das Buch <strong>der</strong> großen Chemiker―, Band.<br />
I., 1929).<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
8.5 Henry CAVENDISH, 1731-1810<br />
„Als Sproß einer alten Familie des englischen Hochadels wurde Henry<br />
CAVENDISH am 10. Oktober 1731 in Nizza geboren, wo sich seine<br />
Mutter damals aus Gesundheitsrücksichten aufhielt. Sein Vater Lord<br />
Charles CAVENDISH war <strong>der</strong> dritte Sohn des zweiten Herzogs von<br />
Devonshire, während seine Mutter, Anne GREY, die vierte Tochter des<br />
Herzogs von KENT war.<br />
[Für genealogisch Interessierte sei hier noch Henry CAVENDISHs<br />
Stellung in <strong>der</strong> Ahnenschaft von Prinz Charles of WALES (geb. 1948)<br />
angegeben, wobei wir uns wie<strong>der</strong> auf die Kennziffern <strong>im</strong> großen<br />
Ahnenlistenwerk von Gerald PAGET (London 1977) beziehen. Wie<br />
bereits bei Robert BOYLE ist auch Henry CAVENDISH kein direkter Ahn<br />
von Prinz Charles, da Henry CAVENDISH als Junggeselle keine<br />
Nachkommen hatte. Seine Großeltern William CAVENDISH und Rachel<br />
RUSSEL sind aber Ahnen von Prinz Charles in <strong>der</strong> 9. Generation. In <strong>der</strong><br />
Ahnenliste von PAGET haben sie die Nummern I 457/458, was den in<br />
Deutschland üblichen Ahnennummern 968/969 nach KEKULE<br />
entspricht. Auch hier führt die Verwandtschaft wie<strong>der</strong> über Lady<br />
Elizabeth BOWES-LYON, 1900-2002, „Queen Mum―, <strong>der</strong> „Lieblingsoma<br />
<strong>der</strong> Nation―].<br />
Von seinem elften bis achtzehnten Jahre wurde er in <strong>der</strong> Schule von<br />
Hackney unterrichtet, dann bezog er die Universität Cambridge, um<br />
Naturwissenschaftern zu studieren. Ohne irgendeine Prüfung abgelegt<br />
zu haben, verließ er nach vier Jahren die Universität. Über die folgenden<br />
Jahre fehlen genauere Nachrichten. Wahrscheinlich ist er 1753 von<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 254<br />
Cambridge gleich nach London übergesiedelt, wo er sich in den zum<br />
Stadthause seines Vaters gehörenden Stallungen ein Laboratorium<br />
einrichtete und sich <strong>im</strong> übrigen mit mathematischen und physikalischen<br />
Studien beschäftigte. Im Jahre 1760 wurde er Mitglied <strong>der</strong> Royal<br />
Society. […] Sein leben war ganz <strong>der</strong> wissenschaftlichen Forschung<br />
gewidmet. In gleichmäßiger Arbeit verlief ein Tag wie <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e. Auch<br />
die Sonn- und Festtage brachten keine Unterbrechung. Einzelne Reisen,<br />
die er in verschiedene Gegenden Englands unternahm, dienten nicht <strong>der</strong><br />
Erholung, son<strong>der</strong>n geologischen und industriellen Untersuchungen. Im<br />
Sommer hielt er sich häufiger in seinem Landhaus in Clapham auf, wo<br />
er sich aber auch ein Laboratorium und ein astronomisches<br />
Observatorium eingerichtet hatte, um seine wissenschaftlichen Arbeiten<br />
nicht unterbrechen zu müssen.<br />
CAVENDISH war ein Mann von höchst son<strong>der</strong>baren Eigenschaften.<br />
Ein geborener Junggeselle, ist er auch sein Leben lang unverheiratet<br />
geblieben. Nach dem Zeugnis seiner <strong>Zeit</strong>genossen war er wortkarg,<br />
unbeholfen, schüchtern, menschenscheu. Be<strong>im</strong> Zusammentreffen mit<br />
Fremden wurde er sehr verlegen, und das Sprechen machte ihm<br />
Schwierigkeiten. Wenn sich auf ihn irgendwie die Aufmerksamkeit<br />
richtete, ergriff er am liebsten sofort die Flucht. Lord BROUGHAM<br />
erzählt von ihm. „Ich erinnere mich des schrillen Tones, den er ausstieß,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 255<br />
indem er sich geschwind von Z<strong>im</strong>mer zu Z<strong>im</strong>mer schob; er schien<br />
geärgert, wenn man ihn ansah, näherte sich aber von <strong>Zeit</strong> zu <strong>Zeit</strong> einer<br />
Gruppe, um zuzuhören.― Obwohl er sehr wohlhabend war, ging er <strong>im</strong>mer<br />
ganz altmodisch gekleidet und machte von seinem Reichtum keinerlei<br />
Gebrauch. In seiner Jugend soll er allerdings nur ein Einkommen von<br />
500 Pfund (= 10000 M.) gehabt haben. Aber als sein Vater gestorben<br />
war (1783) und später auch noch eine reiche Erbtante, kam er in den<br />
Besitz eines für damalige <strong>Zeit</strong> selbst <strong>im</strong> englischen Hochadel<br />
ungewöhnlich großen Vermögens, so daß J. B. BIOT in einem Nachrufe<br />
von ihm sagen konnte: „Er war <strong>der</strong> reichste Gelehrte und wahrscheinlich<br />
auch <strong>der</strong> gelehrteste Reiche.― Trotzdem blieb er bis an sein Lebensende<br />
so schlicht und einfach wie zuvor. Wenn er gelegentlich Freunde in<br />
seinem Landhause bewirtete, so gab es regelmäßig eine Hammelkeule.<br />
Als einmal fünf Gäste auf einmal angemeldet waren und seine<br />
Haushälterin darauf hinwies, daß die eine Hammelkeule nicht genügen<br />
würde, sagte er. „Dann kaufe zwei!― Seine große Büchersammlung hatte<br />
er in London in einem beson<strong>der</strong>en Hause untergebracht, wo er sie wie<br />
eine öffentliche Bibliothek verwalten ließ. Seinen Bekannten und jedem<br />
Wissenschaftler, <strong>der</strong> ihm persönlich empfohlen wurde, stand er zur<br />
Verfügung. Wenn er selbst ein Buch brauchte, ging er hin, füllte wie<br />
je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e einen Bestellzettel aus und entlieh sich das Buch. Als ihm<br />
<strong>im</strong> Club <strong>der</strong> Royal Society, wo er zu speisen pflegte, einmal erzählt<br />
wurde, daß es einem seiner früheren Bibliothekare jetzt recht schlecht<br />
ginge, bedauerte er das sehr, aber er kam nicht auf den Gedanken, dem<br />
„armen Kerl―, wie er ihn selbst nannte, durch ein Geldgeschenk zu<br />
helfen. Von seinen Freunden darauf hingewiesen, stotterte er ganz<br />
verlegen: „Ich, ich, ich, was kann ich tun!― – „Eine kleine Leibrente<br />
vielleicht. Seine Gesundheit ist nicht die beste.― – „Gut, gut, gut. Wird ein<br />
Scheck auf 10000 Pfund (=200000 M.) ausreichen?―<br />
Einsam, wie dieser menschenscheue Son<strong>der</strong>ling gelebt hat, ist er<br />
auch gestorben. Als er sein Ende herannahen fühlte, beauftragte er den<br />
Diener, gleich nach seinem Tode seinen Neffen und Erben Lord George<br />
CAVENDISH zu rufen. Diesem hinterließ er eine Million Pfund Sterling<br />
ersparten baren Geldes. Im übrigen verlangte er nach Lavendelwasser<br />
und befahl dem Diener, das Z<strong>im</strong>mer zu verlassen und erst nach einer<br />
halben Stunde wie<strong>der</strong> zu kommen. Als dieser, um seinen Herrn besorgt,<br />
schon früher zurückkehrte, schickte ihn CAVENDISH ärgerlich wie<strong>der</strong><br />
fort. Kurz darauf fand er seinen Herrn tot. Das war am 24. Februar 1810.<br />
CAVENDISH hat sein ganzes Leben <strong>der</strong> Forscherarbeit auf<br />
naturwissenschaftlichem Gebiete gewidmet. Er hat sich mit Physik,<br />
Astronomie, Meteorologie und vorwiegend Chemie beschäftigt. Daß<br />
er auch zugleich Physiker und Mathematiker war, ist seinen<br />
chemischen Arbeiten zugute gekommen. Sein Biograph G. WILSON<br />
berichtet, er habe den Wahlspruch gehabt: „Alles ist nach Maß, Zahl<br />
und Gewicht geordnet.“ So hat er zu seiner <strong>Zeit</strong>, wo die Chemiker <strong>im</strong><br />
allgemeinen nur <strong>der</strong> qualitativen Forschung zugewandt waren und für<br />
quantitative Best<strong>im</strong>mungen wenig o<strong>der</strong> gar kein Verständnis hatten, sehr<br />
genaue Messungen durchgeführt und ist ein Vorläufer von Jeremias<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 256<br />
Benjamin RICHTER und John DALTON geworden. Ja, er hat bei seiner<br />
genauen Analyse <strong>der</strong> Luft eine Beobachtung gemacht, die erst hun<strong>der</strong>t<br />
Jahre später durch die Entdeckung des Edelgases Argon von Lord<br />
RAYLEIGH und William RAMSAY aufgeklärt wurde.<br />
Aus <strong>der</strong> tabellarischen Übersicht von oben geht CAVENDISHs<br />
Wasserstoff-Entdeckung vom Jahre1766 ja bereits hervor. Er erhielt<br />
den Wasserstoff bekanntlich be<strong>im</strong> Auflösen von Metallen und<br />
behauptete als erster, daß dieses Gas völlig an<strong>der</strong>sartig sei als Luft.<br />
Ferner best<strong>im</strong>mte er als erster die Dichte <strong>der</strong> Gase und benutzte<br />
diese Daten zu ihrer Unterscheidung. Die größte Entdeckung<br />
CAVENDISHs war aber, daß das seit Jahrtausenden für ein<br />
Urelement gehaltene Wasser ein zusammengesetzter Körper ist<br />
und aus Wasserstoff und Sauerstoff besteht. Er ließ durch das<br />
Gemisch von Luft und „verbrennlicher Luft― (Wasserstoff) elektrische<br />
Funken schlagen und bemerkte, daß dabei Feuchtigkeit entsteht. Als er<br />
das Exper<strong>im</strong>ent mit reinem Sauerstoff und Wasserstoff wie<strong>der</strong>holte, sah<br />
er nun, wie sich aus diesen Wasser bildete. CAVENDISH hat weiterhin<br />
gefunden, daß Stickoxid entsteht, wenn er durch die Luft elektrische<br />
Funken schlagen ließ. Auch resultierte aus seinen Versuchen, daß <strong>der</strong><br />
Stickstoff auch kein einheitlicher Stoff sein könne. Dieser Gasrest<br />
entging noch über hun<strong>der</strong>t Jahre lang <strong>der</strong> Aufmerksamkeit <strong>der</strong> Forscher,<br />
obwohl sich mehrere ausgezeichnete Gelehrte, wie GAY-LUSSAC und<br />
BUNSEN eingehend mit <strong>der</strong> Luftanalyse beschäftigt haben. Erst John<br />
William RAYLEIGH erinnerte sich 1894 an CAVENDISHs Bemerkung,<br />
als er beobachtete, daß das Litergewicht des aus Luft erzeugten<br />
Stickstoffs stets mehr beträgt, als das des aus Ammoniak erzeugten. Er<br />
wie<strong>der</strong>holte CAVENDISHs Versuche und bestätigte dessen Befunde. Mit<br />
Hilfe <strong>der</strong> Spektralanalyse entdeckte er zusammen mit Williams RAMSAY<br />
die Edelgase, eine Entdeckung, die man den „Triumph <strong>der</strong> dritten<br />
Dez<strong>im</strong>ale― genannt hat. Der geringe Gasrest, den CAVENDISH<br />
beobachtet hatte, hatte aus Edelgasen bestanden.―<br />
In <strong>der</strong> Physik-Geschichte wurde CAVENDISH vor allem berühmt<br />
durch seine erstmalige Best<strong>im</strong>mung <strong>der</strong> Gravitationskonstante <strong>der</strong><br />
Erde und damit des Gewichtes <strong>der</strong> Erde <strong>im</strong> Jahre 1798. Er hat dazu<br />
eine von ihm konstruierte Drehwage benutzt. Als Mittelwert kam<br />
CAVENDISH dabei bereits auf einen erstaunlich genauen Wert von:<br />
f = 6,7 10 -8 -CGS-Einheiten.<br />
Neuere Messungen <strong>im</strong> Jahre 1930 erhielten als zuverlässigsten Wert:<br />
f = 6,670 10 -8 -CGS-Einheiten.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
****************************<br />
8.6 Joseph PRISTLEY, 1733-1804<br />
Es sei uns nachgesehen, wenn wir hier den geradezu abenteuerlichen<br />
Lebenslauf des zweiten großen englischen Chemikers – nur zwei Jahre<br />
jünger als CAVENDISH – ausführlicher wie<strong>der</strong>geben; und zwar in <strong>der</strong><br />
lebendigen Schil<strong>der</strong>ung von Prof. Georg LOCKEMANN, nur etwas<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 257<br />
gekürzt. Dabei wird das „Dämonische― <strong>im</strong> Wesen dieses<br />
außergewöhnlichen Menschen und hochbegabten Forschers beson<strong>der</strong>s<br />
deutlich! Es ist bedauerlich, daß uns über PRISTLEY, den Sohn eines<br />
armen Tuchmachers, nichts über seine weiteren Vorfahren bekannt<br />
geworden ist, - wie lei<strong>der</strong> so oft bei <strong>im</strong> „niedrigen Stande― geborenen<br />
Menschen. PRISTLEYs Biographie ist auch ein kleines geschichtliches<br />
Spiegelbild <strong>der</strong> damaligen revolutionären Umbrüche in England, die<br />
diesen Forscher-Theologen in große Mitleidenschaft gezogen haben; -<br />
wenn er auch dem bitteren Schicksal eines LAVOISIERs noch mit<br />
knapper Not entgehen konnte. Auch ist PRISTLEY <strong>der</strong> allerletzte große<br />
Phlogistiker, da <strong>der</strong> neun Jahre jüngere SCHEELE bereits mit 44 Jahren<br />
<strong>im</strong> Jahre 1786 verstorben ist. LOCKEMANN schreibt:<br />
„Joseph PRISTLEY wurde am 13. März 1733 als Sohn eines<br />
Tuchmachers in Fieldhead bei Leeds in Yorkshire geboren. Als er<br />
bereits mit sechs Jahren die Mutter verlor, übernahm eine Schwester<br />
des Vaters die Erziehung. Die wirtschaftlichen Verhältnisse waren<br />
ziemlich kümmerlich. Der junge Joseph besuchte eine öffentliche Schule<br />
und wurde vom Vater für den Kaufmannsberuf best<strong>im</strong>mt. Doch zeigte<br />
sich schon frühzeitig, eine ungewöhnliche Begabung, beson<strong>der</strong>s für<br />
Sprachen. Da zugleich lebhafte religiöse Interessen in ihm wach<br />
wurden, entschloß er sich, Theologie zu studieren, und zwar auf <strong>der</strong><br />
Akademie zu Daventry. Dort widmete er sich in den Jahren 1752-1755<br />
mit größtem Eifer seinen Studien. Er hörte nicht nur theologische und<br />
philosophische Vorlesungen, son<strong>der</strong>n auch naturwissenschaftliche,<br />
beson<strong>der</strong>s über Physik. Daneben trieb er philologische Studien und<br />
erlernte folgende Sprachen: Deutsch, Französisch, Italienisch,<br />
lateinisch, Griechisch, Arabisch, Syrisch, Chaldäisch, Hebräisch.<br />
Bei dieser ungewöhnlich vielseitigen geistigen Regsamkeit machte<br />
sich bei PRISTLEY an<strong>der</strong>erseits auf religiösen Gebiete <strong>im</strong>mer mehr eine<br />
hartnäckige Neigung zu einseitiger Unduldsamkeit geltend, in<br />
ausgesprochenem Gegensatz zur englischen Staatskirche. Er war ein<br />
Fanatiker des religiösen Freisinns, <strong>der</strong> keine an<strong>der</strong>en Anschauungen<br />
neben sich dulden konnte. So war es ihm auch unmöglich, auf die Dauer<br />
mit den Menschen seiner Umgebung ohne Zank und Streit<br />
auszukommen. Er hat infolgedessen öfter Stellung und Wohnort<br />
gewechselt, und da er es sich bei seiner Vielseitigkeit leisten konnte,<br />
auch den Beruf. Länger als 6 Jahre hintereinan<strong>der</strong> hat er kaum<br />
ausgehalten. Als er einmal diese, wie es scheint, seiner natur<br />
angemessene Wirkungszeit erheblich überschritten hatte, wurde ihm<br />
von <strong>der</strong> wütenden Volksmenge das haus über den Kopf angesteckt, und<br />
er konnte nur mit knapper Not das nackte Leben retten. Es ist ein<br />
buntbewegter, abwechslungsreicher Lebenslauf, <strong>der</strong> sich hier vor uns<br />
abrollt.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 258<br />
Nach Abschluß seiner Studien in Daventry übernahm PRISTLEY 1755<br />
zunächst eine Hilfspredigerstelle an dem kleinen Bethause <strong>der</strong><br />
Dissentergemeinde zu Needham in Suffolk mit einem Jahreseinkommen<br />
von 30 Pfund Sterling. Seine freisinnigen Anschauungen machten ihn<br />
aber <strong>der</strong> Gemeinde bald so unbeliebt, daß er bereits nach 3 Jahren<br />
diese Stellung mit einer ähnlichen in Nantwich in Chester vertauschte.<br />
Hier betätigte er sich auch als Sprachlehrer; nebenbei verfaßte er eine<br />
englische Grammatik. Auch ging er seinen naturwissenschaftlichen<br />
Neigungen nach. Trotz seines kärglichen Gehalts ermöglichte er es, sich<br />
naturwissenschaftliche Bücher und einige physikalische Apparate<br />
anzuschaffen, so daß er sich in <strong>der</strong> Anstellung von Versuchen mit <strong>der</strong><br />
Luftpumpe und beson<strong>der</strong>s auf dem Gebiete <strong>der</strong> Elektrizität üben konnte.<br />
Nach 6 Jahren legte er den Predigerberuf nie<strong>der</strong> und widmete sich<br />
ganz dem Unterricht. Er siedelte <strong>im</strong> September 1761 nach Warrington<br />
(zwischen Liverpool und Manchester) über, um die nächste sechsjährige<br />
Periode an <strong>der</strong> dortigen Akademie als Sprachlehrer tätig zu sein. Und<br />
wenn er auch in Französisch, Italienisch, Griechisch und Hebräisch<br />
Unterricht erteilte, so blieb ihm doch noch <strong>im</strong>mer so viel <strong>Zeit</strong> übrig, eine<br />
Geschichte <strong>der</strong> Elektrizitätslehre zu schreiben, die 1776 erschien<br />
und ihn beson<strong>der</strong>s <strong>im</strong> Ausland sehr bekannt machte. Auch hat ihm dies<br />
Buch eigenartigerweise die juristische Doktorwürde <strong>der</strong> schottischen<br />
Universität Edinburgh eingebracht. Die Entstehung des Buches geht auf<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 259<br />
eine Anregung von Benjamin FRANKLIN zurück, mit dem PRISTLEY<br />
während eines Aufenthalts in London bekannt geworden war. Er wurde<br />
auch Mitglied <strong>der</strong> Royal Society. Da ein Dr. TURNER aus Liverpool in<br />
Warrington regelmäßig Vorlesungen über Chemie hielt, nutzte<br />
PRISTLEY diese Gelegenheit, sich auch in dieses ihm noch fremde<br />
Gebiet <strong>der</strong> Naturwissenschaften einzuarbeiten. Bei all dieser<br />
vielgestaltigen Tätigkeit verheiratete er sich in Warrington auch noch mit<br />
<strong>der</strong> Tochter eines Eisenwerkbesitzers WILKINSON in Wresham, so daß<br />
man vielleicht hätte glauben können, sein Leben und Beruf würden<br />
etwas mehr Stetigkeit erhalten.<br />
Aber als die sechs Jahre um waren, zog er weiter. Er kehrte zum<br />
Predigerberuf zurück und übernahm eine Stellung in Leeds, nahe seiner<br />
He<strong>im</strong>at. Wenn nun auch die Theologie wie<strong>der</strong> in den Vor<strong>der</strong>grund<br />
rückte, so vernachlässigte er doch die Naturwissenschaften dabei<br />
durchaus nicht. Er widmete sich beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Optik und schrieb eine<br />
Geschichte <strong>der</strong> Entdeckungen auf dem Gebiete des Lichts und <strong>der</strong><br />
Farben [die auch Goethe bei seinen Studien zur Geschichte <strong>der</strong><br />
Farbenlehre nicht entgangen ist und die wir hier einfügen:<br />
Goethe schreibt <strong>im</strong> Kapitel „18. Jahrhun<strong>der</strong>t― in einem Absatz über<br />
„Joseph PRISTLEY― in seinen „Materialien zur Geschichte <strong>der</strong><br />
Farbenlehre― über dieses Werk PRISTLEYs folgendes: „Joseph<br />
PRIESTLEY, The history and present state of discoveries relating to<br />
vision, light and colours, London 1772 in Quart: Ohne diesem Werk sein<br />
Verdienst verkümmern o<strong>der</strong> ihm denjenigen Nutzen ableugnen zu<br />
wollen, den wir selbst daraus gezogen haben, sind wir genötigt<br />
auszusprechen, daß dadurch beson<strong>der</strong>s die anrüchige [!]<br />
NEWTONSCHE Lehre wie<strong>der</strong>hergestellt worden. Der Verfasser braucht<br />
die eingeführten Phrasen wie<strong>der</strong> ruhig fort. Alles, was <strong>im</strong> Altertum und in<br />
<strong>der</strong> mittleren <strong>Zeit</strong> geschehen, wird nichts geachtet. NEWTONS<br />
Versuche und Theorien werden mit großem Bombast ausgekramt. Die<br />
achromatische Entdeckung wird so vorgetragen, als sei jene Lehre<br />
dadurch nur ein wenig modifiziert worden. Alles kommt wie<strong>der</strong> ins<br />
gleiche, und <strong>der</strong> theoretische Schlendrian schleift sich wie<strong>der</strong> so hin. Da<br />
man dieses Werk, genau betrachtet, gleichfalls mehr als Materialien<br />
denn als wirkliche Geschichtserzählung anzusehen hat; so verweisen<br />
wir übrigens unsere Leser gern darauf, weil wir manches, was dort<br />
ausführlich behandelt worden, nur <strong>im</strong> Vorbeigehen hingedeutet haben.― -<br />
Hier wird wohl Goethes schwächste Seite sichtbar: sein unversöhnlicher<br />
Haß gegen NEWTON und dessen grundlegenden Erkenntnisse zur<br />
Physik <strong>der</strong> Farben, worüber aber ja schon viele Bände geschrieben<br />
worden sind!]<br />
„Da PRISTLEY bis zur Fertigstellung des eigentlichen Pfarrhauses in<br />
einem Privathaus wohnte, das in <strong>der</strong> Nähe einer Brauerei lag, wurde er<br />
durch die häufige Beobachtung <strong>der</strong> Gärungsvorgänge auf die<br />
Beschäftigung mit den Gasen geführt, die für ihn so außerordentlich<br />
wichtig werden sollten. Jedoch länger als sechs Jahre konnte er es auch<br />
in Leeds nicht aushalten. Nun wurde er 1773 zur Abwechslung<br />
Bibliothekar, Privatsekretär und Reisebegleiter eines<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 260<br />
wohlhabenden englischen Adligen, des Earl of SHELBURNE,<br />
späteren Marquis of LANDSDOWNW, 1737-1805, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> englischen<br />
Politik eine gewisse Rolle gespielt hat. In dieser Stellung hatte<br />
PRISTLEY nun beson<strong>der</strong>e Muße, sich seinen wissenschaftlichen<br />
Neigungen hinzugeben, was er denn auch mit Eifer und Erfolg tat.<br />
Beson<strong>der</strong>s setzte er die in Leeds begonnenen Untersuchungen <strong>der</strong><br />
verschiedenen Gase fort, und am 1. August 1774 gelang ihm die<br />
Darstellung <strong>der</strong> „dephlogistierten“ o<strong>der</strong> „Feuerluft“ (Sauerstoff!).<br />
Als Gesellschafter begleitete er den Grafen SHELBURNE auf seiner<br />
Reise durch Flan<strong>der</strong>n, Holland, Deutschland und Frankreich, mit einem<br />
beson<strong>der</strong>s bedeutungsvollen Aufenthalt in Paris. Die Ergebnisse<br />
seiner chemischen Exper<strong>im</strong>ental-Untersuchungen legte er in einem<br />
sechsbändigen Werke „Exper<strong>im</strong>ents ans Observations on different<br />
kinds of Air“ nie<strong>der</strong>, dessen erste fünf Bände in den Jahren 1774-1780<br />
erschienen; sechs Jahre später (in Birmingham) kam <strong>der</strong> sechste Band<br />
heraus. Der große Forscher Humphrey DAVY, 1778-1829, stellte<br />
diesem Werke das Zeugnis aus, er kenne kein Buch, das so geeignet<br />
wäre, einen Studierenden auf den Weg <strong>der</strong> Entdeckungen zu führen wie<br />
Dr. PRISTLEYs „6 Bände über die Luft―.- Bei seiner hartnäckigen<br />
Wun<strong>der</strong>lichkeit und seinen streitsüchtigen Eigensinn brachte es<br />
PRISTLEY auch fertig, sich mit dem Grafen SHELBURNE zu<br />
überwerfen. So kam es, daß sich dieser nach den üblichen sechs<br />
Jahren von ihm trennte, äußerlich allerdings in friedlichen Formen und<br />
nicht ohne ihm auch weiterhin gewisse Unterstützungen zukommen zu<br />
lassen.<br />
Aber PRISTLEY geriet bald in große Geldschwierigkeiten, so daß<br />
seine Freunde für ihn sammeln mußten. Um wie<strong>der</strong> ein gesichertes<br />
Einkommen zu haben, übernahm er schließlich das Amt eines Predigers<br />
an <strong>der</strong> Dissentergemeinde zu Birmingham. Hier konnte er sich nun<br />
wie<strong>der</strong> unbesorgt seinen wissenschaftlichen Studien widmen. Er gab<br />
1786 den sechsten Band seiner „Untersuchungen <strong>der</strong> Luft― heraus und<br />
veröffentlichte mehrere Abhandlungen in <strong>der</strong> Philosophical Transactions.<br />
In Birmingham und Umgegend lebte damals eine größere Zahl geistig<br />
regsamer Männer, darunter <strong>der</strong> Arzt, naturforscher und Dichter<br />
Erasmus DARWIN, 1773-1802, <strong>der</strong> Großvater des berühmten Charles<br />
DARWIN; <strong>der</strong> Mechaniker und Maschinenfabrikant James WATT, 1736-<br />
1819, <strong>der</strong> in dem benachbarten Soho mit Matthew BOULTON, 1728-<br />
1809, seine verbesserte Dampfmaschine baute; ferner <strong>der</strong> Erfin<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Gasbeleuchtung William MURDOCK; <strong>der</strong> Erfin<strong>der</strong> beson<strong>der</strong>s<br />
leistungsfähiger optischer Telegraphen Richard L. EDGEWORTH und<br />
auch mehrere damals sehr bekannte Schriftsteller. Diese Männer trafen<br />
sich monatlich in einem ihrer Häuser zu einem gemeinsamen Essen,<br />
und zwar, um einen beleuchteten He<strong>im</strong>weg zu haben, an jeden ersten<br />
Montag nach Vollmond. Sie bezeichneten sich daher als die „Mond-<br />
Gesellschaft― (Lunar Society). PRISTLEY verkehrte auch in diesem<br />
interessanten Kreise und hat z. B. J. WATT mancherlei Anfegungen<br />
gegeben. Beson<strong>der</strong>s über die Frage <strong>der</strong> Zusammensetzung des<br />
Wassers haben sie eingehende Erörterungen geführt. Der bekannte<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 261<br />
Steingutfabrikant Josiah WEDGEWOOD, <strong>der</strong> schon von früher her mit<br />
PRISTLEY befreundet war, erschien auch häufig in <strong>der</strong> Mond-<br />
Gesellschaft. Seine Freundschaft für PRISTLEY bestätigte er in <strong>der</strong><br />
Weise, daß er ihm für seine chemischen Versuche passende<br />
Steinzeuggefäße zur Verfügung stellte, während dieser ihm dafür<br />
seinerseits über seine neuesten Entdeckungen berichtete, so daß er<br />
früher als die wissenschaftliche Welt davon Kenntnis erhielt.<br />
So waren die äußeren Lebensbedingungen für PRISTLEY in<br />
Birmingham durchaus günstig und angenehm. Aber er verwickelte sich<br />
<strong>im</strong>mer mehr in theologische Streitigkeiten, und nicht genug damit,<br />
betätigte er sich auch als Politiker. Dazu gab beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Ausbruch<br />
<strong>der</strong> französischen Revolution Veranlassung. Gegen eine von E. BUEKE<br />
<strong>im</strong> November 1790 veröffentlichte Schrift „Betrachtungen zur<br />
französischen Revolution― verfaßter PRISTLEY als begeisterter<br />
Vorkämpfer <strong>der</strong> allgemein menschlichen Freiheit eine Flugschrift, die<br />
großes Aufsehen erregte. Dieses wurde noch dadurch gesteigert, daß<br />
BURKE in einer Parlamentsrede <strong>im</strong> Unterhaus darauf antwortete. Die<br />
öffentliche Meinung des Landes richtete sich allgemein gegen<br />
PRISTLEY. Es wurden Karikaturen verbreitet, auf denen er als<br />
politischer und religiöser Revolutionär dargestellt war. Aber weit entfernt,<br />
sich dadurch abschrecken zu lassen, schürte er durch neue<br />
Flugschriften den allgemeinen Unwillen, beson<strong>der</strong>s in seiner Gemeinde,<br />
noch mehr, bis schließlich die Katastrophe eintrat. Am 14. Juli 1791<br />
wollte PRISTLEY den zweijährigen Gedenktag <strong>der</strong> Erstürmung <strong>der</strong><br />
Bastille mit einigen Gesinnungsgenossen durch ein Festessen feiern.<br />
Ein wil<strong>der</strong> Volkshaufe sammelte sich vor dem Gasthofe, warf die Fenster<br />
ein und stürmte das Haus. Als man PRISTLEY selbst nicht fand, zog die<br />
wütende Menge zum Pfarrhaus, wo er auch nicht anzutreffen war. Alles<br />
wurde verwüstet, die Möbel, Bücher, Instrumente und was sonst zu<br />
fassen war, zum Fenster hinausgeworfen und das Haus angesteckt.<br />
Auch die Kirche und einige an<strong>der</strong>e Gebäude gingen in Flammen auf.<br />
PRISTLEY, <strong>der</strong> sich noch rechtzeitig hatte retten können, flüchtete<br />
unter fremden Namen nach London.<br />
Dort fand er noch wohlgesinnte Gönner, mit <strong>der</strong>en Hilfe es ihm<br />
ermöglicht wurde, sich nach Hackney ein neues Laboratorium<br />
einzurichten. Ja, trotz aller Vorkommnisse gelang es sogar, ihm wie<strong>der</strong><br />
eine Predigerstelle an <strong>der</strong> dortigen Dissentergemeinde zu verschaffen.<br />
In einem Briefe aus jener <strong>Zeit</strong> bezeichnete er sich selber als „broken<br />
philosopher―. Die allgemeine Aufregung legte sich <strong>im</strong>mer noch nicht. An<br />
verschiedenen Orten wurde <strong>der</strong> revolutionäre Pfarrer „in effigie―<br />
verbrannt, und am nächsten Jahrestag <strong>der</strong> Revolution wurde in einer<br />
Schrift das „Birminghamer Laternenanzünden― verherrlicht.<br />
Aus Frankreich dagegen kam ein Anerkennungsschreiben <strong>der</strong><br />
„Chemiker von Paris― (unter ihnen auch LAVOISIER), in dem<br />
PRISTLEYs Verdienste um die Wissenschaft gefeiert und die<br />
Bereitwilligkeit erklärt wird, ihm sein Laboratorium wie<strong>der</strong> einzurichten<br />
und die erfor<strong>der</strong>lichen Instrumente zur Verfügung zu stellen. In<br />
Anerkennung seines unerschrockenen Eintretens für die große<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 262<br />
Revolution wurde er sogar von <strong>der</strong> französischen Regierung zum<br />
"citoyen de la République― ernannt und zum „membre de l’Assemblée<br />
Législative― gewählt. Diese Ehrungen waren aber wenig geeignet, sein<br />
Ansehen in England zu heben. Auch verscherzte er sich durch sein<br />
unverbesserliches, schroffes und fanatisches Wesen schließlich noch<br />
die letzten Sympathien seiner wissenschaftlichen Freunde. Er trat aus<br />
<strong>der</strong> Royal Society aus und faßte den Entschluß, sein Vaterland zu<br />
verlassen.<br />
So wan<strong>der</strong>te PRISTLEY, mit allen und allem zerfallen, <strong>im</strong> Jahre<br />
1794 mit seiner Familie nach Amerika aus. In New York wurde er<br />
zunächst freundlich aufgenommen. Es wurde ihm sogar eine Professur<br />
an <strong>der</strong> Universität in Philadelphia angeboten. Aber er lehnte ab und ließ<br />
sich statt dessen als Farmer an den Quellen des Susquehanna in<br />
Northumberland nie<strong>der</strong>. Dort hat er die letzten 10 Jahre seines Lebens<br />
verbracht, dauernd noch mit theologischen, philosophischen und<br />
an<strong>der</strong>en wissenschaftlichen Studien beschäftigt. Er ist auch noch in zwei<br />
Schriften ausdrücklich für die Phlogistontheorie eingetreten, <strong>der</strong>en<br />
Totengräber er durch seine Sauerstoffentdeckung doch eigentlich<br />
geworden war. Im Alter von 71 Jahren ist er 1804 gestorben. Das<br />
Gerücht, daß er vergiftet worden sei, dürfte wohl nicht auf Wahrheit<br />
beruhen. Wahrscheinlich hat die Volksphantasie diesem buntbewegten<br />
Leben solch ein gewaltsames Ende nur noch angedichtet.<br />
Was nun PRISTLEYs wissenschaftliche Tätigkeit anbelangt, so muß<br />
zunächst berücksichtigt werden, daß die meisten seiner Schriften und<br />
Abhandlungen in die Gebiete <strong>der</strong> Theologie, Philosophie und Politik<br />
gehören. Die naturwissenschaftlichen, die sich mit physikalischen und<br />
chemischen Dingen beschäftigen, machen nur den kleinsten Teil des<br />
Lebenswerkes dieses unglaublich vielseitigen Polyhistors aus. Er trieb<br />
die Chemie eigentlich nur aus Liebhaberei, gewissermaßen um sich eine<br />
angenehme Abwechslung von <strong>der</strong> beruflichen und wissenschaftlichen<br />
Tätigkeit zu verschaffen. Ohne jede fachliche Vorbildung, hauptsächlich<br />
angeregt durch die Vorlesungen des Dr. TURNER (1766) und durch die<br />
Brauerei in Leeds (1767) gemachten Beobachtungen <strong>der</strong> Gärvorgänge,<br />
fing er mit frischem Mut an, die Gase zu untersuchen. Seiner ganzen<br />
Veranlagung gemäß begnügte er sich nicht wie BLACK o<strong>der</strong><br />
CAVENDISH mit wenigen Gasen und <strong>der</strong>en gründlicher Untersuchung,<br />
son<strong>der</strong>n er liebte die abwechslungsreiche Vielheit, wobei er dann<br />
allerdings die Gründlichkeit <strong>der</strong> genannten Forscher nicht erreichen<br />
konnte.<br />
Die Gerätschaften für die Gasuntersuchung bildete PRISTLEY<br />
beson<strong>der</strong>s aus. In <strong>der</strong> 1727 von Stephan HALES, 1677-1761,<br />
geschaffenen pneumatischen Wanne führte er Quecksilber als<br />
Absperrflüssigkeit ein. Auf diese Weise konnte er Gase frei auffangen<br />
und untersuchen, die von Wasser verschluckt (Chlorwasserstoff,<br />
Schwefeldioxyd, Ammoniak) o<strong>der</strong> chemisch zersetzt (Fluorsilicium)<br />
werden. Durch seine pneumatischen Untersuchungen hat er die Chemie<br />
<strong>der</strong> Gase in vielseitigerer Weise geför<strong>der</strong>t als irgendein an<strong>der</strong>er<br />
Chemiker. Bei seinen ersten in Leeds (1767) ausgeführten<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 263<br />
Gasversuchen beschäftigt sich PRISTLEY mit <strong>der</strong> elektrischen<br />
Leitfähigkeit verschiedener Gase, und zwar von Luft, von<br />
Kohlendioxyd („fixer Luft―) und <strong>der</strong> soeben von CAVENDISH<br />
entdeckten „brennbaren Luft―, dem Wasserstoff. Die Kohlensäure<br />
benutzte er auch zur Herstellung künstlicher Säuerlinge. Später (1772)<br />
wandte er sich <strong>der</strong> Untersuchung des „salpetrigen Gases― zu, das bei<br />
<strong>der</strong> Einwirkung von Salpetersäure auf Eisen entsteht, des Stickoxyds<br />
(NO). Auch stellte er 1773 durch Einwirkung von feuchter Eisenfeile auf<br />
die „salpetrige Luft“ (Stickoxyd, NO) die „dephlogistierte<br />
Salpeterluft“, d. h. das Stickoxydul (Lachgas, N 2 O), dar, ein Gas in<br />
dem Licht lebhafter brannte als in <strong>der</strong> gewöhnlichen Luft, in dem aber<br />
das Atmen nicht möglich war.<br />
PRISTLEYs bedeutendste Tat war die Entdeckung des Sauerstoffs,<br />
o<strong>der</strong> wie er selbst sagte, <strong>der</strong> „dephlogistierten Luft―. Am 1. August 1774<br />
erhitzte er „Mercurius praecipitatus per se― (rotes Quecksilberoxyd, aus<br />
metallischem Quecksilber durch Erwärmen an <strong>der</strong> Luft hergestellt) in<br />
einem durch Quecksilber von <strong>der</strong> Luft abgesperrten Glasgefäß mit Hilfe<br />
einer großen Brennlinse und erhielt ein Gas, das in Wasser unlöslich<br />
war, in dem aber ein Licht viel heller brannte als in gewöhnlicher Luft, in<br />
dem ein Stück gl<strong>im</strong>mendes Holzes sogar hell aufflammte.<br />
Bald nach seinem entscheidenden Versuche mit dem „praecipitatum<br />
per se― trat PRISTLEY mit Lord SHELBURNE als dessen Gesellschafter<br />
und Sekretär eine größere Reise aufs Festland an. Im Oktober 1774<br />
waren sie in Paris. Dort wurden sie mit einigen Pariser Gelehrten von<br />
dem wohlhabenden und als Forscher auf den Gebieten <strong>der</strong> Physik und<br />
Chemie in hohem Ansehen stehenden LAVOISIER zu Tisch geladen. Es<br />
war eine geistig sehr angeregte Gesellschaft, in <strong>der</strong> natürlich auch über<br />
die neusten Entdeckungen gesprochen wurde. So berichtete PRISTLEY<br />
in etwas unbeholfenem Französisch über seine kürzlich ausgeführten<br />
Versuche mit Präziptat. Das ließ die ganze Gesellschaft lebhaft<br />
aufhorchen. Vor allem für LAVOISIER selbst war diese Mitteilung von<br />
höchstem Wert. War ihm doch das „fluide élastique― von BAYEN in<br />
frischer Erinnerung, und hatte er sich selbst doch seit geraumer <strong>Zeit</strong><br />
vergeblich bemüht, das Rätsel <strong>der</strong> Verbrennung aufzuklären. Außerdem<br />
hatte er höchstwahrscheinlich in diesen Tagen gerade einen Brief (vom<br />
30. September 1774 von SCHEELE) aus Upsala erhalten, in dem dieser<br />
ihn bat, da er selbst keine genügend große Brennlinse besitze, eine<br />
Probe kohlensaures Silber zu erhitzen, um festzustellen, wieviel<br />
„Vitriolluft― sich außer <strong>der</strong> beigemengten „fixen Luft― entwickle; jene von<br />
ihm schon vor längerer <strong>Zeit</strong> dargestellten Vitriolluft, in <strong>der</strong> Flammen so<br />
lebhaft brennen und Tiere atmen können. Schon zwei Jahre früher hatte<br />
LAVOISIER (am 1. November 1772) <strong>der</strong> Akademie <strong>der</strong> Wissenschaften<br />
ein versiegeltes Schreiben übergeben, in dem er davon berichtet, daß<br />
auch Schwefel und Phosphor be<strong>im</strong> Verbrennen eine Gewichtszunahme<br />
erfahren wie die Metalle be<strong>im</strong> Verkalken. Er vermutete, daß vielleicht die<br />
„fixe Luft― diese wichtige Rolle be<strong>im</strong> Verkalken spiele, aber durch eigene<br />
Versuche hatte er diese schwierige Frage noch nicht lösen können.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 264<br />
Natürlich ging nun LAVOISIER möglichst bald daran, die Angaben von<br />
PRISTLEY exper<strong>im</strong>entell nachzuprüfen und auch die Versuche von<br />
BAYEN zu wie<strong>der</strong>holen. In den Tagen vom 28. Februar bis 2. März 1775<br />
führte er dann in dem Laboratorium seines Freundes J. C. P.<br />
TRUDAINE in Montigny diese Untersuchungen in größerem Maßstabe<br />
und mit <strong>der</strong> ihm eigenen peinlichen Genauigkeit durch. Nachdem er die<br />
Versuche am 31. März in Gegenwart mehrerer hochgestellter und<br />
berühmter Männer wie<strong>der</strong>holt hatte, hielt er am 26. April 1775 in <strong>der</strong><br />
Akademie einen Vortrag: „Über die Natur des Prinzips, welches sich mit<br />
den Metallen bei ihrer Verkalkung verbindet und ihr Gewicht erhöht.―<br />
LAVOISIER erwähnte we<strong>der</strong> den Namen seines Landsmannes<br />
BAYEN noch den von PRISTLEY o<strong>der</strong> SCHEELE, so daß die Hörer<br />
glauben mußten, die vorgetragene Entdeckung wäre sein eigenstes<br />
Werk. Später schreibt er in einer Abhandlung: „Herr PRISTLEY, <strong>der</strong><br />
diese Luftart beinahe zur gleichen <strong>Zeit</strong> mit mir entdeckte, und ich glaube<br />
selbst wohl noch vor mir, nennt sie dephlogistierte Luft.― Und in seinem<br />
1789 erschienenen Hauptwerke „Traité élémentaire de ch<strong>im</strong>ie― gibt er<br />
an, daß <strong>der</strong> Sauerstoff „fast zur gleichen <strong>Zeit</strong>― von PRISTLEY,<br />
SCHEELE und ihm selbst entdeckt worden sei. Diese Äußerungen<br />
LAVOISIERs brachten noch den alten PRISTLEY <strong>im</strong> Jahre 1800, wo er<br />
als ―broken philosopher― an den Quellen des Susquehanna saß, in<br />
Harnisch, so daß er sich zu folgen<strong>der</strong> Richtigstellung veranlaßt sah:<br />
„Nun da ich bei dem Thema des Rechtes von Entdeckungen bin, will<br />
ich, wie <strong>der</strong> Spanier sagt, keine Tinte von <strong>der</strong> Art in meinem Tintenfasse<br />
lassen, in <strong>der</strong> Hoffnung, es wird das letztemal sein, daß ich Gelegenheit<br />
habe, die Öffentlichkeit damit zu belästigen. Herr LAVOISIER sagt<br />
(Elemente <strong>der</strong> Chemie, Englische Ausgabe, S. 36): „Diese Luftart (d. h.<br />
die dephlogistierte) war fast zur selben <strong>Zeit</strong> entdeckt von Herrn<br />
PRISTLEY, Herrn SCHEELE und mir selbst.― Die Sache war so:<br />
Nachdem ich kurz vorher die Entdeckung gemacht hatte, war ich in<br />
Paris, <strong>im</strong> Jahre 1774; ich erzählte es an <strong>der</strong> Tafel von Herrn LAVOISIER<br />
in Gegenwart <strong>der</strong> meisten Naturforscher <strong>der</strong> Stadt; ich sagte, daß es<br />
eine Luftart wäre, in <strong>der</strong> eine Kerze viel besser als in gewöhnlicher Luft<br />
brenne, aber ich hätte ihr noch keinen Namen gegeben. Hierüber<br />
drückte die ganze Gesellschaft, auch Herr und Frau LAVOISIER ebenso<br />
stark wie die an<strong>der</strong>en, große Verwun<strong>der</strong>ung aus; ich sagte ihnen, ich<br />
hätte sie erhalten aus Praecipitat per se und auch aus Mennige (red<br />
lead). Da ich sehr unvollkommen Französisch sprach und mit den<br />
chemischen Ausdrücken nur wenig vertraut war, sagte ich „plomb<br />
rouge―, was nicht verstanden wurde, bis Herr MACQUER sagte: „ich<br />
müßte Minium meinen.― Herrn SCHEELEs Entdeckung war sicherlich<br />
unabhängig von <strong>der</strong> meinigen, doch glaube ich, nicht ganz so früh<br />
gemacht.―<br />
Trotz aller neuen Beobachtungen bleibt PRISTLEY bei seiner alten<br />
Phlogistontheorie, die ihn z. B. auf Grund seiner Versuche mit<br />
Mennige und Salpetersäure zu <strong>der</strong> Anschauung verleitet, die<br />
gewöhnliche Luft bestehe aus Salpetersäure und Erde, mit so viel<br />
Phlogiston gemischt, daß das Ganze eben luftartig, elastisch sei und<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 265<br />
außerdem noch so viel Phlogiston enthalte, daß die Luft aus dem reinen<br />
Zustande <strong>der</strong> dephlogistierten Luft (Sauerstoff) in den mittleren Zustand,<br />
mit phlogistierter Luft (Stickstoff) gemischt, übergeführt würde. Nach<br />
seinen Anschauungen bestand <strong>der</strong> Sauerstoff aus einem Gemisch von<br />
Salpetersäure, Erde und Phlogiston, in dem Salpetersäure durch Erde<br />
neutralisiert ist und deshalb nicht mehr sauer o<strong>der</strong> ätzend wirkt. Die<br />
Salpetersäure wurde von allen Phlogistikern als Element betrachtet,<br />
etwa als <strong>der</strong> Grundbestandteil aller Säuren. Auch gegen die<br />
Ausführungen von LAVOISIER verteidigte er nachdrücklich diese<br />
phlogistischen Anschauungen, und er versuchte sogar, durch beson<strong>der</strong>e<br />
Versuche zu beweisen, daß Sauerstoff Salpetersäure enthält und<br />
wieviel. Später (1786) hat PRISTLEY dagegen seine „dephlogistierte<br />
Luft“ als einziges gasartiges Element betrachtet.<br />
Außer Sauerstoff (O 2 ) hat PRISTLEY noch weitere sieben(!) neue<br />
Gase entdeckt: Ammoniak (NH 3 ), Chlorwasserstoff (HCL),<br />
Fluorsilicium (SiF 4 ), Kohlenoxyd CO), Schwefeldioxyd (SO 2) ,<br />
Stickoxyd (NO) und Stickoxydul (N 2 O). Bei seiner ausgesprochenen<br />
Begabung für die Ausführung chemischer Versuche und die<br />
Beobachtung <strong>der</strong> sich dabei abspielenden Vorgänge kann es auf den<br />
ersten Blick wun<strong>der</strong>nehmen, daß er in <strong>der</strong> theoretischen Deutung dieser<br />
Befunde nach unseren heutigen Begriffen völlig versagte. Ähnliche<br />
Erscheinungen zeigen sich aber auch bei an<strong>der</strong>en hervorragenden<br />
Chemikern, wie z. B. CAVAENDISH.<br />
Hieraus geht einerseits hervor, welche außerordentliche Macht und<br />
Fernwirkung eine einmal allgemein angenommene und tief<br />
eingewurzelte Theorie, wie die Phlogistontheorie es war, ausübt.<br />
An<strong>der</strong>erseits ist aber auch zu bedenken, daß die Befähigung zur<br />
praktischen Ausführung und richtigen Beobachtung von Versuchen<br />
durchaus noch nicht die gleichzeitige Befähigung zur Ableitung<br />
„richtiger―, d. h. brauchbarer Theorien in sich schließt. Das sind offenbar<br />
ganz getrennte Begabungen, und man könnte, je nach dem<br />
Vorherrschen <strong>der</strong> einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en, die großen Chemiker einteilen in<br />
„Praktiker“ und „Theoretiker“. Darnach würde man PRISTLEY als<br />
den Typus eines Praktikers bezeichnen müssen. Bei ihm kam noch<br />
seine eigenartige, man könnte sagen eigensinnige und fanatische Natur<br />
hinzu, die den Streit nicht nur nicht mied, son<strong>der</strong>n suchte. So erleben<br />
wir das tragische Schauspiel, daß <strong>der</strong> Entdecker des Sauerstoffs zu<br />
einer <strong>Zeit</strong> (1800), wo kaum ein namhafter Chemiker die<br />
Phlogistontheorie noch für ernst nahm, sein Lebenswerk mit einer<br />
Verteidigungsschrift abschließt, die den Titel führt: ‚The Doctrine of<br />
Phlogiston established’.“ -<br />
**********************<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
8.7 Carl Wilhelm SCHEELE, 1742-1786<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 266<br />
Bei <strong>der</strong> nachfolgenden biographischen Schil<strong>der</strong>ung beziehen wir uns<br />
vor allem auf eine Kurzbiographie aus <strong>der</strong> „Geschichte <strong>der</strong> analytischen<br />
Chemie― von Ferenc SZABADVÁRY (Braunschweig 1966) und einige<br />
Ergänzungen dazu von Prof. Georg LOCKEMANN (Geschichte <strong>der</strong><br />
Chemie, Bd. I, 1950) und Prof. Paul WALDEN (Drei Jahrtausende<br />
Chemie, 1944).<br />
Carl Wilhelm SCHEELE wurde am 21. Dezember 1742 in <strong>der</strong><br />
vorpommerschen Hauptstadt Stralsund als Sohn eines angesehenen<br />
Bürgers und Kaufmanns (Brauer und Kornhändler) und seiner Gattin,<br />
einer geborenen WARNEKROS geboren. Die Familie SCHEELE ist seit<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ten in verschiedenen Städten Norddeutschlands urkundlich<br />
nachweisbar; Kaufleute, Geistliche, Lehrer und höhere Beamte werden<br />
vielfach genannt. Im 15. Jahrhun<strong>der</strong>t war ein SCHEELE Bischof von<br />
Lübeck. Nach dem Dreißigjährigen Kriege, als Stralsund mit Rügen an<br />
Schweden fiel, treten dann auch verschiedene Angehörige <strong>der</strong> Familie<br />
SCHEELE in Schweden hervor. Ein Zweig <strong>der</strong> Familie wurde in<br />
Schweden geadelt. Zur <strong>Zeit</strong> von Carl Wilhelm SCHEELEs Geburt stand<br />
Stralsund noch unter schwedischer Herrschaft und kam erst 1815<br />
wie<strong>der</strong> zurück an Deutschland. Carl Wilhelm war das siebente von elf<br />
Kin<strong>der</strong>n und wuchs in ziemlich dürftigen Verhältnissen auf, da das<br />
geschäftliche Unternehmen des Vaters in Konkurs geraten war. Im Alter<br />
von noch nicht 15 Jahren verließ er Schule und Elternhaus und trat bei<br />
dem aus Mecklenburg stammenden Apotheker BAUCH in Gotenburg in<br />
die Lehre, wo auch <strong>der</strong> älteste Bru<strong>der</strong> vor ihm die Lehre durchgemacht<br />
hatte, jedoch bereits als Zwanzigjähriger gestorben war. In seiner<br />
kärglichen Freizeit, häufig nachts, las er alle chemischen Bücher, die er<br />
fand mit heißem Bemühen und versuchte in <strong>der</strong> Apotheke das gelesene<br />
Exper<strong>im</strong>ent nachzuprüfen, worüber er regelmäßig Notizen in deutscher<br />
Sprache machte. Der Apotheker BAUCH schreibt besorgt an seinen<br />
Vater, <strong>der</strong> Junge sitze bis in die Nächte hinter den Büchern und schade<br />
seiner Gesundheit. Auch erlebte er infolge eines ihm von mißgünstiger<br />
Seite gespielten Schabernacks eine Explosion, die das ganze Haus in<br />
Aufruhr brachte, aber nicht die schl<strong>im</strong>men Folgen hatte wie ein<br />
ähnliches Ereignis, das 60 Jahre später dem Apothekerlehrling Justus<br />
LIEBIG wi<strong>der</strong>fuhr und gleichzeitig dessen Apothekerlaufbahn für <strong>im</strong>mer<br />
beendete.<br />
Als Apothekergehilfe war SCHEELE dann eine <strong>Zeit</strong>lang in Malmö und<br />
Stockholm (1768) tätig. Seine Forschungen konnte er nur sehr<br />
beschränkt fortsetzen, da ihm dafür nur eine enge Fensternische zur<br />
Verfügung stand. Doch auch da gelang ihm eine bemerkenswerte<br />
Entdeckung: die verschieden starke Einwirkung <strong>der</strong><br />
Sonnenspektrumsanteile auf Chlorsilber (führte später zur<br />
Photoschicht!). Von 1770-1775 war er in Uppsala und es war ein<br />
glücklicher Umstand, daß er dort in eine Apotheke geriet, aus <strong>der</strong><br />
Torbern BERGMAN, <strong>der</strong> Chemieprofessor an <strong>der</strong> dortigen Universität,<br />
seine Chemikalien bezog. Eines Tages beanstandete BERGMANN eine<br />
Lieferung Salpeter, die be<strong>im</strong> Erhitzen mit Essigsäure braunrote Dämpfe<br />
entwickelte. We<strong>der</strong> BERGMAN noch sein Assistent GAHN wußten eine<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 267<br />
Erklärung, auch SCHEELEs Chef konnte die Erscheinung nicht deuten.<br />
Da erschien SCHEELE, <strong>der</strong> Gehilfe, und erklärte, es handele sich um<br />
salpetrige Säure, eine Verbindung, die <strong>der</strong> Salpetersäure sehr ähnlich<br />
ist. BERGMAN, <strong>der</strong> davon erfuhr, wurde dadurch auf SCHEELE<br />
aufmerksam. Bald entwickelte sich eine herzliche Freundschaft und eine<br />
enge wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen den beiden<br />
Forschern. SCHEELE begann jetzt seine Arbeiten zu veröffentlichen, die<br />
überall Aufsehen erregten. Im Alter von 33 Jahren wurde <strong>der</strong> junge<br />
Apothekergehilfe zum Mitglied <strong>der</strong> Schwedischen Akademie <strong>der</strong><br />
Wissenschaften gewählt. 1775 pachtete SCHEELE schließlich in dem<br />
kleinen schwedischen Landstädtchen Köping eine Apotheke und blieb<br />
dort bis zu seinem Tode 1786. Neben <strong>der</strong> täglichen Apothekerarbeit<br />
exper<strong>im</strong>entierte er in jedem freien Augenblick oft bis tief in die Nacht<br />
hinein unermüdlich weiter. Sein Laboratorium bestand aus einer<br />
Holzscheune <strong>im</strong> Hof, das durch eine Bretterwand von dem Raum zur<br />
Aufbewahrung landwirtschaftlicher Geräte abgetrennt war.<br />
Der König von Preußen, FRIEDRICH <strong>der</strong> GROSSE, und die Zarin von<br />
RUSSLAND bemühten sich, ihn als Hochschullehrer zu gewinnen, doch<br />
SCHEELE lehnte ab. Als Grund gab er an, er habe in Köping sein<br />
Auskommen, und auch in Berlin könne er nicht mehr, als sich satt zu<br />
essen. 1786 wurde er ernstlich krank. Um <strong>der</strong> Witwe seines Vorgängers<br />
die Apotheke zu sichern, heiratete er sie, starb jedoch zwei Tage nach<br />
<strong>der</strong> Hochzeit <strong>im</strong> Alter von nur 44 Jahren. Seine Angehörigen hat<br />
SCHEELE wohl nur von Malmö aus in seiner He<strong>im</strong>atstadt Stralsund <strong>im</strong><br />
Alter von 24 Jahren noch einmal besucht und bei dieser Gelegenheit hat<br />
auch ein Maler BRÜGGEMANN ein kleines Medaillonbild auf Elfenbein<br />
von ihm angefertigt. Dieses einzige authentische Bildnis, das den jungen<br />
Forscher darstellt, hat später ein son<strong>der</strong>bares Schicksal gehabt. Es war<br />
eine <strong>Zeit</strong>lang völlig verschwunden, bis es einem beson<strong>der</strong>en<br />
Beauftragten <strong>der</strong> schwedischen Apotheker-Societät nach zweijährigem<br />
eifrigen Suchen endlich 1931 gelang, es bei einer mit SCHEELE<br />
verwandten Familie in Berlin aufzufinden.<br />
Einen großen Verlust für die deutsche Chemie bedeutet es, daß die<br />
1776-1777 unternommenen Bemühungen FRIEDRICH des GROSSEN,<br />
SCHEELE an Stelle von MARGGRAF, <strong>der</strong> eine Lähmung erlitten hatte,<br />
an die Akademie nach Berlin zu bringen, erfolglos verliefen. Der König<br />
hatte den Namen des „berühmten schwedischen Chemikers― nicht<br />
genannt, die preußische Gesandtschaft in Stockholm kam erst nach<br />
längerem Herumfragen auf den Apotheker „H. Scheel o<strong>der</strong> Schell, <strong>der</strong><br />
seine chemische Kenntnisse bloß langer Arbeit und reicher Erfahrung<br />
verdankt―. Die Stelle war mit 2000 Rthlr. Gehalt dotiert. Vielleicht hat<br />
SCHEELE diese Stelle auch abgelehnt, da an <strong>der</strong> Berliner Akademie<br />
Französische als Geschäftssprache eingeführt worden war. SCHEELE<br />
zog das Ringen und Darben um die Forschung <strong>der</strong> gesicherten<br />
Lebensstellung vor und starb nach längerem Leiden, das auf Skorbut,<br />
Ischias, Lungenleiden u. ä. schließen läßt. „Wie hätte sich SCHEELEs<br />
Leben unter den günstigen wirtschaftlichen und kl<strong>im</strong>atischen<br />
Verhältnissen in Berlin weitergestaltet, und welche Rückwirkung auf die<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 268<br />
deutsche Chemie hätte dieses verlängerte Leben des genialen Mannes<br />
gehabt ?― fragt Paul WALDEN.-<br />
*************************<br />
„SCHEELEs wissenschaftliche Arbeiten umfassen fast alle<br />
Gebiete <strong>der</strong> Chemie, überall leistete er Bedeutendes“ (Ferenc<br />
SZABADVÁRY). Hermann RÖMPP schreibt in seinem berühmten<br />
„Chemie-Lexikon“ (6. Aufl. 1962): Der in Stralsund geborene<br />
deutsche Chemiker SCHEELE gehört zu den bedeutendsten<br />
Begrün<strong>der</strong>n <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Chemie.“<br />
Zitieren wir abschließend Paul WALDEN: „Es hört sich wie ein Wun<strong>der</strong><br />
an, daß unter diesen ungünstigen Arbeitsverhältnissen und <strong>im</strong> Verlaufe<br />
von nur an<strong>der</strong>thalb Jahrzehnten SCHEELE sich als einer <strong>der</strong> größten<br />
chemischen Entdecker auswirken konnte, denn er hat mehr entdeckt als<br />
alle seine großen <strong>Zeit</strong>genossen, nicht ausgenommen LAVOISIER. Und<br />
zwar entdeckte er auf dem Gebiete <strong>der</strong> anorganischen Chemie: die<br />
salpetrige Säure (1767), Fluorwasserstoff (1769 ff.), Phosphor aus<br />
Knochen (1770 ff.), den Sauerstoff ( = Feuerluft, Vitriolluft, bereits von<br />
1769 an), Chlor, Manganerde und Baryterde (1774), Arsensäure<br />
(1773/75), Kieselfluorwasserstoffsäure (1776), SCHEELEs Grün<br />
(arsenigsaures Kupfer, 1776/78), Molybdänsäure (1^778), Wolframsäure<br />
(1780); in <strong>der</strong> organischen Chemie: Weinsteinsäure 81769),<br />
Benzoesäure (1775), Harnsäure (1776), Milchsäure (178=),<br />
Schle<strong>im</strong>säure (1780), Blausäure (aus Berlinerblau 1782) und Synthese<br />
<strong>der</strong> Blausäure (aus Kohle, Kohlensäure und Ammoniak 1783), „Ölsüß―<br />
o<strong>der</strong> Glycerin aus Fett (1783), Oxalsäure (1784), Zitronensäure (1784),<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 269<br />
Äpfelsäure (1785), Fuselöl (1785), Gallus- und Pyrogallussäure (1786).<br />
Für die allgemeine Chemie hat SCHEELE die folgenden<br />
grundlegenden Tatsachen erschlossen: die Metalle Kupfer und Eisen<br />
geben verschiedene Verkalkungs- (Oxydations-) stufen (1770/71), noch<br />
vor LAVOISIER, Adsorption von gasförmigen Stoffen durch<br />
Holzkohle (1773), violette Strahlen üben stärkste photochemische<br />
Wirkung (Schwärzung) auf Chlorsilber aus (1777), Bildung von<br />
Essigäther und Benzoeäther aus Alkohol und Säure durch Mitwirkung<br />
von „wenig― Mineralsäure, d. h. die katalytische Esterbildung, und<br />
rückwärts – die Verseifung <strong>der</strong> Ester durch Alkalien (1781/82),<br />
Sterilisation des Essigs durch Aufkochen(1782) in geschlossenen<br />
Gefäßen (das „Pasteurisieren― kam erst um 1868 in Anwendung).<br />
SCHEELE hat bereits seit 1769/70 <strong>im</strong> Zuge seiner<br />
Gasuntersuchungen den Sauerstoff nach mehreren Verfahren<br />
dargestellt, als eine neue Luftart beschrieben und <strong>der</strong>en Bedeutung für<br />
das tierische Leben sowie für die Verbrennung erkannt; ferner, er hat<br />
auch den chemischen Vorgang bei <strong>der</strong> Verbrennung bzw. Kalkbildung<br />
(Oxydation) <strong>der</strong> Metalle richtig gedeutet, indem er denselben auf eine<br />
Vereinigung (Aufnahme) <strong>der</strong> Vitriolluft mit dem Metall (z. B. Quecksilber)<br />
zurückführte und sinngemäß diese Luftart als principium salinum<br />
benannte:<br />
Metall + princ. salin. ( = Kalk o<strong>der</strong> Base, Alkali) gibt (mit einer Säure)<br />
das Salz.<br />
Dagegen hat er das Problem <strong>der</strong> Gewichtszunahme <strong>der</strong> Kalke nicht<br />
behandelt und somit die denknotwendige Folgerung <strong>der</strong><br />
Gewichtsvermehrung durch Stoffaufnahme <strong>der</strong> Metalle – als außerhalb<br />
seines Arbeitsprogramms liegend – unterlassen. Solches tat unabhängig<br />
nachher LAVOISIER.―<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 270<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
8.8 Die Wende zur mo<strong>der</strong>nen Chemie um 1800<br />
Der große schwedische Chemiker Jöns Jakob BERZELIUS, 1779-<br />
1848, mit dem auch Goethe 1822 von Eger (Böhmen) eine geologischmineralogische<br />
Exkursion auf den Kammerberg unternommen hatte, ihm<br />
dort Mineralbest<strong>im</strong>mungen mit dem Lötrohr vorführte, später Goethes<br />
Mineraliensammlung durch Sendungen bereicherte und ihn dann<br />
nochmals <strong>im</strong> August 1828 in Dornburg Goethe besuchte, schrieb 1823<br />
zu <strong>der</strong> neuen „antiphlogistischen― Chemie und dem Anteil LAVOISIERs<br />
an <strong>der</strong>selben folgendes:<br />
„Das wissenschaftliche Studium <strong>der</strong> Chemie war damals leicht genug,<br />
denn die antiphlogistische Chemie verwarf anfänglich alles, was sie<br />
nicht hinreichend erklären konnte, und was sie erklärte, hielt sie nicht<br />
selten für einfacher als es war.― Das Urteil Justus LIEBIGs über<br />
LAVOISIERs Leistungen, auf dessen Biographie wir gleich zu<br />
sprechen kommen lautete (1851): „Der Ursprung einer jeden richtigen<br />
Entdeckung, einer jeden geson<strong>der</strong>ten Beobachtung, welche bis zu<br />
LAVOISIER <strong>Zeit</strong> in irgendeinem Teil Europas gemacht worden war, war<br />
verwischt, die neuen Namen und geän<strong>der</strong>ten Vorstellungen zerrissen<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 271<br />
allen Zusammenhang mit <strong>der</strong> Vergangenheit […] LAVOISIER hat<br />
keinen neuen Körper, keine neue Naturerscheinung entdeckt, alle<br />
durch ihn festgestellten waren die notwendigen Folgen von<br />
Arbeiten, die den seinigen vorangegangen waren; sein<br />
unsterbliches Verdienst war es, den Körper <strong>der</strong> Wissenschaft mit<br />
einem neuen Sinn begabt zu haben.― Und <strong>der</strong> berufene Kritiker <strong>der</strong><br />
neuzeitlichen Chemie, Wilhelm OSTWALD urteilte folgen<strong>der</strong>maßen<br />
(1907): „Unmäßige Lobeserhebungen sind verschwen<strong>der</strong>isch über<br />
LAVOISIER ausgestreut worden, daß er die Waage in <strong>der</strong> Chemie zur<br />
Anwendung gebracht hätte. Er war nicht einmal <strong>der</strong> erste hierzu, und<br />
bezüglich seiner Sauerstofftheorie hat er in MAYOW (1669) einen<br />
Vorgänger, <strong>der</strong> die Grundzüge seiner Auffassung mehr als hun<strong>der</strong>t<br />
Jahre früher mit aller Sicherheit ausgesprochen hat.―<br />
Prof. Paul WALDEN schreibt zur Einführung <strong>der</strong> Waage und <strong>der</strong><br />
Gewichte in die Chemie als Forschungsinstrument (1931): „Es ist wert in<br />
Erinnerung gebracht zu werden, in welchem Ausmaß <strong>der</strong> große<br />
Praktiker GLAUBER Waagen und Gewichte benutzte. Als er zwei<br />
Jahre vor seinem Tode sein Laboratoriumsinventar in Amsterdam zum<br />
Kauf anbot, da zählte er auf: „3 gute Wage … die erste ist eine Gold-<br />
Wag … die an<strong>der</strong>e ist eine Karath-Wag, darmit man Pärlen / Diamanten<br />
/ und an<strong>der</strong>e Edel Gesteine nach dem Karath wieget. Die dritte ist eine<br />
schnelle Probir / o<strong>der</strong> Assey-Wag / darmit man nach dem kleinen<br />
Centnergewicht alle Ertze <strong>der</strong> Metallen probiret … Daß zur Wag<br />
gehörige Gewicht von hun<strong>der</strong>t pfunden an / bis auf ein minsten Theil<br />
eines gränges / ist von gutem Silber gemacht. Deßgleichen ist auch ein<br />
von Silber gemachtes Marck / und Pfennig-Gewicht darbey. Auch seyndt<br />
die Schalen / wie auch die kleinen Einsetz-Schälge zu <strong>der</strong> Wag gehörig /<br />
von gutem Silber gemacht. Solche Wag vor dem Staub zu bewahren /<br />
wird in einem darzu gemachten Kästlein bewahret.― Das war eines<br />
Praktikers Waagen- und Gewichtsbestand, mit silbernen Gewichten und<br />
Schalen!―<br />
WALDEN schreibt weiter: „LAVOISIER hat das historische<br />
Verdienst, die Bedeutung <strong>der</strong> Entdeckungen eines PRISTLEY und<br />
SCHEELE für das Verbrennungsproblem sofort erkannt,<br />
exper<strong>im</strong>entell mit <strong>der</strong> Waage geprüft und quantitativ bestätigt zu zu<br />
haben. Damit schloß er die Reihe seiner bedeutenden Vorgänger, die<br />
das Verbrennungsphänomen auf eine Stoffaufnahme zurückführten: J.<br />
REY (1630), MAYOW (1668), Friedrich HOFFMANN (1736), Michael<br />
LOMONOSSOW (1750), BAYEN (1774) u. a. ab. Erkenntnistheoretischpsychologisch<br />
interessant ist dabei die Tatsache, daß keiner <strong>der</strong> großen<br />
Phlogistiker durch LAVOISIERs Versuche von einem etwaigen Irrtum<br />
<strong>der</strong> Phlogistentheorie überzeugt wurde, und zwar we<strong>der</strong> BLACK (gest.<br />
1799), MACQUER (gest. 1784), SCHEELE (gest. 1786), noch<br />
PRIESTLEY (gest. 1804) und CAVENDISH (gest. 1810). Die<br />
Gewichtszunahme <strong>der</strong> Metallkalke erklärte nicht das ganze Phänomen,<br />
z. B. das Auftreten von Licht und Wärme; man ersann ein „negatives―<br />
Gewicht (etwa ähnlich <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Umwandlung von Materie in<br />
Energie?); man sah die Wärme als Stoff an; man verwechselte das<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 272<br />
Gewicht mit dem spezifischen Gewicht usw. Auch einem großen Denker<br />
wie Immanuel KANT bot das Problem keinen Wi<strong>der</strong>spruch, indem er<br />
sich begeistert für die Phlogistontheorie aussprach (1787). Übrigens<br />
stellte das Phlogiston seinem Wesen nach etwas Metaphysische<br />
dar, während <strong>der</strong> grobsinnige Sauerstoff für die Phantasie keinen Raum<br />
ließ.― (P. WALDEN; aus: Chronologische Übersichtstabellen zur<br />
Geschichte <strong>der</strong> Chemie von den ältesten <strong>Zeit</strong>en bis zur Gegenwart,<br />
1952).<br />
Auch <strong>der</strong> Chemiehistoriker Prof. Georg LOCKEMANN schreibt: „Der<br />
große Reformator kam aus einem benachbarten Gebiet: LAVOISIER<br />
war Physiker; er hat kaum eine irgendwie belangreiche chemische<br />
Entdeckung gemacht, aber er verstand es, die exper<strong>im</strong>entellen<br />
Befunde an<strong>der</strong>er mit klarem, nüchternem Verstande richtig zu<br />
deuten und sie dadurch ihrer wahren Bedeutung nach erst <strong>der</strong><br />
Wissenschaft dienstbar zu machen.<br />
Wir kommen jetzt zur Person von LAVOISIER selbst und geben hier<br />
wie<strong>der</strong>um Prof. LOCKEMANN das Wort zur Biographie von Antoin-<br />
Laurent LAVOISIER.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
8.9 Antoin-Laurent LAVOISIER, 1743-1794<br />
„Antoin-Laurent LAVOISIER war <strong>der</strong> Sohn eines wohlhabenden<br />
Pariser Advokaten, <strong>der</strong> als „conseillier secrétaire― in königlichen<br />
Diensten den erblichen Adel erhalten hatte. Statt dem väterlichen Berufe<br />
zu folgen, widmete sich <strong>der</strong> Sohn dem Studium <strong>der</strong><br />
Naturwissenschaften, beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Physik; auch hörte er chemische<br />
Vorlesungen bei dem berühmten ROUELLE. Frühzeitig machte er sich<br />
durch tüchtige Leistungen bemerkbar, so daß er als<br />
Einundzwanzigjähriger für eine Preisschrift über die beste Art <strong>der</strong><br />
Straßenbeleuchtung großer Städte von <strong>der</strong> Akadémie des Sciences eine<br />
vom König gestiftete goldene Denkmünze erhielt. Nach einer<br />
geologischen Forschungsreise bis in die Schweiz wurde er mit 125<br />
Jahren „adjoint ch<strong>im</strong>iste supernuméraire― <strong>der</strong> Akademie. Einige Jahre<br />
später trat er <strong>der</strong> „ Fermier générale― (Institution zur Einziehung <strong>der</strong><br />
indirekten Steuern) bei und heiratete die damals [noch nicht ganz]<br />
vierzehnjährige Maria Anne Pierette PAULZE, Tochter eines andren<br />
schwerreichen Generalsteuerpächters, die ihm in kin<strong>der</strong>loser Ehe als<br />
wissenschaftliche Hilfsarbeiterin wertvolle Dienste leistete und mit ihm<br />
bei lebhaftem gesellschaftlichen Verkehr ein großes Haus führte. Seine<br />
ungewöhnliche Vielseitigkeit und sein außerordentlicher Arbeitseifer<br />
waren <strong>der</strong> Anlaß, daß er zu <strong>der</strong> Bearbeitung und Begutachtung <strong>der</strong><br />
allererverschiedensten Fragen herangezogen wurde<br />
(Lebensmittelkontrolle, Wasserversorgung auf Seeschiffen,<br />
Mesmerismus, Wünschelrute, Luftballonfahrten usw. usw.). Trotz dieser<br />
zersplitternden Beanspruchung konnte er sich durch strenge<br />
<strong>Zeit</strong>einteilung behaupten, indem er die frühen Morgen- und späten<br />
Abendstunden für seine wissenschaftlichen Untersuchungen<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 273<br />
verwendete. Zu all <strong>der</strong> Vielgeschäftigkeit kam 1776 noch die Leitung <strong>der</strong><br />
Pulverfabrikation. Im dem Gelände <strong>der</strong> „Salpétrière“ stattete er sich<br />
das Laboratorium mit den besten und empfindlichsten<br />
physikalischen Instrumenten aus und beschäftigte tüchtiges<br />
Hilfspersonal. Bei seiner Neigung zu theatralischem Auftreten pflegte<br />
er dort auch allwöchentlich eine Art Schauexper<strong>im</strong>entieren zu<br />
veranstalten, zu dem die hervorragendsten Pariser Gelehrten geladen<br />
wurden. Durch den Erwerb eines Landgutes, Fréchines, kam<br />
LAVOISIER auch nicht nur mit <strong>der</strong> Landwirtschaft, son<strong>der</strong>n auch mit <strong>der</strong><br />
Politik in Berührung. Er wurde in die Provinzialverwaltung von Orléans<br />
gewählt, und nach Ausbruch <strong>der</strong> Revolution (1789) wurde er auch<br />
Mitglied <strong>der</strong> Pariser Stadtvertretung und er Verwaltung des königlichen<br />
Schatzes. Selbstverständlich war er auch an <strong>der</strong> Bearbeitung des neuen<br />
metrischen Maß- und Gewichtssystems beteiligt. Aber er wurde auch mit<br />
in den Strudel <strong>der</strong> sich <strong>im</strong>mer mehr überstürzenden revolutionären<br />
Ereignisse hineingerissen und zusammen mit an<strong>der</strong>en Generalpächtern<br />
<strong>im</strong> November 1793 verhaftet. Von seinen zahlreichen Freunden wagten<br />
nur drei, darunter <strong>der</strong> Mineraloge HAUY, für ihn einzutreten. „Nous<br />
n’avons pas besoin des savants― war die Antwort des<br />
Gerichtspräsidenten. Am 8. Mai 1794 mußte er zusammen mit 28<br />
an<strong>der</strong>en Generalpächtern das Blutgerüst besteigen und ‚in den Sack<br />
niesen’―. Ein <strong>Zeit</strong>genosse, <strong>der</strong> ihn sicher nicht liebte, sah ihn sterben und<br />
soll gesagt haben: „Ich weiß nicht, ob ich die letzte gründlich<br />
vorbereitete Rolle eines Schauspielers gesehen habe, o<strong>der</strong> ob ein<br />
wirklich großer Mann gestorben ist.―<br />
Der ungarische Chemiehistoriker Ference SZABADVÁRY schreibt in<br />
seiner „Geschichte <strong>der</strong> Analytischen Chemie, 1966: „LAVOISIERs<br />
Persönlichkeit ist in <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Chemie sehr<br />
unterschiedlich beurteilt worden. Seine Landsleute insbeson<strong>der</strong>e<br />
priesen ihn als den größten Chemiker aller <strong>Zeit</strong>en, an<strong>der</strong>e<br />
Chemiehistoriker waren in ihrem Urteil vorsichtiger und stellten auch<br />
o<strong>der</strong> ausschließlich die Schattenseiten seines menschlichen Verhaltens<br />
heraus. Tatsächlich sind beide Ansichten berechtigt. Zweifellos war<br />
LAVOISIER eines <strong>der</strong> größten Talente seiner <strong>Zeit</strong> und wohl auch ihr<br />
bedeutendster Wissenschaftler, zugleich war er aber charakterlich eine<br />
Persönlichkeit voller allzu menschlicher Fehler. Er war eitel, manchmal<br />
bis zur Lächerlichkeit. Im Jahre 1789, kurz nach <strong>der</strong> Erstürmung <strong>der</strong><br />
Bastille inszenierte er eine Gerichtssitzung über die<br />
Phlogistontheorie und lud dazu eine große und vornehme Gesellschaft<br />
ein. Er selbst und einige Freunde saßen am <strong>Richter</strong>tisch. Ein gut<br />
aussehen<strong>der</strong> Jüngling namens „Sauerstoff― reichte die Anklage ein.<br />
Dann erschien ein alter gebrechlicher Mann in <strong>der</strong> Maske des längst<br />
verstorbenen STAHL und versuchte, die Phlogistontheorie zu<br />
verteidigen. Zum Schluß verurteilte das Gericht STAHLs Lehre zum Tod<br />
durch die Flammen. Madame LAVOISIER erschien in schneeweißem<br />
Gewand als Priesterin und vollstreckte das urteil, indem sie STAHLs<br />
Buch feierlich verbrannte.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 274<br />
Auch LAVOISIERs Ruhmsucht kannte keine Grenzen. Obwohl seine<br />
eigene Arbeiten ihm schon früh alle nur möglichen Ehren eingebracht<br />
hatten, versuchte er, sich auch mit fremden Fe<strong>der</strong>n zu schmücken,<br />
indem er die Entdeckungen an<strong>der</strong>er als seine eigenen ausgab. Häufig<br />
mußte er sich gegen Beschwerden wegen geistigen Diebstahls<br />
verteidigen und wurde zu peinlichen Erklärungen gezwungen.<br />
[…]LAVOISIER hat keine so glänzenden exper<strong>im</strong>entellen Entdeckungen<br />
gemacht, wie seinerzeit die großen Phlogistiker. Er wie<strong>der</strong>holte ihre<br />
Versuche gewissenhaft und hat darüber berichtet, wobei er häufig die<br />
Priorität <strong>der</strong> ursprünglichen Entdecker völlig unterschlug, o<strong>der</strong> nur<br />
andeutend erwähnte. Er zersetzte das Wasser nach CAVENDISH,<br />
stellte den Sauerstoff nach PRIESTLEY und BAYEN her und<br />
wie<strong>der</strong>holte BOYLEs berühmten Metallkalzinationsversuch.―<br />
LOCKEMANN schreibt hierzu: „Um die Erkenntnis <strong>der</strong> chemischen<br />
Zusammensetzung des Wassers hat sich LAVOISIER ebenfalls in<br />
zahlreichen kostspieligen Versuchen – er soll mehr als 50000 Livres<br />
dafür aufgewendet haben – bemüht, ohne zu einem wirklichen<br />
Ergebnis zu gelangen. Erst als er durch den 1783 in Paris weilenden<br />
englischen Arzt und naturforscher ´Charles BLADGEN, 1748-1820, von<br />
CAVENDISHs Versuchen unterrichtet wurde, hat er sich in gemeinsam<br />
mit LAPLACE ausgeführten Versuchen davon überzeugt, daß <strong>der</strong><br />
Sauerstoff bei <strong>der</strong> Vereinigung mit Wasserstoff nicht, wie er erwartet<br />
hatte, eine Säure, son<strong>der</strong>n einfaches Wasser bildet. Er hat dann in <strong>der</strong><br />
Akademie wie<strong>der</strong>um einen Vortrag gehalten, ohne den Namen des<br />
eigentlichen Entdeckers anzugeben. Noch heute wird eine Probe von 45<br />
g synthetischen Wassers, in ein Glasrohr eingeschmolzen, in Paris als<br />
kostbare LAVOISIER-Reliquie aufbewahrt. Bei seinen weiteren<br />
Versuchen ist ihm jedoch die Zerlegung des Wassers durch Überleiten<br />
von Wasserdampf über glühendes Eisenpulver gelungen, wobei er<br />
allerdings nur das Wasserstoffgas wie<strong>der</strong>gewinnen konnte. Im Laufe <strong>der</strong><br />
achtziger Jahre hat LAVOISIER die Anschauungen über die chemischen<br />
Vorgänge so weit geklärt, daß er die alte Phlogistontheorie für völlig<br />
überwunden betrachten und seine Oxdationstheorie entwickeln<br />
konnte.―<br />
Hierzu wie<strong>der</strong> WALDEN über<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 275<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
8.10 LAVOISIERs Oxydationstheorie von 1775-1789<br />
Die Einverleibung <strong>der</strong> Luftarten in den chemischen Reaktionsvorgang<br />
o<strong>der</strong> in die chemische Statik ergab eine neue Problematik. Welcher Art<br />
chemischer Vorgänge spielen sich zwischen den festen und<br />
luftförmigen, den flüssigen und luftförmigen sowie den luftförmigen mit<br />
luftförmigen Stoffen ab? Es ist das historische Verdienst von Antoine-<br />
Laurent LAVOISIER (1743-1794), dieses Problem sogleich in seinem<br />
ganzen Umfang erfaßt, seine Beziehung zu den STAHL’schen<br />
Metallkalken und dem Phlogiston intuitiv erschaut und <strong>der</strong><br />
exper<strong>im</strong>entellen Prüfung unterworfen, sowie die logischen Folgerungen<br />
gezogen zu haben. Auch LAVOISIER war als Wissenschaftler ein<br />
Outsi<strong>der</strong>, <strong>der</strong> seit 1771 in leitenden technischen und öffentlichen Ämtern<br />
stand. Er hat keinen neuen chemischen Körper und keine neue<br />
chemische Reaktion zu entdecken brauchen: anläßlich eines<br />
Besuches in Paris während des Jahres 1774 hatte PRISTLEY (an <strong>der</strong><br />
Tafel von LAVOISIER) über seine neue – durch Erhitzen von<br />
Quecksilberoxyd u. a. erhaltene – Luftart berichtet, in welcher eine<br />
Kerze viel lebhafter brenne, d. h. über seine „dephlogistierte Luft―, und<br />
<strong>im</strong> April 1775 konnte LAVOISIER bereits seinen Bericht halten „über die<br />
Natur des Prinzips, welches sich mit den Metallen bei <strong>der</strong><br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 276<br />
Verkalkung verbindet und ihr Gewicht erhöht.“ Es ist dies die<br />
PRIESLEY’sche „dephlogistierte Luft―, fortan „Oxyéne― o<strong>der</strong> „principe<br />
acidifiant― geheißen, welche, welche sich mit den Metallen verbindet und<br />
als Stoffzuwachs in <strong>der</strong> Gewichtszunahme <strong>der</strong> Metallkalke „Oxyde― sich<br />
offenbart. Die Vorgänge bei dem metallen sind nunmehr.<br />
nach LAVOISIER:<br />
Verkalkung = Oxydation = Metall + Sauerstoff = Metalloxyd.<br />
Reduktion<br />
= Metalloxyd – Sauerstoff = Metall.<br />
nach STAHL:<br />
Verkalkung = Metall – Phlogiston = Metallkalk.<br />
Reduktion = Metallkalk + Phlogiston = Metall.<br />
Anstelle des Phlogiston trat nun in den obigen Gleichungen mit<br />
umgekehrten Vorzeichen <strong>der</strong> Sauerstoff auf – sein Name war<br />
zugleich eine begriffliche Überspitzung, da <strong>der</strong> Sauerstoff ja keineswegs<br />
für alle Substanzen „säurebildend― (Oxygenium) wirkt, man denke etwa<br />
an Wasser H 2 O und Zucker C 12 H 22 O 11 . Wie bereits J. JUNGIUS (1630 u.<br />
folg.) gefor<strong>der</strong>t hatte, war es die Waage, die LAVOISIER als<br />
Grundinstrument bewertete und zusammen mit <strong>der</strong> konsequenten<br />
Anwendung des Erhaltungsgesetzes zum Aufbau seiner<br />
„antiphlogistischen Chemie“ benutzte.<br />
Er gab auch den Begriff des chemischen Elementes <strong>im</strong> Sinne von J.<br />
JUNGIUS (1642) und R. BOYLE (1661) und schlug eine rationelle, auf<br />
die chemischen Komponenten bezugnehmende Nomenklatur vor, z. B.<br />
statt <strong>der</strong> früheren Trivialnamen „Glaubersalz― und „Höllenstein― –<br />
Natriumsulfat und Silbernitrat. Trotzdem schleppte er in dem neuen Bau<br />
altes geistiges Rüstzeug mit, z. B. die „unwägbaren― Elemente<br />
„Wärmestoff― und „Lichtstoff― neben den wägbaren elementaren<br />
Metallen, die er aber für zerlegbar hält, - an<strong>der</strong>erseits läßt er manche<br />
„mo<strong>der</strong>ne― nichtfranzösische Entdeckung unberücksichtigt, so z. B.<br />
die Ansätze einer chemischen Verwandtschaftslehre.<br />
Die neue antiphlogistische o<strong>der</strong> französische quantitative Chemie<br />
schien alles so leicht „erklären― zu können, und ihre begeisterten<br />
Anhänger unterließen es nicht, durch ungehemmte Spekulationen die<br />
mangelnden o<strong>der</strong> die angestellten Versuche zu ergänzen. Man<br />
vergleiche nur z. B. das seinerzeit gerühmte Werk von Chr.<br />
GIRTANNER, „Anfangsgründe <strong>der</strong> antiphlogistischen Chemie―, das noch<br />
<strong>im</strong> Jahre 1801 apodiktisch das Folgende lehrte:<br />
„Kohlenstoff ohne Sauerstoff müßte reiner Wasserstoff sein.― (S. 156)<br />
„Phosphor besteht aus Salpeterstoff (d. h. Stickstoff) und Wasserstoff<br />
mit etwas(!) mehr o<strong>der</strong><br />
weniger Sauerstoff verbunden .― (S. 71 u. 159).<br />
„die Pflanze hat die Kraft, Kohlenstoff zu erzeugen und vermutlich (!)<br />
ist <strong>der</strong> Kohlenstoff<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 277<br />
eine Verbindung des Wasserstoffes mit einer gewissen Menge<br />
Sauerstoff― (S. 161 u. 162).<br />
„<strong>der</strong> Schwefel entsteht offenbar (wie <strong>der</strong> Phosphor) in Thieren und<br />
Pflanzen (und) besteht aus<br />
Wasserstoff und aus Kohlenstoff― (S. 73 u. 162).<br />
„das Arsenik besteht größtenteils aus Phosphor, dem vielleicht (!) etwas<br />
Kohlenstoff<br />
beigemischt ist―(S. 160). .<br />
„die Blausäure und die Phosphorsäure sind einerlei (!), und bloß durch<br />
etwas (!) mehr o<strong>der</strong><br />
weniger Sauerstoff von einan<strong>der</strong> verschieden―. (S. 160).<br />
Diese kleine Blütenlese von Absurditäten zeigt, wie man damals<br />
(1801) als antiphlogistischer Chemiker alles „erklärte―; die Wörtlein<br />
„vielleicht― bzw. „vermutlich― o<strong>der</strong> „mehr o<strong>der</strong> weniger― passen auch<br />
nicht ganz in die gerühmte „quantitative― Methode <strong>der</strong> neuen Chemie, es<br />
fällt dabei auf, daß Phosphor, Schwefel, Kohlenstoff und Arsen<br />
zusammengesetzte Stoffe sind, vorwiegend aus Wasserstoff „mit mehr<br />
o<strong>der</strong> weniger― Sauerstoff und Stickstoff bestehen und in den Pflanzen<br />
und Tieren gebildet werden!―<br />
Wir wollen das zwiespältige Persönlichkeitsbild von LAVOISIER und<br />
seiner mo<strong>der</strong>nen Oxydationstheorie nun auch mit Paul WALDENs<br />
Worten schließen: „LAVOISIER gab mit seiner Oxydationstheorie viel,<br />
und indem er das Erhaltungsgesetz des Gewichtes (<strong>der</strong> Masse) zum<br />
Grundsatz für alle chemischen Operationen erhob, machte er die Waage<br />
zum Kontrollinstrument für alle Versuche <strong>der</strong> chemischen Forschung.<br />
Einer Chemie als messenden Wissenschaft fehlte aber das Gesetz,<br />
das die Grenzen <strong>der</strong> Oxydation regelt, die Zusammensetzung <strong>der</strong><br />
entstehenden Körper und die wechselseitigen Mengenverhältnisse<br />
best<strong>im</strong>mt. Unabhängig von LAVOISIER wurden hier zwei praktische<br />
Chemiker die Bahnbrecher: Carl Friedrich WENZEL, 1740-1793 (aus<br />
Dresden, nachher Hüttenchemiker in Freiberg/Sa., sowie Meißen) und<br />
Jeremias Benjamin RICHTER, 1762-1807, (aus Schlesien, erst auf<br />
einem schlesischen Landgut, dann als Bergsekretär bzw. Assessor seit<br />
1798 in Berlin tätig).―<br />
Mit diesen beiden Männern und noch überzeugten Phlogistikern<br />
erreicht unser „Chemie-Stammbaum― bald sein Ende, wo wir dann<br />
abschließend nur noch <strong>der</strong> großen Verdienste von Großherzog Carl<br />
August von SACHSEN-WEIMAR und Goethe um die Etablierung <strong>der</strong><br />
Chemie als Lehrfach in Jena gedenken wollen.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
8.11 Carl Friedrich WENZEL, 1740-1793<br />
―Carl Friedrich WENZEL war erst Buchbin<strong>der</strong>lehrling in <strong>der</strong> väterlichen<br />
Werkstatt zu Dresden; als 15jähriger lief er mit 14 Groschen von Hause<br />
weg, nach Hamburg und Amsterdam, wo er eine Art Gehilfe eines<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 278<br />
Apothekers und Wundarztes wurde; er machte mehrere Grönlandfahrten<br />
mit, wobei er auf <strong>der</strong> letzten <strong>der</strong>selben den gestorbenen Schiffsarzt<br />
vertrat. Nachdem er holländischer Feldwundarzt geworden war, kehrte<br />
er nach Sachsen zurück und studierte von 1766 an drei Jahre lang<br />
Mathematik, Physik und Chemie in Leipzig. (Wir wollen einschalten, daß<br />
zur selben <strong>Zeit</strong> auch Jung-Goethe in Leipzig studierte). Hierauf wählte<br />
er Dresden zu seinem Aufenthalt und beschäftigte sich von nun an fast<br />
einzig und allein mit <strong>der</strong> Chemie; er stellte viele Untersuchungen an und<br />
arbeitete einige chemische Schriften aus. Diese <strong>Zeit</strong> – etwa 1769 bis<br />
1779 – ist seinen wissenschaftlichen Exper<strong>im</strong>entalarbeiten (offenbar in<br />
seinem Privatlaboratorium) und Druckwerken gewidmet. Im Jahre 1780<br />
wurde er „Chemist― bei <strong>der</strong> kurfürstlichen Schmelzadministration, 1786<br />
Oberhüttenamtsassessor in Freiberg und „Chemikus― bei <strong>der</strong><br />
Porzellanmanufaktur Meißen. WENZEL erregte seinerzeit Aufsehen<br />
durch ein Buch „Einleitung zur höheren Chemie, welche die Zerlegung<br />
<strong>der</strong> Körper in sich enthält. Erster Theil, Leipzig 1773―. Die Beweise dafür<br />
sollte seine von <strong>der</strong> Königlich Dänischen Gesellschaft <strong>der</strong><br />
Wissenschaften gekrönte und 1781 veröffentlichte Preisschrift<br />
„Chymische Versuche, die Metalle vermittelst Reverberation [reversibel,<br />
rückläufig] in ihre Bestandteile zu zerlegen― erbringen. In <strong>der</strong> „höheren<br />
Chemie― WENZELs (tritt uns eine neuartige Definition entgegen:<br />
Diejenige Wissenschaft― (also nicht „Kunst―!) „welche die Kräfte <strong>der</strong><br />
gegeneinan<strong>der</strong> wirkenden Körper und die daher entstehenden<br />
Verän<strong>der</strong>ungen zum Gegenstand hat, wird überhaupt Chemie<br />
genannt.― Bemerkenswert ist hier die Hervorhebung <strong>der</strong> Chemie als<br />
Wissenschaft von den zwischen den Körpern wirkenden Kräften; es ist<br />
dies eine Anknüpfung an die von PARACELSUS über GLAUBER und<br />
STAHL verlaufende Fragestellung nach den Ursachen <strong>der</strong> chemischen<br />
Vorgänge. Interessant ist dann die Fortführung dieser Gedankenreihe<br />
durch WENZEL in seiner Schrift „Lehre von <strong>der</strong> chemischen<br />
Verwandtschaft <strong>der</strong> Körper. Dresden 1777, in welcher er „nebst den<br />
Bedingungen, unter welchen sich die Körper verbinden, auch das wahre<br />
Verhältnis ihres Gewichtes gegeneinan<strong>der</strong> anzugeben― bestrebt ist. Hier<br />
tritt also <strong>der</strong> theorien-geschichtlich bemerkenswerte Übergang von den<br />
Verwandtschaftsgraden zu den konstanten Verbindungsgewichten<br />
ein. WENZELs „Lehre von den <strong>der</strong> chemischen Verwandtschaft― ist ein<br />
historisches Dokument, das erstmalig das „Massenwirkungsgesetz“<br />
bringt bzw. „die Erkenntnis von dem Einfluß <strong>der</strong> Menge auf das Ergebnis<br />
eines chemischen Vorganges …das Grundgesetz <strong>der</strong> Massenwirkung―<br />
(Wilhelm OSTWALD). Es sei ergänzend hervorgehoben, daß dieses<br />
Gesetz seine mathematische Fassung erst 1867 durch die beiden<br />
norwegischen Forscher C. M. GULDBERG und P. WAAGE erhielt.― Im<br />
„Chemie-Lexikon― von Hermann RÖMPP (1962) wird WENZEL sogar als<br />
Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> chemischen Kinetik bezeichnet, die dort wie folgt<br />
definiert ist: „ein großes Gebiet <strong>der</strong> physikalischen Chemie, das den<br />
zeitlichen Ablauf <strong>der</strong> chemischen Vorgänge als Funktion von<br />
Konzentration, Druck, Temperatur, Belichtung, elektrischer Einwirkung,<br />
Katalysatoren usw. beschreibt.―<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 279<br />
Dann formuliert WENZEL den Begriff des chemischen Individuums<br />
bzw. <strong>der</strong> Konstanz <strong>der</strong> chemischen Verbindung: „Daß eine jede<br />
Verbindung <strong>der</strong> Körper eine best<strong>im</strong>mte und unverän<strong>der</strong>lich bleibende<br />
Abmessung haben muß … ist schon an sich klar … Es folgt daher<br />
nothwendig, dass eine jede mögliche Verbindung zweier Körper mit<br />
je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en beständig in dem genausten Verhältnis steht.― Indem er z.<br />
B. „die allemal unverän<strong>der</strong>lich bleibende höchstmögliche Stärke dieses<br />
Saueren, so wie es sich in einem ausgeglühten Tartaro vitriolate (d. h.<br />
Kaliumsulfat) befindet.― bzw. die Schwefelsäuremenge dieses Salzes als<br />
Vergleichsmaß ann<strong>im</strong>mt, best<strong>im</strong>mt er damit die entsprechenden<br />
Mengen o<strong>der</strong> Verbindungsgewichte aller Schwermetalle in ihren<br />
Sulfaten. Er führt die kohlensauren Salze durch Glühen in die „Kalke― (d.<br />
h. Oxyde) über und vergleicht diese quantitativ mit den durch Glühen <strong>der</strong><br />
freien Metalle erhaltenen Kalken usw. ER liefert somit erstmalig<br />
gewichtsanalytisch sehr viele und nach den verschiedenen Methoden<br />
gewonnene [sehr genaue] Zahlenwerte über „das wahre Verhältnis des<br />
Gewichtes von Metall und Säurerest in den „Mittelsalzen― (= Neutralo<strong>der</strong><br />
gesättigte Salze)― (aus: Paul WALDEN: „Drei Jahrtausende<br />
Chemie― (1944) und „Geschichte <strong>der</strong> Chemie― (1947). Wenden wir uns<br />
jetzt dem an<strong>der</strong>en großen Wegbereiter zu:<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
8.12 Jeremias Benjamin RICHTER, 1762-1807<br />
„Gott hat Alles nach Maß, Zahl und Gewicht<br />
geordnet― (Buch <strong>der</strong> Weisheit, Kap. 11)<br />
Motto von J. Benj. RICHTERs<br />
„Stöchyometrie― 1792.<br />
„Jeremias Benjamin RICHTER wurde am 10. März 1762 zu Hirschberg<br />
in Schlesien als Sohn eines Kaufmannes geboren. Über seine Eltern<br />
und seine ersten Jungendjahre ist Näheres nicht bekannt. Mit 13 Jahren<br />
siedelte er zu seinem Onkel, dem Stadtbaumeister RICHTER in Breslau<br />
über, wo er vielleicht Anregungen zur Entwicklung seiner<br />
mathematischen Neigungen erhielt, da er dort das Baufach erlernte.<br />
Wohl aus äußeren Gründen trat er mit 16 Jahren in das Ingenieurkorps<br />
ein, erfüllte aber seine militärischen Verpflichtungen so unvollkommen,<br />
daß er 16mal von <strong>der</strong> Beför<strong>der</strong>ung zurückgesetzt wurde und nach 7<br />
Jahren austrat. Die Ursache dieser Vernachlässigung des äußeren<br />
Berufs war, daß er seinen inneren Beruf entdeckt hatte nämlich die<br />
Chemie. Ohne alle Anleitung von an<strong>der</strong>er Seite erwarb er sich durch das<br />
Studium von Lehrbüchern eine sehr vollständige Kenntnis dieser<br />
Wissenschaft. Im Jahre 1785 verließ er Breslau und siedelte nach<br />
Königsberg über, wo er an <strong>der</strong> Universität Vorlesungen hörte, allerdings<br />
keine chemischen, die es damals dort kaum gab. (Wilhelm OSTWALD;<br />
in: G. BUGGE: „Das Buch <strong>der</strong> großen Chemiker―, Bd. I, 1929 )<br />
„In Königsberg lehrte ja damals gerade <strong>der</strong> große Immanuel KANT; <strong>im</strong><br />
Jahre 1786 hatte er sein Werk „Metaphysische Anfangsgründe <strong>der</strong><br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 280<br />
Naturwissenschaft― herausgegeben und dort folgende These aufgestellt:<br />
„Ich behaupte aber, daß in je<strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Naturlehre nur so viel<br />
eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin<br />
Mathematik anzutreffen ist … so kann Chemie nichts mehr als<br />
systematische Kunst o<strong>der</strong> Exper<strong>im</strong>entallehre, niemals aber eigentliche<br />
Wissenschaft werden, weil die Prinzipien <strong>der</strong>selben bloß empirisch …<br />
(und) <strong>der</strong> Anwendung <strong>der</strong> Mathematik unfähig sind.―<br />
Gleichsam als Wi<strong>der</strong>legung dieser Auffassung KANTs und als Auftakt<br />
zur Begründung einer „Chemie als Wissenschaft― stellte <strong>im</strong> Jahre 1789<br />
J. B. RICHTER seine Doktordissertation <strong>der</strong> Königsberger<br />
Philosophischen Fakultät vor, sie trägt den Titel „De usu Matheseos in<br />
Chemia― (1789). Der 27jährige Doktor muß sich aber nach<br />
Subsistenzmitteln umsehen, kehrt nach Schlesien zurück und findet eine<br />
Aufnahme <strong>im</strong> Hause des Erbherrn von Groß-Obertschirnau (östlich von<br />
Glogau). Daselbst errichtet er sich ein bescheidenes Laboratorium, das<br />
zugleich eine Werkstatt sein muß, denn er verfertigt eigenhändig und<br />
verkauft genaue Aräometer (und Alkoholometer, erledigt (als „Zivil-<br />
Ingenieur―) „auswärtige mathematische Geschäfte, namentlich<br />
Vermessungen und Assistenzen in streitigen Fällen, beson<strong>der</strong>s<br />
hydraulische Angelegenheiten,― gleichzeitig arbeitet er aber auch<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 281<br />
chemisch , und zwar führt er quantitative Analysen von Salzen aus,<br />
indem er die best<strong>im</strong>mten Mengen je einer Base und je einer Säure<br />
feststellt, die sich gegenseitig sättigen (neutralisieren). Er ist mittlerweile<br />
30 Jahre alt geworden und hat sich vergebens um staatliche Anstellung<br />
bemüht, wohl fand er einen väterlichen Gönner in dem damaligen<br />
Gehe<strong>im</strong>en Finanz- und Ober-Bergrat Grafen von RHEDEN, dem<br />
Erwecker <strong>der</strong> schlesischen Industrie (<strong>der</strong> 1788 in Tarnowitz die erste<br />
Dampfmaschine auf dem Kontinent in Betrieb setzte und sie 1790<br />
Goethe vorführte). Es handelt sich um die Stelle eines Bergsekretärs<br />
be<strong>im</strong> Breslauer Oberbergamt. … „Selbständig geht J. B. RICHTER vor,<br />
<strong>der</strong> durch sein dreibändiges Werk „Anfangsgründe <strong>der</strong><br />
Stöchyiometrie o<strong>der</strong> Meßkunst chymischer Elemente― (1792-1793)<br />
<strong>der</strong> eigentliche Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> Lehre von den Äquivalent- o<strong>der</strong><br />
Verbindungsgewichten wird.― (zitiert nach Paul WALDEN, wie oben bei<br />
WENZEL). Nach RÖMPPs „Chemie-Lexikon―: „Stöchiometrie (von<br />
griech. stoicheion = Grundstoff , und metron = Maß). Lehre von <strong>der</strong><br />
Aufstellung <strong>der</strong> chemischen Bruttoformel auf Grund von<br />
Analysenergebnissen, <strong>der</strong> mathematischen Berechnung und <strong>der</strong><br />
Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Stoffeigenschaften bei Än<strong>der</strong>ungen ihrer qualitativen<br />
und quantitativen Zusammensetzungen. Man braucht hierbei am<br />
häufigsten Dreisatzrechnungen und Proportionen.― Seinen<br />
umfangreichen analytischen Best<strong>im</strong>mungen legt RICHTER bewußt die<br />
chemische Umsetzungen zwischen den Neutral-(Mittel-) Salzen zu<br />
Grunde, ganz analog wie auch schon WENZEL. Nach Bewerbungen<br />
und entsprechen<strong>der</strong> Wartezeit erfolgt 1794 aus Berlin die Antwort, daß<br />
eine Anstellung erst nach einem Jahre als Probe erfolgen könnte, wobei<br />
ihm täglich ein Taler Diäten ausbezahlt werden soll. Im Jahre 1795 wird<br />
er auf Probe mit dem Charakter Bergsekretär, <strong>im</strong> Jahre 1796 definitiv<br />
engagiert, 1797 wird ihm die Stelle des „zweiten Arkanisten und<br />
Officianten <strong>im</strong> Farbenlaboratorium <strong>der</strong> Königlichen Porzellanfabrik in<br />
Berlin― angetragen, seit 1798 ist nun Berlin sein Wohnort, 1801 erhält er<br />
dort die Nebenstelle als „Assessor cum voto bei <strong>der</strong> Bergwerks- und<br />
Hüttenadministration,― jedoch unter <strong>der</strong> Bedingung, daß er die<br />
Geschäfte des Nebenamtes nur früh und abends erledigen dürfe, damit<br />
die Hauptarbeit für die Porzellanmanufaktur, sowie die Anlernung junger<br />
Leute nicht gekürzt werde. Dies war die bescheidene Karriere des<br />
großen chemischen Autodidakten, <strong>der</strong> stets in bedrängten Verhältnissen<br />
lebte, tagsüber seinen Beamtenpflichten nachkam, nachts seine<br />
Analysen, Berechnungen, seine umfangreichen literarischen Arbeiten<br />
ausführte und eigenhändig (auch in Berlin) seine Aräometer und<br />
Alkoholometer auf Bestellung weiter verfertigte; vorzeitig erschöpft, starb<br />
er <strong>im</strong> 45. Lebensjahr (1807), 10 Jahre jünger als Carl Friedrich<br />
WENZEL.<br />
Von den zahlreichen Versuchsergebnissen gleicher chemischer<br />
Reaktionen, die sowohl WENZEL als auch RICHTER veröffentlicht hat,<br />
waren die quantitativen Meßergebnisse des älteren WENZEL meist<br />
<strong>im</strong>mer etwas genauer. „Es darf nicht vergessen werden, daß WENZEL<br />
gerade dann starb (1793), als RICHTER seine „Stöchyometrie― mit<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 282<br />
quantitativen Analysenergebnissen herausgab (1792/94), ein<br />
Geltendmachen seiner Messungen gegenüber den Untersuchungen<br />
RICHTERs blieb daher lei<strong>der</strong> aus, RICHTER seinerseits unterläßt in<br />
auffälliger Weise den naheliegenden Vergleich.― (Paul WALDEN; in:<br />
„Maß, Zahl und Gewicht in <strong>der</strong> Chemie <strong>der</strong> Vergangenheit" (1931).<br />
„Im Voranstehenden haben wir die Entstehung und das Wachstum<br />
des jungen wissenschaftlichen Baumes „Chemie“ vom 16. bis 18.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t verfolgt; nicht <strong>im</strong>mer erfreute er sich eines guten<br />
Nährbodens, denn oft wurde durch die Ungunst des historischen<br />
Geschehens dieser Boden verwüstet. Doch <strong>der</strong> chemische Baum<br />
hatte gesunde Wurzeln und gedieh zusehends.“ (P. WALDEN).<br />
FRIEDRICH <strong>der</strong> Große erhob Preußen zur selbständigen Macht,<br />
för<strong>der</strong>te bewußt die Wissenschaften und machte neue Gewerbe und<br />
chemische Betriebe in seinem Staate he<strong>im</strong>isch. Es ist an dieser Stelle<br />
vielleicht angebracht, noch einen kurzen Rückblick auf die berühmtesten<br />
alchemistischen Laboratorien und ihre Erkenntnisse zu werfen, die<br />
parallel mit den geschil<strong>der</strong>ten Entdeckungen <strong>der</strong> geschil<strong>der</strong>ten Pioniere<br />
<strong>der</strong> neuen, mo<strong>der</strong>nen Chemie verliefen; und zwar wie<strong>der</strong> zitiert nach P.<br />
WALDEN.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
8.13 Berühmte alchemistische Laboratorien<br />
„Die Zahl dieser alchemistischen Laboratorien an Fürstenhöfen war<br />
groß. Als Beispiel nennen wir die folgenden: Im 15. Jahrhun<strong>der</strong>t tritt uns<br />
ein solches auf <strong>der</strong> Plassenburg bei Kulmbach entgegen, wo <strong>der</strong><br />
Markgraf JOHANNES von Brandenburg mit dem Beinamen <strong>der</strong><br />
„Alchemist― laborierte. Im 16. Jahrhun<strong>der</strong>t (um 1580) waren berühmt das<br />
„Goldhaus― des Kurfürsten August von SACHSEN in Dresden und das<br />
Laboratorium seiner Gemahlin ANNA <strong>im</strong> Fasanengarten zu Annaberg;<br />
ferner das Laboratorium des Kaisers RUDOLF II. in Prag, <strong>der</strong> einen<br />
großen Teil seiner <strong>Zeit</strong> <strong>im</strong> Laboratorium zugebracht hat. Dann das für<br />
THURNEYSSER <strong>im</strong> grauen Kloster zu Berlin eingerichtete<br />
Laboratorium.<br />
Von diesen „Goldhäusern― sind die Laboratorien zu unterscheiden, die<br />
an mehreren kleinen Fürstenhöfen bestanden und den als „Hofmeister<br />
und Leibmedicus― tätigen Iatrochemikern für die Bereitung <strong>der</strong><br />
chemischen Medikamente dienten, so z. B. das Laboratorium des<br />
Herzogs von MECKLENBURG-GÜSTROW <strong>im</strong> Güstrower Schloß, wo<br />
ANGELUS SALA seit 16215 wirkte, um zwischendurch (1628) durch den<br />
großen WALLENSTEIN als Schloßherrn abgelöst zu werden.<br />
Im 17. Jahrhun<strong>der</strong>t bestand ein hochberühmtes Laboratorium in<br />
Gottorp von Herzog FRIEDRICH von HOLSTEIN-GOTTORP (um 1648),<br />
sowie in Kopenhagen, wo um 1660 mehrere Laboratorien vorhanden<br />
waren (auf Rosenborg, <strong>im</strong> Residenzgarten und bei Nyebo<strong>der</strong>), ferner in<br />
Rom auf <strong>der</strong> Engelsburg. Die Rezepte dieser Laboratorien pflanzten sich<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 283<br />
durch Generationen fort bzw. fanden trotz aller Gehe<strong>im</strong>haltung eine<br />
Verbreitung unter den Adepten. So führte z. B. um 1680 J. J. BECHER<br />
zwanzig solcher zeitgenössischen und früheren Laboratorien auf, aus<br />
denen er seine Angaben entnommen habe. Um das Jahr 1670 kam<br />
Johann KUNCKEL nach Dresden, wurde dort vom Kurfürsten Johann<br />
Georg II. von SACHSEN als „Gehe<strong>im</strong>er Kammerdiener― angestellt und<br />
als solcher auch „Director über das (etwa 100jährige) fürstliche<br />
Laboratorium―; er gibt eine Schil<strong>der</strong>ung des ehemaligen Laboratoriums<br />
<strong>der</strong> „Mutter Anna― von einer Größe und Ausstattung, „dass es zu<br />
verwun<strong>der</strong>n ist, wie dann <strong>der</strong>gleichen Laboratorium in gantz Europa<br />
nicht zu finden … die Kosten, die diese Churfürstin (ANNA) angewandt,<br />
sind verwun<strong>der</strong>ungswürdig.― Mit dem Goldmachen erging es KUNCKEL<br />
in Dresden so, wie es ihm seinerzeit <strong>der</strong> herzog von LAUENBURG<br />
gestanden hatte: „daß man es machen kann, weiß ich wohl, wie man es<br />
aber macht, weiß ich nicht.― Die Hofbeamten in Dresden wurden in<br />
Dresden wurden wegen <strong>der</strong> Kostspieligkeit <strong>der</strong> ergebnislosen Versuche<br />
mißtrauisch und sprachen: „Könne er Gold machen, dann brauchte er<br />
kein Geld, könne er solches aber nicht, wozu solle man ihm dann Geld<br />
geben?― KUNCKEL zog daraus die Folgen und gab diesen Dienst etwa<br />
1676 auf. Im Jahre 1678 übern<strong>im</strong>mt er in Diensten des Kurfürsten<br />
Friedrich Wilhelm I. von BRANDENBURG („Soldatenkönig―) die Leitung<br />
<strong>der</strong> Glashütte in Potsdam auf <strong>der</strong> Pfaueninsel, wo er auch sein<br />
Laboratorium hatte und nun <strong>der</strong> erfin<strong>der</strong>ische Fabrikant von Kristallglas<br />
wurde, damit kehrte er als <strong>der</strong> Glasmachersohn zurück zu dem Gewerbe<br />
seiner Ahnen und hat das Rubinglas erfunden.― Schon sein Urgroßvater<br />
Conz KUNCKEL war um 1550 Glashüttenmeister zu Wendebach in<br />
Hessen. Johann KUNCKELs Ahnen und Lübecker Verwandten wurden<br />
sehr gut durch den bekannten Genealogen Dr. Heinrich BANNIZA von<br />
BAZAN erforscht (in: „Genealogie u. Heraldik― (1951) Heft 1/2, S.8-10).<br />
Durch diese Forschungen konnten Ahnengemeinschaften zu den<br />
Familien MÜNTER und BÖCKMANN festgestellt werden, z. B. zu:<br />
Balthasar MÜNTER, 1735-1793, Kirchenlie<strong>der</strong>dichter; Friedrich Christian<br />
MÜNTER, 1761-1850, Dr. theol., Bischof von Seeland und Frie<strong>der</strong>ike<br />
MÜNTER vermählte BRUN, 1765-1835, bekannte Schriftstellerin sowie<br />
zu Johann Lorenz BÖCKMANN, 1741-1802, Gehe<strong>im</strong>er Hofrat,<br />
Naturforscher, Professor <strong>der</strong> Mathematik und Physik zu Karlsruhe, auch<br />
dessen Sohn Karl Wilhelm, 1773-1821, Professor für Physik und<br />
Chemie in Karlsruhe wurde durch zahlreiche naturkundliche<br />
Veröffentlichungen bekannt.<br />
Auch Johann KUNCKEL äußert sich um 1690 in seinem „Laboratorium<br />
Chymicum―, (Neuausgabe 1722) best<strong>im</strong>mt und drastisch gegen das Nur-<br />
Spekulative <strong>der</strong> Tradition: „Dass man aber was vorbringet: dieses sagt<br />
ARISTOTELES, PLINIUS, THEOPHRASTUS, BASILIUS, HELMONT<br />
etc. und ich soll deswegen annehmen, als wann es Evangelia wären,<br />
das achte ich eine Thorheit zu seyn, massen die Authorität, Alter und<br />
Vermögen mir kein Ding glauben macht, wo nicht Exper<strong>im</strong>enta und<br />
Rationes dabey seyn …―.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 284<br />
8.14 Die Erfindung des Porzellans<br />
„In Dresden führten die Versuche zur „Goldmacherei― letztlich zur<br />
Begründung eines neuen Zweiges <strong>der</strong> anorganischen Großindustrie: <strong>der</strong><br />
Porzellanfabrikation. Jahrtausende waren wohl erfor<strong>der</strong>lich gewesen, bis<br />
<strong>der</strong> erfin<strong>der</strong>ische Menschengeist in Ostasien von dem in <strong>der</strong> Sonne<br />
getrockneten Lehmziegeln bis zu dem in <strong>der</strong> Ofenglut gebrannten<br />
Porzellan fortgeschritten war. Wenige Jahrzehnte genügten, um den<br />
erfin<strong>der</strong>ischen Menschen des Abendlandes zu <strong>der</strong> Darstellung des<br />
Porzellans zu bringen. Ansätze zu dieser Erfindung waren schon durch<br />
KUNCKEL gemacht worden, <strong>der</strong> in seiner „ars vitraria― (1679)<br />
Vorschriften für die Bereitung des „schönen Porcellein-Glases“ gibt,<br />
wobei die Trübung <strong>der</strong> Glasmasse durch Zusatz von Kreide bzw.<br />
gebrannten Knochen o<strong>der</strong> Hirschhorn erreicht wird; auch J. J. BECHER<br />
empfiehlt (16829 die Herstellung eines porzellanähnlichen Opalglases<br />
mit Hilfe von Knochenasche, und seit 1695 wurde in Frankreich ein<br />
ähnlich zusammengesetztes Frittenporzellan fabriziert.<br />
Gegen Ende des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts lebte und exper<strong>im</strong>entierte in<br />
Sachsen <strong>der</strong> bekannte [LEIBNIZ-Freund] Naturforscher [und<br />
Mathematiker] Ehrenfried Walter Graf von TSCHIRNHAUS, 1651-<br />
1708; beson<strong>der</strong>e Beachtung riefen seine Versuche mit Brennspiegeln<br />
hervor, die er in den von ihm errichteten Glashütten und Schleifmühlen<br />
in Sachsen herstellen ließ und zu Schmelzversuchen an Metallen,<br />
Ziegeln und Erden benutzte. Um hohe Schmelztemperaturen durch<br />
Sonnenstrahlen zu erzeugen, hatte schon PARACELSUS Brenngläser<br />
benutzt. Als <strong>der</strong> prachtliebende Kurfürst August <strong>der</strong> Starke von<br />
SACHSEN auch seine Vorliebe den kostbaren chinesischen<br />
Porzellangefäßen zuwandte, übertrug <strong>der</strong> ideenreiche von<br />
TSCHIRNHAUS seine Erfahrungen mit den Gläsern und Erdschmelzen<br />
auch auf die Herstellung des Porzellans: schon 1701 konnte er während<br />
eines Aufenthaltes in Paris dem französischen Chemiker Wilhelm<br />
HOMBERG die vertrauliche Mitteilung von <strong>der</strong> Entdeckung eines<br />
Gehe<strong>im</strong>nisses, d. h. <strong>der</strong> Porzellanherstellung machen, das ebenso<br />
wichtig sei, wie dasjenige <strong>der</strong> Herstellung seiner großen Linsengläser.<br />
Während nun von TSCHIRNHAUS seine Versuche fortführte (Belege:<br />
fünf kleine Krüge sollen in <strong>der</strong> Dresdner Gefäßsammlung bewahrt<br />
werden), trat 1701 in den Interessenkreis des sächsischen Hofes die<br />
vielumstrittene Gestalt des Apothekergehilfen und vermeintlichen<br />
Goldmachers Johann Friedrich BÖTTGER, 1682-1719, <strong>der</strong> aus Berlin<br />
flüchtend <strong>im</strong> Dresdner „Goldhause― landete, um dort unter Bewachung<br />
seine Transmutationen zu verwirklichen; auch die gesicherten<br />
Aufenthalte auf <strong>der</strong> Albrechtsburg bei Meißen und auf <strong>der</strong> Festung<br />
Königstein brachten kein Gold hervor. Da griff von von TSCHIRNHAUS<br />
ein, <strong>der</strong> den verängstigten Adepten zu praktischen Versuchen anleitete,<br />
d. h. demselben die Anregung zu Versuchen über die<br />
Porzellanbereitung unter seiner Leitung gab (1707). Aus diesen von<br />
TSCHIRNHAUS als Fachmann inspirierten Schmelzversuchen ging um<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 285<br />
das Jahr 1708 das erste braunrote Porzellan hervor. Darüber starb nun<br />
(<strong>im</strong> Oktober 1708) TSCHIRNHAUS, <strong>der</strong> nach den Aufzeichnungen von<br />
BEIREIS, 1730-1808, kurz vor seinem Tode das große Gehe<strong>im</strong>nis <strong>der</strong><br />
Darstellung BÖTTGER mitgeteilt haben soll. Nachdem nun ein<br />
Hammerschmied Johann SCHNORR das „mineralische Pu<strong>der</strong>mehl― von<br />
Aue bei Schneeberg, d. h. reines Kaolin o<strong>der</strong> Porzellanerde, entdeckt<br />
hatte und dieses als Ersatz für den teureren Weizenmehlpu<strong>der</strong> [als<br />
Perückenpu<strong>der</strong>] auch in die Hände des perückengeschmückten<br />
BÖTTGER gelangt war, wurde <strong>der</strong> eisenhaltige Ton durch Kaolin ersetzt<br />
und nun erstmalig weißes Porzellan erhalten (1709): BÖTTGER trat<br />
nunmehr als <strong>der</strong> Erfin<strong>der</strong> dieses Porzellans bzw. des Porzellans<br />
überhaupt auf. Beachtet man die Rolle von TSCHIRNHAUS als die des<br />
naturkundigen und in den Schmelzversuchen erfahrenen Mentors, dem<br />
<strong>der</strong> wenig geschulte Apothekergehilfe BÖTTGER als Schüler zur Seite<br />
stand, so erscheint es selbstverständlich, daß dem ersteren die Idee und<br />
die systematisch-fachmännischen Vorarbeiten zur Porzellanherstellung<br />
gehören, wobei die Rolle des ausführenden Organs BÖTTGER zufiel;<br />
daß bei Ersatz des eisenhaltigen Kaolins durch weißes die Gewinnung<br />
des weißen Porzellans glückte, verringert wohl nicht das Gewicht <strong>der</strong><br />
Pionierarbeit von TSCHIRNHAUS, <strong>der</strong> überhaupt zur Gewinnung des<br />
(wenn auch braunen) Porzellans vorgedrungen war. Die berühmte<br />
Mutterzelle, die Meißner Porzellanmanufaktur, wurde 1710<br />
eingerichtet; es folgten Wien 1718, Höchst a. Rh. 1740, Berlin 1750,<br />
Nymphenburg 1758 usw.<br />
Zusammenfassend können wir von den Entdeckungen und<br />
Erfindungen sagen: es waren nicht die Goldmacher-Alchemisten, die<br />
das Goldrubinglas, das Berlinerblau und das Porzellan entdeckten: das<br />
Rubinglas entdeckte <strong>der</strong> geschickte Glaskünstler KUNCKEL, das<br />
Berlinerblau entdeckte <strong>der</strong> praktische Farbenkünstler DIESBACH, <strong>der</strong><br />
Cochenille-Lack bereiten will und zu dessen Fällung unreines Alkali<br />
verwendet, das <strong>der</strong> Berliner Hofalchemist Johann Conrad DIPPEL, ein<br />
ehemaliger Theologe und Mediziner bei Versuchen zur Reindarstellung<br />
des „Knochenöls― als verunreinigt beiseitelegte. Das weiße Porzellan<br />
entdeckte <strong>der</strong> Apothekergehilfe (nicht <strong>der</strong> Alchemist!) Böttger als Mitund<br />
Nacharbeiter des gelehrten von TSCHIRNHAUS, indem er, von<br />
dessen braunen Porzellan ausgehend, durch Verwendung weißen<br />
Kaolins zu weißem Porzellan gelangte. Es war wohl nur <strong>der</strong><br />
Goldmachert BRAND, <strong>der</strong> von alchemistischen Schriften angeregt, den<br />
Urin als Ausgangsmaterial wählte und zum Phosphor gelangte. Dann<br />
war es aber <strong>der</strong> praktische Chemiker KUNCKEL, <strong>der</strong> sogleich ihn „klar<br />
wie Crystall― zu bereiten verstand.― (nach Paul WALDEN).<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
8.15 Chemie erobert die Universitäten – Goethe als<br />
För<strong>der</strong>er <strong>der</strong> Chemie in Jena<br />
Bei <strong>der</strong> weiteren Entwicklung des Chemie-Stammbaumes ins neue<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t vertrauen wir uns hier wie<strong>der</strong> dem sachkundischen<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 286<br />
Chemiker und Chemie-Historiker Paul WALDEN an (aus: P. WALDEN:<br />
„Chronologische Übersichtstabellen zur Geschichte <strong>der</strong> Chemie von den<br />
ältesten <strong>Zeit</strong>en bis zur Gegenwart― , 1952)<br />
„Die Chemie des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts verdankt ihre beson<strong>der</strong>e<br />
Entwicklung – neben <strong>der</strong> Übernahme physikalischer Denkmittel und<br />
<strong>der</strong> durch Exper<strong>im</strong>ente geprüften eigenen Theorie – auch <strong>der</strong><br />
Neugestaltung des chemischen Unterrichts überhaupt. Dieses setzte<br />
aber voraus eine Neuordnung <strong>der</strong> Chemie <strong>im</strong> Lehrplan <strong>der</strong> Hochschulen<br />
bzw. ihre Verselbständigung als wissenschaftliche Disziplin in den<br />
Philosophischen Fakultäten. Es war ja so, wie LIEBIG es (1840)<br />
rückschauend geschil<strong>der</strong>t hat. „Die Chemie war die Dienerin des Arztes,<br />
dem sie Purganzen und Brechmittel bereitete; eingepfropft in die<br />
medizinischen Fakultäten, konnte sie nicht zur Selbständigkeit gelangen.<br />
Nur notdürftig lernte sie <strong>der</strong> Mediziner kennen, außer ihm und dem<br />
Pharmazeuten existierte sie nicht.―<br />
Justus von LIEBIGs autobiographischer Rückblick entspricht allerdings<br />
nicht den Tatsachen wenn er schreibt: „Chemische Laboratorien, in<br />
welchen Unterricht in <strong>der</strong> Analyse erteilt wurde, bestanden damals in<br />
Deutschland nirgendwo; was man so nannte, waren eher Küchen,<br />
angefüllt mit allerlei Öfen und Geräten zur Ausführung metallurgischer<br />
o<strong>der</strong> pharmazeutischer Prozesse. Niemand verstand die Analysen zu<br />
lehren.― Alexan<strong>der</strong> GUTBIER, Prof. <strong>der</strong> Chemie in Jena schreibt dazu in<br />
seinem Buch: ―Goethe, Großherzog Carl August und die Chemie in<br />
Jena― (1926): ―LIEBIGs Urteil ist herb und ungerechtfertigt. Ohne Zweifel<br />
strahlte später von LIEBIGs Laboratorium in Gießen das hellste Licht<br />
aus. Daß aber vordem „in <strong>der</strong> Chemie eine recht elende <strong>Zeit</strong> in<br />
Deutschland und <strong>der</strong> Exper<strong>im</strong>entalunterricht auf den deutschen<br />
Universitäten beinahe untergegangen gewesen sei, ist Legende. LIEBIG<br />
… ahnte nicht, daß damals in Jena Johann Wolfgang DÖBEREINER,<br />
<strong>der</strong> geniale Exper<strong>im</strong>entator, in Göttingen Friedrich STROMEYER, <strong>der</strong><br />
Lehrer unseres unsterblichen Robert Wilhelm BUNSEN, wirkte, und<br />
hatte nicht gehört, daß beson<strong>der</strong>s in Jena schon seit 1789 für den<br />
chemischen Unterricht ausgezeichnet gesorgt war―; nämlich bereits<br />
durch Johann Friedrich August GÖTTLING, auf dessen Biographie<br />
und chemische Leistungen wir nach einem kurzen chemie-historischen<br />
Rückblick gleich noch kurz eingehen werden.<br />
Bereits mehr als 100 Jahren vorher, <strong>im</strong> Jahre 1683, wurde sogar das<br />
allererste chemische Unterrichtslaboratorium an einer Universität<br />
überhaupt erbaut; und zwar in Altdorf bei Nürnberg, 16 Jahre nach <strong>der</strong><br />
berühmten Altdorfer Promotion von LEIBNIZ <strong>im</strong> Jahre 1667 an dieser<br />
Universität.<br />
„Die Emanzipation <strong>der</strong> Chemie bedeutete in organisatorischer<br />
Hinsicht einen Bruch mit <strong>der</strong> traditionsgefestigten akademischen<br />
Ordnung; und dem geistigen Wesen nach war sie eine schroffe Absage<br />
an PARACELSUS, <strong>der</strong> um 1530 die Chemie „zur Bereitung <strong>der</strong> Arkana―<br />
best<strong>im</strong>mt hatte. Die Chemie sollte jetzt fernerhin in freier Forschung<br />
sich zur selbständigen exakten Wissenschaft emporarbeiten. Diese<br />
Revolution <strong>der</strong> Chemie auf akademischen Boden begann <strong>im</strong> Jahre<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 287<br />
1789, als <strong>der</strong> Staatsminister, Dichter und Naturforscher GOETHE, ohne<br />
die Fakultäten zu befragen, an <strong>der</strong> Universität Jena den Apotheker<br />
Johann Friedrich August GÖTTLING direkt zum Professor <strong>der</strong><br />
Chemie in <strong>der</strong> Philosophischen Fakultät ernannte, [auf den<br />
allerersten Universitäts-Lehrstuhl in Deutschland überhaupt, <strong>der</strong> durch<br />
einen Chemiker besetzt worden war!]. Und diese Revolution setzte sich<br />
beson<strong>der</strong>s wirkungsvoll [geradezu „explosionsartig― erst eine Generation<br />
später!] <strong>im</strong> Jahre 1824 fort; und zwar mit <strong>der</strong> Ernennung des 21jährigen<br />
Dr. phil. Justus LIEBIG zum „Professor <strong>der</strong> Philosophie― mit dem<br />
Lehrauftrag für Chemie in <strong>der</strong> Philosophischen Fakultät Gießen, auch<br />
hier wie<strong>der</strong> unter dem Bruch <strong>der</strong> „generellen― historischen Zuordnung<br />
<strong>der</strong> Chemie zur Medizin! Der Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Universität und<br />
Professorenschaft gegen den jugendlichen Eindringling LIEBIG (<strong>der</strong><br />
nicht einmal das Gymnasium beendet hatte) war durchaus ungekünstelt,<br />
und LIEBIG selbst schrieb <strong>im</strong> September 1824 seinem Freunde A.<br />
WALLOTH: „Meine Anstellung in Gießen war den meisten Professoren<br />
ein Greuel.―<br />
Doch hier eine Generation zurück: Zum wun<strong>der</strong>samen kleinen<br />
Apothekerjüngling GÖTTLING, dem ersten wirklichen Chemiker auf<br />
einem deutschen Hochschullehrstuhl.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
8.16 Johann Friedrich August GÖTTLING, 1753-1809<br />
Aus: Alexan<strong>der</strong> GUTBIER: „Goethe, Großherzog Carl August und die<br />
Chemie in Jena― (1926) entnehmen wir wie<strong>der</strong>: „GÖTTLING, als Sohn<br />
eines Predigers am 5. Juni 1753 zu Derenburg [bei Halberstadt]<br />
geboren, mußte als fünfjähriger Knabe verwaist, bei Verwandten in<br />
Halberstadt eine freudlose, harte Jugend durchhungern und wurde kaum<br />
14 Jahre alt, gegen seinen Wunsch in WIEGLEBs Apotheke in<br />
Langensalza als Lehrling untergebracht. [Johann Christian WIEGLEB,<br />
1732-1800 war ein bedeuten<strong>der</strong> Apotheker und Phlogistiker, in dessen<br />
Apothekerlaboratorium eine zentrale Ausbildungsstätte für Apotheker<br />
und Chemiker entstand]. Nach und nach mit dem aufgezwungenen<br />
Beruf sich aussöhnend, erwarb er sich unter unbeschreiblich<br />
ungünstigen Umständen, unermüdlich Nacht für Nacht durcharbeitend,<br />
gute Kenntnisse [fünf Jahre bleib er in Langensalza], die er dann als<br />
Gehilfe in verschiedenen an<strong>der</strong>en Städten [zuletzt in Neustadt an <strong>der</strong><br />
Orla] verwerten konnte. Die Stunde seines Glücks schlug, als er <strong>im</strong><br />
Jahre 1774 in eine We<strong>im</strong>arer Apotheke eintrat. [Diese Apotheke gehörte<br />
dem eifrig und erfolgreich wirkenden Hofapotheker und Bergrat Dr. med.<br />
Wilhelm Heinrich Sebastian BUCHOLTZ, 1734-1798, ab 1777 auch<br />
Hofmedicus. BUCHOLTZ war als angesehener Naturwissenschaftler<br />
auch Goethes Mentor und Berater in botanischen und chemischen<br />
Fragen (Goethe: Geschichte meiner botanischen Studien) und später<br />
(1791) auch Gründungsmitglied <strong>der</strong> von Goethe und Großherzog CARL<br />
AUGUST geschaffenen sog. We<strong>im</strong>arer „Freitagsgesellschaft―, einer<br />
gelehrten Gesellschaft mit Vorträgen von BERTUCH, BODE,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 288<br />
BUCHOLZ, HERDER, KNEBEL, WIELAND und C. G. VOIGT. Bei<br />
BUCHOLZ war GÖTTLING Provisor (Verwalter entsprechend dem<br />
Prokuristen o<strong>der</strong> Handlungsgehilfen)] Unter <strong>der</strong> verständigen Anleitung<br />
des gütigen BUCHOLTZ erweiterte und vertiefte GÖTTLING Wissen und<br />
Können, wurde er zum sicher exper<strong>im</strong>entierenden und scharf und<br />
logisch denkenden Chemiker und begann er, obwohl Hochschulbildung<br />
ihm ja noch vollkommen mangelte, [chemie-]literarisch sich zu betätigen.<br />
Alle seine Jugendwerke und Ergebnisse seiner exper<strong>im</strong>entellen<br />
Forschungen wurden von den Fachgenossen beifällig aufgenommen;<br />
aber weit wertvoller und für seine Zukunft ausschlaggebend war, daß<br />
GÖTTLING durch seine Teilnahme an BUCHOLTZ’s Untersuchungen<br />
und Vorträgen mit Goethe, dann auch mit CARL AUGUST in Verbindung<br />
trat. Sehr bald wurde dem jungen „Scheidekünstler― die Ehre zuteil,<br />
Versuche anstellen und selbst erläutern zu dürfen, über die Goethe o<strong>der</strong><br />
auch dann und wann <strong>der</strong> Herzog orientiert zu werden wünschten.<br />
Unbefangen und mit soviel Eifer und Geschick entledigte sich<br />
GÖTTLING <strong>der</strong> gestellten Aufgabe, daß BUCHOLTZ ihm versprach, das<br />
Geld zum Aufkauf einer etwa frei werdenden Apotheke vorschießen zu<br />
wollen, und daß die beiden Hörer <strong>der</strong> Vorträge sehr ernstlich darüber<br />
nachdachten, auf welche Weise wohl <strong>der</strong> „treffliche GÖTTLING―, ein<br />
solch „gebildeter Scheidekünstler (Sophien-Ausg. II, 6, 102) <strong>im</strong> Interesse<br />
des Landes wie seines Fachs am besten geför<strong>der</strong>t und verwertet<br />
werden könnte. Nach mancherlei Hin und Her kam man eines Tags<br />
überein: GÖTTLING sollte sich zunächst noch akademische Bildung<br />
aneignen, sollte dann – das war des weitblickenden Herzogs dringen<strong>der</strong><br />
Wunsch – auf Reisen gehen, um Laboratorien, Fabriken und Apparate<br />
aller Art aus eigener Anschauung kennen zu lernen, und sollte nach<br />
seiner Rückkehr mit einer neu zu gründenden Lehrstelle an <strong>der</strong><br />
Universität Jena betraut werden.<br />
Goethe empfahl den Besuch <strong>der</strong> Universität Göttingen, <strong>der</strong>en<br />
Professoren er <strong>im</strong> Herbst 1783 alle kennen gelernt hatte, und <strong>der</strong><br />
Herzog st<strong>im</strong>mte zu. Nur eine Schwierigkeit war noch zu beseitigen:<br />
Woher das Geld zu <strong>der</strong> Ausbildung und zu den Reisen nehmen?<br />
GÖTTLING hatte als bitterarmer Schuljunge und Lehrling sein Leben<br />
fristen müssen, und auch in <strong>der</strong> sog. guten alten <strong>Zeit</strong> konnte ein Provisor<br />
Reichtümer nicht aufhäufen. Mit Schulden durfte <strong>der</strong> zukünftige<br />
Professor nicht belastet werden, denn bei den Gehältern, die den Jenaer<br />
Professoren gezahlt wurden, war an Rückerstattung geborgten Geldes<br />
nicht zu denken.<br />
Großzügig, wie <strong>im</strong>mer, wenn es galt, einen zum Wohl des Landes<br />
o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Universität sorgsam durchdachten Plan in die Tat umzusetzen,<br />
stellte CARL AUGUST die Mittel – für das Studium jährlich 250 Taler, für<br />
die Reisen insgesamt 725 Taler – zur Verfügung. So lag denn<br />
GÖTTLING in Göttingen (1785-1787) den vorgeschriebenen Studien ob<br />
[wo <strong>der</strong> bekannte Chemiker Johann Friedrich GMELIN, 1748-1804,<br />
gerade erst ein „chemisches Laboratorium mit Professorenwohnung―<br />
erhalten hatte. GÖTTLING hörte in Göttingen Vorlesungen in Chemie,<br />
Naturgeschichte, Botanik, Technologie und Physik. Zwischen<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 289<br />
GÖTTLING und dem bekannten Physiker und Philosophen Georg<br />
LICHTENBERG, 1742-1799, entwickelte sich sogar eine regelrechte<br />
Freundschaft]. GÖTTLING schloß Reisen nach England und nach<br />
Holland (Sommer 1787 – Herbst 1788) an; das waren seine<br />
glücklichsten Jahre. [In Birmingham lernte er auch Joseph PRISTLEY<br />
kennen. GÖTTLING schrieb: „PRISTLEY lebt … ganz einsam zwei<br />
englische Meilen von Birmingham auf dem einen Landhause. Er hat ein<br />
sehr gutes wohl eingerichtetes Laboratorium und vorzüglich einen sehr<br />
guten Apparat zu den Luftarten. Es war mir eine Herzensfreude hier<br />
verschiedene Apparate selbst zu sehen, die ich vorher schon aus seinen<br />
Schriften kannte.―. In <strong>der</strong> Zwischenzeit ließ Goethe ein Z<strong>im</strong>mer als<br />
Laboratorium einrichten, ließ dort den WIEDEBURGschen und<br />
BÜTTNERschen Nachlaß und das vom Herzog um 100 Taler<br />
aufgekaufte Inventar des Bergrats August von EINSIEDEL unterbringen<br />
[„ein genialischer und exotischer, aber unsteter und leichtlebiger<br />
Projektemacher, eine <strong>der</strong> ungewöhnlichsten Persönlichkeiten des<br />
klassisch We<strong>im</strong>ars―]. Goethe ließ alles so vorbereiten, daß GÖTTLING<br />
zu Beginn des Sommersemesters 1789 als außerordentlicher, aus <strong>der</strong><br />
Privatschatulle des Herzogs mit einem jährlichen Gehalt von 300 Talern,<br />
also mit 50 Talern mehr, als <strong>der</strong> Student erhalten hatte, ausgestatteter<br />
Professor <strong>der</strong> Philosophie mit chemischen Vorlesungen beginnen<br />
konnte. Da es ja wohl nicht gut anging, daß ein akademischer Lehrer<br />
den Grad, an dessen Erteilung mitzuwirken er berufen war, selbst nicht<br />
besaß, hatte die Philosophische Fakultät den neuen Kollegen auf<br />
Ansuchen kurz vorher, am 24. Januar 1789, zum Dr. phil. promoviert.<br />
GÖTTLING ist 10 Jahre später zum ordentlichen Honorarprofessor<br />
und nach abermals 10 Jahren zum Ordinarius mit Sitz und St<strong>im</strong>me <strong>im</strong><br />
akademischen Senat beför<strong>der</strong>t worden. Die Einführung in den Senat<br />
erfolgte am 4. Februar 1809, - am 1. September des gleichen Jahres<br />
aber schon schied <strong>der</strong> von seinen Kollegen und Fachgenossen<br />
geschätzte und von seinen Schülern verehrte Mann aus dem Leben.<br />
Sein Sohn Karl Wilhelm hat unsere Universität als Professor <strong>der</strong><br />
Philologie und als Bibliothekar 47 Jahre lang (1822-1869) angehört und<br />
ihr wertvolle Dienste geleistet.<br />
GÖTTLING hat durchaus die Erwartungen erfüllt, die BUCHOLTZ,<br />
CARL AUGUST und Goethe auf ihn gesetzt hatten. Er hat die<br />
analytisch-chemischen Kenntnisse seiner <strong>Zeit</strong> bedeutsam erweitert.― Der<br />
Chemie-Historiker Ferenc SZABADVÁRY schreibt in seiner Geschichte<br />
<strong>der</strong> Analytischen Chemie (1966) S. 170: „Das erste Hochschullehrbuch<br />
für analytische Chemie ist meines Wissens das Buch von GÖTTLING<br />
mit dem Titel „Vollständiges chemisches Probekabinett― (Jena 1790).<br />
GÖTTLING … gründete dort „eine Art eines pharmaceutischen<br />
Institutes―, in dem er neben <strong>der</strong> Vorlesung chemische Untersuchungen<br />
auf feuchtem Wege mit den dafür vorgesehenen Reagenzien anhand<br />
seines Lehrbuches durchführte und mehrfach Praktika abhielt. 1802<br />
wurde bereits eine zweite erweiterte Auflage nötig, die den Titel erhielt:<br />
„Praktische Anleitung zur prüfenden und zerlegenden Chemie― (Jena). In<br />
erster Linie wurde in beiden Werken die Metall- und Erzanalyse<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 290<br />
behandelt.― In einem Buch von Hugo DÖBLING: „Die Chemie in Jena<br />
zur Goethezeit― (1928) zitiert er GÖTTLING wie folgt: „Das Studium <strong>der</strong><br />
Chemie erfor<strong>der</strong>t eine Menge Erfahrungen, womit man vertraut seyn<br />
muß, und wozu man bloß durch Selbstexper<strong>im</strong>entieren gelangen kann.―<br />
GÖTTLING war <strong>der</strong> Auffassung, daß ein je<strong>der</strong> ohne ein großes<br />
Laboratorium, „in jedem Z<strong>im</strong>mer und ohne viele kostspielige Geräthe<br />
eine Menge Exper<strong>im</strong>ente, zur Uebung, Belehrung und nützlichen<br />
Unterhaltung anstellen― könne, und lieferte selbst dazu in seinem<br />
„Vollständigen chemischen Probir-Cabinet zum Handgebrauch für<br />
Scheidekünstler, Ärzte, Mineralogen, Metallurgen, Technologen,<br />
Fabrikanten, Ökonomen und Naturliebhaber“ Kästen, die die<br />
notwendigsten Geräte und Reagenzien enthielten und auf jedem Tisch<br />
aufgestellt werden konnten (aus <strong>der</strong> Vorrede zu seinem „Elementarbuch<br />
<strong>der</strong> chemischen Exper<strong>im</strong>entierkunst. Erster Theil. Jena 1808).―<br />
Es ist wohl reizvoll und lehrreich zugleich, welche chemische<br />
Reagenzien und Zubehör bereits in GÖTTLINGs „Probir-Cabinet“<br />
enthalten waren. Im GÖTTLINGschen Originaltext heißt es dazu:<br />
„Es besteht aus zwey sauber gearbeiteten Kästen, die aber so<br />
zusammengesetzt werden können, daß sie ein bequemes Ganze<br />
ausmachen. Der untere Kasten, auf welchen <strong>der</strong> Obere gesetzt wird,<br />
enthält 14 Gläser und einen Glasmörser. Die Gläser bestehen aus<br />
weißem Glase, sind mit passenden, eingeriebenen Glasstöpseln<br />
versehen, und jedes hat eine gedrukte Aufschrift, die den Inhalt anzeigt<br />
… Im dem oberen Kasten befinden sich, ausser einem Blasrohr aus<br />
Messing, eine kleinen Waage und einem Pistill zum Glasmörser 21<br />
Gläser, mit folgendem Inhalt: 1) Luftleeres vegetabilisches<br />
feuerbeständiges Laugensalz [KOH]. 2) Luftleeres flüchtiges Laugensalz<br />
[NH 3 ]. 3) Bleiauflösung in Salpetersäure [wahrscheinlich Pb(NO 3 ) 2 ]. 4)<br />
Seifenauflösung. 5) Arsenikauflösung. 6) Subl<strong>im</strong>atauflösung in<br />
destilliertem Wasser. 7) Auflösung des Quecksilbers in Salpetersäure in<br />
<strong>der</strong> Wärme bereitet. 8) Auflösung des Quecksilbers in Salpetersäure in<br />
<strong>der</strong> Kälte bereitet. 9) Flüchtige Schwefelleber [H 2 S]. 10) Geistige<br />
Galläpfeltinktur [Lösung eines Tannats bzw. von Tanninsäure in<br />
Ethanol]. 11) In <strong>der</strong> Salzsäure aufgelöste Schwererde [BaCl 2 ]. 12)<br />
Silberauflösung. 13) Zuckersäure [Oxalsäure]. 14) Gereinigter Salmiak.<br />
15) Vitriolsaures Bittersalz [MgSO 4 ]. 16) Kupfersulfat. 17) Kupfersalmiak<br />
[Kupfertetrammin-Lösung]. 18) Quecksilber. 19) Mineralisches<br />
Laugensalz [NaOH]. 20) Kalzinierter Borax [B 2 O 3 ]. 21) Schmelzbares<br />
Urinsalz [Phosphat]. In dem unteren Kasten befinden sich 14 Gläser mit<br />
folgendem Inhalt: 1) Lackmustinktur. 2) Berlinerblaulauge. 3)<br />
Schwefelsäure. 4) Salpetersäure. 5) Salzsäure. 6) Essigsäure. 7)<br />
Flüchtiges luftvolles Laugensalz [(NH 4 ) 2 CO 3 ]. 8) Feuerbeständiges<br />
vegetabilisches luftvolles Laugensalz [K 2 CO 3 ]. 9) Gereinigter Weingeist.<br />
10) Kalkwasser [Ca(OH) 2 ]. 11) Destilliertes Wasser. 12) Kalkleber [CaS].<br />
13) Pulverisierte Weinsteinkristalle. 14) Dr. Hahnemanns Bleiprobe<br />
[Sulfatlösung]. Auf <strong>der</strong> Seite des unteren Kastens ist noch ein kleiner<br />
Schubkasten angebracht, und darin ist befindlich: 1) Lackmuspapier. 2)<br />
Farnambukpapier. 3) Gilbwurzpapier. 4) Lackmuspapier mit Essig<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 291<br />
geröthet. 5) ein kleines Zuckerglas. 6) ein kleiner Glastrichter. 7) Medicin<br />
Gewicht.― (zitiert nach Georg SCHWEDT: „Goethe als Chemiker―<br />
(1998).―<br />
GÖTTLING beschäftigte sich als praktischer Chemiker z. B. auch<br />
eingehend mit Forschungen zur Kristallisation des Zuckers aus<br />
Runkelrüben. Zur Aufbesserung seiner bescheidenen wirtschaftlichen<br />
Verhältnisse – ein Extraordinarius <strong>der</strong> Jensener Universität bekam<br />
damals nur etwa 250 bis 300 Thaler <strong>im</strong> Jahre! – stellte er über einen<br />
längeren <strong>Zeit</strong>raum fabrikatorisch Bleiweiß als Malerfarbe her.<br />
Goethes bekannter Roman „Die Wahlverwandtschaften“ ist ein<br />
klassisches Beispiel, wie Naturwissenschaft und Literatur in ein<br />
fruchtbares Wechselverhältnis treten können. Goethe hat die chemische<br />
Affinitätsfrage (Anziehung) auf die menschlichen Verhältnisse<br />
(Partnerwechsel) übertragen und er fand beson<strong>der</strong>s auch in<br />
GÖTTLINGs praktischen Arbeiten, Schriften und vor allem auch als<br />
Gesprächspartner wertvolle Anregungen, da Goethe seinen Roman<br />
gerade zur <strong>Zeit</strong> <strong>der</strong> Freundschaft mit GÖTTLING wenige Jahre vor<br />
dessen Tod in Jena geschrieben hat. Einige Passagen in diesem<br />
Roman hat Goethe aus GÖTTLINGs Werken wörtlich übernommen. Den<br />
Ausdruck „Wahlverwandtschaft verwendete allerdings bereits 1775 <strong>der</strong><br />
schwedische Chemiker Tobern BERGMANN: ―Wenn zween Stoffe<br />
miteinan<strong>der</strong> vereinigt sind und ein dritter, <strong>der</strong> hinzukömmt, einen<br />
<strong>der</strong>selben aus seiner Verbindung trennt und ihn zu sich n<strong>im</strong>mt, so wird<br />
solches eine einfache Wahlverwandtschaft … genannt.―<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
8.17 Johann Wolfgang DÖBEREINER, 1780-1849<br />
Nachfolgendes wie<strong>der</strong> aus Prof. GUTBIERs oben genanntem Buch:<br />
„GÖTTLINGs Professur war kaum verwaist, da schrieb schon am 3.<br />
September 1809 CARL AUGUST an Goethe: „Wen an GÖTTLINGs<br />
Stelle? Doch einen sehr bedeutenden?―. Das Winterhalbjahr verstrich,<br />
für das Sommersemester 1810 wurde vorübergehend <strong>der</strong><br />
außerordentliche Professor in <strong>der</strong> medizinischen Fakultät Georg<br />
Friedrich Christian FUCHS beauftragt, gegen eine Entschädigung von<br />
40 Talern Vorlesungen über Exper<strong>im</strong>entalchemie zu halten. … Der Fürst<br />
aber wurde unruhig. In einem die Jenaer Universitätsverhältnisse<br />
ziemlich scharf kritisierenden Schreiben mahnte er am 7. Mai 1810<br />
Goethe: „Unser Probe Chymiker ist abmarschirt, diese Stelle also ganz<br />
unbesetzt. … Die Professur <strong>der</strong> Chymie kann nicht länger unbesetzt<br />
bleiben und muß einen würdigen Lehrer bekommen; mehrere sind in<br />
Vorschlag, einer o<strong>der</strong> zwey haben sich angebothen.― Auch das fruchtete<br />
nichts. Da riß dem Herzog die Geduld. Kurz entschlossen wandte er sich<br />
persönlich an Adolph Ferdinand GEHLEN und wünschte für den<br />
Lehrstuhl „einen Mann vorgeschlagen zu haben, <strong>der</strong> zugleich Vertreter<br />
<strong>der</strong> practischen Chemie sein könne― und „Genialität in den<br />
Naturwissenschaften mit practischer Tendenz― vereine. Und <strong>der</strong><br />
Münchener Professor <strong>der</strong> Chemie empfahl warm, allerdings ohne<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 292<br />
Hoffnung auf Erfolg, einen stellungslosen Chemiker, <strong>der</strong> zwar keine<br />
Schule, keine Universität besucht hatte, aber ein Mann <strong>der</strong> Praxis, ein<br />
Mann guter Ideen war. Selten ist einem Fürsten besserer Rat erteilt<br />
worden. In felsenfestem Vertrauen auf GEHLEN griff <strong>der</strong> Herzog ohne<br />
Zögern zu: So ist Johann Wolfgang DÖBEREINER nach Jena<br />
gekommen.<br />
DÖBEREINER, als Sohn eines herrschaftlichen Kutschers am 13.<br />
Dezember 1780 in Hof geboren, verlebte den größten Teil seiner<br />
Jugend auf dem Rittergut Bug bei Münchberg, auf dem sein Vater als<br />
Knecht untergekommen war, und hatte nur den allernotdürftigsten<br />
Schulunterricht genossen, als die Eltern in ehelichen Streit gerieten<br />
darüber, was aus dem aufgeweckten Bauernbub nun eigentlich werden<br />
sollte. Der inzwischen zum Verwalter aufgerückte Vater wünschte, den<br />
Sohn zum Ökonomen auszubilden, zwang ihn zur Betätigung in <strong>der</strong><br />
Landwirtschaft und erreichte nur, daß sein Junge eifrig Botanik betrieb<br />
und in <strong>der</strong> Bierbrauerei und Branntweinbrennerei bald besser Bescheid<br />
wußte, als auf dem Acker. Die mit gesundem Menschenverstand<br />
ausgestattete Mutter [!] wünschte, dem Sohn freie Hand zu lassen,<br />
unterstützte alle seine Neigungen und verhalf, daß ihr Junge he<strong>im</strong>lich,<br />
vom Vater unbehelligt, lernen konnte, was und soviel er lernen wollte. …<br />
Dem häuslichen Frieden zuliebe gab Vater DÖBEREINER seinen<br />
hartnäckigen Wi<strong>der</strong>stand auf.<br />
Johann Wolfgang bekam Privatunterricht be<strong>im</strong> Pfarrer WEIS <strong>im</strong><br />
Nachbardorf, trat 1794 für 3 Jahre in die Apotheke des Dr. LOTZ in<br />
Münchberg als Lehrling ein und verbrachte 5 Jahre als Gehilfe in<br />
Dillenburg, in Karlsruhe i.B. und in Straßburg. In Straßburg trat er, <strong>der</strong><br />
sich den Besuch <strong>der</strong> Universität nicht leisten konnte, in<br />
freundschaftlichen und wissenschaftlichen Verkehr mit BÖCKMANN,<br />
GMELIN, NESTLER und namentlich mit KÖLREUTER. Er hörte<br />
nebenher wenigstens einige naturwissenschaftlichen Vorlesungen und<br />
füllte die Lücken seiner Bildung dadurch aus, daß er eifrig Sprachstudien<br />
trieb und sich auch mit philosophischen Problemen beschäftigte.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 293<br />
Als DÖBEREINER 1802 in das Elternhaus zurückkehrte, war er<br />
Apotheker, und voll Gottvertrauen reichte <strong>im</strong> nächsten Jahre seine<br />
Münchberger Jugendfreundin Klara KNAB ihm, dem kaum 23jährigen,<br />
die Hand zum Lebensbund. Was nun? Geld zum Ankauf einer Apotheke<br />
war nicht vorhanden, auch die erbetene Konzession zur Gründung einer<br />
neuen Apotheke in irgendeiner Stadt o<strong>der</strong> in irgendeinem Dorf wurde<br />
von <strong>der</strong> Regierung versagt. Schwere Jahre nahmen ihren Anfang.<br />
DÖBEREINER erwarb mit dem Wenigen, was das junge Paar sein eigen<br />
nannte, eine Produktenhandlung in dem [fränkischen] Landstädtchen<br />
Gefrees, wo er sogleich eine kleine Fabrik pharmazeutisch-chemischer<br />
Präparate einrichtete und, sobald das nötige Geld verdient wäre, „ein<br />
Erziehungsinstitut für praktische― zu eröffnen gedachte. Kaum begannen<br />
unter seiner zielbewußten Leitung die Geschäfte Gewinn abzuwerfen,<br />
da erinnerte sich (1806) „wohlgesinnte― Mitbürger, daß <strong>der</strong> Fabrikant ja<br />
kein Einhe<strong>im</strong>ischer war. Sie strengten gerichtliche Klage an und<br />
erreichten tatsächlich, daß dem „Fremden― die Handelserlaubnis<br />
entzogen wurde. Zunächst halfen Verwandte. Sie nahmen<br />
DÖBEREINER in Münchberg in einem Baumwollgeschäft auf, wo er die<br />
Chlorbleiche einführte und mancherlei Verbesserungen für die Färberei<br />
ersann. Kaum begannen unter seiner tüchtigen Führung die<br />
neugeschaffenen Abteilungen Einkünfte zu liefern, da zwang 1808 die<br />
Kontinentalsperre, die Betriebe stillzulegen, und <strong>der</strong> technische Leiter<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 294<br />
wurde, wie man heute zu sagen pflegt, abgebaut. Diesmal halfen<br />
Freunde. Sie boten DÖBEREINER Unterkunft auf den Gütern S.<br />
Johannis bei Bayreuth, wo er die gesamte Verwaltung übernahm und<br />
hauptsächlich die Brauerei und Brennerei umgestaltete. Kaum<br />
begannen unter seiner emsigen Betätigung die Erträgnisse <strong>der</strong><br />
herrschaftlichen Besitze zu steigen, da wurden 1810 die Güter verkauft,<br />
und das Personal wurde von dem neuen Eigentümer fristlos entlassen.<br />
Jetzt war guter Rat teuer, denn nun war niemand mehr da, <strong>der</strong> hätte<br />
helfen können. Es blieb DÖBEREINER nichts an<strong>der</strong>es übrig, als zu<br />
versuchen, wie<strong>der</strong> in einer Apotheke als Gehilfe Stellung zu finden. Aber<br />
so viele Bewerbungsschreiben auch abgeschickt wurden, ebenso viele<br />
Absagebriefe trafen ein. Wohl hatte sich DÖBEREINER durch<br />
verschiedene wissenschaftlich wertvolle Veröffentlichungen einen<br />
geachteten Namen als Chemiker erworben, aber er war in <strong>der</strong><br />
Zwischenzeit beinahe 30 Jahre alt geworden und hatte Familie. Konnte<br />
man es den Apothekern verargen, daß sie jüngere Gehilfen<br />
bevorzugten, die, für den Dienst gleich geeignet, weit weniger kosteten,<br />
als ein Familienvater? DÖBEREINERs Lage war trostlos traurig. Die<br />
geringen Ersparnisse waren schnell aufgebraucht. Die Familie geriet in<br />
Schulden.<br />
Da, in <strong>der</strong> Stunde <strong>der</strong> höchsten Not, als <strong>der</strong> schwergeprüfte Mann<br />
schier am Verzweifeln war, wurde seiner treuen Lebensgefährtin, die<br />
täglich nach Bayreuth pilgerte, um etwa eingegangene Briefe abzuholen,<br />
auf dem Postamt ein aus Jena an den „HErn Profeßor, Doctor<br />
DOBEREINER― gerichtetes Schreiben ausgehändigt.<br />
Vokation [Berufung in ein Amt]<br />
an den HErn Profeßor, Doctor<br />
Dobereiner<br />
zu<br />
St. Johann bei Bayreuth,<br />
Usere freundlichen Dienste zuvor.<br />
HochEdelgebohrner und Hochgelahrter Herr,<br />
Hochgeehrtester HErr Profeßor,<br />
Es haben die Durchlauchtigsten Erhalter <strong>der</strong> hiesigen Gesamt-<br />
Universität, Unsere Gnädigste Fürsten und Herrn, Ihnen eine<br />
außerordentliche Lehrstelle in <strong>der</strong> Philosophischen Fakultaet daselbst,<br />
mit dem Auftrag Chemie und Technologie zu lehren gnädigst zu<br />
conferiren geruhet, und Uns anbefohlen, die weitere Gebühr hierunter zu<br />
besorgen und zu verfügen.<br />
Wir verfehlen nicht, Dieselbe Kraft dieses, zu <strong>der</strong> nur erwehnten Stelle<br />
zu berufen, mit dem dienstfreundlichen Ersuchen, Ihre Anherkunft zu<br />
Antretung des Ihnen übertragenen Lehramts, möglichst zu<br />
beschleunigen, und die von Ihnen <strong>im</strong> künftigen Winterhalbjahre zu<br />
haltenden Vorlesungen, um sie allenfalls noch dem Lections<br />
Verzeichniße einzurücken, so fort einzusenden. Die Wir Denenselben zu<br />
angenehmen Gefälligkeiten stets bereit verbleiben.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 295<br />
Sigel. Jena den 25 ten August 1810<br />
Prorector.<br />
Mit welchen Gefühlen wohl mag DÖBEREINER die auf Grund <strong>der</strong><br />
fürstlichen Rescripte ausgefertigte Vokation des akademischen Senats<br />
<strong>im</strong>mer und <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> gelesen haben, bis er es wirklich glauben<br />
konnte, daß er außerordentlicher Professor in <strong>der</strong> Philosophischen<br />
Fakultät <strong>der</strong> Universität Jena werden, Chemie und Technologie lehren<br />
und ein gesichertes Einkommen von jährlich 350 Talern nebst den<br />
Natural-Deputaten von jährlich 10 Scheffeln Korn und 16 Scheffeln<br />
Gerste beziehen sollte. Dankerfüllt erklärte sich DÖBEREINER am 2.<br />
September 1810 bereit, dem ehrenvollen Rufe folgen zu wollen.<br />
St. Johannis bei Bayreuth<br />
am 2. Sept. 10.<br />
Magnifice,<br />
Hochwürdiger, Hochgelahrter,<br />
Hochzuverehren<strong>der</strong> Herr Prorector,<br />
Ich hatte gestern das Glück, Ew. Magnifizenz Hochgeneigtes Schreiben<br />
an mich und die gnädigsten Rescripte von We<strong>im</strong>ar und Gotha, welche<br />
mich zum Professor <strong>der</strong> Chemie pp ernennen, zu erhalten. Ich schätze<br />
mich überaus glücklich, meine Anstellung durch diese Mittheilung, wofür<br />
ich Denenselben meinen innigsten Dank sage, gesichert zu sehen; Ew<br />
Magnifizenz von nun an meinen Chef nennen und Denenselben die<br />
Versicherung meiner ungeheuchelten Hochachtung, Verehrung und<br />
Liebe bringen zu dürfen.<br />
Das mir von den Durchlauchtigsten Herzögen gnädigst verliehene<br />
Lehramt werde ich zur vorgeschriebenen <strong>Zeit</strong>, o<strong>der</strong> doch wenigstens, da<br />
vielleicht Geschäfte meines jetzigen Amtes mich noch 5-6 Wochen hier<br />
binden, kurz nach <strong>der</strong>selben antreten, damit meine Vorlesung<br />
gleichzeitig mit den übrigen begonnen können. In dem nächsten<br />
Winterhalbjahr trage ich reine allgemeine Chemie mit den gehörigen<br />
Fundamental-Versuchen verbunden, und <strong>im</strong> Sommer darauf<br />
angewandte Chemie (chemische Technologie und Pharmazie) nach<br />
Scherer’s und Trommsdorff’s Lehrbüchern vor – täglich 2 Stunden.<br />
Die Stunden <strong>der</strong> Vorlesung selbst werde ich, um nicht mit an<strong>der</strong>en<br />
lesenden Professoren in Kollision zu kommen, bey meiner Ankunft in<br />
Jena am schwarzen Bretter best<strong>im</strong>men.<br />
Mit <strong>der</strong> schuldigsten Hochachtung und Verehrung habe ich die<br />
Ehre zu seyn<br />
Ew. Magnifizenz<br />
ganz gehorsamster<br />
J W Döbereiner<br />
Er kündigte seine Vorlesungen an, siedelte noch <strong>im</strong> September mit<br />
seiner Familie nach Jena über, nahm Wohnung in <strong>der</strong> Neugasse 505<br />
und wurde in <strong>der</strong> Senatssitzung vom 7. November 1810 vereidigt. Ehe<br />
er aber vor die Studierenden trat, war noch eine peinliche Angelegenheit<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 296<br />
zu ordnen. DÖBEREINER hatte ja nicht einmal richtigen Schulunterricht<br />
genossen, geschweige denn eine Universität regelrecht besucht; er war<br />
Apotheker zwar, aber nicht Doktor. Wohl hatten ihn alle fürstlichen<br />
Reskripte und somit auch die Vokation als „Doctor Dobereiner“<br />
bezeichnet, wohl führte ihn das Vorlesungsverzeichnis als „D.<br />
DÖBEREINER“ auf, doch das war wahrlich nicht seine Schuld. Wie<br />
einst bei GÖTTLING, bewies auch diesmal die Fakultät bei dem neuen<br />
Kollegen freundliches Entgegenkommen: sie promovierte ihn gegen<br />
Erstattung <strong>der</strong> halben „Promotionslast― am 30. November 1810 zum Dr.<br />
phil.. Jetzt war die Bahn frei. Der Professor Dr. DÖBEREINER konnte<br />
seine Tätigkeit an <strong>der</strong> Universität beginnen, und die Münchner<br />
Akademie, die ihm in jenen Tagen eine Stellung als Adjunkt anbot, hatte<br />
das Nachsehen.<br />
Man übergab ihm GÖTTLINGs kleines, zweckentsprechend<br />
eingerichtetes Forschungslaboratorium und berichtete, daß ein Teil des<br />
Inventars und namentlich die stattliche Bücherei von 1200 Bänden<br />
Privateigentum <strong>der</strong> GÖTTLINGschen Erben sei. Man räumte ihm das<br />
Mitbenutzungsrecht an einem Auditorium <strong>im</strong> Schloß ein und betonte,<br />
daß die an<strong>der</strong>en Vortragenden schuldige Rücksichtnahme erwarteten.<br />
Und man erzählte ihm auch, daß sein Vorgänger die<br />
Vorlesungsexper<strong>im</strong>ente <strong>im</strong> Laboratorium vorbereitet, Tische und<br />
Apparate während <strong>der</strong> Pause schnell zusammengetragen, alles sogleich<br />
nach Beendigung des Unterrichts wie<strong>der</strong> fortgeschafft und, um die<br />
Chemie bei den Kollegen nicht gar zu unbeliebt zu machen, den Hörsaal<br />
zu lüften niemals verabsäumt habe.<br />
Wenn man geglaubt hatte, mit solch einem freundlichen Empfang<br />
irgendwie <strong>im</strong>ponierend zu wirken, so hatte man sich gründlich getäuscht.<br />
In aller Bescheidenheit zwar, aber mit herzerfrischen<strong>der</strong> Offenheit doch<br />
erklärte DÖBEREINER: es sei als Chemiker berufen, - ein Chemiker<br />
brauche ein geräumiges Laboratorium, eine reichhaltige Apparatur, eine<br />
gute Bücherei, einen eigenen Hörsaal mit geeignetem<br />
Exper<strong>im</strong>entiertisch und könne, wenn überhaupt er Exper<strong>im</strong>entierchemie<br />
vortragen solle, in bezug auf das Auditorium unmöglich von an<strong>der</strong>en<br />
Kollegen abhängig sein, - außerdem müsse und werde er an <strong>der</strong><br />
Universität eine Anstalt zur Ausbildung praktischer Chemiker einrichten.<br />
Er bat, man möge die Güte haben, ihm zu sagen, auf welche Weise er<br />
sicher, und sei es auch nur nach und nach, die Räume, die Apparate,<br />
die Bücher, die Chemikalien und die nötigen Hilfskräfte erhalten könne.<br />
Man sah keinen an<strong>der</strong>en Ausweg, als nach We<strong>im</strong>ar zu berichten.<br />
Wie<strong>der</strong>um war es CARL AUGUST, <strong>der</strong> die Initiative ergriff. Er<br />
veranlaßte, daß DÖBEREINER durch Goethe nach We<strong>im</strong>ar eingeladen<br />
wurde, „um in den nächsten Tagen den hiesigen Vorrath eines<br />
chemischen Apparates anzusehen, und zugleich auch, was etwa von<br />
dem GÖTTLINGschen zu acquirieren seyn möchte, zu überlegen.―<br />
Am 8. November 1810 reichte <strong>der</strong> We<strong>im</strong>arer Staatsminister Goethe<br />
dem Jenaer Professor zum ersten Male die Hand. Und als<br />
DÖBEREINER in zweitägigen Verhandlungen die dringlichsten<br />
Wünsche formuliert und seine Ansichten über die Neugestaltung des<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 297<br />
chemischen Unterrichts klargelegt, und als Goethe in ernsten<br />
Gesprächen über „Chemie, Physik, Botanik― des neuen Chemikers<br />
hohen Wert schnell erkannt hatte, da war, zum Glück für die Chemie in<br />
Jena, <strong>der</strong> Bund <strong>der</strong> beiden Männer besiegelt.<br />
Jetzt ging alles gut voran. Am 9. November bereits wurde <strong>der</strong><br />
„Schloßvogt FÄRBER in Jena― in gehörige Bewegung gesetzt, <strong>der</strong><br />
Hofapotheker SCHWARZ in Jena um Quecksilber gebeten, <strong>der</strong> Meister<br />
PFLUG mit Aufträgen beehrt, <strong>der</strong> Hofrat VOGT um Instrumente<br />
angeborgt, und am 28. November schon war, dank dem<br />
Entgegenkommen von Frau Sophie GÖTTLING, das Geschäft mit den<br />
Erben des Amtsvorgängers abgeschlossen: GÖTTLINGs chemisches<br />
Inventar war <strong>im</strong> Ganzen für 160 Taler erworben, die Bücherei war, Band<br />
für Band um 6 gute Groschen, angekauft, und alles war in Jena<br />
eingetroffen. Hoffnungsfreudig konnte Goethe an DÖBEREINER<br />
schreiben:<br />
„Alles zusammen wird gewiß ein hübsches Ganze machen, wenn wir<br />
nur erst ein Local, das bequem genug ist, vor uns haben, und die<br />
sämmtlichen Geräthschaften restaurirt und in Ordnung sind,― und<br />
beglückt konnte DÖBEREINER danken.<br />
DÖBEREINERs äußerer Lebenslauf von dieser <strong>Zeit</strong> ab ist mit wenigen<br />
Worten gekennzeichnet. Der Professor <strong>der</strong> Philosophie durfte seit dem<br />
11. April 1811 „von den Wissenschaften <strong>der</strong> Chemie, Pharmacie und<br />
Technologie, zu <strong>der</strong>en Vortrag er vom Anfang an best<strong>im</strong>mt gewesen, als<br />
Lehrer benennen und brauchte von 1820 ab Pharmazie nicht mehr zu<br />
lesen. Im Juni 1819 wurde für DÖBEREINER das seitdem bestehende<br />
Ordinariat <strong>der</strong> Chemie geschaffen und damit die neunte ordentliche<br />
Lehrstelle in <strong>der</strong> philosophischen Fakultät errichtet. Das war ein<br />
schwerer Schlag für die bisherigen acht Ordinarien, die wie alle<br />
Professoren schlecht, sehr schlecht bezahlt, von Haus aus arm und auf<br />
die Emolumente angewiesen waren. Die Fakultät unterwarf sich zwar<br />
„doch den höchsten Anordnungen mit schuldiger Ehrfurcht auch bei<br />
dieser Angelegenheit,― protestierte aber leise und regte eine Erhöhung<br />
<strong>der</strong> Besoldung an. Wer hätte das <strong>der</strong> Fakultät verargen können? Die<br />
vornehme Art, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Protest eingelegt und in <strong>der</strong> die tief in das<br />
Leben aller Beteiligten eingreifende Angelegenheit behandelt und<br />
erledigt worden ist, hätte auch DÖBEREINER anerkennen müssen,<br />
wenn überhaupt er etwas von alledem gehört hätte.<br />
Unter drückenden und lähmenden pekuniären Sorgen hat, gleich allen<br />
seinen Jenaer Kollegen, DÖBEREINER gelebt und gearbeitet. Wohl<br />
wurde ihm sehr bald das GÖTTLINGsche Holzdeputat zugesprochen,<br />
aber das waren nur 3 Klafter; - wohl erhielt er, solange er die<br />
Oberaufsicht über Brauereien, Brennereien und an<strong>der</strong>e Betriebe <strong>im</strong><br />
Herzogtum führte, eine jährliche Zulage von 100 Talern, aber die reichte<br />
kaum zur Bestreitung <strong>der</strong> notwendigsten Reisekosten; - wohl durfte er<br />
hier und da einen Besoldungsvorschuß nehmen, aber <strong>der</strong> Betrag wurde<br />
bei <strong>der</strong> nächsten Gehaltszahlung einbehalten; - wohl wurde ihm ein<br />
Geschenk von 100 Talern „zu einiger Unterstützung und Aufmunterung<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 298<br />
verehrt― und sein Gehalt auf 400 Taler erhöht, aber die Familie konnte<br />
sich nichts gönnen; - wohl schrieb er in den Nachtstunden die<br />
wertvollsten Bücher, aber das Honorar war sehr gering; - wohl verfügte<br />
<strong>der</strong> Großherzog, „um die ordentliche Professur <strong>der</strong> Chemie zu Jena<br />
gehörig zu fundieren―, neben einem Getreide- und Holzdeputat<br />
Erhöhung <strong>der</strong> Besoldung auf 500 Taler, aber <strong>der</strong> ordentliche Professor<br />
konnte aus Mangel an Geld nicht einmal nach Berlin zur<br />
Naturforscherversammlung reisen.<br />
Ohne Zweifel hätte DÖBEREINER an seinen genialen Entdeckungen<br />
ein schönes Stück Geld verdienen können, aber er war und blieb<br />
Idealist. Selbst Goethe, den „<strong>der</strong> Kaufmannsgeist anweht―, eindringlich<br />
darum bat, die „Versuche gehe<strong>im</strong> zu halten, fortzusetzen … jeden neuen<br />
Fund zu secretiren― und zu fremdem und eignem Nutzen anzuwenden―,<br />
hörte DÖBEREINER nicht. „Um <strong>der</strong> Welt und <strong>der</strong> Wissenschaft seine<br />
Huldigung darzubringen―, hat er mit den Seinen, seiner Frau und acht<br />
Kin<strong>der</strong>n, das ganze Leben lang gedarbt und gehungert.<br />
Fünf Universitäten – Bonn, Dorpat, Halle, München und Würzburg –<br />
haben sich bemüht, DÖBEREINER zu gewinnen. Er hat die Rufe alle<br />
„aus fortdauern<strong>der</strong> Treue und Dankbarkeit―, die er „für die Allerhöchsten<br />
Herrschaften und Goethe― hegte, abgelehnt, ohne auch nur ein einzig<br />
Mal in Verhandlungen mit dem eigenen o<strong>der</strong> dem fremden Ministerium<br />
einzutreten, und ist dem lieben Jena, „dessen Rektor Magnificentiss<strong>im</strong>us<br />
ihm die Bahn <strong>der</strong> Ehre eröffnet hatte―, treu geblieben. Am 24. März 1849<br />
ist DÖBEREINER, geliebt von seinen Schülern, verehrt von seinen<br />
Kollegen, bewun<strong>der</strong>t von einer Welt [mit 68 Jahren in Jena]<br />
he<strong>im</strong>gegangen.― (nach Dr. Alexan<strong>der</strong> GUTBIER).<br />
Anschließend wollen wir uns noch die wichtigsten chemischen<br />
Leistungen von DÖBEREINER ansehen, wie sie die Friedrich-Schiller-<br />
Universität Jena <strong>im</strong> Internet präsentiert hat. „In DÖBEREINERs Person<br />
verbanden sich Genialität als Forscher, ein sehr starkes Interesse an<br />
technischen Vorgängen und eine hervorragende Lehrbefähigung. Seine<br />
Vorlesungen umfaßte nicht nur anorganische und organische<br />
Exper<strong>im</strong>entalchemie, son<strong>der</strong>n auch chemische Technologie und<br />
pneumatische Chemie, die er mit Ausflügen zu chemischen<br />
Fabriken <strong>der</strong> näheren und weiteren Umgebung seinen Hörern praktisch<br />
vor Augen führte. Als chemischer Berater des Herzogs CARL<br />
AUGUST beschäftigte er sich mit Fabrikationsverbesserungen in<br />
gewerblichen Betrieben, die sich nutzbringend anwenden ließen. Als<br />
Beispiele seien die Einrichtungen einer Schwefelsäurefabrik, die<br />
Gewinnung und Verwertung von Indigo anstelle des Färberwaids, die<br />
Zuckerherstellung aus Stärke und Errichtung einer Zuckerfabrik in<br />
Tieffurth zur <strong>Zeit</strong> <strong>der</strong> Kontinentalsperre und die Herstellung von<br />
Essigsäure nach dem Schnellessigverfahren durch Oxidation von<br />
Alkohol erwähnt. Auf Anregung von Goethes und des Großherzogs<br />
unternahm er Versuche zur Gaserzeugung für Beleuchtungszwecke,<br />
dabei fand er, „daß Kohle und Wasser bei ihrer Wechselwirkung in<br />
hoher Temperatur das wohlfeilste und reinste Feuergas ergeben.― Somit<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 299<br />
war DÖBEREINER das später für die chemische Industrie so<br />
bedeutende Wassergas bereits bekannt. Er setzte seine Exper<strong>im</strong>ente<br />
zur Gaserzeugung fort, bis ihn eine Explosion ermahnte „den Versuch<br />
durch öftere Wie<strong>der</strong>holung, <strong>im</strong> kleinen und unter verän<strong>der</strong>ten<br />
Umständen angestellt, erst zur Reife zu bringen, bevor <strong>der</strong>selbe <strong>im</strong><br />
großen unternommen und geprüft werde.―<br />
Gemeinsam mit dem Hofmechaniker Friedrich KÖRNER versuchte er<br />
sich in dessen Glashütte in <strong>der</strong> Herstellung von brauchbarem optischen<br />
Glas. Die Entdeckung des Platins als Katalysator und die Erkenntnis<br />
<strong>der</strong> technischen Bedeutung dieser Entdeckung hat in vielen<br />
wissenschaftlichen Werken ihren Nie<strong>der</strong>schlag gefunden. Am<br />
bekanntesten ist sicherlich das heute noch als Rarität vertriebene<br />
DÖBEREINER-Feuerzeug, das die Flamme durch autokatalytische<br />
Entzündung von Wasserstoff an Platinmohr erzeugt. Bereits 1828 trat<br />
DÖBEREINER, wahrscheinlich auch auf Grund <strong>der</strong> beengten<br />
Verhältnissen <strong>im</strong> damaligen chemischen Laboratorium, für den Bau<br />
einer technisch-chemischen Anstalt ein.― In kaum einem allgemeinen<br />
Chemie-Lehrbuch fehlt indessen <strong>der</strong> Hinweis, daß DÖBEREINER als<br />
<strong>der</strong> allererste Grundsteinleger für das sog. „Periodische System <strong>der</strong><br />
chemischen Elemente“ betrachtet werden muß. Schon <strong>im</strong> Jahre 1829<br />
veröffentlichte DÖBEREINER eine Schrift mit dem Namen Versuche zu<br />
einer Gruppierung <strong>der</strong> elementaren Stoffe nach ihrer Analogie und<br />
somit das erste wissenschaftlich fundierte Ordnungssystem <strong>der</strong><br />
chemischen Elemente. Es gelang ihm 30 von damals erst 53 bekannten<br />
Elementen mit Hilfe des Triaden-Systems einzuordnen. Solche<br />
„DÖBEREINERschen Triaden“ sind:<br />
Li(79-Na(23)-K(39), Ca(40)-Sr(88)-Ba(137), S(32)-Se(79)-Te(128),<br />
Cl(35,5)-Br(80)-J(127).<br />
Bleiben die Bemühungen um eine Systematik <strong>der</strong> Elemente auch noch<br />
in eng begrenzten Einzelversuchen stecken, so gelang eine<br />
durchgreifende Lösung des schwierigen Problems schließlich fast<br />
gleichzeitig einem deutschen und einem russischen Forscher. Lothar<br />
MEYER, 1830-1895, wies 1864 in seinen „Theorien <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />
Chemie“ ausdrücklich auf die gruppenweise Anordnung analoger<br />
Elemente hin und entwarf 1868 ein allgemeines System <strong>der</strong> Elemente,<br />
das er aber erst in Druck gab, als 1869 D<strong>im</strong>itri MENDELEJEFF, 1834-<br />
1907, Prof. in St. Petersburg, mit seinem „Versuch eines Systems,<br />
begründet auf die Atomgewichte“ hervortrat. Dieses „Periodische<br />
System <strong>der</strong> Elemente“ ist dann in <strong>der</strong> Folgezeit weiter ausgebaut<br />
worden und hat sich als Gesamtübersicht aufs beste bewährt. Die<br />
Eigenschaften <strong>der</strong> Elemente erwiesen sich als periodische Funktion<br />
ihrer Atomgewichte. Für mehrere in dem System auftretende Lücken<br />
sagte MENDELEJEFF die Eigenschaften <strong>der</strong> dort fehlenden Elemente<br />
bis ins einzelne voraus, und er erlebte den Triumph, daß seine mit<br />
staunenswertem Seherblick gemachten Voraussagen später<br />
exper<strong>im</strong>entell voll bestätigt wurden. Als „Eka-Aluminium“ erwies sich das<br />
1875 von Lecoq de BOISBAUDRAN, 1836-1902, entdeckte Gallium, als<br />
„Eka-Bor“ das 1879 von Lars Fre<strong>der</strong>ic NILSON, 1840-1899, entdeckte<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 300<br />
Scandium, und als „Eka-Silicium“ das 1886 vom deutschen Forscher<br />
Clemens WINKLER, 1838-1904, entdeckte Germanium“; [als ein<br />
Triumph <strong>der</strong> internationalen Forschung!] (nach Prof. Georg<br />
LOCKEMANN: „Geschichte <strong>der</strong> Chemie―, 1955).<br />
*****************<br />
Mit einem kurzen Blick auf einen weiteren Chemiker zur Goethe-<strong>Zeit</strong>,<br />
<strong>der</strong> ebenfalls in Sachsen eines <strong>der</strong> ersten chemischen Laboratorien an<br />
<strong>der</strong> Bergakademie Freiberg begründet hatte und den Goethe sogar am<br />
26. 9. 1810 in Freiberg/Sa. besucht hat, wollen wir diesen „Chemie-<br />
Stammbaum― abschließen, um dann noch einem Blick auf Goethe als<br />
Chemiker und Techniker zu werfen.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
8.18 Wilhelm August LAMPADIUS, 1772-1842<br />
Wilhelm August LAMPADIUS wurde am 8. August 1772 in Hehlen<br />
(nahe Bodenwer<strong>der</strong>) geboren und studierte an <strong>der</strong> Universität Göttingen,<br />
bei GMELIN und LICHTENBERG, wo zur gleichen <strong>Zeit</strong> auch GÖTTLING<br />
Vorlesungen gehört hatte. Bereits mit 22 Jahren wurde LAMPADIUS als<br />
Professor an die Bergakademie Freiberg in Sachsen berufen. In die<br />
Geschichte <strong>der</strong> Chemie ist er beson<strong>der</strong>s als Entdecker des<br />
Schwefelkohlenstoffs (CS 2 ) <strong>im</strong> Jahre 1796 eingegangen, den er durch<br />
Glühen von Eisensulfid (FeS 2 ) und Kohle erhalten hatte. Um diese <strong>Zeit</strong><br />
wurde auf Betreiben von LAMPADIUS <strong>im</strong> Hof des Akademie-Gebäudes<br />
ein neues Chemisch-Metallurgisches Laboratorium gebaut, wo die<br />
Studenten eigene exper<strong>im</strong>entelle, analytische und präparative Arbeiten<br />
ausführen konnten. Im Mittelpunkt seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit<br />
stand natürlich die Hüttenkunde. Grundlegend wurde LAMPADIUS<br />
„Handbuch <strong>der</strong> allgemeinen Hüttenkunde“, das von 1801 bis 1810 in<br />
4 Bänden erschien und auch ins Russische und Französische übersetzt<br />
worden ist. Seine Ideen des Windfrischens können als Vorläufer des<br />
Bessemerverfahrens <strong>der</strong> Stahlherstellung betrachtet werden, das erst<br />
ein halbes Jahrhun<strong>der</strong>t später durch Henry Bessemer perfektioniert<br />
worden ist. Auch die Erfindung <strong>der</strong> Dachpappe wird mit seinem Namen<br />
verbunden. Auch die Verwertung von Reststoffen <strong>der</strong><br />
Hüttenprozesse als künstliche Düngemittel (noch vor LIEBIG!), die<br />
Herstellung von Ölen und Firnissen waren Themen seiner<br />
Forschungstätigkeit. LAMPADIUS soll die auch <strong>der</strong> erste auf dem<br />
europäischen Festland gewesen sein, <strong>der</strong> eine städtische Gaslaterne<br />
in Freiberg <strong>im</strong> Jahre 1812 betrieben hat. LAMPADIUS war <strong>der</strong> jüngste<br />
Oberhüttenamts-Assessor und Ritter des Königlich Sächsischen<br />
Verdienstsordens. Seine Veröffentlichungsliste umfaßt 38 Bücher und<br />
290 Aufsätze. Er verstarb in Freiberg am 13. 4. 1842.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 301<br />
Im Rahmen unseres genealogisch orientierten Streifzuges ist<br />
Lampadius auch aus genealogischen Gründen interessant, da wir<br />
hier ein Beispiel einer Persönlichkeit haben, <strong>der</strong>en Abstammung<br />
aufgrund von jüngsten Forschungen des 20./21. Jahrhun<strong>der</strong>ts bis zur<br />
Karolingerzeit zurück verfolgt werden kann. Als Basis für die früheste<br />
<strong>Zeit</strong> dienen hier vor allem <strong>im</strong>mer die grundlegenden Werke <strong>der</strong><br />
mitteleuropäischen Dynastengeschlechter, die von den führenden<br />
Historiker-Genealogen auf diesem Gebiet erarbeitet worden sind. Hier<br />
seinen nur die Namen Erich BRANDENBURG („Die Nachkommen Karls<br />
des Großen―, 1935), Eberhard WINKHAUS („Ahnen zu Karl dem Großen<br />
und Widukind―, 1950), Siegfried RÖSCH („Caroli Magni Progenies―,<br />
1977), Jürgen von DAMM („Genealogie um die Familie von Damm in<br />
Braunschweig―, 1998) und Detlev SCHWENNICKE („Europäische<br />
Stammtafeln―, 1998-1999) genannt. Hun<strong>der</strong>ten, ja wohl Tausenden von<br />
bürgerlichen Familienforschern, ist inzwischen <strong>der</strong> Nachweis gelungen -<br />
bei günstiger Quellenlage und vor allem entsprechendem Forscherfleiß -<br />
zumindest über eine Linie den Anschluß zu einer Adelsfamilie zu finden,<br />
<strong>der</strong>en Vorfahrenschaft bis zu den Karolingern reicht.<br />
Einen solchen Fall haben wir auch hier, wo eine Familienforscherin<br />
ihre Abstammung nicht nur bis zu LAMPADIUS (über dessen zweite<br />
Tochter Sophie), son<strong>der</strong>n auch noch von LAMPADIUS aus bis zu Karl<br />
dem Großen, dem wichtigsten genealogischen Bezugspunkt neben<br />
GOETHE, weiter verfolgen konnte. Solche Forschungen sind vor allem<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 302<br />
deshalb nicht ganz einfach, da sie sich nicht nur über sehr viele<br />
Generationen erstrecken, son<strong>der</strong>n fast <strong>im</strong>mer auch über sehr viele<br />
verschiedene (!) Familien geführt werden müssen, da ja <strong>im</strong> statistischen<br />
Durchschnitt jede Nachkommenschaft durch genauso viele<br />
Töchternachkommen fortgesetzt wird. Das heißt aber, daß generell bei<br />
je<strong>der</strong> weiblichen Person auch noch ihre Geburtsfamilie gesucht werden<br />
muß. In unserem LAMPADIUS-Fall seien hier nur einmal die<br />
verschiedenen Familien angegeben, die für eine solche Ableitung bis zu<br />
Karl dem Großen erfor<strong>der</strong>lich waren:<br />
LAMPADIUS, HENRICI, NIEMEYER, WICHMANN (Hameln),<br />
LUDEWIG (Polle), HELMOLD (Göttingen), SPECBOTEL (Göttingen),<br />
von GRONE (Göttingen), von BODENDIECK (Bodenteich), von<br />
ALVENSLEBEN (Erxleben), von FRIEDEBURG, von POLLEBEN<br />
(Friedeburg), von AMMENSLEBEN (Hillers- u. Ammensleben) und<br />
schließlich von MANSFELD, in <strong>der</strong>en Familie Hoyer III. Graf von<br />
MANSFELD, urkundlich 1118-1157 erscheint und als Nachkomme in <strong>der</strong><br />
13. Nachkommengeneration von Karl des Großen in Erich<br />
BRANDENBURGs oben genannten Buch von 1935 mit <strong>der</strong> Signatur-Nr.<br />
XIV 224 als Karls-Nachkomme verzeichnet ist. Siegfried RÖSCH hat<br />
dann später in einer speziellen Studie von 1961 („Theoretische und<br />
praktische Zählstatistik von Nachkommenschaften―) von diesem Ahn<br />
noch eine 3-fache Abstammung von Karl dem Großen nachweisen<br />
können; und zwar zwe<strong>im</strong>al in <strong>der</strong> 13. und einmal in <strong>der</strong> 15. Generation.<br />
Wir beziehen uns hier auf eine Arbeit <strong>der</strong> Genealogin Inge VOGEL,<br />
<strong>der</strong>en Ururgroßvater Wilhelm August LAMPADIUS war („Wilhelm August<br />
LAMPADIUS – ein Nachkomme Karls des Großen―; in: „Familie und<br />
Geschichte (2003), H. 4, S. 529-535).<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 303<br />
9 GOETHE ALS CHEMIKER UND TECHNIKER<br />
Diesen Titel hat ein Büchlein des uns bereits wohlbekannten<br />
Chemikers und Chemiehistorikers Prof. Paul WALDEN, aus dem<br />
Goethe-Gedenkjahr 1932, seinerzeit war er als Universitätsprofessor<br />
„Wirklicher Staatsrat― und später 1952 „altersbedingt Dr. mult.― (Dr. phil.;<br />
Dr. chem.; Dr.-Ing.e h.; Dr. med. h. c.; Dr. sc. h.c.; Dr. rer. nat. h.c.). Aus<br />
diesem schönen Bändchen wollen wir am Ende des „Chemie-<br />
Stammbaumes bis zur Goethe-<strong>Zeit</strong>― noch einiges abschließend zitieren,<br />
zumal Goethe aus dieser Perspektive wohl nur den allerwenigsten<br />
Goethe-Verehrern bekannt ist:<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />
S e i t e | 304
S e i t e | 305<br />
„Was ich nicht erlernt hab’<br />
Das hab’ ich erwan<strong>der</strong>t.―<br />
(Goethe)<br />
„Tatsächlich hat Goethe die Methode des „Erwan<strong>der</strong>ns― seiner<br />
Kenntnisse in genialer Weise geübt und ausgebildet; er hat unmittelbar<br />
aus <strong>der</strong> technischen Wirklichkeit selbst gelernt, durch genaues<br />
Anschauen und detailliertes Sicherklärenlassen, durch Skizzieren <strong>der</strong><br />
Betriebe und Notieren <strong>der</strong> Produktionszahlen. Er besitzt eine wahre<br />
Leidenschaft zum Schauen. Beginnend 1776 mit <strong>der</strong> Besichtigung <strong>der</strong><br />
Betriebe <strong>im</strong> Ilmenauer Bezirk und 1777 <strong>der</strong> Hüttenwerke in<br />
Rammelsberg, Clausthal, Andreasberg usw., sowie 1778 <strong>der</strong> Berliner<br />
Porzellanmanufaktur und Potsdamer Gewehrfabrik, lernt er in <strong>der</strong><br />
Folgezeit nacheinan<strong>der</strong> kennen: 1785 die Bergwerke in Joach<strong>im</strong>sthal,<br />
1786 zu Schneeberg, 1786 (auf <strong>der</strong> Italienreise) das Arsenal, den<br />
Schiffsbau zu Venedig, 1790 (auf <strong>der</strong> Reise zum Heerlager nach<br />
Schlesien) das Salzbergwerk zu Wieliczka und die Dampfmaschine<br />
bei Tarnowitz; 1797 (auf <strong>der</strong> Schweizer Reise) allerlei Handwerk und die<br />
optische Werksatt in Stuttgart, sowie die Glasmalerei; 1801 in Bad<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 306<br />
Pyrmont eine Messerfabrik, 1805 ein Hammerwerk <strong>im</strong> Bodetal; 1810<br />
die Spinnereien in Chemnitz und das Bergwerk in Freiberg; 1812 die<br />
Schwefelquelle in Berka; 1814/15 (auf <strong>der</strong> „Reise am Rhein, Mayn und<br />
Neckar―) die Achatfundorte und –schleifereien in Bingen-Oberstein, die<br />
Eisenhütten, Bleigruben, Schieferbrüche u. a. in L<strong>im</strong>burg, die<br />
Quecksilberminen in Moschellandsberg, die Gerbereien und den<br />
Weinbau in Weinhe<strong>im</strong> und Ingelhe<strong>im</strong>, ferner Bijouteriefabriken, die<br />
Teppichfabriken und die Fabrikation seidener Tapeten in Hanau.<br />
Neben all diesen genannten Orten und technischen Betrieben ist noch –<br />
als eine Dauerlehrstätte Goethes – das Böhmerland, insbeson<strong>der</strong>e<br />
Karlsbad hervorzuheben. […] Doch Goethe ist <strong>der</strong> ewig Lernbegierige,<br />
so in jungen Jahren, so auch als weltberühmte Exzellenz. Chemische<br />
und technische Dinge lernt er ebenso eifrig durch Schauen wie auch<br />
durch Bücherstudien aus Fachwerken. Er verschmäht es auch nicht, aus<br />
dem Umgang und aus den Gesprächen mit Spezialisten zu lernen,<br />
sowie direkt sich Vorträge mit Demonstrationen aller neuen<br />
Entdeckungen von seinen wissenschaftlichen Beratern an <strong>der</strong><br />
Universität Jena halten zu lassen. Zum Beleg führen wir einige Daten<br />
aus den Tagebüchern und „Tag- und Jahresheften― an. […] Vom Jahre<br />
1815 vermerkt er: „Bei dem nächsten Aufenthalt in Jena leitete mich<br />
Professor DÖBEREINER zuerst in die Gehe<strong>im</strong>nisse <strong>der</strong><br />
Stöchiometrie.― Eine Art Schnellkursus, <strong>der</strong> jedoch nicht ganz befriedigt<br />
hat, denn zwei Jahre später, 1817 schreibt er: „Durch die Gefälligkeit<br />
Hofrat DÖBEREINERs konnte ich mich <strong>der</strong> stöchiometrischen Lehre <strong>im</strong><br />
allgemeinen fernerhin annähern.― 1822: Goethe weilt zu Marienbad. Hier<br />
lernte er BERZELIUS kennen. In einem Brief an KNEBEL aus Eger vom<br />
23. August 1822 bezeichnet er BERZELIUS als den „tüchtigsten und<br />
heitersten Chemiker―, ferner <strong>im</strong> Brief an SCHULTZ aus We<strong>im</strong>ar am 5.<br />
September 1822: „BERZELIUS spielte uns die auffallendsten<br />
mikrochemischen Versuche, mit bewun<strong>der</strong>nswürdiger Geschicklichkeit,<br />
ganz eigentlich aus <strong>der</strong> Tasche vor.― Mit BERZELIUS untern<strong>im</strong>mt er eine<br />
zweitägige Exkursion auf den Kammerberg bei Eger (30. und 31. Juli<br />
1822), um gleichzeitig sich von BERZELIUS Lötrohranalysen vorführen<br />
zu lassen. Als Reiselektüre dient ihm KUNCKELs Glasmacherkunst,<br />
<strong>der</strong>en „Gehalt er aufs Neue bewun<strong>der</strong>t―; in Redwitz besuchte er die<br />
Glashütte und die chemische Fabrik in Fickentscher und machte<br />
„pyrotechnische Versuche― (Tagebuch, 14. bis 18. August 1822). Um<br />
diese anschaulicher zu machen, bediente er sich wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Mithilfe von<br />
DÖBEREINER „welcher mir die neusten Erfahrungen und Entdeckungen<br />
mitteilte―… „Gegen Ende des Jahres kam er (DÖBEREINER) nach<br />
We<strong>im</strong>ar, um vor Sereniss<strong>im</strong>o und einer gebildeten Gesellschaft die<br />
wichtigsten Versuche galvanisch-magnetischer wechselseitiger<br />
Einwirkung mit Augen sehen zu lassen und erklärende Bemerkungen<br />
anzuknüpfen.― (Tag- und Jahreshefte). Über Goethes Beziehungen zur<br />
Alchemie in seinen jungen Jahren hatten wir bereits berichtet. Die reine<br />
und angewandte Chemie hat Goethe dann später fortlaufend<br />
beeinflußt, insbeson<strong>der</strong>e ihre Stellung und Entwicklung als Lehr- und<br />
Forschungsfach an <strong>der</strong> Universität Jena. Den Vertretern dieser Disziplin,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 307<br />
insbeson<strong>der</strong>e den aus dem Apothekerstand hervorgegangenen:<br />
BUCHHOLZ in We<strong>im</strong>ar, GÖTTLING, DÖBEREINER und<br />
WACKENRODER in Jena. Er hat ihnen in seinen Werken ein bleibendes<br />
Denkmal errichtet. Durch seinen dauernden Verkehr mit ihnen hat er<br />
den ganzen Stand <strong>der</strong> Apotheker geehrt; durch seine unermüdliche<br />
Fürsorge ist in Jena <strong>der</strong> Unterricht <strong>der</strong> Chemie als einer Anschauungsund<br />
Exper<strong>im</strong>entalwissenschaft wirksam umgestaltet worden: Apparate<br />
und Geräte sowie eine Präparatensammlung und entsprechende<br />
Räume wurden angelegt, chemische Exper<strong>im</strong>entalvorlesungen und<br />
chemische Übungen <strong>im</strong> Laboratorium bürgerten sich ein: indem die<br />
neue Unterrichtsmethode einen Schutzwall gegen die damalige<br />
Naturphilosophie bildete, wurde sie auch vorbildlich für an<strong>der</strong>e<br />
Universitäten Deutschlands und dadurch Wegbereiterin für den bald<br />
einsetzenden wissenschaftlichen Aufschwung <strong>der</strong> deutschen Chemie<br />
überhaupt. Diesen wissenschaftlichen Aufschwung för<strong>der</strong>te Goethe<br />
seinerseits durch <strong>im</strong>mer neue Fragen, Ideen und Aufträge an die<br />
Vertreter <strong>der</strong> Chemie, durch Privatvorträge, die die letzteren halten<br />
mußten, sowie durch die ständige Berichterstattung über ihre<br />
ausgeführte Arbeiten. Dadurch wirkte Goethe wie ein geistiger<br />
Katalysator, mit gelin<strong>der</strong> Druckwirkung, beschleunigend auf die geistige<br />
Reaktionsgeschwindigkeit seiner Mitarbeiter, sein Lob tat das übrige.<br />
„Die großen Fortschritte <strong>der</strong> Chemie rechne ich unter die glücklichen<br />
Ereignisse, die mir begegnen können― schrieb er direkt an<br />
DÖBEREINER (1812); so lesen wir z. B. (in einem Briefe 1812 an<br />
TREBRA [Dutzfreund, Oberberghauptmann in Freiberg/Sachsen]:<br />
„Unser Professor <strong>der</strong> Chemie DÖBEREINER in Jena macht seine Sache<br />
sehr gut, er ist jung, tätig, hat viele technische Einsicht und Fertigkeit, so<br />
daß er sich auch schon als Oberaufseher unserer Bierpfannen und<br />
Branntweinblasen sehr wacker gezeigt hat.― Er n<strong>im</strong>mt regen Anteil an<br />
je<strong>der</strong> neuen Entdeckung seiner Mitarbeiter. Als GÖTTLING 1791 aus<br />
bedrucktem Papier durch Bleichen mit Chlor („dephlogistierter<br />
Salzsäure―) schönes weißes Papier vorweist, da ruft Goethe aus:<br />
„Welch ein Trost für die lebende Welt <strong>der</strong> Autoren und welch ein<br />
drohendes Gericht für die Abgegangenen!― Ein Mahner ist er auch, wenn<br />
er schreibt: ―Das Halbgewußte hin<strong>der</strong>t das Wissen. Weil all unser<br />
Wissen nur halb ist, so hin<strong>der</strong>t unser Wissen <strong>im</strong>mer das Wissen.<br />
Ihn interessieren auch die persönlichen Bedürfnisse <strong>der</strong> Chemielehrer.<br />
Er sorgt für den Wohnungsausbau (1816) und für die<br />
Gehaltsaufbesserung DÖBEREINERs, er verhilft zu materiellen<br />
Unterstützungen für wissenschaftliche Versuche usw. Einer weiteren<br />
Auswirkung von Goethes Persönlichkeit, einer Art geistiger Fernwirkung,<br />
sei in diesem Zusammenhang gedacht, nämlich seines best<strong>im</strong>menden<br />
Einflusses auf die Unterrichtsgestaltung an den russischen<br />
Universitäten. Kaiser ALEXANDER I., <strong>der</strong> Bru<strong>der</strong> <strong>der</strong> We<strong>im</strong>arer<br />
Erzherzogin MARIA PAWLOWNA, <strong>der</strong> großen För<strong>der</strong>in des<br />
DÖBEREINERschen chemischen Instituts, hatte 1802 bis 1805 die<br />
Universitäten in Dorpat, Charkow und Kasan gegründet. Von We<strong>im</strong>ar-<br />
Jena aus wurden nun als Chemieprofessoren dieser neuen<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 308<br />
Universitäten A. SCHERER; Dav. GRINDEL, GIESE, OSANN, GOEBEL<br />
nach Dorpat bzw. Charkow berufen, insbeson<strong>der</strong>e wurden <strong>im</strong> offiziellen<br />
Auftrage, durch Vermittlung von Goethe deutsche Gelehrte für die<br />
Universität Charkow empfohlen. Welch eine Bedeutung diese<br />
Maßnahmen für die Einbürgerung deutscher Wissenschaft in Rußland<br />
und die Schaffung geistiger Gemeinschaft zwischen Deutschland und<br />
Rußland in <strong>der</strong> Folgezeit gehabt hat, braucht nicht weiter erörtert zu<br />
werden.―<br />
Soweit Paul WALDEN aus seinem wun<strong>der</strong>schönen kleinen Bändchen<br />
(87 Seiten), das als erweiterter Vortrag anläßlich <strong>der</strong> Goethe-<br />
Gedenkfeier am 14. März 1932 <strong>im</strong> „Bezirksverein Groß-Berlin und Mark<br />
des Vereins deutscher Chemiker― hervorgegangen ist. Ein neues,<br />
wesentlich erweitertes Buch zu diesem Thema hat Dr. Georg<br />
SCHWEDT (Chemie-Professor an <strong>der</strong> Technischen Universität<br />
Clausthal-Zellerfeld) veröffentlicht: „Goethe als Chemiker― (Verlag<br />
Springer, 1998, 374 Seiten, 23 Abbildungen); auch dieses Buch sei allen<br />
Goethe-Freunden mit naturwissenschaftlichem Interessen wärmstens<br />
empfohlen.<br />
Auf <strong>der</strong> Basis dieser Chemie-Großen erlangte später die deutsche<br />
Chemie beson<strong>der</strong>s durch Justus von LIEBIG (1803-1873), Robert<br />
BUNSEN (1811-1899) und <strong>der</strong>en Schülern ihren Höhepunkt an<br />
Weltgeltung.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />
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<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />
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<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />
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S e i t e | 312<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
10 GOETHES WAHLVERWANDTSCHAFT MIT SPINOZA<br />
UND IDEENGEMEINSCHAFT MIT LEIBNIZ<br />
Zunächst ein Bekenntnis des Verfassers: GOETHE und LEIBNIZ<br />
haben mich seit meiner Dresdner Jugendzeit bis heute begleitet! Bei<br />
Leibniz waren es zunächst die Hinweise auf ihn <strong>im</strong> bekannten<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 313<br />
Mathematikbuch „Vom Einmaleins zum Integral― (1937) von Egmont<br />
COLERUS und dann <strong>der</strong> wun<strong>der</strong>schöne Lebensroman „Leibniz― (1939)<br />
vom gleichen Verfasser sowie später zwei kleinere Abhandlungen:<br />
„Leibniz als Gegner <strong>der</strong> Gelehrteneinseitigkeit― (1912) und „Leibniz und<br />
Goethe. Die Harmonie ihrer Weltansichten― (1924), beide von Dietrich<br />
MAHNKE (1884-1939 ), eines Schülers des deutschen Philosophen<br />
Edmund HUSSERL (1859-1938), .<br />
Bei „Goethes Weltanschauung― wird häufig auf den großen jüdischen<br />
Philosophen Baruch de SPINOZA ,1632-1677, verwiesen zu dem sich<br />
Goethe sehr hingezogen fühlte und stark beeinflußt wurde. Goethe hat<br />
hierzu selbst viel durch eigene Äußerungen beigetragen, daß er „sich<br />
SPINOZA sehr nahe fühle― und daß dessen „Ethik― das Buch sei, das<br />
am meisten mit seiner eigenen Vorstellungsart übereinst<strong>im</strong>mt. In<br />
späteren Jahren hat er SPINOZA geradezu als seinen „Herrn und<br />
Meister― genannt und die „Ethik― das „Asyl―, in dem er <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong><br />
Klarheit, Beruhigung und Frieden finde.<br />
Bei genauerem Hinsehen war es aber bei SPINOZA nicht dessen<br />
„Metaphysik―, son<strong>der</strong>n es war ein Ethisches, das ihn „Beruhigung <strong>der</strong><br />
Leidenschaften―, gab, die Erziehung zu „grenzenloser<br />
Uneigennützigkeit― und vollkommene „Resignation―, die aus <strong>der</strong><br />
Betrachtung des „Ewigen, Notwendigen, Gesetzlichen― <strong>der</strong> Natur<br />
entspringen, die in fesselten. (nach Dietrich Mahnke).<br />
Aber hier waren es ja gerade die Gegensätze seines Lebens-<br />
Charakters, die ihn zu SPINOZA zogen und nicht etwa die<br />
Gleichartigkeit und seine Weltanschauung, wenn man von SPINOZAs<br />
Dues sive natura , Gott ist in allem, absieht. Diesen Pantheismus<br />
hatten ja aber - mehr o<strong>der</strong> weniger ähnlich - bereits vor ihm an<strong>der</strong>e<br />
vertreten, zum Beispiel <strong>der</strong> Grieche und Neuplatoniker PLOTIN 204-270<br />
o<strong>der</strong> <strong>der</strong> italienische Naturphilosoph Giordano BRUNO, 1548-1600, <strong>der</strong><br />
seine Ansicht von <strong>der</strong> Unendlichkeit Gottes auf die Unendlichkeit des<br />
Weltalls übertrug und dies 1600 als Ketzer auf dem Scheiterhaufen<br />
büßen mußte.<br />
Die „alles ausgleichende Ruhe SPINOZAS― als Kontrast zu Goethes<br />
„alles aufregendem Streben―, SPINOZAs „mathematische Methode― als<br />
Polarität zu Goethes „poetischer Sinnes- und Darstellungsweise― (14.<br />
Buch von „Dichtung und Wahrheit―). Es war durchaus eine<br />
„Wahlverwandtschaft― entgegengesetzter Naturen, die <strong>der</strong> größte<br />
deutsche Dichter für den größten jüdischen Philosophen empfand, eine<br />
Anziehung gleich <strong>der</strong> von positiver und negativer Elektrizität (lt. Dietrich<br />
MAHNKE).<br />
Für MAHNKE sind es dagegen in erster Linie die deutschen<br />
Philosophen NIKOLAUS VON KUES (CUSANUS), 1401-1464; Gottfried<br />
Wilhelm LEIBNIZ und Friedrich Wilhelm SCHELLING, 1775-1854, denen<br />
Goethe durch seine Weltanschauung beson<strong>der</strong>s nahe steht. Aus<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 314<br />
Kompetenzgründen sei nur auf LEIBNIZ noch etwas unter Berufung auf<br />
MAHNKE eingegangen und die „Harmonie ihrer Weltansichten―<br />
beleuchtet.<br />
Daß díese Ideengemeinschaft mit Leibniz bisher weniger beachtet<br />
worden ist, liegt wohl hauptsächlich am quellenmäßigen Nachweis und<br />
vor allem auch daran, daß uns Leibniz’ gewaltiges Lebenswerk <strong>im</strong><br />
Gegensatz zu Goethes, nicht veröffentlicht vorliegt, wenn man von<br />
Leibniz’ Theodizee―, <strong>der</strong> daraus entwickelten kleinen „Monadologie― und<br />
kleineren Schriften absieht. Das meiste ist uns nur in den vielen<br />
einzelnen verstreuten kleinen handschriftlichen Abhandlungen und in<br />
einer riesigen Anzahl von Briefen und Notizen erhalten, womit sich heute<br />
noch deutsche und internationale Gesellschaft beschäftigen. Zum<br />
Beispiel die Leibniz-Gesellschaft in Hannover, die noch <strong>im</strong>mer mit <strong>der</strong><br />
Herausgabe seines Gesamtwerkes beschäftigt ist. Und für Leibniz, den<br />
großen Mathematiker, <strong>der</strong> mit Goethes „Erzfeind― Isaac NEWTON,<br />
1643-1727, unabhängig eine Rechenmethode entdeckte und<br />
weiterentwickelte, die bahnbrechend für die mo<strong>der</strong>ne<br />
Naturwissenschaften und die Technik geworden ist (Differential- und<br />
Integralrechnung), hatte Goethe ohnehin nicht das nötige inhaltliche<br />
Interesse und die erfor<strong>der</strong>liche Begabung. Begnügte sich Goethe doch<br />
<strong>im</strong>mer mit dem anschaulichen Naturbild, machte bei seinen<br />
„Urphänomenen“ Halt und verwahrte sich, mit Abstraktionen und<br />
Mathematik noch tiefer in die Natur einzudringen.<br />
Die geistige Nachbarschaft von Leibniz und Goethe kommt nach<br />
MAHNKE beson<strong>der</strong>s in drei Punkten zum Ausdruck.<br />
1.) Goethes Anschauung von dem unermüdlichen Schaffensdrang <strong>der</strong><br />
Natur aller ihrer Glie<strong>der</strong>, vor allem des Kerns <strong>der</strong> Natur, des<br />
sehnenden und strebenden Menschherzens.<br />
2.). Goethes Überzeugung von <strong>der</strong> unendlich reichen individuellen<br />
Glie<strong>der</strong>ung des<br />
Universums in selbständige und selbsttätige Einzelwesen, in<br />
Monaden, wie er mit<br />
Leibniz sagt, <strong>der</strong>en „Dämon― eine jede in ihrer beson<strong>der</strong>en<br />
Eigentümlichkeit, ihrer<br />
charakteristischen Tätigkeit, ewig unzerstörbar erhält.<br />
3.) Goethes Einsicht in die trotz aller individuellen Selbständigkeit doch<br />
bestehende<br />
universelle Harmonie <strong>der</strong> Monaden, <strong>der</strong>en Innenwelt sämtlich<br />
„Spiegel des gleichen<br />
Universums― sind und daher <strong>im</strong>mer miteinan<strong>der</strong> in organischer<br />
Übereinst<strong>im</strong>mung bleiben.<br />
[Bereits hier sei auf das vereinigende Band, die einheitliche Struktur<br />
<strong>der</strong> „Erbmoleküle― <strong>der</strong><br />
die Desoxyribonukleinsäure DNA hingewiesen.]<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 315<br />
„Die Gottheit ist wirksam <strong>im</strong> Lebendigen, aber nicht <strong>im</strong> Toten; sie ist <strong>im</strong><br />
Werden und sich Verwandelnden, aber nicht <strong>im</strong> Gewordenen und<br />
Erstarrten―, sagte Goethe am 13. 2. 1829 zu Eckermann. „Die Natur<br />
wirkt ewig lebendig, überflüssig und verschwen<strong>der</strong>isch, damit das<br />
Unendliche <strong>im</strong>mer gegenwärtig sei, weil nichts verharren kann― schrieb<br />
Goethe am 13. 8. 1831 an ZELTER, …….. Ähnliche Äußerungen kehren<br />
be<strong>im</strong> alten Goethe <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong>, poetisch geformt in dem Gedicht „Eins<br />
und Alles―, auf das wir von an<strong>der</strong>er Sicht aus gleich noch näher<br />
eingehen.<br />
O<strong>der</strong> lapidar in Faust II <strong>im</strong> Mütter-Mythos:<br />
Gestaltung, Umgestaltung.<br />
Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung (V 6287).<br />
Auch <strong>im</strong> obigen aphorismischen Fragment „Die Natur―:<br />
„Sie schafft ewig neue Gestalten; was da ist, war noch nie, was war,<br />
kommt nicht wie<strong>der</strong> ….<br />
Sie verwandelt sich ewig, und ist kein Moment Stillestehen in ihr<br />
…Leben ist ihre<br />
schönste Erfindung, und <strong>der</strong> Tod ist ihr Kunstgriff, viel Leben zu<br />
haben.―<br />
Auch in Faust I bei den Versen des Erdgeist heißt es:<br />
„Schaffen am sausenden Webstuhl <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>―<br />
„In völligen Gegensatz steht diese Weltanschauung des Lebens und<br />
Schaffens zu SPINOZAs mathematischem Weltbild, dessen Vorbild das<br />
völlig starre Euklidische System <strong>der</strong> Geometrie ist und dessen<br />
Erhabenheit über allen Fluß <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> und Verän<strong>der</strong>ung eher <strong>der</strong> Majestät<br />
des Todes als des Lebens gleicht― (Dietrich Mahnke).<br />
MAHNKE führt viel Verwandteres aus Leibnizens Weltanschauung an,<br />
u.a.:<br />
„Es gibt <strong>im</strong> Universum nichts Ödes, nichts Unfruchtbares, nichts Totes<br />
… In dem geringsten Teile <strong>der</strong> Materie gibt es eine Welt von<br />
Geschöpfen [Elementarteilchen! AR]…<br />
Alle Körper sind in einem <strong>im</strong>merwährenden Flusse begriffen wie Ströme<br />
(„Monadologie―<br />
§ 66, 69, 71).<br />
O<strong>der</strong>: „Was nicht wirkt, das verdient auch den Namen einer Substanz<br />
nicht― („Theodizee“<br />
§ 392 f.)<br />
Wie gleicht sich doch auch die ungeheure Menge ihres arbeitsreichen<br />
Lebens!: die ungeheure Menge und Mannigfaltigkeit ihrer theoretischen<br />
und praktischen Betätigungen auf den verschiedensten Gebieten <strong>der</strong><br />
Natur- und Geisteswissenschaft, <strong>der</strong> Kunst und Religion, des Volks- und<br />
Staatslebens.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 316<br />
Beson<strong>der</strong>s sieht MAHNKE aber die noch innigere Gedankenharmonie<br />
Goethes und Leibnizens darin, daß beide die ewig unzerstörbaren<br />
Monaden o<strong>der</strong> Entelechien nicht nur allgemein als Tätigkeitsprinzipien<br />
auffassen, son<strong>der</strong>n best<strong>im</strong>mter als individuelle Schaffenskräfte, die je<br />
durch eine ganz beson<strong>der</strong>e, eigenartige Tätigkeitsweise charakterisiert<br />
sind. Vor allem hebt ja Goethe <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> die Erhaltung <strong>der</strong> „eigenen,<br />
unzerstörlichen Individualität― hervor, die er in best<strong>im</strong>mter Hinsicht<br />
bekanntlich auch den „Dämon“ als eine Schicksalsmacht des<br />
Menschen zu nennen pflegt und hier Mahnke die erste Stanze <strong>der</strong><br />
„Urworte. Orphisch― zitiert und dann fortfährt:<br />
„Es ist wie übermächtige Naturnotwendigkeit, die den Menschen<br />
unwi<strong>der</strong>stehlich beherrscht; aber nicht ein blindes, allgemeines<br />
Fatum, dem alle in gleicher Weise unterlägen, son<strong>der</strong>n ein ganz<br />
individuelles Schicksal, das <strong>der</strong> innersten Wesenseigentümlichkeit des<br />
einzelnen angemessen ist, ja daraus hervorwächst.<br />
Das sind ganz Leibniz-nahe Gedanken. Goethes persönlicher<br />
Schicksalsdämon ist <strong>im</strong> Grunde nichts an<strong>der</strong>es als Leibnizens<br />
individuelles Gesetz, das die Eigenart je<strong>der</strong> einzelnen Monade <strong>im</strong><br />
Unterschied von je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en best<strong>im</strong>mt und aus dem die ganze Folge<br />
ihrer Lebenserscheinungen nach und nach mit Notwendigkeit<br />
hervorfließt, so daß jede individuelle Persönlichkeit sich allein aus sich<br />
selbst, aus ihrem inneren Wesen heraus entwickelt, ohne durch äußere<br />
Gewalten von <strong>der</strong> ihr eigentümlichen Bahn abgelenkt zu werden.<br />
Bei Goethe stammt dieser Teil seiner Weltanschauung aus seinen<br />
eigenen persönlichen, erlebten Erfahrungen <strong>im</strong> Laufe seines langen<br />
Lebens und nicht aus einem theoretisch-philosophischen System.<br />
Noch ein weiterer Punkt, den ich bei Mahnke nicht fand, soll das Thema<br />
Goethe-Leibniz abschließen und auf ein an<strong>der</strong>es Feld überleiten.<br />
In einem Kommentar von Leibnizens „Monadologie“ durch Hermann<br />
GLOCKNER (Reclam 1948) liest man bei § 10: „Daß sich jede Monade<br />
unaufhörlich verän<strong>der</strong>t, macht ihr Leben aus. Sie ist in <strong>der</strong> Tat<br />
„geprägte Form, die lebend sich entwickelt“ (Goethe). Die Stetigkeit<br />
aller Verän<strong>der</strong>ungen folgt aus dem Kontinuitätsprinzip, das bei Leibniz<br />
nicht nur in <strong>der</strong> Mathematik (wo es ihn zur Differentialrechnung führte)<br />
son<strong>der</strong>n auch in <strong>der</strong> Metaphysik gilt. Das Universum ist durchgängig<br />
erfüllt, es gibt nirgends eine Lücke und Leere; alle Wesen sind stetig<br />
miteinan<strong>der</strong> verbunden (vergl. § 61). In <strong>der</strong> Natur geschieht alles<br />
gradweise, aber ohne die geringste Unterbrechung und ohne den<br />
kleinsten Sprung. Das Kontinuitätsprinzip fließt aus dem Gesetz <strong>der</strong><br />
Ordnung, wonach die Dinge, je weiter wir sie gedanklich zerlegen, um<br />
so mehr dem Verstande Genüge leisten; Sprünge würden zu<br />
Unauflöslichem führen.―<br />
Hier haben wir also das berühmte Natura non facit saltus. „Die Natur<br />
macht keine Sprünge“. Und tatsächlich soll Leibniz <strong>der</strong> lange gesuchte<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 317<br />
Urheber dieses noch gar nicht so alten Spruches sein, wie <strong>der</strong> Biologe<br />
Herbert WENDT in seinem Buch „Ich suchte Adam― (1953) sagt. Zwar<br />
habe schon <strong>der</strong> Jesuit Eusebius NIERENBERG und <strong>der</strong> englische<br />
Systematiker John Ray die Sprunghaftigkeit <strong>der</strong> Natur bestritten, aber<br />
erst durch die Leibnizsche Philosophie sei er begründet und allgemein<br />
bekannt geworden; nach Leibniz taucht er auch natürlicherweise bei<br />
Carl von LINNÈ in seiner „Philosophia botanica― (1751) auf.<br />
Diese Erkenntnis war es ja wohl auch vor allem, die LEIBNIZ an dem<br />
biblischen Bericht <strong>der</strong> „heiligen Schriftsteller― <strong>der</strong> Arche Noa mit ihrer<br />
„Sündflut― zweifeln ließen. Und zwar aufgrund <strong>der</strong> vielfältigen Zeugnisse<br />
aus vorgeschichtlicher <strong>Zeit</strong>, wie <strong>der</strong> Fossilien, die bei <strong>der</strong> Gewinnung<br />
von Kohle, Mineralien und Erzen zur Metallgewinnung in den<br />
Bergwerken und Höhlen gefunden worden waren. Diesen angeblich<br />
„vorsündflutigen― Zeugnissen hat Leibniz allergrößte Bedeutung<br />
beigemessen und sie in seiner „Protogaea“ ausführlich beschrieben<br />
und in Kupferstichen anschaulich dokumentiert. Dietrich MAHNKE<br />
schreibt:<br />
„in <strong>der</strong> „Protogaea“ n<strong>im</strong>mt Leibniz einen Grundgedanken von<br />
HERDERs Ideen zur Philosophie <strong>der</strong> Geschichte vorweg, die ja die<br />
Geschichte <strong>der</strong> Natur und des Menschengeschlechts als eine große<br />
einheitliche Entwicklung erscheinen lassen. Leibniz ist <strong>der</strong> erste<br />
große Vertreter des mo<strong>der</strong>nen Entwicklungsgedanken. Es gibt nach<br />
ihm nicht zwei getrennte Teile des Alls, son<strong>der</strong>n die Naturgeschichte ist<br />
die Vorläuferin <strong>der</strong> Menschheitsgeschichte, die Geistesentwicklung die<br />
höchste Stufe <strong>der</strong> physischen und biologischen Entwicklung. Auch hier<br />
gibt es keine Sprünge, son<strong>der</strong>n nur kontinuierliche Übergänge vom<br />
Niedrigsten zum Höchsten.“ [<strong>der</strong> erste Satz wurde von MAHNKE, die<br />
beiden folgenden vom Verfasser hervorgehoben]. Auch das „kritische<br />
Lehrbuch― von Reinhard JUNKER und Siegfried SCHERER „Evolution―<br />
(2006, 6. Aufl.), das <strong>der</strong> Evolutionslehre nach DARWIN und WALLACE<br />
auch noch eine biblische Schöpfungslehre vergleichend gegenüberstellt,<br />
betrachtet LEIBNIZ als ersten Vorläufer <strong>der</strong> Evolutionsvorstellungen ab<br />
dem 17. Jahrhun<strong>der</strong>t, <strong>der</strong> postulierte, „daß alle Tierklassen durch<br />
Übergangsformen miteinan<strong>der</strong> verbunden sind―.<br />
Goethe kommt durch seine eigenen intensiven Studien <strong>im</strong> Tier- und<br />
Pflanzenreich zu ganz ähnlichen naturgeschichtlichen Vorstellungen. Im<br />
Rahmen <strong>der</strong> hier beleuchteten Ideengemeinschaften zwischen<br />
Leibniz und Goethe sei nur eine Stelle aus einem Gespräch Goethes<br />
mit Friedrich Wilhelm RIEMER, 1774-1845, langjähriger und engster<br />
wissenschaftlich-editorischer Mitarbeiter Goethes, zitiert, das er mit ihm<br />
am 19. 3. 1807 führte: „Die Natur kann zu allem, was sie machen will,<br />
nur in einer Folge gelangen. Sie macht keine Sprünge. Sie könnte zum<br />
Exempel kein Pferd machen, wenn nicht alle übrigen Tiere voraufgingen,<br />
auf denen sie wie auf einer Leiter bis zur Struktur des Pferdes<br />
heransteigt. So ist <strong>im</strong>mer Eines um Alles, Alles um Eines willen da, weil<br />
ja eben das Eine auch das Alles ist.―<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 318<br />
Dieser Gedanke kehrt dann dichterisch verklärt in Goethes berühmten<br />
Altersgedicht<br />
„Eins und Alles“<br />
wie<strong>der</strong>, das er 14 Jahre später zunächst an RIEMER schickte, bis es<br />
1823 als Abschluß des Heftes „Zur Naturwissenschaft überhaupt“<br />
gedruckt wurde.<br />
Von den vier Strophen seien nachfolgend nur die beiden letzten zitiert,<br />
da diese den „organisch-dynamischen Entwicklungsgedanken― am<br />
entscheidensten zum Ausdruck bringen.<br />
Und umzuschaffen das Geschaffne,<br />
Damit sich’s nicht zum Starren waffne,<br />
Wirkt ewiges lebendiges Tun.<br />
Und was nicht war, nun will es werden,<br />
Zu reinen Sonnen, farbigen Erden,<br />
In keinem Falle darf es ruhn.<br />
Es soll sich regen, schaffend handeln,<br />
Erst sich gestalten, dann verwandeln;<br />
Nur scheinbar steht’s Momente still.<br />
Das Ewige regt sich fort in allen:<br />
Denn alles muß in Nichts zerfallen,<br />
Wenn es <strong>im</strong> Sein beharren will.<br />
Hier ist nichts mehr von SPINOZAs geometrischer Starre und Ruhe zu<br />
finden!<br />
Dazu Robert PETSCH, 1875-1945, Literaturhistoriker: ―Der Vers Denn<br />
alles muß in Nichts zerfallen bezieht sich lediglich auf den körperlichen<br />
Zerfall des einzelnen Lebewesens, nicht aber auf einen Untergang <strong>der</strong><br />
Elemente, und noch weniger <strong>der</strong> geistigen Substanz, die als Entelechie<br />
fortdauert. Goethe denkt hier vielmehr an den Kreislauf des Lebens, in<br />
dessen Verlauf die Formen sich fortwährend wandeln, während Energie<br />
und Substanz ewig bleiben.<br />
Sein Gedicht „Vermächtnis“, das er 1829 veröffentlichte, sollte ja auch<br />
gerade diesem Mißverständnis <strong>der</strong> letzten Zeilen entgegenwirken. Hier<br />
die erste von von sieben Strophen:<br />
Kein Wesen kann zu Nichts zerfallen!<br />
Das Ew’ge regt sich fort in allen,<br />
An Sein erhalte dich beglückt!<br />
Das Sein ist ewig: denn Gesetze<br />
Bewahren die lebend’gen Schätze<br />
Aus welchen sich das All geschmückt.<br />
Ins Ethische gewendet, erscheint <strong>der</strong>selbe Gedanke in dem<br />
Divangedicht Selige Sehnsucht.<br />
Die erste Strophe von „Eins und Alles“ mit den Versen:<br />
…Statt heißem Wünschen, wildem Wollen,<br />
Statt läst’gem For<strong>der</strong>n, strengem Sollen,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 319<br />
paßt hingegen sehr schön zur „Nötigungs-Strophe― <strong>der</strong> „Urworte.<br />
Orphisch―;<br />
die zweite Strophe mag <strong>im</strong> Aphorismus „Die Natur― hier ihre<br />
Entsprechung finden:<br />
„Weltseele, komm, uns zu durchdringen!―<br />
Dem Divangedicht „Selige Sehnsucht“ werden wir später bei<br />
HEISENBERGs Naturbild nochmals begegnen.<br />
Nebenstehend ein Faks<strong>im</strong>ile von Goethes „Eins und Alles“(Jena, 6.<br />
Oktober 1821).<br />
Für Goethe waren die „Urphänomene― durchaus keine unübersteigbare<br />
„eherne Mauer― o<strong>der</strong> generelle „Verbotstafel―. Denn „in <strong>der</strong> Natur gibt es<br />
kein Innen und Außen, weil alle Dinge erscheinendes Wesen sind, alle<br />
Gestalten die Typus-Idee verwirklichen, und eines <strong>im</strong>mer nur mit dem<br />
an<strong>der</strong>en zugleich existiert, Idee und Erscheinung. „Was ist das Äußere<br />
einer organischen Natur an<strong>der</strong>s als die ewig verän<strong>der</strong>te<br />
Erscheinung des Inneren?“ (33, 222; Jubil.ausg, Cotta 1902-1912).<br />
Mit polemischer Schärfe kommt dieser Gedanke in „Gott und die Welt― in<br />
seinen Gedichten „Allerdings“ und „Ult<strong>im</strong>atium“ zum Ausdruck, die<br />
Goethe in seinen morphologischen Heften wie<strong>der</strong>holt und dort dann<br />
noch seinen „Freundlichen Zuruf“ voranstellte:<br />
Freundlicher Zuruf.<br />
―Eine mir in diesen Tagen wie<strong>der</strong>holt sich zudringende Freude kann<br />
ich am Schlusse nicht verbergen. Ich fühle mich mit nahen und fernen,<br />
ernsten, tätigen Forschern glücklich <strong>im</strong> Einklang. Sie gestehen und<br />
behaupten: man solle ein Unerforschliches voraussetzen und zugeben,<br />
alsdann aber dem Forscher selbst keine Grenzlinie ziehen. Muß ich<br />
mich denn nicht selbst zugeben und voraussetzen, ohne jemals zu<br />
wissen, wie es eigentlich mit mir beschaffen sei, studiere ich mich nicht<br />
<strong>im</strong>merfort, ohne mich jemals zu begreifen, mich und an<strong>der</strong>e, und doch<br />
kommt man fröhlich <strong>im</strong>mer weiter und weiter!<br />
So auch mit <strong>der</strong> Welt! Liege sie anfang- und endlos vor uns,<br />
unbegrenzt sei die Ferne, undurchdringlich die Nähe; es sei so; aber wie<br />
weit und wie tief <strong>der</strong> Menschengeist in seine und ihre Gehe<strong>im</strong>nisse zu<br />
dringen vermöchte, werde nie best<strong>im</strong>mt noch abgeschlossen.<br />
Möge nachstehendes heitere Re<strong>im</strong>stück in diesem Sinne<br />
aufgenommen und gedeutet werden!<br />
Allerdings.<br />
Dem Physiker.<br />
„I n s I n n e r e d e r N a t u r –„<br />
O du Philister! -<br />
„D r i n g t k e i n e r s c h a f f n e r G e i s t"<br />
Mich und Geschwister<br />
Mögt ihr an solches Wort<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 320<br />
Nur nicht erinnern:<br />
Wir denken: Ort für Ort<br />
Sind wir <strong>im</strong> Innern.<br />
„G l ü c k s e l i g! w e m s i e n u r<br />
D i e ä u ß r e S c h a l e w e i s t!―<br />
Das hör’ ich sechzig Jahre wie<strong>der</strong>holen,<br />
Ich fluche drauf, aber verstohlen,<br />
Sage mir tausend tausendmale:<br />
Alles gibt sie reichlich und gern;<br />
Natur hat we<strong>der</strong> Kern<br />
Noch Schale,<br />
Alles ist sie mit einem Male;<br />
Dich prüfe du nur allermeist,<br />
Ob du Kern o<strong>der</strong> Schale seist.<br />
*<br />
Ult<strong>im</strong>atum.<br />
Und so sag’ ich zum letzten Male:<br />
Natur hat we<strong>der</strong> Kern<br />
Noch Schale;<br />
Du prüfe dich nur allermeist,<br />
Ob du Kern o<strong>der</strong> Schale seist!<br />
_____<br />
„Wir kennen dich, du Schalk!<br />
Du machst nur Possen;<br />
Vor unsrer Nase doch<br />
Ist viel verschlossen.―<br />
Ihr folget falscher Spur,<br />
Denkt nicht, wir scherzen!<br />
Ist nicht <strong>der</strong> Kern <strong>der</strong> Natur<br />
Menschen <strong>im</strong> Herzen?<br />
*<br />
Mit dem „Physiker― meinte Goethe den Schweizer Dichter, Arzt und<br />
Physiologen Albrecht von HALLER, 1708-1777, Professor in Bern und<br />
Göttingen. Die Gedicht-Zitate stammen aus dessen Gedicht „Die<br />
Falschheit menschlicher Tugenden― V. 289-290, (1730).<br />
Auch Immanuel KANT, 1724-1804, hat A. v. HALLER streng<br />
zurechtgewiesen, dem er erwi<strong>der</strong>te: „Wenn die Klagen: wir sehen das<br />
Innere <strong>der</strong> Natur gar nicht ein, soviel bedeuten sollen als: wir begreifen<br />
nicht durch den reinen Verstand, was die Dinge, die uns erscheinen, an<br />
sich sein mögen, so sind sie ganz unbillig und unvernünftig […] Ins<br />
Innere <strong>der</strong> Natur dringt Beobachten und Zerglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Erscheinungen,<br />
und man kann nicht wissen, wie weit dieses mit <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> gehen werde.―<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 321<br />
Der Medizinhistoriker Dr. med. Thure von ÜKÜLL meint, daß Goethes<br />
Erbitterung sich auch noch gegen KANT richtet. Er sagt: „Diese<br />
Vorstellung, daß wir <strong>im</strong>mer, auch dort, wo wir nur beobachten und<br />
zerglie<strong>der</strong>n, noch <strong>im</strong> Inneren <strong>der</strong> Natur bleiben, deckt sich genau mit<br />
dem Bild, das KANT von <strong>der</strong> Insel des reinen Verstandes inmitten des<br />
weiten und unhe<strong>im</strong>lichen Ozeans entworfen hat, nur das Kant aus <strong>der</strong><br />
Unwirtlichkeit des Ozeans den Schluß zog, es sei besser, die Insel nicht<br />
zu verlassen, eine Vorsicht, die Goethe philisterhaft findet.― Von<br />
ÜXKÜLL fährt fort: ―Wenn wir die verschiedenen Antworten miteinan<strong>der</strong><br />
vergleichen, so fällt auf, daß sich darin zwei verschiedene Auffassungen<br />
des Begriffs „Innen― gegenüberstehen. Für KANT bedeutet „Innen― den<br />
Gegensatz von „Außen―: die Natur als Erscheinung ist eine extensive<br />
Größe, die sich aus <strong>im</strong>mer kleineren, ebenfalls extensiven Teilen<br />
zusammensetzt und in <strong>der</strong> sich das Komplizierte aus dem<br />
Unkomplizierten ableiten läßt. Für Goethe dagegen bedeutet „Innen―<br />
das Darinsein in einem Erleben, das uns die Gegenstände <strong>der</strong><br />
Außenwelt in ein gemeinsames Geschehen stellt.―<br />
Den schärfsten persönlichen, höchst-ironisch formulierten Affront hat<br />
wohl <strong>der</strong> Arzt und Physiologe Julien Offray de LA METTRI, 1709-1751,<br />
gegen A. v. HALLER gerichtet. LA METTRI ist <strong>der</strong> Verfasser des<br />
berühmt-berüchtigten Buches „Der Mensch eine Maschine“ (1747),<br />
das ihn auch eine maßlose Verfolgung an Leib und Seele einbrachte<br />
und er daher an den preußischen Hof in Potsdam und Berlin geflüchtet<br />
ist. Bei Friedrich <strong>der</strong> Große war er als Arzt und Vorleser tätig und<br />
zugleich wurde er Mitglied <strong>der</strong> von Leibniz gegründeten Akademie <strong>der</strong><br />
Wissenschaften. Während seiner <strong>Zeit</strong> in Preußen veröffentlichte er noch<br />
weitere zeitkritische Schriften, wovon seine „Anti-Seneca―, so radikal<br />
gegen religiös-kirchliche und staatliche Bevormundung gerichtet war,<br />
daß Frie<strong>der</strong>ich II. aus Gründen <strong>der</strong> Staatsräson dieses letzte Buch<br />
verboten hat. Trotzdem verlor LA METTRI die Gunst des großen Königs<br />
nicht ganz; als Hofnarr und Spaßmacher hat er ihn weiter um sich<br />
geduldet.<br />
Be<strong>im</strong> Tod schmeichelt er ihn in einer Eloge, die mit den Worten schloß:<br />
„Die Natur hatte LA METTRI einen Schatz unerschöpflicher natürlicher<br />
Heiterkeit verliehen. Sein Geist war lebhaft und seine Einbildungskraft<br />
so fruchtbar, daß sie auf dem dürren Boden <strong>der</strong> Medizin Blumen<br />
wachsen ließ. Er war zum Redner und Philosophen geboren, aber eine<br />
noch kostbarere Gabe war seine reine Seele und sein zuvorkommendes<br />
Wesen. Wer sich von den Schmähungen <strong>der</strong> Theologen nicht<br />
beeindrucken läßt, betrauert in LA METTRI einen ehrbaren und fähigen<br />
Arzt.―<br />
Wer LA METTRIs Vorwort zu seinem Buch „Der Mensch eine<br />
Maschine― liest, das eine höchst ironische Widmung an „An Herrn Haller,<br />
Professor <strong>der</strong> Medizin in Göttingen― ist, wird die Worte Friedrich des<br />
Großen nicht deplaciert finden. Ich kann es mir nicht versagen, dieses<br />
sehr umfangreiche Vorwort ungekürzt hier als Anlage 2 wie<strong>der</strong>zugeben.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 322<br />
Dabei muß zur Vorgeschichte gesagt werden, daß A. v. HALLER<br />
bezüglich eines Kommentars zu Hermann Boerhaave, sich gegenüber<br />
LA METTRI wegen eines angeblichen Plagiats beschwert hatte. Beide<br />
waren sie Schüler von BOERHAAVE , des Begrün<strong>der</strong>s <strong>der</strong> klinischen<br />
Medizin in Leiden und dem bedeutendsten Kliniker <strong>der</strong> damaligen <strong>Zeit</strong>;<br />
A. v. HALLER etwas früher (um 1726) und LA METTRI etwas später<br />
(1734). Im Vorwort bezeichnet sich LA METTRI als Schüler von Albrecht<br />
v. HALLER, was er aber nie wirklich war, son<strong>der</strong>n dies nur <strong>im</strong> Sinne <strong>der</strong><br />
„Wertschätzung― seiner Publikationen in Anspruch nahm und ihm daher<br />
mit großen Lobpreisungen sein Buch widmete.<br />
Der große österreichische Biophysiker Ludwig von BERTALANFFY, *<br />
1901, Professor in Ottawa, Kanada, schrieb 1977: „Die Systemtheorie,<br />
wie sie heute in Entwicklung begriffen ist, deutet auf etwas weiteres hin.<br />
Die Welt ist nicht ein blindes Spiel von Atomen, sie ist eine große<br />
Organisation. Das ist natürlich jene Weltschau, die bereits Leibniz und<br />
Goethe gehabt haben. Aber erst jetzt beginnen wir, sie ernst zu<br />
nehmen, zu erforschen und ihr eine wissenschaftliche Theorie zu geben.<br />
Diese Organisation reicht vom genetischen Code <strong>der</strong> Nukleinsäure-<br />
Moleküle, <strong>der</strong> weit über das hinausreicht, was man noch vor zwanzig<br />
Jahren unter Biochemie verstand, bis zu den Gesetzmäßigkeiten des<br />
Fließgleichgewichts leben<strong>der</strong> Systeme; darüber hinaus, zur<br />
Organisation <strong>der</strong> Psyche, zu Gesetzmäßigkeiten menschlicher<br />
Gemeinschaften und zu Gesetzen <strong>der</strong> Geschichte. Man kann mit<br />
Recht ungeduldig sein, daß alle diese Entwicklungen heute erst<br />
unzureichende Anfänge sind. Aber dann muß man auch bedenken, wie<br />
lange Jahrhun<strong>der</strong>te es dauerte, um von dem intuitiven Weltsystem eines<br />
KOPERNIKUS und KEPLER zur klassischen Physik eines<br />
Mittelschullehrbuches vor fünfzig Jahren zu gelangen.<br />
Das, was BERTALANFFY hier nur ganz grob in einem Beitrag zu<br />
einem interdisziplinärem Kolloquium „Wohin führt die Biologie―<br />
skizzierte, hat Thure von ÜXKÜLL noch etwas ausführlicher dargestellt.<br />
Diese klare Beschreibung hat mich als Chemiker beson<strong>der</strong>s<br />
angesprochen, und ich kann es mir wie<strong>der</strong>um nicht versagen, einige<br />
Stellen aus seinem Vortrag „Philosophische Probleme <strong>der</strong> Medizin― hier<br />
folgen zu lassen, den T. von ÜXKÜLL 1946(!) zum 300. Geburtstag von<br />
Leibniz in Hamburg gehalten hat. Weiter Passagen aus diesem Vortrag<br />
finden Interessierte in <strong>der</strong> Anlage 3.<br />
„So haben wir <strong>im</strong> Inneren <strong>der</strong> lebenden Natur einen kleinen, aber<br />
präzisen Mechanismus entdeckt, eine Regulationsmaschine, die uns<br />
das Gehe<strong>im</strong>nis <strong>der</strong> Lebenserscheinungen als Spiel physikalischchemischer<br />
Stoffe und Kräfte enthüllt.<br />
Indem wir das Große auf das Kleine, das Komplizierte auf das<br />
Unkomplizierte zurückführten, haben wir ein ebenso übersichtliches wie<br />
grandioses Bild <strong>der</strong> Wirklichkeit gewonnen.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 323<br />
Die gleichen Kräfte, nach denen die Elektronen ihre Bahn um den<br />
Atomkern ziehen, bewirken die Gruppierung <strong>der</strong> Atome zu den <strong>im</strong>mer<br />
größeren, <strong>im</strong>mer komplizierteren Gebilden <strong>der</strong> Moleküle. Den gleichen<br />
Kräften folgend, treten die Moleküle in den Lösungen zueinan<strong>der</strong> in<br />
Beziehung, ziehen sich an, stoßen sich ab, tauschen weniger stabile<br />
Anhängsel miteinan<strong>der</strong> aus und bauen die zähflüssigen Zwischenwände<br />
innerhalb und außerhalb <strong>der</strong> Zellen, aus denen sich dann die<br />
Organismen zusammensetzen. Den Gesetzen dieser Kräfte folgend,<br />
fügen sich best<strong>im</strong>mte Molekülgruppen <strong>im</strong> Inneren <strong>der</strong> Zellen zur<br />
Regulationsmaschine des Kerns, dessen Wirkungen den Aufbau und<br />
das Leben <strong>der</strong> Organismen und die Entstehung <strong>der</strong> Arten hervorbringen.<br />
Wir sind in das Innere einer ungeheueren Maschine eingetreten, einer<br />
Art Mühle, in <strong>der</strong> sich ein ständiges Kreisen, Anziehen, Abstoßen,<br />
Austauschen und Verbinden kleinster und größerer Kugeln unserem<br />
erstaunten Auge darstellt.<br />
Dieses Bild ist in <strong>der</strong> Tat atemberaubend, und da es mehr als ein<br />
bloßes Bild ist, da es Wirklichkeit geworden ist, die wir mit Augen sehen<br />
und mit Hilfe <strong>der</strong> physikalischen Instrumente greifen können, stehen wir<br />
etwas beklommen vor dieser Enthüllung des Inneren <strong>der</strong> Natur. Fragen<br />
wir nach dem Leben, so sehen wir uns belehrt, daß dieser „Zustand <strong>der</strong><br />
Materie― sich nur durch seine ungeheuere Kompliziertheit von dem<br />
Leblosen unterscheidet.<br />
Als NAPOLEON sich von LAPLACE die Einzelheiten des neuen<br />
astronomischen Weltbildes und die staunenswerte Präzision dieser<br />
Maschine erklären ließ, fragte er den Gelehrten: „Und von Gott, <strong>der</strong><br />
diese Maschine gebaut hat und erhält, sagen Sie nichts?― Die Antwort<br />
LAPLACE’ lautete: „Sire, wir glauben, ohne diese Hypothese<br />
auskommen zu können.― Würden wir heute einen Physiologen nach dem<br />
Leben fragen, das die bewun<strong>der</strong>nswerte Maschine <strong>der</strong> Organismen<br />
aufbaut und erhält, so würde er mit LAPLACE antworten können, daß<br />
man glaubt, ohne diese Hypothese auszukommen.<br />
Wir sind in das Innerste <strong>der</strong> belebten Natur eingedrungen, aber wir<br />
sehen uns vergeblich nach dem um, was wir gewohnt waren, unter<br />
Leben zu verstehen. Wir suchen vergeblich nach Empfindungen und<br />
Wahrnehmungen, nach Gedanken und Entschlüssen. Statt dessen<br />
finden wir nur energiegeladene Kugeln, die sich drehen.<br />
Hier erinnern wir uns an einen Ausspruch Leibniz’: „Denkt man sich<br />
etwa eine Maschine, <strong>der</strong>en Einrichtung so beschaffen wäre, daß sie zu<br />
denken, zu empfinden und zu percipieren [sinnlich wahrnehmen]<br />
vermöchte, so kann man sie sich unter Beibehaltung <strong>der</strong>selben<br />
Verhältnisse vergrößert denken, so daß man in sie wie in eine Mühle<br />
hineintreten kann. Untersucht man alsdann ihr Inneres, so wird man in<br />
ihr nichts als Stücke finden, die einan<strong>der</strong> stoßen, niemals aber etwas,<br />
woraus man eine Perzeption erklären könnte.―<br />
Schluß <strong>der</strong> zitierten Stelle aus T. v. ÜXKÜLLS Vortrag, weiteres daraus<br />
– wie oben bereits gesagt - siehe Anlage 3.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 324<br />
Die zuletzt zitierte Stelle ist aus Leibniz’ berühmter „Monadologie“ (§<br />
17) entnommen, die anschließend die noch drei weiteren Sätze Leibniz’<br />
enthält, die hier auch zitiert seien:<br />
„Also muß man die Perzeptionen doch wohl in <strong>der</strong> einfachen Substanz<br />
suchen, und nicht in dem Zusammengesetzten o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Maschinerie!<br />
Auch läßt sich in <strong>der</strong> einfachen Substanz nur dieses allein finden:<br />
Perzeptionen und ihre Verän<strong>der</strong>ungen. Darin allein müssen alle inneren<br />
Tätigkeiten <strong>der</strong> Monaden bestehen.―<br />
Es ist lohnend, in diesem Zusammenhang noch weitere Stellen aus<br />
Leibniz’ „Monadologie― zu zitieren. Aus § 18:<br />
„Man könnte allen einfachen Substanzen o<strong>der</strong> geschaffenen Monaden<br />
den Namen „Entelechien― geben; denn sie haben eine gewisse<br />
Vollendung in sich. Es gibt in ihnen eine Selbstgenügsamkeit, welche sie<br />
zu Quellen ihrer inneren Tätigkeiten und sozusagen zu unkörperlichen<br />
Automaten macht.―<br />
In § 64 <strong>der</strong> „Monadologie― heißt es:<br />
Daher ist je<strong>der</strong> organische Körper eines Lebendigen eine Art von<br />
göttlicher Maschine o<strong>der</strong> natürlichem Automaten, <strong>der</strong> alle künstlichen<br />
Automaten unendlich übertrifft. Eine durch menschliche Kunst verfertigte<br />
Maschine ist nämlich nicht in jedem ihrer Teile Maschine. So hat zum<br />
Beispiel <strong>der</strong> Zahn eines Messingrades Teile o<strong>der</strong> Bruchteile, die für uns<br />
nichts Künstliches mehr sind und die nichts mehr an sich haben, was in<br />
Bezug auf den Gebrauch, zu dem das Rad best<strong>im</strong>mt war, etwas<br />
Maschinenartiges verrät. Aber die Maschinen <strong>der</strong> Natur, d. h. die<br />
lebendigen Körper, sind noch Maschinen in ihren kleinsten Teilen<br />
bis ins Unendliche. Das ist <strong>der</strong> Unterschied zwischen <strong>der</strong> Natur und<br />
<strong>der</strong> Technik, d. h. zwischen <strong>der</strong> göttlichen Kunstfertigkeit und <strong>der</strong><br />
unsrigen.―<br />
Das Dynamische <strong>im</strong> Organischen in Leibniz’ Naturschau folgt auch<br />
aus den § 72-75:<br />
„Auch gibt es keine ganz und gar für sich bestehenden Seelen o<strong>der</strong><br />
Genien ohne Körper. Gott allein ist vom Köper völlig frei. – Aus diesem<br />
Grunde gibt es auch streng genommen niemals eine völlige<br />
Neuerzeugung und niemals einen vollkommenen, in <strong>der</strong> Trennung <strong>der</strong><br />
Seele vom Körper bestehenden Tod. Was wir Zeugung nennen, ist in<br />
Wahrheit Entwicklung und Wachstum. So ist auch, was wir Tod<br />
nennen, Einziehung und Vermin<strong>der</strong>ung. – Die Philosophen sind über<br />
den Ursprung <strong>der</strong> Formen, Entelechien o<strong>der</strong> Seelen sehr in Verlegenheit<br />
gewesen. Nachdem man aber heutzutage durch genaue<br />
Untersuchungen an Pflanzen, Insekten und an<strong>der</strong>en Lebewesen<br />
beobachtet hat, daß die organischen Naturkörper niemals aus einem<br />
Chaos o<strong>der</strong> aus einer Fäulnis hervorgehen, son<strong>der</strong>n <strong>im</strong>mer aus Samen,<br />
in welchen ohne Zweifel irgendeine Präformation bestand, ist man zu<br />
<strong>der</strong> Ansicht gekommen, daß nicht allein <strong>der</strong> organische Körper schon<br />
vor <strong>der</strong> Empfängnis <strong>im</strong> Samen vorhanden war, son<strong>der</strong>n auch eine Seele<br />
in diesem Körper und mit einem Wort das Lebewesen selbst. Vermittels<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 325<br />
<strong>der</strong> Empfängnis wird dieses Lebewesen lediglich zu einer großen<br />
Umbildung befähigt; es wird dadurch ein Geschöpf an<strong>der</strong>er Art. Etwas<br />
Ähnliches bemerkt man selbst ohne Zeugung, wenn zum Beispiel die<br />
Maden zu Fliegen und die Raupen zu Schmetterlingen werden. – Die<br />
Lebewesen, von denen einige vermittels <strong>der</strong> Empfängnis auf die Stufe<br />
größerer Tiere erhoben werden, kann man spermatische nennen.<br />
Diejenigen unter ihnen, welche in ihrer Art verbleiben, werden geboren,<br />
vermehren sich und verfallen wie die großen Tiere. Nur eine kleine<br />
Anzahl von Auserwählten geht auf die größeren Schauplätze über.―<br />
In § 10 heißt es: „Ich nehme ferner als ausgemacht an, daß jedes<br />
geschaffene Wesen und folglich auch die geschaffene Monade <strong>der</strong><br />
Verän<strong>der</strong>ung unterworfen ist, ja daß diese Verän<strong>der</strong>ung sogar stetig in<br />
einer jeden stattfindet.―<br />
Hermann GLOCKNER; <strong>der</strong> Herausgeber und Übersetzer meiner<br />
Monadologie-Reclam-Ausgabe von 1948 kommentiert diesen<br />
Paragraphen teilweise so: „Daß sich jede Monade unaufhörlich<br />
verän<strong>der</strong>t, macht ihr Leben aus. Sie ist in <strong>der</strong> Tat „geprägte Form, die<br />
lebend sich entwickelt.― (Goethe). Die Stetigkeit aller Verän<strong>der</strong>ungen<br />
folgt aus dem Kontinuitätsprinzip, das bei Leibniz nicht nur in <strong>der</strong><br />
Mathematik (wo es ihn zur Differentialrechnung führte), son<strong>der</strong>n auch in<br />
<strong>der</strong> Metaphysik gilt. …―<br />
Die „Monadologie― hat Leibniz 1714 in französischer Sprache verfaßt<br />
und gehört zu seinen letzten sog. „Vermächtnisschriften―. Sie wurde erst<br />
aus seinem Nachlaß veröffentlicht. Er hatte sie aber bereits einem<br />
Korrespondenzpartner überreicht, dem Platoniker Nicolas RÉMOND.<br />
Dazu angeregt wurde Leibniz durch Leser seiner „Theodizee―, die eine<br />
Aufklärung über seine philosophische Gesamtanschauung wünschten.<br />
Auf die LEIBNIZ-Monaden geht auch <strong>der</strong> Naturphilosoph Bernhard<br />
BAVINK, 1879-1947, in seinem bekannten Buch „Ergebnisse und<br />
Probleme <strong>der</strong> Naturwissenschaften. Eine Einführung in die heutige<br />
Naturphilosophie― ein (1944, 8. Aufl., S. 226), wenn er die gegenseitige<br />
universelle Durchdringung aller „Massepunkte― <strong>der</strong> elektromagnetischen<br />
Wellen des Rundfunks bzw. die MAXWELLschen Feldgleichungen<br />
vergleicht: „dies ist auch <strong>der</strong> Ausgangspunkt <strong>der</strong> LEIBNIZschen Lehre,<br />
wonach die „Monade― <strong>der</strong> Spiegel des Universums sein sollte.― Eine<br />
wohl bemerkenswerte Vorahnung von LEIBNIZ!<br />
LEIBNIZ wäre wohl hell begeistert gewesen, wenn er in seiner<br />
geliebten mathematischen Kombinatorik eine biologische Sprache aus 4<br />
„Buchstaben― kennen gelernt hätte, die aus den vier Basenmolekülen<br />
Adenin, Cytosin, Guanin und Tymin die verschiedensten<br />
Desoxyribonukleinsäuren (DNA), die Erbsubstanz (Gene), mittels<br />
eines „genetischen Codes― aufzubauen in <strong>der</strong> Lage ist. Seine<br />
Monaden, die er bereits 250 Jahre vorher unterstellte, wurden materiell<br />
nun als physikalisch-chemische Doppelspiral-Strukturen weitgehend<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 326<br />
aufgeklärt, <strong>der</strong>en Vorhandensein aber etwa 150 Jahre nach Leibniz’ Tod<br />
<strong>der</strong> Augustinermönch Gregor MENDEL exper<strong>im</strong>entell durch<br />
Pflanzenkreuzungen nachweisen sollte!<br />
Der große Physiker Pascual JORDAN, 1902-1980, <strong>der</strong> mit 23 Jahren<br />
zusammen mit Werner HEISENBERG und Max BORN Mitbegrün<strong>der</strong><br />
wichtiger Teile <strong>der</strong> Quantenmechanik war ( BORN empfahl ihn seinem<br />
Freund Albert EINSTEIN als „beson<strong>der</strong>s klugen scharfsinnigen Kopf―)<br />
schreibt in seinem Buch: Der Naturwissenschaftler vor <strong>der</strong> religiösen<br />
Frage. Abbruch einer Mauer― :<br />
„STAUDINGER, <strong>der</strong> wegweisende Erforscher <strong>der</strong> „Riesenmoleküle―,<br />
wie sie in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Kunststoffchemie so entscheidende Bedeutung<br />
erlangt haben, hat als Kennzeichnung des Organischen<br />
ausgesprochen: .<br />
„Bis zum Molekül hinunter ist alles durchstrukturiert“<br />
Es lohnt sich, das in diesem knappen Satz gesagte etwas<br />
ausführlicher auseinan<strong>der</strong>zufalten.―<br />
Lei<strong>der</strong> reicht <strong>der</strong> Raum hier nicht, alles wie<strong>der</strong>zugeben. Aber die Anlage<br />
3 enthält manches, was JORDAN dazu aussagt, nur mit den Worten von<br />
v. ÜXKÜLL. Zwei Sätze noch von JORDAN:<br />
„Es ist <strong>der</strong> Inhalt des von STAUDINGER ausgesprochenen Satzes,<br />
daß hierin kein Abschluß zu erreichen ist, bevor wir nicht bis zu den<br />
Molekülen, Atomen, Elementarteilchen hinuntergekommen sind. Das<br />
aber ist eine Beson<strong>der</strong>heit <strong>der</strong> organischen Naturerscheinungen.“<br />
Zum großen Chemiker Professor Hermann STAUDINGER, 1881-<br />
1965, dem „Vater <strong>der</strong> Makromoleküle― und Chemie-Nobelpreisträger<br />
1953, habe ich zwei beson<strong>der</strong>e persönliche Beziehungen. Erstens war<br />
er über eines seiner bekannten Lehrbücher mein „Lehrer―, zweitens ist<br />
er mir dann aus seiner Ahnentafel, die <strong>der</strong> Genealoge Friedrich Wilhelm<br />
EULER für die ersten Generationen <strong>im</strong> Jahre 1981 veröffentlicht hat,<br />
zum „genealogischen Forschungsgegenstand― geworden!<br />
Die Ahnenschaft STAUDINGERS konnte ich aufgrund meines großen<br />
genealogischen Archivs bis zu <strong>der</strong> berühmten hessischen<br />
Gelehrtenfamilie ORTH aus Marburg zurückverfolgen, <strong>der</strong>en<br />
bürgerlicher Stammvater sich urkundlich bis zum 15. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
zurückverfolgen läßt. Von dieser hessischen Gelehrtenfamilie ORTH<br />
konnte Anfang des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts „nur― eine 3-fache Abstammung<br />
Goethes über dessen Mutter nachgewiesen werden. Für Prof. Hermann<br />
STAUDINGER konnte ich hingegen eine 8-fache ORTH-Abstammung<br />
nachweisen; und zwar 5-mal väterlicherseits und 3-mal mütterlicherseits.<br />
Über den „Stammbaum― <strong>der</strong> hessischen Familie ORTH wird <strong>im</strong><br />
genealogischen Teil meines Büchleins noch ausführlicher berichtet<br />
werden, da diese bürgerliche Familie ja <strong>der</strong> eigentliche Anstoß zum<br />
Manuskript meines kleinen Buches überhaupt war. Hier kann ich aus<br />
eigener Kompetenz und nach jahrelanger Forschungs- und<br />
Zusammenstellungsarbeit berichten und diese Familie auch auf eine<br />
breitere statistische Grundlage zu an<strong>der</strong>en gut erforschten bürgerlichen<br />
Familien in Deutschland stellen.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 327<br />
Nach diesem naturphilosophischen Streifzug nun allmählich zurück<br />
zum historischen und genealogischen Leibniz. Bereits nach seinem<br />
Pariser Aufenthalt (1672-1676) und einem kurzen Londoner<br />
Zwischenaufenthalt (November 1676), hatte LEIBNIZ die beiden<br />
nie<strong>der</strong>ländischen Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> Mikrobiologie in Holland besucht: Anton<br />
VAN LEEUWENHOEK, 1632-1723, in Delft und Jan SWAMMERDAM,<br />
1637-1680, in Amsterdam. VAN LEEUWENHOEK entdeckte mit einem<br />
selbst gebauten Mikroskop Infusorien und Bakterien; SWAMMERDAM<br />
beobachtete als erster die roten Blutkörperchen.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
11<br />
11.1 LEIBNIZ’ Protogaea<br />
Seine <strong>im</strong> Laufe vieler Jahre gesammelten naturwissenschaftlichen<br />
Kenntnisse aus Dokumenten, Unterredungen mit führenden<br />
Fachvertretern seiner <strong>Zeit</strong> und seine eigenen Beobachtungen in den<br />
Bergwerken und Höhlen des Harzes, ließen in Leibniz den Wusch reifen,<br />
auch die erdgeschichtliche Entwicklung mit seinen geschichtlichen<br />
Forschungen zu verbinden. Die “Protogaea“, die vor allem eine<br />
Deutung <strong>der</strong> Erdgeschichte, aber auch schon eine über das Leben auf<br />
<strong>der</strong> Erde ist, sollte seiner Welfengeschichte vorausgeschickt werden.<br />
Daß die „Protogaea“, wohl bereits 1691 begonnen und 1694<br />
abgeschlossen, also 22 Jahre vor Leibniz’ Tod, erst 1749 veröffentlich<br />
worden ist, hat wohl vor allem auch „ideologische― Gründe; denn zu<br />
„ketzerisch― muteten damals noch seine nur vorsichtig formulierten<br />
naturwissenschaftlichen Vermutungen an, die er dem biblischem<br />
Schöpfungsbericht gegenüberstellte. Durfte er doch seinen allgemeinen<br />
Ruf, den er auch in theologischen Dingen besaß, nicht allzu sehr in<br />
Frage stellen. Die Veröffentlichung seiner „Theodizee“ hatte ihm ja<br />
schon in breiten Kreisen den Spottnamen „Glaubenichts“ eingebracht.<br />
Vorsichtig zitiert er manchmal daher die Meinung an<strong>der</strong>er, z.B. in<br />
entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht, daß alle Landtiere früher auf<br />
Wassertiere zurückgehen, die später Amphibien und danach schließlich<br />
Landbewohner geworden seien. Und fügt dann ausdrücklich hinzu:<br />
„Doch solches wi<strong>der</strong>spricht den heiligen Schriftstellern, von denen<br />
abzuweichen sündhaft ist.―<br />
Erst 60 Jahre vorher (1632) hatte man Galileo GALILEI, 1564-1642,<br />
vor die päpstliche Inquisition gebracht!<br />
Hierzu ein Zitat: „Und man gibt sich – oft mit einem leisen Lächeln, ja<br />
sogar mit einer gewissen Rührung – <strong>der</strong> Wahrnehmung hin, daß hier ein<br />
titanischer Geist sich mit hoher Sorgfalt vor den Mächten <strong>der</strong> Konvention<br />
und des „guten Tones― seiner <strong>Zeit</strong> beugt. Ja, daß er oft die Apodiktizität<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 328<br />
[Beweisführung] seiner Sprache aufgibt, daß er sich tarnt und sich<br />
Masken vorhält, um jene Mächte auf keinen Fall zu verletzen. Man<br />
vergleiche hiermit etwa die die Grenzen des Wohlanstandes weit<br />
überschreitende Anbellerei SCHOPENHAUERs o<strong>der</strong> den schneidenden,<br />
messerscharfen Sarkasmus eines NIETZSCHE. (Katharina KANTHACK:<br />
Leibniz. Ein Genius <strong>der</strong> Deutschen, 1946, Kapitel: Die Geistesgestalt, S.<br />
102)<br />
Die große Welfengeschichte, mit <strong>der</strong> Leibniz schon 1685 vom<br />
Kurfürsten Ernst August<br />
(+ 1698) und später Georg I. (+ 1727) von Hannover beauftragt worden<br />
war, ist ihm dann ja auch zu einer großen Bürde geworden, die ihm sehr<br />
viel Kraft und <strong>Zeit</strong> raubte, die er eigentlich lieber für ihn wichtigere<br />
Gebiete verwendet hätte. Einige Monate noch vor seinem Tode seufzt<br />
Leibniz in einem Brief vom 17. Sept. 1715 an P. A. MICHELOTTI:<br />
„Ich stecke tief in einer großen historischen Arbeit, die ich auf höheren<br />
Befehl übernommen und wofür ich eine riesige Stoffsammlung angelegt<br />
habe. Ich bemühe mich, sie zu vollenden, solange meine Kräfte<br />
reichen, damit die Arbeit nicht verloren ist; auch drängt mich <strong>der</strong> Wunsch<br />
des großen Königs und <strong>der</strong> hohen Herren. Auf dieses Werk verwende<br />
ich nun all meine <strong>Zeit</strong>, die mir die alltäglichen Pflichten und die Sorge um<br />
meine Gesundheit übriglassen, und ich bin gezwungen, alle<br />
mathematischen, philosophischen und juristischen Überlegungen, zu<br />
denen ich mich hingezogen fühle, zurückzustellen. Deshalb stockt mein<br />
brieflicher Verkehr, und ich muß mich entwe<strong>der</strong> völlig entschuldigen<br />
o<strong>der</strong> die Antwort auf Briefe meiner Freunde aufschieben, bis wie<strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />
für mich selbst zu haben.―<br />
Auf dem Titelblatt <strong>der</strong> Welfengeschichte sollte eine Allegorie mit <strong>der</strong><br />
Figur <strong>der</strong> Wahrheit stehen, die über den Pyrrhonismus (Skeptizismus)<br />
gegenüber gesicherter Erkenntnis triumphiert. 1692 hatte er sich in<br />
einem Brief an Kurfürst Ernst August schon trefflich darüber geäußert:<br />
„Diesem Aufspüren <strong>der</strong> Wahrheit dienen Chronologie und<br />
Genealogie [sic!], das Knochengerüst und das Nervensystem <strong>der</strong><br />
Geschichtsschreibung, die am ehesten <strong>der</strong> quellenkritischen Prüfung<br />
standhalten und am weitesten dem Ideal mathematischer<br />
Beweisführung entsprechen.―<br />
Welch hohen Stellenwert räumt Leibniz hier doch Chronologie und<br />
Genealogie ein!<br />
Am deutlichsten kommt dies in einem Schreiben von Leibniz an Herzog<br />
Ernst August zum Ausdruck, das er 1692 <strong>im</strong> Rahmen eines<br />
Zwischenberichtes zu seiner Welfenchronik abgab. Hier wohl auch mit<br />
als entschuldigende Begründung abgegeben für das nur langsame<br />
Fortschreiten seiner Arbeit, an die er hohe wissenschaftliche Ansprüche<br />
stellte und sie auch in landesgeschichtliche, europäischstaatengeschichtliche,<br />
stammesgeschichtliche und sogar in<br />
erdgeschichtliche Gesamtzusammenhänge einbinden wollte. Leibniz<br />
schreibt hier:<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 329<br />
„Es steht fest, daß wir in einem aufgeklärten Jahrhun<strong>der</strong>t leben,<br />
welches Exaktheit und Beweise in allen menschlichen Wissenschaften<br />
verlangt, soweit diese dazu fähig ist. Die Entdeckungen auf dem Gebiete<br />
<strong>der</strong> H<strong>im</strong>melsmechanik, die genaue Beschreibung des Erdballes, die<br />
Anatomie <strong>der</strong> Tiere, die Beschreibung <strong>der</strong> Pflanzen, die Exper<strong>im</strong>ente <strong>der</strong><br />
Chemie, die Analysis <strong>der</strong> Mathematiker, die militärischen<br />
Wissenschaften und alle Künste, sowohl die freien als auch die<br />
mechanischen, beweisen es. Die Exaktheit, die die wahren Gelehrten<br />
heute for<strong>der</strong>n, erstreckt sich auch auf die Geschichtswissenschaft, die<br />
dafür am wenigsten geeignet erscheint [sic!] und die tatsächlich einst<br />
von jenen Geschichtsschreibern in sehr romanhafter Weise behandelt<br />
worden ist, die nur danach getrachtet haben, den Mächtigen zu gefallen<br />
und die an<strong>der</strong>en zu unterhalten.― (Übersetzung nach G. Scheel).<br />
LEIBNIZ hatte bei seinen früheren eigenen Forschungen in<br />
Süddeutschland, Österreich und Italien in den Jahren 1687-1690 be<strong>im</strong><br />
Suchen nach den Wurzeln <strong>der</strong> Abstammung <strong>der</strong> Welfen von den<br />
italienischen Esten schon viel praktische Erfahrung mit <strong>der</strong><br />
genealogischen Quellenforschungen erworben und wußte, welcher<br />
<strong>Zeit</strong>aufwand für solche Forschungen oft nötig ist, um nur eine einzige<br />
Abstammung korrekt urkundlich zu belegen. Vor allem, wenn die Daten<br />
über 4-5 Jahrhun<strong>der</strong>te zurückliegen.<br />
Bevor wir näher über „Leibniz als Genealogen― eingehen, soll hier<br />
zunächst näheres über seine hochinteressante „Protogaea“ berichtet<br />
werden, die ja, - wie gesagt - seinem historisch- genealogischen Werke<br />
vorangestellt werden sollte.<br />
Nachdem Heinrich PERTZ Leibniz’ ANNALES IMPERII OCCIDENTIS<br />
BRUNSVISCENSIS, - die die Jahre 768-1005 umfassen -, in drei<br />
Bänden in lateinischer Sprache in den Jahren von 1843-1846<br />
herausgegeben hatte, hat PERTZ <strong>im</strong> Jahre 1847 auch noch einige<br />
kleinere historische Schriften, die Leibniz in deutscher Sprache verfaßt<br />
hatte, in einem vierten Band veröffentlicht. Uns interessiert hier nur eine<br />
Schrift, <strong>der</strong> „Entwurf <strong>der</strong> Welfischen Geschichte“, <strong>der</strong> viel<br />
Gemeinsames mit dem Anfang <strong>der</strong> „Protogaea“ selbst hat. Mir scheint<br />
es reizvoll, hiervon zunächst auch erst einmal die ersten Seiten daraus<br />
ungekürzt zu zitieren, da hier auch noch ein hochinteressanter, weiterer<br />
interdisziplinärer Aspekt erscheint, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> „Protogaea― nicht<br />
vorkommt: nämlich ein sprachgeschichtlicher, handelnd vom gleichen<br />
Ursprung <strong>der</strong> Sprachen <strong>der</strong> Völker. Ist es für Leibniz bekanntlich doch<br />
auch eine beson<strong>der</strong>s entspannungsför<strong>der</strong>nde Liebhaberei, den Wurzeln<br />
<strong>der</strong> Wörter nachzugehen, wo mit er auch zu einem Mitbegrün<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Etymologie geworden ist. Der o.g. Entwurf beginnt so [Hervorhebungen<br />
vom Verfasser AR]:<br />
„ Man muss die Histori des hochfürstl. Hauses also einrichten, dass sie<br />
nicht nur vor Landesleute diene, son<strong>der</strong>n auch fremden angenehm sey;<br />
daher allerhand einhe<strong>im</strong>ische Minutien zu vermeiden, als umb welche<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 330<br />
sich an<strong>der</strong>e wenig bekümmern, hingegen aber solche Dinge<br />
einzurücken, da sich die unsrige Sachen auff Universalia ziehen und<br />
denen ein Liecht geben. Und muss man darinn dem Aventino in <strong>der</strong><br />
Beyrischen, dem Marianae in <strong>der</strong> Spanischen, und an<strong>der</strong>n <strong>der</strong>gleichen<br />
guthen Historicis folgen, damit man ein Werck mache, das auff die<br />
Posterität kommen könne.<br />
Weilen ich nicht nur des hochfürstl. Hauses, son<strong>der</strong>n auch Landes<br />
Braunschweig-Lüneburg Histori zu verfassen und dabey die<br />
Estensischen Ursprünge als davon das Geschlecht <strong>der</strong> Herzöge, so<br />
diese unsre Lande regiren, hehrkomt, nicht zu vergssen habe, so lauffen<br />
mit viel wichtige Generalia ein, dazu ich aber auss unsern und den<br />
Estensischen Monumenten und Urkunden viel Neues bisher nicht wohl<br />
bekandtes an Tag bringe.<br />
Ich fange an von den höchsten Antiquitäten dieser Lande, ehe sie<br />
vielleicht von Menschen bewohnt worden, und so alle Historien<br />
übersteigen, aber aus Merckmahlen genommen werden, so uns die<br />
Natur hinterlassen. Nehmlich dass allem Ansehen nach ein grosses<br />
Theil dieser Lande (des unterirrdischen Bergfeuers zu geschweigen,<br />
davon die fluores minerales o<strong>der</strong> fusiones und an<strong>der</strong>e Bergarten, wie<br />
auch Georgius Agricola beobachtet, zeigen) vom Wasser<br />
Verän<strong>der</strong>ungen gelitten, und dass diese Lande grossen Theils unter<br />
Meer gewesen, zeigen die Glossopetrae [Zungensteine, fossile<br />
Fischzähne], den Maltesischen gleich, Bernstein und spolia an<strong>im</strong>alium<br />
marinorum; da dann auch zu handeln von Rippen, Zähnen und Reliquiis<br />
<strong>der</strong> unbekandten Thiere <strong>im</strong> Schwarzfeldischen Loch und <strong>der</strong><br />
Baumannshöhle, die ich selbst ein Stück vom Felsen abschlagen<br />
lassen, und daran einen Knochen gefunden. Desgleichen werde<br />
handeln von denen metallischen Fischen zu Osteroda, welches<br />
wahrhaffter Fische Abformungen seyn, und bey <strong>der</strong>en Generation<br />
Feuer und Wasser concurriret haben mag. Dahin gehören auch die<br />
ruinae montium und an<strong>der</strong>e Hauptverän<strong>der</strong>ungen und einige Notabilia<br />
betreffend unsern Harz, als höchsten Orth dieser Gegend.<br />
Dann komme ferner zu den urältesten Habitatoribus [Einwohnern] o<strong>der</strong><br />
so nennenden Aboriginibus [Ureinwohnern] dieser Lande und davon<br />
übrigen Monumentis, so älter als alle Schriften, als ob nehmlich alhir vor<br />
Alters Riesen und Zwerge gewohnet, wie einige behaupten wollen; von<br />
den Monumento bey Helmstad, das Conringius hält pro opere gigantum<br />
[gewaltige Arbeiten], von denen tumulis [begraben] <strong>im</strong><br />
Dannenbergischen und sonst hin und wie<strong>der</strong>, daraus uranae [Krüge]<br />
und ossa [Knochen] gegraben werden, von den sogenannten<br />
Erdttöpfen, so etliche pro lusu naturae [Spiele <strong>der</strong> Natur] halten. Dann<br />
von den antiquiss<strong>im</strong>is migrationibus populorum [alten umherziehenden<br />
Völkern] und <strong>der</strong>en connexione [Verwandtschaft]. Wie man aus <strong>der</strong><br />
Harmoni <strong>der</strong> Sprachen urtheilen kann, dass alle Menschen eines<br />
Ursprungs; von Vergleichung <strong>der</strong> Vater Unser, wie die Worthe, so<br />
bedeuten Vater fast in alle Sprachen Asiae und Europae kommen von<br />
Abba o<strong>der</strong> Atta, und entwe<strong>der</strong> arabischen o<strong>der</strong> scythischen Ursprungs<br />
o<strong>der</strong> vermischten Ursprungs seyn und <strong>der</strong>gleichen mehr; da ich dann<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 331<br />
viel ungemeines entdecken werde. Dass alle deutschen Völcker an <strong>der</strong><br />
Seeküste, die Schweden, Dänen und Englän<strong>der</strong> selbst nicht<br />
ausgeschlossen, Sächsischen Ursprungs und einer Mundart<br />
etlichermassen seyn und communia [Gemeinsames] haben von <strong>der</strong><br />
Oberdeutschen Art geson<strong>der</strong>t. Wie diese Sachsen und alle Teutschen<br />
Völcker aus Scythien kommen. Wie die C<strong>im</strong>bern und Celten von den<br />
Teutschen getrieben worden, und diesen hinwie<strong>der</strong>umb die<br />
Hunnen und Sarmaten o<strong>der</strong> Wenden auff den Fuss nachgefolget,<br />
denen <strong>der</strong>gleichen zuletzt von den Tartaren wie<strong>der</strong>fahren. Von den<br />
Sacis, Dahis, Getis, C<strong>im</strong>meriis, <strong>der</strong>en in Asien schohn Herodotus <strong>der</strong><br />
älteste Historicus gedencket. Dass die heutige Persische Sprache viel<br />
Teutsches in sich habe, dass noch reliquiae Germanorum in dem Lande<br />
<strong>der</strong> Praecopenser [bei Perecop wohnend] Tartarn ad Maeotidem, da vor<br />
diesem die Gothen und Geten gewohnet. Ob die C<strong>im</strong>bern und Celten,<br />
auch ob Gothen in diesem Landen gewesen; ob unsere Sachsen aus<br />
Scandinavien kommen, auch von denen Sachsen so noch in<br />
Siebenbürgen überblieben, und lezlich von Ursprung <strong>der</strong> Cheruscen und<br />
Chaucen, so die Römer in diesen Landen gefunden, und ob sie mehr zu<br />
Sächsischer o<strong>der</strong> Fränckischer Art zu rechnen. Dass nächst <strong>der</strong><br />
Hebräischen o<strong>der</strong> Arabischen, Griech- und Lateinischen, auch<br />
Sinesischen Sprache keine mehr ältere Bücher habe, als die<br />
Nie<strong>der</strong>sächsische o<strong>der</strong> Anglo-Saxonica, so die Fränckische Bücher an<br />
Alter und Anzahl weit über übersteigen. Von den alten Runen <strong>der</strong><br />
Scandinavischen Völcker, und ob die Scandinavier aus diesen Landen<br />
o<strong>der</strong> diese Völcker aus Scandinavien kommen.―<br />
Die eigentliche „Protogaea“ , die eine Art einleiten<strong>der</strong> „Prolog― zu<br />
seinem großen Geschichtswerk <strong>der</strong> Welfen und des<br />
Braunschweigischen Landes sein sollte, beginnt lateinisch mit den<br />
erwartungsvollen Worten:<br />
…..“Magnarum rerum etiam tenuis notitia in pretio habetur.“<br />
(Von großen Dingen ist auch eine geringe Kenntnis wertvoll)<br />
Das ganze Buch, wie auch alle seine großen geschichtlichen Werke,<br />
hat Leibniz in Lateinisch geschrieben, [„damit man ein Werck mache,<br />
das auff die Posterität kommen könne― s.o.!]. Die „Protogaea― hat<br />
Leibniz um 1694 abgeschlossen. Sie wurde aus seinen<br />
Nachlaßpapieren von Ludwig SCHEIDT aus dem Lateinischen ins<br />
Deutsche übersetzt und 1749 von diesem herausgegeben. Die ersten<br />
Seiten seien hier zitiert, weil sie das Allgemeine begründend<br />
zusammenfassen. Wir halten uns hier an eine neuere Übersetzung von<br />
W. v. ENGELHARDT, die 1949 in Stuttgart (W. Kohlmammer Verlag)<br />
erschienen ist.<br />
Leibniz’ famoses Büchlein beginnt also:<br />
„Von großen Dingen ist auch eine geringe Kenntnis wertvoll. Wer<br />
daher vom ältesten Zustand unseres Landes beginnen will, muß auch<br />
etwas über das erste Aussehen <strong>der</strong> Erde und über die Natur und den<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 332<br />
Inhalt des Bodens sagen. Denn wir haben die am höchsten gelegene<br />
Gegend Nie<strong>der</strong>deutschlands inne, die beson<strong>der</strong>s fruchtbar an Metallen<br />
ist; auch gehen in unserer He<strong>im</strong>at bedeutsame Mutmaßungen und<br />
gleichsam Strahlen eines allgemeinen Lichtes auf, aus dem die<br />
Erkenntnis in an<strong>der</strong>e Gegenden ihren Fortschritt nehmen kann.<br />
Wenn wir aber unsere Absicht auch nicht ganz erreichen, so werden wir<br />
doch wenigstens durch ein Beispiel nützen: Denn wenn nur je<strong>der</strong> in<br />
seiner Gegend seine Wißbegier beisteuert, so wird man leichter die<br />
allgemeinen Ursprünge erkennen.<br />
Es ist die Ansicht <strong>der</strong> Gelehrten, daß <strong>der</strong> Erdball wie alles Entstehende<br />
in regelmäßiger Gestalt aus den Händen <strong>der</strong> Natur hervorgegangen ist:<br />
Denn Gott erschafft nichts Gestaltloses; und was sich von selbst formt,<br />
wächst entwe<strong>der</strong> unmerklich aus Teilchen zusammen o<strong>der</strong> wird durch<br />
Ausson<strong>der</strong>ung und Zusammenstoß <strong>der</strong> sich ordnenden Teilchen<br />
drehend gebildet. Daher ist die Unebenheit <strong>der</strong> Berge, von denen das<br />
Antlitz <strong>der</strong> Erde starrt, erst später dazu gekommen. Auch muß <strong>der</strong><br />
Erdball, wenn er anfangs flüssig gewesen ist, sicher auch gleichförmig<br />
gewesen sein; den allgemeinen Gesetzen <strong>der</strong> Körper entspricht es aber,<br />
daß das Feste aus dem Flüssigen hart geworden ist. Dies bezeugen<br />
auch die in Festem eingeschlossenen festen Dinge, indem sehr oft<br />
gewisse Schichten und Kerne in ihre Winkel und Grenzen eingemessen<br />
sind, die Gänge in den Felsen und die Edelsteine in den Gesteinen. Es<br />
gibt aber auch an manchen Orten Reste von alten Dingen, von Pflanzen,<br />
Tieren und künstlichen Erzeugnissen unter einem neuen und steinernen<br />
Überzug. Deshalb ist die Umhüllung, die wir jetzt fest erblicken, später<br />
entstanden, einstmals aber muß sie noch flüssig gewesen sein. Nun<br />
rührt das Flüssigsein von einer inneren Bewegung und gleichsam vom<br />
Grade <strong>der</strong> Wärme her; dies zeigen die Versuche: Denn bei vermin<strong>der</strong>ter<br />
Wärme erstarrt auch das Wasser zu Eis, während dagegen ätzende<br />
Flüssigkeiten, und solche, die durch eine verborgene Bewegung stärker<br />
sind, schwer erstarren. Die Wärme aber und die innere Bewegung<br />
kommen vom Feuer her o<strong>der</strong> vom Licht, d. h. von einem sehr zarten und<br />
durchdringenden Geist. Und so sind wir auf dieselbe bewegende<br />
Ursache gekommen, aus <strong>der</strong> auch die Heilige Geschichte den Beginn<br />
<strong>der</strong> Weltentstehung herleitet. ……<br />
----------------------------------------------------------------------------------------------<br />
(19)<br />
Im folgenden zitiere ich nur solche Stellen, die mir <strong>im</strong> Zusammenhang<br />
eines/seines aufke<strong>im</strong>enden Entwicklungsgedankens bedeutsam<br />
erscheinen, bzw. wo ich eine gewisse Gedankengemeinschaft mit<br />
Goethe glaube feststellen zu können. Bekanntlich hat ja auch in<br />
Goethes Naturphilosophie <strong>der</strong> Streit <strong>der</strong> Plutonisten und Neptunisten<br />
eine große Rolle gespielt. In Leibniz’ „Protogaea― lesen wir z. B. gleich<br />
am Anfang, nachdem er sich über die Kräfte des Feuers, <strong>der</strong> Hitze<br />
einerseits und <strong>der</strong> Gewalt des Wassers an<strong>der</strong>erseits ausgesprochen<br />
hat: „So ist das Antlitz <strong>der</strong> noch weichen Erde oft erneuert worden, bis<br />
sich schließlich, da die bewegenden Ursachen sich beruhigten und ins<br />
Gleichgewicht kamen, ein beständigerer Zustand <strong>der</strong> Dinge entwickelt<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 333<br />
hat. Man erkennt also hieraus einen doppelten Ursprung <strong>der</strong> festen<br />
Körper: einen, da sie aus <strong>der</strong> Schmelzung des Feuers erkalteten, und<br />
einen an<strong>der</strong>en, das sie aus <strong>der</strong> Lösung in den Gewässern wie<strong>der</strong> fest<br />
wurden. Man darf also nicht glauben, daß die Gesteine allein aus <strong>der</strong><br />
Schmelzung stammen. Denn diesen Ursprung nehme ich vor allem nur<br />
für die erste Masse und für die Basis <strong>der</strong> Erde an; ich zweifle aber nicht,<br />
daß die über die Erdoberfläche rinnenden Flüssigkeit, so bald Ruhe<br />
eingetreten war, aus den losgerissenen Teilchen eine ungeheuere<br />
Stoffmasse abgelagert hat. Daraus bildeten sich zum Teil die<br />
verschiedenen Arten des Erdreichs, ein an<strong>der</strong>er Teil erhärtete zu<br />
Gesteinen, <strong>der</strong>en verschiedene übereinan<strong>der</strong> gelagerte Schichten<br />
die verschiedenen Wechsel und Pausen <strong>der</strong> Fällungen anzeigen.<br />
Mag diese Theorie über das Kindesalter unserer Erde auch durchaus<br />
glaubhaft sein, und mag sie auch den Samen zu einer neuen<br />
Wissenschaft enthalten, die man Natur-Geographie nennen kann, so<br />
wollen wir hier doch lieber nur zu vermuten als Sicheres zu behaupten<br />
wagen. Denn wenn auch die heiligen Denkmäler dafür sprechen, so<br />
wollen wir das Urteil darüber doch denen überlassen, die das Recht<br />
haben, sie zu deuten.―<br />
----------------------------------------------------------------------------------------------<br />
(21)<br />
Hartmut HECHT schreibt in seinem Buch „Leibniz― (Teubner, Leipzig<br />
1992) hierzu: „Auffallend an Leibniz’ Darstellung ist, daß er nicht nur<br />
metaphysische als allgemeine Ursachen zuläßt, son<strong>der</strong>n jene<br />
allgemeinen Gesetze <strong>der</strong> Körper, die Gegenstand <strong>der</strong> Physik sind, und<br />
daß er gerade dadurch eine neue Wissenschaft, die Naturgeographie<br />
konstituiert.― Der Leibniz-Forscher Dietrich MAHNKE, 1884-1939,<br />
schreibt dazu in einer sehr gehaltvollen kleinen Arbeit „Leibniz als<br />
Gegner <strong>der</strong> Gelehrteneinseitigkeit― von 1912: „Leibniz wollte von den<br />
„Inkunabeln [„Wiegenzeit-Gegenständen―] unserer Welt handeln― und<br />
die Grundlage einer neuen Wissenschaft legen, die er „Geographia<br />
naturalis“ nannte.―<br />
Auch hier ist Leibniz schon sehr vorsichtig in seinen Formulierungen,<br />
wenn diese Tatsachen in den alttestamentarischen Berichten nicht<br />
erwähnt sind bzw. sie diesen offensichtlich wi<strong>der</strong>sprechen. Er fährt<br />
weiter fort: „Auch wenn die Spuren <strong>der</strong> alten Welt <strong>im</strong> heutigen Bild <strong>der</strong><br />
Dinge damit übereinst<strong>im</strong>men, so werden doch unsere Nachkommen<br />
alles besser best<strong>im</strong>men können, wenn die Wißbegierde <strong>der</strong> Menschen<br />
soweit fortgeschritten sein wird, daß man die durch die Landschaft sich<br />
erstreckenden Arten und Schichten des Erdbodens beschreibt. Nicht<br />
aber will ich jede Unebenheit <strong>der</strong> Erde o<strong>der</strong> die ganze Natur des Bodens<br />
auf die erste Erstarrung zurückführen. Es genügt, das Skelett, d. h.<br />
gleichsam das erste Knochengerüst <strong>der</strong> äußeren Erde und das<br />
Wesentliche des ganzen Baus aus allgemeinen Ursachen abgeleitet<br />
zu haben. Denn diese Antwort kann richtig sein, wenn du fragst, wie die<br />
gewaltige Höhlung des Ozeans entstanden ist und die ungeheuren<br />
Massen <strong>der</strong> Berge: wie z. B. <strong>der</strong> Gebirgszug des Imaus, <strong>der</strong> sich durch<br />
den Kaukasus und Taurus fortsetzt, <strong>der</strong> Atlas, <strong>der</strong> Afrika schützt, […] in<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 334<br />
unserem Europa die unförmlichen Felsen Skandinaviens, die Alpen, die<br />
fast von Ungarn bis zu den Grenzen Spaniens Italien umgürten, und<br />
endlich unser Melibocus [Brocken], <strong>der</strong> höchste Berg in Sachsen, <strong>der</strong> in<br />
dem Gebirgszug liegt, den wir nach den harzigen Bäumen – wobei die<br />
Spur des Namens Hercynia durchsch<strong>im</strong>mert – Harzwald nennen, und<br />
dessen größter Teil zur Braunschweigischen Herrschaft gehört. […].<br />
Wie nun aber zu Anfang das Feuer alles ergriffen hat, bevor sich das<br />
Licht von Finsternis geschieden hatte, so glaubt man, daß später nach<br />
gelöschtem Brande alles <strong>im</strong> Wasser versank. Dies Ereignis wird durch<br />
unsere heiligen Denkmäler überliefert. Es st<strong>im</strong>men damit die alten<br />
Erzählungen <strong>der</strong> Heiden überein. Doch bieten die Spuren des<br />
mittelländischen Meeres den sichersten Beweis dafür. Denn Muscheln<br />
haben sich auf die Berge verirrt und, um unsere He<strong>im</strong>at zu erwähnen, so<br />
wird <strong>der</strong> Bernstein, den man sonst an den Meeresküsten zu sammeln<br />
pflegt, auch manchmal fern vom Meeresstrand in unserer Gegend aus<br />
<strong>der</strong> Erde gegraben. Auch Zungensteine, denen von Malta ähnlich, d. h.<br />
Zähne von Haien werden bei Lüneburg ausgegraben. Von all dem<br />
werden wir bald genauer sprechen. Manche gehen in <strong>der</strong> Willkür des<br />
Mutmaßens so weit, daß sie glauben, es seien einstmals, als <strong>der</strong><br />
Ozean alles bedeckte, die Tiere, die heute das Land bewohnen,<br />
Wassertiere gewesen, dann seien sie mit dem Fortgang dieses<br />
Elementes allmählich Amphibien geworden und hätten sich<br />
schließlich in ihrer Nachkommenschaft ihrer ursprünglichen<br />
He<strong>im</strong>at entwöhnt. Doch solches wi<strong>der</strong>spricht den heiligen<br />
Schriftstellern, von denen abzuweichen sündhaft ist. -<br />
GUHRAUER weist in seiner Leibniz-Biografie bei Gelegenheit von<br />
Leibniz’ „Theodicee― einmal auf eine briefliche Äußerung von Leibniz<br />
aus dem Jahre 1695 hin, wo er die Bemerkung fallen läßt, „daß man mit<br />
den Meditationen über Theologie zurückhalten<strong>der</strong> sein müsse. Das<br />
Notwendigste sei bekannt, was aber tiefer gehe, könne nur den<br />
ausgewähltesten Geistern nützen. Margaritae non sunt objiciendae<br />
porcis.― Man mag hier an Goethes Gedicht „Selige Sehnsucht― denken:<br />
Sagt es niemand, nur den Weisen,<br />
Weil die Menge gleich verhöhnet, ….<br />
Vielleicht war LEIBNIZ auch die Tragödie des ersten Opfers<br />
wissenschaftlich-weltanschaulicher Verfolgung auf dem Gebiet <strong>der</strong><br />
Urzeitforschung bekannt. Es ist die Geschichte des französischen<br />
Glasmalers und berühmten Emailkünstlers Bernard PALISSY, 1510-<br />
1589 ein Autodidakt, we<strong>der</strong> des Lateinischen noch des Griechischen<br />
mächtig. Er verwendete für seine Email- und Töpferkunst auch Figuren<br />
von Meerestieren, für die ihm als Vorbild ausgegrabene Fossilien aus<br />
<strong>der</strong> Umgebung von Paris dienten. Er kam auf den gleichen Gedanken<br />
wie vor ihm <strong>der</strong> geniale Florentiner Leonardo da VINCI, 1452-1519, aber<br />
auch Georg AGRICOLA, 1494-1555, <strong>der</strong>en Ansichten längst vergessen<br />
waren, daß die oft symmetrischen-schönen Fossilienformen von<br />
wirklichen Lebewesen herrührten und keine übersinnlichen „Launen <strong>der</strong><br />
Natur― darstellten. Leibniz erwähnt seinen sächsischen Landsmann<br />
ACRICOLA in seiner „Protogaea“ ausdrücklich, <strong>der</strong><br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 335<br />
Bergwerksingenieur in Erzgebirge, aber auch zeitweise Bürgermeister<br />
von Chemnitz war und als Vater <strong>der</strong> Mineralogie in die Kulturgeschichte<br />
eingegangen ist. PALISSY war überzeugt, daß diese Funde von<br />
Meerestiere herrührten, die früher in Mittelfrankreich gelebt hatten, das<br />
früher einmal Meeresbucht war. Seine These legte er in einem Buch<br />
„Discours admirables de la nature des eaux― nie<strong>der</strong> und begann sogar<br />
wissenschaftliche Vorträge über Erdgeschichte und versteinerte Tiere zu<br />
halten. Da er außerdem zu den Anhängern <strong>der</strong> Hugenotten gehörte<br />
(Mitbegrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> protestantischen Gemeinde von Saintes), stand er<br />
beson<strong>der</strong>s <strong>im</strong> kritischen Blickfeld. Man verlangte Wi<strong>der</strong>ruf seiner<br />
Ansichten; er weigerte sich aber abzuschwören und warf ihn daher in die<br />
Pariser Bastille, wo er nach zweijähriger Gefangenschaft an Entkräftung<br />
starb. Anatole FRANCE schrieb dreihun<strong>der</strong>t Jahre später über ihn: ―Er<br />
lebte wie ein guter Arbeiter, er starb wie ein Heiliger. Kann man besser<br />
leben und besser sterben?―<br />
LEIBNIZ hatte sich zuvor gründlich mit dem Buch „Prodomus― des<br />
großen dänischen Naturforschers und Anatomen Niels STENSEN,<br />
1638-1686, beschäftigt. Dieses Buch hat einen langen lateinischen Titel;<br />
übersetzt: „Vorläufiger Bericht von einer Abhandlung über das Feste,<br />
das <strong>im</strong> Festen enthalten ist―. Mit dem Festen <strong>im</strong> Festen sind Fossilien<br />
und Kristalle gemeint. STENSEN mag Leibniz’ paläontologisches<br />
Weltbild wesentlich mitgeprägt haben, zumal er bald Gelegenheit hatte,<br />
mit STENSEN persönlich in Kontakt zu kommen. Diese Gespräche hatte<br />
er aber schon um 1677, als STENSEN als apostolischer Vikar in<br />
Hannover eintraf. Es lohnt, die näheren Umstände aus STENSENs<br />
Leben und Wirken hier kurz zu schil<strong>der</strong>n, da die Lebensstationen dieses<br />
Mannes, <strong>der</strong> als Sohn eines Goldschmiedes 1638 in Kopenhagen<br />
geboren wurde, scheinbar gar nicht zusammenpassen. Nach dem<br />
Medizinstudium in Kopenhagen ging er nach Holland zur Weiterbildung.<br />
Schon 1660 machte er in Amsterdam seine erste anatomische<br />
Entdeckungen, - den Ductus Stenoianus, den Stensen-Gang, <strong>der</strong> den<br />
Mund mit Speichel versorgt. Wenig später erkannte er als erster, daß<br />
das von Philosophen und Theologen als geistiges Zentrum gepriesene<br />
menschliche Herz „nichts an<strong>der</strong>es als ein Muskel ist―. Diese<br />
Profanierung des Herzens schockierte die protestantischen<br />
Theologieprofessoren seiner he<strong>im</strong>ischen Universität Kopenhagen so<br />
stark, daß sein Wunsch dort eine Professur zu erhalten, sich nicht<br />
erfüllte. STENSEN sah sich selbst in seiner Tätigkeit als Arzt und<br />
Anatom als „Zeigestab und Zeigefinger Gottes <strong>im</strong> Weltmuseum“, <strong>der</strong><br />
auf die Wun<strong>der</strong> des Lebens hinweist. STENSEN machte sich rasch<br />
international einen Namen und wurde 1666 von den mächtigen MEDICI-<br />
Fürsten an ihren Hof nach Florenz berufen. Dort erhielt er ideale<br />
Arbeitsbedingungen am Hospital Santa Maria Nuova und bewegte sich<br />
<strong>im</strong> Kreise <strong>der</strong> C<strong>im</strong>ento-Akademie und lernte dort den letzten GALLILEI-<br />
Schüler Vincenzio VIVIANI kennen. 1667 konvertierte er zum<br />
katholischen Glauben. In Florenz begann STENSENs paläontologischgeologische<br />
und seine kristallographische <strong>Zeit</strong>! Durch die Sezierung<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 336<br />
eines angeschwemmten Haifisches kam er z. B. zu <strong>der</strong> Entdeckung, daß<br />
die Zähne Fossilien auf Malta gleichen [siehe oben: Leibniz’<br />
„Zungensteine, denen von Malta ähnlich―! ]. 1668 erscheint sein<br />
berühmtes Buch. Ein Werk über Geologie. Niels STENSEN legte damit<br />
die Grundlagen <strong>der</strong> Paläontologie und begründete auch die mo<strong>der</strong>ne<br />
Kristallographie, indem er das Gesetz <strong>der</strong> Winkelkonstanz entdeckte.<br />
Nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Kopenhagen als „Königlicher<br />
Hofanatom― kehrte er 1674 an den MEDICI-Hof zurück und faßte bald<br />
den Entschluß Priester zu werden. 1675 erhielt er die Priesterweihe <strong>im</strong><br />
Dom von Florenz. STENSEN wurde zum Bischof geweiht und an die<br />
herzogliche Residenz in Hannover als Apostolischer Vikar für die<br />
Nordischen Missionen eingesetzt. STENSEN hatte jetzt alle seine<br />
wissenschaftlichen Forschungen eingestellt, um sich nun ganz seiner<br />
neuen geistigen Aufgaben widmen zu können. Drei Jahre später mußte<br />
er Hannover wie<strong>der</strong> verlassen, da <strong>der</strong> herzogliche Nachfolger<br />
evangelisch war. Der damalige Fürstbischof von Pa<strong>der</strong>born und<br />
Münster, Ferdinand von FÜRSTENBERG verlor keine <strong>Zeit</strong>, den<br />
berühmten Priestergelehrten in sein Bistum als Weihbischof zu holen,<br />
wo er eine zeitlang wirkte. Anschließend ging STENSEN (als Geistlicher<br />
führte er den lateinischen Namen Nicolaus STENO) wie<strong>der</strong> in die<br />
Nordische Mission und arbeitete in Hamburg und Schwerin. Dort starb<br />
er 1686 und wurde zunächst <strong>im</strong> Schweriner Dom beigesetzt, bis 1687<br />
seine Gebeine in die Familiengruft <strong>der</strong> MEDICIS nach Florenz<br />
übertragen wurden. 1953 fand er als Nicolaus STENO seine letzte<br />
Ruhestätte in <strong>der</strong> Kapelle <strong>der</strong> Sankt-Laurentius-Basilika. Die<br />
Kongregation für die Heiligsprechung in Rom hat den<br />
Seligsprechungsprozeß für Nicolaus STENO eingeleitet. Am 23.10.<br />
1988 dann erst die Seligsprechung durch Papst Johannes Paul II. Was<br />
lange währt …-<br />
LEIBNIZ gehörte wie auch Leonardo da VINCI zu denjenigen Denkern,<br />
die sich beson<strong>der</strong>e Mühe gaben, die biblische Sündflutlegende gründlich<br />
zu analysieren und nach Erklärungen für die große Flut zu suchten. Ihm<br />
war klar, daß die biblischen Berichte manche schwachen Stellen hatten.<br />
Leibniz mutmaßte, daß die Erdkruste doppelt gewölbt war, die äußere<br />
war mit Wasser und die innere mit Luft gefüllt. Durch diese riesigen<br />
wassergefüllten Hohlräume sind dann die Gewässer „durch gewaltige<br />
Erdstürze herausgepreßt worden und haben die höchsten Berge<br />
überflutet, bis sie nach <strong>der</strong> Auffindung eines neuen Zuganges zum<br />
Tartarus und nach <strong>der</strong> Zerbrechung <strong>der</strong> Riegel des bis dahin noch<br />
verschlossenen Innern <strong>der</strong> Erde das von neuem preisgaben, was wir<br />
heute als trocken erblicken.― In diesem Zusammenhang sei noch das<br />
zitiert, was er über STENO aussagt, den er mehrfach persönlich<br />
getroffen hat und Leibniz uns hier auch noch als Sprachgeschichtler<br />
zum Namen „Brocken“ Interessantes mitteilen kann, wobei er dabei<br />
auch den dortigen berüchtigten Hexentanz nicht vergißt, den Goethe<br />
einhun<strong>der</strong>t Jahre später dann durch seinen Faust weltberühmt gemacht<br />
hat. Leibniz: „So ist das Wasser wahrscheinlich nach dem Aufreißen des<br />
ersten Gewölbes auf die Berge gestiegen und dann nach <strong>der</strong><br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 337<br />
Zerbrechung des zweiten in den darunterliegenden Abgrund gedrungen<br />
und hat den Erdbewohnern wie<strong>der</strong> einen trocknen Platz gewährt. Zur<br />
Erklärung dieser Dinge können uns manche Gedanken des geistreichen<br />
Schriftstellers dienen, <strong>der</strong> neulich die Heilige Theorie <strong>der</strong> Erde<br />
veröffentlichte und auch Berge und Täler aus Einstürzen aufbaute,<br />
sowie manche Schriften gelehrter Männer, <strong>der</strong>en Eifer jener angeregt<br />
hat. Entsprechendes hatte schon vorher STENO über die Einstürze und<br />
Sed<strong>im</strong>ente gedacht, nachdem er einen nicht unbeträchtlichen Teil<br />
Europas besucht und an verschiedenen Orten die Spuren <strong>der</strong><br />
zerbrochenen Gewölbe bemerkt hatte. So erinnere ich mich, oft gehört<br />
zu haben, wie er uns dies erzählte, und auch daran, daß er sich darüber<br />
freute, den Glauben an die Heilige Schrift und an die allgemeine<br />
Sintflut mit natürlichen Argumenten [sic!], nicht ohne Nutzen für die<br />
Frömmigkeit, zu befestigen. Wir aber haben geglaubt, daß man noch<br />
darüber hinausgehen kann und daß die Gewölbe aus <strong>der</strong> Schmelzung<br />
[Auflösung] und die Meere durch das Zerfließen <strong>der</strong> die wäßrigen<br />
Dämpfe aufnehmenden Salze gebildet worden sind.―<br />
Gestaltung, Umgestaltung.<br />
Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung<br />
Umschwebt von Bil<strong>der</strong>n aller Kreatur.<br />
(Goethe, Faust II, V. 6287)<br />
„In unserer Gegend ist nichts höher als <strong>der</strong> Berg Melibocus. Sein<br />
Gipfel ist den größten Teil des Jahres unzugänglich und bei den<br />
Leichtgläubigen durch die Hexentänze berüchtigt. Die Anwohner<br />
nennen ihn Bructerus o<strong>der</strong> gewöhnlich Brocken. Dieser Name stammt<br />
nicht von den Bructerern, einem bei den Alten erwähnten Volke,<br />
son<strong>der</strong>n vom selben Grunde, <strong>der</strong> diesen ihren Namen gegeben hat.<br />
Broeck ist nämlich bei den Sachsen eine feuchte und zum Sumpf<br />
neigende Erde: und so ist <strong>der</strong> Boden dieses Berges beschaffen.―<br />
Goethes Faust trägt meines Erachtens viele Züge vom<br />
wissenshungrigen und tatentrunkenen Leibniz, ohne daß sich jener<br />
dessen bewußt gewesen sein mag! Hat nicht Oswald SPENGLER in<br />
seinem berühmten Buch ähnliche Parallelen gesehen? Zwar war<br />
Goethe-Faust kein genialer Mathematiker, wie Leibniz kein begnadetes<br />
Dichtergenie war, wenn er auch u. a. zahlreiche gelungene Gedichte für<br />
Persönlichkeiten aus gegebenem Anlaß verfaßt hat, z. B. „Auf den Tod<br />
<strong>der</strong> Kurfürstin Sophie― <strong>der</strong> Mutter <strong>der</strong> Könige von Preußen und England.<br />
SPENGLER schreibt in seinem Buch „Der Untergang des<br />
Abendlandes―: „Gleichzeitig mit <strong>der</strong> endgültigen Emanzipation <strong>der</strong><br />
faustischen Mathematik durch NEWTON und LEIBNIZ befreite sich<br />
auch die abendländische Chemie von ihrer arabischen Form durch<br />
STAHL (1660-1734) und dessen Phlogistontheorie. Die eine wie die<br />
an<strong>der</strong>e wird reine Analysis. Schon PARACELSUS (1493-1541) hatte die<br />
magische Tendenz, Gold zu machen, in eine arzneiwissenschaftliche<br />
[Iatrochemie] umgewandelt. Man spürt darin ein verän<strong>der</strong>tes<br />
Weltgefühl.― (Bd. I).<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 338<br />
Als gelernter Chemiker erlaubt sich <strong>der</strong> Autor, nochmals wie<strong>der</strong>holend<br />
einige Kurzdaten zu dem Manne zu ergänzen, <strong>der</strong> in <strong>der</strong><br />
Wissenschaftsgeschichte oft recht oberflächlich-negativ behandelt wird,<br />
da seine Theorie <strong>der</strong> Verbrennungsvorgänge (noch) nicht korrekt war:<br />
Georg Ernst STAHL, (* Ansbach 1659, + Berlin 1734), seit 1694<br />
Medizin- und Chemieprofessor in Halle/Saale, ab 1716, - dem Todesjahr<br />
Leibniz’- , war er auch <strong>der</strong> Leibarzt des preußischen Königs.<br />
STAHL erkannte als erster <strong>im</strong> Verbrennungsvorgang den<br />
fundamentalsten Umsetzungsvorgang in <strong>der</strong> Chemie. Aufgrund <strong>der</strong><br />
Gewichtsabnahme be<strong>im</strong> Brennen zahlreicher Gesteinsarten (Kalkstein,<br />
Marmor, Gips, Marienglas usw.) erblickte er allerdings in den<br />
Verbrennungsprodukten die einfachen, die verbrennenden Substanzen<br />
sah er aber als die zusammengesetzten Stoffe an. Die<br />
Gewichtszunahme be<strong>im</strong> Verbrennen von Metallen deutete er so, daß er<br />
dem Entweichenden („Phlogiston―) ein negatives Gewicht be<strong>im</strong>aß.<br />
Heute erscheint diese Deutung jedem Schüler in <strong>der</strong> ersten<br />
Chemieklasse lächerlich. Man muß sich aber vergegenwärtigen, daß<br />
damals einer <strong>der</strong> wichtigsten Grundstoffe <strong>der</strong> Erde und <strong>der</strong> Chemie, <strong>der</strong><br />
Sauerstoff, noch gar nicht bekannt war! Trotzdem hat Stahl mit seiner<br />
(noch) falschen chemische Theorie bewirkt, daß erst jetzt viele <strong>der</strong><br />
wichtigsten anorganischen Verbindungen dargestellt wurden, die wir<br />
heute besitzen. STAHLS Phlogistontheorie wurde nur sehr zögerlich<br />
abgelöst, als <strong>der</strong> Schwede Karl SCHEELE (1772) und <strong>der</strong> Englän<strong>der</strong><br />
Joseph PRISTLEY (1774) den Sauerstoff exper<strong>im</strong>entell entdeckten. Also<br />
zwei Generationen nach STAHL! Solche Meilensteine <strong>der</strong> Chemie und<br />
damit <strong>der</strong> Naturwissenschaften überhaupt sind heute lei<strong>der</strong> allgemein<br />
kaum mehr bekannt, da sich die Wissenschaftshistoriker meist zu<br />
einseitig auf die Entdeckungen <strong>der</strong> Physik als „königliche―<br />
Naturwissenschaft neben <strong>der</strong> Mathematik beschränken.<br />
Meinen genealogischen Absichten entsprechend, soll hier auch<br />
nochmals das Genealogische über Georg Ernst STAHL<br />
zusammengefaßt werden. Interessant ist, daß STAHL<br />
Ahnengemeinschaft mit Goethe hat, und zwar über Goethes Mutter<br />
Catharina Elisabeth, geb. TEXTOR, die damit auch eine gewisse Rolle<br />
in LEIBNIZ’ Biographie einn<strong>im</strong>mt. LEIBNIZ’ Doktorvater in Altdorf bei<br />
Nürnberg war nämlich Johann Wolfgang TEXTOR, <strong>der</strong> ein<br />
Ururgroßvater Goethes ist, und dessen Gattin war Anna Margaretha<br />
PRIESTER (* Crailshe<strong>im</strong> 1640, + ?), und <strong>der</strong>en Mutter Anna Margaretha<br />
KÖHLER (* Illenschwang 1607, + Crailshe<strong>im</strong> 1652) ist die mütterliche<br />
Großmutter von STAHL, eine Ahnfrau von GOETHE (Goethe-Ahn Nr.<br />
51). STAHL stammt aus <strong>der</strong> ersten, GOETHE aus <strong>der</strong> zweiten Ehe <strong>der</strong><br />
Anna Margaretha PRIESTER (siehe Kap. 6.1).<br />
Nun nochmals zurück zu SPENGLER. Er schreibt zur<br />
Ideengemeinschaft zwischen LEIBNIZ und Goethe in seinem<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 339<br />
berühmten Buch sogar: „Das 19. Jahrhun<strong>der</strong>t hat unter „Entwicklung―<br />
einen Fortschritt <strong>im</strong> Sinne steigen<strong>der</strong> Zweckmäßigkeit des Lebens<br />
verstanden. Leibniz in seiner hochbedeutenden [sic!] Protogäa<br />
(1691), die auf Grund seiner Studien über die Silbergruben des Harzes<br />
eine durch und durch Goethesche Urgeschichte <strong>der</strong> Erde entwirft, und<br />
Goethe selbst verstanden darunter die Vollendung <strong>im</strong> Sinne eines<br />
steigenden Formgehaltes. Zwischen den Begriffen <strong>der</strong> Goetheschen<br />
Formvollendung und <strong>der</strong> Evolution DARWINs liegt <strong>der</strong> ganze Gegensatz<br />
von Schicksal und Kausalität, aber auch <strong>der</strong> zwischen deutschem und<br />
englischem Denken und zuletzt deutscher und englischer Geschichte.<br />
Es kann keine bündigere Wi<strong>der</strong>legung DARWINs geben als die<br />
Ergebnisse <strong>der</strong> Paläontologie[sic?].― (Band II).<br />
Nun hier vermengt SPEGLER offensichtlich zwei ganz verschiedene<br />
Mechanismen, da biologische Auslesevorgänge (Selektion) nicht mit<br />
physikalischen Vorgängen <strong>der</strong> Erdgeschichte wi<strong>der</strong>sprüchlich in<br />
Verbindung gebracht werden dürfen. Beides sind Tatsachen, die nicht<br />
<strong>im</strong> Wi<strong>der</strong>spruch stehen!<br />
Leibniz steht wohl hinsichtlich seiner geologischen und mineralischen<br />
Kenntnissen dem Naturforscher Goethe <strong>im</strong> Harz keineswegs nach, vor<br />
allem wenn man hier Leibniz’ hervorragende Kenntnisse in<br />
mineralogisch-chemischer Hinsicht betrachtet. Siehe dazu das<br />
Verzeichnis aus <strong>der</strong> Protogaea Anlage 4! Interessant ist allerdings noch<br />
ein weiterer gemeinsamer philosophischer Aspekt zwischen Leibniz<br />
und Goethe, den SPENGLER wohl mit Recht <strong>im</strong> 2. Band als Fußnote 2<br />
auf Seite 293 erwähnt: „Der einzelmenschliche Geist<br />
[„monadenmäßig―?] ist für ihn [Spinoza] kein Ich, son<strong>der</strong>n nur ein Modus<br />
des einen göttlichen Gottes. Gott ist [für SPINOZA] reine Substanz, und<br />
an Stelle unserer dynamischen Kausalität <strong>im</strong> All entdeckt er nur die<br />
Logik <strong>der</strong> göttlichen cogitatio. Alles das findet sich auch bei<br />
PORPHYRIOS, <strong>im</strong> Talmud, <strong>im</strong> Islam und ist faustischen Denkern wie<br />
Leibniz und Goethe so fremd wie möglich“ (Bd. II; SPENGLER zitiert<br />
nach Wilhelm WINDELBAND, 1848-1915)<br />
Bezüglich Leibniz’ Vertrautsein mit den geologischen Verhältnissen<br />
hier zwei nüchterne Statistikzahlen über die Harz-Reisen von Leibniz,<br />
die <strong>der</strong> Leibniz-Forscher Hartmut HECHT recherchiert hat: „Zwischen<br />
1680 und 1686 hat Leibniz 31 Reisen in den Harz unternommen und<br />
dort insgesamt 165 Wochen zugebracht“. Leibniz hatte bekanntlich<br />
den herzoglichen Auftrag, die Entwässerungstechnik <strong>im</strong> Harzer Bergbau<br />
grundlegenden zu verbessern – auch mit mehreren<br />
Windmühlenpumpen. Dieses Projekt scheiterte aber aus verschiedenen<br />
Ursachen komplexer Natur, auch an fehlen<strong>der</strong> Bereitschaft <strong>der</strong><br />
Bergleute, neue technische Prinziplösungen zu akzeptieren<br />
(„Streikandrohung!―), so daß es schließlich 1685 eingestellt worden ist<br />
und Leibniz anschließend mit einer an<strong>der</strong>en großen Arbeit beauftragt<br />
worden ist: Der Geschichte des Hauses Braunschweig-Hannover.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 340<br />
11.2 LEIBNIZ als Chemiker und Mineraloge<br />
Doch jetzt noch zu LEIBNIZ als Chemiker <strong>im</strong> allgemeinen und als<br />
Mineraloge <strong>im</strong> Harz <strong>im</strong> beson<strong>der</strong>en, wie er uns in seiner „Protogaea“<br />
entgegentritt. Am meisten haben den Autor dort folgende Aussagen<br />
angesprochen:<br />
„Ich glaube, daß <strong>der</strong> einen Preis für seine Mühe verdienen wird, <strong>der</strong> die<br />
aus <strong>der</strong> unterirdischen Tiefe geborgenen Schöpfungen <strong>der</strong> Natur mit den<br />
Früchten <strong>der</strong> Laboratorien (so nämlich nennt man die Werkstätten <strong>der</strong><br />
Chemiker) sorgfältig vergleichen wird, da sich sehr oft eine wun<strong>der</strong>bare<br />
Ähnlichkeit zwischen den natürlichen und künstlichen Dingen zeigt.―<br />
Hier weiß Leibniz genau wovon er spricht! Wie wohl kaum einer seiner<br />
<strong>Zeit</strong>genossen hat er sich inzwischen auch von <strong>der</strong> Welt <strong>der</strong> Stoffe einen<br />
Überblick verschafft. Vom blutjungen neugierigen Adepten und Sekretär<br />
einer alchemistischen Vereinigung, den Rosenkreuzer in Nürnberg, bis<br />
hin zum inzwischen skeptisch-kritischen, auf vielen<br />
verfahrenstechnischen Exkursionen gereiftem Manne, hat er auch<br />
manchen marktschreierischen Scharlatan durchschaut. Aber sein<br />
„faustischer Wissensdrang― ist auch <strong>im</strong> reifen Alter noch nicht ermüdet,<br />
wenn er auch weiß, daß die Entzauberung mancher stofflichen<br />
Gehe<strong>im</strong>nisse ihm nicht mehr vergönnt sein wird.<br />
Wer sie nicht kennte,<br />
Die Elemente,<br />
Ihre Kraft<br />
Und Eigenschaft,<br />
Wäre kein Meister<br />
Über die Geister.<br />
(Goethe, Faust I, V 1277-82)<br />
„Denn wenn auch <strong>der</strong> sehr reiche Vater <strong>der</strong> Dinge vielerlei Ursachen<br />
für dasselbe Ding in seiner Macht hat, so liebt er doch auch die<br />
Beständigkeit in <strong>der</strong> Vielfalt. Auch bedeutet es schon sehr viel in <strong>der</strong><br />
Erkenntnis <strong>der</strong> Dinge, wenn man auch nur eine Methode, sie<br />
hervorzubringen, besitzt: so leiten die Geometer aus einer einzigen Art<br />
eine Figur zu zeichnen alle ihre Eigenschaften ab. Wo außerdem<br />
ähnliche Instrumente und Gefäße vorliegen: Feuer mit Schwefelstoffen,<br />
Gewässer mit Salzen, sowie die verschiedenen Erd- und Steinarten –<br />
alles Dinge, die unseren und den Werkstätten <strong>der</strong> Natur gemeinsam<br />
sind -, da wird man sicherer gehen, wenn man verwandten Körpern<br />
einen ähnlichen Ursprung zuspricht, als wenn man sich geistreich einen<br />
an<strong>der</strong>sartigen Ursprung ausdenkt, <strong>der</strong> aus keinem Exper<strong>im</strong>ent bekannt<br />
ist. Denn nichts an<strong>der</strong>es ist die Natur als eine große Kunst, und die<br />
künstlichen Dinge sind nicht <strong>im</strong>mer von den natürlichen ihrer ganzen Art<br />
nach verschieden; es bleibt sich gleich, ob ein vulkanischer Dädalus [<strong>der</strong><br />
sagenhafte erste griechische Künstler] ein Ding <strong>im</strong> Ofen entdeckt o<strong>der</strong><br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 341<br />
ob ein Steinbrecher dasselbe aus dem Schoße <strong>der</strong> Erde ans Licht<br />
bringt. Ich will zwar über die künstliche Neuerzeugung von Metallen o<strong>der</strong><br />
nicht zusammengesetzten einfachen Körpern nichts behaupten, noch<br />
wage ich zu entscheiden, ob je einer Gold, Silber, Quecksilber o<strong>der</strong><br />
auch ein Salz neu erzeugt o<strong>der</strong> wirklich vernichtet hat; doch glaube ich,<br />
daß es auch nicht min<strong>der</strong> selten ist, die Natur selbst bei <strong>der</strong><br />
Hervorbringung dieser ihrer Früchte zu ertappen; denn meistens<br />
sammelt und enthüllt sie nur die längst schon an<strong>der</strong>swo gebildeten. Ich<br />
fürchte nämlich, daß man sich nicht darauf verlassen kann, was manche<br />
vom Gold erzählen, das noch einmal entstehen soll, wenn man schon<br />
ausgewaschene Sande <strong>der</strong> Sonne aussetzt, o<strong>der</strong> vom Grubenabraum<br />
o<strong>der</strong> vom Dachschiefer, die nur durch die Länge <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> erzreich<br />
geworden sein sollen. Leichtsinnig glaubt man den Erzählungen von<br />
Menschen, die sich daran gewöhnt haben durch eigene und fremde<br />
Leichtgläubigkeit zu täuschen und getäuscht zu werden, die meinen, es<br />
stünden ihnen unter Tage Zwerge o<strong>der</strong> plutonische Mönche zur Seite,<br />
und die mit Wünschelrute in <strong>der</strong> Erde verborgene Schätze suchen,<br />
obwohl sie durch das Zeichen des zuckenden Stabes nicht einmal die<br />
größten und bekannten Gänge finden, wenn du ihnen die Augen<br />
verbindest. Goldsamen wirst du in Korbach, in Waldeck o<strong>der</strong> solche des<br />
Eisens auf <strong>der</strong> Insel Elba vergeblich suchen. Der Autorität des<br />
PLINIUS setze ich die sorgfältige Beobachtung des STENO<br />
entgegen. Und nirgends haben unsere Bergleute beobachtet, daß<br />
herausgehauener Spat mit Blei wie<strong>der</strong> gewachsen sei, ebensowenig wie<br />
<strong>der</strong> aus Steinbrüchen herausgebrochene Marmor und an<strong>der</strong>e Dinge<br />
dieser Art, die <strong>der</strong> römische Rechtsgelehrte vernünftigerweise von <strong>der</strong><br />
Nutznießung ausschließt, da sie nicht neu entstehen. Dennoch leugne<br />
ich nicht, daß es Schächte o<strong>der</strong> Stollen gibt, in denen ein Mineral neu<br />
entsteht und die Wege und Eingänge verengert werden, was, wie wir<br />
wissen, <strong>im</strong> Laufe <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> <strong>im</strong> Rammelsberg bei Goslar geschieht. Dort<br />
aber setzen Gewässer, die Kupfervitriol und mit Metall gemischte<br />
Materie mit sich führen, ein Sed<strong>im</strong>ent ab; sie erzeugen nicht das<br />
Kupfererz o<strong>der</strong> Blei, son<strong>der</strong>n sie bringen es nur herbei. Ich sehe<br />
daher, daß Minerale, d. h. die verschiedenen Masken <strong>der</strong> Metalle täglich<br />
künstlich o<strong>der</strong> durch die Natur hervorgebracht werden; von den Metallen<br />
selbst aber behaupte ich nichts und in die Gehe<strong>im</strong>nisse <strong>der</strong> Natur will<br />
ich mich nicht mit unüberlegtem Vorurteil einmischen.<br />
Wie<strong>der</strong>erweckung des ursprünglichen Körpers erkenne ich eher an, und<br />
ich weiß, daß jene einfachen Arten nicht weniger schwer zerstört als<br />
erzeugt werden: so leicht leben sie wie<strong>der</strong> auf. […]<br />
Da also die Dinge meist eher Masken annehmen, als daß sie ihre<br />
Natur ablegen, ist es weniger wun<strong>der</strong>bar, daß so viel Gemeinsames aus<br />
den Laboratorien und Bergwerken hervorgeht. Für unser Vorhaben wird<br />
es genügen, einiges als Beispiel anzuführen. […] … denn auch dem<br />
Ant<strong>im</strong>onspießglanz fehlt wahrer Schwefel nicht, und er ist auch künstlich<br />
aus ihm herauszuholen. Dies ist ein wichtiges Anzeichen dafür, daß<br />
die Natur das, was wir in den Laboratorien tun, auf ihre Weise in<br />
den verborgenen Winkeln <strong>der</strong> Erde vollbracht hat.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 342<br />
Diesen tiefen programmatischen Worten, die am Ende des 17.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts von Leibniz ausgesprochen wurden, als die Chemie mit<br />
<strong>der</strong> Entdeckung <strong>der</strong> eigentlichen Elemente noch ganz am Anfang stand<br />
– <strong>der</strong> Sauerstoff wurde als Element erst drei Generationen später<br />
entdeckt! - gibt es wohl kaum noch etwas hinzuzufügen.-<br />
In einem Diskussionsbeitrag zum 350. Geburtstag von Leibniz schreibt<br />
Walter KERTZ, Braunschweig über die „Protogaea―: „Damit for<strong>der</strong>t<br />
Leibniz Geophysik und Geochemie. Er hat die Geologie aus ihrer<br />
Isolierung befreit. Mikroskop und chemisches Laboratorium genügen<br />
freilich nicht, auch nicht Temperaturmessungen in Brunnen und das<br />
Studium von Höhlen. Man braucht seismische Reflexionsapparaturen,<br />
großräumige erdmagnetische Vermessungen, Forschungsschiffe und<br />
Tiefborungen, Raketen und künstliche Erdsatelliten. Mit ihrer Hilfe hat<br />
sich in unserem Jahrhun<strong>der</strong>t ein so konsistentes und von einer<br />
geowissenschaftlichen community getragenes Weltbild ergeben, wie es<br />
nie vorher existierte.<br />
Nun kann man sagen, dazu bedurfte es keines Leibnizes. Eigentlich<br />
hatte Francis BACON schon das gleiche gefor<strong>der</strong>t, und die Royal<br />
Society hatte seine Ideen aufgegriffen. Aber <strong>im</strong> Gegensatz zu BACON<br />
wußte Leibniz, wovon er sprach. Er hatte selbst geowissenschaftlich<br />
geforscht und viele eigene und fremde Einzelergebnisse in <strong>der</strong><br />
Protogaea zusammengetragen. Aber das macht nicht seine Bedeutung<br />
für die Geowissenschaft aus. Darin war ihm z. B. STENO – den er<br />
allerdings erst richtig bekannt machte – überlegen. LEIBNIZ’ Verdienst<br />
war es, den Geowissenschaftlern die Methode nicht nur gewiesen,<br />
son<strong>der</strong>n demonstriert zu haben. Für die Geowissenschaften hat er<br />
die Türe zur Mo<strong>der</strong>ne aufgestoßen.―<br />
Mit einem „Verzeichnis chemischer, mineralogischer, geologischer und<br />
biologischer Ausdrücke―, die in <strong>der</strong> „Protogaea― mit lateinischen Namen<br />
vorkommen und vom Übersetzer W. von ENGELHARFT verdeutscht<br />
worden sind, mag <strong>der</strong> interessierte Leser in Anlage 4 sich selbst ein Bild<br />
von <strong>der</strong> Fülle <strong>der</strong> Kenntnisse machen, die Leibniz auf diesen Gebieten<br />
besessen hat. Die „Protogaea― enthält 12 Tafeln mit Fossilen, wo hier<br />
nur einige aufgezählt sind (A 11a-11d). Die letzte Abbildung 11d des<br />
Quedlinburger Einhorns ist eine Kuriosität, die LEIBNIZ einer<br />
Abbildung von Otto von GUERICKE, 1602-1686, Bürgermeister von<br />
Magdeburg, bedeuten<strong>der</strong> Physiker und Erfin<strong>der</strong>, entnommen hat, die<br />
dieser veröffentlicht hatte.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 343<br />
Abbildung 11 a<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 344<br />
Abbildung 11b<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 345<br />
Abbildung 11 c<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 346<br />
Abbildung 11 d<br />
Otto von GUERICKE glaubte das Skelett eines urzeitliches Einhorns<br />
ausgegraben zu haben, das er als eifriger Fossilensammler <strong>im</strong><br />
nördlichen Harzvorlandes am Zeunickenberg bei Quedlinburg in einem<br />
Stapellager mächtiger Knochen und Zähne ausgegraben hatte, und das<br />
er für das Gebein des <strong>im</strong> Buche HIOB erwähnten Einhorns hielt.<br />
Vielleicht sah er darin Vorgänger <strong>der</strong> afrikanischen Nashörner. Viel<br />
später stellt sich dies aber als ein Irrtum heraus, da dies Knochen von<br />
einer Mammutgattung waren. Und die „Hörner― hatten sie nicht als<br />
Kopfschmuck, son<strong>der</strong>n als Stoßzähne <strong>im</strong> Oberkiefer getragen. LEIBNIZ<br />
hat aber Otto von GUERICKE ein schönes Denkmal allein dadurch<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 347<br />
gesetzt, daß er seine große Erfindungen in <strong>der</strong> „Protogaea― erwähnt:<br />
„Ein Zeuge dieses Fundes [„Einhorns―] ist Otto GUERICKE,<br />
Bürgermeister von Magdeburg, <strong>der</strong> unser <strong>Zeit</strong>alter durch eine Erfindung<br />
bereichert hat, und <strong>der</strong> als erster von allen Menschen eine Pumpe<br />
erfand, die die Luft aus einem Gefäß entfernt. Wun<strong>der</strong>bare Schaustücke<br />
wurden von diesem Erfin<strong>der</strong> auf dem Reichstag zu Regensburg <strong>im</strong><br />
Jahre 1653 vor dem KAISER vorgeführt, die dann auch vom Englän<strong>der</strong><br />
Robert BOYLE, dem Bru<strong>der</strong> des Grafen von CORK in Irland, zum Vorteil<br />
des Genies des berühmten Mannes auf das schönste vervollkommnet<br />
wurden, so daß wir nun um einen neuen Schatz von Exper<strong>im</strong>enten<br />
reicher geworden sind.― Dann berichtet Leibniz ausführlich über von<br />
GUERICKES fossile Funde und den einzelnen Knochen, die durch<br />
Unwissenheit <strong>der</strong> Arbeiter zerbrochen seinen und zusammengesetzt<br />
werden mußten. Dann fährt er fort und schreibt: „Dies hat man mir<br />
berichtet. Eine Abbildung wurde beigefügt, die wie<strong>der</strong>zugeben nicht<br />
unpassend sein wird.―<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
11.3 Phosphor (Entdeckung)<br />
Nach diesem Bericht über die „Protogaea― sei noch über die<br />
international aufsehenerregende Entdeckung des abenteuerlichen<br />
Phosphors in einer weitgehend alchemistisch orientierten <strong>Zeit</strong> berichtet,<br />
wo Leibniz als Gutachter und Organisator eines Großversuches mit Urin<br />
in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen ist. Entdeckt wurde <strong>der</strong><br />
Phosphor 1669 von dem Alchemisten Henning BRAND, * um 1630, +<br />
1692, einen wohl selbst ernannten Doktor <strong>der</strong> Medizin, <strong>der</strong> nach einer<br />
Offizierskarriere als Arzt und Apotheker arbeitete und finanziell ruiniert<br />
war. Er gewann den Phosphor bei seinen Versuchen, ein wirksames<br />
„Elixir zu erhalten, das Silber in Gold umwandeln kann, durch<br />
hochgradiges Erhitzen und Destillieren von abgedampften Harn über<br />
Sand. Diese Entdeckung erregte damals ungeheueres Aufsehen<br />
aufgrund <strong>der</strong> seltsamen Fähigkeit des weißen Phosphors, Licht <strong>im</strong><br />
Dunkeln auszusenden. Der Entdecker hütete ängstlich sein Gehe<strong>im</strong>nis.<br />
Trotzdem drang das Gerücht in Fürstenkreise und somit auch nach<br />
Hannover. Leibniz wurde von seinem Herzog beauftragt, BRAND 1677<br />
in Hannover zu besuchen, um hinter das Gehe<strong>im</strong>nis zu kommen. Er<br />
wußte, daß Leibniz von seiner Studienzeit her als Sekretär einer<br />
alchemistischen Gesellschaft in Nürnberg, - den Rosenkreuzern - mit<br />
den Jahrmarktsgaukeleien <strong>der</strong> Alchemisten gut vertraut war. Auch hieß<br />
es damals, wer den Phosphor hat, besitzt die militärische Vorherrschaft.<br />
Kurzum, man erreichte, daß BRAND 1678 gegen eine gute Pension (6<br />
Monate <strong>im</strong> voraus) nach Hannover kam und ein gehe<strong>im</strong>er Großversuch<br />
mit gesammelten Harn durchgeführt werden konnte, <strong>der</strong> von einer<br />
ganzen Garnison <strong>der</strong> Stadt Hannover stammte. Über die näheren<br />
Umstände berichtet Leibniz später 1709 in den Verhandlungen <strong>der</strong><br />
Königlichen Preußischen Societät <strong>der</strong> Wissenschaften unter Historia<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 348<br />
inventionis Phosphori unter an<strong>der</strong>em: „Der Herzog freigebig und edel,<br />
wie er war, gab mir Befehl, den Erfin<strong>der</strong> BRAND von Hamburg kommen<br />
zu lassen. BRAND kam auch nach Hannover, und teilte uns ehrlich sein<br />
Verfahren mit; denn alles, was er selbst verrichtete, habe ich mit meinen<br />
Leuten in einem an<strong>der</strong>n Laboratorium nachgebildet. Der Urin von<br />
Soldaten, welche in einem Lager standen, wurde in Fässern gesammelt,<br />
und als eine hinreichende Menge davon vorrätig war, kam BRAND, und<br />
machte die Versuche außerhalb <strong>der</strong> Stadt [bei Ricklingen]. Der Herzog<br />
setzte dem Manne bei seiner Rückkehr nach Hamburg eine jährliche<br />
Pension fest, welche ihn, so lange <strong>der</strong> Herzog lebte, ausgezahlt wurde;<br />
es war vielleicht die einzige Belohnung, welche Brand von seinem<br />
Phosphor gezogen hat.― Der Leibniz-Biograph GUHRAUER schreibt hier<br />
weiter: „Leibniz überschickte damals Proben vom Phosphor an<br />
HUYGENS in Paris, und nach einiger <strong>Zeit</strong> nahm TSCHIRNHAUS, <strong>der</strong><br />
jetzt zum an<strong>der</strong>nmale nach Paris ging, eine an die Königliche Akademie<br />
<strong>der</strong> Wissenschaften gerichtete Beschreibung von Leibniz mit, welche in<br />
demselben Jahre [1678] in dem Journal des Savans, als Relatio de<br />
Phosphoro a Domino Craftio invento erschien. Als, zwei Jahre darauf,<br />
<strong>der</strong> Herzog mit Tode abging, ließ Leibniz in das, auf das Leben und die<br />
Verdienste seines Herrn gedichtete heroische Carmen, eine begeisterte<br />
Schil<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Wirkung des Phosphors einfließen, welche<br />
FONTENELLE, in <strong>der</strong> Lobschrift auf Leibniz, für eines <strong>der</strong> schönsten<br />
Stücke <strong>der</strong> neueren lateinischen Poesie erklärte.― In etwas freier<br />
Übersetzung von Hermann PETERS aus seinem Artikel „LEIBNIZ als<br />
Chemiker― nachfolgend Leibniz’ Verse, wie sie in poetischer Form den<br />
neu entdeckten Phosphor offenbaren:<br />
Zu beschreiben die Erde ringsumher,<br />
Zu erforschen die Tiefen, die Wege <strong>im</strong> Meer,<br />
Und was die gehe<strong>im</strong>nisvolle Natur<br />
Stets geizig am Busen versteckt hielt nur,<br />
Hat <strong>der</strong> diebische Stab erst möglich gemacht,<br />
In dem uns Prometheus das Feuer gebracht.<br />
Die H<strong>im</strong>melsflamm’ suchte alles zu lehren,<br />
Aus Öfen ließ sie uns Wun<strong>der</strong> bescheren.<br />
Doch ein Feuer, wie Phosphor, ward nie gesehen:<br />
Es ist kalt, und es kann <strong>im</strong> Wasser bestehn.<br />
In diesem verliert es den Feuerschein,<br />
Sonst würd’ es entschweben dem Erdensein.<br />
Dann sieht es dem hellen Bernstein gleich,<br />
Einem Stein aus dem Mineralienreich,<br />
Der Natur war <strong>der</strong> Phosphor sonst unbekannt.<br />
Ein Feuerkünstler ihn erst jüngst erfand.<br />
Zum Schauspiel, o Fürst, ist er dir beschieden,<br />
Sonst wäre er nie entdeckt hienieden!<br />
Wenn <strong>der</strong> Perser dies Licht verehrt als Gott,<br />
Hätt’ nie ihn getroffen des Ägypters Spott;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 349<br />
Denn <strong>der</strong> Phosphor mit seinem ewigen Licht<br />
Der durchlöcherten Sternenkuppel entspricht.<br />
Die Lebenskraft, gesucht von Weisen <strong>der</strong> Welt,<br />
Die auf Gräbern <strong>der</strong> Alten oft dargestellt,<br />
Gleicht dem Phosphor mit seinem stetigen Schein,<br />
Der ohne Vestalin glüht ganz allein.<br />
Jeremiae unlöschbarer Opferbrand,<br />
In dem Feuer des Phosphors sein Gleichnis fand.<br />
Wer seine Natur nicht näher kennt,<br />
Der fürchtet <strong>im</strong> Dunkeln, daß er brennt;<br />
Indessen man kann ihn gefahrlos berühren,<br />
Von seinem Feuer ist nichts zu spüren.<br />
Den Dingen teilt mit er sein Körperlicht;<br />
Bestreicht man mit ihm das Angesicht,<br />
So wird es leuchtend und man geht einher<br />
Wie Moses, umgeben vom Flammenmeer.<br />
Zu fest berührt von harter Hand<br />
Voll Zorn gerät er leicht in Brand.<br />
Mit Geprassel loht empor sein Gischt,<br />
Der, wie die Naphta schwer erlischt.<br />
Das feurige Kleid, von Medea beschert,<br />
Wird leichter am Brennen als Phosphor gestört,<br />
Doch ruhig liegend verbirgt er die Kraft,<br />
Kaum fühlt man die Wärme als Eigenschaft.<br />
Sein Glanz nur zeigt, daß ihm Leben nicht fehle:<br />
Ein Sinnbild ist er <strong>der</strong> glücklichen Seele!<br />
Die diabolische Seite des Phosphors sollte <strong>der</strong> Autor als 10 Jähriger in<br />
Dresen miterleben, als <strong>im</strong> Februar 1945 Phosphor-Brandbomben ganz<br />
Dresden in ein tödliches Flammenmeer verwandelten.<br />
Der Phosphor war nach <strong>der</strong> Entdeckung von Zink und Wismut das<br />
erste neue Element und blieb das einzige, das <strong>im</strong> 17. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
aufgefunden wurde. Laut dem Chemie-Historiker Prof. Georg<br />
LOCKEMANN soll in ähnlicher Weise bei <strong>der</strong> Berliner Maifeier 1933 auf<br />
dem Tempelhofer Felde <strong>der</strong> männliche und weibliche Harn getrennt<br />
gesammelt worden sein, um daraus die gerade neu entdeckten<br />
Hormone zu gewinnen.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
11.4 LEIBNIZ als Genealoge<br />
LEIBNIZ kommt auf dem Gebiet <strong>der</strong> Genealogie vergleichsweise ein<br />
wesentlich höherer Rang zu als z.B. Goethe. Bei Goethe ging es uns ja<br />
bloß darum, seine Wertschätzung gegenüber <strong>der</strong> Genealogie zu<br />
betonen, ihn aber nicht selbst als urkunden-forschenden Historiker<br />
darzustellen, <strong>der</strong> er natürlich nicht war. Leibniz hingegen können wir<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 350<br />
geradezu als den Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> quellen-kritischen Genealogie <strong>im</strong> 17.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t betrachten, wenn diese Wertschätzung auch erst richtig<br />
erkennbar wurde nach Auswertung seines riesigen konzeptionellen und<br />
brieflichen Nachlasses, <strong>der</strong> <strong>im</strong>mer noch nicht vollständig abgeschlossen<br />
ist. Welch gewaltiger Unterschied auch hier doch zu Goethes<br />
schriftlichem Nachlaß, <strong>der</strong> noch <strong>im</strong> Jahrhun<strong>der</strong>t seines Todes fast<br />
vollständig gedruckt vorlag.<br />
An Leibniz’ Forschungsreise soll uns seine zielstrebige und umfassende<br />
Forschungsmethode erkennbar werden, die er <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> in ganz<br />
große allgemeine Zusammenhänge stellt und die Reise auch nutzt, um<br />
seine vielfältigen an<strong>der</strong>en Interessensgebiete bei dieser Gelegenheit an<br />
neuen Quellen zu bereichern o<strong>der</strong> mit Gelehrten und Liebhabern<br />
darüber zu diskutieren. Dazu möchten wir den Inhalt auch mit einigen<br />
lebendigen Briefstellen aus Leibniz’ Reisetagebuch beleben, seine<br />
Reiseroute ziemlich vollständig angeben, dabei aber hauptsächlich nur<br />
auf Leibniz’ historische und genealogische Bestrebungen und<br />
diejenigen, die mit seiner späteren „Protogaea“ <strong>im</strong> Zusammenhang<br />
stehen, hinweisen. Leibniz stand damals in seinem besten und<br />
produktivsten Alter, wenn man bei Leibniz überhaupt von einem solchen<br />
Alter sprechen kann. Schließlich wurde er ja schon mit 20 Jahren<br />
feierlich zum Doktor bei<strong>der</strong> Rechte in Altdorf bei Nürnberg promoviert,<br />
da man ihn in seiner Geburtstadt Leipzig wegen seines geringen Alters<br />
abgewiesen hatte. Und was für ein juristisches Examen legte er damals<br />
be<strong>im</strong> Dekan Johann Wolfgang TEXTOR in Altdorf mit zwei lateinischen<br />
Reden hin! Eine in Prosa, die an<strong>der</strong>e in Versen. Die<br />
Prüfungskommission war so beeindruckt, daß sie sich um ihn bemühte,<br />
ihn als Professor in Altenberg zu behalten. Leibniz lehnte jedoch ab, um<br />
vorher den Wind <strong>der</strong> weiten Welt zu empfangen. Leibniz: „…mein Geist<br />
bewegte sich in einer ganz an<strong>der</strong>en Richtung.― Nomen est omen! Dem<br />
aufmerksamen Leser wird <strong>der</strong> Vorname „Johann Wolfgang― mit<br />
Gedankenverknüpfung aufgefallen sein; dem Goethe-Kenner auch <strong>der</strong><br />
Nachname „Textor―. Ja, in <strong>der</strong> Tat, es handelt sich hier um Goethes<br />
Ahnen Johann Wolfgang TEXTOR, * Neuenstein/Hohenlohe 20.1.1638,<br />
+ Frankfurt a. M. 7. 12. 1701, Goethes Ururgroßvater! Johann Wolfgang<br />
TEXTOR, damals gerade Professor in Altdorf (1666-1673), bis er dann<br />
anschließend nach Heidelberg und Frankfurt ging. In Heidelberg war er<br />
auch eine zeitlang Rektor <strong>der</strong> Universität. Der Name Johann Wolfgang<br />
„vererbte― sich also in Goethes Ahnentafel über den Groß- und Ururgrovater<br />
Textor mütterlicherseits - <strong>im</strong>mer eine Generation überspringend<br />
(Mutter und Urgroßvater Textor) - auf Goethe weiter!<br />
Doch begleiten wir nun Leibniz ein wenig auf seiner Spurensuche<br />
nach den Wurzeln des Hauses <strong>der</strong> Welfen, die ihn sein späterer<br />
kurfürstlicher Auftraggeber Ernst August von Hannover durch einen<br />
Erlaß vom 10.8.1685 aufgetragen hatte. Voran gegangen waren schon<br />
einige geschichtliche und genealogische Arbeiten zur Welfengeschichte.<br />
Die eigentlich auslösende Ursache für den großen fürstlichen Auftrag mit<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 351<br />
<strong>der</strong> daraus resultierenden fast dreijährigen Forschungsreise war aber<br />
ein konkreter Anlaß:<br />
Seinem Herzog Ernst August war in Italien ein Stammbaum eines<br />
Teodoro DAMAIDENO übergeben worden, <strong>der</strong> die Abstammung des<br />
Welfenhauses in recht verwegen legendärer Darstellung zum Zwecke<br />
des Herrscherlobes bis auf die großen Gestalten des kaiserlichen Roms<br />
zurückführt. Im März 1685 bittet er Leibniz über seinen Hofpoeten B. O.<br />
MAURO um ein Gutachten zu DAMAIDENOS Aufstellung. Im August<br />
1685 überreicht Leibniz sein Gutachten, aus dem erkennbar ist, daß<br />
Leibniz die Daten anzweifelt und hier ganz an<strong>der</strong>e und zwar kritische<br />
Ansichten über die Geschichtsschreibung vertritt, wenn ihm auch<br />
bewußt ist, daß die Genealogie oft als Begründung für<br />
Herrschaftsansprüche zu dienen hat. Er verwahrt sich indessen gegen<br />
jede Geschichtsfälschung durch gefällige Schmeichelei, die<br />
offensichtlich auch bei Herzog Ernst August auf Verständnis stieß und in<br />
<strong>der</strong> sofortigen Überprüfung in Form eines umfangreichen<br />
Forschungsauftrages am 10. August 1685 an Leibniz gipfelte.<br />
Ernst August stellte ihm darin die Aufgabe, die historiam unseres<br />
Fürstlichen Hauses, dessen uhrsprung und ankunft biß auf jetzige <strong>Zeit</strong><br />
auszuarbeiten und zu beschreiben, und darin seinen fleiß und<br />
beywohnende wißenschaften anzuwenden―.<br />
Gleichzeitig wurde LEIBNIZ’ Dienstverhältnis mit Rang und Titel eines<br />
Hofrates auf Lebenszeit (ad vitam) zugesagt, die Anstellung eines<br />
Schreibers zugestanden und er wird von den gewöhnlichen<br />
Kanzleiarbeiten befreit. Diese Arbeit sollte ihn nun drei Jahrzehnte<br />
seines Lebens beschäftigen und zu einer „harten Plage mit<br />
Sisyphusfels― werden!<br />
LEIBNIZ versuchte zunächst die Ursprungsfrage mit einem<br />
umfangreichen Briefwechsel mit Historikern aus Deutschland,<br />
Frankreich und Italien zu klären und sammelte daneben<br />
Quellennachweise für seine Arbeit. Dabei kam er aber <strong>der</strong><br />
Ursprungsfrage nicht näher, <strong>im</strong> Gegenteil, diese wurde für ihn <strong>im</strong>mer<br />
wi<strong>der</strong>sprüchlicher. Er sah daher keine an<strong>der</strong>e Möglichkeit, als selbst an<br />
den fraglichen Orten die Quellen einzusehen. Es kamen hier vor allem<br />
deutsche Klosterbibliotheken in Frage, die auf früherem welfischen<br />
Gebiet in Bayern lagen und italienische Klöster, wie Modena, Ferrara<br />
und Parma.<br />
Im folgenden soll also nun hier, wie bei Goethe, ein Exkurs „Leibniz als<br />
Genealoge― in <strong>der</strong> Art eines Reisejournals eingeschoben werden, wobei<br />
wir möglichst Leibniz aus seinem Reisetagebuch selbst erzählen lassen<br />
wollen, soweit entsprechende Briefstellen überliefert sind. Dabei erfolgt<br />
eine historisch-genealogisch orientierte Auswahl, wobei wir auch seiner<br />
an<strong>der</strong>en vielfältigen Interessen beson<strong>der</strong>s in naturwissenschaftlicher<br />
Hinsicht gelegentlich gedenken wollen, beson<strong>der</strong>s <strong>im</strong> Hinblick auf seine<br />
spätere „Protogaea“. Daneben sollen aber auch philosophische und<br />
theologische Bestrebungen (beson<strong>der</strong>s hinsichtlich seiner Reunions-<br />
Bemühungen) manchmal kurz erwähnt werden. Im wesentlichen stützt<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 352<br />
sich unser Reisebericht auszugsweise auf: Kurt MÜLLER und Gisela<br />
KRÖNERT: Leben und Werk von G. W. LEIBNIZ. Eine Chronik, Ffm.<br />
1969.<br />
Wie an<strong>der</strong>s verlaufen doch Goethes italienische Reisen o<strong>der</strong> auch die<br />
des auf sich allein gestellten sächsischen Einzelgängers und<br />
Junggesellen Johann Gottfried SEUME, 1763-1810, des<br />
„Spaziergängers nach Syrakus―, die dieser von 1801 unternahm und ihn<br />
auch zum sozial-politischen Kritiker machte: „Wo man den Landmann<br />
als Halbsklaven und den kleinen Bürger als Lasttier ansieht und<br />
behandelt, da habe ich we<strong>der</strong> etwas zu sprechen noch zu singen.―<br />
SEUME, bäuerlicher Herkunft, studierte zunächst Theologie und<br />
klassische Literatur in Leipzig. Auf einer Wan<strong>der</strong>ung nach Paris geriet er<br />
1781 in die Hände hessischer Werber, wurde nach Amerika eingeschifft<br />
und entkam aber wie<strong>der</strong>. Nach einem turbulenten Leben und späteren<br />
Wan<strong>der</strong>ungen auch noch nach Rußland und Schweden wurde er später<br />
Korrektur be<strong>im</strong> Verlag Göschen und betätigte sich als Schriftsteller.<br />
LEIBNIZ’ Forschungsreise führte ihn zunächst von Hannover nach<br />
Hildeshe<strong>im</strong>. In Hildeshe<strong>im</strong> besuchte Leibniz am 1. November 1687 den<br />
Kapuzinerpater Dionysius WERLENSIS, <strong>der</strong> ihre Gespräche über<br />
Reunionsfragen an Bischof ROJAS Y SPINOLA nach Wiener-Neustadt<br />
weitergibt. In Hildeshe<strong>im</strong> besichtigt er auch noch die<br />
Naturaliensammlung des verstorbenen Arztes Dr. Friedrich LACHMUND<br />
und wertet die dort entdeckten Versteinerungen von Pflanzen und Tieren<br />
bereits für seine schon damals geplante bzw. begonnene “Protogaea“<br />
aus! In Kassel besichtigt Leibniz das Naturalienkabinett <strong>der</strong> Bibliothek<br />
und fährt weiter nach Frankenberg, wo er be<strong>im</strong> hessischen<br />
Bergwerksdirektor Johann Christian ORSCHALL vier Tage vergeblich<br />
auf seinen alten Freund Joh. Daniel CRAFFT wartet und vertreibt sich<br />
die <strong>Zeit</strong> mit <strong>der</strong> Lektüre von Valentin WEIGELS „Der goldene Griff― und<br />
mit Gesprächen über John BARCLAY, Henry MORE und Francois<br />
Mercure VAN HELMONT. Am 6. November hat er in Marburg ein<br />
Gespräch mit Dr. Johann Jacob WALDSCHMID, dem Leibarzt des<br />
Landgrafen Karl von HESSEN-KASSEL über physikalische<br />
Exper<strong>im</strong>ente, z.B. <strong>der</strong> Tötung eines Hundes durch Einblasen von Luft in<br />
die Vene und Beobachtungen von Pflanzen <strong>im</strong> Vakuum. Dort auch<br />
Besuch <strong>der</strong> Kirche St. Elisabeth. Anschließend ist er zwei Wochen Gast<br />
bei Landgraf Ernst VON HESSEN auf seiner Festung Rheinfels. Bei<br />
ihm ist Leibniz auch mit Karl Paul VON ZIMMERMANN zusammen, dem<br />
Hofrat des Erzbischofs von Köln, wo <strong>der</strong> Gedanke auftaucht, Leibniz<br />
zum Kanzler des Bistums Hildeshe<strong>im</strong> vorzuschlagen. Anfang Dezember<br />
1687 verläßt Leibniz Rheinfels mit einer Empfehlung des Landgrafen an<br />
Kurfürst Philipp Wilhelm von <strong>der</strong> PFALZ in <strong>der</strong> Tasche. Leibniz macht<br />
keinen Gebrauch davon, Heidelberg bleibt außerhalb seiner Reiseroute,<br />
die ihn nun nach Frankfurt a. M. führt. Leibniz erneuert dort seine<br />
Bekanntschaft mit dem Orientalisten Hiob LUDOLF. In Frankfurt besucht<br />
er auch die Raupenbücher und Sammlungen <strong>der</strong> Maria Sibylla MERIAN,<br />
1647-1717. Die Naturforscherin und Malerin war ja wohl eine <strong>der</strong> ersten<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 353<br />
Naturforscherinnen überhaupt. Sie hatte von ihrem Schweizer Vater,<br />
dem berühmten Kupferstecher Matthäus MERIAN, aus Basel, 1593-<br />
1650, das künstlerische Talent geerbt und sich zur hervorragenden<br />
Biologin durch Studien ausgebildete. Auf Einladung <strong>der</strong> holländischen<br />
Regierung arbeitete sie <strong>im</strong> südamerikanischen Surinam und verfaßte<br />
darüber 1705 das Werk „Methamorphosis insectorium Sur<strong>im</strong>ensium―,<br />
wobei sie hier also in eine Ideengemeinschaft zu Goethe eintritt. Ihr<br />
zweibändiges Vorgängerbuch „Der Raupen wun<strong>der</strong>bare Verwandlung<br />
und son<strong>der</strong>bare Blumen-Nahrung― war 1679-1683 erschienen, wovon<br />
Leibniz also wohl Kenntnis erhalten hatte und die Bücher hier nun selbst<br />
besichtigt hat. Es sei in diesem Zusammenhang auf eines <strong>der</strong> größten<br />
und bedeutendsten bürgerlichen Genealogien <strong>der</strong> Neuzeit hingewiesen,<br />
auf das große 8-bändige Werk von Manfred STROMEYER: Merian<br />
Ahnen aus dreizehnhun<strong>der</strong>t Jahren, das in den Verlagen Jan<br />
Thorbecke, Konstanz und C. A. Starke-Verlag, L<strong>im</strong>burg/Lahn von 1963-<br />
1967 erschienen ist.<br />
Nun wie<strong>der</strong> zurück zur Leibniz’ Reise. In Frankfurt wurde <strong>der</strong><br />
Junggeselle Leibniz offensichtlich auf eine Heiratsgelegenheit<br />
aufmerksam gemacht, denn er schreibt an G. PRATISIUS:„Wer nun<br />
gnade vor unsers Hr. Oberhoffpredigers und Superint. [Hermann<br />
BARCKHAUS] finden köndte, <strong>der</strong> köndte hier [in Frankfurt] eine reiche<br />
jungfer bekommen, seines bru<strong>der</strong>s tochter. Aber <strong>der</strong> sich wolle angeben,<br />
müste wissen, dass er keinen Korb zu hohlen hätte.― Weiterreise nach<br />
Aschaffenburg, wo Leibniz die historische Handschriftensammlung<br />
seines verstorbenen Bekannten Johann GAMANS durchsieht. Er findet<br />
Urkunden betr. Halberstadt, Hildeshe<strong>im</strong> und über das Eichsfeld. Über<br />
Rück, Münchberg, Werthe<strong>im</strong> am 25. Dezember nach Würzburg. Im<br />
Kloster „pro peregrinis Scotis― betrachtet Leibniz Handschriften des<br />
Abtes TRITHEMIUS und informiert sich be<strong>im</strong> amtierenden Abt über die<br />
Geschichte des Monasteriums. Er besucht das Kloster <strong>der</strong> Benediktiner,<br />
die zwei Bibliotheken besitzen, eine mit neuer Literatur und die an<strong>der</strong>e<br />
mit alten Büchern. „Ich sah einige Bände des Heiligen AUGUSTINUS,<br />
die von Benediktern des Hl. MAURUS ediert wurden.― Er hört, daß in<br />
Schweinfurt ein Chronicon Germanicum, bis zum Jahre 1009 reichend,<br />
liege. Auch die Bibliotheken <strong>der</strong> Jesuiten in Würzburg werden besichtigt<br />
und Erkundigungen über die Bischöfe von Würzburg und Bamberg<br />
eingezogen. Leibniz erhält Hinweise auf historische Urkunden durch den<br />
Rat Joh. Wolfgang VON VORBURG und den Lehnprobst Franz<br />
FABRICIUS. Von Würzburg aus beginnt am 25 Dezember 1687 <strong>der</strong><br />
Briefwechsel mit dem Baseler Mathematiker Jacob BERNOULLI, <strong>der</strong> bis<br />
zum Tode Bernoullis <strong>im</strong> Jahre 1705 währen sollte! Am 28. Dezember<br />
Abreise von Würzburg über Etwashausen, Kitzingen, Mainbernhe<strong>im</strong>,<br />
Iphofen nach Markt-Einershe<strong>im</strong>. Am 29. Dezember durch<br />
Altmannshausen, Markt-Biberach, Oberla<strong>im</strong>bach, Langenfeld,<br />
Diebach nach Neustadt a. d. Aisch. Am 30. Dezember über<br />
Emskirchen, Veitsbronn nach Fürth.<br />
„Es wohnen über 500 jüden hier, welche auch eine Schule hier haben,<br />
unter welchen … Salomon FRAM.― Am 31. Dezember Ankunft in<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 354<br />
Nürnberg, wo er bereits 20 Jahre vorher nach seinem Doktorexamen<br />
1667 über ein halbes Jahr weilte. Er hatte in Nürnberg und Lauf bei<br />
Nürnberg auch Verwandte (LEIBNIZ-Seitenverwandte und Familie<br />
DEUERLEIN).<br />
Ein Daniel WÜLFER war in Nürnberg Präsident einer alch<strong>im</strong>istischen<br />
Gesellschaft und ein Seitenverwandter Leibniz’, Justus Jakob LEIBNIZ,<br />
war Senior dieser Gesellschaft. Leibniz besuchte WÜLFER häufig und<br />
„hatte vertrauten Umgang mit an<strong>der</strong>en Nürnberger Gelehrten.―<br />
„Mich hat Nürnberg zuerst in chemische Studien eingeweiht, und es<br />
reut mich nicht, in <strong>der</strong> Jugend gelernt zu haben, was mich als Mann<br />
vorsichtig werden ließ. Denn später bin ich oft zu <strong>der</strong>artigen Studien<br />
gedrängt worden, weniger aus eigenem Antrieb als aus dem <strong>der</strong><br />
Fürsten, bei denen ich Zutritt hatte. Auch ließ ich es nicht an Neugier<br />
fehlen, hielt sie jedoch durch die gebotene Kritik in Grenzen. Ich habe<br />
gesehen wie (Johann Joach<strong>im</strong>) BECHER und an<strong>der</strong>e mir sehr bekannte<br />
Leute Schiffbruch erlitten, während sie mit dem günstigen Winde ihrer<br />
Alch<strong>im</strong>istenträume zu segeln glaubten.― Man wird hier unwillkürlich an<br />
Goethes Jugendzeit in Frankfurt und später in Straßburg mit seinen<br />
alch<strong>im</strong>istischen Versuchen und Studien erinnert (siehe „Dichtung und<br />
Wahrheit―, 2. Teil, 9. und 10. Buch).<br />
Wie<strong>der</strong> zurück zum Silvestertag 1687, an dem Leibniz auf seiner<br />
Forschungsreise in Nürnberg ankam. Hier besucht Leibniz Bekannte<br />
und Verwandte <strong>der</strong> Altdorfer Studienzeit, wie die Pfarrer Johann Jakob<br />
LEIBNIZ und Paul BARTH von St. Sebald und hatte Gespräche mit dem<br />
Arzt Dr. Johann Paul WURFBEIN, dem Münzward Peter Paul<br />
METZGER und den Herren VON RASCH und WELSER. Bei einer<br />
Stadtbesichtigung besucht er das Rathaus und berichtet über dessen<br />
Kunstschätze (Albrecht Dürer [Adam und Eva, 1507, die vier<br />
Evangelisten], Lucas Cranach [Kurfürst Johannes von Sachsen mit<br />
seinen zwei Brü<strong>der</strong>n, die beiden Mathematiker Johann NEUDÖRFFER<br />
und Wenzel GAMNITZER], „Carolus Magnus und Sig<strong>im</strong>undus in<br />
lebensgrösse auff holtz sehr alt―). Kuriosa findet er auch bei Joh.<br />
Joach<strong>im</strong> WITZEL, dem Apotheker STEBELE und dem Kaufmann<br />
GUTTÖCHTER. Am 7. Januar 1688 Weiterfahrt nach Lauf, am<br />
folgenden Tag nach Hersbruck, dann Sulzbach. Dort verwickelt <strong>der</strong><br />
bekannte Kabbalist und Liebhaber <strong>der</strong> Alchemie Christian KNORR von<br />
ROSENROTH (+ 1689) LEIBNIZ in lebhafte Diskussionen über<br />
chemische Prozesse und Exper<strong>im</strong>ente des älteren Baptiste VAN<br />
HELMMONT, naturwissenschaftliche Fragen und mystisch-religiöse<br />
Schriften. In Sulzbach führt Leibniz intensive Gespräche über Mineralien<br />
und Gesteinskunde mit dem Sammler von Versteinerungen Elias<br />
Wolfgang TALIENTSCHGER de GLÄNEGG, gebürtig aus Kärnten,<br />
dessen Vater Kunstkammerdirektor in Ansbach ist. Besichtigung <strong>der</strong><br />
Bleibergwerke bei Freyung und Erbendorf. Einen Umweg wählend, um<br />
seinen Freund Johann Daniel CRAFFT zu besuchen, untern<strong>im</strong>mt<br />
Leibniz eine Fahrt nach Nordböhmen. In Graupen findet er am 26<br />
Januar endlich CRAFFT und diskutiert mit diesem über Erzgewinnung,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 355<br />
Goldwäscherei, Farbherstellung, technische Neuerungen und<br />
Münzreform und es werden Unterlagen für Projekte erarbeitet, die bei<br />
einem gemeinsamen Aufenthalt in Wien noch <strong>im</strong> gleichen Jahr dem<br />
Kaiser vorgelegt werden sollen. Von Graupen führt die Reise über<br />
Altenberg, Freiberg, Marienberg, Annaberg nach Ehrenfrie<strong>der</strong>sdorf,<br />
wo er Ende Januar 1688 Schachtanlagen und eine neue Pumpanlage<br />
des englischen Ingenieurs KIRKBY besichtigt.<br />
Über Elterle, Beyerfeld, Aue, Schneeberg, Johanngeorgenstadt,<br />
Joach<strong>im</strong>sthal gelangt er nach Karlsbad. Von Karlsbad am Abend <strong>der</strong><br />
Ankunft noch nach Schlackenwalde.<br />
In diesen böhmischen und sächsischen Bergorten mit Erzgruben<br />
ermittelt <strong>der</strong> hannoversche Hofrat Leibniz qualitative und quantitative<br />
Daten von verschiedenen Mineralien und verschafft sich ein Bild über<br />
den Stand <strong>der</strong> Bergwerkstechnik durch Kontakt mit den Beamten des<br />
Bergbaues. „Zu Schneeberg habe <strong>im</strong> Wirtshaus angetroffen einen<br />
goldarbeiter o<strong>der</strong> goldschmidt von Anneberg nahmens Christian MARCI,<br />
welcher vom Churfürsten zum Perlfang in bestallung genommen. Er hat<br />
„auch Ordre die Landedelsteine zu suchen als Aquamarin, Hyalinthen,<br />
Amethysten, Opal etc.― Die ergiebigsten Fundstellen werden von ihm<br />
protokolliert.<br />
Von Karlsbad kommend trifft Leibniz über Eger, Erbendorf Mitte<br />
Februar wie<strong>der</strong> in Sulzbach ein und ist am 21. Februar in Amberg. Dort<br />
ausgiebige Kirchenbesuche und Beschreibung <strong>der</strong> Kunstschätze. Im<br />
März weiter über Schwandorf, Driblitz, Regenstauf nach<br />
Regensburg. 14 Tage lang hält er sich hier auf und öffnet sich dem<br />
politischen Fluidum dieser Donaustadt, wo <strong>der</strong> „Immerwährende<br />
Reichstag― seine Sitzungen abhält. Er n<strong>im</strong>mt Kontakt auf mit dem<br />
kaiserlichen Sekretär und späteren Archivar des Fürstbischofs von<br />
Passau Philipp Wilhelm VON HÖRNIGK, bei dem er einen Teil seines<br />
Gepäcks hinterlegt hat und sich auch mit dessen merkantilistischen<br />
Schriften beschäftigt. Am 26. März Abfahrt von Regensburg nach Abach<br />
[Bad Abach] und mit 2 Tagen Verspätung wegen eines<br />
Wagenschadens, zwei Meilen von <strong>der</strong> Donau, weiter bis Au durch<br />
Freising und eine Stunde entfernt in einem Dorfe übernachtet.<br />
Am 30. März 1688 in München eingetroffen: „In München logiret <strong>im</strong><br />
Weissen Schwane in <strong>der</strong> Weinstraße―. Der Kapellmeister Agostino<br />
STEFFANI erwirkt die Erlaubnis des Kurfürsten, die Bibliothek in<br />
München zu benutzen. „Herr Agostino Stephanie hat mir sehr geholfen<br />
und begünstigt mich in je<strong>der</strong> Weise, ebenso sein Bru<strong>der</strong> Herr Terzago<br />
und Herr Baron SCALATI, die ich kennen lernte. Ich bin jedoch froh, daß<br />
ich in Bayern keine weiteren Forschungen betreiben muß.―- Am 5. bis 6.<br />
April arbeitet Leibniz zwe<strong>im</strong>al in <strong>der</strong> kurfürstlichen Bibliothek und stellte<br />
dabei fest, daß Johann TURMAIR genannt AVENTINUS seine Angaben<br />
über die Herkunft <strong>der</strong> Welfen aus einem Augsburger Codex geschöpft<br />
hat. Ein Gesuch an den Kurfürsten zur Benutzung <strong>der</strong> Handschriften<br />
wird von den mißtrauisch gewordenen Räten aber verweigert. Darauf<br />
Besichtigung <strong>der</strong> Residenz mit <strong>der</strong> Kunstkammer. Die Besichtigung „Hat<br />
in allem gekost 14 Gulden u. etliche Kreutzer.― Im Reisetagebuch folgen<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 356<br />
Bemerkungen über Gemälde in <strong>der</strong> Stifts- und Jesuitenkirche, über<br />
Freskomalereien an Häusern in <strong>der</strong> Kaufinger Straße und <strong>der</strong><br />
Burggasse, ferner über vier Manufakturhäuser, über welche Lic.<br />
MILANER die Inspektion hat. Dieser beschäftigen „viel kleine jungen u.<br />
auff ein 40 mädgen, gehn alle blau gekleidet.―<br />
Am 11. April Abreise von München nach Fürstenfeldbruck und<br />
Ankunft am nächsten Tag in Augsburg. In Augsburg findet Leibniz mit<br />
Unterstützung des Stadtsyndikus Dr. Daniel MAYR <strong>im</strong><br />
Benediktinerkloster S. Udalricus et Afra den alten Weingartner Codex<br />
<strong>der</strong> „Historia de Guelfis principibus―[jetzt in Bayr. Staatsbibliothek<br />
München: clm 4352].<br />
„Als ich das Manuscriptum nicht ohne Mühe gefunden, solches auff<br />
etliche tage nacher hause erhalten, mit denen editis aufs genaueste<br />
conferiret, und darinn Marchionem nicht Astensem, son<strong>der</strong>n Estensem<br />
mit einer alten doch deütlichen Schrifft bezeichnet gefunden. Darauß ich<br />
geschloßen daß AVENTINUS seiner verkehrten weise nach, affectatione<br />
latinitatis das worth ver<strong>der</strong>bet, und ihm BRUNNERUS darinn gefolget,<br />
also daß nunmehr <strong>der</strong> zweifel aufgehoben und <strong>der</strong> Estensische<br />
ursprung behauptet bleibt.―<br />
In Augsburg besichtigt Leibniz das Zeughaus, die Wasserkunst, den<br />
Dom und die Klosterbibliothek, wo er unter an<strong>der</strong>en Dokumenten auch<br />
den Welfenstammbaum des Konrad PEUTINGER betrachten kann.<br />
„In Augsburg bei dem Geistlichen Gottlieb SPITZEL, <strong>der</strong> mir von früher<br />
her brieflich bekannt war, sah ich vorzügliche Sachen, unter an<strong>der</strong>en<br />
handgeschriebene Anmerkungen des Rechtsgelehrten Georg REMUS<br />
zur ganzen Heil. Schrift, wo laufend Stellen weltlicher Schriftsteller aufs<br />
treffendste herangezogen wurden.―<br />
Unmittelbar nach <strong>der</strong> Entdeckung vom gleichen Ursprung <strong>der</strong><br />
Welfen und <strong>der</strong> Este schreibt Leibniz einen ersten Brief an den<br />
braunschweig-lüneburgischen Residenten in Venedig Francesco DE<br />
FLORAMONTI, um durch ihn Verbindung mit dem Hof in Modena zu<br />
bekommen. Zwei Wochen später legt Leibniz seinem Herzog nahe:<br />
„Alsdann wäre zwar noch übrig des Azonis Estenis ursprung aus dem<br />
Italianischen monumenten müglichster maßen zu untersuchen, und was<br />
die Estensischen Historienschreiber dießfals z<strong>im</strong>lich unrichtig verbracht<br />
theils zu beßern theils auff festen fuß zu stellen. Welches aber ohne<br />
insicht <strong>der</strong> Documenten so theils in dem gebieth <strong>der</strong> Republic Venedig<br />
(…) theils in dem Modenesischen Archivo befindtlich, nicht zu erhalten.―<br />
In Hannover gab es niemand außer Leibniz, <strong>der</strong> diesen Auftrag<br />
ausführen konnte; es reift bei ihm nun unmittelbar nach <strong>der</strong><br />
Augsburger Entdeckung <strong>der</strong> Entschluß, selbst nach Italien zu<br />
reisen. Von Augsburg geht es am 15. April 1688 wie<strong>der</strong> nach<br />
Fürstenfeldbruck, wo er am nächsten Tag die Karfreitagsprozession<br />
beobachtet und ausführlich beschreibt und anschließend nach München<br />
weiterreist. Nach Ostern berichtet Leibniz am 24. April aus München<br />
nach Hannover, daß ihm ohne überzeugende Gründe <strong>der</strong> Zugang zu<br />
den Handschriften <strong>der</strong> Bibliothek und des Archivs verweigert wird. Drei<br />
Tage später schreibt Leibniz nochmals nach Hannover an Herzog Ernst<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 357<br />
August über den bisherigen Verlauf <strong>der</strong> Reise und verläßt München<br />
voll Empörung, weil ihm die Benutzung <strong>der</strong> Handschriften noch <strong>im</strong>mer<br />
verweigert wird. Am 29. April Abreise über Mühldorf, Neu-Öttingen,<br />
Braunau, Mauerkirchen, Schärding nach Passau. Leibniz verläßt<br />
Bayern, nachdem er unterwegs in Klöstern Statuen <strong>der</strong> Welfen<br />
abgezeichnet und Welfenurkunden untersucht hat. Am 4. Mai besteigt<br />
LEIBNIZ ein Schiff und fährt Donau abwärts und passiert Linz und trifft<br />
am 7. Mai in Ybbs ein, fährt von dort weiter bis unmittelbar vor Krems,<br />
wo er das Schiff verläßt und über Land bis Killingen weiterreist und ist<br />
am 8. Mai in Wien und „logiret in <strong>der</strong> Rossau― und n<strong>im</strong>mt dann endgültig<br />
Quartier be<strong>im</strong> Gastwirt Martin ALTENBURG, dem Inhaber des „Steyrer<br />
Hofes am Roten Tor―. Der erste Besuch in Wien galt dem<br />
hannoverschen und celleschen Gesandten Hofrat Christoph von<br />
WESELOW (+ 1695), den Leibniz als Jurist bei <strong>der</strong> Begründung <strong>der</strong><br />
Ansprüche Braunschweig-Lüneburgs auf das Herzogtum Ostfriesland<br />
unterstützen kann. Ein kollegialer Briefwechsel beginnt, <strong>der</strong> 7 Jahre bis<br />
zum Tod von WESELOW andauert. Am 17. 1688 Mai Besichtigung in<br />
<strong>der</strong> „Schatzkammer― in <strong>der</strong> Burg und wohl erster Besuch Leibniz’ in <strong>der</strong><br />
Bibliothek, wo er beson<strong>der</strong>s Handschriften betrachtet:<br />
„Eine Teutsche Bibel in 3 vol. in folio auff bergament durch anordnung<br />
WENCESLAI Königs in BÖHMEN, geschrieben; er hat solche zu<br />
andencken <strong>der</strong> badefrau, so ihm aus seiner gefängnüß geholffen<br />
verfertigen und sich vielemals mit <strong>der</strong>selben darinne abmahlen lassen. –<br />
LUTHERI Lateinische Bibel worinne er viel observationes so wol<br />
Teutsch als Lateinisch auf dem rand von ihm geschrieben.- Zwey<br />
folianten, worinne in Sinesischer Sprach von Mathematicis gehandelt<br />
wird mit vielen figuren auff seide gedruckt.―<br />
Am 28 Mai trifft <strong>der</strong> Prinz Karl Philipp von BRAUNSCHWEIG-Lüneburg<br />
in Wien ein, <strong>der</strong> <strong>im</strong> Dienst des Kaisers als Offizier gegen die Türken<br />
kämpft. Ende Mai besucht Leibniz den Markgrafen Hermann von<br />
BADEN und unterhält sich mit ihm über historische Themen. Anfang<br />
Juni, Dienstag nach Pfingsten, fährt Leibniz zum Sitz des Bischofs<br />
Cristobal de ROJAS Y SPINOLA nach Wiener-Neustadt und n<strong>im</strong>mt das<br />
Gespräch über die Möglichkeit <strong>der</strong> Reunion <strong>der</strong> christlichen Kirchen<br />
wie<strong>der</strong> auf und bekommt Einsicht über den umfangreichen Briefwechsel,<br />
den <strong>der</strong> Bischof darüber geführt hat. Durch ROJAS’ Vermittlung erreicht<br />
Leibniz über den Hofkanzler Theodor A. Heinrich VON STRATTMANN<br />
und den späteren Vizekanzler Gottlieb Amadeus VON<br />
WINDISCHGRÄTZ später auch Zugang zum Kaiser selbst. Wie<strong>der</strong> in<br />
Wien verschafft sich Leibniz auch die Erlaubnis zur Benutzung <strong>der</strong><br />
kaiserlichen Bibliothek. Anfang Juli korrespondiert LEIBNIZ „Über die<br />
Vorfahren Herzog HEINRICHS DES LÖWEN― mit Chr. J. Nicolai<br />
GREIFFENCRANTZ, mit dem er bis zu seinem Tode verbunden ist. In<br />
<strong>der</strong> Hofbibliothek studiert Leibniz Urkunden des Erzbistums Magdeburg<br />
und des Bistums Halberstadt; er findet eine Abschrift des Testamentes<br />
HEINRICH des Jüngeren VON BRAUNSCHWEIG (+ 1598). Leibniz<br />
entwirft ein Promemoria betr. die Einsetzung eines Collegium Imperiale<br />
historicum. Anfang August Beginn des Kontaktes mit Claude Francois<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 358<br />
DE CANON, dem Minister des aus seinem Lande vertriebenen, zum<br />
Kaiser geflüchteten Herzogs Karl VON LOTHRINGEN, dessen<br />
Ansprüche Leibniz mit Urkunden stützen will. Ende August 1688 beginnt<br />
<strong>der</strong> Briefwechsel mit Kurfürstin SOPHIE CHARLOTTE VON<br />
BRANDENBURG, seit 19. Januar 1701 Königin von PREUSSEN, bis zu<br />
ihrem Tode (+ 1705). Im September macht Leibniz Bekanntschaft mit<br />
Deputierten <strong>der</strong> ungarischen Bergwerksstädte, beson<strong>der</strong>s aus<br />
Schemnitz, und erfährt von ihnen Einzelheiten des dortigen<br />
Bergwesens. Er plant selbst eine Reise nach Ungarn, zu <strong>der</strong> es aber<br />
nicht kommt. Th. A. H. VON STRATTMANN berichtet von <strong>der</strong><br />
Bereitwilligkeit des Kaisers, Leibniz als Hofhistoriograph in seinen Dienst<br />
zu nehmen und es wird eine ehrenvolle Pension in Höhe von zunächst<br />
2000 Gulden in Aussicht gestellt.<br />
Im Oktober Briefwechsel (bis 1695) mit dem kaiserlichen Bibliothekar<br />
Daniel von NESSEL (+1700) in Wien, <strong>der</strong> Leibniz bei seinen<br />
historischen, genealogischen und sprachgeschichtlichen Forschungen<br />
unterstützt.<br />
Im Oktober 1689 liest Leibniz in Wien das Kriegsmanifest von König<br />
Ludwig XIV. vom 24. Sept. 1688, das gegen das Deutsche Reich<br />
gerichtet ist und wo dieser sein gewaltsames Vorgehen gegen die Pfalz<br />
als völkerrechtlich legal zu rechtfertigen sucht. Die allgemeine<br />
Empörung <strong>der</strong> Wiener und <strong>der</strong> Politiker überträgt sich auf Leibniz, <strong>der</strong><br />
sofort in einer Deklaration dazu Stellung n<strong>im</strong>mt und in einer weiteren<br />
Denkschrift die Hauptpunkte zusammenfaßt, die er dem Hofkanzler<br />
STRATTMANN vorlegt. Ende Oktober erfüllt sich endlich auch Leibniz’<br />
Wunsch nach einer persönlichen Audienz be<strong>im</strong> Kaiser. Kaiser<br />
LEOPOLD gibt Leibniz Gelegenheit, ausführlich seine Vorschläge und<br />
Pläne vorzutragen, die er zur Münzreform, zur Neuordnung des<br />
Geldwesens, zur Verbesserung des Handels und <strong>der</strong> Leinenmanufaktur,<br />
zur Errichtung einer Versicherungskasse, zur Erhebung einer freiwilligen<br />
„Christlichen Türkensteuer―, d. h. einer Steuer zur Abdeckung <strong>der</strong><br />
Kosten des Krieges gegen die Türken, zum Aufbau eines zentralen<br />
Reichsarchivs, zum Abschluß eines Reichskonkordates und zum<br />
Ausbau einer universalen Handbibliothek entworfen hatte.<br />
…Im November beschäftigt sich Leibniz mit Philipp Jakob SPENERS<br />
Erklärung <strong>der</strong> braunschweigischen Heraldik. Im gleichen Monat wird<br />
Leibniz krank:<br />
„Jetzt hat mich ein so schmerzliches Rheuma befallen, daß ich nur mit<br />
Mühe sprechen kann.― Leibniz’ spürt bis zum Ende des Jahres kaum<br />
Anzeichen <strong>der</strong> Besserung. Ihn quält ein sehr schwerer Katarrh mit<br />
Husten und Kopfschmerzen, so daß er ans Z<strong>im</strong>mer gebunden ist. Dank<br />
dem Entgegenkommen des Bibliothekars D. von NESSEL kann er<br />
jedoch Bücher und Handschriften, ja selbst die Kataloge <strong>der</strong> kaiserlichen<br />
Bibliothek auf seinem Z<strong>im</strong>mer benutzen. Am 30. Dezember schreibt er<br />
an Hofrat Otto GROTE nach Hannover: ―Ich hatte keinen Appetit mehr,<br />
was mich sehr schwächte. Geblieben ist ein Husten, <strong>der</strong> jedesmal<br />
schl<strong>im</strong>mer wird, wenn ich in die kalte Luft hinausgehe. … Ich habe viele<br />
Manuskripte gelesen und dabei die Nacht zum Tage gemacht, um keine<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 359<br />
Gelegenheit zu versäumen. Denn es ist nicht notwendig, daß man<br />
lebt son<strong>der</strong>n es ist notwendig, daß man arbeite und seine Pflicht<br />
erfüllt. Wenn jemand glaubt, ich habe meine <strong>Zeit</strong> mißbraucht, tut er mir<br />
sehr unrecht. Ich hatte geglaubt die Bergwerke Ungarns sehen zu<br />
können, aber ich fürchte, daß mir das wegen <strong>der</strong> kalten Witterung<br />
versagt sein wird. Ich denke nur an die Rückreise.― In Wien lernt Leibniz<br />
den kaiserlichen Beichtvater P. MENEGATTI kennen und schätzen.<br />
Einmal lädt ROJAS Y SPINOLA die beiden Hofräte Leibniz und Chr. v.<br />
WESELOW zum Fischessen ein. Die Reunionsfragen <strong>der</strong> christlichen<br />
Kirchen kommen wie<strong>der</strong> ins Gespräch und mehrere Denkschriften<br />
werden verfaßt. Leibniz exzerpiert naturrechtliche Schriften von J. L.<br />
PRASCH. Briefwechsel mit Staatsrat und Vizekanzler in Ostfriesland<br />
Heinrich AVEMANN, <strong>der</strong> fast bis zu dessen Tod <strong>im</strong> Jahre 1699<br />
andauert.<br />
Januar 1689 erhält Leibniz die Antwort, daß Herzog Franz II. von<br />
MODENA die Benutzung seines Hausarchivs für historische und<br />
genealogische Forschungen gestattet. Für LEIBNIZ wird jetzt auf<br />
Grund seiner Anfrage aus Augsburg <strong>der</strong> Weg frei nach Italien. LEIBNIZ<br />
schreibt am 20. Januar 1689 an Otto GROTE: „Ich habe mich<br />
entschlossen so bald wie möglich nach Italien zu reisen und zwar auf<br />
direktem Wege nach Venedig, von wo ich mich nach Modena begeben<br />
werde. Ich werde mich nirgends länger aufhalten, als notwendig ist.― Am<br />
23. Januar an Herzogin SOPHIE:<br />
„Weil mir <strong>der</strong> Herzog von MODENA durch den Grafen DRAGONI die<br />
Benutzung seines Archivs gestattet soweit es die Möglichkeit bietet, den<br />
gemeinsamen Ursprung <strong>der</strong> Häuser Braunschweig und Este<br />
festzulegen, habe ich nicht geschwankt davon zu profitieren. Ich bin <strong>im</strong><br />
Begriff nach Italien abzureisen―, ohne die offizielle Ordre aus Hannover<br />
abzuwarten. „Ich würde hier sonst allzu viel <strong>Zeit</strong> verlieren.― Leibniz<br />
besucht Gottlieb von WINDISCHGRÄTZ auf seinem Gut<br />
Trautmannsdorf bei Wien und entwickelt ihm Vorschläge für ein neues<br />
Konkordat. Vertrauliche politische Gespräche berühren auch das<br />
Verhältnis des Kaisers zum Hause Braunschweig, beson<strong>der</strong>s zu Herzog<br />
Ernst August in Hannover, das von Mißtrauen erfüllt ist. Leibniz bereitet<br />
zugleich einen Besuch seines Freundes CRAFFT bei WINDISCHKRÄTZ<br />
vor. Am 5. Februar schreibt er an A. Ph. von <strong>der</strong> BUSSCHE:<br />
„So Gott will, werde ich in drei Tagen abreisen. Ich muß mich beeilen,<br />
um die Alpen zu durchqueren, bevor die Schneeschmelze beginnt und<br />
die Wege schlammig werden.― Einen Teil seines Gepäcks läßt LEIBNIZ<br />
<strong>im</strong> „Steyrer Hof― bis zu seiner Rückkehr aufbewahren. Die Fahrt geht<br />
über Wiener-Neustadt, wo LEIBNIZ seinen eigenen Reisewagen,<br />
Pferde und Kutscher <strong>der</strong> bischöflichen Hofhaltung anvertraut. Bischof<br />
ROJAS Y SPINOLA gibt LEIBNIZ ein Empfehlungsschreiben an den<br />
Kardinal Decio AZZOLINI in Rom mit auf den Weg. Wohl am 12.<br />
Februar Weiterreise über Graz, Wildon, Ehrenhausen, Marburg a. d.<br />
Drau, Feistritz, Gonobitz, Cilli, Franz, Laibach nach Oberlaibach.<br />
Von hier aus besucht er die Quecksilbergruben von Idria. Weiterfahrt<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 360<br />
über Görz nach Triest. Von hier wohl per Schiff nach Venedig, wo<br />
Leibniz am 4. März eintrifft. Hier wartet er viele Tage vergeblich auf<br />
Nachrichten, die die Verbindung nach Modena herstellen sollten. In <strong>der</strong><br />
Wartezeit beginnt Leibniz die Nie<strong>der</strong>schrift eines Bibliotheksplanes, d. h.<br />
eines sachlich geglie<strong>der</strong>ten Titelverzeichnisses von Büchern, die in <strong>der</strong><br />
kaiserlichen Bibliothek aufgestellt werden sollten. Ende März<br />
Küstenfahrt auf Lagune und Meer südlich von Venedig, vielleicht auf<br />
dem Wege nach Ferrara. Darüber berichtet J. G. ECKHART: „Von<br />
Venedig ging Leibniz in einer kleinen Barke ganz allein an <strong>der</strong> Küste hin<br />
zur See. Es überfiel ihn dabei ein gräßlicher Sturm. Oft hat er mir<br />
erzählt, daß die Schiffer, in <strong>der</strong> Meinung, daß er ihre Sprache nicht<br />
versteht, sich in seiner Gegenwart dahin verständigten, ihn über Bord zu<br />
werfen und seine Sachen unter sich aufzuteilen. Er habe sich nichts<br />
anmerken lassen, einen Rosenkranz, den er bei sich hatte, hervorgeholt<br />
und getan, als ob er betete. Darauf erklärte einer von den Bootsleuten:<br />
weil er sähe, daß <strong>der</strong> Mann kein Ketzer wäre, könnte er es nicht übers<br />
Herz bringen, ihn töten zu lassen. So sei er mit dem Leben davon<br />
gekommen und bei Mesola an Land gegangen.<br />
Vermutlich am 1. April kommt Leibniz in Ferrara an und schreibt von<br />
dort an Herzogin SOPHIE:<br />
„Vergeblich habe ich [in Venedig] auf Briefe des Herrn DRAGONI, <strong>der</strong><br />
vielleicht nicht in Modena weilte gewartet. Ich bin deshalb weitergereist<br />
und unternehme eine Fahrt nach Rom, um die <strong>Zeit</strong> auszunutzen und die<br />
Gegend kennenzulernen …. ― Mit dem Postwagen fährt Leibniz über<br />
Bologna und Loreto nach Rom, wo er am 14. April eintrifft.<br />
Am 19. April überraschen<strong>der</strong> Tod <strong>der</strong> Königin Christine von<br />
SCHWEDEN in Rom, zu <strong>der</strong>en Sammlungen Leibniz durch den fast<br />
gleichzeitigen Tod des Kardinals AZZOLINI zunächst keinen Zugang<br />
finden kann. Christine von SCHWEDEN ist die Tochter GUSTAV<br />
ADOLFS (+ 1632) und <strong>der</strong> Marie Eleonore von BRANDENBURG;<br />
Christine (* Stockholm 17. 12. 1626) übernahm 1644 die Regierung und<br />
übergab 1654 die Krone ihrem Vetter Karl Gustav von PFALZ-<br />
ZWEIBRÜCKEN. 1655 trat sie zur katholischen Kirche über und lebte<br />
seitdem meistens in Rom den Künsten und Wissenschaften. Sie för<strong>der</strong>te<br />
die Wissenschaften und stand mit vielen Gelehrten <strong>im</strong> Briefwechsel.<br />
Leibniz bleibt einige Wochen in Rom und führt u. a. Gespräche mit dem<br />
Mathematiker und Astronomen Adrien AUZOUT, einem<br />
Gründungsmitglied <strong>der</strong> Acadèmie des sciences in Paris und entwirft<br />
zahlreiche Schriften. Vor Einbruch <strong>der</strong> sommerlichen Hitze entschließt<br />
sich Leibniz zur Weiterfahrt nach Neapel, wo er sich eine Woche aufhält<br />
und nach einem Ausflug nach Pozzuoli und <strong>der</strong> Solfatara danach den<br />
Vesuv besteigt. Wie<strong>der</strong> in Neapel lernt Leibniz die Juristen Niccolò<br />
CAPUTO, Giùseppe VALETTA und den Historiker Loronzo CRASSO<br />
kennen. Letzterer erleichtert ihm den Zugang zum königlichen Archiv,<br />
wo er Handschriften zur Geschichte des Herzogs Otto von<br />
BRAUNSCHWEIG sieht, <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Königin Johanna von NEAPEL (+<br />
1382) verheiratet war. Briefwechsel mit dem Sekretär <strong>der</strong> Hofkanzlei,<br />
dem späteren Hofrat Caspar Florenz von CONSBRUCH in Wien. Im Mai<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 361<br />
Rückfahrt nach Rom. Leibniz schreibt ein Bittgedicht für den erkrankten<br />
Papst INNOCENZ XI., <strong>der</strong> das große Werk <strong>der</strong> christlichen Aussöhnung<br />
för<strong>der</strong>n wollte (er stirbt am 12. August).<br />
Im Juli 1689 Briefwechsel mit dem Missionar Claudio Filippo<br />
GRIMALDI S.J., <strong>der</strong> als Präsident des Tribunale mathematicum nach<br />
Peking geht. Leibniz erörtert in Gesprächen Fragen des<br />
Kulturaustausches zwischen Europa und China. Er stellt Fragebogen<br />
zusammen, um Auskünfte über Sprachen, Volksgruppen und den Stand<br />
<strong>der</strong> Technik <strong>im</strong> Fernen Osten zu erhalten. Auch verfolgt er mit<br />
Aufmerksamkeit den Versuch <strong>der</strong> Jesuiten, auf dem Landwege China zu<br />
erreichen.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
11.5 Zwischenbetrachtung:<br />
LEIBNIZ als Ahnherr des Computers und Genie <strong>der</strong><br />
Mathematik<br />
Nach dem Leibniz-Biografen G. E. GUHRAUER fällt gerade in diese<br />
römische <strong>Zeit</strong> ein geradezu weltbewegendes Ereignis, „die Erfindung <strong>der</strong><br />
Rechnung mit 0 und 1― eine Entdeckung, die Leibniz angeblich durch<br />
eine Inspiration aus dem kanonischen Buch “Yi-Kink“ des sagenhaften<br />
Kaisers FOHI aus China bekommen haben soll. In diesem Buch, das<br />
Leibniz von GRIMALDINI gezeigt bekam, war ein Zahlensystem<br />
dargestellt, das nur aus zwei Zeichen besteht, nämlich kurzen und<br />
langen Stäbchen (o<strong>der</strong> Linien). Das inspirierte Leibniz zu seiner<br />
„Dyadik“, dem binären Zahlensystem, dem „Zweierzahlensystem,<br />
das nur aus 0 und 1 besteht. Vermutlich war das aber nur eine<br />
auslösende Ursache, seine kombinatorischen Kenntnisse aus <strong>der</strong><br />
Jenaer <strong>Zeit</strong> bei Erhard WEIGEL mit diesem Zahlensystem zu verbinden.<br />
Denn schon <strong>im</strong> Jahre 1679 hatte Leibniz eine unveröffentlichte Schrift<br />
über das „dyadische Zahlensystem― mit dem lateinischen Titel De<br />
progressione dyadica geschrieben, eine Frucht, die schon in Leibniz’<br />
Pariser <strong>Zeit</strong> (1672-1676) ke<strong>im</strong>te, wo auch seíne Bemühungen um die<br />
Konstruktion einer Rechenmaschine schon konkrete Formen<br />
angenommen hatten. In Rom mag Leibniz sein „Zweiersystem― nun<br />
weiter ausgesponnen und den „Algorithmus―, d.h. die Rechenregeln<br />
entwickelt haben, damit Mensch o<strong>der</strong> Maschine mit einem solchen „0-1-<br />
er System“ praktisch arbeiten kann. Bereits 1679 hatte er an die<br />
maschinelle Nutzung gedacht, denn er schreibt in seinem o.g.<br />
Manuskript: „Diese Art Kalkül könnte auch mit einer Maschine<br />
ausgeführt werden. Auf folgende Weise sicherlich sehr leicht und ohne<br />
Aufwand: Eine Büchse soll so mit Löchern versehen sein, daß diese<br />
geöffnet und geschlossen werden können. Sie sei offen an den Stellen,<br />
die jeweils 1 entsprechen, und bleibe geschlossen an denen, die 0<br />
entsprechen. Durch die offenen Stellen lasse sie kleine Würfel o<strong>der</strong><br />
Kugeln in Rinnen fallen, durch die die an<strong>der</strong>en nichts. Sie werde so<br />
bewegt und von Spalte zu Spalte verschoben, wie die Multiplikation es<br />
erfor<strong>der</strong>t. Die Rinnen sollen die Spalten darstellen, und kein Kügelchen<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 362<br />
soll aus einer Rinne in eine an<strong>der</strong>e gelangen können, es sei denn,<br />
nachdem die Maschine in Bewegung gesetzt ist. Dann fließen alle<br />
Kügelchen in die nächste Rinne, wobei <strong>im</strong>mer eines weggenommen<br />
wird, welches in ein leeres Loch fällt. Denn die Sache kann so<br />
eingerichtet werden, daß notwendig <strong>im</strong>mer zwei zusammen<br />
herauskommen, sonst sollen sie nicht herauskommen.“<br />
Mit den Prinzipien des „Zweiersystems“, den Rechenregeln und<br />
den maschinellen Möglichkeiten wurde Leibniz zum geistigen Vater<br />
<strong>der</strong> elektronischen Rechenmaschine, und damit zum Ahnherrn des<br />
Computers!<br />
Die kurzen und langen Stäbchen <strong>der</strong> Chinesen hatte er durch die<br />
Ziffern 0 und 1 ersetzt, die sich schließenden und öffnenden Löcher<br />
einer Büchse haben anfangs kleine magnetische Ringe (Ferritkerne)<br />
übernommen, die magnetisiert (= 1) o<strong>der</strong> entmagnetisiert (= 0) waren!<br />
[In <strong>der</strong> Fa. Siemens AG, München, war <strong>der</strong> Autor Mitte bis Ende <strong>der</strong><br />
60er Jahre als Chemie-Ingenieur für die Materialqualität des Eisenoxid-<br />
Mischkristall-Materials verantwortlich, aus dem die Ferritkerne als<br />
Speicherelemente seinerzeit noch hergestellt wurden. Diese<br />
Speicherkerne wurden dann mit feinen stromführenden Drähten zu<br />
Netzen verflochten, bis diese Speichermatrizen dann in den 70er Jahren<br />
durch die Silizium- Technik <strong>der</strong> Speicherchips abgelöst wurden.]<br />
Am 12. Januar 1697 überbringt <strong>der</strong> entdeckertrunkene LEIBNIZ einen<br />
„Mathematischen Beweiß <strong>der</strong> Erschaffung und Ordnung <strong>der</strong> Welt in<br />
einem Medallion An den Durchlauchtigsten Fürsten und Herrn, Herrn<br />
Rudolf August― von WOLFENBÜTTEL.<br />
Es sind zwei Medaillonbil<strong>der</strong> bekannt, eines mit lateinischem, das<br />
an<strong>der</strong>e mit deutschem Text, die mit ihren Symbolen Sonne, Mond und<br />
Sternen und den aufgeschlagenen Zahlentafeln „dyadisch― (dual, binär)<br />
und dez<strong>im</strong>alen für sich sprechen.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />
S e i t e | 363
S e i t e | 364<br />
LEIBNIZ weist anhand <strong>der</strong> Dyadik, <strong>der</strong> Rechnung mit 0 und 1, „die<br />
Erschaffung <strong>der</strong> Welt aus dem Nichts durch die Allmacht des<br />
schaffenden Gottes nach.― Daraus wörtlich <strong>im</strong> Barockstil <strong>der</strong> damaligen<br />
<strong>Zeit</strong>: „[Eine <strong>der</strong> biblischen Grundlehren] ist die erschaffung aller dinge<br />
aus nichts durch die allmacht Gottes. Nun kann man wohl sagen daß<br />
nichts in <strong>der</strong> welt sie beßer vorstelle, ja gleichsam demonstrire, als <strong>der</strong><br />
ursprung <strong>der</strong> zahlen wie alhier vorgestellet, durch <strong>der</strong>en ausdrückung<br />
bloß und allein mit Eins und Null o<strong>der</strong> Nichts, und wird wohl schwehrlich<br />
in <strong>der</strong> Natur und Philosophi ein beßeres vorbild dieses gehe<strong>im</strong>nißes zu<br />
finden seyn. […] Es ist aber auch dabey nicht weniger<br />
betrachtungswürdig, wie schöhn darauß erscheine nicht nur daß Gott<br />
alles aus nichts gemacht, son<strong>der</strong>n auch daß Gott alles wohl gemacht,<br />
und daß alles was er geschaffen, guth gewesen; wie wirs hier denn in<br />
diesem vorbild <strong>der</strong> Schöpfung auch mit augen sehen. Denn anstatt daß<br />
bey <strong>der</strong> gemeinen vorstellung <strong>der</strong> zahlen keine ordnung noch gewiße<br />
folge in den characteren o<strong>der</strong> bezeichnungen <strong>der</strong>selben sich spühren<br />
läßet, so erweiset sich hingegen aniezo, da man auff <strong>der</strong>en<br />
innersten grund und urstand siehet, eine wun<strong>der</strong>bar schöhne<br />
ordnung und einst<strong>im</strong>mung, so nicht zu verbeßern.―<br />
Später schreibt Leibniz am 29. März 1698 an einen Herrn SANDER,<br />
Kandidaten des Rechts in Bremen, einen Brief mit näheren<br />
Erläuterungen zu seinem einfachsten Ziffernsystem, dem<br />
Zweierzahlensystem, in dem er geradezu eine göttliche Kraft erblickt.<br />
Dieser Brief läßt einen Hauch von <strong>der</strong> geistigen Genialität Leibniz’ und<br />
seiner Vorahnungen spüren, die dieses System einmal haben sollte, da<br />
ja unser heutiger Computer intern mit dem<br />
binären Zahlensystem von Leibniz rechnet.<br />
„Daher ist jener von Gott mitgeteilte Wert wirklich eine Mächtigkeit,<br />
eine den Dingen eingegebene Kraft. Manche bestreiten dies zu unrecht<br />
und merken nicht, daß sie sich so unversehens in <strong>der</strong> Lehre SPINOZAS<br />
verfangen, <strong>der</strong> Gott allein zur Substanz erklärt, alles übrige zu dessen<br />
„Modi―.<br />
So haben die Dinge ihren Ursprung aus Gott und dem Nichts, aus<br />
Positivem und Privativem, aus Vollkommenheit und Unvollkommenheit,<br />
aus Wert und Begrenzung, aus Aktivem und Passivem, aus Form (d. h.<br />
Entelechie, Drang, Mächtigkeit) und Materie o<strong>der</strong> Masse, die an sich<br />
untätig ist, außer daß sie Wi<strong>der</strong>stand bietet. Dies habe ich an dem von<br />
mir beobachteten Ursprung <strong>der</strong> Zahlen aus 0 und 1 etwas anschaulich<br />
gemacht. Er ist ein schönes Kennzeichen <strong>der</strong> ständigen Erschaffung <strong>der</strong><br />
Dinge aus dem Nichts und ihrer Abhängigkeit von Gott. Denn wenn man<br />
die einfachste Progression anwendet, nämlich die dyadische, anstelle<br />
<strong>der</strong> dekadischen o<strong>der</strong> quaternarischen, dann lassen sich alle Zahlen<br />
durch 0 und 1 ausdrücken, wie aus nebenstehen<strong>der</strong> Tabelle ersichtlich<br />
ist. Dieser Aufbau <strong>der</strong> Zahlen entspricht am meisten <strong>der</strong> natur und<br />
enthält erstaunliche Anregungen zum Nachdenken und auch für die<br />
Praxis, wenn auch nicht für den allgemeinen Gebrauch.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 365<br />
0 | 0<br />
1 | 1<br />
10 | 2<br />
11 | 3<br />
100 | 4<br />
101 | 5<br />
110 | 6<br />
111 | 7<br />
1000 | 8<br />
Im übrigen bitte ich Sie, Herrn KNOLLE bei Gelegenheit auch in<br />
meinem Namen (wenn es angebracht scheint) zu ermutigen, mit diesen<br />
vortrefflichen Überlegungen fortzufahren. Ich würde gern Ähnliches von<br />
ihm sehen, sei es nun über Mathematik o<strong>der</strong> jene „höhere Philosophie―<br />
Auch sollte man ihn meiner Ansicht nach zur Pflege jener höheren<br />
Mathematik ermuntern, zu <strong>der</strong> die „Wissenschaft vom Unendlichen“<br />
gehört. Einige ihrer Elemente habe ich dargestellt, als ich einen<br />
neuartigen Kalkül [sic!] vorlegte. Diesen haben HUYGENS und an<strong>der</strong>e<br />
bedeutende Männer mit Beifall aufgenommen. Jetzt haben ihn<br />
beson<strong>der</strong>s die Herren Gebrü<strong>der</strong> BERNOULLI und in einer eigenen<br />
Abhandlung auch Herr Marquis de L’HOPITAL, ein Franzose, erläutert.<br />
Man ist allgemein <strong>der</strong> Ansicht, daß sich auf keine an<strong>der</strong>e Weise ein<br />
besserer Zugang von <strong>der</strong> Geometrie zur Natur hin auftut, die, wie<br />
ich glaube, bei je<strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung über unendlich viele<br />
Zwischenstufen fortschreitet und darin das Gepräge des<br />
unendlichen Urhebers an sich trägt. …“<br />
Hermann-Josef GREVE, 1903-1978, schreibt in dem Buch „Herrn von<br />
Leibniz’ Rechnung mit Null und Eins―, das von <strong>der</strong> Fa. Siemens AG mit<br />
Beiträgen verschiedener Autoren herausgegeben wurde (3. Aufl. 1979):<br />
„Die „Histoire de l’Académie Royale des Sciences― in Paris war eine<br />
<strong>der</strong> angesehensten wissenschaftlichen <strong>Zeit</strong>schriften des 17. und 18.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts. Im Jahrgang 1703 erschien ein Aufsatz von Leibniz unter<br />
dem Titel „Explication de l’Arithmétique Binaire―. Es ist eine <strong>der</strong><br />
wenigen Veröffentlichungen, die LEIBNIZ zu seinen Lebzeiten veranlaßt<br />
hat. Um den druckreifen Text hat er Jahre gerungen. Das barocke<br />
Beiwerk früherer Ausführungen über die Dyadik, wie es z.B. in dem vom<br />
2. Januar 1698 datierten Brief [wohl ein weiterer Brief an den Herzog?<br />
AR] an Herzog Rudolf von Braunschweig zum Ausdruck kommt, ist<br />
verschwunden. In <strong>der</strong> klaren, knappen Sprache des seiner Sache<br />
sicheren Wissenschaftlers stellt er <strong>der</strong> geistig interessierten Welt das<br />
binäre Zahlensystem vor. Die königliche Akademie <strong>der</strong> Wissenschaften<br />
ehrte den Verfasser durch einen einführenden Kommentar. Die<br />
Entdeckung <strong>der</strong> binären Welt mußte zur Kenntnis genommen werden,<br />
aber noch vermochte niemand die Bedeutung für die Zukunft zu<br />
ermessen. Sie blieb hinter fernen Horizonten bis in unsere Gegenwart<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 366<br />
verborgen, behe<strong>im</strong>atet in den geistigen Weiten eines <strong>der</strong> größten<br />
Denker <strong>der</strong> Menschheit.―<br />
Weitere große Meilensteine setzte Leibniz noch auf andren Gebieten<br />
<strong>der</strong> Mathematik. Er wurde schließlich zum eigentlichen Stammvater <strong>der</strong><br />
heutigen höheren Mathematik, <strong>der</strong> Infinites<strong>im</strong>almathematik<br />
(Differential- und Integralrechnung), die er völlig unabhängig von<br />
Isaac NEWTON, 1646-1716, entdeckend geschaffen hat (1684: „Acta<br />
eruditorum―). Leibniz’ symbolische Notation wird wegen ihrer Eleganz<br />
heute noch so verwendet wie von Leibniz und hat die<br />
Fluxionsschreibweise von NEWTON auch in England völlig verdrängt.<br />
Voraus gegangen war bereits die arithmetische Quadratur des Kreises<br />
<strong>im</strong> Jahre 1673 in Paris, wo Leibniz mittels Integrationsmethoden <strong>der</strong><br />
Reihenentwicklung zu einer <strong>der</strong> berühmtesten mathematischen Reihen<br />
kommt, die auch nach ihm als Leibnizsche Reihe benannt worden ist;<br />
aus ihr läßt sich pi (π ) berechnen::<br />
1/4 π = 1 – 1/3 + 1/5 – 1/7 + …<br />
Auch hat Leibniz die Determinantenrechnung erfunden und eingeführt,<br />
um Systeme von schwierigen Gleichungen in bequemer Weise<br />
aufzulösen und er hat damit einen weiteren leuchtenden Meilenstein in<br />
<strong>der</strong> Kulturgeschichte <strong>der</strong> Mathematik gesetzt.<br />
Schon 1666 als Student <strong>der</strong> Rechte machte LEIBNIZ mit 20 Jahren<br />
seine ersten mathematischen Entdeckungen auf dem Gebiete <strong>der</strong><br />
Kombinatorik (Ars combinatoria; Leipziger Dissertation). Auch <strong>der</strong><br />
wichtige Begriff <strong>der</strong> neuzeitlichen „Funktion“ geht auf LEIBNIZ zurück<br />
(Handschrift 1673: „de Functionibus―).<br />
Der Mathematiker Georg SCHEFFERS, 1866-1945, Prof. in Berlin, <strong>der</strong><br />
Verfasser des berühmten dickleibigen „Lehrbuch <strong>der</strong> Mathematik zum<br />
Selbstunterricht für Studierende <strong>der</strong> Naturwissenschaften und <strong>der</strong><br />
Technik― schreibt dort: „Daß man für das Differentieren gewisse wie<br />
gesagt geradezu handwerksmäßige Regeln aufstellen kann, verdankt<br />
man in nicht geringem Maße dem Umstand, daß LEIBNITZ (1646-1716),<br />
<strong>der</strong> gleichzeitig mit NEWTON (1643-1727) in den letzten Jahrzehnten<br />
des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts die Differentialrechnung erfand, sofort mit<br />
kundigem Blick die Bezeichnung prägte, <strong>der</strong>en Anwendung das<br />
Verfahren so bequem macht. […] In <strong>der</strong> Philosophie spielt LEIBNIZ<br />
bekanntlich auch eine Rolle, aber das Beste hat er mit <strong>der</strong><br />
Differentialrechnung für den Aufschwung <strong>der</strong> Mathematik, <strong>der</strong><br />
Naturwissenschaften und <strong>der</strong> Technik geleistet.― Worte die wohl nur ein<br />
Naturwissenschaftler o<strong>der</strong> Techniker in vollem Umfange nachempfinden<br />
kann, - sofern er die mathematische Durchdringung unserer Welt als<br />
Spezialist heute überhaupt noch etwas zu überblicken vermag!-<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 367<br />
Zum Thema LEIBNIZ siehe auch folgende Links in meinen<br />
Internetseiten:<br />
http://www.genetalogie.de/gallery/leib/leibhtml/index.html<br />
http://www.genetalogie.de/artikel/pdf/leibniz.pdf<br />
http://goethe-genealogie.de/fachbegriffe/dualzahlsystem.html<br />
http://goethe-genealogie.de/verwandtschaft/vorfahrenst.html<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
11.6 Fortsetzung : LEIBNIZ als Genealoge<br />
In dieser <strong>Zeit</strong> in Rom (Sommer/Herbst 1689) Entwurf einer „Bibliotheca<br />
universalis selecta―, die mit einer Fülle von Autorennamen und<br />
Buchtiteln auf den Reisestationen hauptsächlich aus dem Gedächtnis<br />
weitergeführt und wohl <strong>im</strong> Herbst 1689 abgeschlossen wurde. Chr.<br />
THOMASIUS bezeichnet Leibniz geradezu als „viva bibliotheca―. Leibniz<br />
besucht mehrfach die Bibliotheca Vaticana und berichtet: „Da dann<br />
sowohl <strong>der</strong> Bibliothecarius Vaticani Monsignor SCHELSTRATE als <strong>der</strong><br />
Archivarius H. Giovanni BISSAIGA … mir nicht wenig gewillfahret, und<br />
habe ich son<strong>der</strong>lich erlanget daß rechte Original Manuscriptum<br />
Domnizonis, so Caplan <strong>der</strong> berühmten MATHILDIS von Tuscien<br />
gewesen. Ich habe die alten figuren und bildnüße <strong>der</strong> MATHILDE und<br />
ihrer vorfahren exactiss<strong>im</strong>e nachmahlen laßen, zumahlen die trachten<br />
selbiger zeit darauß zu sehen. Habe sonst eine große anzahlen<br />
diplomatum ineditorum et chronicorum zu Rom durchgangen.― -<br />
Markgräfin Mathilde von TUSZEN, + Bondeno bei Ferrara 1115,<br />
Tochter des Markgrafen Bonifaz III. von TUSZIEN und <strong>der</strong> Beatrix von<br />
LOTHRINGEN, war die mächtige und ergebene Bundesgenossin <strong>der</strong><br />
Päpste während des Investurstreites. Auf ihrer Burg Canossa leistete<br />
Heinrich IV. 1077 Kirchenbuße. Um 1078/79 setzte Mathilde die<br />
römischen Kirche zur Erbin ihrer weitläufigen Güter und Lehen<br />
(„Mathildische Güter―) in Mittelitalien ein, um die zwischen Kaiser und<br />
Papst bis zum Nie<strong>der</strong>gang des Kaisertums <strong>im</strong> 13. Jahrhun<strong>der</strong>t gerungen<br />
wurde. LEIBNIZ wird Mitglied <strong>der</strong> Accademia fisico-matematica in Rom.<br />
Er verfaßte mehrere Abhandlungen, u. a. auch eine über die<br />
Vereinbarkeit des kopernikalischen Systems mit den Lehren <strong>der</strong> Kirche.<br />
Durch einen Mittelsmann lernt er den Jansenisten Amabale de<br />
TOURREIL kennen, <strong>der</strong> ihm aber nur unter einem Decknamen<br />
vorgestellt wird. Dieser beobachtet Leibniz und berichtet dem<br />
Landgrafen Ernst von HESSEN-RHEINFELS aus Rom:<br />
„Es ist zu befürchten, daß seine Philosophie und sein aufgeweckter<br />
Geist ihn in einer Haltung religiöser Indifferenz festhalten. Er sieht hier in<br />
Rom wohl auch Sachen, die keineswegs geeignet sind, ihm die Augen<br />
zu öffnen und ihn in die allein seligmachende Kirche zu führen.― – Im<br />
Herbst strömen zum Konklave zahlreiche Persönlichkeiten nach Rom;<br />
zu einigen kam Leibniz in Rom in Fühlung. Nach <strong>der</strong> Wahl des neuen<br />
Papstes am 16. Oktober begrüßt Leibniz ihn mit einem Gedicht<br />
„Poenitentia Gloriosa Orbis Christiani Carmen Gratulatorium ad S. D. N.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 368<br />
ALEXANDRUM VIII Ponitificem Max<strong>im</strong>um.― Kardinal CASANATA<br />
macht LEIBNIZ das Angebot, Custos <strong>der</strong> Vaticana zu werden.<br />
Dieser lehnt jedoch den gleichzeitig erwarteten Glaubenswechsel ab, so<br />
daß <strong>der</strong> Plan scheitert.<br />
In Rom stellt Leibniz während seines Aufenthaltes fest, daß die Kurie<br />
eine liberale Aufgeschlossenheit für die neue Naturwissenschaft zeigt.<br />
Leibniz schreibt: „Auf meiner Reise habe ich festgestellt, daß das Licht<br />
<strong>der</strong> Aufklärung Italien durchdringt. Denn in Rom werden an best<strong>im</strong>mten<br />
Tagen <strong>im</strong> „Collegium propagandae fidei― auf Anregung des Kardinals G.<br />
BARBARIGO Diskussionen <strong>der</strong> Gelehrten über alle Probleme <strong>der</strong><br />
naturwissenschaftlichen Forschung geführt, an denen ich oft teilnahm.<br />
Wenn man damit fortfährt, dann wird aus diesem Samen eine Ernte<br />
eingebracht werden, auf die man stolz sein kann.―<br />
Der Prälat Mons. VITTORIO macht Leibniz auf den Mathematiker und<br />
Festungsingenieur Johannes TEYLER (+ 1709?) aufmerksam mit dem<br />
er 5 Jahre später in Briefwechsel trat; TEYLER war Ingenieuroffizier <strong>im</strong><br />
brandenburg-preußischen Dienst und <strong>der</strong> Erfin<strong>der</strong> eines<br />
Vielfarbendruckverfahrens. Der Sekretär des Papstes, <strong>der</strong> Antiquar<br />
Rafael FABRETTI, zeigte seinem Besucher aus Hannover seine<br />
Sammlungen antiker Funde, darunter Abdrucke <strong>der</strong> etruskischen<br />
Inschriften auf <strong>der</strong> sog. Tabula Eugubina und führt ihn durch die<br />
Katakomben zu den Gräbern christlicher Märtyrer.<br />
Hier in Rom liest LEIBNIZ zum erstenmal NEWTONS ―Philosophiae<br />
naturalis principia mathematica― von 1686. Durch dieses Werk<br />
herausgefor<strong>der</strong>t, arbeitet Leibniz noch in Italien eine größere Schrift aus,<br />
in <strong>der</strong> er seine langjährigen Studien über die Grundbegriffe <strong>der</strong> Dynamik<br />
und die Gesetze <strong>der</strong> Bewegung nie<strong>der</strong>legte („Dynamica de potentia et<br />
legibus naturae corporae―). Kurz vor seiner Weiterreise, die sich durch<br />
eine leichte Erkrankung verzögerte, bekommt Leibniz noch Zugang zu<br />
den Handschriften aus dem Nachlaß <strong>der</strong> Königin Christine von<br />
SCHWEDEN. Am 20. November, wohl am Tage <strong>der</strong> Abreise von Rom,<br />
bezahlt Leibniz be<strong>im</strong> Buchhändler Francois DESEINE noch eine<br />
Rechnung über 8 Bücher. Für Florenz enthält Leibniz noch zwei<br />
Empfehlungen: eine von Filippo BUONAROTTI an Cos<strong>im</strong>o DELLA<br />
RENA, die an<strong>der</strong>e von Vitale GIORDANI an Vincenzo VIVIANI. Am 20.<br />
o<strong>der</strong> 21. November Abfahrt aus Rom.<br />
Anfang Dezember Ankunft in Florenz. Auf Befehl des Großherzogs<br />
Cos<strong>im</strong>o III. von Toskana wird <strong>der</strong> berühmte Bibliothekar Antonio<br />
MAGLIABECHI beauftragt dem Kollegen aus Hannover etliche Wochen<br />
„fast täglich assistiret, und alle verlangte Communicationen verschaffet.―<br />
Leibniz dankt mit einem Gedicht auf MAGLIABECHI. Außerdem lernt<br />
LEIBNIZ den berühmten Altertumsforscher Cos<strong>im</strong>o DELLA RENA<br />
kennen, <strong>der</strong> an einem Werk über die Fürsten Tusciens arbeitet, von<br />
denen einige Vorfahren <strong>der</strong> Herzöge von BRAUNSCHWEIG waren.<br />
Durch DELLA RENA erfährt Leibniz zugleich, ein Mönch aus Pisa,<br />
Teofilo MARCHETTI, habe mitgeteilt, daß in dem Kloster Vangadizza,<br />
gen. La Badia bei Rovigo in <strong>der</strong> Polesine, die Grablege <strong>der</strong> ESTE zu<br />
finden sei. Es gebe dort auch alte Urkunden zur Geschichte <strong>der</strong> ESTE.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 369<br />
LEIBNIZ stellt deshalb später mit Genugtuung fest: „Welche nachricht<br />
mich sehr erfreuet, und mir umb so viel desto mehr zustatten kommen,<br />
weil man zu Modena selbst nichts davon gewußt, und ich längst darnach<br />
vergebens geforschet gehabt.―<br />
Mit dem letzten Schüler GALILEIS Vincenzo VIVIANI kommt es zu<br />
einem lebhaften Gedankenaustausch über mathematische Probleme;<br />
VIVIANI n<strong>im</strong>mt voll Bewun<strong>der</strong>ung die neue Infinites<strong>im</strong>almethode auf.<br />
Auch <strong>der</strong> Prinzenerzieher Rudolf Christian von BODENHAUSEN gen.<br />
BODENUS, <strong>der</strong> den Prinzen Ferdinand und Giovanni GASTON<br />
mathematischen Unterreicht erteilt, ist gewonnen. VIVIANI vermittelt<br />
ferner die Bekanntschaft mit dem Mediziner Francesco REDI, <strong>der</strong> Teile<br />
seines noch nicht gedruckten Buches „Esperienze intorno a’sali fattizi―<br />
vorlegt. Leibniz macht in Florenz Bekanntschaft mit dem Historiker<br />
Enrico NORIS, mit dem Lord George DOUGLAS, <strong>der</strong> mit seinem<br />
Hofmeister Alexan<strong>der</strong> CUNNIGHAM Italien bereist, und mit einem <strong>der</strong><br />
geistreichsten Männer Italiens, dem Grafen Lorenzo MAGALOTTI.<br />
Am 22. Dezember 1689 Abreise aus Florenz nach Bologna, wo<br />
Leibniz durch die Empfehlung MAGLIABECHIS den Physiker Domenico<br />
GUGLIELMINI kennenlernt, <strong>der</strong> ihm seinerseits Gelegenheit verschafft,<br />
mit dem berühmten Anatomen Marcello MALPIGHI längere Gespräche<br />
zu führen. Leibniz zeigt sich sehr beeindruckt von <strong>der</strong> Urteilskraft und<br />
Bildung dieses Mannes. In Bologna diskutiert er auch mit P. Aloysio<br />
SABBATINI über Aufgabe und Best<strong>im</strong>mung <strong>der</strong> geistlichen Orden.<br />
Nach großen Umwegen ist Leibniz am 30. Dezember in Modena, dem<br />
Zielpunkt seiner Italienreise angekommen und berichtet nach Hannover,<br />
Herzog Franz II. habe ihm während seiner Audienz volle Unterstützung<br />
durch die Beamten seines Hofes bei seinen historischen Forschungen<br />
zugesagt. – Neben den gelehrten Arbeiten erledigt Leibniz auch seinen<br />
politischen Auftrag: Herzogin Sophie wünscht, daß eine <strong>der</strong> Töchter<br />
ihres verstorbenen Schwagers, des Herzogs Johann Friedrich, eine<br />
Heirat mit dem Herzog Rinaldo III. eingeht. Der Plan kommt zur<br />
Ausführung, Prinzessin Charlotte Felicitas wird 1695 Herzogin von<br />
MODENA. Von Modena drückt Leibniz erneut seinen Wunsch aus, als<br />
Reichshofrat nach Wien zu gehen und schreibt an den amtierenden<br />
Reichshofrat Johann Friedrich von LINSINGEN: „Wiwohl ich so gleich<br />
wegen habenden engagements, dem ich gnüge zu thun ehr und<br />
schuldigkeit halben verpflichet, <strong>der</strong>o gnade nicht genießen kan. Möchte<br />
inzwischen gleichwohl wündschen daß solche pro futuro auf gewiße<br />
maße festgestellet werden möchte, damit ich meine Mesuren darnach<br />
nehmen köndte; hoffe es werde aliqvo modo dignitatis augmento<br />
geschehen können.―<br />
Am 8. Januar 1690 schreibt GUGLIELMINI an MAGLIABECHI: „Es<br />
war für mich eine einzigartige Gelegenheit, einen so vielseitig<br />
orientierten und gelehrten Menschen [Leibniz] kennen zu lernen. Die<br />
profunden Kenntnisse in Philosophie, Mathematik und seine sonstigen<br />
Qualitäten verdienen wohl, daß Sie ihm mit Freundschaft begegnen.―<br />
In Modena beginnt Leibniz „2 monath nach einan<strong>der</strong>, über 12<br />
stunden“ ein pausenloses Durcharbeiten zahlloser Akten und<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 370<br />
Urkunden. „Habe viele Wochen alda von morgen bis abends täglich<br />
legendo et excerpendo so wohl in libris editis sed apud nos in ipsa Italia<br />
raris, als in vielen theils fast unleßlichen Manuscriptis nicht ohne<br />
Überanstrengung meiner Augen gearbeitet. … ehe ich was rechtes<br />
angetroffen. Doch hat mir endtlich das glück gefüget, und solche<br />
schrifften zu handen bracht, dadurch ich nunmehr den Eruditis<br />
vergnügung geben kan, Habe demnach die wahre Connexion <strong>der</strong><br />
beyden Durchleuchtigsten Haüser Braunschweig und Este<br />
vollkomlich ausgemacht, und gefunden. Viele Irrtümer <strong>der</strong> Historiker<br />
G. PIGNA und G. FALLETTI wurden aufgedeckt. Leibniz findet auch<br />
eine Urkunde Heinrich des LÖWEN von 1154, aus <strong>der</strong> hervorgeht,<br />
„daß die Estensische Lini, so in Italien blieben, alle ihre Lande von<br />
<strong>der</strong> Teutschen Lini als pr<strong>im</strong>ogenita zu Lehen getragen.“<br />
Briefwechsel mit dem Mediziner Bernardino RAMAZZINI in Modena.<br />
Leibniz findet in Modena guten Kontakt zum Herzog selbst, zu dem<br />
Hofhistoriker Camillo MARCHESINI, dem Hofgeographen Giacomo<br />
CANTELLI, dem Hofgeistlichen Giovanni FRANCHINI und zu Cesare<br />
CIMICELLI, <strong>der</strong> ein Epigramm für Leibniz verfaßt.<br />
Nach überaus fruchtbaren, aber sehr anstrengenden Arbeitswochen<br />
stellt Leibniz rückblickend fest: „ Ohngeacht ich nun mit höchster<br />
wahrheit sagen kann, daß ich bey dieser Reise von dem meinigen nicht<br />
ein geringes zugesezet, auch erst bey solcher arbeit zu Modena eine<br />
ohngewöhnliche schwächung meines gesichts gespühret― habe. Am 3.<br />
Februar trifft Leibniz in Parma ein, wo er mit dem Herausgeber des<br />
„Giornale de’ Letterati― Benedetto BACCHINI bekannt wird. Bernardino<br />
RAMAZZINI schreibt an Antonio MAGLIABECHI: „Leibniz ist <strong>der</strong> erste<br />
Schriftsteller unseres Jahrhun<strong>der</strong>ts. Es ist mir bisher kein Mensch<br />
begegnet, <strong>der</strong> gelehrter und mit allen Gebieten <strong>der</strong> Wissenschaft<br />
vertrauter war als er und <strong>der</strong> so gründliche Kenntnisse besaß.― Leibniz<br />
ist für drei Tage zu Besuch auf <strong>der</strong> Festung Brescello be<strong>im</strong> Grafen<br />
Francesco DRAGONI, <strong>der</strong> einst mit diplomatischem Auftrag für den<br />
Herzog von MODENA in Hannover war.<br />
In einer Barke fährt Leibniz den Po hinab bis nach Ferrara und macht<br />
von hier aus einen Abstecher nach dem Kloster Vangadizza, genannt<br />
La Badia, in <strong>der</strong> Polesine von Rovigo südlich des Etschlaufs. In<br />
Vangadizza gelingen Leibniz entscheidende Erfolge. Er entdeckt die<br />
Grabmäler <strong>der</strong> alten Markgrafen von Este, entziffert die Inschriften<br />
<strong>der</strong> Grabplatten, auch die <strong>der</strong> Gräfin Kunigunde, <strong>der</strong> ersten<br />
Gemahlin des Markgrafen Albert AZZO II. aus <strong>der</strong> Linie <strong>der</strong><br />
Otbertiner (+ 1097), <strong>der</strong>en Sohn Welf IV. 1070-1101 Herzog in<br />
Bayern war. Kunigunde ist die Stammmutter des neuen<br />
Welfengeschlechtes. Das Epitaph schreibt Leibniz aus einem<br />
Pergamentcodex „Regula monasterii Abbatiae Vangadiciensis― in<br />
Vangadizza ab.<br />
Am 11. Februar trifft LEIBNIZ wie<strong>der</strong> in Venedig ein, wo er fast zwei<br />
Monate bleibt und viele Bekanntschaften macht und anregende<br />
Diskussionen führt. Er lernt u.a. den Archäologen Pietro Andrea<br />
ANDREINI aus Florenz und den eifrigen Münzsammler Senator<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 371<br />
Girolamo CONARO kennen. Wichtige Anregungen empfängt er von dem<br />
Sprachforscher Johann Peter ERICUS. Mit Angelo FARDELLA,<br />
Professor <strong>der</strong> Astronomie, gerät er in eine Auseinan<strong>der</strong>setzung über<br />
metaphysische Probleme und versucht diesen später nach Wolfenbüttel<br />
zu ziehen. Mit dem Geographen P. Vincenzo CORONELLI, <strong>der</strong> damals<br />
an seinem „Atlante Veneto― arbeitete, werden die Bekanntschaften in<br />
Venedig abgeschlossen.<br />
Für eine Woche unterbricht Leibniz seinen Aufenthalt in Venedig, um<br />
über Padua das Kernland des Hauses ESTE, die kleinen Städte<br />
Monselice und Este und das Kloster Carceri, das <strong>der</strong> Papst gerade<br />
aufgehoben hatte, kennen zu lernen.<br />
In Padua schenkt ihm <strong>der</strong> Altersforscher Charles PATIN das neuste<br />
seiner Werke, wird bekannt mit dem Bibliothekar des Klosters S.<br />
Justinae DOTTI, dem Mathematiker Stefano de’ANGELI und dem<br />
Mediziner Francesco SPOLETI. In Este sieht er die Ruinen <strong>der</strong> kürzlich<br />
abgebrannten Kirche <strong>der</strong> Franziskaner und findet dort das erhaltene<br />
Monument <strong>der</strong> Markgrafen Taddeo und Bertoldo von ESTE. - Im<br />
Kamaldulenserkloster Carceri findet er Urkunden <strong>der</strong> ESTE und eine<br />
Schenkungsurkunde Herzog Heinrich des Schwarzen von BAYERN aus<br />
dem Jahre 1107, allerdings in einer gefälschten Fassung. Erst 1697<br />
gelang es FARDELLA, das Original ausfindig zu machen, mit ihm hatte<br />
LEIBNIZ bis kurz vor seinem Tod noch Briefwechsel. LEIBNIZ schreibt<br />
später über ihn: „FARDELLO ist ein Sicilianer von guther Familie … bey<br />
dem Venetianischen Adel sehr beliebt― wegen seiner pädagogischen<br />
Erfolge; „daher man ihn auch vor einigen Jahren nach Wolfenbüttel in<br />
die Academie berufen wollen, wenn es seine damahlige gesundheit<br />
gelitten hätte.―<br />
Im Aufbruch begriffen schreibt Leibniz aus Venedig seinen wohl<br />
letzten Brief an den Jansenisten Antoine ARNAULD. Leibniz legt<br />
Rechenschaft darüber ab, was die Reise nach Italien ihm bringen sollte<br />
und was sie ihm zuteil werden ließ: Entspannung, Unterbrechung <strong>der</strong><br />
Alltagsarbeit <strong>im</strong> blickengen Hannover und Zugang zu Menschen, die am<br />
wissenschaftlichen Leben <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> als Forscher beteiligt waren. Der<br />
Gedankenaustausch über naturwissenschaftliche, medizinische und<br />
mathematische Aufgaben und Probleme stand <strong>im</strong> Mittelpunkt seiner<br />
Diskussionen in Rom, Florenz und Venedig. So stolz Leibniz auf die<br />
Erfolge seiner historisch-genealogischen Forschung in Modena,<br />
Este und Vangadizza war, „die wahre Befriedigung haben ihm die<br />
Menschen gebracht nicht die Urkunden. Wichtig ist gerade Italien für<br />
Leibniz’ Selbstbewußtsein, das Gefühl seines wissenschaftlichen<br />
Ranges geworden, wobei nun natürlich auch die Erfolge als Historiker<br />
ins Gewicht fallen.―<br />
Ende März Überfahrt von Venedig nach Mestre. Dann Wagenfahrt<br />
über den Brenner nach Innsbruck, wo ein letzter Abschiedsbrief zur<br />
Post gegeben wird. Anfang April bei <strong>der</strong> Durchreise durch Augsburg<br />
bringt Leibniz Grüße und Bücherpäckchen von MAGLIABECHI zu<br />
Gottlieb SPITZEL und fährt dann weiter nach Regensburg. Angeblich<br />
auf Weisung seines Herzogs reist Leibniz Ende April nochmals nach<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 372<br />
Wien. Er trifft hier den Prinzen Friedrich August aus HANNOVER. In<br />
Wien richtet er eine Eingabe an den Kaiser, als kaiserlicher<br />
Hofhistoriograph angestellt zu werden. Leibniz beabsichtigt über<br />
Karlsbad zurückzureisen, um den dort weilenden Herzog Ernst August<br />
Bericht zu erstatten. Der Reiseplan wird aber geän<strong>der</strong>t, da Karlsbad<br />
außerhalb <strong>der</strong> Route liegt und es zweifelhaft ist, daß er den Hof dort<br />
noch antreffen kann. „Ich will den an<strong>der</strong>en Weg über Prag nehmen. Von<br />
dort kann man angeblich gut nach Dresden gelangen.―<br />
Mitte Mai Abreise von Wien über Prag nach Dresden. LEIBNIZ<br />
passiert ohne Aufenthalt seine Vaterstadt Leipzig und kehrt nach einer<br />
Abwesenheit von zwei Jahren und siebeneinhalb Monaten Anfang Juni<br />
1690 wie<strong>der</strong> nach Hannover zurück. Zum Abschluß dieses Kapitels<br />
sollen chronologisch nur noch einige wenige markante Daten o<strong>der</strong><br />
Berichte zu Leibniz’ historisch-genealogischen Forschungen gegeben<br />
werden.<br />
Noch <strong>im</strong> Jahre 1690 übern<strong>im</strong>mt Leibniz zögerlich die Verpflichtung,<br />
auch noch zusätzlich zu seinen an<strong>der</strong>en Aufgaben die Leitung <strong>der</strong><br />
Wolfenbütteler Bibliothek zu übernehmen. Anfang 1691 überreicht<br />
Leibniz bei einer Audienz bei Herzog Ernst August einen Entwurf seiner<br />
Welfengeschichte und glaubt damals das große Werk in etwa zwei<br />
Jahren abschließen zu können. Leibniz betont auch, er plane nicht eine<br />
<strong>der</strong> gängigen dynastischen Fürstengeschichten, son<strong>der</strong>n eine mit<br />
kritisch-wissenschaftlicher Methode aus den Quellen entwickelte<br />
historische Darstellung des nie<strong>der</strong>sächsischen Landes und seiner<br />
Bewohner von den Anfängen bis zur Gegenwart. Im gleichen Jahr<br />
1691 entwirft er eine Disposition zu seiner „Protogaea“: „Ich bin<br />
unlängst beschäfftigt gewesen, circa naturalis soli huius und uralter aller<br />
menschen gedencken und nachrichten übersteigende verän<strong>der</strong>ungen<br />
einige Untersuchungen zu thun.― Im September 1692 gebraucht er zum<br />
erstenmal den Terminus „Protogaea“ und schreibt an Henri JUSTEL,<br />
seine „Protogaea― soll seine Welfengeschichte einleiten, und zwar durch<br />
die Beschreibung erdgeschichtlicher Verän<strong>der</strong>ungen, soweit sie durch<br />
Funde in Nie<strong>der</strong>sachsen und <strong>im</strong> Gebiet des Harzes belegt werden<br />
können. Am 22. März 1692 st<strong>im</strong>mt <strong>der</strong> Kaiser <strong>der</strong> Verleihung <strong>der</strong><br />
Kurwürde an das Haus Hannover zu. In einem Briefwechsel mit dem<br />
Pagenhofmeister in Celle Samuel de CHAPPUZEAU betont er, daß er<br />
niemals Zensor von Büchern sein könne: „Meiner Anlage nach habe ich<br />
Freude daran, Gutes festzustellen. Die Beschäftigung dagegen, welche<br />
die meisten bevorzugen, nämlich Stellen herauszusuchen, die Anstoß<br />
erregen, könnte mich nicht befriedigen.― 1693 plant Leibniz eine Reise<br />
nach Polen, muß aber dem Mathematiker KOCHANSKI mitteilen, daß<br />
ihn seine Braunschweigische Geschichte so binde wie <strong>der</strong> Stein den<br />
Sisyphus. – Im gleichen Jahr erhält Leibniz die Zust<strong>im</strong>mung von seinem<br />
Kurfürsten, die Welfengeschichte für den <strong>Zeit</strong>raum von 768 bis 1235<br />
in Annalenform auszuführen.<br />
Eine <strong>im</strong> Juli 1696 gewährte Gehaltszulage an Leibniz wird <strong>im</strong> Oktober<br />
1698 wie<strong>der</strong> gestrichen, weil Leibniz von seiner Geschichte des Hauses<br />
BRAUNSCHWEIG noch nichts vorlegen kann. In einem Brief vom 13.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 373<br />
Januar 1699 an die Herzogin Eleonore d’Olbreuse von CELLE bittet er<br />
sie, sich für ihn zu verwenden, daß ihm die gestrichene Zulage wie<strong>der</strong><br />
bewilligt werde. Er habe nie die Absicht gehabt, eine Braunschweigische<br />
Geschichte zu schreiben, die man zur Unterhaltung lese. „Ich habe nach<br />
eigenen Forschungen arbeiten wollen, um alle die zufriedenzustellen,<br />
die solide Belege for<strong>der</strong>n, was bisher in <strong>der</strong> Geschichtsschreibung<br />
Deutschlands und Italiens ohne Vorbild ist. Indessen will ich wohl<br />
zugeben, daß ich mich niemals nur zu einer einzigen Art von Arbeit habe<br />
zwingen lassen. Wechsel hat mich an Stelle von Ruhe erhalten. Wenn<br />
es den meisten Menschen erlaubt wird, sich Stunden allgemeinen<br />
Vergnügens hinzugeben, wird es mir erlaubt sein, für den Fortschritt <strong>der</strong><br />
Wissenschaften zu arbeiten und für an<strong>der</strong>e Aufgaben, die bisher Beifall<br />
in <strong>der</strong> Öffentlichkeit gefunden haben, ohne daß ich dem Lande<br />
Braunschweig o<strong>der</strong> unseren Höfen Schande gemacht habe.―<br />
In einen Brief an den Skeptiker Pierre BAYLE (+1706) hatte er um diese<br />
<strong>Zeit</strong> einmal geschrieben: „Man bewun<strong>der</strong>t es mit Recht, daß Ihre<br />
umfangreichen Tatsachenforschungen Ihren schönen Betrachtungen<br />
über die tiefsten Probleme <strong>der</strong> Philosophie keinen Abbruch getan haben.<br />
Auch ich kann mich vor <strong>der</strong>lei Untersuchungen nicht <strong>im</strong>mer frei machen<br />
und war sogar einmal gezwungen, mich mit genealogischen Fragen zu<br />
beschäftigen, die gewiß zu den nichtigsten zählten, wenn nicht oft das<br />
Staatsinteresse davon abhinge. Ich habe die deutsche Geschichte<br />
ziemlich genau erforscht und dabei manche Beobachtungen über<br />
Weltgeschichte machen können. So habe ich gelernt, die Kenntnis <strong>der</strong><br />
Einzeltatsachen nicht zu vernachlässigen. Wenn ich aber die Wahl<br />
hätte, würde ich die Naturgeschichte <strong>der</strong> Staatengeschichte und die<br />
Ordnungen und Gesetze, die Gott in <strong>der</strong> Natur eingerichtet hat, denen<br />
vorziehen, die man in <strong>der</strong> Menschenwelt beobachtet.―<br />
Seit Ende 1698 steht ihm Johann Georg ECKHART, 1664-1730, als<br />
Hilfe bei <strong>der</strong> Ausarbeitung <strong>der</strong> Welfengeschichte zur Seite, <strong>der</strong> 1706<br />
Professor <strong>der</strong> Geschichte in Helmstedt wurde und nach Leibniz’ Tode<br />
auch sein Nachfolger als Bibliothekar des Kurfürsten in Hannover wird.<br />
Über diesen Johann Georg ECKHART ist nach diesem Kapitel ein<br />
kleiner Exkurs eingefügt, <strong>der</strong> auch auf die menschliche Seite <strong>der</strong><br />
Wissenschaftsgeschichte ein Licht werfen soll! –<br />
Dem neuen Kurfürst GEORG LUDWIG von Hannover drückt Leibniz<br />
am 28. März 1700 seine Freude über die ehrenvolle Einladung nach<br />
Berlin aus, die er trotz <strong>der</strong> vielen Arbeit, die für seine Braunschweigische<br />
Geschichte noch zu leisten ist, gern ann<strong>im</strong>mt. „Ich bin um so mehr<br />
verpflichtet kleine Reisen zu unternehmen, die mich gesund machen<br />
könnten und die für mich Heilmittel und Erholung zugleich sind.― Am 22.<br />
Mai 1700 schreibt er an die große Kurfürstin Sophie in Hannover aus<br />
Schloß Lützenburg, jetzt Schloß Berlin-Charlottenburg: „Meine Reise<br />
[von Hannover nach Berlin] ging etwas langsam vonstatten; denn ich<br />
habe mich überall, in Celle, Braunschweig, Magdeburg und selbst in<br />
Brandenburg, lange aufgehalten […] Nachdem wir uns in Berlin eine<br />
Unterkunft besorgt hatten (was sehr schwierig war, weil die ganze Stadt<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 374<br />
von Menschen überfüllt ist), machte ich eine Antrittsvisite am Hof in<br />
Lützenburg, wo die Frau Kurfürstin [Sophie Charlotte, 1668-1705] mich<br />
gnädig empfing, mit allen Zeichen ihrer großmütigen Güte, die ihr eigen<br />
ist. Sie ging so weit, mir ein Z<strong>im</strong>mer in diesem schönen Lustschloß<br />
anweisen zu lassen.― In Lützenburg gehe man nicht vor ein o<strong>der</strong> zwei<br />
Uhr nachts zu Bett. „Es sind jetzt vier o<strong>der</strong> fünf Tage vergangen, ohne<br />
daß ich länger schlafen konnte als vier Stunden täglich.― Leibniz ist<br />
jedoch glücklich in <strong>der</strong> Umgebung einer bedeutenden und großzügigen<br />
Kurfürstin zu sein. Er sehe und spreche außer den Kurfürsten und die<br />
Kurfürstin, mit vielen an<strong>der</strong>en angesehenen Persönlichkeiten. Ende Mai<br />
1700 schreibt Leibniz, daß ihn die geplante Akademiegründung hier<br />
mehr fessele als <strong>der</strong> festliche Hochzeitspomp, <strong>der</strong> gerade für eine<br />
Hochzeit dort vorbereitet wird. Am 1. Juni schreibt er an Johann<br />
FABRICIUS, Prof. <strong>der</strong> Theologie in Helmstedt: ―Ich bin hier [in Berlin]<br />
von den Festlichkeiten fast ganz in Beschlag genommen. Ich muß an<br />
ihnen von <strong>Zeit</strong> zu <strong>Zeit</strong> teilnehmen nicht so sehr zu meinen Vergnügen<br />
son<strong>der</strong>n weil ich mich geehrt fühle. Es soll nicht so aussehen, daß ich<br />
meinen Pflichten nicht nachkomme.―<br />
Am 19. Juni schreibt Leibniz an die Kurfürstin Sophie in Hannover:<br />
„Der Herr Kurfürst, dem ich heute in Schönhausen meinen Besuch<br />
machte, sagte mir, er habe Befehl gegeben, das Diplom zur Gründung<br />
[<strong>der</strong> Akademie] auszufertigen und fügte hinzu, daß er mich gewählt<br />
habe, ihr Präsident zu werden. Ich habe diese ehrenvolle Berufung<br />
angenommen, sofern <strong>der</strong> Dienst für meinen Herrn den Kurfürsten es<br />
erlauben wird ...― Im August sichert die Sozietät <strong>der</strong> Wissenschaften<br />
ihrem Präsidenten Leibniz auch jährich 600 Taler für Reise- und<br />
Korrespondenzkosten zu.<br />
Bereits am 10. 5. 1700 hatte <strong>der</strong> preußische König auf Vorschlag von<br />
Leibniz <strong>der</strong> Vorgänger Institution dieser Akademie (Königlich Preußische<br />
Societät) den beson<strong>der</strong>en Auftrag zur Herausgabe von Kalen<strong>der</strong>n<br />
erteilt. Diese Kalen<strong>der</strong> sollten einen Beitrag zur Verbesserung <strong>der</strong><br />
allgemeinen Bildung leisten. Während des 30jährigen Krieges war die<br />
Zahl <strong>der</strong> verlegten Buchtitel in Deutschland stark zurückgegangen und<br />
hat erst 1740 wie<strong>der</strong> den Stand von 1618 erreicht. Diese Kalen<strong>der</strong><br />
waren die Vorstufe zu den späteren genealogischen Handbüchern<br />
des Adels, die ab 1763 in Gotha <strong>im</strong> Verlag Justus PERTHES<br />
erschienen und unter dem Begriff „<strong>der</strong> Gotha“ bekannt geworden sind.<br />
Diese genealogischen Vorgängerkalen<strong>der</strong> enthielten außer einem<br />
umfangreichen Kalen<strong>der</strong>teil mit viel astronomischen Daten auch noch<br />
kleine Artikel bzw. Tabellen über Geschichte, politische Diplomatie,<br />
Naturkunde, Astronomie, Erd- und Län<strong>der</strong>kunde, Völkerkunde, Schöne<br />
Künste, Handel und Gewerbe, Münzen, Maße und Gewichte. Dem<br />
Kalen<strong>der</strong>teil folgte später eine Abteilung Genealogie mit<br />
zeitgenössischen Angaben zu den regierenden Dynastien in Europa.<br />
Zum geistigen Kl<strong>im</strong>a während Leibniz’ Aufenthalt in Berlin noch ein Zitat<br />
eines wissenschaftlichen Besuchers und langjährigen Freundes bei<br />
Leibniz: Der Mathematiker, Physiker und Philosoph Ehrenfried Walter<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 375<br />
von TSCHIRNHAUS, 1651-1708, berichtet über einen Besuch, den er<br />
damals bei Leibniz hatte, daß sie „einmahl wären zu hauß bey sammen<br />
kommen morgens 9 Uhr, hätten einen Discurs continuiret, und da es<br />
angefangen dunckel zu werden, hätten sie gemeinet, es käme etwa ein<br />
Gewitter, da sie aber nach gefraget, wäre es Nacht gewesen, so kurz<br />
wäre ihm die <strong>Zeit</strong> über <strong>der</strong>o gelehrten Discursen worden.― Von<br />
TSCHIRNHAUS glückte bereits 1693 mit großen Brennspiegeln und<br />
Brennlinsen die Erschmelzung des ersten europäischen Porzellans,<br />
dessen verbesserte Herstellung dann <strong>im</strong> Brennofen seinem Gehilfen<br />
Johann Friedrich BÖTTGER gelang.<br />
Mitte August Abreise aus Berlin Richtung Spandau und am 28. August<br />
1700 Ankunft in Braunschweig.<br />
Im Juli 1701 schreibt Elisabeth Charlotte von ORLÉANS, 1652-1722,<br />
genannt „Liselotte von <strong>der</strong> PFALZ―, verheiratet auf Geheiß des Vaters<br />
mit dem Bru<strong>der</strong> von König Ludwig XIV. von Frankreich, an Kurfürstin<br />
SOPHIE in Hannover: „Ich bin mons. Leibnitz recht obligirt, sich so vor<br />
mich undt meinen Sohn zu interesssiren; wenn man so natürlich spricht<br />
wie er, kann man die sach desto eher glauben, und finde, daß es viel ist,<br />
daß herr Leibnitz mich und undt meinen sohn in seinem gedächtnuß<br />
gleich nach I. M. <strong>der</strong> Königin in Preußen undt E.L. selbst setzt.― Im März<br />
1702 schreibt SOPHIE CHARLOTTE an Leibniz: „Ich sende Ihnen diese<br />
Zeilen und hoffe, daß Sie bereits auf dem Sprung sind abzureisen. Ich<br />
erwarte Sie mit Ungeduld in Lützenburg, wohin ich zu Ostern gehe―.<br />
„Was Sie zu kommen zwingt, ist ein Werk <strong>der</strong> Nächstenliebe. Die<br />
PÖLLNITZ hat sich ein Buch gekauft, aus dem man Mathematik lernen<br />
kann, welche sie gern studieren will. Die Begriffe und ihre Bedeutung<br />
sind aber so schwierig, daß ihr ganz schwindlig werden wird, wenn Sie<br />
ihr nicht zu Hilfe kommen.― Einige Wochen später bittet die Hofdame <strong>der</strong><br />
Königin selbst, Frl. von PÖLLNITZ, Leibniz nach Berlin zu kommen: ―Sie<br />
sollten jetzt kommen. Denn wir verhalten uns so wie das deutsche<br />
Sprichwort sagt: ‚wann die Katze nicht zu Haus ist danzen die Meuse<br />
auf den Bänken.’ Außerdem ist Ihre Maj. gegenwärtig ohne Gesellschaft.<br />
Es ist nämlich wahr, daß ihr Geschmack dahin geht lieber allein zu sein<br />
als in schlechter Gesellschaft, aber es liegt auch daran Ihre<br />
Unterhaltung zu genießen.― SOPHIE CHARLOTTE verband schon als<br />
kleines Mädchen in Hannover eine Freundschaft mit Leibniz, <strong>der</strong> sie<br />
manchmal sogar incognito zum sonntäglichen Gottesdienst begleitete.<br />
Leibniz hofft bald reisen zu können. „Ich werde durch die Altmarkt<br />
fahren und hoffe, dafür einen ‚Fuhrzeddel’ zu erhalten.― „LISELOTTE― an<br />
Kurfürstin SOPHIE in Hannover: ―Ich schenkte gestern Mad. De<br />
CHATEAUTHIERS (meiner Putzmacherin) einen schönen papagay …<br />
Das machte mich ahn Herr Leibnitz gedencken, daß E. L. sagen, daß er<br />
soutenirt, daß die thiere verstandt haben, keine maschine sein, wie<br />
Descartes hatt behaupden wollen, undt ihre seelen unsterblich sein.―<br />
Am 2. Mai 1702 schreibt Frl. von PÖLLNITZ an Leibniz: „Alles was ich<br />
erbitte ist Ihre baldige Ankunft. Ganz von mir abgesehen, <strong>der</strong> Ihre<br />
Gegenwart das angenehmeste Vergnügen bereitet, bitte ich als eifrige<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 376<br />
Dienerin Ihrer Majestät. Ich vertraue Ihnen an, Sie tun ein Liebeswerk,<br />
wenn Sie kommen, denn die Königin hat hier keine lebende Seele, mit<br />
<strong>der</strong> sie Gespräche führen kann.―<br />
Am 11. Juni 1702 trifft LEIBNIZ in Lützenburg (jetzt Berlin-<br />
Charlottenburg) ein und bleibt dort bis November 1703, unterbrochen<br />
durch kleinere Reisen nach Potsdam, Berlin und Malchow. Gleich am<br />
Anfang seiner Reise berichtet Leibniz über den Besuch <strong>der</strong> Kurfürstin<br />
SOPHIE bei ihrer Tochter SOPHIE CHARLOTTE in Berlin: „Ich befinde<br />
mich anjezo alhier mit <strong>der</strong> Churfürstin Durchl. in <strong>der</strong> Königin von<br />
Preußen Lusthaus. Da passiret man die <strong>Zeit</strong> nur alzuwohl, denn sie<br />
fleugt gar schnell dahin, also dass es scheint, die alzugrosse<br />
Bequemlichkeit sey nicht guth; indem sie machet, dass die Menschen ihr<br />
Leben mit ihrer <strong>Zeit</strong> gleichsam ohnvermekrt verlieren und es nicht<br />
genugsam brauchen noch empfinden.― SOPHIE selbst bekennt Leiniz<br />
nach Ihrer Rückkehr nach Herrenhausen: In Lützenburg „ist mein Herz<br />
geblieben, wo ich die schönsten Tage meines Lebens verbracht habe,<br />
wie ich glaube.― In den Sommergesprächen <strong>im</strong> Park <strong>der</strong> Königin<br />
diskutierte man über das „Dictionaire― von Pierre BAYLE. Leibniz<br />
entwickelte damals die Grundgedanken zu seiner „Theodicée“.<br />
LEIBNIZ beschließt 1702, seine Braunschweigische Geschichte mit<br />
Kaiser OTTO IV., +1218, (Grabstätte Dom zu Braunschweig), dem Sohn<br />
HEINRICH des LÖWEN, aufhören zu lassen. Leibniz 1702: „Ich möchte,<br />
wenn Gott mir noch etwas Lebenszeit schenkt, sie in Ruhe und Freiheit<br />
genießen, vor allem um Gelegenheit zu haben, bequem Gedanken und<br />
Entdeckungen in den Wissenschaften voranzutreiben, von denen man<br />
bisher nur Proben gesehen hat und welche die Gelehrten aller Gebiete<br />
von mir for<strong>der</strong>n. Man würde davon keineswegs Unehre einhandeln,<br />
wenn die Öffentlichkeit und die Nachkommen sich eines Tages dafür<br />
dem Durchlauchtigsten Hause verpflichtet fühlten.―<br />
Im September 1703 kopiert <strong>der</strong> Maler Joh. Gottfried SONNEMANN für<br />
Kurfürstin SOPHIE das Leibnizgemälde von Andreas SCHEIT, das<br />
wahrscheinlich in diesem Sommer entstanden ist. SOPHIE über das<br />
neue Bild von Leibniz: „Das Brustbild ist nichts wert. Es gibt ihm die<br />
Nase eines Trinkers und das ganze ist zu plump.― Ende Januar/Anfang<br />
Februar 1704 hält sich Leibniz „fast incognito― in Dresden auf, um hier<br />
persönlich für seine Idee <strong>der</strong> Gründung einer Sächsischen Sozietät <strong>der</strong><br />
Wissenschaften zu wirken und den für Sachsen privilegierten<br />
Seidenanbau einzuführen.<br />
Im Mai 1704 schreibt Augustinus LEVESIUS aus Rom an die Herzogin<br />
von CELLE: „Herr Leibniz, so berühmt unter den Gelehrten, daß ich<br />
<strong>im</strong>mer gehofft habe, er werde durch die Gnade unseres Herrn Jesus<br />
<strong>im</strong>stande sein, die Kin<strong>der</strong> mit dem Vater wie<strong>der</strong> zu vereinigen und die<br />
Bürgerkriege, die das Königtum Jesu Christi, das einzige, ewige und<br />
universale Königtum, zerreißen, auszulöschen.―<br />
Im Dezember 1704 hat Leibniz in Dresden eine Audienz bei AUGUST<br />
„dem Starken―, wo Leibniz seine Gedanken zur Gründung einer Sozietät<br />
<strong>der</strong> Wissenschaften in Sachsen entwickelt. Leibniz schlägt vor, dazu E.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 377<br />
W. von TSCHIRNHAUS heranzuziehen. Der König ist mit <strong>der</strong><br />
Zusammenarbeit <strong>der</strong> beiden einverstanden.<br />
Am 1. Februar 1705 verstirbt plötzlich Leibniz’ Geistesfreundin<br />
SOPHIE CHARLOTTE. Am 2. Februar schreibt Leibniz an Frl. von<br />
PÖLLNITZ, erste Staatsdame und Vertraute <strong>der</strong> Königin, u. a.: „daß sie<br />
uns entrissen ist und daß ich eine <strong>der</strong> größten Freuden <strong>der</strong> Welt, die ich<br />
mir nach menschlichen Ermessen für mein ganzes Leben versprechen<br />
konnte, verloren habe.― Ein Brief Leibniz’ vom Juli 1705 an den<br />
britischen Theologen William WOTTON in Cambridge, zeigt beson<strong>der</strong>s<br />
deutlich die Größe des erlittenen Verlusts: „Sie wollte mich oft in Ihrer<br />
Nähe haben; so genoß ich häufig das Gespräch einer Fürstin, <strong>der</strong>en<br />
Geist und Menschlichkeit von keiner jemals übertroffen wurde. Da ich<br />
mich an dieses Glück gewöhnt hatte, berührt mich die allgemeine Trauer<br />
aus persönlichen Gründen noch schmerzlicher. […] Diese Königin<br />
besaß eine unglaubliche Kenntnis auch auf abgelegenen Gebieten und<br />
einen außerordentlicher Wissensdrang, und in unseren Gesprächen<br />
trachtete sie danach, diesen <strong>im</strong>mer mehr zu befriedigen, woraus eines<br />
Tages ein nicht geringer Nutzen für die Allgemeinheit erwachsen wäre,<br />
wenn sie <strong>der</strong> Tod nicht dahingerafft hätte.―<br />
Gedicht auf SOPHIE CHARLOTTE<br />
LEIBNIZ schrieb nach dem Tode seiner Geistesfreundin SOPHIE<br />
CHARLOTTE noch <strong>im</strong> Todesmonat 1705 einen „Entwurf eines<br />
Gedichtes zum Tode SOPHIE CHARLOTTES― in deutscher Sprache,<br />
was eine Seltenheit bei Leibniz ist. Von den 30 Strophen seien hier nur<br />
einige Anfangs- und Endverse, sowie einen Mittelvers, <strong>der</strong> wohl Leibniz’<br />
„Monadologie― anklingen läßt und mich auch an Goethes<br />
Naturphilosophie erinnert.<br />
Der Preussen Königin verläst den Kreiss <strong>der</strong> Erden,<br />
Und diese Sonne wird nicht mehr gesehen werden;<br />
Des hohen Sinnes Liecht, <strong>der</strong> wahren Tugend Schein,<br />
Der Schönheit heller Glanz soll nun erloschen seyn.<br />
Was übermenschliches erschien in ihren Gaben,<br />
Die ein gekröntes Haupt nie größer können haben,<br />
Dergleichen Süd und Nord, <strong>der</strong>gleichen Ost und West<br />
Dem klugen Reisenden nun nicht mehr sehen läst.<br />
Erstaunende Gestalt, Entzückungsvolle Strahlen!<br />
Wie ein Apelles je möchte’ eine Göttin mahlen.<br />
Der Sternen Ueberschuss, <strong>der</strong> Elemente Macht<br />
Hat bey den Menschen nichts Vollkommners fürgebracht.<br />
Und was die Sterne nicht, noch Elemente bringen,<br />
Verstand, <strong>der</strong> aus dem Schoss <strong>der</strong> Gottheit muß entspringen,<br />
Kann schwehrlich höher seyn hienieden angest<strong>im</strong>t.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 378<br />
Ein Engel muß es seyn, <strong>der</strong> Fleisch und Beine n<strong>im</strong>t.<br />
[…]<br />
Da jedem seine Welt besteht in seinen Sinnen,<br />
Dass er das Aeussre fühlt, so wie ers führt von innen.<br />
Und macht sich böss und guth, da kann keine Ende seyn.<br />
Sonst träf in jedem nicht die ganze St<strong>im</strong>mung ein.<br />
[…]<br />
Nun so erhebet euch, o ihr bedrückte Sinnen,<br />
Last eure Traurigkeit in dieser Freud verrinnen;<br />
Denckt, unverbesserlich sey dass so Gott gethan,<br />
Erkent mans gleich noch nicht, soll mans doch beten an.<br />
Und zwar man kennt es schohn in kindlichem Vertrauen;<br />
Man sieht, dass Gott ist guth, eh man Ihn selbst kann schauen<br />
Dass Lieb und Liecht und Recht ursprünglich aus Ihm fliest,<br />
Wie Wärm und Glanz die Sonn in Erd-Geschöpfe giest.<br />
Im Juni 1708 beschwert sich Leibniz bei den hannoverschen Ministern<br />
darüber, daß sein früherer Mitarbeiter Johann Georg ECKHART in<br />
Helmstedt ohne sein Wissen in einer Abhandlung gegen den<br />
Genealogen Jakob Wilhelm von IMHOF historisches Material zur<br />
Welfengeschichte habe drucken lassen und damit die in Arbeit<br />
befindlichen „Scriptores― teilweise entwerte. Er for<strong>der</strong>t ein Druck- und<br />
Auslieferungsverbot. Für ähnliche Arbeiten solle ECKHART künftig seine<br />
Zust<strong>im</strong>mung einholen.―<br />
Im Juli 1708 stellt Leibniz einen Antrag, <strong>im</strong> Anschluß an eine Kur in<br />
Karlsbad eine Reise nach München machen zu dürfen, um<br />
Quellenmaterial <strong>im</strong> dortigen Archiv für seine historischen Arbeiten<br />
auszuwerten. Der Kurfürst genehmigt unter <strong>der</strong> Bedingung, daß er auf<br />
eigene Kosten reise. Daraufhin teilt Leibniz <strong>der</strong> hannoverschen<br />
Regierung mit, er werde in <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> <strong>der</strong> Leipziger Michaelismesse die<br />
Reise nach Karlsbad über Berlin und Leipzig antreten und in sechs bis<br />
acht Wochen in Hannover zurück sein. Auf den Besuch in München<br />
verzichte er. Aus einem Brief an den Gehe<strong>im</strong>en Rat von GÖRTZ<br />
erfahren wir auch den Grund: „Ich bin nicht wohlhabend genug, um es<br />
wie <strong>der</strong> Herzog de la FEUILLADE zu machen, <strong>der</strong> auf eigene Kosten<br />
dem Ruhm des Königs von Frankreich ein Denkmal setzte. Ich werde<br />
die bayerischen Welfen in ihren alten Urkunden ruhen lassen, bis ich<br />
reicher bin.―<br />
Seit Dezember 1710 hat Leibniz bis zu seinem Tode Briefwechsel mit<br />
dem bedeutenden Gießener Professor <strong>der</strong> Mathematik Johann Georg<br />
LIEBKNECHT über naturwissenschaftliche und historische Themen.<br />
LIEBKNECHT ist ein sehr vielseitig gebildeter Mann, z. B. auch<br />
Theologe mit exegetischen und hebräischen Sprachvorlesungen<br />
(geboren 1679 <strong>im</strong> thüringischen Wasungen, gestorben 1749 in Gießen).<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 379<br />
Er ist <strong>der</strong> Ururgroßvater des Politikers Karl LIEBKNECHT, 1871-1919,<br />
<strong>der</strong> über an<strong>der</strong>e Ahnen (z. B. aus <strong>der</strong> berühmten hesssischen<br />
Gelehrtenfamilie ORTH) über mehre Verwandtschaftswege mit<br />
GOETHE verwandt ist! Über die Familie ORTH <strong>im</strong> letzten Kapitel mehr,<br />
das ja vor allem ein Werbung zur Veröffentlichung einer großen<br />
illustrierten ORTH-Stammlisten-Publikation sein soll!<br />
1711 schreibt „LIESELOTTE von <strong>der</strong> PFALZ― an Kurfürstin SOPHIE<br />
über Leibniz’ „Theodicée“: „Mons. Leibniz hatt woll gethan, zu<br />
erweißen, wie man ihm unrecht gethan, wenn man ihm „glaubenichts“<br />
geheyßen hatt.―<br />
Am 30. Oktober 1711 hat Leibniz eine Audienz bei Zar PETER dem<br />
Großen in Torgau. Darüber Leibniz: „Außerordentliche Eigenschaften<br />
besitzt dieser große Fürst. Auf meinen Vorschlag hin wird er dafür<br />
sorgen, daß in seinem riesigen Reich Beobachtungen über die<br />
magnetische Deklination angestellt werden.― Leibniz verfaßt eine<br />
Denkschrift zur För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Wissenschaften in Rußland und entwirft<br />
ein Bestallungsschreiben des Zaren für sich selbst. Außerdem macht er<br />
militärtechnische Vorschläge zur Verbesserung des Transportwesens<br />
und <strong>der</strong> Navigation. Im November 1712 trifft Leibniz in Karlsbad<br />
nochmals PETER den Großen, <strong>der</strong> ihn zum Gehe<strong>im</strong>en Justizrat ernennt<br />
und ihn mit <strong>der</strong> Pflege <strong>der</strong> mathematischen und an<strong>der</strong>en<br />
Wissenschaften in Rußland bei einem Jahresgehalt von 1000 Talern<br />
beauftragt.<br />
Im Dezember 1712 ist Leibniz wie<strong>der</strong> in Wien und schreibt von dort an<br />
Andreas Gottlieb von BERNSTORFF, +1726, Premierminister in<br />
Hannover seit 1705, daß sein Wiener Aufenthalt kein Hin<strong>der</strong>nis für seine<br />
Weiterarbeit an den Annalen sei, da diese in Hannover durch die<br />
Krankheit seines Gehilfen ECKHART ohnehin unterbrochen worden sei.<br />
Im Januar 1712 hat Leibniz eine erste Unterredung mit Kaiser Karl VI. ,<br />
<strong>der</strong> großes Interesse an seinen historischen Untersuchungen gezeigt<br />
und auch verstanden habe, daß eine Geschichte des Hauses<br />
Braunschweig nicht ohne Berücksichtigung <strong>der</strong> Reichsgeschichte<br />
geschrieben werden könne. 1714 ist Leibniz nochmals in Wien, wo er<br />
auch zur Kur in Baden bei Wien ist. Im Februar 1715 schreibt Leibniz:<br />
„Das Mißtrauen in meine Gesundheit hat mich abgehalten, die Frau<br />
Prinzessin von WALES zu begleiten: tatsächlich hat mich seitdem die<br />
Gicht ergriffen. Sie ist nicht sehr schmerzlich, aber sie hin<strong>der</strong>t mich,<br />
an<strong>der</strong>swo als <strong>im</strong> Arbeitsz<strong>im</strong>mer tätig zu sein, wo mir <strong>im</strong>mer die <strong>Zeit</strong> zu<br />
kurz erscheint und ich mich folglich nicht langweile. Das ist ein Glück <strong>im</strong><br />
Unglück.―<br />
Im September 1715 schreibt er an LIESELOTTE von <strong>der</strong> PFALZ: „Ich<br />
stecke tief in einer großen historischen Arbeit, die ich auf höheren<br />
Befehl übernommen und wofür ich eine riesige Stoffsammlung<br />
angelegt habe. Ich bemühe mich, sie zu vollenden, solange meine<br />
Kräfte reichen, damit die Arbeit nicht verloren ist; auch drängt mich <strong>der</strong><br />
Wunsch des großen Königs und <strong>der</strong> hohen Herren. Auf dieses Werk<br />
verwende ich nun all meine <strong>Zeit</strong>, die mir die alltäglichen Pflichten und die<br />
Sorgen um meine Gesundheit übrig lassen, und ich bin gezwungen, alle<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 380<br />
mathematischen, philosophischen und juristischen Überlegungen, zu<br />
denen ich mich hingezogen fühle, zurückzustellen. Deshalb stockt mein<br />
brieflicher Verkehr, und ich muß mich entwe<strong>der</strong> völlig entschuldigen<br />
o<strong>der</strong> die Antwort auf Briefe meiner Freunde aufschieben, bis ich wie<strong>der</strong><br />
<strong>Zeit</strong> für mich selbst habe.― An A. G. von BERNSTORFF schreibt er: „<strong>der</strong><br />
einleitende Diskurs über die Verän<strong>der</strong>ung des Landes [die „Protogaea“]<br />
ist fertig. Der Diskurs über die Völkerwan<strong>der</strong>ung bleibt noch zu<br />
schreiben übrig. Indessen habe ich das Material dafür bereit, aber<br />
möchte jetzt nicht den Lauf meiner Annalen unterbrechen. Wenn sie bis<br />
zum Ende <strong>der</strong> Kaiser des alten Hauses BRAUNSCHWEIG fortgeführt<br />
sein werden, das heißt bis zum Ende HEINRICH des HEILIGEN, werde<br />
ich diese Präl<strong>im</strong>inarien vollenden können, während man alles für den<br />
Druck vorbereitet.“<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />
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S e i t e | 382<br />
Anfang 1716, in Leibniz’ Todesjahr, schreibt er in einer<br />
Rechtfertigungsschrift an A. G. von BERNSTORFF, er hätte den ersten<br />
Teil seiner Annalen bereits drucken lassen können, denn er wäre fertig.<br />
Doch würden sich während <strong>der</strong> Weiterarbeit Ergänzungen und<br />
Verbesserungen ergeben, die nach einem Druck nicht mehr<br />
berücksichtigt werden könnten. „Ich könnte zwar die Öffentlichkeit und<br />
den größten Teil <strong>der</strong> Leser leicht täuschen, aber ich täuschte<br />
keineswegs mein Gewissen. Wenigstens würde ich <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong><br />
Nachkommen ausgesetzt sein.― -<br />
König GEORG I. betont, er habe Leibniz’ Versprechen, vor<br />
Beendigung seines historischen Werkes keine weiteren großen Reisen<br />
zu unternehmen, gern vernommen. Er werde be<strong>im</strong> nächsten Aufenthalt<br />
in Hannover „wegen Vergeltung seiner Mühe und seines Fleißes ihm so<br />
begegnen daß er damit wolvergnüget zu seyn Uhrsache haben solte.―<br />
Drei Wochen danach äußert sich GEORG I. gegenüber den Gehe<strong>im</strong>en<br />
Räten in Hannover, daß zu ihm das Gerücht gedrungen, Leibniz wolle<br />
doch nach Wien fahren. „Weil <strong>der</strong>selbe sich nun vermuthlich weiter<br />
entschuldigen wirdt, wie er schon gethan, daß Er nicht willens gewesen<br />
sey, nach Wien wie<strong>der</strong>umb zu reisen, so werdet Ihr, ob wir es schon<br />
beßer wißen, Ihm zu verstehen geben, wir wolten Ihm gern solches zu<br />
gefallen glauben und ließen es Unß gar lieb seyn.― Er fügte hinzu,<br />
Professor Joh. Georg ECKHART solle beauftragt werden, die „Annales―<br />
vom Jahre 1024 an fortzuführen, „wovon jedoch dem von Leibniz vorher<br />
nichts zu sagen― sei.-<br />
Im März schreibt Leibniz an Nicolas REMOND über sein Befinden:<br />
„Meine kleinen Übel sind zu ertragen und, wenn ich mich ruhig verhalte,<br />
verursachen sie nicht einmal Schmerz.<br />
Sie haben mich nicht gehin<strong>der</strong>t nach Braunschweig zu reisen, um <strong>der</strong><br />
Herzogin (Christine Luise von WOLFENBÜTTEL), <strong>der</strong> Mutter <strong>der</strong><br />
regierenden Kaiserin (Elisabeth Christine) eine glückliche Reise zu<br />
wünschen. Jene fährt zu ihrer Tochter, um ihr bei <strong>der</strong> Entbindung<br />
beizustehen. Wenn meine Übel sich nicht verschl<strong>im</strong>mern, werden sie<br />
mich nicht abhalten, in Zukunft größere Reisen zu unternehmen. … Aber<br />
gegenwärtig arbeite ich daran, meine Annales des Westreiches zu<br />
vollenden, welche fast drei Jahrhun<strong>der</strong>te und zwar die dunkelsten<br />
umfassen. Ich berichtige darin eine große Zahl zweifelhafter Punkte,<br />
auch <strong>der</strong> französischen Geschichte. Das Werk wird vor Ende dieses<br />
Jahres druckfertig sein. … Danach werde ich, wenn Gott mir die <strong>Zeit</strong><br />
dazu läßt, einige philosophischen Überlegungen darlegen und sie bis<br />
zum Beweis entwickeln.― Im April dieses Jahres macht Leibniz bereits<br />
den Vorschlag, französische Historiker als Gutachter für seine Annalen<br />
ranzuziehen.<br />
Zu gleicher <strong>Zeit</strong> beschäftigt er sich wie<strong>der</strong> mit den Bemühungen um<br />
die Einheit <strong>der</strong> christlichen Kirchen. In einem Brief an Daniel Ernst<br />
JABLONSKI bedauert er, daß die Unionsverandlungen <strong>der</strong><br />
protestantischen Kirchen „durch pietistische Einfälle hauptsächlich<br />
unterbrochen worden― seien. Im Juni 1716 sucht Leibniz nochmals den<br />
Zaren PETER den GROßEN in Bad Pyrmont auf, wo er ihn oft bei<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
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Son<strong>der</strong>audienzen und während <strong>der</strong> Trinkkuren am Sauerbrunnen<br />
gesprochen hat. Dazu überreicht Leibniz dem Zaren mehrere<br />
Denkschriften, u. a. über Magnet-Nadelbeobachtungen, über<br />
Verbesserung <strong>der</strong> Künste und Wissenschaften <strong>im</strong> Russischen Reich und<br />
über die Errichtung von „Collegien“ d. h. von Ministerien.<br />
Zu den Collegien heißt es: „Den wie in einer Uhr ein rad von den<br />
an<strong>der</strong>n sich muß treiben laßen, also muß in <strong>der</strong> großen Staats-Uhr ein<br />
Collegium das an<strong>der</strong>e treiben, und wofern alles in einer accuraten<br />
proportion und genauen Harmonie stehet, kan nicht an<strong>der</strong>s folgen, als<br />
daß <strong>der</strong> Zeiger <strong>der</strong> Klugheit dem Lande glückliche Stunden zeigen<br />
werde.―<br />
Während zweier Aufenthalte <strong>im</strong> Juni und August in Bad Pyrmont<br />
entwickelt sich zwischen Leibniz und dem jungen Fürstlich-<br />
Waldeckischen Arzt Hofrat Dr. Johann Philipp SEIP, <strong>der</strong> auch <strong>im</strong><br />
November dem sterbenden Leibniz in seinen letzten Stunden helfend<br />
zur Seite stand, eine sehr vertrauliche, durch viele Gespräche vertiefte<br />
Freundschaft. Als GOETHE-Genealoge kann ich hier darauf hinweisen,<br />
daß auch dieser Johann Philipp SEIP, 1686-1757, mehrfach mit Goethe<br />
verwandt ist, einmal über die SEIP-Stammlinie selbst, SEIPs Großvater<br />
Johann Ludwig SEIP, +1687, Pfarrer und Dechant <strong>im</strong> hessischen Lich,<br />
war ein Bru<strong>der</strong> des GOETHE-Ahnen Nr. 60: Johannes SEIP, 1614-1681,<br />
Konsulent und Syndicus <strong>der</strong> Stadt Wetzlar. Ihr gemeinsamer Vater war<br />
David SEIP, 1558-1632, Fürstlich Hessisch-Darmstadtischer Kammerrat<br />
in Marburg. Eine weitere Verwandtschaft zwischen dem waldeckischen<br />
Arzt und Goethe ergibt sich wie<strong>der</strong>um über die berühmte<br />
Gelehrtenfamilie ORTH. Der Großvater Johann Ludwig SEIP war mit<br />
einer Anna Maria ORTH verheiratet. Diese Großmutter war eine Tochter<br />
von Dr. theol. Hermann Philipp ORTH, 1594-1659, zuletzt Pfarrer in<br />
Lich.<br />
Im Juli 1716 kurze Aufenthalte in Braunschweig, Wolfenbüttel und<br />
auch in <strong>Zeit</strong>z, wo Leibniz die Arbeiten an seiner Rechenmaschine<br />
überprüft. Der Plan nach Wien weiterzureisen wird aufgegeben. Im<br />
selben Monat beendet Leibniz das Kapitel über den Tod OTTOS III. (+<br />
1002) in seinen Annalen und begründet seinen Entschluß, das Werk in<br />
lateinischer Sprache erscheinen zu lassen: „so ist doch die lateinische<br />
nöthig zu haupt wercken, so auf die entfernte posterität kommen sollen.―<br />
Anfang November verschlechtert sich Leibniz’ Gesundheitszustand<br />
durch Magenkoliken und Gichtanfälle, die auch die Handgelenke<br />
befallen und ihm jetzt am Schreiben hin<strong>der</strong>n. Am 13. November schreibt<br />
Johann Georg ECKHART in hämischen Worten und voll neidischer<br />
Gesinnung an den hannoverschen Premierminister A. G. von<br />
BERNSTORFF:<br />
„Hr. Leibnitz lieget an händen und füßen contract und ist ihm die Gicht in<br />
die schultern gezogen, so biß dato noch nicht geschehen. Er kann itzt<br />
von arbeit nicht einmahl hören u. wenn ihn in dubiis frage, antwortet er,<br />
ich möge die sachen machen, wie ich wolle; ich werde es schon gut<br />
machen; er könne sich umb nichts mehr in seiner maladie kümmern. Es<br />
wird nichts capable seyn, ihn hervorzubringen als <strong>der</strong> Czar o<strong>der</strong> sonst<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 384<br />
ein dutzend großer herren, so ihme hofnung zu pensionen machen; so<br />
mögte er bald wie<strong>der</strong> zu beinen kommen.― Die Welfengeschichte jedoch<br />
wird er nie vollenden. „Denn er ist gar zu sehr distrahiret u. indem er<br />
alles thun u. in alles sich mischen will kann er nichts zum ende bringen,<br />
wenn er auch Engel zu adjutanten hätte.―.<br />
Ab 5. November 1716 liegt LEIBNIZ zu Bett. Sein Sekretär Johann<br />
Hermann VOGLER und sein Kutscher HENRICH wechseln sich bei <strong>der</strong><br />
Wache am Bett ab. Erst am 14. November kann sich LEIBNIZ<br />
entschließen, den gerade sich zufällig in Hannover aufhaltenden<br />
Pyrmonter Leibarzt Dr. Johann Philipp SEIP „aus <strong>der</strong> Roden-Schencke―<br />
herbeizuholen. Dr. SEIP hat über seine Anwesenheit an Leibniz’ letzten<br />
Lebenstag unter an<strong>der</strong>em berichtet: „Als ich zu ihm gekommen war,<br />
fand ich ihn <strong>im</strong> Bette sitzend vor. Mit großem Wortschwall setzte er mir<br />
seine Krankheit auseinan<strong>der</strong>; er fügte hinzu, daß er seit vielen Jahren an<br />
Gelenkentzündung und Podagra [Gicht] leide, er habe aber dennoch<br />
niemals einen Arzt um Rat gefragt, er habe ein Holzdekokt [Absud], das<br />
ihm in Wien empfohlen sei und das er in einem Zwischenraum von 24<br />
Stunden in großer Menge bis zu 3-4-5-6 Liter jeweils trinke <strong>im</strong><br />
Gebrauch. Er zeigte mir sodann das Rezept und bot mir das Dekokt<br />
selbst zum Schmecken an; er sagte, daß er mit diesem Mittel auch bei<br />
den schwersten Anfällen seine Gelenkentzündung und das Podagra<br />
gemil<strong>der</strong>t, ja sogar ganz beseitigt habe. Ich fand seinen Puls sehr<br />
schwach, er hatte kalten Schweiß an den Händen, <strong>der</strong> Atem endlich war<br />
ängstlich, schwer und schnell.<br />
Aber nichtsdestoweniger fuhr er unter den größten Anstrengungen<br />
fort, mich mit den verschiedensten Gesprächen zu halten und zu<br />
ergötzen. […] Ich verhehlte LEIBNIZ die Gefahr, in <strong>der</strong> er schwebte<br />
nicht, aber dieser hieß mich guten Muts sein und erzählte mir, daß seine<br />
Hände schon von frühster Jugend an meistens kalt gewesen seien, und<br />
ebenso habe er auch öfter bei seinen Perioden von Gelenkentzündung<br />
und Podagra jenes Asthma und jene schwere Atmung gefühlt. Er bat<br />
mich aber, ihm ein Belebungs- und Herzmittel aufzuschreiben, weil ich<br />
ihm versichert hatte, daß jenes Dekokt zu seiner gegenwärtigen<br />
Schwäche nicht passe.<br />
Ich schreib also einige Rezepte auf. Als ich sie ihm erläutert hatte, bat<br />
er mich, in <strong>der</strong> Apotheke die aufgeschriebenen Heilmittel in meiner<br />
Gegenwart herstellen zu lassen. Ich ging fort zur Apotheke. Nachdem<br />
etwa ein Stündchen verflossen war, kam ein Diener des L. gelaufen und<br />
meldete, daß sein Herr schon tot, o<strong>der</strong> wenigstens durch eine schwere<br />
Ohnmacht betäubt sei. Als ich beschleunigten Schrittes zurückkehrte,<br />
fand ich den großen Mann tot vor,<br />
umgeben von vielen Büchern, Briefen und Schriften auf seiner Decke<br />
und auf den Stühlen um das Lager und unter diesen war BARCLAYs<br />
„Argenis“. Dieses Buch hob ich von seinem Bett auf und zeigte es<br />
zufällig denselben Abend dem Bibliothekar Eckard [ECKHART] und<br />
einigen an<strong>der</strong>en Hinzukommenden. Daher ist, wie auch über die übrigen<br />
Umstände, von Einigen verschieden und hart geurteilt worden. Ich halte<br />
die Partei <strong>der</strong> milden Beurteiler. Indessen habe ich es für <strong>der</strong> Mühe wert<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 385<br />
gehalten, bei dieser Gelegenheit einen wahren und unverfälschten<br />
Bericht über das überraschende Lebensende dieses großen<br />
Philosophen, Mathematikers und Historikers zu geben.― Dieses Buch<br />
muß wohl verwechselt worden sein, da John BARCLAYS „Argenis―, ein<br />
romantischer Sittenspiegel <strong>der</strong> damaligen <strong>Zeit</strong>, erst 1621 erschienen ist.<br />
Vielleicht handelt es sich um ein Vorgängerbuch von John BARCLAY,<br />
1582-1621, schottischer Dichter und Satiriker, <strong>der</strong> in lateinischer<br />
Sprache schrieb; z.B. mit „Euphormionis satyricon (1603), das gegen die<br />
Jesuiten gerichtet war o<strong>der</strong> „Icon an<strong>im</strong>orum― (1614), eine Art<br />
Völkerpsychologie.<br />
Sekretär VOGLER benachrichtigte Johann Georg ECKHART, <strong>der</strong> alle<br />
weiteren Formalitäten erledigte. Am 15. November wird LEIBNIZ’<br />
Nachlaß <strong>im</strong> Hause Schmiedegasse in Hannover versiegelt. Eine<br />
königliche Kommission beginnt am 26. November nach dem Eintreffen<br />
von LEIBNIZ’ Alleinerben, seinem Neffen Friedrich S<strong>im</strong>on LÖFFLER,<br />
Pfarrer in Probstheida bei Leipzig, mit <strong>der</strong> Sichtung des Leibniz-<br />
Nachlasses. Außer seiner umfangreichen Bibliothek hinterläßt Leibniz<br />
eine Barschaft und Wertpapiere in einem schwarzen Koffer in Höhe von<br />
12000 Talern. ECKHART schreibt in seiner Leibniz-Biographie:<br />
„Des seel. Geh. Raths von Leibniz Cörper wurde am 14. Dezemb. in<br />
<strong>der</strong> Neustädter Kirche zur Erden bestattet, wozu alle Hof-Bediente<br />
geladen waren, aber niemand erschiene. Der Ober-Hof-Prediger H.<br />
ERYTHROPEL sang die Collecte, wozwischen die Schüler musicirten.<br />
Der Sarg war gantz mit schwartzem Sammit bezogen, worüber allerhand<br />
Zierathen von Zinn gemacht waren. … [zu Füßen des Toten war] eine<br />
Spiral-Linie mit <strong>der</strong> Umschrift: INCLINATA RESURGET. Forn zun Füßen<br />
<strong>der</strong> Titul: Ossa Illustris Viri Godofredi Guilielmi Leibnitii S. Caes. Maj.<br />
Consil Aulic. S. Reg. Maj. Britannorum et Russorum Monarchae a<br />
Consiliis Justitiae Int<strong>im</strong>is, qui natus A. MDCXLVI Jun. decessit A.<br />
MDCCXVI. die XIV. Novembr. – Hinten am Kopffe war seiner Exc.<br />
Wapen.―<br />
Nachfolgende Stellen seien dazu zitiert aus: „Abhandlungen <strong>der</strong><br />
Königlich Preussischen Akademie <strong>der</strong> Wissenschaften, Jahrgang 1916,<br />
Philosophisch-Historische Klasse, Nr. 3, von Hans Graeven (+) und Carl<br />
Schuchardt, Berlin 1916: „ Das Grabgeläut ist also erst einen vollen<br />
Monat nach dem Sterbedatum Leibnizens erklungen. Solch lange<br />
Fristen zwischen Tod und Begräbnis kamen damals nicht selten vor, sie<br />
waren unvermeidlich, wenn für Verstorbene in einer Kirche erst neue<br />
Grüfte hergerichtet werden mußten. […] Als <strong>im</strong> Frühjahr 1902 eine<br />
umfassende Restauration <strong>der</strong> Kirche begonnen wurde, zeigte sich, daß<br />
<strong>der</strong> Innenraum viele Dutzende von von Grüften beherbergte. […] Noch<br />
aus den achtziger Jahren des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts liegt eine Äußerung vor,<br />
niemand wisse den Platz anzugeben, wo Leibnizens Gebeine ruhen. Es<br />
war infolgedessen sehr erklärlich, daß Zweifel aufgetaucht sind, ob die<br />
in <strong>der</strong> Gruft aufgedeckten Gebeine die des großen Denkers seien; indes<br />
eine sorgsame Sammlung und Prüfung aller erreichbaren Nachrichten,<br />
die sich auf LEIBNIZens Beisetzung und sein Grab beziehen, hatte das<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 386<br />
sichere Ergebnis, daß die Inschrift <strong>der</strong> Platte OSSA LEIBNITII zu recht<br />
bestand.[…]<br />
Die Hannoveraner wurden um jene <strong>Zeit</strong> vielfach verspottet wegen ihrer<br />
Pietätlosigkeit gegen die Manen des bedeutendsten Mannes, <strong>der</strong><br />
innerhalb ihrer Mauern gehaust hatte. Johann Heinrich VOSS kleidete<br />
1781 den Spott in die folgenden Verse:<br />
Leibnizens Grab.<br />
Tuskers,<br />
Wo, von den Seinigen verkannt,<br />
Leibniz, wie Kästner rühmt, sein Brot in Ehren fand;<br />
In jener weisen Stadt des feineren Cheruskers,<br />
Ging einst ein Fremdling um, mit gläubigem Vertraun,<br />
Leibnizens Denkmal wo zu schaun,<br />
Dem für die Nachwelt, Kunst des Griechen o<strong>der</strong><br />
Den Dank <strong>der</strong> Mitwelt eingehaun.<br />
Vergebens fragt’ er die Minister,<br />
Und alle Räth’ und alle Priester;<br />
Sie sahen ihn an und schwiegen düster,<br />
Selbst das lebendige Register<br />
Der Seltenheiten, selbst <strong>der</strong> Küster<br />
Sprach: Was weiß ich von dem ungläubigen Filister?<br />
Zuletzt erscheint <strong>der</strong> Mann, <strong>der</strong> seines Lehrers Sarg<br />
Einsam um Mitternacht begleitet,<br />
(Ein alter Jude wars!) und leitet<br />
Ihn zu <strong>der</strong> öden Gruft, die dich, o Leibniz, barg.<br />
Der einfühlsame Leibniz-Roman: „Leibniz – Der Lebensroman eines<br />
weltumspannenden Geistes― von Egmont COLERUS (1934) schließt mit<br />
den Sätzen:<br />
„Seinem Sarge aber folgte niemand außer Eccard, obgleich alle<br />
Würdenträger Hannovers in streng zeremonieller Art zum Begräbnisse<br />
eingeladen worden waren. Keiner dieser „Edelleute― hatte es gewagt,<br />
einem <strong>der</strong> größten Deutschen, einem <strong>der</strong> Größten aller <strong>Zeit</strong>en und aller<br />
Völker die letzte Ehre auf Erden zu gebe. - -„<br />
Die Braunschweigische Geschichtsforschung war für Leibniz <strong>im</strong>mer<br />
aufs neue ein Gegenstand echten wissenschaftlichen Triebes. Für jeden<br />
geschichtlichen Vorgang, für jede Stammes-, Volks- und Staatsbildung<br />
die Ursprünge zu ergründen und dabei in <strong>der</strong> Reihe <strong>der</strong> Ursachen die<br />
„series temporum― <strong>im</strong>mer weiter zurückzuverfolgen, um mit allen<br />
verfügbaren Methoden, vor allem <strong>der</strong> philologischen, die geringer<br />
werdenden und schließlich ganz fehlenden schriftlichen Quellen zu<br />
ersetzen, das galt Leibniz als ein Hauptanliegen für den Historiker. Das<br />
hatte mit seinem offiziellen Auftrag nichts mehr zu tun, ja führte gerade<br />
von dem hinweg, was er dem fürstlichen Hause zur Erhöhung seines<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 387<br />
Ruhms und seiner politischen Stellung bieten sollte. (lt. Werner CONZE:<br />
Leibniz als Historiker, 1946).<br />
Der dunkle Wissenenschaftsmann Johann Georg ECKHART, 1664-<br />
1730, <strong>der</strong> als Bibliothekar-Nachfolger Leibniz’ die Geschichte des<br />
Hauses Braunschweig zu Ende bringen sollte und von Kaiser Karl VI.<br />
1719 sogar noch in den Adelsstand erhoben worden war, flüchtete<br />
wegen Schulden 1723 aus Hannover. Leibniz’ genealogische<br />
Forschungen brachten erst viele Jahre später die Amtsnachfolger in<br />
Hannover heraus; und zwar 1751-54 die „Origines Guelficae“ von<br />
Christian Ludwig SCHEIDT in vier Bänden und 1780 einen fünften Band<br />
von Johann Heinrich JUNG. Diese Bände erwähnt sogar Johann<br />
Christoph GATTERER, <strong>der</strong> Autor des ersten wissenschaftlichen<br />
Lehrbuches <strong>der</strong> Genealogie von 1788, in seinem „Abriß <strong>der</strong> Genealogie―<br />
auf den Seiten 14 und 62-63; dort unter Kapitel II. Entwurf von<br />
genealogischen Büchern, § 56, wo außer dem beschriebenen<br />
„Hauptinhalte <strong>der</strong> Geschlechtshistorien― („Geschlechtstafeln― und<br />
„genealogisch-historische Texte―) auch auf solche Bücher hingewiesen<br />
wird, die noch „Nebensachen― enthalten, wie Abhandlungen über „den<br />
Ursprung und das Alter einer Familie, über ihre Würde und Verdienste,<br />
Turnier- und Stiftsmäßigkeit; über die Län<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Güter <strong>der</strong>selben: über<br />
Wappen und Siegel: auch zuweilen Ahnentafeln und Stammbäume.<br />
Manche enthalten überdieß weitläuftige kritische [!] Untersuchungen, wie<br />
die Origines Guelficae―. Wobei GATTERER hier diese sogar nur allein<br />
genannt hat.- Es ist mir nicht bekannt, daß spätere deutsche Autoren<br />
von genealogischen Lehr- und Handbüchern jemals auf Leibniz als<br />
Genealogen <strong>im</strong> allgemeinen o<strong>der</strong> als kritischen Genealogen <strong>im</strong><br />
beson<strong>der</strong>en hingewiesen hätten!-<br />
Lediglich <strong>im</strong> großen 2-bändigen „Handbuch <strong>der</strong> praktischen<br />
Genealogie―, das von Dr. Eduard HEYDENREICH 1913 herausgegeben<br />
wurde, schreibt HEYDENREICH: <strong>im</strong> einleitenden Kapitel über „Die<br />
bibliothekarischen Hilfsmittel des Familienforschers― : „Die<br />
Braunschweigischen Annalen besaßen mehrere treffliche Forscher von<br />
anerkannter wissenschaftlicher, fruchtbarer Gründlichkeit, Christian<br />
Ludwig SCHEIDT aus Waldenburg <strong>im</strong> Hohenlohischen (geb. 1709, gest.<br />
1761), Bibliothekar in Hannover, begründete mit kritisch-gelehrter<br />
Benutzung <strong>der</strong> Leibniz-Eccardschen Vorarbeiten die Geschichte des<br />
uralten Guelfen-Geschlechts urkundlich und legte in diesem Werk einen<br />
für das ganze Mittelalter, beson<strong>der</strong>s Deutschlands, reichen Schatz tiefer<br />
Forschungen nie<strong>der</strong>. Mehrere an<strong>der</strong>e genealogische und<br />
staatsrechtlich-historische Arbeiten verfolgte er mit deutscher<br />
Beharrlichkeit, umfassen<strong>der</strong> Belesenheit, reifen Scharfblick und<br />
folgerechter Prüfung.―<br />
„Die Welfengeschichte selbst, die Leibniz für die <strong>Zeit</strong> von 768 bis 1005<br />
dargestellt hatte, wurde, da nach Leibniz’ Tod seine Auftraggeber<br />
jegliches Interesse an ihr verloren, erst 1843-46 von Georg Heinrich<br />
PERTZ aus Leibniz’ hinterlassenen Manuskripten als „Annales Imperii<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 388<br />
occidentis Brunsvicenses“ in drei Bänden herausgegeben.― (Neue<br />
Deutsche Biographie XIV). So ist das Schicksal von Leibniz’<br />
geschichtlichen umfangreichen Arbeiten einer <strong>der</strong> tragischen Züge in<br />
seinem Leben.<br />
((große Stammtafel))<br />
Wie weit Leibniz seiner <strong>Zeit</strong> bei <strong>der</strong> Welfen-Genealogie voraus war<br />
und wie wenig seine Forschungen bei den Historikern noch lange nach<br />
seinem Tode bis ins 20. Jahrhun<strong>der</strong>t bekannt waren bzw. anerkannt<br />
worden sind, hat wohl am besten Alois SCHMID in einem Vortrag<br />
geschil<strong>der</strong>t, auf den wir gleich noch <strong>im</strong> nächsten Kapitel kurz eingehen<br />
wollen.<br />
SCHMID sagt dort: „Der Historiker Leibniz hat somit weniger für seine<br />
Gegenwart als für die folgenden Generationen gearbeitet. Auch sein<br />
historisches Werk hat ihn lange überdauert und erst spät seine volle<br />
Wirkung erlangt. Wenn die Welfen seitdem als das vermutlich<br />
ältestes Geschlecht <strong>der</strong> europäischen Adelswelt erkannt sind, ist<br />
das auch sein Verdienst. […] Die bayerischen Historiker griffen auch<br />
weiterhin auf AVENTIN, WELSER und VERVAUX zurück. Man ging also<br />
auf den ausgetretenen Bahnen weiter. […] Noch <strong>der</strong> Altmeister <strong>der</strong><br />
bayerischen Landesgeschichte Siegmund von RIEZLER, ein <strong>im</strong> übrigen<br />
äußerst kritischer Historiker, spricht sich in seiner grundlegenden<br />
Geschichte Bayerns wie<strong>der</strong> ausdrücklich für eine bayerische Abkunft <strong>der</strong><br />
älteren Welfen aus und wendet sich in diesem Zusammenhang auch<br />
gegen Leibniz unmittelbar, dessen wegweisende Forschungen über die<br />
italienische Herkunft <strong>der</strong> Welfen nicht einmal von ihm anerkannt wurden.<br />
Und auch sein Amtsnachfolger Michael DOEBERL rechnet nicht mit <strong>der</strong><br />
italienischen Wurzel. Von einer italienischen Abkunft <strong>der</strong> Welfen<br />
spricht die bayerische Landesgeschichte erst <strong>im</strong> 20. Jahrhun<strong>der</strong>t. -<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
11.7 ECKHART und die „Würzburger Lügensteine“<br />
Es sei hier noch eine kleine Kuriosität zur Wissenschaftsgeschichte<br />
<strong>der</strong> Paläontologie (Fossilienkunde) <strong>im</strong> Zusammenhang mit Johann<br />
Georg ECKHART eingeschoben: Nachdem ECKHART <strong>im</strong> Jahre 1723<br />
aus Hannover geflüchtet war, weil ihm dort aufgrund seines recht<br />
unordentlichen Lebenswandels <strong>der</strong> Boden zu heiß wurde, tauchte er in<br />
verschiedenen westdeutschen Klöstern unter. In Köln trat er zum<br />
katholischen Glauben über, offensichtlich weil er hoffte, an einer<br />
katholischen Universität unterzukommen. 1724 wurde er dann auch Hofund<br />
Universitätsbibliothekar in Würzburg. ECKHART hatte sich in<br />
Norddeutschland auch noch als Germanenforscher einen gewissen<br />
Namen gemacht (Hünengräberforschung).<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 389<br />
Nach Würzburg zog ECKHART dann auch noch seinen ehemaligen<br />
Adlatus Ignaz RODERIQUE, <strong>der</strong> in Würzburg eine Professur für<br />
Geographie, Algebra und Analysis bekam.<br />
Beide hatten sich über den Würzburger Professor Johannes<br />
Bartholomäus Adam BERINGER geärgert, <strong>der</strong> dort Dekan <strong>der</strong><br />
medizinischen Fakultät und Leibarzt des Fürstbischofs von Würzburg mit<br />
vielen an<strong>der</strong>en Ämtern war, „weil er so hoffärtig seie und sie alle<br />
verachte“. Dieses harmonierte wohl wenig mit ECKHARTS Eitelkeit und<br />
Neid. Es war bekannt, daß dieser Professor BERINGER ein begeisterter<br />
Naturalien- und Kuriositätensammler war und sich eine große<br />
Sammlung von Fossilien angelegt hatte, die er auch von Exkursionen in<br />
die nahegelegenen unterfränkischen Muschelkalkbrüche mitbrachte.<br />
ECKHART entwarf nun einen Plan, BERINGER durch Fälschungen<br />
lächerlich zu machen. Dazu schob er seinen ehemaligen Adlatus<br />
RODERIQUE vor, diese Sache auszuführen. RODERIQUE lernte als<br />
willigen Gehilfen den Bauernjungen Christian ZÄNGER aus dem Dorfe<br />
Eibelstadt am Main an. ZÄNGER seinerseits lernte zwei weitere<br />
Bauernjungen aus armer Familie an: die Brü<strong>der</strong> Nikolaus und Valentin<br />
HEHN. Der älteste <strong>der</strong> drei war 16, <strong>der</strong> jüngste 12 Jahre alt.<br />
Wahrscheinlich hat RODERIQUE den größeren Teil <strong>der</strong> „Lügensteine―<br />
selber fabriziert und ZÄNGER hat sich wohl hauptsächlich dann in die<br />
Fabrikation eingeschaltet, weil er die Steine auch an an<strong>der</strong>e Liebhaber,<br />
an den Fürstbischof, an den berühmten Architekten Balthasar<br />
NEUMANN und weitere prominente Würzburg verkaufen wollte. Am 31.<br />
Mai 1725 wurden BERINGER von diesen Jugendlichen mehrere<br />
son<strong>der</strong>bare Steine aus Kalkstein zugetragen, die diese an einem Berg<br />
bei Eibelstadt an best<strong>im</strong>mten Stellen <strong>im</strong> Muschelkalk gefunden hätten.<br />
Nach BERINGERs eigenen Angaben wurden in den folgenden sechs<br />
Monaten ungefähr 2000 Stücke ausgegraben und von ihm gegen mehr<br />
als 200 Reichtaler erworben.<br />
Die Steine zeigten Unerhörtes: Pflanzen und versteinerte Tiere, wie<br />
Blumen, Vögel, Eidechsen, Frösche, Fische, Schnecken, Krebse und<br />
Würmer. Einige Frösche paarten sich, eine Spinne saß in ihrem Netz;<br />
eine an<strong>der</strong>e Spinne fing eine Fliege. Nach und nach kamen auch an<strong>der</strong>e<br />
„Figurensteine― hinzu: Sonnen, Voll- und Halbmonde, Sterne und<br />
Kometen, sogar hebräische Schriftzeichen, die das Wort „Jehova―<br />
erkennen ließen.<br />
Aus späteren Vernehmungsprotokollen geht hervor, daß RODERIQUE<br />
wohl einen großen Teil <strong>der</strong> „Lügensteine― selbst in ECKHARTs<br />
Wohnung ausgemeißelt hat. Die Bauernjungen wurden dazu auch in<br />
ECKHARTs Wohnung empfangen und sie hätten „sämtlich ein Gelächter<br />
und Freude gehabt, daß Herr Doktor BERINGER mit diesen Steinen<br />
hintergangen worden.― Einer <strong>der</strong> Jugendlichen hat sie anschließend mit<br />
feinem Schleifpulver geglättet, die beiden an<strong>der</strong>en waren für das<br />
Vergraben zuständig. Sie bekamen dann <strong>im</strong>mer ein dickes Trinkgeld.<br />
Der bekannte Wissenschaftsschriftsteller Herbert WENDT hat in<br />
seinem Buch „Forscher entdecken die Umwelt― von 1965, diese wohl<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 390<br />
bekannteste Fossilfälschung, eine Kr<strong>im</strong>inalgeschichte ersten Ranges,<br />
ausführlich beschrieben. Daraus seien hier einige Stellen zitiert:<br />
„BERINGER hatte Spaß an solchen Launen <strong>der</strong> Schöpfung und freute<br />
sich wie ein Kind über jede neuentdeckte exzentrische Form. […]<br />
„ECKHART leistete sich sogar den Spaß, an BERINGERs Grabungen<br />
teilzunehmen. Als die ersten Figurensteine in Würzburg umliefen, erfuhr<br />
man auch auf an<strong>der</strong>en Universitäten davon; und es wurden dort lebhafte<br />
Zweifel an <strong>der</strong> Echtheit <strong>der</strong> Steingebilde geäußert. Aus diesem Grunde<br />
stellte ECKHART sich BERINGER als Augen- und Ausgrabungszeuge<br />
zur Verfügung, um, wie er erklärte, jeden Verdacht, es könne nicht mit<br />
rechten Dingen zugehen, zu wi<strong>der</strong>legen. Der Fälscher grub also Seite<br />
an Seite mit seinem Opfer nach Lügensteinen. Rührend klingt, was <strong>der</strong><br />
arglose BERINGER in diesem Zusammenhang über ECKHART<br />
schreibt: „Mit mir begab er sich an die ertragreiche Fundstelle solcher<br />
Wun<strong>der</strong>linge … Ich ließ ihn die gleich unterhaltende wie lehrreiche<br />
Arbeit erproben, mit eigenen Händen diese Wun<strong>der</strong>zeichen <strong>der</strong> Natur<br />
aus <strong>der</strong> weichen Erde zu graben … Er konnte bezeugen, mehr als einen<br />
Figurenstein mit eigener Hand ausgegraben zu haben…―.<br />
Bei solchen Exkursionen gab es des öfteren scharfe Dispute zwischen<br />
BERINGER<br />
und ECKHART. Der geschichtskundige [Historiker und auch ]<br />
Germanenforscher spottete über BERINGERs Wun<strong>der</strong>gläubigkeit und<br />
meinte, BERINGER solle einmal überlegen, ob die Figurensteine nicht<br />
weit eher Amulette o<strong>der</strong> Talismane heidnischer Germanen sein könnten,<br />
die die altdeutschen Zauberpriester vor den christlichen Missionaren<br />
versteckt hätten. […] BERINGER aber ärgerte sich über ECKHARTs<br />
„eitles Prunken mit geschichtlichen Kenntnissen.― Gerade die<br />
Behauptung, die Figurensteine könnten Erzeugnisse <strong>der</strong> Germanen<br />
sein, machten ihn nur noch halsstarriger in seinem Glauben, sie seien<br />
Gotteswun<strong>der</strong>―. Von ECKHARTs Germanen schien er nicht viel zu<br />
halten. […]<br />
„Im Gegensatz zu allem, was ihm später nachgesagt wurde, hat<br />
BERINGER die Gebilde nie mit echten Fossilien verglichen. Er sah sie<br />
schlicht und naiv als Gotteswun<strong>der</strong> an. Die Edelsteine waren ja nach<br />
BERINGERs Ansicht gleichfalls „stumme und beredte Zeugen von<br />
Gottes Vollkommenheit.― Warum sollt <strong>der</strong> Herr also nicht in seiner<br />
Allmacht auch steinerne Pflanzen, Tiere und Gestirne schaffen und<br />
gleichsam mit seinem Namen signieren, um sich den Menschen ins<br />
Gedächtnis zu rufen, „wenn sie ihres Schöpfers vergessen sollten?―<br />
Im Jahre 1726, als bereits rund 2000 gefälschte Figurensteine<br />
vorlagen, veröffentlichte BERINGER einen Teil <strong>der</strong> Funde in einem<br />
Prachtwerk unter dem Titel „Lithographiae Wirceburgensis―,<br />
„Würzburger Schriftsteine―; darin bildete er auf 220 Kupfertafeln die<br />
schönsten 200 „Schriftsteine― ab. Mit emphatischen Worten appellierte<br />
er an die Gelehrtenwelt und bat sie um ihre Mitarbeit:<br />
„Ich will nicht meine Meinung sagen. Ich wende mich an Fachgelehrte,<br />
um in einer so wi<strong>der</strong>spruchsvollen Sache unterrichtet zu werden … Die<br />
hochgelehrten Steinkundigen werden so hoffentlich Licht in die so<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 391<br />
dunkle wie ungewöhnliche Frage bringen. Dann werde auch ich mein<br />
Lichtlein hinzufügen und werde keine Mühe scheuen, um das, was das<br />
Würzburger Erdreich durch die fortgesetzte Arbeit <strong>der</strong> Gräber künftighin<br />
enthüllen wird und was sich selbst innerlich fühle, zu veröffentlichen und<br />
zu erläutern.―<br />
Kurz darauf platzte <strong>der</strong> Schwindel. Ob den Anstoß dazu wirklich ein<br />
Figurenstein mit BERINGERs Namen gegeben hat, den die Fälscher<br />
hergestellt und vergraben hatten, ist nicht sicher. Wahrscheinlich hatte<br />
<strong>der</strong> <strong>im</strong>mer hemmungsloser werdende Handelseifer <strong>der</strong> drei Eibelstädter<br />
Jungen die Aufdeckung beschleunigt. Möglicherweise aber war es <strong>der</strong><br />
geistige Urheber <strong>der</strong> Fälschungen selbst, <strong>der</strong> nach dem Erscheinen des<br />
BERINGERschen Werkes zum Fürstbischof ging und ihm die Sache<br />
erzählte. Wenn das letztere zutrifft, wenn also <strong>der</strong> Initiator des Planes<br />
den bedauernswerten BERINGER mit dem Nachweis, er sei auf dumme<br />
Fälschungen hereingefallen, in Würzburg unmöglich machen wollte,<br />
dann wurde seine Tat zum Bumerang. Denn BERINGER blieb in seinem<br />
Amte; <strong>der</strong> Fälscher aber mußte weichen.<br />
[…] Nach <strong>der</strong> Aufdeckung des Schwindels fielen ECKHART und<br />
RODERIQUE be<strong>im</strong> Fürstbischof von WÜRZBURG in Ungnade – vor<br />
allem wohl deshalb, weil <strong>der</strong> Fürstbischof selber den Fälschern auf den<br />
Le<strong>im</strong> gegangen war. Der Fürstbischof nahm es den beiden Professoren<br />
außerdem sehr übel, daß sie mit dem Namen Jehovas Mißbrauch<br />
getrieben hatten; er bezeichnete ECKHARTs Verhalten als „unchristlich―<br />
und entzog ihm den Auftrag, die Geschichte des Fürstbistums Würzburg<br />
zu schreiben, mit <strong>der</strong> Bemerkung, man sei ja jetzt nicht mehr sicher, ob<br />
ECKHART nicht vielleicht auch fürstbischöfliche Akten und<br />
Archivdokumente fälschen werde. ECKHART zog sich ins Privatleben<br />
zurück und starb vier Jahre darauf. RODERIQUE verließ Würzburg und<br />
vertauschte die wissenschaftliche Laufbahn mit dem Journalistenberuf.<br />
Balthasar NEUMANN verlor dezenterweise kein Wort über die<br />
Falsifikate, die auch ihn so sehr getäuscht und enttäuscht hatten. Der<br />
Fürstbischof ließ die Akten über den Fall schließen; erst zwei<br />
Jahrhun<strong>der</strong>te später kamen sie wie<strong>der</strong> ans Licht. BERINGER hat die<br />
erste Auflage seines Werkes nur deshalb von einem Buchhändler<br />
aufkaufen lassen, um eine zweite Auflage mit einem geän<strong>der</strong>ten Vorwort<br />
vorzubereiten. Unbeirrbar blieb er bei seiner Meinung, die meisten<br />
Figurensteine hätten mit ECKHARTs und RODERIQUEs Tat nichts zu<br />
tun; sie seien echt. Er gab zu, daß ihm „durch Nei<strong>der</strong> etliche<br />
Fälschungen in die Hände gespielt― worden seien. Aber er erklärte <strong>im</strong><br />
gleichen Atemzug: „Deshalb sind nicht alle gefundenen Figurensteine<br />
unecht, ebensowenig wie alle alten Münzen o<strong>der</strong> alten Kunstwerke<br />
unecht sind, weil es Falschmünzerei und Kunstfälschungen gibt.― Mit<br />
beredten Worten versuchte BERINGER den Nachweis zu erbringen,<br />
daß es unmöglich sei, in so kurzer <strong>Zeit</strong> so viele Bildsteine zu fälschen,<br />
und daß nichts an den Fundstellen auf frische Grabungsspuren<br />
hingedeutet habe. […]<br />
Bitterböse griff er ECKHART an: „So sucht dieser Dunkelmann und<br />
Neidling in wahrhaft schandbarer Weise die Morgenröte seines Ruhmes<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 392<br />
in Verleumdung und Betrug.― 14 Jahre lang, bis zu seinem Tod, kämpfte<br />
<strong>der</strong> Würzburger Professor vergeblich für die Rehabilitierung seiner<br />
geliebten Bildsteine. Und gerade dieser donquichottische Kampf war es,<br />
<strong>der</strong> jene Legenden schuf, durch die BERINGER vollends lächerlich<br />
gemacht wurde. Und nicht nur er, son<strong>der</strong>n auch die große<br />
wissenschaftliche Richtung, die er – scheinbar – vertrat.―<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
12<br />
12.1 LEIBNIZ und Siegfried RÖSCH als Brückenbauer<br />
zwischen Natur- und Geisteswissenschaften<br />
Ein Zusammenhang zwischen LEIBNIZ’ genealogischer Arbeitsweise<br />
und mo<strong>der</strong>ner Genealogie soll an einer Gegenüberstellung zweier<br />
allgemeiner Arbeitsweisen aufgezeigt werden, die die interdisziplinäre<br />
Stellung <strong>der</strong> Genealogie beson<strong>der</strong>s betonen. Zum einen sei hier aus<br />
einem Vortrag des Historikers Alois SCHMID, München, einiges zitiert,<br />
den er 1996 auf <strong>der</strong> Tagung zum 350. Geburtstag von Leibniz in<br />
Wolfenbüttel gehalten hat. Der Vortag wurde veröffentlicht in: Studia<br />
Leibnitiana Son<strong>der</strong>heft 28, 1999, S. 126- 147 und war betitelt: „Die<br />
Herkunft <strong>der</strong> Welfen in <strong>der</strong> bayerischen Landeshistoriographie des 17.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts und bei Gottfried Wilhelm Leibniz.―<br />
Die an<strong>der</strong>e Arbeitsweise stammt von dem Naturwissenschaftler und<br />
Genealogen Prof. Siegfried RÖSCH; und zwar aus <strong>der</strong> Einleitung seines<br />
Buchs: „Goethes Verwandtschaft. Versuch einer<br />
Gesamtverwandtschaftstafel mit Gedanken zu <strong>der</strong>en Theorie―, Verlag<br />
Degener, Neustadt/Aisch 1956. Dieses Buch besteht aus zwei Teilen:<br />
einem theoretischen (A) und einem speziellen Teil (B), zu letzterem<br />
gehört noch ein Statistikteil <strong>der</strong> Verwandtschaft Goethes (C) sowie<br />
Namens- und Ortsregister (D). Gesamtumfang: 76 + 460 Seiten.<br />
Zuerst sei Alois SCHMID zitiert: „Leibniz trennte zwischen<br />
Pr<strong>im</strong>ärquelle und sekundärer Überlieferung, er suchte gezielt den<br />
zeitgenössischen Beleg: „weilen aber contemporaneis scriptoribus<br />
ungezweifelt zu erweisen.― Er strebte danach „dem zweifel aus dem<br />
grund ab[zu]helffen―, und bemühte sich deswegen zum „beßern beweiß―<br />
um die zusätzliche Absicherung eines Faktums durch den<br />
Mehrfachbeleg. Doch war er Praktiker genug zu wissen, daß dieses<br />
methodische Postulat für die frühen <strong>Zeit</strong>en oftmals nicht zu erfüllen war.<br />
Zur Schließung von Überlieferungslücken gestand er ausnahmsweise<br />
auch die Verwendung unsicherer Belege und notfalls auch nur den<br />
Analogieschluß <strong>der</strong> Wahrscheinlichkeitslogik zu.<br />
Leibniz legte sich also durchaus eine Methodologie <strong>der</strong> Historie<br />
zurecht. Diese brachte er auch bei seiner Bearbeitung <strong>der</strong> Welfenfrage<br />
zur Anwendung. Eines seiner historischen Hauptziele war die<br />
Steigerung <strong>der</strong> Objektivität in <strong>der</strong> Genealogie, die zu einer <strong>der</strong><br />
wichtigsten Grundwissenschaften aufstieg [lei<strong>der</strong> konnte dieses Ziel bis<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 393<br />
Anfang des 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts noch lange nicht erreicht werden! AR].<br />
Deren Bearbeitung wurde von Leibniz zum einen stark an <strong>der</strong><br />
Beweisführung <strong>der</strong> Rechtswissenschaft ausgerichtet, indem er die<br />
Prinzipien des Zeugenbeweises auch auf die historische Quellenkritik<br />
übertrug. Sie lehnte sich aber noch stärker an die Naturwissenschaften<br />
an. Sein beson<strong>der</strong>es Interesse für die Genealogie ist auch <strong>im</strong><br />
Rahmen <strong>der</strong> Ordnungsbemühungen des <strong>Zeit</strong>alters des Barock zu sehen,<br />
das in das endlose Geflecht <strong>der</strong> zwischenmenschlichen<br />
Beziehungen Linien und System zu bringen suchte, weil sie nicht<br />
an<strong>der</strong>s strukturiert seien als die Welt <strong>der</strong> Tiere o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Pflanzen in<br />
<strong>der</strong> Biologie. Deswegen wollte Leibniz gerade die Genealogie, die ihm<br />
die Sehnenstränge <strong>der</strong> Geschichte aufdeckte, nach ganz ähnlichen<br />
Prinzipien bearbeitet wissen wie die Biologie. Es ging ihm darum, alle<br />
dynastischen Verästelungen in ein möglichst überschaubares und klar<br />
geordnetes System einzufangen, das in die Vielheit eine Einheit<br />
brachte, die geradezu in einer Zeichnung umgesetzt werden konnte. In<br />
dieser Absicht hat auch Leibniz Welfen-Stemmata erarbeitet. Gerade in<br />
<strong>der</strong> Genealogie kamen die Ordnungsvorstellungen <strong>der</strong> aufsteigenden<br />
Naturwissenschaften des mathematisch-geometrischen <strong>Zeit</strong>alters zur<br />
Anwendung. …― (aus: Alois SCHMID: Die Herkunft <strong>der</strong> Welfen in <strong>der</strong><br />
bayerischen Landeshistoriographie des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts und bei<br />
Gottfried Wilhelm LEIBNIZ, 1999, in Studia Leibnitiana 28, Son<strong>der</strong>heft ).<br />
In diesem Sinne hat Siegfried RÖSCH wie wohl keiner vor und auch<br />
bis dato nach ihm, die zeitgenössische Genealogie auf ein erweitertes<br />
Fundament gestellt, das neuere methodische Fortschritte bündelt und<br />
weiterführen kann.<br />
RÖSCH stellt seine große Goethe-Gesamtverwandtschaftstafel auf eine<br />
breite Grundlage und macht dazu einen geeigneten Vorschlag für eine<br />
angemessene Darstellung des bisher erforschten umfangreichen<br />
Materials zur gesamten(!) Goethe-Genealogie (Ahnenschaft und<br />
Seitenverwandtschaft!). Lassen wir uns die allgemeinen Gesichtspunkte<br />
hierfür von ihm selbst schil<strong>der</strong>n, die er 1955 verfaßt hat:<br />
„Die Genealogie ist eines <strong>der</strong> Gebiete menschlicher<br />
Geistesbetätigung, die uns beson<strong>der</strong>s eindringlich die Begriffe des<br />
Unendlichen und des Endlichen vor Augen führen. Die Zahl <strong>der</strong><br />
Generationen, die vor uns waren und die nach uns kommen werden,<br />
wird uns stets unerforschlich bleiben: Wir können sie als unendlich groß<br />
ansehen, ebenso die Zahl <strong>der</strong> Individuen, die bisher die Erde bevölkert<br />
haben, und <strong>der</strong>, die sie noch bevölkern werden. Denn we<strong>der</strong> unsere<br />
biologische Erfahrung und theoretischen Kenntnisse, noch die<br />
geologischen Funde reichen aus, uns über das Werden und die<br />
Entwicklung <strong>der</strong> Menschheit ein auch nur annäherndes zahlenmäßiges<br />
Bild zu machen. Die universelle Tendenz <strong>der</strong> belebten Natur, durch<br />
Teilung die Individuenzahl zu vergrößern, beherrscht allerdings unser<br />
Denken <strong>im</strong> Sinne einer Entwicklung <strong>der</strong> Menschheit von kleinen<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 394<br />
Anfängen zu <strong>im</strong>mer größerem Umfang, doch ohne sichere<br />
Anhaltspunkte für den quantitativen zeitlichen Verlauf.<br />
Der Forscher aber, <strong>der</strong> Genealogie treiben will, muß irgendwo diese<br />
stets ins Unendliche entgleitende, unfaßbar scheinende Masse<br />
anpacken, muß ein Koordinatensystem aufstellen: Es ist <strong>der</strong> erste<br />
Grundsatz je<strong>der</strong> Sippenforschung, daß sie einen „Nullpunkt“<br />
haben, daß sie monozentrisch, individualistisch sein muß. Die<br />
ganze Monotonie <strong>der</strong> Geschlechterfolgen, aber auch ihre Zielstrebigkeit,<br />
ihr Bezug auf ein Individuum, wird uns, in dichterischer Verwebung mit<br />
<strong>der</strong> „heiligen Siebenzahl― schon eindrucksvoll vorgeführt in den ersten<br />
Versen des Matthäus-Evangeliums. So greifen wir aus <strong>der</strong> Fülle eine<br />
best<strong>im</strong>mte „Familie― o<strong>der</strong> eine „Sippe― heraus, können diese selbst aber<br />
nur beschreiben, indem wir willkürlich (meist durch den Beginn unserer<br />
historischen Kenntnis best<strong>im</strong>mt) die Familie von einem „Stammvater―<br />
ableiten o<strong>der</strong> eine Ahnenfolge auf einen „Probanden― beziehen.<br />
Die Einzelergebnisse <strong>der</strong> Forschung haben daher meist auch nur für<br />
die Angehörigen <strong>der</strong> speziellen Sippe Interesse. Darüber hinaus aber<br />
ist es sowohl vom biologischen Standpunkt als auch infolge <strong>der</strong><br />
Beziehungen zur großen Kultur-, Menschheits- und Erdgeschichte<br />
nicht müßig, die Einzelsippe in vernünftiger Weise statistisch zu<br />
verarbeiten, um so allgemeinere Gesichtspunkte zu erkennen. So<br />
läßt sich vielleicht <strong>der</strong>einst Genaueres über die einer Sippe<br />
innewohnende „Lebenskraft― ableiten, unter Berücksichtigung und in<br />
Beziehung zu den äußeren zeitlichen und örtlichen Lebensumständen,<br />
um nur eines <strong>der</strong> Ziele solcher Forschungen anzudeuten. Wenig ist in<br />
dieser Hinsicht heute schon getan, viel Material aber liegt zur<br />
Verarbeitung bereit.<br />
Während für die genealogische Einzelforschung meist <strong>der</strong> Grundsatz<br />
gilt, daß „je<strong>der</strong> sich selbst <strong>der</strong> Nächste― ist, daß man also die eigene<br />
Sippe zunächst bearbeitet (es sei denn, man ist berufsmäßiger<br />
Sippenforscher o<strong>der</strong> man beschäftigt sich wissenschaftlich mit<br />
speziellen Fragen), scheint mir für eine Erläuterung <strong>der</strong> allgemeinen<br />
Prinzipien und Arbeitsweisen <strong>der</strong> Sippenstatistik kein besseres Beispiel<br />
sich zu bieten als <strong>der</strong> Sippenkomplex um Goethes Person: Genügend<br />
weit <strong>der</strong> Gegenwart entrückt, um auch in <strong>der</strong> Nachkommenentwicklung<br />
übersehbar zu sein – trennt uns doch von <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> von Goethes Geburt<br />
<strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>raum von 6 Generationen [inzwischen sind weiter 2<br />
dazugekommen!], - doch nicht so weit abliegend, daß nicht zahllose<br />
Fäden und Beziehungen noch lebendig sind, ist die Familie eines <strong>der</strong><br />
größten Deutschen nicht bloß wissenschaftlich mehrfach und gut, wenn<br />
auch nur bruchstückhaft, bearbeitet und durch zahllose Bestrebungen,<br />
eigene Blutsverwandtschaft mit Goethe nachzuweisen, auch oft bis in<br />
ferne Zweige verfolgbar, son<strong>der</strong>n sie lohnt auch solche Mühe durch<br />
ihre vielseitigen und harmonischen Verflechtungen mit vielen<br />
deutschen Stämmen und Län<strong>der</strong>n, mit fast allen Berufsschichten<br />
und Lebenskreisen, so daß man den Verwandtschaftskreis um Goethe<br />
vielleicht als den typischen deutschen ansehen, sicher aber als ein<br />
klassisches Beispiel für den vorliegenden Zwecke nutzen kann.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 395<br />
Was hier an Daten- und Gedankenmaterial vorgelegt wird, ist <strong>der</strong><br />
bescheidene Beitrag nur eines Forschers, <strong>der</strong> dazu sich nicht als<br />
Fachmann bezeichnen darf, da er nur in den Musestunden [=<br />
Mußestunden, ein sympathischer Schreibfehler! A.R.] sich mit dieser<br />
seiner Liebhaberei beschäftigt hat. Es ist aber zu hoffen, und bei <strong>der</strong><br />
Existenz verschiedener ähnlicher Bestrebungen zu vermuten [hier in<br />
Fußnote Hinweis auf Arbeiten von E. E. ROESLE (Tial-Ahnentafel) und<br />
auf anglikanische Forschungen], daß aus <strong>der</strong> Zusammenarbeit mehrerer<br />
Forscher allmählich etwas erwächst, was man „quantitative<br />
Genealogie“ nennen könnte. Im speziellen Fall <strong>der</strong> Goethe-<br />
Verwandtschaft wäre erfreulich, wenn die vorliegende<br />
zusammenfassende Veröffentlichung Anregung und Veranlassung gäbe<br />
zu möglichster Vervollständigung des Datenmaterials durch die jeweils<br />
Kundigeren. Der dadurch gewonnene Stoff wird reiche Möglichkeiten zu<br />
wissenschaftlicher Auswertung bieten.<br />
Wenn hier vielleicht zuerst <strong>der</strong> Eindruck erweckt wird, daß ich eine<br />
beson<strong>der</strong>e Vorliebe zum Ausklügeln neuer Bezeichnungen und<br />
Symbole hätte, so wird doch eine nähere Beschäftigung mit <strong>der</strong> Materie<br />
erweisen, daß solche exaktere Definitionen und ihnen<br />
entsprechende Sinnzeichen dringend nötig sind. Wir dürfen gerade<br />
hierbei nicht vergessen, daß wir am Beginn einer neuen Wissenschaft<br />
stehen. Es war mein Bestreben, Definitionen und Bezeichnungen so<br />
klar und wohlerwogen als möglich zu formulieren, und ich hoffe, daß<br />
sie auch bei weiterem Ausbau <strong>der</strong> Wissenschaft sich bewähren mögen.―<br />
In seinem Vorwort geht Rösch noch auf die bisherige<br />
Vorgängerliteratur würdigend ein (Heinrich DÜNTZER, 1894, und Carl<br />
KNETSCH, 1932, und die beiden früher(!) <strong>im</strong> Frankfurter<br />
Goethemuseum jahrzehntelang ausgelegten kreisförmigen<br />
„Ahnensonnen― von Heinrich KAYSER). Im Teil B führt RÖSCH noch<br />
eine Goethe-Genealogie-Literaturliste von 25 weiteren Titeln an. Über<br />
250 Titel zur Goethe-Genealogie findet man jetzt in <strong>der</strong> Internetseite<br />
www.goethe-genealogie.de des Verfassers. In den 40er Jahren hielt<br />
RÖSCH bereits aus seinem gesammelten Material Vorträge in Frankfurt<br />
und Darmstadt mit dem Thema: „Wieviele Verwandte Goethes gibt es?<br />
Gedanken und Versuche zur Sippenstatistik.―<br />
Rösch dankt, wie üblich, all den zahlreichen Helfern, Instituten und<br />
Korrespondenzpartnern und geht dann auf die Kriegsfolgen ein: „Nicht<br />
unerwähnt mag aber bleiben, daß durch solche Abschriften manche<br />
Tatsachen und Daten erhalten bleiben konnten, <strong>der</strong>en Originalbelege<br />
inzwischen vernichtet sind. Wo es irgend anging, wurden außer <strong>der</strong><br />
Sammlung von Daten auch photographische Aufnahmen von lebenden<br />
Personen, von wesentlichen Lokalitäten und vor allem von Bildnissen<br />
und Gemälden (möglichst in Farbe) gemacht; es gelang in <strong>der</strong><br />
Hauptsache, diese Bil<strong>der</strong>sammlung auch durch das Kriegsende<br />
hindurchzuretten, so daß erfreulicherweise von Hun<strong>der</strong>ten von<br />
Gemälden, die <strong>im</strong> Original inzwischen zerstört o<strong>der</strong> verloren sind,<br />
wenigstens noch Farbdiapositive zu etwaiger späterer Rekonstruktion<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 396<br />
verfügbar sind. [Rösch war als wissenschaftlicher Mitarbeiter <strong>der</strong> Fa.<br />
Leitz, Wetzlar und wissenschaftlicher (Leica)-Photograph wie wohl kaum<br />
ein an<strong>der</strong>er hierzu berufen! Nach seinem Tod 1984 hat einer seiner<br />
Söhne dieses umfangreiche Dia-Archiv selektiert und die nichtpersönlichen<br />
Dias an ein Fotoarchiv in Darmstadt abgegeben].<br />
„All diese Momente wären mir nicht zu <strong>der</strong> hier erfolgten Publikation,<br />
die auch keineswegs von Anfang an beabsichtigt war, berechtigt<br />
erschienen. Die Lage hat sich aber durch das Kriegsende und seine<br />
Folgen wesentlich geän<strong>der</strong>t. Zahllose Fäden von Familienbeziehungen<br />
sind zerrissen und können infolge <strong>der</strong> Völkerverschiebungen schwerlich<br />
wie<strong>der</strong> angeknüpft werden. Viele Forscher und manche<br />
Familienverbände und –archive haben ihr Material verloren; die<br />
Beschaffung frühere Literatur ist oft sehr erschwert, ja unmöglich<br />
geworden. Die veröffentlichten Familienstammtafeln sind meist längst<br />
vergriffen, da ihre Auflagen nicht den wachsenden Familien angepaßt<br />
waren; zudem sind sie naturgemäß von <strong>Zeit</strong> zu <strong>Zeit</strong><br />
ergänzungsbedürftig, doch werden nur wenige Familien sich heute einen<br />
Neudruck leisten können. All diese Gründe schienen es zu rechtfertigen,<br />
das bisher gesammelte Material in all seiner Unvollkommenheit und<br />
ohne Möglichkeit, es vor <strong>der</strong> Drucklegung noch in allen Teilen<br />
abzurunden, einmal zu publizieren. Es mag die Rolle eines<br />
Kristallke<strong>im</strong>es spielen, um den sich nach und nach Schichten aus<br />
an<strong>der</strong>en Nährlösungen legen, woraus später einmal ein<br />
wohlgestaltetes Kristallindividuum, ein Mikrokosmos, erwachsen<br />
kann. Vielleicht ist manchem Familienverband ganz lieb, seine<br />
Stammtafel bzw. Nachfahrenliste o<strong>der</strong> Teile daraus in dieser<br />
zentralisierten Form neu veröffentlicht und in den „Goethekreis“<br />
eingefügt zu sehen.―<br />
So viel zur Rechtfertigung des speziellen Teiles, <strong>der</strong> Familienlisten.<br />
Wenn darüber hinaus hier erstmals in etwas in etwas größerem Rahmen<br />
theoretische Erörterungen und ordnungswissenschaftliche<br />
Hilfsmittel bekanntgegeben und angewandt werden, die bisher nur in<br />
<strong>der</strong> Studierstube und in langen Diskussionen <strong>im</strong> Freundeskreis eine<br />
jahrelange Bewährungsprobe bestanden haben, so möchte ich ihnen<br />
den Wunsch mit auf den Weg geben, daß sie auch „draußen― auf<br />
verständnisvolles Wohlwollen stoßen, und daß sie auch bei an<strong>der</strong>en<br />
Forschern sich nützlich und brauchbar erweisen möchten.―<br />
Im Teil C <strong>der</strong> „Statistik <strong>der</strong> Verwandtschaft Goethes“ beschränkt<br />
sich RÖSCH zunächst wegen <strong>der</strong> Lückenhaftigkeit des Materials<br />
hauptsächlich auf reine Zählungen und ihre vergleichenden Darstellung,<br />
da es hier schon genügend Erklärungsbedarf gibt, um klare<br />
Abgrenzungen zu schaffen und mit neuen Methoden sinnvolle<br />
statistische Vergleiche zu an<strong>der</strong>en Genealogien zu ermöglichen.<br />
Soziologische, geographische und erbbiologische Gesichtspunkte hat<br />
RÖSCH zunächst außer Acht gelassen. Hier soll wegen des<br />
zahlenmäßig unregelmäßigen Aufbaus <strong>der</strong> Nachkommenschaften - und<br />
mithin auch <strong>der</strong> Gesamtverwandtschaften (Sippschaftstafeln) -<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 397<br />
gegenüber dem streng mathematischen Aufbaus <strong>der</strong> Ahnentafel, auf<br />
einige solche Schwierigkeiten bei <strong>der</strong> Nachkommenstatistik hingewiesen<br />
werden, die dem Familienforscher meist erst nach jahrelanger<br />
Forscherarbeit, wenn das Datenmaterial größer geworden ist, zum<br />
Bewußt sein kommen. Diese Schwierigkeiten sind wohl auch <strong>der</strong> Grund<br />
dafür, daß gerade dieses Feld auch heute noch kaum vergleichbar zu<br />
an<strong>der</strong>en Genealogien bearbeitet worden ist. Fast jede veröffentlichte<br />
Nachkommenstatistik führt hier ihr isoliertes Eigenleben.<br />
Im ersten Heft des „Genealogischen Jahrbuchs― (1961), einer<br />
Nachkriegspublikationsreihe <strong>der</strong> neugegründeten „Zentralstelle für<br />
Deutsche Personen- und Familiengeschichte zu Berlin― (Sitz Frankfurt a.<br />
M.) hat RÖSCH eine sehr wertvolle Ergänzung zum Theoretischen Teil<br />
A seines Buchs „Goethes Verwandtschaft― veröffentlicht: „Theoretische<br />
und praktische Zählstatistik von Nachkommenschaften.“ Dort heißt<br />
es: „Nichts scheint leichter zu sein, als die Nachkommenschaften eines<br />
beliebigen Menschen, eines Probanden, zu zählen. Wenn nur die in<br />
Frage kommenden Personen und ihre Lebensdaten genau genug<br />
erforscht sind, kann man die Nachkommen insgesamt o<strong>der</strong> nach<br />
Generationen o<strong>der</strong> nach <strong>Zeit</strong>abschnitten, nach Geschlechtern o<strong>der</strong> nach<br />
Berufen o<strong>der</strong> nach geographischen Gesichtspunkten sortiert<br />
zusammenzählen und graphisch darstellen. Ganz so einfach ist es<br />
jedoch nicht, selbst wenn wir das Forschungsmaterial als gegeben<br />
voraussetzen.<br />
Der hessische Altmeister Otfried PRAETORIUS hat <strong>im</strong> März 1959 in<br />
Darmstadt einen bedeutsamen Vortrag („Ahnen- und<br />
Nachkommenzahl―) gehalten, in dem er, in Wie<strong>der</strong>holung und<br />
Erweiterung einer früheren Publikation von 1911 („Eine Gesetzmäßigkeit<br />
in <strong>der</strong> Nachkommenzahl―) zeigt, daß bei konstanter Größe <strong>der</strong><br />
Gesamtbevölkerung <strong>im</strong> statistischen Mittel die „wirksame Zahl <strong>der</strong><br />
Nachkommenschaft“ (nw) mit <strong>der</strong> Generationsnummer k ebenso<br />
wächst wie nach rückwärts die Zahl <strong>der</strong> Ahnen a, nämlich nach<br />
Potenzen von 2, daß also nw k = a k = 2 k ist; bei wachsen<strong>der</strong> o<strong>der</strong><br />
abnehmen<strong>der</strong> Gesamtbevölkerung tritt zu 2 k noch ein von 1<br />
abweichen<strong>der</strong> Faktor. Dieser Vergleich von Vorfahren- und<br />
Nachfahrenschaft [identisch mit Nachkommenschaft] mit seinem<br />
zunächst überraschend einfachen Ergebnis bildet zugleich ein<br />
beson<strong>der</strong>s gutes Beispiel für die zwei grundverschiedenen, aber<br />
gleichwichtigen mathematischen Betrachtungsweisen: Die<br />
Ahnenschaft mit ihrem klaren und ausnahmefreien Aufbau (je<strong>der</strong><br />
Mensch hat 2 Eltern, nicht mehr und nicht weniger) ist ein Repräsentant<br />
für die Arithmetik mit ihren eindeutigen Zahlen, die<br />
Nachkommenschaft an<strong>der</strong>erseits für die mathematische Statistik:<br />
Zufallswerte <strong>im</strong> Einzelfall, aber Regelmäßigkeiten in den Mittelwerten<br />
großer Mengen!<br />
Die Praetorius’sche Betrachtungsweise setzt voraus, daß in <strong>der</strong><br />
Nachkommenschaft jede Person wie<strong>der</strong>um Nachkommen hat (dies ist<br />
<strong>der</strong> Sinn <strong>der</strong> von PRAETORIUS „wirkende Zahl― genannten<br />
Nachkommen-Anzahl, die wir oben mit nw bezeichneten); sie ist damit<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 398<br />
ein völliges Analogon zur Ahnenschaft, bei <strong>der</strong> ja auch nur „fruchtbare―<br />
Personen auftreten. Irgendwie hat man aber bei dieser Art <strong>der</strong><br />
Nachkommen-Zählung ein ungutes Gefühl, sozusagen ein „schlechtes<br />
Gewissen―: Werden doch dabei alle Personen ohne Nachkommenschaft<br />
(z. b. ein Johannes BRAHMS, ein Wilhelm BUSCH, ein Papst PIUS XII.,<br />
eine Annette v. DROSTE-HÜLSHOFF) den verstorbenen Säuglingen<br />
gleichgesetzt und unbeachtet gelassen. O<strong>der</strong> ins Gebiet <strong>der</strong><br />
biologischen Züchterpraxis übertragen, würde es bedeuten, daß man die<br />
Leistungsfähigkeit eines Hühnervolkes an den ausgebrüteten, wie<strong>der</strong><br />
legenden Hühnern mißt und die ganzen vom Menschen verzehrten Eier<br />
und Brathähnchen unbeachtet läßt! Die an<strong>der</strong>e naheliegende Zählweise,<br />
stets alle Kin<strong>der</strong> als Individuen zu zählen, liefert sicherlich zu große<br />
Zahlen, in früheren Publikationen [1956: „Goethes Verwandtschaft Teil<br />
A―] habe ich die so gewonnenen Zahlen mit n bezeichnet und dabei die<br />
„physische Nachkommenanzahl“ np unterschieden von <strong>der</strong><br />
„theoretischen Nachkommen-Anzahl“ nt in Fällen von Nachkommen-<br />
Implex infolge von Verwandtenheiraten (so daß also die mehrfach vom<br />
Probanden abstammenden Personen einmal o<strong>der</strong> mehrmals gezählt<br />
werden). […].<br />
Da nun nw meist zu niedrige, nt bzw. np meist zu hohe Zahlenwerte<br />
liefern, könnte man daran denken, eine <strong>der</strong> Wirklichkeit besser<br />
entsprechende Funktion zu finden, indem man nicht alle Geborenen (nt,<br />
np) o<strong>der</strong> nicht bloß die wie<strong>der</strong> mit Nachkommenschaft versehenen<br />
Personen (nw) zählt, son<strong>der</strong>n etwa alle Geborenen, die mindestens<br />
das 20. Lebensjahr erreicht haben nm(20); diese Festlegung enthält<br />
allerdings noch <strong>im</strong>mer eine gewisse Willkür, auch ist die Zählung<br />
schwieriger und erfor<strong>der</strong>t oftmals Schätzungen, wenn das Datenmaterial<br />
nicht ausreicht―. […] RÖSCH stellt hier die einzelnen<br />
Nachkommenschaftszählungen, ausgehend von Steffen POFF, den<br />
Stammvater Familie BUFF, zu <strong>der</strong> z. B. „Goethes Lotte aus Wetzlar―<br />
gehört, an verschiedenen Kurven gegenüber und schreibt: „Es ist nicht<br />
ohne Interesse, die Lage einer solchen Kurve nm(20) <strong>im</strong> Vergleich zu nt<br />
und nw zu studieren. Liegen die Werte nt und nm(20) nahe zusammen,<br />
so bedeutet dies eine geringe Kin<strong>der</strong>sterblichkeit, eine Annäherung von<br />
nm(20) und nw deutet auf starke Heiratsfreudigkeit und Fruchtbarkeit<br />
hin. Jedenfalls fällt nm(20) stets zwischen nt und nw.―<br />
Eine weitere Zählweise, die <strong>der</strong> Praetorius’schen „wirksamen―<br />
Betrachtungsweise nw hinsichtlich <strong>der</strong> statistischen Annäherung an die<br />
Beziehung nw k = a k = 2 k eigentlich noch exakter entsprechen müßte,<br />
habe ich RÖSCH aufgrund theoretischer Überlegungen <strong>im</strong> Jahre 1979<br />
vorgeschlagen. Und zwar nur alle Personen zählen, die nicht nur einmal<br />
Nachkommen hatten, son<strong>der</strong>n nur solche betrachten, die bis in die<br />
Gegenwart, bzw. zur betrachten jüngsten Generation noch<br />
Nachkommen hatten. Nennen wir sie zunächst einmal lebendige<br />
Nachkommen nl. Diese Zählweise hat seinerzeit RÖSCH als<br />
„Zahlenmensch― – z. B. leidenschaftlicher Pr<strong>im</strong>zahlforscher! – tief<br />
beeindruckt. Am 26. Juli 1979 schrieb mir <strong>der</strong> 80-jährige RÖSCH:<br />
„Lieber Herr <strong>Richter</strong>! Die kleinste Ihrer Sendungen, die Postkarte vom<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 399<br />
18. Juli (heute kam <strong>der</strong> Brief vom 24. Juli, <strong>der</strong> bereits dankend bestätigt,<br />
aber später erst gelesen wird), ist schuld daran, daß ich 3 Tage lange<br />
alles an<strong>der</strong>e liegen ließ und, da ich wegen Schmerzen (in den Beinen)<br />
zu nichts an<strong>der</strong>em Lust hatte, mich ans Zeichnen und ein Geduldsspiel<br />
machte. Das Ergebnis sehen Sie hier!<br />
[ein riesiges auf Mill<strong>im</strong>eterpapieren gezeichnetes und aneinan<strong>der</strong><br />
geklebtes Schema, das die generationsmäßige Auszählung aus seiner<br />
großen Nachkommensliste <strong>der</strong> Familie BUFF von 1953-1955 nach den<br />
einzelnen Zählweisen schaubildlich darstellte, d. h. die einzelnen<br />
Abstammungslinien <strong>der</strong> Personen über 12 Generationen sichtbar<br />
machte. Insgesamt umfaßt diese Nachkommenschaft über 2500<br />
bekannte Nachkommen nt. Die einzelnen Ergebnisse hat er dann noch<br />
tabellarisch und kurvenmäßig auf Logarithmenpapier dargestellt. Meine<br />
Auszählung hatte ich nur bis zur 9. Generation durchgeführt].<br />
Ihre „lebendige Kin<strong>der</strong>zahl― bzw. Praetorius’ „wirksame―, meine―<br />
Durchläufer- o<strong>der</strong> perennierende Personen― ließen mir keine Ruhe, und<br />
da ich ein ausgesprochener Empiriker bin, probierte ich einmal das<br />
Beispiel Buff bis zur Generation XII durch; bis dahin ist das Material<br />
zwar sicher noch längst nicht komplett, aber darüber liegen die „noch<br />
nicht ausgelebten― Generationen und gar zu viele Lücken. Das Bild ist<br />
lange nicht so schön geworden, als ich wollte, denn erst zu spät sieht<br />
man, was man hätte besser machen können. Zuletzt ging mir die Geduld<br />
be<strong>im</strong> Zeichnen aus (rechts oben); aber die roten Punkte und die grünen<br />
Kringel dürften etwa st<strong>im</strong>men.<br />
Ich habe Sie doch hoffentlich richtig verstanden: Es geht uns doch um<br />
die Personen <strong>der</strong> Nachkommenschaft, die noch bis in eine best<strong>im</strong>mte<br />
Generation (z. B. die XII.); Sie gingen nur bis zur IX.) o<strong>der</strong> bis zu einer<br />
best<strong>im</strong>mten <strong>Zeit</strong> (etwa 1900, 1953) selbst Nachkommen haben? Das<br />
sind die bei mir grün markierten. Man kann über das Ergebnis<br />
mancherlei grübeln.<br />
So z. B. hätte man aus <strong>der</strong> Generation III alle Personen Nr. 1/14, 17,<br />
19/21 tot schlagen o<strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Generation 429-100 = 329 Glie<strong>der</strong> nach<br />
Sibirien verbannen können, ohne daß die heutige Buff-Sippe <strong>im</strong><br />
Geringsten an<strong>der</strong>s wäre!― – Be<strong>im</strong> Betrachten <strong>der</strong> graphischen<br />
Darstellung auf Logarithmenpapier habe ich den Eindruck, daß das<br />
gewünschte Naturgesetz „So viele Nachkommen (solcher Art!) wie<br />
Ahnen― schon ganz gut sich bemerkbar macht, vor allem an <strong>der</strong><br />
Parallelität <strong>der</strong> Kurvenstücke zur Geraden 2 k . Die anfänglichen<br />
Zickzacklinien sind belanglos (Gesetz <strong>der</strong> kleinen Zahlen). Bei<br />
zunehmen<strong>der</strong> Materialkenntnis werden die Punkte nach oben<br />
verschoben werden. Wenn man aber die „Bezugsgeneration― langsam<br />
weiter zum Unendlichen hin rückt (bei gleichem Material), werden die<br />
grünen Zahlen kleiner werden. Ihr Abstand von <strong>der</strong> roten o<strong>der</strong><br />
schwarzen Zahl gibt erst Auskunft über die „Sippenquantität―, die<br />
Fruchtbarkeit einer Familie.<br />
Wenn Sie sich lange genug an den Zeichnungen erfreut haben (o<strong>der</strong><br />
sich Kopien hergestellt haben, wie ich Sie kenne), darf ich um<br />
gelegentliche Rücksendung bitten. Ich will sie dann wahrscheinlich<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 400<br />
Herrn Dr. Buff in Lippstadt für sein Familienarchiv geben. Mit<br />
freundlicher Begrüßung! S. Rösch―<br />
Auch über das „Aussterben von Familien“ tritt RÖSCH einer<br />
allgemein sehr verbreiteten Meinung in seiner o.g. Arbeit entgegen:<br />
„Hermann von SCHELLING hat treffend gesagt (in: „Studien über die<br />
durchschnittliche Verflechtung innerhalb einer Bevölkerung“, Jena<br />
1945), daß eine Nachkommenschaft, die durch 3 Generationen einmal<br />
eine gewisse Breite erreicht habe, praktisch nicht mehr aussterbe. Diese<br />
tiefsinnige Erkenntnis scheint <strong>im</strong> Wi<strong>der</strong>spruch zu stehen mit <strong>der</strong> häufig<br />
zu findenden Bemerkung, jemand sei „<strong>der</strong> Letzte seines Stammes―, ein<br />
berühmtes Geschlecht „ruhe nur noch auf 2 Augen― usf. In <strong>der</strong> Tat<br />
beobachtet <strong>der</strong> Forscher <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong>, daß <strong>im</strong> Großen gesehen früher<br />
berühmte und weit verbreitete Namen heute kaum mehr vorkommen,<br />
daß offenbar jede Familie ähnlich wie ein Menschenindividuum<br />
irgendwann „geboren― wird, eine gewisse Anzahl von Jahren<br />
(Jahrhun<strong>der</strong>ten) lebt und blüht, um dann <strong>im</strong> Nichts zu versinken. Solche<br />
Überlegungen sind ebenso berechtigt wie interessant, sie beziehen sich<br />
aber auf Angehörige <strong>der</strong> „Stammfamilie―, also Träger des gleichen<br />
Familiennamens, während die Gesamt-Nachkommenschaft trotz des<br />
Namensaussterbens unbegrenzt weiterwachsen kann: Das Blut <strong>der</strong><br />
Stammeltern erbt sich durch die Töchter mit an<strong>der</strong>en Namen fort.<br />
Die zahlenmäßigen Beziehungen zwischen Namensträgern und<br />
Töchter-Nachkommen habe ich in meiner Anmerkung 3 zitierten Schrift<br />
ausführlich dargelegt [„Goethes-Verwandtschaft―, Neustadt/Aisch 1956,<br />
Teil A; verkürzt jetzt auch in meiner <strong>GeneTalogie</strong>-Internetseite unter<br />
www.genetalogie.de/schema/sfam.html ]. Dort ist auch als Beispiel die<br />
Familie FEUERLEIN behandelt, bei <strong>der</strong> in 7 Generationen unter 1579<br />
Nachkommen nur 50 Namensträger (die letzten in <strong>der</strong> 5. Generation)<br />
auftreten, während durch Töchterheiraten 356 neue Familiennamen<br />
„eingebracht― werden.― Der Familienname FEUERLEIN ist in diesen<br />
Zweigen ausgestorben, die Nachkommenschaft selbst blüht noch heute.<br />
In <strong>der</strong> gleichen Arbeit hat RÖSCH „Die Nachkommen Karls des<br />
Großen“ behandelt, auf die hier nur noch kurz eingegangen werden<br />
soll, da aufgrund dieses Beispieles hier erstmals ein Nachkommen(!)-<br />
Implex (= „Nachkommenschwund―) an einer größeren<br />
Nachkommenschaft, den Karolinger-Nachkommen, exakt berechnet<br />
worden ist. Doch ich zitiere hier zunächst RÖSCHs Einleitung, da sie<br />
wohl von allgemeiner geneTalogischer Bedeutung ist: „Dieser<br />
Abschnitt soll einer speziellen Nachkommenschaft gewidmet sein,<br />
die uns alle angeht. Es ist wohl nicht zu viel gesagt, daß dieser<br />
Personenkreis das universellste Interesse bei Familienforschern findet.<br />
Es ist ja nicht nur die Befriedigung einer stolzen Hoffnung, eine<br />
Ahnenreihe bis zu Karl dem Großen zu führen, son<strong>der</strong>n es spielt noch,<br />
mehr o<strong>der</strong> weniger bewußt, einiges an<strong>der</strong>e mit: So ist die Genealogie<br />
des Dynastenhauses <strong>der</strong> Karolinger von allen <strong>Zeit</strong>genossen die weitaus<br />
bekannteste, weshalb ja wohl jede bis ins Mittelalter zurückverfolgbare<br />
Ahnenreihe irgendwo in sie einmündet; darüber hinaus aber haben wir<br />
noch heute ein scheues Gefühl, daß es sich um beson<strong>der</strong>e Menschen<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 401<br />
gehandelt hat. Könnten wir nachweisen, daß wir von Karls Küchenchef<br />
o<strong>der</strong> von einem Steinmetzen <strong>der</strong> Aachener Kaiserpfalz abstammen (was<br />
sehr wahrscheinlich auch zutrifft), so würde uns das wohl wesentlich<br />
gleichgültiger sein, und ich glaube, nicht bloß wegen des höheren<br />
sozialen Ranges Karls. Sei dies, wie es will: Wir dürfen froh sein, daß<br />
wir für die frühste europäische Genealogie ein so hervorragendes<br />
wissenschaftliches Werk besitzen wie den Brandenburg [Erich<br />
BRANDENBURG: Die Nachkommen Karls des Großen. Leipzig<br />
(Zentralstelle für deutsche Personen.- u. Familiengeschichte) 1935], in<br />
dem nach bester damaliger Quellenkenntnis und mit ungewöhnlichem<br />
Wissen durch 13 Generationen hindurch einerseits die sicheren,<br />
an<strong>der</strong>erseits die wahrscheinlichen Nachkommen Karls verzeichnet sind.<br />
Ich möchte hier zu diesem auch heute noch grundlegenden Werk<br />
einerseits einige statistische Auswertungen geben, an<strong>der</strong>erseits einige<br />
Berichtigungen zusammenstellen, die wohl willkommen sind, da das<br />
Werk in zahllosen Fällen zu Rate gezogen, verwertet und abgeschrieben<br />
und eine Neuauflage nicht so bald zu erwarten sein wird. Sachliche<br />
Ergänzungen und Berichtigungen zu geben, halte ich mich als<br />
Nichthistoriker nicht für berechtigt. Es ist aber nicht zu leugnen, daß<br />
solche vielfach erwünscht wären, was Vergleiche mit mo<strong>der</strong>nen<br />
mittelalterlichen Genealogien erweisen [Fußnotenverweis auf: Walther<br />
MÖLLER, Wilhelm Karl v. ISENBURG, Eberhard WINKHAUS und<br />
Gaston SIRJEAN], die jedoch ihrerseits durchaus nicht stets<br />
untereinan<strong>der</strong> übereinst<strong>im</strong>men.―<br />
RÖSCHs großes Verdienst war es zunächst, eine zweiseitige Liste<br />
von Berichtigungen, Ergänzungen und Hinweisen zu BRANDENBURGs<br />
Werk zusammengestellt zu haben.<br />
Er schreibt dazu u. a.: ―So lästig die Berichtigung einer solch langen<br />
Liste auch ist, so ist dies sicherlich noch angenehmer, als wenn die<br />
Fehler <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> weiter abgeschrieben werden, o<strong>der</strong> wenn je<strong>der</strong><br />
Forscher die mühsame und unproduktive Kleinarbeit wie<strong>der</strong>holt, die hier<br />
schon einmal gemacht ist. Das Brandenburgsche Buch gewinnt<br />
hierdurch wesentlich.― Über die 2858 von Brandenburg innerhalb von 13<br />
Generationen zusammengestellten Personen schreibt RÖSCH: „Dies<br />
scheint nicht sehr viel zu sein. Man bedenke aber einerseits, daß es sich<br />
um Nachweise von Menschen und Tatbeständen handelt, die rund ein<br />
Jahrtausend zurückliegen; dies macht die Forscherleistung schon<br />
beachtenswerter. Zum an<strong>der</strong>en aber muß bedacht werden, daß all diese<br />
Menschen vielfach innerhalb ihres Kreises heirateten, so daß sie oft<br />
mehrfacher Karolingerabkunft sind. Diese Verhältnisse sollen nun näher<br />
betrachtet werden.―<br />
Zur Implexberechnung hat RÖSCH zunächst von allen diesen<br />
Personen ihre sogenannten biologischen Verwandtschaftsgrad gb<br />
(Einzelwerte) und g’b (summarisch) berechnet. Im Durchschnitt haben<br />
die Personen schon in <strong>der</strong> 8. Generation eine doppelte Abstammung,<br />
und in <strong>der</strong> 13. Generation bereits eine 10-fache Abstammung von Karls<br />
dem Großen aufzuweisen, wobei das Extrem hier bei einer 64-fachen(!)<br />
Abstammung liegt. Später hat RÖSCH in an<strong>der</strong>en Studien von<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 402<br />
dynastischen Personen späterer Generationen<br />
Abstammungshäufigkeiten berechnet, die bei Gegenwartspersonen , z.<br />
B. Prinz Wilhelm Karl v. ISENBURG,. 1903-1956,<br />
großenordnungsmäßig bis in die Millionen gehen. Diese quantitativen<br />
Hinweise sollen hier genügen. Diese intensive Karolinger-Beschäftigung<br />
hat RÖSCH später den Auftrag <strong>der</strong> „Zentralstelle für Personen- u.<br />
Familiengeschichte― eingebracht, die Nachkommen Karls des Großen<br />
einer mo<strong>der</strong>nen Bearbeitung aufgrund <strong>der</strong> neueren geschichtlichen und<br />
genealogischen Literatur neu zu bearbeiten, woraus dann das<br />
weitverbreitete Werk RÖSCHs „Caroli Magni Progenies“ von 1977<br />
hervor gegangen ist, auf das wir jetzt noch näher eingehen wollen.<br />
Aus einer Verlagsankündigung sei hier zunächst nur folgendes zitiert:<br />
“Rösch’s Werk will keinesfalls eine Neuauflage des „Brandenburg“<br />
sein: Der Charakter dieses neuen Buches ist an<strong>der</strong>s: Abkehr von<br />
<strong>der</strong> Tabellenform, dafür gut geglie<strong>der</strong>te, erweiterungsfähige Listen,<br />
Einflechtungen <strong>der</strong> Biographien, <strong>der</strong> Bezüge zur<br />
Allgemeingeschichte, Beschränkung auf diejenigen Generationen<br />
und Personen, die in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nsten Literatur fachhistorisch und<br />
kritisch erfaßt sind. Darüber hinaus Ausblicke und Ansätze zu einer<br />
biologisch-genetischen, einer statistischen Genealogie, wie sie<br />
jetzt „in <strong>der</strong> Luft liegt“. Mit diesem Band, <strong>der</strong> allerdings erst 7<br />
Filialgenerationen umfaßt, wird ein Beispiel mo<strong>der</strong>ner Darstellung<br />
und Interpretation genealogischen Geschehens gegeben, das<br />
weitgehende Beachtung verdient. In weiteren Bänden sollen<br />
Folgegenerationen dieser „Caroli Magni Progenies“ ihre<br />
Bearbeitung finden. Das Buch wird unentbehrlich sein.“ (aus dem<br />
Verlagsprospekt des Verlag Degener & Co. Neustadt/Aisch 1977).<br />
Dem Autor ist die Vorgeschichte zu diesem großen Werk zum Teil aus<br />
persönlichem Erleben mit RÖSCH und auch aus seinem<br />
genealogischen Nachlaß einigermaßen gut bekannt. Dazu hier einige<br />
Anmerkungen, da sie für die interdisziplinäre Wissenschaftsgeschichte<br />
wohl von einigem Interesse sein dürfte. Vorangegangen war eine etwa<br />
15-jährige intensive Beschäftigung RÖSCHs mit <strong>der</strong> Nachkommenschaft<br />
Karl des Großen; zunächst ab 1950 auf <strong>der</strong> Basis des großen Werkes<br />
von Eberhard WINKHAUS: „Ahnen zu Karl dem Großen und<br />
Widukind in 756 Ahnenstämmen“ von 1950 und einem<br />
Ergänzungsband dazu von 1953, mit nochmals ca. 500 Ahnenstämmen<br />
(Selbstverlag Ennepetal-Altenvoerde/Westfalen). Listenmäßig waren<br />
hier alle Ahnenstämme einer großen Probanden -Ahnentafel, die bis zur<br />
Karolinger <strong>Zeit</strong> sehr gut erforscht war, alphabetisch aufgelistet (ohne<br />
Ahnennummern, aber mit Generationennummern und vielen<br />
Abzweigungen von Geschwisterahnen!). Eine genealogische<br />
Kulturleistung erster Klasse! Diese beiden Bände hat RÖSCH in<br />
mehreren Anläufen systematisch durchgearbeitet, d.h. bei allen Karls-<br />
Nachkommen die sogenannten CMP-Spektren eingetragen. Das ist<br />
eine knappe symbolische Darstellung für die oben bereits erwähnten<br />
biologischen Verwandtschaftsgrade gb bei Mehrfachverwandtschaft in<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 403<br />
Potenzschreibweise, wobei hier abweichend von <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Mathematik<br />
üblichen Schreibweise die Grundzahl die Generation und die Hochzahl<br />
(Potenz) die jeweilige Häufigkeit bedeutet. Diese CMP-Spektren können<br />
als mathematische Algorithmus-Schreibweise aufgefaßt werden, um<br />
diese Werte elegant summieren zu können, wie es bei den<br />
Eheverbindungen, aber auch be<strong>im</strong> Übergang in die nächst höhere<br />
Nachkommengeneration – den Kin<strong>der</strong>n - erfor<strong>der</strong>lich ist. Bei<br />
Mehrfachverwandtschaft steht <strong>der</strong> summarische biologische<br />
Verwandtschaftsgrade g’b in einem einfachen Verhältnis zum sog.<br />
mittleren biologischen Verwandtschaftsanteil b zweier Individuen<br />
aufgrund <strong>der</strong> genetischen Erbgesetze (bei normalchromosomaler<br />
Vererbung, die hier nur angenommen ist, gemäß den Prinzipien nach<br />
Gregor MENDEL):<br />
b = 1/ 2 g’b und: g’b = - ln b = - 3,3219 . log b<br />
Wobei es sich hier <strong>im</strong> Prinzip darum handelt, einzelne<br />
Verwandtschaftsanteile (negative Zweierpotenzen) zu einem<br />
Gesamtwert zu summieren und aus diesem b-Wert durch<br />
Logarithmieren den biologischen Verwandtschaftsgrad für die<br />
Mehrfachverwandtschaft zu errechnen. Diese von Rösch entwickelte<br />
„Verwandtschafts-Mathematik― kann z. B. auch dazu dienen,<br />
„Ebenbürtigkeiten― von Personen zu vergleichen (z. B. Kandidaten zur<br />
Königs- o<strong>der</strong> Kaiserwahl).<br />
Die von Rösch schon 1950 begonnene Durcharbeitung <strong>der</strong> beiden<br />
WINKHAUS-Bände wurde ab 1960 erneut nochmals konsequent in<br />
Angriff genommen und abgeschlossen, d. h. bei allen Karls-<br />
Nachkommen (CMP-Personen) wurden die entsprechenden CMP-<br />
Spektren (gb- Einzelwertsummen, d. h. noch unausgerechnete g’b-<br />
Werte) eingetragen. Diese außerordentlich arbeitsintensive Leistung<br />
wurde 1966 <strong>im</strong> wesentlichen ohne Rücksicht auf die Angaben <strong>im</strong> o. g.<br />
Werk von Erich BRANDENBURG von 1935 abgeschlossen. Die Werte<br />
sollten zunächst nur in sich konsequent sein, was bis auf eine einzige<br />
Abweichung bei <strong>der</strong> Familie WERL-ARNSBERG auch von RÖSCH<br />
erreicht werden konnte.<br />
Ab 1966 begann RÖSCH mit einer zweiten gewaltigen quantitativen<br />
Genealogie-Arbeit, die sich jetzt über weitere 6 Jahre erstrecken sollte!<br />
Er begann die seinerzeit wichtigste genealogische Quelle zur<br />
europäischen Staatengeschichte auf gleiche Weise zu bearbeiten und<br />
mit WINKHAUS zu vergleichen bzw. konform zu machen. Grundlage<br />
waren die ersten vier Bände <strong>der</strong> „Stammtafeln zur Geschichte <strong>der</strong><br />
europäischen Staaten“ von Wilhelm Karl Prinz von ISENBURG in<br />
<strong>der</strong> 2. verbesserten Auflage von Frank Baron Freytag von<br />
LORINGHOVEN, erschienen von 1953-1957 in Marburg (Verlag J. A.<br />
Stargardt).<br />
In diesen jetzt stammtafelmäßig aufgebauten Werk dem „Isenburg―<br />
führte RÖSCH jetzt die gleiche Arbeit wie seinerzeit be<strong>im</strong> „Winkhaus―<br />
durch, d. h. bei allen CMP-relevanten Geschlechter wurden die CMP-<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 404<br />
Generations-Spektren mit kleinen grünen Zahlen über die jeweiligen<br />
Personen geschrieben. RÖSCH wertete diese Stammtafeln noch weiter<br />
aus als nur bis zur höchsten niedrigsten Generation 13 bei<br />
BRANDENBURG. Ein solches CMP-Spektrum für eine Person aus dem<br />
Hause <strong>der</strong> Herzoge von ZÄHRINGEN und Markgrafen von BADEN<br />
(Tafel 82, Band 1) hatte z.B. für Karl I.von BADEN, + 24.2.1475, das<br />
CMP-Spektrum:<br />
31 2<br />
20 7 21 72 22 360 23 1312 24 2007 25 1766 26 1276 27 702 28 280 29 73 30 13<br />
und für seine Gattin Katharina, +11.9. 1493 , Tochter von Ernst I. von<br />
ÖSTERREICH:<br />
19 2 20 26 21 117 22 222 23 280 24 199 25 132 26 49 27 18 28 3<br />
Daraus folgt durch einfaches Zusammenzählen <strong>der</strong> Potenzen mit<br />
gleicher Grundzahl und Erhöhen des jeweiligen Ergebnisses um eine<br />
Generation folgendes CMP-Spektrum für die Kin<strong>der</strong> dieses Ehepaares:<br />
20 2 21 33 22 189 23 582 24 1592 25 2206 26 1898 27 1315 28 720 29 283 30 73 31 13 32 2<br />
Dieser Wert wurde z. B. in die Tafel 84 (Markgrafen von Baden-<br />
Baden) übernommen und auf den Tafelstammvater: den Sohn des<br />
Ehepaares Christoph I. von BADEN, + 19.4.1527, übertragen. Und meist<br />
hat RÖSCH dann auch wie<strong>der</strong>um für dessen Ehegattin und ihre<br />
gemeinsamen Kin<strong>der</strong> die CMP-Werte fortgesetzt, da er diese Werte<br />
nicht nur für die Karolinger-Nachkommen bis zur 7. bzw. bei<br />
BRANDENBURG bis zur 13. Generation seines Buches benötigte,<br />
son<strong>der</strong>n auch für CMP-Berechnungen späterer Jahrhun<strong>der</strong>te, wie z.B.<br />
für Ottheinrich von <strong>der</strong> PFALZ, 1502-1559, über die er genealogische<br />
Fachaufsätze mit quantitativ-genealogischem Aspekt geschrieben hat.<br />
1972 war auch die vergleichende Arbeit zwischen „Isenburg― zum<br />
„Winkhaus― abgeschlossen und damit zunächst alles quantitativgenealogisch<br />
wichtige Material für sein CMP-Buch-Manuskript<br />
bereitgestellt, das ja mit zahlreichen Berechnungsbeispielen zur<br />
„Quantitativen Genealogie― weit über die ersten 7 bzw. 13<br />
Nachkommengenerationen hinausgeht, z. B. durchgerechnete CM-<br />
Vielfachabstammungsbeispiele für Dynastenpersonen bis zum 16.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t bringt. Aus dem Angeführten dürfte ersichtlich sein, daß<br />
RÖSCH mit seinem „Caroli Magni Progenies―-Werk von 1977 ein sehr<br />
sinnvolle Anwendung für seine „Quantitative Genealogie― gefunden hat,<br />
die er 1956 mit dem Theoretischen Teil A seines Buchs „Goethes<br />
Verwandtschaft― begründet hatte.<br />
Das Werk fand eine überaus positive Aufnahme in <strong>der</strong> genealogischen<br />
Fachwelt, - wenn auch mancher Fachhistoriker sich aus verständlichen<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 405<br />
Gründen in Schweigen hüllte [autodidaktische Kenntnisaneignung eines<br />
Naturwissenschaftlers contra fokussierte geisteswissenschaftliche<br />
Fachgelehrsamkeit!]. Hier sei zunächst ein Brief des bekannten<br />
Geisteswissenschaftlers, Genealogen und Institutsleiters Friedrich<br />
Wilhelm EULER aus Benshe<strong>im</strong> vom 5.8.1977 an RÖSCH<br />
wie<strong>der</strong>gegeben:<br />
„Sehr verehrter, lieber Herr Rösch! Seit Ihr wun<strong>der</strong>bares CMP-Werk<br />
mein bescheidenes Wohnhaus durch die freundliche Post erreicht hat,<br />
habe ich jede freie Viertelstunde mit den eingehenden Studien dieser<br />
ungeheueren genealogischen Perspektive zu verbringen versucht.<br />
Damit bin ich natürlich noch lange nicht am Ende, aber es drängt mich<br />
doch nun Ihnen als dem geistigen Träger dieser Gesamtleistung die<br />
ersten herzlichen Worte des Dankes und <strong>der</strong> verehrenden Anerkennung<br />
zu sagen.<br />
Mit großer Erwartung habe ich diese Arbeit heranreifen sehen und mit<br />
einer gewissen Erleichterung habe ich auch mit vollzogen, daß Sie sich<br />
eine unüberschreitbare Grenze gesetzt haben. Was aber nun tatsächlich<br />
herangereift ist, ist doch weit mehr, als ich es für möglich gehalten habe,<br />
und es bietet in jedem Schritt <strong>der</strong> Entwicklung Gründe genug, die als<br />
Erkenntnis genealogischer Betrachtung Anregung und Vorbild sein<br />
sollten.<br />
Ihr beson<strong>der</strong>er Zugang zur Zahl und zum Zahlenwert, <strong>der</strong> ja schon<br />
mehrfach Anlaß zu grundsätzlichen Betrachtungen und For<strong>der</strong>ungen<br />
war, hat hier in Ihren vorangestellten Ausführungen eine krönende<br />
Gesamtdarstellung gefunden, die schon deshalb so überzeugend ist,<br />
weil sie hier zur Aufschließung des Stoffes selbst verwandt wird. Gerade<br />
das Gebiet <strong>der</strong> dynastischen Forschung ist ja beson<strong>der</strong>s geeignet,<br />
Ihre Deduktion anzuwenden, aber Sie machen auch evident, daß<br />
auf diesem Gebiet Ihre Methode <strong>der</strong> Darstellung unentbehrlich ist.<br />
Das ist mir selbst erst in vollem Maße jetzt aufgegangen und man wird<br />
nur lei<strong>der</strong> sagen müssen, daß nur wenige Gegenstände so würdig sind,<br />
daß man an ihnen die volle Breite dieser Möglichkeiten ganz einsetzen<br />
kann.<br />
Unglaublich ist, was hier an einzelnen Arbeitsvorgängen<br />
vorangegangen sein muß und was hier auch die helfenden Kräfte bis<br />
zum Setzer und Drucker mitgeleistet haben. Das alles konnte nur einer<br />
Persönlichkeit gelingen, die Ihre zielgerichtete Durchsetzungskraft mit so<br />
viel Liebenswürdigkeit, Geduld und Dankbarkeit auf Schritt und Tritt<br />
verbindet. Seien Sie deshalb heute in herzlicher Mitfreude und<br />
Genugtuung gegrüßt und bedankt von einem Ihrer<br />
Gesinnungsgenossen, <strong>der</strong> sich zur hohen Ehre anrechnet, Ihnen da und<br />
dort mit kleinen Hilfen beigestanden zu haben und er nur hoffen darf,<br />
daß dieses würdige Werk auch Leser findet, die es mit dem hier zu<br />
for<strong>der</strong>nden Respekt und mit <strong>der</strong> Bereitschaft benutzen, aus den<br />
gebotenen Erkenntnissen geistigen Gewinn zu ziehen.<br />
Mit herzlichen Wünschen und Grüßen von Institut und Familie an Sie<br />
und die Ihren bin ich stets Ihr Friedrich W. Euler―<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 406<br />
Freilich hatte das Buch wohl hin und wie<strong>der</strong> auch Leser, die die<br />
Verlagsankündigung nicht richtig gelesen hatten und denen es nicht<br />
darum ging, daß die neusten Forschungsergebnisse seit 1935 erst<br />
einmal für die ersten 7. Generationen berücksichtigt wurden, son<strong>der</strong>n<br />
die eine Fortsetzung über Brandenburgs 13 Nachkommengenerationen<br />
hinaus zu finden hofften, um einen Anschluß an die eigene Ahnenschaft<br />
zu finden. Deshalb sei hier auch ein Brief eines enttäuschten Lesers an<br />
den Verlag vollständig zitiert, den ein Artur Conrad FÖRSTE aus<br />
Moisburg bei Buxtehude am 19. 11. 1977 schrieb:<br />
Sehr geehrte Herren! Ich habe dies Buch lei<strong>der</strong> gekauft! Hätte ich es<br />
doch unterlassen! Ich bin enttäuscht über diese Leistung. Warum? Ich<br />
finde überflüssige und unangebrachte Abkürzungen („CMP―,<br />
„Kgsherrschaft―) bei üppiger Raumverschwendung (viele Seiten nur 1/3<br />
o<strong>der</strong> ½ bedruckt!), die das Lesen erschweren und unfreundlich machen.<br />
Warum scheuen Sie sich, <strong>im</strong> Titel die deutsche Sprache zu benutzen<br />
(etwa: Die Nachkommen Karls des Großen, wie bei Brandenburg), wo<br />
doch das Buch in deutscher Sprache geschrieben ist? Angebracht wäre<br />
dieser künstlich gelehrt tuende Titel nur, wenn das ganze Buch<br />
lateinisch abgefaßt wäre. [<strong>der</strong> Faks<strong>im</strong>ile-Nachdruck hat als Haupttitel:<br />
Caroli Magni Progenies und als Untertitel: Die Nachkommen Karls des<br />
Großen; A. R.]. Die Künstlichkeit treibt ihre Blüten in mathematischen<br />
Formeln, die gänzlich unnötig sind. Die Beschränkung auf 7<br />
Generationen läßt die Ankündigung, <strong>der</strong> Brandenburg sei neu<br />
herausgegeben, als „Hochstapelei― erscheinen; denn die Leistungen<br />
sind nicht gleichwertig, son<strong>der</strong>n bei diesem „Rösch― handelt es sich nur<br />
um eine kleine Anzahlung. So empfinde ich es, und so ist es auch [sic!].<br />
Man hätte den „Brandenburg― in <strong>der</strong> bewährten übersichtlichen<br />
Formgebung, aber unter Einschaltung <strong>der</strong> neusten historischen<br />
Quellenkritik, neu herausgeben sollen. Alle die manirierten gelahrten<br />
Zutaten sind überflüssig und abwegig. Bitte lassen Sie diese Kritik mit<br />
dem beiliegenden Durchschlag auch dem Verfasser zukommen. Ich<br />
werde vom Erwerb des „Werkes― alle Freunde und Bekannten abraten.<br />
Hochachtungsvoll! A.C.F.―<br />
Hier noch auszugsweise zwei Fachzeitschriften-Rezensionen, die sich<br />
konkret mit dem sachlichen Inhalt auseinan<strong>der</strong> gesetzt haben. Zunächst<br />
eine von dem bereits oben <strong>im</strong> Kapitel „Goethe als Genealoge―<br />
erwähnten Genealogen Dr. Adalbert BRAUER; erschienen in;<br />
Genealogie (1978), Heft 1, S. 30-31: „… Es kam Rösch dabei zustatten,<br />
daß <strong>im</strong> Jahre 1967 als Band 4 <strong>der</strong> Braunfels’schen Monographie die<br />
fundamentale Arbeit von Karl Ferdinand WERNER („Die Nachkommen<br />
Karls des Großen bis um das Jahr 1000―, Braunfels IV, S. 403 bis 482<br />
mit Falttafel) erschienen war, die die ersten sieben Generationen nach<br />
Karl dem Großen erfaßte. Auf diese sieben Generationen hat sich<br />
bewußt auch Rösch beschränkt, da nur hier so gut wie lückenlos alle<br />
seit 1935 gewonnenen und an verstreuten Stellen publizierten neuen<br />
Erkenntnisse erfaßt sind. Bevor man in das Einzelstudium des mit<br />
unerhörter Akribie abgefaßten Werkes tritt, sollte man die drei sehr<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 407<br />
aufschlußreichen Kapitel von Teil 2 „Textliche Erläuterungen―: 2.1<br />
Rechtfertigung des Unternehmens, 2.2 Historische Wahrheit, 2.3 Die<br />
Asymptote beson<strong>der</strong>s genau durchlesen, man wird dann den Sachinhalt<br />
mit ganz an<strong>der</strong>em Gewinn erfassen. Nicht min<strong>der</strong> wichtig sind die<br />
Einzelbeispiele des nachfolgenden Textes des versierten<br />
Mathematikers und zugleich Kenners <strong>der</strong> gesamten mo<strong>der</strong>nen<br />
genealogischen Literatur Siegfried RÖSCH. […] RÖSCH befaßt sich<br />
auch sehr eingehend mit <strong>der</strong> Ahnenschaft Karls des Großen und hat<br />
bis hier alles erfaßt, was nach dem <strong>der</strong>zeitigen Stand <strong>der</strong> Forschung<br />
erfaßbar ist – bei <strong>der</strong> Dürftigkeit <strong>der</strong> Quellen aus jener <strong>Zeit</strong> wird sich<br />
hieran, wenn es nicht zu ganz unerwarteten Entdeckungen kommt,<br />
kaum noch etwas än<strong>der</strong>n.<br />
Das mit eminentem Fleiß erarbeitete Werk, das alle älteren Werke<br />
über die Nachkommenschaft Karls des Großen ersetzt, gehört nicht nur<br />
in die Hand jedes Genealogen, auch jedes Historikers, nicht nur in<br />
Deutschland, auch in Frankreich. Schließlich war Karl <strong>der</strong> Große<br />
König des Frankenreiches, von dort zog er aus, um weite Teile des<br />
Gebietes, das heute Bundesrepublik Deutschland heißt, nach und nach<br />
zu erobern. Wer in Paris vor die Kirche Notre Dame tritt, sieht rechts ein<br />
großes Denkmal mit <strong>der</strong> Inschrift: Charlemagne et ses Leydes, dort<br />
reitet <strong>der</strong> große Frankenherrscher, ihn begleiten seine Paladine OLIVER<br />
und ROLAND. …―<br />
Noch konkreter auf die inhaltliche CMP-Darstellung und die zukünftige<br />
mo<strong>der</strong>ne EDV-Genealogie geht <strong>der</strong> bekannte Genealoge Ulrich<br />
LAMPERT in <strong>der</strong> Hessischen Familienkunde (1978), H.1, S. 48-49 ein,<br />
woraus ebenfalls abschließend noch das wichtigste zitiert sei:<br />
„Wer bei <strong>der</strong> Erforschung seiner Vorfahren das „Nadelöhr―, das für uns<br />
Mitteleuropäer die <strong>Zeit</strong> des 30jährigen Krieges bedeutet, durchschlüpfen<br />
kann, gelangt automatisch in bürgerliche Familien, die irgendwann einen<br />
Anschluß an die vielfach belegten europäischen Dynasten kennen. Die<br />
heute zur Verfügung stehenden Nachschlagwerke über mittelalterliche<br />
Genealogien wie die Veröffentlichungen von MÖLLER (1922-1951),<br />
ISENBURG (1925), BRANDENBURG (1935), RUOFF (1939),<br />
WINKHAUS (1950-1953) und an<strong>der</strong>en werden von vielen Forschern<br />
eifrig benutzt, obwohl die älteren Ergebnisse durch <strong>im</strong>mer neuere<br />
Forschungen berichtigt und ergänzt wurden und werden.<br />
Siegfried RÖSCHs neue Veröffentlichung einiger Generationen aus<br />
<strong>der</strong> Nachkommenschaft Karls d. Großen „Caroli Magni Progenies“<br />
(CMP) will jedoch über eine verbesserte Neuauflage und<br />
Zusammenfassung <strong>der</strong> früheren Werke hinausgehen und zudem<br />
die Benutzer mit neuen, mo<strong>der</strong>nen und in die Zukunft weisenden<br />
Methoden genealogischer Betrachtungen bekannt machen. Er<br />
erläutert seine Gedanken durch die Darstellung seines Aufbauplans:<br />
Dieser Aufbau beginnt damit, daß jede Person, die selbst wie<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong><br />
hat, ein o<strong>der</strong> mehrere Blätter o<strong>der</strong> Buchseiten erhält, auf denen rechts<br />
oben die dieser Person zukommende „allgemeine Personennummer―<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 408<br />
(APN) in bezug auf die Ausgangsperson steht und zudem weiterer Platz<br />
für die persönliche Numerierung innerhalb <strong>der</strong> AL des Bearbeiters bleibt.<br />
Der darauf folgende Text wird für jede Person nach wohldurchdachtem<br />
Plan einheitlich streng geglie<strong>der</strong>t, wobei <strong>der</strong> „Genealogischen Stellung―<br />
des Probanden zu <strong>der</strong> Bezugsperson eine beson<strong>der</strong>e Bedeutung<br />
zukommt. Hierunter werden mathematische Größen wie „Spezielle<br />
Personennummer― (SPN), „Biologischer Verwandtschaftsgrad― gb bzw.<br />
g’b mit K. d. Gr. (CM) o<strong>der</strong> Anzahl <strong>der</strong> Verwandtschaftswege (Blutlinien)<br />
zu CM verstanden. Die Numerierung einer Nachkommenschaft einer<br />
best<strong>im</strong>mten Ausgangsperson (Proband) wird nach einem sich<br />
eingebürgerten System von allgemeiner Gültigkeit vorgenommen. Das<br />
daher zwangsweise Zustandekommen langer Zahlenreihen ist<br />
unvermeidbar, kann jedoch von Fall zu Fall persönlich abgekürzt<br />
werden. Bei <strong>der</strong> Aufstellung von Ahnenreihen [aus<br />
Nachkommenschaftssymbolen (!) A.R.] ist das auch nicht an<strong>der</strong>s.<br />
[Autoren-Ergänzung zur SPN-Nr.; zitiert nach RÖSCH (S. 22): Bei <strong>der</strong><br />
SPN folgt auf das „Sigel― unseres Werkes CMPd, durch ein ; abgetrennt,<br />
eine Reihe weiterer Buchstaben, teils großer, teils kleiner. Diese geben<br />
Kenntnis vom Abstammungsverlauf des Probanden Schritt für Schritt.<br />
Dabei bedeutet ein Großbuchstabe einen Sohn, ein Kleinbuchstabe<br />
eine Tochter. Der benutzte Buchstabe selbst gibt die<br />
Nummernfolge des Probanden innerhalb seiner Geschwisterschar<br />
an. So bedeutet etwa CMPd; FCdA den erstgeborenen Sohn des vierten<br />
Kindes (einer Tochter) des dritten Kindes (Sohn) des sechsten Kindes<br />
(Sohnes) von CM und meint in diesem Fall den Graf Reginar I. <strong>im</strong><br />
Hennegau [CMPd IV 11= APN-Nr., einer Art „Paßnummer―, laufend<br />
durchnumeriert innerhalb einer Generation]. Die Buchstaben sind hier<br />
in <strong>der</strong> Reihenfolge von hinten nach vorn gelesen. Auch diese<br />
Symbolisierung ist eindeutig. Auch sie bezieht sich auf den kürzesten<br />
bzw. nummernmäßig frühsten Verbindungsweg zwischen CM und dem<br />
Probanden wie die APN. Die Anzahl <strong>der</strong> Buchstaben ist identisch mit <strong>der</strong><br />
römischen Generationsnummer des APN-Symbols. Für statistische<br />
Ermittlungen ermöglicht die SPN ganz an<strong>der</strong>e Auskünfte als die<br />
APN, so daß beide nebeneinan<strong>der</strong> berechtigt sind. Dies rechtfertigt auch<br />
die etwas unverständlich erscheinende Länge <strong>der</strong> SPN-Zeichen,<br />
insbeson<strong>der</strong>e bei höheren Generationen].<br />
Die Einführung <strong>der</strong> Zahl in biografische Zusammenhänge und<br />
Abhängigkeiten o<strong>der</strong> die Übertragung mathematischer Methoden<br />
und Gedankengänge in historisch-biografisches Material ist den<br />
älteren Genealogen überraschend und fremd, dürfte jedoch den<br />
Genealogen <strong>der</strong> Zukunft, denen <strong>der</strong> Umgang mit Computern und<br />
EDV (Elektronische Datenverarbeitung) zur berufsmäßigen<br />
Gewohnheit werden wird, übliches Handwerkzeug sein. Daß dabei<br />
<strong>der</strong> neuen computergerechten Art <strong>der</strong> Datenschreibung: Jahr-Monat-<br />
Tag-Stunde usf. schon heute eine gewisse, vor allem international<br />
Bedeutung zukommt, sei erwähnt.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 409<br />
Nach 35 Seiten theoretischer Betrachtungen über<br />
Verwandtschaftsgrad, Mehrfachverwandtschaft (= Ahnenkonzentration)<br />
und ihre Bedeutung, Erforschtheitsgrad in einer Ahnenschaft – bei <strong>der</strong><br />
die bisher übliche Angabe in %-Anteilen verlassen wird<br />
[ es ist aber diese Formel für i k bzw. I k als Verhältnisbruch auf Seite 44<br />
angegeben! A.R.]. – und auf die Bedeutung <strong>der</strong> gründlichen Erforschung<br />
<strong>der</strong> jüngeren Generationen hingewiesen wird, folgt <strong>der</strong> „Spezielle Teil―.<br />
Nach einer kritischen Betrachtung <strong>der</strong> bisherigen Ergebnisse <strong>der</strong><br />
Arbeiten über die Vorfahren CM werden sein Lebenswerk, biologische<br />
Angaben über ihn, über Handschrift und Siegel u.a. beschrieben. Dann<br />
folgt die Beschreibung <strong>der</strong> Nachkommen bis in die 5. Generation mit<br />
Ausblicken auf die 6. und 7. unter Berücksichtigung aller bisher<br />
veröffentlichten und allgemein anerkannten Tatsachen. Lehrreich ist<br />
dabei die Gegenüberstellung <strong>der</strong> Angaben für jede einzelne Person bei<br />
verschiedenen Autoren. [Hier seinen außer dem bereits genannten Werk<br />
von WERNER (1967) und BRANDENBURG (1935) noch WINKHAUS<br />
(1950/53), STROHMEYERs „Merian-Ahnen― (1963/68), RÜBEL-BLASS<br />
/RUOFF (1939) und von ISENBURG (1953/57) genannt.<br />
Abweichungen o<strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>sprüche werden durch Hinweise<br />
aufgedeckt, so daß eine Diskussion durch Sachkundigere<br />
ermöglicht wird, was auch ein beson<strong>der</strong>es Verdienst dieses Werkes<br />
darstellt. A. R.].<br />
Die umfangreiche mehr als 10 Seiten umfassende Literaturauswahl<br />
erhebt zwar „keinen Anspruch auf Vollständigkeit―, bietet dem Leser<br />
jedoch wertvolle Hinweise. 5 Register erschließen das Buch. Für den<br />
auch <strong>der</strong> „Theoretischen Genealogie“ aufgeschlossenen<br />
Familienforscher ist das Studium dieses neuen Werkes unseres<br />
Ehrenvorsitzenden ein Leckerbissen beson<strong>der</strong>er Art, <strong>der</strong> eine<br />
Überfülle von Anregungen bringt. Wir sind ihm dafür dankbar.―<br />
Siegfried RÖSCH hat neben dem genealogischen Bezugspunkt<br />
GOETHE von 1956 mit seinem CMP-Buch von 1977 als weiteren<br />
wichtigen Bezugspunkt KARL DEN GROSSEN in die mo<strong>der</strong>ne<br />
mitteleuropäische Genealogie eingeführt. In seinem allerersten Brief am<br />
„1973.03.10― schrieb mir Prof. RÖSCH als letzten Satz:<br />
„Übrigens scheint mir heute neben [zwe<strong>im</strong>al unterstrichen!]<br />
GOETHE, dem „großen Deutschen“ für eine europäische<br />
Universalgenealogie <strong>der</strong> sinnvollste Bezugspunkt und Proband<br />
KARL DER GROSSE zu sein, zu dessen Nachkommenschaft ich z.<br />
Zt. als Neuauflage des Brandenburg“ (1935) die erste Lieferung zu<br />
bearbeiten „verurteilt“ bin.“<br />
Anfangs schrieb RÖSCH in seinem handschriftlichen Brief: „Es freut<br />
mich, in Ihnen einen <strong>der</strong> wenigen wirklichen Leser meiner „quantitativen<br />
Genealogie― kennen zu lernen und ein so aufgeschlossenes Interesse<br />
für mo<strong>der</strong>ne und zukünftige Entwicklung unserer genealogischen<br />
Wissenschaft bei Ihnen vorzufinden. Sie haben offenbar bemerkt, dass<br />
ich zielbewußt stets an eine solche Zukunft <strong>der</strong> Genealogie auf<br />
allgemeinster Basis gedacht habe, und darauf beruht ja auch z. B. mein<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 410<br />
lebhaftes Einsetzen für die DK in <strong>der</strong> Genealogie (was bei <strong>der</strong> Mehrzahl<br />
<strong>der</strong> wie Briefmarkensammler nur ihre eigenen Ahnen zählenden<br />
Familienforscher wenig Wi<strong>der</strong>hall findet), weil ich sie für die<br />
computergerechte Art <strong>der</strong> Aufarbeitung von Literatur und Aktenmaterial<br />
halte.―<br />
Im Geiste seiner mo<strong>der</strong>n ausgerichteten „Quantitativen Genealogie―<br />
habe ich mich seitdem stets bemüht, in den sicheren genealogischen<br />
Fußspuren von Siegfried RÖSCH weiter zu wandeln und auch meine<br />
eigenen geneaTalogischen Entdeckungen <strong>im</strong> inhaltlichen Sinne seiner<br />
„Quantitativen Genealogie― und ihrer Nomenklatur zu verankern und<br />
weiter auszubauen. Hier denke ich beson<strong>der</strong>s an die Erweiterung <strong>der</strong><br />
„Quantitativen Genealogie― um die X-chromosomale Verwandtschaft,<br />
die ja nun auch durch die Ergebnisse <strong>der</strong> allerneusten mikromolekularen<br />
Genom-Forschung ihre beson<strong>der</strong>e Berechtigung erhalten hat. Damit<br />
meine ich auch die Ergebnisse innerhalb <strong>der</strong> medizinischen und<br />
populationsgenetischen Forschung und Statistik, die meine These „von<br />
<strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Mittlerrolle X-chromosomaler Gene bei <strong>der</strong><br />
Ausprägung geistiger Eigenschaften“ untermauern. Interessierte<br />
Leser muß ich hier auf meine <strong>GeneTalogie</strong>-Internetseite<br />
www.genetalogie.de verweisen.<br />
Hier fehlen allerdings noch die Angaben zum Ergebnis <strong>der</strong> wohl<br />
größten bis dato veröffentlichten Ahnentafel-Analyse eines<br />
dynastischen Probanden, von König Ludwig II. von BAYERN, 1845-<br />
1886. Diese Rechenergebnisse sind in meinem Buch „Die<br />
Geisteskrankheit <strong>der</strong> bayerischen Könige Ludwig II. und Otto. Eine<br />
interdisziplinäre Ahnentafelstudie mittels Genealogie, Genetik und<br />
Statistik mit einer EDV-Programmbeschreibung von Weert Meyer―, 220<br />
Seiten, Neustadt/Aisch 1997 (Verlag Degener), enthalten. Die beiden<br />
bayerischen Königsbrü<strong>der</strong> sind hinsichtlich <strong>der</strong> höheren<br />
Ahnengenerationen repräsentativ für die mitteleuropäische<br />
Dynastenschaft, da die meisten Mehrfachahnen dieser Ahnentafel auch<br />
fast <strong>im</strong>mer die häufigsten Mehrfachahnen in den an<strong>der</strong>en großen<br />
deutschen Dynastenahnentafeln sind, wie bereits <strong>der</strong> große Genealoge<br />
Erich BRANDENBURG, 1868-1946, bei seinen weit erforschten<br />
Ahnentafeln <strong>der</strong> Probanden FRIEDRICH DER GROSSE, MARIA<br />
THERESIA, AUGUST DER STARKE und Karl August von SACHSEN-<br />
WEIMAR, festgestellt hatte, die er von 1934 bis 1943 veröffentlicht hat.<br />
Die mitteleuropäischen Dynasten bilden ja ein gemeinsames eng<br />
miteinan<strong>der</strong> verflochtenes Verwandtschaftsnetz, wie es nur bei dieser<br />
Gesellschaftsschicht sich in dieser Ausprägung darbietet, wenn man von<br />
einigen eng verflochtenen Gebieten mit kleinen bäuerlichen<br />
Heiratskreisen (Isolate wie Gebirgsdörfer u. ä.) einmal absieht.<br />
Das neue an <strong>der</strong> Ahnentafelanalyse <strong>der</strong> beiden bayerischen Könige<br />
ist, daß <strong>der</strong>en Ahnen nicht nur in einfach und mehrfach vorkommende<br />
Ahnen – hier jeweils mit allen Ahnennummern – eingeteilt worden sind,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 411<br />
son<strong>der</strong>n auch noch nach einer Klassifikation, die dadurch ausgezeichnet<br />
ist, daß sie diejenigen Ahnentafelplätze bzw. Ahnen angibt, bei denen<br />
eine X-chromosomale Vererbung überhaupt genetisch möglich ist. Alle<br />
Ahnentafelplätze bei denen, eine Abstammung (und mithin Vererbung!)<br />
vom Vater auf den Sohn erfolgt, scheiden hierfür aus! Auf diese<br />
Tatsache in voller Klarheit habe ich wohl als erster 1979 in <strong>der</strong><br />
genealogischen Fachzeitschrift „Archiv für Sippenforschung―)<br />
begründend hingewiesen und bei dieser Gelegenheit noch entdeckt, daß<br />
die Anzahlen <strong>der</strong> Personen für die eine<br />
X-chromosomale Vererbung auf den Probanden genetisch nur in Frage<br />
kommen kann, von Generation zu Generation mathematischharmonisch<br />
nach den Zahlen des „Goldenen Schnittes― wächst, den<br />
berühmten Fibonacci-Zahlen. D. h. <strong>der</strong> prozentuale Anteil <strong>der</strong> X-<br />
chromosomalen Ahnen innerhalb einer Generation wird <strong>im</strong>mer kleiner,<br />
da die Gesamtzahl <strong>der</strong> Ahnen als geometrische Potenzreihe 2 k wächst,<br />
die <strong>der</strong> X-chromosomalen Ahnen hingegen nur gemäß <strong>der</strong><br />
arithmetischen Fibonacci-Reihe ansteigt. Diese Arbeit habe ich meinem<br />
verehrten Genealogie-Lehrer und späteren väterlichen Freunde zu<br />
seinem 80. Geburtstag gewidmet.<br />
Das Analysenergebnis <strong>der</strong> großen Ahnentafelanalyse ist mittels eines<br />
von Herrn Studienrat Weert MEYER entwickelten EDV-Programmes<br />
berechnet und ausgedruckt worden. Es hat einen Umfang eines vollen<br />
Büro-Ordners an sog. Mehrfachahnenlisten (MAL) und zweier gefüllter<br />
Ordner mit sog. Generations-Spektrums-Listen (g’b-Listen, siehe oben!).<br />
Eine geraffte Ergebnisdarstellung dieser großen Ahnentafelanalyse ist in<br />
meinem o. g. Buch von 1997 in 27 Anhangseiten als geraffte<br />
Gesamtstatistik abgedruckt. Dabei mußte auf den Klartext aller Namen<br />
(Familien- und Vornamen) verzichtet werden. Von je<strong>der</strong> Ahnennummer<br />
wurde aber sortiert(!) nach <strong>der</strong>en biologischen Gewichtigkeit (Rangfolge<br />
innerhalb einer Generation) angegeben:<br />
Ahnen-Nummer (v),<br />
Häufigkeit (z)<br />
durchschnittlicher<br />
biologischer<br />
Verwandtschaftsgrad (gs) und<br />
summarischer biologischer Verwandtschaftsgrad<br />
(g’b)<br />
Auch <strong>der</strong> sog. „genetische Fingerabdruck―, <strong>der</strong> erst seit etwa 1990 in<br />
Gebrauch ist und u. a. in Kr<strong>im</strong>inalistik und zur Vaterschaftsfeststellung<br />
bekanntlich seinen Siegeszug angetreten hat, hat schon mit dazu<br />
beigetragen, die Genealogie <strong>im</strong>mer mehr interdisziplinär einzubinden<br />
(DNA-Genealogie), wie es schon <strong>im</strong>mer ein Herzensanliegen von mir<br />
war. RÖSCHs Hoffnung, daß seine „Quantitative Genealogie― die Rolle<br />
eines Kristallke<strong>im</strong>es einn<strong>im</strong>mt, um den sich nach und nach Schichten<br />
aus an<strong>der</strong>en Nährlösungen legen, woraus später einmal ein<br />
wohlgestaltetes klares Kristallindividuum, ein Mikrokosmos, erwachsen<br />
kann, ist ein längerer Prozeß. Daß neu ausgerichtete Betrachtungs- und<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 412<br />
Arbeitsweisen auch <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> auf Wi<strong>der</strong>stand und Gleichgültigkeit<br />
stoßen, ist ja aus an<strong>der</strong>en Wissenschaftsgebieten hinreichend bekannt,<br />
sogar auf dem Gebiete <strong>der</strong> Naturwissenschaften. Ich darf hier den<br />
großen Physiker und Nobelpreisträger Max PLANCK, 1858-1947,<br />
zitieren:<br />
„Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in <strong>der</strong> Weise<br />
durchzusetzten, daß ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt<br />
erklären, son<strong>der</strong>n vielmehr dadurch, daß die Gegner allmählich<br />
aussterben und daß die heranwachsende Generation von vornherein mit<br />
<strong>der</strong> Wahrheit vertraut gemacht ist.―<br />
Zur Person als „Mann <strong>der</strong> Wissenschaften― gibt Prof. Dr. phil. nat.<br />
Siegfried RÖSCH eine wun<strong>der</strong>schöne Selbstbiographie in einem<br />
Festkolloquium anläßlich seines 70. Geburtstages, zu dem er von<br />
seinen beiden früheren „Arbeitgebern―, <strong>der</strong> Universität Gießen (Fakultät<br />
für Mineralogie und Petrologie) und <strong>der</strong> Ernst Leitz GmbH, Optische<br />
Werke Wetzlar) aufgefor<strong>der</strong>t worden war. Wir gegeben sein<br />
Vortragsmanuskript hier gekürzt um die Hinweise auf Titel und Inhalt <strong>der</strong><br />
angehängte Literaturliste wie<strong>der</strong>, da daraus sichtbar werden dürfte, daß<br />
die von mir gewählte Zusammenstellung <strong>der</strong> Namen LEIBNIZ und<br />
Siegfried RÖSCH ihre Berechtigung in sich trägt. Beide waren sie<br />
Menschen, denen <strong>der</strong> Rang eines homo universalis zukommt. LEIBNIZ<br />
war ein solcher, dem allgemein das Verdienst zugesprochen worden ist,<br />
daß er als Letzter alle Wissenschaften des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts noch<br />
gleichermaßen kompetent beherrschte und überblickte, wie keiner vor,<br />
neben und nach ihm.<br />
Alle Wissenschaften des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts kompetent zu beherrschen<br />
ist heute natürlich keinem Menschen mehr aufgrund <strong>der</strong> ungeheueren<br />
Ausbreitung und Differenzierungen <strong>der</strong> Wissenschaften mehr möglich.<br />
Aber es dürfte wohl in Deutschland des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts nur ganz<br />
wenige Wissenschaftler geben, die auf so zahlreichen und<br />
unterschiedlichen Wissensgebieten so erfolgreich gearbeitet und<br />
veröffentlicht haben. Daß ich mit diesem großen Menschen die letzten<br />
10 Jahre seines Lebens von 1973 bis zu seinem Tode 1984 engstes<br />
befreundet sein durfte, gehört für mich - neben meiner eigenen Familie -<br />
zum allergrößten Glück und dem schönsten Jahrzehnt meines Lebens.<br />
Bei unseren gegenseitigen Besuchen in München und Wetzlar wurde<br />
mir Siegfried RÖSCH über den gemeinsamen Interessenaustausch<br />
hinaus auch noch zum väterlichen Freund. Gleich bei einem seiner<br />
allerersten Besuche in München, zeigte er mir gelegentlich gerade<br />
günstiger Lichtverhältnisse und Spiegelungen an meinem Eßbesteck<br />
„GOETHES farbige Schatten― wie GOETHE sie in seiner Farbenlehre<br />
beschrieben hatte. Auch berichtete RÖSCH manches Interessante aus<br />
seiner früheren Münchner Studienzeit mit Rührung an seine großen<br />
Lehrer und Kameraden denkend. So z. B. von damaligen „Münchner<br />
Berühmtheiten―, wie den Physiker Prof. Arnold SOMMERFELD o<strong>der</strong> von<br />
einem seiner Studienkameraden, dem späteren Physiknobelpreisträger<br />
Werner HEISENBERG, <strong>der</strong> aufgrund an<strong>der</strong>er Ablenkungen <strong>im</strong>mer noch<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 413<br />
keine <strong>Zeit</strong> gefunden hatte, endlich sein Doktorexamen abzulegen. Das<br />
hat er dann auch wohl so rasch „hingeschlu<strong>der</strong>t―, daß es „weltbekannt―<br />
wurde, weil sich die beiden für das Hauptfach Physik zuständigen<br />
Professoren Wilhelm WIEN (exper<strong>im</strong>entelle Physik) und Arnold<br />
SOMMERFELD (theoretische Physik) nicht einigen konnten. WIENs<br />
Urteil lautete sinngemäß „bodenlose Ignoranz― , während<br />
SOMMERFELD erklärte, bei dem Doktoranden HEISENBERG handele<br />
es sich um „ein einmaliges Genie―. Man einigte sich schließlich auf die<br />
Note III. Das ist die Note, mit <strong>der</strong> die schwächsten Kandidaten gerade<br />
noch passieren. Vielleicht rettete ihn auch seine gute Note I <strong>im</strong><br />
Nebenfach Mathematik, wo er später <strong>im</strong> Rahmen <strong>der</strong><br />
Quatentenmechanik und Unschärferelation Geniales leisten sollte, in<br />
dem er erst einmal eine mathematische Methode (Matrizenrechnung)<br />
erfinden mußte, um zu seinen Aussagen und Entdeckungen zu<br />
kommen. -<br />
Doch jetzt endlich zur Wissenschaftsbiographie des Gelehrten<br />
Siegfried RÖSCH, des „Helden dieses Kapitels―, <strong>der</strong> in seiner<br />
liebenswürdig zurückhaltenden Art eher wissenschaftlich einem <strong>im</strong><br />
Verborgenen blühenden Veilchens gleicht als einem Wissenschaftler <strong>der</strong><br />
Öffentlichkeit. Mit dem „Rösch’schen Farbkörper“ ging sein Name<br />
allerdings wohl in jedes Fachlehrbuch <strong>der</strong> Farbenmetrik ein, das als<br />
Koordinaten-Körpermodell die sog. Opt<strong>im</strong>alfarben anschaulich<br />
demonstriert, die vom österreichischen Nobelpreisträger Erwin<br />
SCHRÖDINGER 1924 erstmals exakt formelmäßig beschrieben worden<br />
sind. Sogar GOETHE hat nach Meinung von RÖSCH die Opt<strong>im</strong>alfarben<br />
schon vorahnend als ganz beson<strong>der</strong>e Farben erkannt und mehrfach<br />
unbewußt in seiner großen Farbenlehre auch beschrieben, wie RÖSCH<br />
in einer seiner frühen Wissenschaftspublikation von 1931 in <strong>der</strong><br />
<strong>Zeit</strong>schrift „Die Naturwissenschaften― berichtet hat.<br />
Nachfolgend nun <strong>der</strong> biographische Manuskripttext von Professor<br />
Siegfried RÖSCH, <strong>der</strong> wohl für sich mit Recht in Anspruch nehmen<br />
kann, auch ein wun<strong>der</strong>schönes Kabinettstückchen deutscher Stilkunst in<br />
Prosa zu sein.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
12.2 Siegfried RÖSCH: 50 Jahre <strong>im</strong> Dienste <strong>der</strong><br />
Wissenschaft<br />
Vortrag <strong>im</strong> Mineralogischen Institut <strong>der</strong> Universität Gießen am<br />
„1970.07.03― <strong>im</strong> Rahmen eines Festkolloquiums anläßlich seines 70.<br />
Geburtstages (15.6.1969):<br />
1. [Einleitung und Lehrer]]<br />
„Wenn Menschen in das Alter kommen, das die Bibel <strong>im</strong> 90. Psalm als<br />
das normale Grenzalter bezeichnet, so beginnen sie oft, über sich selbst<br />
nachzudenken. Ihre Gedankenwelt bekommt eine historische Note. Sie<br />
erzählen gern Anekdoten aus ihrem Leben, schreiben Memoiren,<br />
arbeiten Testamente aus. Man soll diese Geisteshaltung nicht als eine<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 414<br />
übermäßige Ichbezogenheit anprangern. Sie entspringt einerseits einer<br />
gesunden und berechtigten Kritik dessen, was man selbst geleistet hat<br />
und was das Schicksal einem bescherte, an<strong>der</strong>erseits dem ebenso<br />
verständlichen Wunsch, das, was man glaubt als Wichtigstes während<br />
des Lebens für sich, für die Seinen o<strong>der</strong> gar für die Allgemeinheit<br />
erarbeitet zu haben, über das eigene kurze Dasein hinaus zu erhalten<br />
und in das lebendige Gefüge <strong>der</strong> Umwelt hineinzubauen.<br />
Da mir die Instanz, <strong>der</strong> ich mich mit am stärksten zugehörig fühle, die<br />
auch am meisten seiner Berufsausbildung entspricht, das<br />
Mineralogische Institut <strong>der</strong> Gießener Universität, heute<br />
freundlicherweise Gelegenheit zu einem solchen Rechenschaftsbericht<br />
gibt, so benutze ich sie gern und dankbar <strong>im</strong> Sinn einer solchen<br />
Inventaraufstellung von begonnenen Projekten, die ich Kollegen o<strong>der</strong><br />
Nachfolgern als Anregung, als aussichtsreiche Rud<strong>im</strong>ente, zur<br />
Fortführung o<strong>der</strong> Vollendung weitergeben möchte. Denn lei<strong>der</strong> ist, wie<br />
dies bei einer hauptberuflichen Beschäftigung in einem<br />
Industrieunternehmen während eines Dritteljahrhun<strong>der</strong>ts nicht an<strong>der</strong>s<br />
erwartet werden kann, vieles nur begonnen und dann als „zunächst<br />
unproduktiv― zurückgestellt worden, und die Anzahl <strong>der</strong> Schüler und<br />
Mitarbeiter ist dabei naturgemäß auch klein geblieben.<br />
Drei Männer habe ich vorwiegend meinen äußeren Lebensweg und<br />
auch meine Arbeitstechnik zu verdanken. Als ich vor 50 Jahren nach<br />
zweijähriger Lazarettzeit mit dem Studium begann, fügte es sich, daß<br />
mein erstes „öffentliches Auftreten― ein Seminarvortrag <strong>im</strong> Heidelberger<br />
Geologischen Institut war. Der Seminarleiter Prof. [Wilhelm]<br />
SALOMON-CALVI , [1868-1941], lobte, wie üblich, den sachlichen<br />
Inhalt, ja, er veranlaßte dann sogar die Drucklegung des Vortrages, aber<br />
seine weiteren Worte sind mir unvergeßlich geblieben: „Merken Sie sich:<br />
eine Rede ist keine Schreibe!―, und ich handelte danach und habe bis<br />
zum heutigen Tag nur noch einmal (es war eine Festrede) einen Vortrag<br />
vom Manuskript abgelesen. Von Prof. Viktor GOLDSCHMIDT, [1853-<br />
1933], in Heidelberg, dessen offizielle „Audienzzeit― morgens 5 Uhr war<br />
(er empfing in Pantoffeln und Schlafrock, auch wenn es sich um den<br />
Bürgermeister von Heidelberg handelte), lernte ich die Ruhe <strong>der</strong> frühen<br />
Morgenstunden zur geistigen Arbeit schätzen; aber auch sonst hat er<br />
mir in prächtiger, besorgter Weise viel Gutes erwiesen und Wege<br />
geebnet. Schließlich war es Prof. [Max] BEREK, [1886-1949], <strong>der</strong> mich,<br />
zuerst fast gegen meinen Willen, nach Wetzlar holte, und <strong>der</strong> mir <strong>im</strong>mer<br />
ein väterlicher Freund und leuchtendes Vorbild blieb (wenn er auch in<br />
seiner Tageseinteilung und als Raucher das gerade Gegenteil von<br />
GOLDSCMIDT war!).<br />
2. [Mineralogie, Geologie, Petrographie, Reflektographie]<br />
Die ersten wissenschaftlichen Gebiete, die mich noch während des<br />
Studiums in Heidelberg (bei V. GOLDSCHMIDT, WÜLFING,<br />
SALOMON-CALVI, LENARD), in München (bei SOMMERFELD,<br />
GROTH, KIENLE u. a.), in Leipzig (bei RINNE, WIENER, DEBYE,<br />
WEICKMANN u. a.) zu eigener Beschäftigung anregten, waren<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 415<br />
Geophysik und Petrographie. Ergebnisse wurden meine ersten<br />
Publikationen über das Erdinnere (1924), eine „chemische<br />
Absolutanalyse― <strong>der</strong> Erde (die zu einer Anzahl von insgesamt etwa 1,3 x<br />
10 50 Atomen führte, was interessante Vergleiche mit EDDINGTONs<br />
„kosmischer Zahl― von 1,6 x 10 79 Protonen bzw. Elektronen <strong>im</strong> Weltall<br />
anregt!) und eine „Petrographie― für ein Handbuch. Bald schon fand ich<br />
aber zu denjenigen Teilwissenschaften, die mich dann während meines<br />
ganzen Lebens vorzugsweise beschäftigen sollten: Kristallographie,<br />
Kristalloptik, Farbenlehre und Edelsteinkunde.<br />
Ebenfalls noch in die Studienjahre fiel die Erfindung <strong>der</strong><br />
„Reflektographie (apparative Methode <strong>der</strong> Kristallgoniometrie mittels <strong>der</strong><br />
Photographie), die nach mathematischer Klärung <strong>der</strong> „Reflexprojektion―<br />
1926 den Inhalt <strong>der</strong> Dissertation in Leipzig bildete und ein gut bewährtes<br />
Hilfsmittel insbeson<strong>der</strong>e zur Auswertung komplizierter Reflexbil<strong>der</strong><br />
wurde. Mehrere mineralogische und physikalische Institute legten sich<br />
Reflektographen zu. Eine Reihe interessanter Forschungsprobleme wie<br />
Vizinalenstudien , Unterscheidung typischer und zufälliger<br />
Oberflächenakzessorien, Lösungserscheinungen an Kristallen, ferner<br />
technologische Dinge wie Gefüge in Stahlkugeln,<br />
Edelsteinschliffprüfungen, kr<strong>im</strong>inalistische Geschoß- und<br />
Rohruntersuchung, Edelsteinidentifizierung, ja Augenerkrankungs-<br />
Frühdiagnosen aus dem Hornhautreflexbild, konnten damals auf<br />
reflektographischem Wege nur kursorisch erprobt werden und harren z.<br />
T. noch <strong>der</strong> gründlichen Erforschung bzw. Anwendung.<br />
Direkt verbunden mit <strong>der</strong> Methodenausarbeitung <strong>der</strong> Reflektographie,<br />
ja diese verlassend, war damals die Beschäftigung mit <strong>der</strong> Theorie <strong>der</strong><br />
Edelsteinbrillanz. Dabei zeigte sich, mit welcher Präzision die Schleifer<br />
früherer Jahrhun<strong>der</strong>te rein empirisch das Opt<strong>im</strong>um eines Diamanten an<br />
Feuer und Reflexion aus dem Material herausholen lernten, wie man<br />
aber auch theoretisch die bestmögliche Facettenanlage für Steine je<strong>der</strong><br />
Lichtbrechung errechnen, und mittels <strong>der</strong> Reflektographie die<br />
Ergebnisse sowohl individuell als auch statistisch nachprüfen kann.<br />
3. [Farbmessung]<br />
Natürlich hatten auch meine Farbenstudien ursprünglich<br />
mineralogischen Charakter. So war die Habilitationsschrift als<br />
programmatische Einleitung zu einem klar geplanten Lebenswerk<br />
gedacht, in dessen Verlauf einerseits die gesamte Farbenwelt <strong>der</strong><br />
Minerale und Edelsteine die dringend nötige, aber noch völlig fehlende<br />
farbmetrische Bearbeitung erfahren, an<strong>der</strong>erseits die weite Vielfalt <strong>der</strong><br />
Polarisations-Interferenzfarben systematisch erforscht und ebenfalls auf<br />
exakte quantitative Grundlage gestellt werden sollte. In beiden<br />
Richtungen kam es jedoch nur zu gelegentlichen kleinen Vorstößen,<br />
denn die Alltags- und Berufsarbeit führte in an<strong>der</strong>e Richtungen, vor<br />
allem aber war die Farbenmetrik selbst erst noch <strong>im</strong> Ausbau begriffen:<br />
1931 wurde ihr eigentlicher Grund durch das sog. CIE-System<br />
(Commision internationale d’éclairage) gelegt. Durch mehr als 40 Jahre<br />
arbeitete ich selbst, vor dem 2. Weltkrieg <strong>im</strong> Deutschen<br />
Farbnormenausschuß, danach <strong>im</strong> FNF (Fachnormenausschuß Farbe),<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 416<br />
dabei aktiv mit. Dort sind neben zahlreichen an<strong>der</strong>en Studien und<br />
begrifflichen Klärungen das Normblatt DIN 5033 (Farbmessung) und die<br />
Deutsche Farbenkarte DIN 6164 entstanden. Auch bei den einleitenden<br />
Schritten zur hoffentlich erfolgreich werdenden Einführung von Leitfäden<br />
über Farbenlehre <strong>im</strong> deutschen Schulwesen aller Stufen durfte ich<br />
mitwirken.<br />
Schon in Leipzig (also vor 1933) begann ich in Erkenntnis des<br />
dringenden Bedarfs an praktisch brauchbaren und theoretisch<br />
befriedigenden Farbmeßgeräten solche für meine eigenen Zwecke zu<br />
entwickeln. Es entstand das „Opt<strong>im</strong>alkolor<strong>im</strong>eter― als visuelles<br />
Farbmeßgerät für beliebige Farbnüancen und Sättigungsgrade und <strong>der</strong><br />
„Spektralintegrator― als mechanisch-optisches Hilfsmittel zur relativ<br />
raschen Ermittlung <strong>der</strong> Farbkennzahl aus je<strong>der</strong> beliebigen spektralen<br />
Intensitätsverteilung, also auf dem Spezialgebiet <strong>der</strong> Farbmetrik ein<br />
Vorläufer heutiger Rechenhilfen. Beide Geräte arbeiteten gut, fielen aber<br />
1944 hier in Gießen dem Bombenkrieg zum Opfer, ohne bisher<br />
wie<strong>der</strong>erstanden zu sein. Dagegen konnte ich von 1945 ab <strong>im</strong> Farblabor<br />
des Wetzlarer Leitzwerkes ein Farbmeßgerät auf <strong>der</strong> Grundlage des<br />
Vergleichs mit Polarisationsinterferenzfarben, das „Leipo―, entwickeln.<br />
Seine Wirkung befriedigte bestens, auch in <strong>der</strong> Kundenpraxis, es mußte<br />
aber aus kaufmännischen Erwägungen zurückgestellt werden. Das<br />
Farblabor selbst wurde bei meiner Pensionierung 1965 aufgelöst.<br />
Eine mühevolle, aber doch erfreuliche und lehrreiche Beschäftigung<br />
während meiner Wetzlarzeit war die in Zusammenarbeit mit 2 Kollegen<br />
erfolgende Herausgabe <strong>der</strong> 2. Auflage von RINNE und BEREKs<br />
„Anleitung zu optischen Untersuchungen mit dem<br />
Polarisationsmikroskop― (1953), wozu uns ein nur schwer lesbares<br />
Manuskript und viele Notizen aus BEREKs Nachlaß zur Verfügung<br />
standen.<br />
Erst <strong>der</strong> Ruhestand bringt jetzt mit <strong>der</strong> Möglichkeit <strong>der</strong> beliebigen<br />
<strong>Zeit</strong>einteilung die Hoffnung, in <strong>der</strong> einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Richtung noch<br />
etwas weiter vorzustoßen. So konnten jetzt wenigstens bei Edelsteinen<br />
erste kleine Monographien gegeben werden über die exakte<br />
Umgrenzung <strong>der</strong> Türkis- und Amethystfarben; Farbmessungen am<br />
Diamanten sind <strong>im</strong> Gang, solche an Smaragd in Vorbereitung. Daneben<br />
habe ich Hoffnung – wenn das Schicksal mir dazu die Frist gönnt -, auch<br />
auf dem Gebiet <strong>der</strong> Interferenzfarbentheorie noch drei seit Jahren<br />
geplante und vorbereitete Kapitel zum Abschluß zu bringen: Eine<br />
quantitative Gesamtschau <strong>der</strong> nichtnormalen Interferenzfarben<br />
(„Brewster-Herschel-Farben―), eine Studie über die noch nie behandelte<br />
Dispersion <strong>der</strong> Doppelbrechung einer rhombischen Substanz in allen<br />
Raumrichtungen, und einen Vorstoß ins Gebiet <strong>der</strong> polynären<br />
Superpositionsfarben („Reuschfarben―), die möglicherweise noch<br />
erhebliche praktische Bedeutung erlangen können.<br />
4.[Mathematik pur - und als Hilfsmittel].<br />
Wenn ich die hier angedeuteten Dinge als den mir vom Schicksal<br />
zugedachten Hauptlebensweg bezeichne, so möchte ich feststellen, daß<br />
ich ihn nicht als unabweichlichen Schienenweg <strong>im</strong> Tal durchlaufen habe,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 417<br />
son<strong>der</strong>n daß er mir stets ein Höhenpfad war, <strong>der</strong> überdies oftmals über<br />
bequeme Pässe hinweg Ausblicke und Verbindungen in an<strong>der</strong>e<br />
Landschaften erlaubte. Mein Lehrer F(riedrich] RINNE hat gern darauf<br />
hingewiesen, daß gerade Studien auf Grenzgebieten zwischen<br />
mehreren Wissenschaftsdisziplinen nicht bloß den eigenen<br />
Horizont erweitern und deshalb beson<strong>der</strong>s befriedigen, son<strong>der</strong>n<br />
daß sie oft zu Gedanken und Funden führen, die dem Spezialisten<br />
mit seinen fachlichen Scheuklappen nicht gekommen wären. Diese<br />
Befruchtung durfte ich mehrfach genießen. Überraschend war dabei,<br />
daß auch die zunächst dilettantische, manchmal nur als Ausspannung<br />
begonnene Beschäftigung mit völlig fremden Wissenschaften stets,<br />
manchmal erst nach Jahren, unweigerlich zu zuerst nicht geahnten<br />
engen Verbindungen zur Farbenlehre o<strong>der</strong> zur Kristallographie führte.<br />
Beson<strong>der</strong>s beglückend erlebte ich dies bei zahlentheoretischen<br />
Problemen, zu denen ich <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> gern meine Zuflucht nehme,<br />
wenn mir <strong>im</strong> Gestrüpp wi<strong>der</strong>sprüchlicher Thesen und Hypothesen o<strong>der</strong><br />
<strong>im</strong> Sumpf von Alltagsbanalitäten an handfesten und eindeutigen<br />
Feststellungen gelegen ist. So ergaben Überlegungen zu dem scheinbar<br />
so s<strong>im</strong>plen, in Wahrheit fast unerschöpflich tiefsinnigen Pascaldreieck<br />
ganz klare Beziehungen zur Dreifarbenlehre, sogar mit praktisch<br />
nützlichen Folgerungen. Offensichtlich erfolgreich war es auch, das<br />
jahrtausendalte Problem <strong>der</strong> Pr<strong>im</strong>zahlordnung einmal mit<br />
kristallographisch geschulten Augen zu betrachten: Es fanden sich<br />
geradezu begeisternd schöne Symmetrie- und Periodengesetze<br />
[Pr<strong>im</strong>zahlen und Polettiperioden]. Es bahnt sich hier mit <strong>der</strong><br />
„exper<strong>im</strong>entellen Zahlenkunde― anscheinend ein ganz neues<br />
Forschungsgebiet an, das noch viele neue Einblicke verspricht. In<br />
Hinsicht auf den „Goldenen Schnitt“ und die eng damit verbundene<br />
„Fibonacci-Zahlenreihe“ spinnen sich neuerdings Fäden zum<br />
gehe<strong>im</strong>en Wirken <strong>der</strong> organischen Natur [Die Ahnenschaft einer<br />
Biene], zur Kunstästhetik und zum Schaffen eines Albrecht Dürers<br />
an [das 16-Quadrat bei Dürer].<br />
Andre Exkursionen in benachbarte Gebiete führten zur Theorie und<br />
Praxis <strong>der</strong> Sonnenuhren, zur Polarisationsoptik und Farbigkeit <strong>der</strong><br />
Regenbögen, zur Theorie und Geschichte <strong>der</strong> Polarisationsapparate und<br />
astronomische Instrumente, wobei es mir ein günstiger Zufall<br />
ermöglichte, den vermutlich originalen NÖRRENBERG-<br />
Polarisationsapparat in Darmstadt zu entdecken. Bei intensiver<br />
Beschäftigung mit <strong>der</strong> Farbwie<strong>der</strong>gabe war es naheliegend, <strong>im</strong><br />
Leitzschen Farblabor durch mehrere Jahre auch die Farbfilme des<br />
Welthandels zu untersuchen und ein eigenes Verfahren zur Prüfung von<br />
<strong>der</strong>en Farbtreue zu entwickeln. Dies führt zur Theorie <strong>der</strong> „vollständigen<br />
Belichtungskurven―, wobei sich interessante Seitenblicke auf die Farben<br />
<strong>der</strong> Sterne ergaben.<br />
5. Genealogie<br />
Offensichtlich spielt in meiner Geistesfunktion das historische Element<br />
eine starke Rolle. Dies beeinflußte nicht nur häufig den Weg meiner<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 418<br />
spezialwissenschaftlichen Studien, son<strong>der</strong>n führte mich auch schon<br />
relativ früh zur menschlichsten <strong>der</strong> Geschichtswissenschaften, zur<br />
Genealogie. Daß es mir hier vergönnt war, neben <strong>der</strong> eigenen Familie<br />
die Verwandtschaftsbeziehungen in <strong>der</strong> Goetheschen und in <strong>der</strong><br />
Buffschen Familie sowie <strong>der</strong> Gießener Professorenschaft intensiver<br />
zu bearbeiten, hat lokale Gründe. Als Naturwissenschafter [kein<br />
Schreibfehler!] reizten und lockten mich aber auch stets die<br />
mathematische Seite <strong>der</strong> Probleme und die statistisch ergründbaren<br />
Gesetzte <strong>der</strong> Erblehre. Auch hier ist eine neue Wissenschaft, eine<br />
statistische, eine „Quantitative Genealogie“ <strong>im</strong> Entstehen, die bei<br />
gehöriger Fortbildung noch tiefe Einblicke in das Naturgeschehen<br />
erhoffen läßt. Begriffe wie „biologischer Verwandtschaftsgrad― (dessen<br />
Zählbarkeit auch bei Mehrfachverwandtschaft),<br />
„Gesamtverwandtschaft―, „Erforschtheitsgrad einer Ahnenschaft―,<br />
„Sippenquantität―, „Umschalungsprinzip― u. a. haben sich als sehr<br />
nützlich erwiesen. Die jetzt in Vorbereitung befindliche großangelegte<br />
CMP [Caroli Magni Progenies] wird wahrscheinlich dazu viel wertvolles<br />
Material liefern können.<br />
6. Ordnungswissenschaft<br />
Neben <strong>der</strong> Leidenschaft für Farben und Kristalle und <strong>der</strong> historischen<br />
Einstellung darf ich bei objektiver Selbstkritik vielleicht als dritten Motor<br />
meiner Handlungs- und Denkweise eine Neigung zur<br />
Ordnungswissenschaft nennen. Als ausgesprochen günstige<br />
Schicksalsfügung muß ich es da bezeichnen, daß ich schon sehr früh<br />
(Mitte <strong>der</strong> 20er Jahre, bei Beginn meiner „Sammeltätigkeit―) sowohl mit<br />
den neu geschaffenen DIN-Formaten bekannt und vertraut wurde, als<br />
auch bald danach mit <strong>der</strong> DK, dem Ordnungssystem <strong>der</strong><br />
Dez<strong>im</strong>alklassifikation.<br />
Beides hat mich sehr geför<strong>der</strong>t und hat mich umgekehrt auch bewogen,<br />
selbst bei <strong>der</strong> Weiterentwicklung dieser wohldurchdachten und<br />
segensreichen Hilfswissenschaft durch Mitarbeit in den entsprechenden<br />
Gremien des DNA mitzuwirken. Beide Hilfsmittel ermöglichten mir, die<br />
als Arbeitsgrundlage dienenden Archivdinge wie Akten, Kartei,<br />
Separata, Bil<strong>der</strong>, <strong>Zeit</strong>ungsausschnitte, Diapositive, Filmnegative,<br />
Präparate, Mineral- u. a. Sammelobjekte usf. von vornherein nach<br />
einheitlichen Richtlinien zu ordnen. Die Mitarbeit <strong>im</strong> DK-Ausschuß<br />
brachte dabei den Gewinn, daß alle DK-Abteilungen, <strong>der</strong>en ich speziell<br />
bedurfte, auch genügend und sinnvoll ausgebaut wurden. Das so<br />
entstehende Einheitsarchiv bewährte sich bestens, so z. B. auch als<br />
Anschauungsmaterial für Kin<strong>der</strong>- und Enkelerziehung, zur<br />
Demonstration für gleichgesinnte Interessenten, zur<br />
Gedächtnisentlastung und zum eindeutigen Wie<strong>der</strong>finden auf kleinstem<br />
Raum eingeordneter Objekte. Ich gestehe, daß die schöne und<br />
bequeme Möglichkeit des Ordnens auch die Gefahr mit sich bringt, mehr<br />
zu sammeln, als zunächst beabsichtigt war. Die Erfahrung am eigenen<br />
Archiv erlaubten es mir, nach ähnlichen Prinzipien die Wissenschaftlichtechnische<br />
Bücherei <strong>der</strong> Leitzwerke aufzubauen und seit 1940 zu leiten,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 419<br />
ein Firmenarchiv und ein Firmenmuseum historischer Instrumente<br />
einzurichten, ferner <strong>im</strong> Historischen Archiv <strong>der</strong> Stadt Wetzlar eine<br />
ähnliche Ordnung einzuleiten und manchen Interessenten in dieser<br />
Hinsicht zu beraten. Speziell für historische Studien erwies sich dabei<br />
nützlich eine große Kartei <strong>der</strong> etwa 90 000 deutschen Ortsnamen,<br />
geordnet nach dem Prinzip des „Rückwärts-abc“ (d. h. in <strong>der</strong><br />
Buchstabenfolge vom Wortende nach vorwärts).<br />
Man wird nach all dem Aufgeführten ermessen können, wie sehr bei<br />
<strong>der</strong> Vielzahl <strong>der</strong> Interessengebieten das Einzelne noch Fragment<br />
geblieben ist, und daß die Begrüßungsformel, die ich manchmal<br />
gegenüber früheren Kollegen gebrauche, eine zweideutige Berechtigung<br />
hat: „Sie haben es gut, Sie sind noch berufstätig, also haben Sie <strong>Zeit</strong>!―<br />
Rösch hat zu beson<strong>der</strong>en „runden― Anlässen auch Rückblicke o<strong>der</strong><br />
Würdigungen für die Gießener Universität und für zahlreiche seiner<br />
früheren Lehrer und Berufskollegen für Fachzeitschriften verfaßt. Darin<br />
spiegelt sich stets auch RÖSCHs versöhnlich-vermitteln<strong>der</strong><br />
interdisziplinärer Brückengeist zwischen Geistes- und<br />
Naturwissenschaften wie<strong>der</strong>. Genannt seien hier nur: „Die<br />
Professorengalerie <strong>der</strong> Gießener Universität. Ikonographische und<br />
genealogische Betrachtungen“ zur 350-Jahrfeier <strong>der</strong> Ludwigs-<br />
Universität – Justus Liebig-Hochschule 1607-1957 und „150 Jahre<br />
mineralogisches Ordinariat in Gießen― (1969). RÖSCHs Begabung für<br />
graphisch-anschauliche und synoptische Darstellungen erhöhten den<br />
Wert dieser Arbeiten beträchtlich.<br />
In diesem Zusammenhang soll auch erwähnt werden, daß RÖSCH<br />
nach <strong>der</strong> Schließung <strong>der</strong> Gießener Universität nach dem zweiten<br />
Weltkrieg und <strong>der</strong> vorübergehenden Umwandlung in eine bloße<br />
biologische Fachhochschule, 1947 einer <strong>der</strong> allerersten Dozenten <strong>der</strong><br />
Justus-Liebig-Hochschule war, <strong>der</strong> als „politisch unbelasteter― wie<strong>der</strong><br />
zugelassen worden war (er war kein Parte<strong>im</strong>itglied). In seinen ersten<br />
Nachkriegsvorlesungen bemühte sich Rösch durch Hauptvorlesungen<br />
und Übungen zu demonstrieren, daß Gießen unbedingt wie<strong>der</strong> ein<br />
mineralogisches Institut und Ordinariat brauche.<br />
Eine beson<strong>der</strong>s eindringliche Würdigung eines seiner jüdischen<br />
Hochschullehrer soll in diesem Zusammenhang noch erwähnt werden,<br />
da sie auch den kunstgeschichtlichen Aspekt innerhalb seiner<br />
Veröffentlichungen erkennen läßt. Sie ist Prof. Victor GOLDSCHMIDT<br />
gewidmet, <strong>der</strong> bereits oben erwähnt wurde. Die Veröffentlichung basiert<br />
auf einem Vortrag vor dem Farbenforum in Köln (Gürzenich) vom „1978-<br />
11-02―. Diese Veröffentlichung in <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>schrift „Farbe + Design― (1980)<br />
hat den Titel: „Farben in <strong>der</strong> Kunst“. Auch hier entdecken wir wie<strong>der</strong><br />
eine Interessengemeinschaft zwischen Goethe und RÖSCH, bei <strong>der</strong><br />
RÖSCH als Kristalloptiker und Kenner aller physikalischen<br />
Lichteigenschaften <strong>der</strong> Farbe wie kaum ein an<strong>der</strong>er, auch die Farbe<br />
nach ästhetischen Gesichtspunkten zu würdigen weiß.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 420<br />
RÖSCH schreibt: „Wenn auf ein kunstgeschichtliches Werk<br />
hingewiesen werden soll, das vor mehr als einem halben Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
erschienen, aber wenig bekannt geworden ist, so muß zunächst über<br />
seinen Autor einiges gesagt werden. Man wird bald verstehen, warum.<br />
Es handelt sich um Victor GOLDSCHMIDT (1853-1933), Dr. phil.,<br />
Professor <strong>der</strong> Kristallographie in Heidelberg, Gehe<strong>im</strong>er Hofrat, einen<br />
wohlhabenden Privatgelehrten, <strong>der</strong> es sich leisten konnte, unabhängig<br />
neben dem Mineralogischen Universitätsinstitut ein rein privates<br />
Kristallographisches Laboratorium (mit bedeuten<strong>der</strong> Sammlung, die<br />
dann Prof. Fritz HABER von <strong>der</strong> BASF übernahm) zu unterhalten, in<br />
dem eine Unzahl von Studenten, Doktoranden und Forschern des Inund<br />
Auslandes arbeiteten. Dort war die Geburtsstätte seines „Zweikreis-<br />
Reflexionsgoniometers―, dort wurden die großen und bedeutenden<br />
Buchveröffentlichungen („Atlas <strong>der</strong> Kristallformen“, 1913/23 in 18<br />
Bänden, „Kristallographische Winkeltabellen―, „Index <strong>der</strong> Kristallformen―<br />
usw.) vorbereitet. GOLDSCHMIDT war ein durchaus selbständiger und<br />
origineller Mensch, dabei von ungewöhnlicher Güte und<br />
Hilfsbereitschaft. Hans HIMMEL sagt in seinem Nachruf 1933 u. a.:<br />
―Beson<strong>der</strong>e Erwähnung verdient V. G. als Lehrer. Es wurde bereits<br />
hervorgehoben. Daß auch hier sein Wirken nicht den üblichen Weg <strong>der</strong><br />
großen Vorlesungen beschritt. Seite an Seite mit seinen Schülern<br />
„verkochte― er die schwebenden Fragen zu je<strong>der</strong> Tageszeit mit nicht<br />
endenwollen<strong>der</strong> Geduld, und schon früh morgens um 6 Uhr fanden<br />
seine Doktoranden den Weg in seine Wohnung. Er übermittelte seinen<br />
Schülern aber nicht nur Fachkenntnisse und die Liebe zur Natur, nein,<br />
ein wichtiger Wesenszug seiner Pädagogik war <strong>der</strong> erste Hinweis auf<br />
das Einfache als dem wirklich Großen, auf Pünktlichkeit und Sauberkeit<br />
<strong>im</strong> Arbeiten. Was dem jungen Studenten manchmal zunächst<br />
pedantisch und kleinlich erschien, offenbarte sich ihm bald als<br />
außerordentlich wichtig, und mit Dankbarkeit denken heute seine<br />
Schüler gerade an diese Erziehung zu peinlichster Genauigkeit zurück.<br />
So verband V. G. mit allen früheren Schülern eine dauernde<br />
Freundschaft, die sich auch in seiner stets geübten Gastfreundschaft<br />
äußerte.― […].<br />
Jetzt wie<strong>der</strong> RÖSCH selbst: „Aus eigenem Erleben kann ich berichten,<br />
daß er mich als Schüler für Kristallographie erst annahm, nachdem ich<br />
bei ihm einen Kursus für „Rundschrift“ und einen für „Griechisch“<br />
absolviert hatte. Letzterer wurde von ihm nötig befunden, da in<br />
Kristallographie und Paläontologie, in Chemie und Physik so viele<br />
Fachausdrücke mit griechischen Wortstämmen vorkämen, die auch ein<br />
Oberrealschüler sinngemäß verstehen müsse, und es spielte sich (ohne<br />
alle Grammatik) so ab, daß Prof. G. mich aus dem 1. Gesang <strong>der</strong> Ilias<br />
zuerst alle mir noch unbekannten griechischen Buchstaben aussuchen<br />
ließ und erklärte, worauf ich einige Verse auswendig lernen mußte, noch<br />
ohne sie zu verstehen. Erst dann wurden sie übersetzt und alle Wörter<br />
vorgenommen, die ―etwas hergaben.― Von dieser Methode hatte ich viel<br />
Gewinn und danke dem rührend geduldigen Lehrer noch heute. Dieser<br />
„Privatunterricht― fand in den frühsten Morgenstunden in <strong>der</strong> G.’schen<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 421<br />
Wohnung statt, wo er in Pantoffeln und Schlafrock an seinem<br />
Schreibtisch saß, und wo man als „Belohnung― um 7 ½ Uhr eine<br />
Hafersuppe mit einem <strong>der</strong>ben Stück Brot mitessen durfte. Während<br />
dieser Morgenstunden wurde auch mancherlei Korrespondenz erledigt.<br />
So meldete er mich vor meinem Münchner Semester bei Prof. O.<br />
HÖNIGSCHMID an, indem er in seiner zierlichen Handschrift ein<br />
Brieflein begann, das er aber bald verwarf: „Nein, da tut es auch eine<br />
Postkarte, die ist billiger!― Wenn es damals aber galt, einem ihn he<strong>im</strong>lich<br />
Besuchenden etwa <strong>der</strong> „Untergrundbewegung― gegen die<br />
Pfalzbesetzung <strong>der</strong> Franzosen zu helfen, kam es ihm auf einen<br />
Hun<strong>der</strong>tmarkschein nicht an! Und als ich 4 Jahre später als Leipziger Dr.<br />
phil. heiratete, schenkte er uns eine große neue Standuhr, die noch<br />
heute die Wohnung ziert und das dankbare Gedächtnis an den großen<br />
Menschen wachhält. Welcher Lehrer hält so seinen Schülern die<br />
Treue?―<br />
Auf zwei Gebieten – außer Kristallkunde – hat G. sein<br />
Complicationsgesetz beson<strong>der</strong>s ausführlich durchdacht und<br />
beschrieben: Musik und Farbenlehre. In <strong>der</strong> Musikgeschichte und<br />
Harmonielehre [„Materialien zur Musiklehre“, 1925, 2 Bände, zus. 720<br />
Seiten] trieb er erstaunlich weitgehende Forschungen, so daß sein<br />
zweibändiges Buch eine wahre Fundgrube auch für Musikhistoriker<br />
bildet. Für jemanden, <strong>der</strong> das große Farbenkunstwerk G .’s [„Farben in<br />
<strong>der</strong> Kunst“, 1919, Bd. 4 <strong>der</strong> Heidelb. Kunstgesch. Abh. , Textband<br />
(Großquart) mit 212 S., 3 Mappen (Großfolio) mit insgesamt 86 Tafeln<br />
zu je 2 bis 12 Abb.] zu betrachten o<strong>der</strong> zu studieren Gelegenheit hat (es<br />
ist bei notzeitbedingter sehr kleiner Auflage heute wohl recht selten zu<br />
finden), sind die bisherigen Ausführungen vielleicht ganz nützlich. G. hat<br />
in diesem Werk umfangreiches, aber wohl ausgewähltes Material<br />
dargeboten, um seine malgeschichtlichen Gedanken an Beispielen zu<br />
demonstrieren. Denn er will zeigen, daß die Künstler – obwohl ihnen<br />
eine beliebig reichhaltige Palette an Malmitteln schon <strong>im</strong>mer zur<br />
Verfügung stand – sich in einer „archaischen Frühzeit“ auf nur 3<br />
Farben beschränkten: Gelb, Braun und Grau (wobei er mit den<br />
letzteren Bezeichnungen meist an die spektralen Endgebiete denkt:<br />
Dunkles Rotbraun und ein düsteres Lavendelgrau). Eine „Vorblütezeit“<br />
schreibt Rot und Grün in die Reihe neu ein, in <strong>der</strong> „Hochblütezeit“<br />
gesellt sich neben Grün noch Blau, während Rot sich in Feuerrot und<br />
Karmin spaltet. In <strong>der</strong> „Nachblütezeit― verschwindet Grün mehr und<br />
mehr, ebenso das Feuerrot, und schließlich bleibt in <strong>der</strong> „Stufe des<br />
Erlöschens“ zwischen Braun und Grau nur wie<strong>der</strong> das Gelb übrig, bis<br />
vielleicht eine neue Periode den Kreislauf beginnt. Der Gedanke solcher<br />
wachsenden und vergehenden Perioden, die in <strong>der</strong><br />
Menschheitsgeschichte da und dort sich bilden können, erinnert etwas<br />
an O. SPENGLERs Kulturphilosophie, die etwa in <strong>der</strong> gleichen <strong>Zeit</strong><br />
heranwuchs. – Was hier etwas schematisch gekürzt geschil<strong>der</strong>t wurde,<br />
erläutert G. durch Beispiele aus 9 Jahrhun<strong>der</strong>ten, an Miniatur- und<br />
Buchmalereien, kolorierten Holzschnitten, Bauernkalen<strong>der</strong>n, Wappen,<br />
europäischen und ostasiatischen Spielkarten, zumeist an Material aus<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 422<br />
seinem eigenen großen Besitz an Kunstsammlungen (die inzwischen als<br />
sogenannte „von PORTHEIM-Stiftung― <strong>der</strong> Heidelberger Universität<br />
zugute gekommen sind).<br />
G. weist darauf hin, daß <strong>der</strong> erwähnte Periodenablauf <strong>der</strong><br />
Kunsthistorie ein genaues Abbild sei <strong>der</strong> ontogenetischen wie auch<br />
phylogenetischen Entwicklung des menschlichen Auges. In <strong>der</strong> Tat ist ja<br />
auch z. B. Rot die erste Farbe, die das Kleinkind als etwas Neuartiges<br />
wahrn<strong>im</strong>mt (nachdem Gelb vorher nur den Charakter des Hellen<br />
gegenüber Grau und Braun hatte). Wenn man heute vielleicht auch nicht<br />
mehr allen Gedanken G.’s restlos folgt, so ist doch <strong>der</strong>en<br />
Kenntnisnahme und Beachtung sicher erwünscht und vorteilhaft.<br />
Zum Schluß noch ein Wort zur Editionstechnik: GOLDSCHMIDT hat<br />
es in den schweren Jahren des 1. Weltkrieges und kurz danach wahrlich<br />
nicht leicht gehabt, ein solch aufwendiges kunstgeschichtliches Werk mit<br />
größter Gediegenheit in die Welt zu setzen. Ich weiß, daß er damals<br />
viele de Bil<strong>der</strong> auf gutem Papier schwarzweiß drucken ließ und dann<br />
einer Anzahl hilfsbedürftiger Studenten privat damit einen Nebenerwerb<br />
verschaffte, daß er sie unter seiner persönlichen Aufsicht die Blätter<br />
kolorieren ließ. Das war einer von den schon damals, und bald danach<br />
<strong>im</strong>mer heftiger, verschrieenen „geizigen und volksfeindlichen Juden!―<br />
G. selbst und seine ebenso hochherzige Gattin sind einem<br />
schl<strong>im</strong>meren Schicksal rechtzeitig durch einen friedlichen Tod<br />
entgangen. Als ein Kuriosum kann jedoch vermerkt werden, daß eine<br />
<strong>der</strong> 3 Fliegerbomben, von denen Heidelberg <strong>im</strong> 2. Weltkrieg<br />
he<strong>im</strong>gesucht wurde, ausgerechnet das ehemalige G.-sche Haus in <strong>der</strong><br />
Gaisbergstraße traf. Im Jahre 1978 konnten wir übrigens<br />
GOLDSCHMIDT’s 125. Geburtstag gedenken.―.<br />
Einige noch persönlichere biographische Angaben enthält ein<br />
Rundbrief an die Gratulanten zu Röschs 65. Geburtstag, fünf Jahre<br />
vorher, woraus hier auch noch einiges zitiert sei:<br />
„65 Lebensjahre sind eine <strong>Zeit</strong>, nach <strong>der</strong> man gerade etwas befähigt<br />
und berechtigt ist, das eigene Leben <strong>im</strong> Zusammenhang zu<br />
überschauen. Bei allen wechselvollen Geschicken, wie sie je<strong>der</strong>mann<br />
erlebt. Heranwachsen <strong>der</strong> Familie, berufliche und außerberufliche<br />
Tätigkeiten in positivem Sinn, Krankheiten, Kriege, Sorgen in negativem<br />
Sinn, sind es zweierlei Dinge, die mir das Leben beson<strong>der</strong>s<br />
erlebenswert erscheinen lassen: Das Zusammentreffen mit<br />
bedeutsamen Menschen und das Betätigendürfen eigener Fähigkeiten.<br />
Davon mögen für meinen Fall die folgenden Sätze Andeutungen<br />
machen.<br />
Wohl dem, <strong>der</strong> edlen Menschen begegnen darf! Es müssen nicht<br />
„Berühmtheiten― sein, wie ich solche z. B. in Prof. A[rnold]<br />
SOMMERFELD (1868-1951), und seinen damaligen Münchner<br />
„Wun<strong>der</strong>kin<strong>der</strong>n― HEISENBERG, HÖNL, HUND, LAPORTE, WENZEL u.<br />
a. <strong>im</strong> Sommersemester 1923 o<strong>der</strong> in Prof. Theodor HEUSS (1884-<br />
1963), dem Gymnasialschüler meines Großvaters, o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Familie<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 423<br />
LEITZ in Wetzlar kennen lernen durfte. Neben dem Elternhaus und vor<br />
allem meiner lieben Frau, <strong>der</strong> idealen Lebensgefährtin, nebst ihren<br />
Eltern, habe ich Grund, in tiefster Dankbarkeit dieser Menschen heute<br />
zu gedenken:<br />
Frau Frida ZEDLITZ, Hannover,<br />
Frau Wilhelmine SÄNGER, geb. ZIMMERMANN (1890-1961), meiner<br />
Lebensretterin in schwerer Krankheit 1918/20.<br />
Prof. Viktor GOLDSCHMIDT (1853-1933), des Heidelberger<br />
Kristallographen,<br />
Prof. Friedrich RINNE (1863-1933), des Leipziger „Gehe<strong>im</strong>rats―,<br />
Prof. Max BEREK (1886-1949), des großen Optikers und Menschen in<br />
Wetzlar [Erfin<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Kleinbildkamera „Leica―].<br />
Prof. Manfred RICHTER, des Farbmetrikers in Berlin.<br />
Frln. Christiane MERCK, <strong>der</strong> Künstlerin in Partenkirchen.<br />
Es ist wohl das Beglückendste, was ein Mensch erleben kann, in<br />
geistiges Neuland vorzustoßen, das noch nicht erforscht war: Ehrfurcht,<br />
Freude, Staunen erzeugen ein kaum zu beschreibendes Hochgefühl. Mir<br />
ist dieses außergewöhnliche Glück sogar mehrmals zuteil geworden. Ich<br />
darf hier eine lange Liste von Gebieten aufzählen, die einen<br />
nachhaltigen Einfluß auf meine Entwicklung hatten, bzw. an denen ich<br />
ernsthaft teilhaben durfte. Unterstrichen sind Gebiete, in denen mir<br />
beson<strong>der</strong>s weites Vordringen, ja sogar das finden von neuem, vergönnt<br />
war:<br />
Musik (seit <strong>der</strong> Kindheit, speziell Cellospiel etwa um 1914-50, seitdem<br />
als Hörer und<br />
Genießer),<br />
Briefmarkenkunde (seit <strong>der</strong> Kindheit als Teilhaber <strong>der</strong> väterlichen<br />
Sammlung, etwa seit<br />
1945 mit wissenschaftlichen Hintergedanken).<br />
Kulturgeschichte (O. SPENGLER u. a. um 1920),<br />
Ahnenforschung (seit 1920),<br />
Atombau und Spektrallinien (um 1921/26),<br />
Kristalloptik, insbeson<strong>der</strong>e Interferenzfarben (seit 1922),<br />
Tiefenglie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Erde (um 1925),<br />
Dez<strong>im</strong>alklassifikation (seit 1928),<br />
Reflexphotographie (um 1923/33),<br />
Mathematik <strong>der</strong> Reflexprojektion (um 1925/30),<br />
Brillanztheorie (um 1924/30),<br />
Farbenlehre, speziell Farbkörper und Opt<strong>im</strong>alfarben (seit 1926),<br />
Goethes Familie (um 1939/56),<br />
Familie BUFF (seit 1950),<br />
Regenbogen (seit etwa 1939, beson<strong>der</strong>s seit 1949),<br />
Pr<strong>im</strong>zahlentheorie (seit 1935),<br />
Farbfilmprüfung,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 424<br />
Pascaldreieck,<br />
NÖRRENBERGs Leben und Arbeiten,<br />
Theoretische Genealogie, z.B. KLEOPATRAs Ahnenschaft,<br />
Nachkommen Karls des Großen,<br />
Farben <strong>der</strong> Sterne,<br />
Zahl π ,<br />
Sonnenuhren [später war Rösch einige Jahre Vorsitzen<strong>der</strong> des<br />
„Fachkreises Sonnenuhren in<br />
<strong>der</strong> Deutschen Gesellschaft für Chronologie― ].<br />
Diese Liste mag eitel anmuten. Sie soll aber nur Dankbarkeit und<br />
Freude dem Schicksal gegenüber ausdrücken. Denn ich habe vielfältig<br />
die Erfahrung gemacht, daß niemals „ich― eine Gedankenkette<br />
zustandebrachte, die zu neuen Erkenntnissen führte, son<strong>der</strong>n daß „es―<br />
in mir dachte und diktierte (oft sogar <strong>im</strong> Schlaf) und mir ins Gewissen<br />
redete, was jeden Tag zu tun sei; ich brachte nur nachher<br />
nie<strong>der</strong>zuschreiben, was mir befohlen war! Wer in <strong>der</strong> Liste die Gebiete<br />
<strong>der</strong> Theologie und <strong>der</strong> Philosophie vermißt, dem mag dieses Wörtchen<br />
„Es― dafür stehen.―-<br />
Trotz <strong>der</strong> fragmentarisch gebliebenen Arbeiten zählt Siegfried<br />
RÖSCHs Literaturverzeichnis weit über 300 Veröffentlichungen! Nur die<br />
genealogischen und biographischen Publikationen habe ich in <strong>der</strong><br />
<strong>Zeit</strong>schrift „Archiv für Sippenforschung― (1979), H. 74, S. 89-95<br />
zusammengestellt, Ergänzung: ebd. (1989/90), H. 117/117, S. 347-353.<br />
RÖSCHs Veröffentlichungen zur Farbenmetrik und Farbenlehre sind in<br />
den <strong>Zeit</strong>schriften<br />
„Die Farbe― (1978/79), Nr. 1/6, S. 2-6, und die „Farbe und Design―<br />
(1981), Heft 19/20, S. 65-66, aufgeführt; es sind jeweils insgesamt 109<br />
Titel.<br />
Ein Gesamtverzeichnis seiner Veröffentlichungen nach <strong>der</strong> DK-Ordnung<br />
sortiert befindet sich <strong>im</strong> Historischen Archiv <strong>der</strong> Stadt Wetzlar. In Bezug<br />
auf Geschichte und Genealogie, das unser Buch ja hauptsächlich<br />
behandelt, hat sich RÖSCH in einer <strong>der</strong> ersten genealogischen<br />
<strong>Zeit</strong>schriften <strong>der</strong> Nachkriegszeit („Familie und Volk― (1961) H. 1, S. 291-<br />
292) einmal noch konkreter geäußert:<br />
Diese mehr formalen Studien zeigten mir <strong>im</strong>mer deutlicher, daß es mit<br />
bloßer Zusammenstellung von Namen, Daten und Bil<strong>der</strong>n nicht getan<br />
ist, wenn diese auch das notwendige erste Gerüst bilden müssen. Die<br />
biologischen, soziologischen, die räumlichen und zeitlichen<br />
Beziehungen <strong>der</strong> Menschen untereinan<strong>der</strong> sind so vielfältig und oft<br />
aufregend, daß <strong>der</strong>en Studium wohl zum Anspruch berechtigt ist, eine<br />
eigene Wissenschaft zu sein. Darüber hinaus aber hat mich <strong>im</strong>mer<br />
wie<strong>der</strong> am meisten verblüfft die Beobachtung, daß nicht nur in den<br />
Methoden eine Wissenschaft von <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en lernen kann, son<strong>der</strong>n<br />
daß auch in den Ergebnissen und selbst in <strong>der</strong> gedanklichen<br />
Struktur oft heterogen erscheinende Wissensgebiete verblüffende<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 425<br />
Ähnlichkeiten erkennen lassen. So scheint es mir, um wenigstens<br />
Andeutungen zu machen, nicht bloß ein Spiel des Zufalls zu sein, daß<br />
die Eigenschaftsvererbung in <strong>der</strong> menschlichen Genetik analoge<br />
Baugesetze verrät wie die Farbenmischungslehre, daß zwischen<br />
Mineralchemismus und Verwandtschaftslehre manche frappante<br />
Ähnlichkeit besteht. So schien es mir also (ob nun solche Analogien<br />
reelle Beziehungen darstellen o<strong>der</strong> nicht) fruchtbar zu sein, den<br />
mathematischen Gesetzen nachzuspüren, die die Genealogie<br />
beherrschen. Daß dies für viele Forscher eine spröde, ja unerfreuliche<br />
Sache zu sein scheint, und daß infolgedessen noch recht wenig<br />
Vorarbeit getan ist, spricht nicht unbedingt gegen sie. Mir hat die<br />
Beschäftigung mit diesen Fragen schon manche schöne Stunde<br />
beschert, und ich glaube, es gibt kaum etwas Beglücken<strong>der</strong>es, als in ein<br />
Neuland vorzustoßen mit dem Bewußtsein, daß neue Erkenntnisse und<br />
Einblicke in das Naturgeschehen damit verbunden sein können.―<br />
Der universale Geist RÖSCH <strong>im</strong> 20. Jahrhun<strong>der</strong>t ist wohl dem Geiste<br />
LEIBNIZ <strong>im</strong> 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts und dem Geiste GOETHE <strong>im</strong> 18. und 19.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t sehr verwandt! Der LEIBNIZ-Forscher Hermann PETERS<br />
beginnt seinen Artikel „LEIBNIZ als Chemiker― mit:<br />
„LEIBNIZ (1646-1716) beschäftigte sich bekanntlich mit fast allen<br />
Wissenschaften. Er war <strong>der</strong> Ansicht, daß die Vereinigung<br />
getrennter Forschungsgebiete zur Entdeckung neuer Wahrheiten<br />
sehr viel beitrüge.― Der bekanntere LEIBNIZ-Forscher Dietrich<br />
MAHNKE, den wir oben bereits erwähnt haben, hat seine erste<br />
LEIBNIZ-Arbeit sogar diesem Thema gewidmet: „LEIBNIZ als Gegner<br />
<strong>der</strong> Gelehrteneinseitigkeit―; er schreibt hier:<br />
„Bei solcher Universalität kann es uns nicht wun<strong>der</strong>n, wenn LEIBNIZ<br />
auch mit Bewußtsein den Wert <strong>der</strong> Vielseitigkeit hervorgehoben und<br />
eine geringe Meinung von all jenen einseitigen Gelehrten kundgegeben<br />
hat, die für nichts Verständnis hätten, was außerhalb <strong>der</strong> Grenzpfähle<br />
ihres kleinen Spezialgebietes läge. In <strong>der</strong> Tat hat er sich in den<br />
verschiedensten <strong>Zeit</strong>en seines Lebens dahin ausgesprochen, daß kein<br />
Gebiet <strong>der</strong> Wissenschaft verachtet werden dürfe; jedes sei irgend einem<br />
praktischen o<strong>der</strong> theoretischen Zwecke gut; <strong>der</strong> Fortschritt aber könne<br />
<strong>im</strong>mer nur von einem Manne herbeigeführt werden, <strong>der</strong> auf mehreren<br />
Gebieten zu Hause sei, und dem infolgedessen neue, ungesehene<br />
Zusammenhänge zwischen diesen zum ersten Mal zum Bewußtsein<br />
kämen.―<br />
In diesem Zusammenhang soll auch noch auf eine interessante<br />
Parallele zwischen LEIBNIZ und GOETHE hinsichtlich ihres<br />
gemeinsamen Studienortes Leipzig hingewiesen werden (<strong>der</strong><br />
übrigens auch für RÖSCH einer von mehreren war). GOETHEs Urteil<br />
fällt bezüglich <strong>der</strong> damaligen Leipziger Universitätsgelehrten nicht<br />
son<strong>der</strong>lich freundlich aus. Obgleich durch Goethe die Bezeichnung<br />
„Klein-Paris― für Leipzig prägend war. Etwa 100 Jahre später, nachdem<br />
die Universität Leipzig LEIBNIZ wegen seiner Jugendlichkeit die<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 426<br />
Zulassung zum Doktorexamen verweigert hatte, schreibt GOETHE<br />
1776:<br />
„Ich kann nicht genug sagen, wie sich mein Erdgeruch und Erdgefühl<br />
gegen die schwarz, grau, steifröckigen, krummbeinigen,<br />
perückenbeklebten, degenschwänzlichen Magisters, gegen die<br />
feiertagsberockte, altmodische, schlankliche, vieldünkliche<br />
Studentenbuben …[usw.] ausn<strong>im</strong>mt.― LEIBNIZ, <strong>der</strong> größte Sohn<br />
Leipzigs, hat nach <strong>der</strong> Examensverweigerung 1667 die Stadt Leipzig<br />
fast sein ganzes Leben lang gemieden. -<br />
Einige an<strong>der</strong>e Zitate MAHNKEs über LEIBNIZ sollen hier noch folgen:<br />
„Die CATESIANER beschäftigen sich einseitig mit Vernunftwahrheiten<br />
und vernachlässigen die Tatsachenwahrheiten, zu <strong>der</strong>en Erkenntnis die<br />
philologisch-historischen Disziplinen unentbehrlich sind.― Die Größe<br />
LEIBNIZ’ geht wohl auch aus seiner allgemeinen Duldsamkeit<br />
gegenüber seinen Gegnern hervor. MAHNKE: Die Vielseitigkeit des<br />
Philosophen [Leibniz] ging aber noch weiter. Nicht nur verachtete er kein<br />
Gebiet <strong>der</strong> Theorie o<strong>der</strong> Praxis, wie entlegen es auch sein mochte,<br />
son<strong>der</strong>n er bemühte sich, auch in dem Sinne universal zu sein, daß<br />
er den entgegengesetztesten Parteien ihr Recht ließ. In diesem<br />
Sinne schreibt er an PLACCIUS am 21. Februar 1696:<br />
„Niemand hat einen weniger kritischen Geist als ich. Es klingt<br />
merkwürdig: Ich billige das meiste, was ich lese … Denn da ich weiß,<br />
wie verschieden man die Dinge auffassen kann, so fällt mir meist be<strong>im</strong><br />
Lesen etwas ein, was die Schriftsteller entschuldigt o<strong>der</strong> verteidigt. Auf<br />
diese Weise gibt es nur Weniges, was mir be<strong>im</strong> Lesen mißfällt, wenn mir<br />
auch das eine mehr als das an<strong>der</strong>e gefällt.―<br />
In diesem Sinne habe ich auch meinen väterlichen Freund Siegfried<br />
RÖSCH kennen gelernt, wenn ich ihn in <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> unserer Freundschaft<br />
(1973/1984) nach politischen Meinungen befragt habe.-<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
13<br />
13.1 Werner HEISENBERG: Über Abstraktion/<br />
Urphänomen/ „Urpflanze“(= DNA)<br />
Mit Werner HEISENBERG, von dem wir oben schon Wertvolles zu<br />
unserem Thema bringen konnten, möchten wir das Thema „Goethes<br />
Naturbild <strong>im</strong> Lichte <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne“ abschließen und uns hier vor allem<br />
auf Auszüge aus seinem Vortrag „Das Naturbild Goethes und die<br />
technisch-naturwissenschaftliche Welt― beschränken, den er am 21. Mai<br />
1967 auf <strong>der</strong> Hauptversammlung <strong>der</strong> Goethe-Gesellschaft in We<strong>im</strong>ar<br />
gehalten hat. Lei<strong>der</strong> können wir hier aus Platzgründen nicht näher auf<br />
die interessanten Einzelheiten des Platonikers und Mathematikers<br />
Heisenberg zum Thema „Ideen-Philosophie― Goethes eingehe und<br />
müssen auf HEISENBERGs Buch: „Schritte über Grenzen“ hinweisen,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 427<br />
wo <strong>der</strong> gesamte Vortrag veröffentlicht ist. Die hervorgehobenen Stellen<br />
stammen vom Autor (AR).<br />
„In den so verschiedenartigen Gestalten <strong>der</strong> Pflanze, die Goethe<br />
beson<strong>der</strong>s auf seiner italienischen Reise beobachtete, glaubte er bei<br />
eingehen<strong>der</strong>em Studium <strong>im</strong>mer deutlicher ein zugrunde liegendes<br />
einheitliches Prinzip zu erkennen. Er sprach von <strong>der</strong> „wesentlichen<br />
Form, mit <strong>der</strong> die Natur gleichsam nur <strong>im</strong>mer spielt und spielend das<br />
mannigfaltige Leben hervorbringt―, und von hier gelangt er zur<br />
Vorstellung eines Urphänomens, <strong>der</strong> Urpflanze.<br />
„Mit diesem Modell― sagt Goethe „und dem Schlüssel dazu kann man<br />
alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die wenn sie auch nicht<br />
existieren, doch existieren könnten und eine innere Wahrheit und<br />
Notwendigkeit haben.― Hier steht Goethe an <strong>der</strong> Grenze <strong>der</strong><br />
Abstraktion, vor <strong>der</strong> er sich fürchtete. Goethe hat sich selbst versagt,<br />
diese Grenze zu überschreiten. Er hat auch gewarnt und gemeint, die<br />
Physiker und Philosophen sollten es ebenso halten.[…] Goethe war<br />
überzeugt, daß das Lösen von <strong>der</strong> sinnlich wirklichen Welt, das Betreten<br />
dieses grenzenlosen Bereichs <strong>der</strong> Abstraktion zu mehr Schlechtem als<br />
Gutem führen müsse.<br />
Aber die Wissenschaft war schon seit NEWTON an<strong>der</strong>e Wege<br />
gegangen. Sie hat die Abstraktion von Anfang an nicht gefürchtet, und<br />
ihre Erfolge bei <strong>der</strong> Erklärung des Planetensystems, bei <strong>der</strong> praktischen<br />
Anwendung <strong>der</strong> Mechanik, bei <strong>der</strong> Konstruktion optischer Apparate und<br />
vielem an<strong>der</strong>en haben ihr scheinbar recht gegeben, und sie haben<br />
schnell dazu geführt, daß die Warnungen Goethes überhört wurden.<br />
Diese Naturwissenschaft hat sich also eigentlich von NEWTONS<br />
großem Werk, den „Philosophiae naturalis principia mathematica― bis<br />
zum heutigen Tage völlig geradlinig und folgerichtig entwickelt. Ihre<br />
Auswirkungen in <strong>der</strong> Technik haben das Bild <strong>der</strong> Erde umgestaltet.<br />
In dieser landläufigen Naturwissenschaft wird die Abstraktion an zwei<br />
etwas verschiedenen Stellen vollzogen. Die Aufgabe lautet ja, in <strong>der</strong><br />
bunten Vielfalt <strong>der</strong> Erscheinungen das Einfache zu erkennen. Das<br />
Bestreben <strong>der</strong> Physiker muß also darauf gerichtet sein, aus <strong>der</strong><br />
verwirrenden Kompliziertheit <strong>der</strong> Phänomene einfache Vorgänge<br />
herauszuschälen. Aber was ist einfach? Seit GAILEI und NEWTON<br />
lautet die Antwort: Einfach ist ein Vorgang, dessen gesetzmäßiger<br />
Ablauf quantitativ, in allen Einzelheiten, mathematisch ohne<br />
Schwierigkeiten dargestellt werden kann. Der einfach Vorgang ist also<br />
nicht jener, den uns die Natur unmittelbar darbietet; son<strong>der</strong>n <strong>der</strong><br />
Physiker muß durch manchmal recht komplizierte Apparate das bunte<br />
Gemisch <strong>der</strong> Phänomene erst trennen, das Wichtige von allem<br />
unnötigen Beiwerk reinigen, bis <strong>der</strong> eine „einfache― Vorgang allein<br />
deutlich hervortritt, so daß man eben von allen Nebenerscheinungen<br />
absehen, d. h. abstrahieren kann. Das ist die eine Form <strong>der</strong> Abstraktion,<br />
und Goethe meint dazu, daß man damit eigentlich schon die Natur<br />
selbst vertrieben habe. […].<br />
Meine Zwischenbemerkung als „GeneTaloge― an dieser Stelle an einem<br />
trefflichen Beispiel:<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 428<br />
„Wo man es am allerwenigsten erwarten sollte, in dem ungemein<br />
verwickelten Gebiet <strong>der</strong> Vererbungslehre (Genetik), tauchen<br />
mathematische Gesetze von erstaunlicher Einfachheit auf und schaffen<br />
Ordnung in dem Wirrwarr, wenn die vielen störenden Einflüsse durch<br />
geschickte Versuchsanordnung ausgeschaltet werden. Und das hat<br />
Gregor MENDEL vor etwa 150 Jahren getan, als er aufgrund seiner<br />
Vorahnung einer Doppel-Anlagigkeit <strong>der</strong> „Erbkörper― erst einmal<br />
merkmalsreine Linien von roten und weißen Erbsenpflanzen züchtete,<br />
bevor er seine berühmten Kreuzungsversuche dann damit durchführte.―<br />
HEISENBERG: „Die an<strong>der</strong>e Form <strong>der</strong> Abstraktion besteht <strong>im</strong> Gebrauch<br />
<strong>der</strong> Mathematik zur Darstellung <strong>der</strong> Phänomene. In <strong>der</strong> Mechanik<br />
NEWTONs hat sich zum erstenmal gezeigt – und das war <strong>der</strong> Grund für<br />
ihren enormen Erfolg -, daß in <strong>der</strong> mathematischen Beschreibung<br />
riesige Erfahrungsbereiche einheitlich zusammengefaßt und damit<br />
einfach verstanden werden können. Die Fallgesetze GALILEIs, die<br />
Bewegungen des Mondes um die Erde, die <strong>der</strong> Planeten um die Sonne,<br />
die Schwingungen eines Pendels, die Bahn eines geworfenen Steins,<br />
alle diese Erscheinungen konnten aus <strong>der</strong> einen Grundannahme <strong>der</strong><br />
Newtonschen Mechanik, aus <strong>der</strong> Gleichung: Masse x Beschleunigung<br />
= Kraft, zusammen mit dem Gravitationsgesetz, mathematisch<br />
hergeleitet werden. Die abbildende mathematische Gleichung war<br />
also <strong>der</strong> abstrakte Schlüssel zum einheitlichen Verständnis sehr<br />
weiter Naturbereiche; und gegen das Vertrauen in die öffnende Kraft<br />
dieses Schlüssels hat Goethe vergeblich angekämpft. […].<br />
Hat Goethe die ordnende Kraft, die Erkenntnisleistung <strong>der</strong><br />
naturwissenschaftlichen Methode, Exper<strong>im</strong>ente und Mathematik, wirklich<br />
nicht erkannt? Hat er den Gegner unterschätzt, gegen den er in <strong>der</strong><br />
Farbenlehre und an vielen an<strong>der</strong>en Stellen so unermüdlich gekämpft<br />
hat? O<strong>der</strong> hat er diese Kraft nicht erkennen wollen, weil für ihn Werte<br />
auf dem Spiel standen, die er nicht zu opfern bereit war? Man wird wohl<br />
antworten müssen, daß Goethe diesen abstrakten Weg zum<br />
einheitlichen Verständnis nicht beschreiten wollte, weil er ihm zu<br />
gefährlich schien. Die Gefahren, vor denen Goethe sich hier fürchtete,<br />
hat er wohl nirgends genau bezeichnet. Aber die berühmteste Gestalt<br />
aus Goethes Dichtung, sein Faust, läßt uns ahnen, worum es sich<br />
handelt. Faust ist neben vielem an<strong>der</strong>em auch ein enttäuschter<br />
Physiker. […]. Goethe spürte die dämonischen Kräfte, die in dieser<br />
Entwicklung wirksam werden, und er glaubte, ihnen ausweichen zu<br />
sollen. Aber, so wird man vielleicht antworten müssen, so leicht kann<br />
man dem Teufel nicht ausweichen. Goethe selbst hat schon früh<br />
Kompromisse schließen müssen. Der wichtigste war wohl die<br />
Zust<strong>im</strong>mung zum kopernikalischen Weltbild, dessen<br />
Überzeugungskraft auch er nicht wi<strong>der</strong>stehen konnte.―<br />
Nochmals eine Einlassung vom „GeneTalogen―:<br />
Vielleicht hätte Goethe auch noch einen weiteren „Abstraktions-<br />
Kompromiß― geschlossen, wenn ihm Gregor MENDELS<br />
Pflanzenzuchtversuche mit verschiedenfarbigen Erbsensorten und ihren<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 429<br />
Ergebnissen bekannt geworden wären, - nur etwa 25 Jahre nach seinem<br />
Tode hat MENDEL diese Gesetze entdeckt.-<br />
HEISENBERG: „Wahrscheinlich ist die <strong>Zeit</strong> nicht mehr fern, in <strong>der</strong><br />
auch die Biologie in diesen Entwicklungsprozeß <strong>der</strong> Technik voll<br />
einbezogen wird. Daß sich dann die Gefahren vervielfachen, selbst<br />
gegenüber <strong>der</strong> Bedrohung durch die Atomwaffen, ist schon gelegentlich<br />
ausgesprochen worden. […].Die mo<strong>der</strong>ne Medizin hat die großen<br />
Seuchen auf <strong>der</strong> Erde weitgehend ausgerottet. Sie hat das Leben vieler<br />
Kranken gerettet, unzähligen Menschen schreckliche Leiden erspart,<br />
aber sie hat auch zu jener Bevölkerungsexplosion auf <strong>der</strong> Erde<br />
geführt, die dann, wenn sie nicht in relativ naher Zukunft durch friedliche<br />
organisatorische Maßnahmen gebremst werden kann, in entsetzliche<br />
Katastrophen enden muß. Wer kann wissen, ob die mo<strong>der</strong>ne Medizin<br />
ihre Ziele überall richtig setzt? […]. Der entscheidende Einwand<br />
Goethes gegen die seit NEWTON angewandte Methodik <strong>der</strong><br />
Naturwissenschaft richtet sich also wohl gegen das Auseinan<strong>der</strong>fallen<br />
<strong>der</strong> Begriffe „Richtigkeit“ und „Wahrheit“ in dieser Methodik. Wahrheit<br />
war für Goethe vom Wertbegriff nicht zu trennen. Das unum, bonum,<br />
verum, das „Eine, Gute, Wahre“ war für ihn wie für die alten<br />
Philosophen <strong>der</strong> einzig mögliche Kompaß, nach dem die Menschheit<br />
sich be<strong>im</strong> Suchen ihres Weges durch die Jahrhun<strong>der</strong>te richten konnte.<br />
Eine Wissenschaft aber, die nur noch richtig ist, in <strong>der</strong> sich die Begriffe<br />
„Richtigkeit― und „Wahrheit― getrennt haben, in <strong>der</strong> also die göttliche<br />
Ordnung nicht mehr von selbst die Richtung best<strong>im</strong>mt, ist zu sehr<br />
gefährdet, sie ist, um wie<strong>der</strong> an Goethes Faust zu denken, dem Zugriff<br />
des Teufels ausgesetzt. Daher wollte Goethe sie nicht akzeptieren. In<br />
einer verdunkelten Welt, die vom Licht dieser Mitte, des unum, bonum,<br />
verum nicht mehr erhellt wird, sind, wie Erich HELLER es in diesem<br />
Zusammenhang einmal ausgedrückt hat, die technischen Fortschritte<br />
kaum etwas an<strong>der</strong>es als verzweifelte Versuche, die Hölle zu einem<br />
angenehmeren Aufenthaltsort zu machen. Das muß beson<strong>der</strong>s jenen<br />
gegenüber betont werden, die glauben, mit <strong>der</strong> Verbreitung <strong>der</strong><br />
technisch-naturwissenschaftlichen Zivilisation auch auf die entlegensten<br />
Gebiete <strong>der</strong> Erde alle wesentlichen Voraussetzungen für ein goldenes<br />
<strong>Zeit</strong>alter schaffen zu können. So leicht kann man dem Teufel nicht<br />
entgehen. […]<br />
Aber kehren wir zu <strong>der</strong> Frage zurück, ob die Erkenntnis, die Goethe in<br />
seiner Naturwissenschaft gesucht hat, nämlich die Erkenntnis <strong>der</strong> letzten<br />
von ihm als göttlich empfundenen Gestaltungskräfte <strong>der</strong> Natur, aus <strong>der</strong><br />
zunächst nur „richtigen― mo<strong>der</strong>nen Naturwissenschaft so vollständig<br />
verschwunden ist. „Daß ich erkenne, was die Welt <strong>im</strong> Innersten<br />
zusammenhält, schau alle Wirkenskraft und Samen und tu’ nicht mehr in<br />
Worten kramen―, so hatte die For<strong>der</strong>ung gelautet. Auf dem Wege dorthin<br />
war Goethe in seinen Naturbetrachtungen zum Urphänomen, in seiner<br />
Morphologie <strong>der</strong> Pflanzen zur Urpflanze gekommen. […] Schiller hat<br />
in <strong>der</strong> berühmten Begegnung mit Goethe in Jena <strong>im</strong> Jahre 1794, die die<br />
Freundschaft <strong>der</strong> beiden Dichter begründete, Goethe klargemacht. „daß<br />
sein Urphänomen eigentlich nicht eine Erscheinung, son<strong>der</strong>n eine Idee<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 430<br />
sei; eine Idee <strong>im</strong> Sinne <strong>der</strong> Philosophie PLATOS, wollen wir hinzufügen,<br />
und wir würden in unserer <strong>Zeit</strong>, da das Wort „Idee― eine etwas subjektive<br />
Färbung erhalten hat, vielleicht eher das Wort „Struktur“<br />
als „Idee― an diese Stelle setzten. Die Urpflanze ist die Urform, die<br />
Grundstruktur, das gestaltende Prinzip <strong>der</strong> Pflanze, das man nun<br />
freilich nicht nur mit dem Verstand konstruieren, son<strong>der</strong>n dessen man <strong>im</strong><br />
Anschauen unmittelbar gewiß werden kann. […]<br />
Im Lichte <strong>der</strong> platonischen Philosophie aber handelt es sich bei dieser<br />
Diskussion wohl nicht so sehr um einen Streit über das, was eine Idee<br />
sei, son<strong>der</strong>n über das Erkenntnisorgan, mit dem sich uns die Idee<br />
erschließt. Wenn Goethe die Idee mit den Augen sehen kann, so sind<br />
das eben an<strong>der</strong>e Augen als die, von denen heute gewöhnlich die Rede<br />
ist. […] Aber wie auch <strong>im</strong>mer man in diesem Streit entscheiden mag, die<br />
Urpflanze ist also eine Idee, und sie bewährt sich als solche, indem<br />
man mit ihr, mit dieser Grundstruktur als Schlüssel, wie Goethe sagt,<br />
Pflanzen ins Unendliche erfinden kann. Man hat mir ihr also den Bau <strong>der</strong><br />
Pflanze verstanden; und „verstehen― heißt: auf ein einfaches,<br />
einheitliches Prinzip zurückführen.<br />
Wie sieht das nun in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Biologie aus? Auch hier gibt es<br />
eine Grundstruktur, die nicht nur die Gestalt aller Pflanzen, son<strong>der</strong>n aller<br />
Lebewesen überhaupt best<strong>im</strong>mt. Es ist ein unsichtbar kleines Objekt, ein<br />
Fadenmolekül, nämlich die berühmte Doppelkette <strong>der</strong> Nukleinsäure,<br />
<strong>der</strong>en Struktur vor etwa fünfzehn Jahren von CRICK und WATSON in<br />
England aufgeklärt worden ist und die das ganze Erbgut <strong>der</strong><br />
betreffenden Lebewesen trägt. Wir können aufgrund zahlreicher<br />
Erfahrungen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Biologie nicht mehr daran zweifeln, daß<br />
eben von diesem Fadenmolekül die Struktur des Lebewesens best<strong>im</strong>mt<br />
wird, daß von ihm gewissermaßen die ganze Gestaltungskraft ausgeht,<br />
die den Bau des Organismus festlegt. Über Einzelheiten kann hier<br />
natürlich nicht gesprochen werden. Hinsichtlich <strong>der</strong> Richtigkeit dieser<br />
Aussage gilt, was vorher schon von <strong>der</strong> Richtigkeit<br />
naturwissenschaftlicher Aussagen <strong>im</strong> allgemeinen gesagt wurde. Die<br />
Richtigkeit beruht auf <strong>der</strong> naturwissenschaftlichen Methodik, auf<br />
Beobachtung und rationaler Analyse. Wenn die Anfangsstadien <strong>der</strong><br />
Unsicherheit einer speziellen wissenschaftlichen Entwicklung<br />
überwunden sind, so beruht die Richtigkeit auf dem Zusammenwirken<br />
außerordentlich vieler Einzeltatsachen, auf einem großen und<br />
komplizierten Gewebe von Erfahrungen, das <strong>der</strong> Aussage ihre<br />
unantastbare Sicherheit gibt.<br />
Kann nun die eben geschil<strong>der</strong>te Grundstruktur, die Doppelkette <strong>der</strong><br />
Nucleinsäure, <strong>der</strong> Goetheschen Urpflanze irgendwie verglichen werden?<br />
Die unsichtbare Kleinheit dieses Objekts scheint einen solchen<br />
Vergleich zunächst auszuschließen. Aber daß dieses Molekül <strong>im</strong><br />
Rahmen <strong>der</strong> Biologie die gleiche Funktion erfüllt, die Goethes Urpflanze<br />
in <strong>der</strong> Botanik erfüllen sollte, wird sich doch schwer bestreiten lassen. Es<br />
handelt sich ja in beiden Fällen um das Verständnis <strong>der</strong> gestaltenden,<br />
formgebenden Kräfte in <strong>der</strong> belebten Natur, um ihre Zurückführung auf<br />
etwas Einfaches, allen lebendigen Gestalten Gemeinsames. Das eben<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 431<br />
leistet das Urgebilde <strong>der</strong> heutigen Molekularbiologie, das noch etwas<br />
zu pr<strong>im</strong>itiv ist, um schon ein Urlebewesen genannt zu werden. Es besitzt<br />
noch keineswegs alle Funktionen eines vollständigen Lebewesens; aber<br />
das braucht uns vielleicht nicht daran zu hin<strong>der</strong>n, es doch so o<strong>der</strong><br />
irgendwie ähnlich zu bezeichnen. Dieses Urgebilde hat auch dies mit <strong>der</strong><br />
Goetheschen Urpflanze gemeinsam, daß es nicht nur eine<br />
Grundstruktur, eine Idee, eine Vorstellung, eine formgebende Kraft,<br />
son<strong>der</strong>n auch ein Objekt, eine Erscheinung ist, wenn es gleich nicht mit<br />
unseren gewöhnlichen Augen gesehen, son<strong>der</strong>n nur indirekt<br />
erschlossen werden kann. Es kann mit hochauflösenden Mikroskopen<br />
und mit dem Mittel <strong>der</strong> rationalen Analyse erkannt werden, ist also<br />
durchaus wirklich und nicht etwa nur ein Gedankengebilde. Insofern<br />
genügt es fast allen von Goethe an das Urphänomen gestellten<br />
For<strong>der</strong>ungen. Ob wir es allerdings <strong>im</strong> Goetheschen Sinne „schauen,<br />
fühlen, ahnen― können, in an<strong>der</strong>en Worten, ob es zum Gegenstand <strong>der</strong><br />
„episteme―, <strong>der</strong> reinen Erkenntnis in <strong>der</strong> Formulierung PLATOs werden<br />
kann, das mag zweifelhaft scheinen. […]<br />
Während das Urgebilde <strong>der</strong> Biologie nicht nur den lebendigen<br />
Organismus an sich repräsentieren, son<strong>der</strong>n - durch die verschiedenen<br />
möglichen Anordnungen einiger weniger chemischer Gruppen auf <strong>der</strong><br />
Kette – auch die unzähligen, verschiedenen Organismen unterscheiden<br />
muß, brauchen die Grundstrukturen <strong>der</strong> gesamten Natur nur noch die<br />
Existenz eben dieser Natur darzustellen. In <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Physik wird<br />
dieser Gedanke in folgen<strong>der</strong> Weise verwirklicht: Es wird in<br />
mathematischer Sprache ein grundlegendes Naturgesetz formuliert, eine<br />
„Weltformel“, wie es gelegentlich genannt wurde, dem alle<br />
Naturerscheinungen genügen müssen, das also gewissermaßen nur die<br />
Möglichkeit, die Existenz <strong>der</strong> Natur symbolisiert. Die einfachsten<br />
Lösungen dieser mathematischen Gleichung repräsentieren die<br />
verschiedenen Elementarteilchen, die genau in demselben Sinne<br />
Grundformen <strong>der</strong> Natur sind, wie PLATO die regulären Körper <strong>der</strong><br />
Mathematik, Würfel, Tetrae<strong>der</strong>, usw., [Oktae<strong>der</strong>, Dodekae<strong>der</strong>,<br />
Ikosae<strong>der</strong>: 6-, 4-, 8-, 12-, 20-flächner] als die Grundformen <strong>der</strong> Natur<br />
aufgefaßt hat.―<br />
Hier noch ein kurzer Blick ins Persönliche dieses großen Forschers<br />
und Menschen, wie ihn uns einer seiner berühmten Schüler Carl<br />
Friedrich von WEIZSÄCKER, in seinem Buch „Die Einheit <strong>der</strong> Natur“<br />
(2. Aufl. 1981) geschenkt hat. v.WEIZSÄCKER schreibt: „Was aber<br />
zeichnet nun die gute, produktive Wissenschaft aus? Ich möchte<br />
meinen, zunächst eine höhere Fähigkeit zur Gestaltwahrnehmung, zum<br />
Aufspüren von beson<strong>der</strong>s einfachen und eben in ihrer Einfachheit<br />
verborgenen Gestalten. Ich möchte das noch einmal anekdotisch<br />
erläutern.<br />
Als ich als junger theoretischer Physiker Schüler von HEISENBERG<br />
war, stellte er mir natürlich Aufgaben; ich stellte mir auch selbst<br />
Aufgaben und besprach mit ihm, wie ich sie lösen wollte – daraus ging<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 432<br />
dann auch meine Doktorarbeit hervor – und dabei mußte ich das<br />
Handwerk <strong>der</strong> theoretischen Physik ausüben. Ich mußte also gewisse<br />
Gleichungen lösen, gewisse Rechnungen ausführen, und wenn ich<br />
wie<strong>der</strong> etwas gerechnet hatte, ging ich zu HEISENBERG und zeigte<br />
ihm, was ich gerechnet hatte. Und HEISENBERG sah die erste Seite,<br />
überhaupt den Anfang, gar nicht an, son<strong>der</strong>n er sah das Schlußresultat<br />
an, dachte ein bißchen nach und sagte: „Das ist falsch.― Und dann sagte<br />
ich: „Ja, wieso?―. Und er: „Ja, nein – also so kann es nicht sein.― Dann<br />
ging er vom Schlußresultat rückwärts hinein in die Rechnung, bis er den<br />
Rechenfehler gefunden hatte. In diesem Instinkt war er fast untrüglich.<br />
Das ist Wissenschaft. So geht das zu. So geht es in <strong>der</strong><br />
wissenschaftlichen Erziehung zu. Die wirkliche Erziehung zum<br />
Wissenschaftler bekommt man dadurch, daß man viele Jahre lang von<br />
seinem Lehrer <strong>im</strong>mer wi<strong>der</strong>legt wird; daß man <strong>im</strong>mer von neuem<br />
einsehen lernt, inwiefern man unrecht hatte.<br />
Gewiß, manchmal wi<strong>der</strong>legt man auch ihn, denn hier geht es ja nicht<br />
um Autorität, son<strong>der</strong>n um Ausbildung <strong>der</strong> Wahrnehmung[sic!]. Ich<br />
erinnere mich, wie HEISENBERG, als er längst Ordinarius in Leipzig<br />
und Nobelpreisträger war, mir über seinen hochverehrten Lehrer [Nils]<br />
BOHR sagte: „Also früher hatte <strong>der</strong> BOHR, wenn ich mit ihm stritt, fast<br />
<strong>im</strong>mer recht – heute habe ich doch in 30% <strong>der</strong> Fälle recht.― So geht es<br />
auch in <strong>der</strong> Forschung selbst zu. Den wirklich produktiven, den wirklich<br />
bedeutenden Forscher zeichnet ja meist aus, daß er noch einen Instinkt,<br />
noch ein Gefühl, eine nicht mehr ganz rationalisierbare Wahrnehmung<br />
für Zusammenhänge hat, die weiter reicht als die <strong>der</strong> meisten an<strong>der</strong>er<br />
Leute, und deshalb ist er zuerst an <strong>der</strong> betreffenden Wahrheit. Eine<br />
Wahrheit in <strong>der</strong> Wissenschaft wird fast <strong>im</strong>mer zuerst geahnt, dann<br />
behauptet, dann umstritten und dann bewiesen. Das ist wesentlich,<br />
das liegt an <strong>der</strong> Natur <strong>der</strong> Wissenschaft, das kann gar nicht an<strong>der</strong>s sein.<br />
[…]<br />
Was zeichnet aber solche Wahrheit aus, die wesentlich neue Schritte<br />
bedeuten? Was ist das Kriterium, dessen sich diese<br />
Gestaltwahrnehmung bedient? HEISENBERG hat, wenn man ihn darauf<br />
ansprach, gern gesagt und sagt es heute noch gern: „Natur ist eben<br />
mathematisch einfach.“ Die Theorien werden zwar <strong>im</strong>mer abstrakter,<br />
aber diese Abstraktheit erweist sich für den, <strong>der</strong> sie versteht, als eine<br />
höhere Einfachheit. Die Theorien werden <strong>im</strong> Prinzip <strong>im</strong>mer einfacher.<br />
Gerade das sehr Einfache ist eben in den Formen konkreter<br />
Einzelheiten, konkreter Bil<strong>der</strong>, nicht mehr zu sagen, denn das Konkrete<br />
ist <strong>im</strong>mer kompliziert. Die Einfachheit unserer mo<strong>der</strong>nen Theorien und<br />
ihrer Abstraktheit sind zwei verschiedene Aspekte genau desselben<br />
Wesenszugs. Wenn man aber HEISENBERG noch weiter preßt und<br />
fragt: „Was heißt denn mathematisch einfach?―, dann kann man ihn<br />
auch dazu bringen, zu sagen: „Das ist eben schön.“ [vergl. W.<br />
HEISENBERG: Die Bedeutung des Schönen in den exakten<br />
Naturwissenschaften. Vortrag vor <strong>der</strong> Bayerischen Akademie <strong>der</strong><br />
Schönen Künste. München 1970].<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 433<br />
Aus Werner HEISENBERG: „Der Teil und das Ganze― (1969),<br />
Kapitel 20.― Elementarteilchen und PLATONische Philosophie (1961-<br />
1965) Gespräch zwischen Werner und Elisabeth HEISENBERG,<br />
Hans-Peter DÜRR und Carl Friedrich v.WEIZSÄCKER und später<br />
auch mit Erich v.HOLST:<br />
HEISENBERG; ‚Am Anfang war die Symmetrie“, das ist sicher<br />
richtiger als die DEMOKRITische These ‚Am Anfang war das<br />
Teilchen’. Die Elementarteilchen verkörpern die Symmetrien, sie sind<br />
ihre einfachsten Darstellungen, aber sie sind erst eine Folge <strong>der</strong><br />
Symmetrien. In <strong>der</strong> Entwicklung des Kosmos kommt später <strong>der</strong> Zufall<br />
ins Spiel. Aber auch <strong>der</strong> Zufall fügt sich den zu Anfang gesetzten<br />
Formen, er genügt den Häufigkeitsgesetzen <strong>der</strong> Quantentheorie. In<br />
<strong>der</strong> späteren, <strong>im</strong>mer komplizierter werdenden Entwicklung kann sich<br />
dieses Spiel wie<strong>der</strong>holen. Es können wie<strong>der</strong> durch einmalige<br />
Entscheidungen Formen gesetzt werden, die das folgende Geschehen<br />
weitgehend best<strong>im</strong>men. So scheint es doch zum Beispiel bei <strong>der</strong><br />
Entstehung <strong>der</strong> Lebewesen gegangen zu sein; und ich finde die<br />
Entdeckung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Biologie hier äußerst aufschlußreich. Die<br />
beson<strong>der</strong>en geologischen und kl<strong>im</strong>atischen Bedingungen auf unserem<br />
Planeten haben eine komplizierte Kohlenstoffchemie möglich<br />
gemacht, die Kettenmoleküle zuläßt, in denen Information gespeichert<br />
werden kann. Nukleinsäure hat sich als ein geeigneter<br />
Informationsspeicher für Aussagen über die Struktur von Lebewesen<br />
erwiesen. An dieser Stelle ist eine einmalige Entscheidung gefallen, es<br />
ist eine Form gesetzt, die die ganze weitere Biologie best<strong>im</strong>mt. […]<br />
Ich kann gar nicht vermeiden, bei dieser Feststellung an die<br />
Naturwissenschaft Goethes zu denken, <strong>der</strong> ja die ganze Botanik aus<br />
<strong>der</strong> Urpflanze herleiten wollte. Die Urpflanze sollte ein Objekt sein,<br />
aber doch gleichzeitig auch die Grundstruktur bedeuten, nach <strong>der</strong> alle<br />
Pflanzen gebaut sind. In diesem Goetheschen Sinne könnte man die<br />
Nukleinsäure als Urlebewesen bezeichnen, da sie auch einerseits ein<br />
Objekt ist und an<strong>der</strong>erseits eine Grundstruktur für die ganze Biologie<br />
darstellt. [nach einigen Zwischenbemerkungen von DÜRR brach das<br />
Gespräch zunächst ab und erhielt eine Fortsetzung einige Tage später<br />
in Diskussionen, in denen HEISENBERG als Zuhörer beteiligt war. Er<br />
fährt fort: „Im Max-Planck-Institut für Verhaltensforschung, das an<br />
einem kleinen waldumschlossenen See <strong>im</strong> Hügelland zwischen<br />
Starnberger- und Ammersee liegt, widmeten sich damals Konrad<br />
LORENZ und Erich von HOLST zusammen mit ihren Mitarbeitern dem<br />
Verhalten <strong>der</strong> dort he<strong>im</strong>ischen Tierwelt. Sie redeten – so lautet <strong>der</strong><br />
Titel eines <strong>der</strong> LORENZschen Bücher – mit dem Vieh, den Vögeln und<br />
den Fischen. In diesem Institut fand regelmäßig <strong>im</strong> Herbst ein<br />
Kolloquium statt, in dem Biologen, Philosophen, Physiker und<br />
Chemiker über grundsätzliche, vor allem erkenntnistheoretische<br />
Probleme <strong>der</strong> Biologie diskutierten. Es wurde etwas leichtsinnig<br />
vereinfachend das „Leib-Seele-Kolloquium― genannt. An diesen<br />
Gesprächen nahm ich gelegentlich teil, fast nur als Zuhörer, da ich ja<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 434<br />
viel zuwenig von Biologie wußte. Aber ich versuchte, aus den<br />
Diskussionen <strong>der</strong> Biologen zu lernen. Ich erinnere mich, daß an jenem<br />
Tage von <strong>der</strong> DARWINschen Theorie in ihrer mo<strong>der</strong>nen Form:<br />
„Zufällige Mutationen und Selektion― die Rede war und daß zur<br />
Begründung dieser Lehre <strong>der</strong> folgende Vergleich herangezogen<br />
wurde: Mit <strong>der</strong> Entstehung <strong>der</strong> Arten gehe es wohl ähnlich wie mit <strong>der</strong><br />
Entstehung <strong>der</strong> menschlichen Werkzeuge. [Ru<strong>der</strong>boot – Segelboot –<br />
Dampfmaschine. Unzulängliche Ergebnisse, z. B. wie NERNST-<br />
Lampe wurden rasch durch elektrische Glühbirne beseitigt].<br />
Be<strong>im</strong> Durchdenken dieses Vergleichs fiel mir auf, daß <strong>der</strong><br />
geschil<strong>der</strong>te Vorgang in <strong>der</strong> Technik gerade an einem entscheidenden<br />
Punkt <strong>der</strong> DARWINschen Lehre wi<strong>der</strong>spricht; nämlich dort, wo in <strong>der</strong><br />
DARWINschen Theorie <strong>der</strong> Zufall ins Spiel kommt. Die verschiedenen<br />
menschlichen Erfindungen entstehen ja gerade nicht durch Zufall,<br />
son<strong>der</strong>n durch die Absicht und das Nachdenken <strong>der</strong> Menschen. Ich<br />
versuchte mir auszumalen, was herauskäme, wenn man den Vergleich<br />
hier ernster nähme, als er gemeint war, und was dann etwa an die<br />
Stelle des DARWINschen Zufalls treten müßte. Könnte man hier mit<br />
dem Begriff „Absicht― etwas anfangen? Eigentlich verstehen wir ja nur<br />
be<strong>im</strong> Menschen, was mit dem Wort „Absicht― gemeint ist. Zur Not<br />
können wir vielleicht noch dem Hund, <strong>der</strong> auf den Küchentisch springt,<br />
die „Absicht― zubilligen, die Wurst zu fressen. Aber hat ein<br />
Bakteriophage, <strong>der</strong> sich einem Bakterium nähert, die Absicht, in<br />
diesen einzudringen, um sich dort zu vermehren? Und wenn wir hier<br />
noch bereit wären, „ja― zu sagen, kann man dann vielleicht auch noch<br />
<strong>der</strong> Genstruktur die Absicht zuschreiben, sich so zu verän<strong>der</strong>n, daß<br />
sie den Umweltbedingungen besser angepaßt ist? Offensichtlich wird<br />
hier mit dem Wort „Absicht― Mißbrauch getrieben. Aber vielleicht<br />
könnte man für die Frage die vorsichtigere Formulierung wählen: Kann<br />
das Mögliche, nämlich das zu erreichende Ziel, den kausalen Ablauf<br />
beeinflussen? Damit ist man aber schon fast wie<strong>der</strong> <strong>im</strong> Rahmen <strong>der</strong><br />
Quantentheorie. Denn die Wellenfunktion <strong>der</strong> Quantentheorie stellt ja<br />
das Mögliche und nicht das Faktische dar. In an<strong>der</strong>en Worten:<br />
vielleicht ist <strong>der</strong> Zufall, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> DARWINschen Theorie eine wichtige<br />
Rolle spielt, gerade deshalb, weil er sich den Gesetzen <strong>der</strong><br />
Quantenmechanik einordnet, etwas viel Subtileres, als wir uns<br />
zunächst vorstellen.―<br />
Hier denkt <strong>der</strong> Autor unwillkürlich an Arthur SCHOPENHAUERs<br />
Aufsatz „Über den Willen in <strong>der</strong> Natur, Kapitel: Vergleichende<br />
Anatomie― (1854), den SCHOPENHAUER einmal als einen seiner<br />
bedeutendsten Arbeiten bezeichnet hat. Dort geht es um die<br />
Absichtlichkeit des Willens. SCHOPENHAUER schreibt: „Jede<br />
Tiergestalt ist eine von den Umständen hervorgerufene Sehnsucht des<br />
Willens zum Leben […] Die ausnahmslose Zweckmäßigkeit in allen<br />
Teilen des tierischen Organismus kündigt zu deutlich an, daß hier<br />
nicht zufällig und planlos wirkende Naturkräfte, son<strong>der</strong>n ein Wille tätig<br />
gewesen sei, als daß es je hätte <strong>im</strong> Ernst verkannt werden können.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 435<br />
Nun aber konnte man, empirischer Kenntnis und Ansicht gemäß, das<br />
Wirken eines Willens sich nicht an<strong>der</strong>s denken denn als ein vom<br />
Erkennen geleitetes.“ –<br />
Zurück zu HEISENBERG:<br />
„Diese Gedankenkette wurde dadurch unterbrochen, daß in <strong>der</strong><br />
Diskussion erhebliche Meinungsverschiedenheiten über die<br />
Bedeutung <strong>der</strong> Quantentheorie in <strong>der</strong> Biologie auftauchten. Der Grund<br />
für solche Gegensätze liegt wohl allgemein darin, daß die meisten<br />
Biologen zwar durchaus bereit sind zuzugeben, daß die Existenz <strong>der</strong><br />
Atome und Moleküle nur mit <strong>der</strong> Quantentheorie verstanden werden<br />
könne, daß sie aber sonst den Wunsch haben, die Bausteine <strong>der</strong><br />
Chemiker und Biologen, nämlich Atome und Moleküle, als<br />
Gegenstände <strong>der</strong> klassischen Physik zu betrachten, also mit ihnen<br />
umzugehen wie mit Steinen o<strong>der</strong> Sandkörnern. Ein solches Verfahren<br />
mag zwar oft zu richtigen Resultaten führen; aber wenn man es<br />
genauer nehmen muß, ist die begriffliche Struktur <strong>der</strong> Quantentheorie<br />
doch sehr an<strong>der</strong>s, als die <strong>der</strong> klassischen Physik. Man kann also<br />
gelegentlich zu ganz falschen Ergebnissen kommen, wenn man in den<br />
Begriffen <strong>der</strong> klassischen Physik denkt. Aber über diesen Teil <strong>der</strong><br />
Diskussion <strong>im</strong> „Leib-Seele-Kolloquium― soll hier nicht berichtet werden.<br />
Carl Friedrich [von WEIZSÄCKER] war nur halb zu frieden: „Ja, das<br />
sind so ganz schöne allgemeine philosophische Gedanken, aber ich<br />
möchte das doch genauer wissen. Ich hoffe eigentlich, daß man in<br />
dieser Weise genau zu den wirklichen Naturgesetzen kommt. Euere<br />
Feldgleichung, von <strong>der</strong> man ja noch nicht sicher weiß, ob sie die Natur<br />
richtig darstellt, sieht so aus, als könnte sie aus dieser Philosophie <strong>der</strong><br />
Alternativen entstehen. Aber das muß man doch mit dem Grad <strong>der</strong><br />
Strenge, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Mathematik üblich ist, schließlich herausbringen<br />
können.―<br />
„Du möchtest also― fügte ich ein, „die Elementarteilchen, und damit<br />
schließlich die Welt, in <strong>der</strong> gleichen Weise aus Alternativen aufbauen,<br />
wie PLATO seine regulären Körper und damit auch die Welt aus<br />
Dreiecken aufbauen wollte. Die Alternativen sind ebensowenig Materie<br />
wie Dreiecke in PLATOs ‚T<strong>im</strong>aios’. Aber wenn man die Logik <strong>der</strong><br />
Quantentheorie zugrunde legt, so ist die Alternative eine Grundform,<br />
aus <strong>der</strong> kompliziertere Grundformen durch Wie<strong>der</strong>holung entstehen.<br />
[…] Aber die exakte Durchführung deines Programms stelle ich mir<br />
doch außerordentlich schwierig vor. Denn sie wird ein Denken von so<br />
hoher Abstraktheit erfor<strong>der</strong>n, wie sie bisher, wenigstens in <strong>der</strong> Physik,<br />
nie vorgekommen ist. Mir wäre das sicher zu schwer. Aber die jüngere<br />
Generation hat es ja leichter, abstrakt zu denken. Also solltest du das<br />
mit deinen Mitarbeitern unbedingt versuchen.―<br />
Hier schaltete sich ELISABETH in das Gespräch ein, die von ferne<br />
zugehört hatte: „Glaubt ihr denn, daß ihr die junge Generation für<br />
solche schwierigen Probleme interessieren könnt, die den großen<br />
Zusammenhang betreffen? Wenn ich von dem ausgehe, was ihr<br />
gelegentlich von <strong>der</strong> Physik in den großen Forschungszentren hier<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 436<br />
o<strong>der</strong> in Amerika erzählt, so sieht es doch so aus, als ob sich das<br />
Interesse gerade <strong>der</strong> jüngeren Generation fast nur den Einzelheiten<br />
zuwendet, als ob die großen Zusammenhänge beinahe einer Art von<br />
Tabu unterliegen. Man soll von ihnen nicht sprechen. Könnte es hier<br />
nicht so gehen, wie <strong>im</strong> ausgehenden Altertum mit <strong>der</strong> Astronomie, als<br />
man sich durchaus damit begnügte, die nächsten Sonnen- und<br />
Mondfinsternisse mit überlagerten Zyklen und Epizyklen<br />
auszurechnen, und das heliozentrische Planetensystem des<br />
ARISTARCH darüber vergaß? Könnte es nicht geschehen, daß das<br />
Interesse für allgemeine Fragen völlig erlischt?―<br />
Aber ich wollte hier nicht so pess<strong>im</strong>istisch sein und wi<strong>der</strong>sprach.<br />
„Das Interesse für die Einzelheiten ist gut und notwendig, denn wir<br />
wollen ja schließlich wissen, wie es wirklich ist. Und du erinnerst dich,<br />
daß auch NIELS <strong>im</strong>mer gern den Vers zitiert hat: „Nur die Fülle führt<br />
zur Klarheit―. Auch mit dem Tabu bin ich gar nicht so zufrieden. Denn<br />
ein Tabu wird ja nicht verhängt, um das zu verbieten, von dem man<br />
nicht sprechen soll, son<strong>der</strong>n um es gegen das Geschwätz und den<br />
Spott <strong>der</strong> vielen zu schützen. Von jeher hat die Begründung eines<br />
Tabus doch so gelautet wie bei Goethe: ‚Sagt es niemand, nur den<br />
Weisen, weil die Menge gleich verhöhnet …’ [aus dem Gedicht<br />
‚Selige Sehnsucht’]. Gegen das Tabu soll man sich also nicht wehren.<br />
Es wird <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> junge Menschen geben, die auch über die<br />
großen Zusammenhänge nachdenken, schon weil sie bis zum Letzten<br />
ehrlich sein wollen, und dann kommt es ja nicht darauf an, wie viele es<br />
sind.―<br />
Wer über die Philosophie PLATOs meditiert, weiß, daß die Welt<br />
durch Bil<strong>der</strong> best<strong>im</strong>mt wird. Daher soll auch die Schil<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />
Gespräche durch ein Bild abgeschlossen werden, das sich mir als<br />
Zeichen <strong>der</strong> späten Münchner Jahre unvergeßlich eingeprägt hat. Wir<br />
fuhren zu viert, ELISABETH, unsere beiden ältesten Söhne und ich,<br />
durch die üppig blühenden Wiesen ins Hügelland zwischen<br />
Starnberger-See und Ammersee nach Seewiesen, um <strong>im</strong> Max-Planck-<br />
Institut für Verhaltensforschung Erich von HOLST zu besuchen. Erich<br />
von HOLST war nicht nur ein ausgezeichneter Biologe, son<strong>der</strong>n auch<br />
ein guter Bratschist und Geigenbauer, und wir wollten ihn wegen eines<br />
Musikinstrumentes um Rat fragen. Die Söhne, damals junge<br />
Studenten, hatten Geige und Cello mitgebracht für den Fall, daß sich<br />
Gelegenheit zum Musizieren bieten sollte. Von HOLST zeigte uns sein<br />
neues Haus, das er künstlerisch und lebendig, weitgehend mit eigener<br />
Arbeit geplant und eingerichtet hatte, und führte uns in ein geräumiges<br />
Wohnz<strong>im</strong>mer, in das durch die weitgeöffneten Fenster und<br />
Balkontüren an diesem sonnigen Tag das Licht mit voller Kraft<br />
hereinströmte. Wenn man den Blick nach draußen wandte, fiel er auf<br />
hellgrüne Buchen unter einem blauen H<strong>im</strong>mel, vor dem sich die<br />
Schützlinge des Seewiesener Instituts in <strong>der</strong> Luft tummelten. v.<br />
HOLST hatte seine Bratsche geholt, er setzte sich zwischen die<br />
beiden jungen Menschen und begann, mit ihnen jene von dem<br />
jugendlichen BEETHOVEN geschriebene Serenade in D-dur zu<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 437<br />
spielen, die von Lebenskraft und Freude überquillt und in <strong>der</strong> sich das<br />
Vertrauen in die zentrale Ordnung überall gegen Kleinmut und<br />
Müdigkeit durchsetzt. In ihr verdichtete sich für mich be<strong>im</strong> Zuhören die<br />
Gewißheit, daß es in menschlichen <strong>Zeit</strong>maßen gemessen, <strong>im</strong>mer<br />
wie<strong>der</strong> weitergehen wird, das Leben, die Musik, die Wissenschaft;<br />
auch wenn wir selbst nur für kurze <strong>Zeit</strong> mitwirken können – nach<br />
NIELS’ Worten <strong>im</strong>mer zugleich Zuschauer und Mitspieler <strong>im</strong> großen<br />
Drama des Lebens.― -<br />
Geben wir zum Schluß dieses Kapitels nochmals HEISENBERG aus<br />
seinem Buch „Schritte über Grenzen― das Wort:<br />
„ Werfen wir noch einmal den Blick zurück auf die historische<br />
Entwicklung. In <strong>der</strong> Naturwissenschaft, wie in <strong>der</strong> Kunst, ist die Welt seit<br />
Goethe den Weg gegangen, vor dem Goethe gewarnt hat, den er für zu<br />
gefährlich hielt. Die Kunst hat sich von <strong>der</strong> unmittelbaren Wirklichkeit ins<br />
Innere <strong>der</strong> menschlichen Seele zurückgezogen, die Naturwissenschaft<br />
hat den Schritt in die Abstraktheit getan, hat die riesige Weite <strong>der</strong><br />
mo<strong>der</strong>nen Technik gewonnen und ist bis zu den Urgebilden <strong>der</strong><br />
Biologie und bis zu den Urformen vorgedrungen, die in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />
Wissenschaft den platonischen Körpern entsprechen. Gleichzeitig<br />
sind die Gefahren so bedrohlich geworden, wie Goethe es<br />
vorausgesehen hat. Wir denken etwa an die Entseelung, die<br />
Entpersönlichung <strong>der</strong> Arbeit, an das Absurde <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Waffen o<strong>der</strong><br />
an die Flucht in den Wahn, <strong>der</strong> die Form einer politischen Bewegung<br />
angenommen hatte. Der Teufel ist ein mächtiger Herr. Aber <strong>der</strong> lichte<br />
Bereich, von dem <strong>im</strong> Zusammenhang mit <strong>der</strong> romantischen Musik vorhin<br />
schon die Rede war und den Goethe überall durch die Natur hindurch<br />
erkennen konnte, ist auch in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Naturwissenschaft sichtbar<br />
geworden, dort wo sie von <strong>der</strong> großen einheitlichen Ordnung <strong>der</strong> Welt<br />
Kunde gibt. Wir werden von Goethe auch heute noch lernen können,<br />
daß wir nicht zugunsten des einen Organs, <strong>der</strong> rationalen Analyse, alle<br />
an<strong>der</strong>en verkümmern lassen dürfen; daß es vielmehr darauf ankommt,<br />
mit allen Organen, die uns gegeben sind, die Wirklichkeit zu ergreifen<br />
und sich darauf zu verlassen, daß diese Wirklichkeit dann auch das<br />
Wesentliche, das „Eine, Gute, Wahre“ spiegelt. Hoffen wir, daß dies<br />
<strong>der</strong> Zukunft besser gelingt, als es unserer <strong>Zeit</strong>, als es meiner Generation<br />
gelungen ist.―<br />
„[Die Natur] hat wenige Triebfe<strong>der</strong>n,<br />
aber nie abgenutzte, <strong>im</strong>mer wirksam,<br />
<strong>im</strong>mer mannigfaltig.―<br />
(Goethe, Die Natur )<br />
Es mag vielleicht manchem etwas verwegen erscheinen, die<br />
Aristoteles’sche Entelechie bzw. die Leibniz’sche Monade o<strong>der</strong> den<br />
Dämon Goethes, mit <strong>der</strong> menschlichen Erbsubstanz, dem Genom, zu<br />
vergleichen. Aber die nachfolgenden Äußerungen Goethes legen das<br />
wohl nahe.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 438<br />
Am 11. März 1828 Goethe zu Eckermann:<br />
„Jede Entelechie nämlich ist ein Stück Ewigkeit und die paar Jahre, die<br />
sie mit dem irdischen Körper verbunden ist, machen sie nicht alt. – Ist<br />
die Entelechie geringer Art, so wird sie während ihrer körperlichen<br />
Verdüsterung wenig Herrschaft ausüben, vielmehr wird <strong>der</strong> Körper<br />
vorherrschen und wie er altert, wird sie ihn nicht halten und hin<strong>der</strong>n. Ist<br />
aber die Entelechie mächtiger Art, wie es bei allen genialen Naturen <strong>der</strong><br />
Fall ist, so wird sie, bei ihrer belebenden Durchdringung des Körpers,<br />
nicht allein auf dessen Organisation kräftigend und veredelnd einwirken,<br />
son<strong>der</strong>n sie wird auch, bei ihrer geistigen Übermacht, ihr Vorrecht einer<br />
ewigen Jugend fortwährend geltend zu machen suchen.―<br />
Über ein Jahr später, am 1. September 1829 notiert Eckermann:<br />
Goethe. „Ich zweifle nicht an unserer Fortdauer, denn die Natur kann<br />
die Entelechie nicht entbehren; aber wir sind nicht auf gleiche Weise<br />
unsterblich, und um sich künftig als große Entelechie zu manifestieren,<br />
muß man auch eine sein.―<br />
Und ein halbes Jahr danach, am 3. März 1930, zeichnet Eckermann auf:<br />
„Wir reden fort über viele Dinge, und so kommen wir auch wie<strong>der</strong> auf<br />
die Entelechie. „Die Hartnäckigkeit des Individuums, und daß <strong>der</strong><br />
Mensch abschüttelt, was ihm nicht gemäß ist,― sagte Goethe, „ist mir ein<br />
Beweis, daß so etwas existiere. LEIBNIZ“, fuhr er fort, „hat ähnliche<br />
Gedanken über solche selbständige Wesen gehabt, und zwar, was wir<br />
mit dem Ausdruck Entelechie bezeichnen, nannte er Monaden.―<br />
Wegen all dieser Äußerungen dürfte auch ein Gespräch mit dem<br />
Schriftsteller und Journalisten Johannes David FALK, 1768-1826, <strong>im</strong><br />
wesentlichen Glaubwürdigkeit beanspruchen, das dieser erst nach<br />
Goethes Tod in seiner Schrift „Goethe aus näherem persönlichen<br />
Umgang dargestellt― aus einem Gespräch vom 25. 1. 1813 (!)<br />
aufgezeichnet hat. Daraus nur ein Satz:<br />
Goethe: „Lassen Sie uns <strong>im</strong>mer diesen Leibnizschen Ausdruck<br />
beibehalten!― fügte er hinzu. „Auf <strong>der</strong> einen Seite gibt es ein „wahres<br />
Monadenpack, das sich höchstens zu einem untergeordneten Dienst<br />
und Dasein eignet, auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite, starke und gewaltige<br />
Hauptmonaden, [Leibniz spricht von herrschenden o<strong>der</strong><br />
Zentralmonaden] die alles, was sich ihnen naht, in ihren Kreis reißen―<br />
(nach Dietrich MAHNKE zitiert).<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
13.2 Gene / <strong>GeneTalogie</strong> / kosmische Harmonie<br />
Bevor dieses Buch mit seinem letzten Kapitel ein Plädoyer für den<br />
weiteren Ausbau begonnener Nachkommenschaften (Stammtafeln und<br />
Gesamtnachkommentafeln) sein möchte, zuvor noch einige Gedanken<br />
zur „Urgeschichte <strong>der</strong> Genealogie―. So wie die Fossilienkunde<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 439<br />
(Paläontologie) nicht mehr auf menschliche Urkunden aufbauen kann,<br />
sind wir für die „Urzeit― auch bei dieser wie bei jener auf<br />
wissenschaftliche Untersuchungen <strong>der</strong> naturkundlichen Funde bzw. auf<br />
molekulargenetischen Erkenntnisse <strong>der</strong> allerneusten <strong>Zeit</strong> (20. und 21.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t) angewiesen.<br />
Daß aus <strong>der</strong> geneTalogischen Sicht des Autors die Genealogie aufs<br />
engste mit <strong>der</strong> Genetik verwandt ist, ja beide nur zwei Seiten <strong>der</strong>selben<br />
Medaille sind, hatte ich bereits schon oben begründend hervorgehoben.<br />
Da jede Wissenschaft aber auch einen sinnvollen Ausgangspunkt haben<br />
sollte, möchte ich meine Gedanken darüber aus geneTalogischer Sicht<br />
äußern und zur Diskussion stellen. Und zwar denke ich hier <strong>im</strong> Sinne<br />
von Genetik als Genese (Entstehung, Entwicklung) und <strong>im</strong> Sinne<br />
<strong>der</strong> Gene („Erbfaktoren“). Damit hätte die Genealogie ihren Anfang,<br />
ihre natürliche „Urgeschichte― mit <strong>der</strong> Existenz <strong>der</strong> Gene, <strong>der</strong> stofflichen<br />
Grundlage je<strong>der</strong> Vererbung, in Verbindung zu bringen. Um aber hier in<br />
keine uferlosen Spekulationen zu geraten, wollen wir bei den Genen<br />
einmal von einer Entwicklungsstufe ausgehen, die mit <strong>der</strong> menschlichen<br />
„Familien―geschichte, <strong>der</strong> Genealogie des Menschen, beginnt. Damit<br />
orientieren wir uns grob am Alter unseres menschlichen Geschlechts,<br />
des heutigen Menschen und damit auch in etwa an <strong>der</strong> gegenwärtigen<br />
Entwicklungsform unserer Gene, dem sog. Genom des homo sapiens,<br />
das etwa 1 Million Jahre alt ist. Davor liegt ein <strong>Zeit</strong>raum von etwa 300<br />
Millionen Jahren, innerhalb dessen sich die Gene <strong>der</strong> organischen<br />
Lebewesen von <strong>der</strong> eingeschlechtigen zur zweigeschlechtigen<br />
Fortpflanzung fortentwickelt haben. Erst diese Form <strong>der</strong> Fortpflanzung<br />
hat die Vielfalt und organisatorische Höhe des Lebens evolutionsmäßig<br />
möglich gemacht. Diese getrennte Fortpflanzung durch männliche und<br />
weibliche Individuen beruht bekanntlich auf den sog. Geschlechts-<br />
Chromosomen X und Y, die die wesentlichen Unterschiede <strong>der</strong><br />
Geschlechter in biologischer, sowohl körperlicher (physischer) als auch<br />
geistiger (psychischer) Hinsicht ursächlich bedingen.<br />
------------------------------------------------------------------------------------------------<br />
Bevor wir uns diese sexuellen Strukturelemente, die Geschlechts-<br />
Chromosomen X und Y hinsichtlich ihres Erbganges näher anschauen,<br />
seien vorher noch die wichtigsten Meilensteine <strong>der</strong><br />
Wissenschaftsgeschichte <strong>der</strong> Genetik kurz erwähnt:<br />
Den Anfang <strong>der</strong> Genetik markieren zunächst die MENDELschen<br />
Gesetze, die „Atomtheorie <strong>der</strong> Vererbung―, die am Anfang des 20.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts eine rasante Entwicklung <strong>der</strong> Genetik einleiteten, nachdem<br />
sie zunächst lange <strong>Zeit</strong> noch unbeachtet geblieben waren. Durch die<br />
mo<strong>der</strong>nen gerätetechnischen Methoden <strong>der</strong> Physik (Kristalloptik,<br />
Röntgenstrukturanalyse) und <strong>der</strong> Chemie (organische und<br />
makromolekulare Chemie) setzte dann ein beispielloser Siegeszug <strong>der</strong><br />
biologischen Wissenschaft Genetik ein. Ein weiterer Meilenstein war<br />
Mitte des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts die Strukturaufklärung des „Erbmaterials―<br />
Desoxyribonukleinsäure (DNS bzw. DNA). Erst dadurch gewann man<br />
das Verständnis dafür, wie sich Großmoleküle mit ihrer Erbinformation in<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 440<br />
„identische Kin<strong>der</strong>― (Duplikate: Re(dup)likation) fortpflanzen können und<br />
zwar durch sog. „Basenpaarung―. Der zweite Meilenstein, wenige Jahre<br />
danach, war die Aufdeckung des sog. GENETISCHEN CODES, des<br />
„Rezeptplanes― für die Aminosäure- Bildung, <strong>der</strong> Grundbausteine <strong>der</strong><br />
Eiweißstoffe (Proteine). Dieser Aufbau erfolgt durch ähnliche<br />
kombinatorische molekulare Baupläne.<br />
Diese Erkenntnisse in <strong>der</strong> noch so jungen Lebenswissenschaft<br />
Genetik, die nur aufgrund internationaler Wissenschaftsteamarbeit<br />
überhaupt möglich waren, sind wohl die größte Kulturleistungen <strong>der</strong><br />
Menschheit Mitte des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Ausgelöst durch Gregor<br />
MENDELS Entdeckung und Veröffentlichung <strong>im</strong> Jahre 1865, die noch<br />
jahrzehntelang von den botanischen Fachgelehrten übersehen o<strong>der</strong><br />
wegen ihrer Neuartigkeit unverständlich geblieben ist. Erst um 1900<br />
wurden MENDELs Befunde von drei Botanik-Fachgelehrten – angeblich<br />
völlig unabhängig voneinan<strong>der</strong> - „wie<strong>der</strong>entdeckt― (angeblich ohne<br />
Kenntnis <strong>der</strong> Entdeckung des Augustiner Mönchs Gregor MENDEL) und<br />
dann auch noch gleichzeitig von ihnen in <strong>der</strong>selben Wissenschafts-<br />
<strong>Zeit</strong>schrift als „ihre― eigenen jahrelangen Ergebnisse veröffentlicht.<br />
Welch’ eigenartige Zufälle [sic!]. -<br />
Die beson<strong>der</strong>en Verhältnisse <strong>der</strong> sogenannten<br />
geschlechtsgebundenen Vererbung wurden erst in den 30er Jahren<br />
des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts restlos aufgeklärt, nachdem <strong>der</strong> amerikanische<br />
Forscher Thomas H. MORGAN, 1866-1945 und sein Schüler Calvin B.<br />
BRIDGES, 1889-1938, die Gesetzmäßigkeiten <strong>der</strong> Geschlechter-<br />
Vererbung aufgeklärt hatten. Danach wurden die MENDELSCHEN<br />
Gesetze noch erweitert, wie aus nachfolgen<strong>der</strong> Abbildung hervorgeht,<br />
die ich meiner <strong>GeneTalogie</strong>-Seite entnommen habe. Vor <strong>der</strong> endgültigen<br />
internationalen Existenzanerkenntnis des Y-Chromosomes in den 30er<br />
Jahren, glaubte man sogar, den Geschlechtsunterschiede zwischen<br />
Mann und Frau allein auf das nur einmalige Vorhandensein des X-<br />
Chromosomes be<strong>im</strong> Manne gegenüber dem zwe<strong>im</strong>aligen Vorkommen<br />
bei <strong>der</strong> Frau zurückführen zu müssen.<br />
1916 wurde die X/Y - chromosomale Vererbung<br />
entdeckt<br />
(Th. H. Morgan / Calvin B. Bridges)<br />
Die männliche Samenzelle best<strong>im</strong>mt das Geschlecht.<br />
Durch diese Son<strong>der</strong>stellung des Mannes werden die<br />
Mendelschen Gesetze hinsichtlich <strong>der</strong> Vererbung <strong>der</strong><br />
Geschlechts - Chromosomen be<strong>im</strong> Manne (X, Y)<br />
modifiziert.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 441<br />
Es sind nur 4 X-/Y-chromosomale Kombinationen<br />
möglich, da das Geschlecht einschränkt: Keine Söhne<br />
mit väterlichem X1; keine Töchter mit väterlichem Y0 !<br />
Aufgrund <strong>der</strong> damaligen Mikroskopiertechnik hatte man das Y-<br />
Chromosom in den meisten Instituten „übersehen―, da es gegenüber<br />
dem viel größerem X-Chromosom damals noch nicht eindeutig sichtbar<br />
zu machen war. Hat das Y-Chromosom doch eine ausgesprochen<br />
„verkrüppelte Gestalt― und wurde später zunächst dann vielfach noch als<br />
ein „Chromosomenbruch― gedeutet! Nach dem zweifelsfreiem Nachweis<br />
des Y-Chromosoms hat man es aber noch bis in unsere jüngste (!) <strong>Zeit</strong>,<br />
nämlich bis zum Jahre 2003, <strong>im</strong>mer noch weitgehend als „gen-leer“<br />
betrachtet und ihm lediglich die bloße Funktion <strong>der</strong><br />
Geschlechtsbest<strong>im</strong>mung zugesprochen und zugetraut. Manche<br />
Forscher glaubten sogar, daß bei <strong>der</strong> Evolution womöglich nur ein<br />
einziges Gen, das geschlechtsbest<strong>im</strong>mende „SRY― übriggeblieben sei.<br />
Manche sahen <strong>im</strong> Y-Chromosom quasi einen Indikator dafür, daß die<br />
Evolution <strong>der</strong> Menschheit ihren Ende entgegen gehe, da nur ein<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 442<br />
winziger Teil mit dem X-Chromosom in verjüngenden und/o<strong>der</strong><br />
„therapeutischen― Austausch von mutationsgeschädigten Genen (z. B.<br />
durch „crossing-over―) treten könne.<br />
Diese beiden Geschlechts-Chromosome X und Y mit ihren Genen, die<br />
auf einem Faden einer Doppelspiralstruktur eines Makromoleküls - <strong>der</strong><br />
legendären Desoxyribonukleinsäure [DNS bzw. DNA] – liegen, betrachte<br />
ich geneTalogisch als 2 Strukturmuster <strong>der</strong> Genealogie, und zwar<br />
innerhalb je<strong>der</strong> echten genealogischen Struktur, sowohl in <strong>der</strong> Ahn- als<br />
auch in <strong>der</strong> Nachkommenschaft, wie später unten noch ausführlicher<br />
struktur-analytisch und mathematisch gezeigt wird.<br />
Wie bereits oben schon gesagt, hat jede echte Genealogie ihren<br />
Ausgangspunkt von einer Bezugsperson - dem Probanden (o<strong>der</strong> den<br />
Probanden-Geschwistern) - zu nehmen. Vom „Nullpunkt dieses<br />
Koordinatensystems― ausgehend, kann durch die Forschung erst eine<br />
individuelle genealogische Struktur sichtbar gemacht werden, die einen<br />
winzigen Mikrokosmos auf dem Boden eines geneTalogischen<br />
Makrokosmos darstellt. Dieser Makrokosmos gleicht einem<br />
chaotischen Netz von verwandtschaftlichen Verflechtungen. Dieser<br />
Makrokosmos ist netzartig! Die Maschen dieses Netzes sind die<br />
„Verwandtschaftsbrücken“ einerseits, d. h. die Verzweigungen, die<br />
von den Paaren ausgehen (Geschwister!) und an<strong>der</strong>erseits die<br />
„Kopulations“- bzw. Eheverbindungen („Konnubium“), die die<br />
Verwandtschaftsbrücken wie<strong>der</strong> (ab)schließen.<br />
In <strong>der</strong> genealogischen Fachsprache wird diese natürliche Erscheinung<br />
mit dem Begriff Implex (Ahnen- o<strong>der</strong> Nachkommen-„schwund― etc.)<br />
bezeichnet. Dieses Gebiet war früher mein bevorzugtes Spezialgebiet,<br />
weshalb ich in meiner <strong>GeneTalogie</strong>-Internetseite mit einem<br />
umfangreichen Literaturverzeichnis unter dem Titel„Weitverzweigt und<br />
eng verflochten― aufwarten kann:<br />
http://www.genetalogie.de/ahn/litlistindex.html<br />
Auch die Thematik <strong>der</strong> Ahnengemeinschaften hängt mit dieser Implex-<br />
Erscheinung aufs engste zusammen.<br />
Das Charakteristikum <strong>der</strong> genealogischen Strukturen sind aber<br />
Baumstrukturen! Keine Netze! Die Bezeichnung „Stammbaum“ ist ein<br />
sinnvoller genealogischer Uraltbegriff dafür. Und zwar ist sowohl die<br />
Vorfahren- als auch die Nachkommenschaft baumartiger Struktur.<br />
Innerhalb <strong>der</strong> Genealogie bemüht man sich allerdings mit Recht um eine<br />
sinnvolle Abgrenzung des Begriffs „Stammbaum―, den man hier nur für<br />
die Nachkommenschaft eines Geschlechts (einer Familie) benutzt (bzw.<br />
benutzen sollte!). Die Ahnenschaft ist aber auch baumartig aufgebaut,<br />
mathematisch sogar exakt symmetrisch, während die<br />
Nachkommenschaft nur eine „statistische Baum-Symmetrie― besitzt.<br />
Eine Ahnentafel ist aber, wie wir wissen, auch ein „Ahnenbaum“ , wo<br />
allerdings dem Wort „Baum― bekanntlich ein „falscher<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 443<br />
<strong>Zeit</strong>richtungssinn“ unterstellt wird: die feinsten, jüngsten(!) Zweige des<br />
Baumes sind die die ältesten(!) Ahnen! Unsere wissenschaftlich<br />
wesentlich angeseheneren Nachbarwissenschaften: die Medizin und die<br />
Genetik, machen aber lei<strong>der</strong> nur selten be<strong>im</strong> Begriff „medizinischer<br />
Stammbaum― einen begrifflichen Unterschied. Unabhängig davon, ob es<br />
sich um Vorfahren o<strong>der</strong> Nachkommen handelt findet man oft beides mit<br />
dem Begriff „Stammbaum― bezeichnet. Man betrachtet die<br />
Abstammungsverhältnisse hier eben rein medizinisch ohne Rücksicht<br />
auf zeitlich und rechtlich-historische Familienzusammenhänge, was für<br />
eine medizinische Betrachtungen auch wohl ausreichend ist. Man<br />
benutzt das schöne Wort „Stammbaum“ eben in bei<strong>der</strong>lei zeitlichem<br />
Richtungssinne wie die Mathematik die Abszisse in einem<br />
Koordinatensystem. Wir Genealogen werden hier wohl auch kaum<br />
Chancen haben, unsere Bezeichungsweise auch bei diesen<br />
Nachbarwissenschaften durchzusetzen.<br />
Die naturwissenschaftliche Tatsache <strong>der</strong> Netzartigkeit <strong>der</strong><br />
Bevölkerungsstrukturen sind wohl erst durch Siegfried RÖSCH in<br />
ihrem vollen Verflechtungsausmaß in <strong>der</strong> zweiten Hälfte des 20.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts aufgedeckt worden. Und zwar an einem opt<strong>im</strong>al<br />
erforschtem genealogischen Material, dem mitteleuropäischem Adel,<br />
wenn es hier auch bereits einige Vorgängereinzelstudien gegeben hat<br />
(z. B. Wilhelm Heinrich RUOFF, Erich BRANDENBURG und Wilhelm<br />
Karl Prinz v. ISENBURG). Allgemein-theoretische Studien über die<br />
durchschnittliche verwandtschaftliche Verflechtung einer Bevölkerungen<br />
sind allerdings schon durch den Wahrscheinlichkeits-Mathematiker Dr.<br />
Hermann von SCHELLING um 1945 veröffentlich worden, worauf wir<br />
noch eingehen werden.<br />
Graphisch hat Rösch in seinem Buch „Caroli Magni Progenies― (siehe<br />
oben!) zum Beispiel an zwei Bil<strong>der</strong>n (Bild 4 und Bild 7) gezeigt, wie sich<br />
solche Netze generationsmäßig entwickeln. In meinem „Königsbuch―<br />
von 1997 habe ich an zahlreichen Grafiken (Ausschnitten einer<br />
Dynasten-Ahnentafel) an konkreten Personen aufgezeichnet, wie sich<br />
die verwandtschaftlichen Verflechtungen (Netze) entwickelt haben. Z.B.<br />
in den Abbildungen 4, 8a, 8b, 13 und 21); <strong>der</strong> Mittelteil <strong>der</strong> farbigen Abb.<br />
21 „ziert― sogar als Umschlagszeichnung das Buch. Siehe:<br />
http://www.genetalogie.de/bil<strong>der</strong>htm/genetalogiebuch.html<br />
Es muß allerdings einschränkend gesagt werden, daß die<br />
charakteristische Baumstruktur bei den genealogischen Strukturen<br />
<strong>im</strong>mer Anfangsstrukturen sind. Mit wachsendem Erforschtheitsgrad<br />
machen sich nämlich <strong>im</strong>mer mehr die „Störfaktoren― bemerkbar. Welche<br />
Störfaktoren? Ganz einfach <strong>der</strong> o. g. Implex macht sich <strong>im</strong>mer stärker<br />
bemerkbar und wandelt die Baumstruktur mehr und mehr zu einer<br />
Netzstruktur um. Bei bürgerlichen Genealogien in Mitteleuropa wird<br />
diese Erscheinung aufgrund <strong>der</strong> größeren Heiratskreise und <strong>der</strong><br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 444<br />
schlechteren Quellenlage <strong>im</strong> allgemeinen weniger stark bemerkt als bei<br />
dynastischen Genealogien mit ihren kleineren Heiratskreisen.<br />
Bürgerliche Genealogien erreichen <strong>im</strong> allgemeinen schon nach<br />
wenigeren Generationen ihr Ende („tote Punkte―) als dynastische.<br />
Prinzipiell besteht jedoch zwischen bürgerlichen und dynastischen<br />
Genealogien in dieser Hinsicht kein Unterschied.<br />
Jetzt wie<strong>der</strong> zurück zu unseren beiden Geschlechts-Chromosomen X<br />
und Y, von denen behauptet wurde, daß sie beson<strong>der</strong>e genealogische<br />
Strukturmerkmale besitzen bzw. solche erzeugen. Bereits <strong>der</strong><br />
genealogische Aufbau des „Elternbaumes“ eines Probanden (Eltern/<br />
Großeltern/ Urgroßeltern/ Ururgroßeltern usw.), kurz Ahnentafel<br />
genannt, überrascht bei näheren Zusehen durch seine kosmische<br />
Struktur-Harmonie! Die Ahnentafelstruktur ist wohl auch das einzige<br />
unumstößliche eiserne Gesetz <strong>der</strong> Genealogie, da ihr Aufbau darauf<br />
beruht, daß je<strong>der</strong> Mensch nicht mehr und nicht weniger als 2<br />
Elternpersonen besitzt.<br />
Eine noch wenig beachtete Gemeinsamkeit ist, daß die Ahnentafel-<br />
Struktur auch <strong>der</strong> „Stammbaum― des Zweier-Zahlensystems ist! Wir<br />
kennen das Zweier- bzw. Dualsystem ja bereits als das<br />
Basisrechensystems jedes mo<strong>der</strong>nen Computers. LEIBNIZ läßt grüßen!<br />
Ihm zu Ehren habe ich die bisher erforschten Ahnen seiner Ahnentafel<br />
als „Dualzahl-Stammbaum― in <strong>der</strong> dritten Abb. dargestellt. Der<br />
„Erforschtheitsgrad― ist nicht son<strong>der</strong>lich hoch, wir müssen aber<br />
bedenken, daß LEIBNIZ selbst noch <strong>im</strong> 30-.jährigen Krieg (1646)<br />
geboren wurde, z. B. drei Generationen vor Goethe (1749) und in dieser<br />
<strong>Zeit</strong> sind hier die schriftlichen Quellen schon wesentlich reichhaltiger.<br />
Das Dualzahl-Aufbauprinzip entspricht also ganz dem (theoretischen)<br />
Ahnentafelschema. Beide wachsen bezüglich Nummern bzw.<br />
Personen eisern nach Zweierpotenzen. Dieser Dualzahl-<br />
"Stammbaum" bietet uns daher auch ein wun<strong>der</strong>schönes Schema zum<br />
wechselseitigen Umrechnen von Dez<strong>im</strong>al- und Dualzahlen.<br />
Die einzelnen Generationen k sind <strong>der</strong> jeweilige Anfang <strong>der</strong> einzelnen<br />
„Stellenwerte― des Zweiersystems, die auch als Zweierpotenzen 2 k<br />
geschrieben werden können und in ihrer vertikalen „Abstammungs“-<br />
Folge die sog. „Stammlinie“ (Namenslinie, Wappenlinie) markieren. In<br />
dieser „Dualzahl-Ahnentafel― erfolgt innerhalb einer Generation <strong>der</strong><br />
Zahlenaufbau horizontal von einem Stellenwert (Generation) bis zur<br />
letzten Zahl dieses Stellenwertes (Generation).<br />
Z.B. in <strong>der</strong> 8 Personen umfassenden Urgroßelterngeneration:<br />
von 1000 (2 3) ), 1001, 1010, 1011, 1100, 1101, 1110 bis 1111 (2 4 -<br />
1).<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 445<br />
Doch alles Weitere möchte ich meinen doch sehr verständigen Lesern<br />
zum weitern Ausdeuten in ihrem Sinne überlassen, wozu die drei<br />
Abbildungen wohl zunächst ausreichend selbsterklärend sind. Siehe:<br />
http://www.genetalogie.de/bil<strong>der</strong>htm/dualzahl.html<br />
http://www.genetalogie.de/bil<strong>der</strong>htm/ahnentafel.html<br />
http://www.genetalogie.de/bil<strong>der</strong>htm/leibdual.html<br />
Dabei wird <strong>der</strong> genealogisch beflissene Leser sofort mit einem Blick<br />
auch die enge Verwandtschaft des heute üblichen Ahnen-Nummern-<br />
Systems nach Stephan KEKULE von STRADONITZ, 1863-1933, zum<br />
Zweiersystem erkennen und es somit als das sinnvollste und<br />
natürlichste Numerierungssystems nun noch mehr bewun<strong>der</strong>n, da es ja<br />
<strong>der</strong> genealogischen Struktur „hautnah auf den Leib geschrieben― ist.<br />
Die genealogische „Stammlinie― ist <strong>der</strong> „Erbweg― das Y-Chromosoms,<br />
und damit <strong>der</strong> „Stellenwerte-Linie― des Zweiersystems―:<br />
2 0 (1), 2 1 (2), 2 2 (4), 2 3 (8), 2 4 (16)… 2 k :<br />
Proband, Vater, Großvater, Urgroßvater, Ururgroßvater usw.<br />
Auch eine Beziehung zwischen den „beiden Ahnentafeln― (des<br />
Zweiersystems und <strong>der</strong> Genealogie) zum berühmten und<br />
unausschöpflichen „Pascalschen Dreieck― sei hier noch in einer<br />
Abbildung gezeigt, wie ich sie vor vielen Jahren einmal in einer<br />
Mußestunde gezeichnet habe und ihr damals den Namen<br />
„genealogisches Weinglas“ gegeben habe.<br />
Diese Struktur ist auch ein sinnvoller Übergang zu den eigentlichen<br />
„schönen und goldigen“, den „harmonischen“ Mustern <strong>im</strong> Kosmos<br />
<strong>der</strong> Natur, dem sogenannten „Goldenen Schnitt“. Dazu führt uns<br />
auch ein „geneTalogischer― Weg!<br />
Anstelle dieser nicht mehr auffindbaren Abbildung ersatzweise hier die<br />
Beziehung zwischen Pascal-Dreieck und Fibonacci-Zahlen sowie ein<br />
dualer „Stammbaum― am Beispiel von Goethes Ahnentafel.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />
S e i t e | 446
S e i t e | 447<br />
Noch interessantere Ahnentafel-Strukturen erhalten wir, wenn wir die<br />
genealogische Vererbungsweise des an<strong>der</strong>en Geschlechts-<br />
Chromosoms, des X-Chromosoms, betrachten! Hier ergibt sich nun<br />
auch wie<strong>der</strong> ein „Stammbaum―, sogar ein interessant geglie<strong>der</strong>ter „X-<br />
(Chromosomen)-Stammbaum―.<br />
Wie können wir diesen sichtbar machen? Er ergibt sich am<br />
einfachsten dadurch, daß wir alle Abstammungslinien innerhalb einer<br />
Ahnentafel wegstreichen, die für eine X-Chromosomen-Übertragung<br />
auf den Probanden nicht in Frage kommen können! Welche sind<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 448<br />
dies? Vom Probanden ausgehend alle solche Linien die eine<br />
Abstammung „Mann-Mann“ (0-0) aufweisen. Ist unser Proband<br />
männlich, dann ist die erste solche Linie: Vater-Proband ( Sohn). Das<br />
bedeutet aber, daß wir die ganze „linke Seite―, die väterliche Seite<br />
wegzustreichen haben, denn alle Erbwege führen hier ja über den Vater,<br />
wo alle Y-„Quellen― geneTalogisch abgeschnitten werden! Ist <strong>der</strong><br />
Proband aber weiblich, dann bleiben Vater und Mutter noch erhalten,<br />
denn hier haben wir die Linien Mann-Frau (Vater-Tochter) und Frau-<br />
Frau (Mutter-Tochter). Gehen wir nun zur nächsten Generation mit ihren<br />
jetzt 4 verschiedenen Mann(M)-Frau(F)-Linien. Und zwar M-M<br />
(Großvater-Vater), F-M (Großmutter-Vater) väterlicherseits und MF<br />
(Großvater-Mutter), F-F (Großmutter-Mutter) mütterlicherseits. Hier ist<br />
nur M-M zu streichen, also die Linie (väterl. Großvater auf Vater).<br />
Väterlicherseits bleibt bei einem weiblichen Probanden also noch ein „X-<br />
Baum― übrig bleibt, <strong>der</strong> von <strong>der</strong> väterlichen Großmutter ausgeht. Und so<br />
verfahren wir von Generation zu Generation weiter, um schließlich bei<br />
<strong>der</strong> 7. Ahnengeneration zu einem „Goldenen-Schnitt-Muster“ zu<br />
kommen, daß durch die berühmte Fibonacci-Zahlenreihe<br />
ausgezeichent ist.<br />
Siehe dazu auch:<br />
http://www.genetalogie.de/artikel/html/ar_afs79/ar_afs79.htm<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 449<br />
13.3 Zwischenbetrachtung: „Goldner Schnitt“ am „X-<br />
Chromosomen-Stammbaum“<br />
Die Anzahlen <strong>der</strong> Personen je Generation, von denen aus eine X-<br />
chromosomale Vererbung auf den Probanden möglich ist, sind die<br />
Zahlen <strong>der</strong> Fibonacci-Reihe. Die Fibonacci-Zahlenreihe ist: 1, 1, 2, 3, 5,<br />
8, 13, 21, 34, 55 … Jedes Glied ergibt sich aus <strong>der</strong> Summe <strong>der</strong> beiden<br />
vorangehenden.<br />
Allgemein: a n+2 = a n + a n+1<br />
Für einen männlichen Probanden in <strong>der</strong> Ahnengeneration k n ergibt sich<br />
auf <strong>der</strong> mütterlichen Ahnentafelseite dieser „Baum―:<br />
k +-0 = +- 0 : 1 (Ahnen-Nr. 1):<br />
k -1 = 1 (Ahnen-Nr. 3)<br />
k -2 = 2 (Ahnen-Nrn. 6, 7)<br />
k -3 = 3… ( „ 13, 14, 15)<br />
k -4 = 5 ( „ 26, 27, 29, 30, 31)<br />
k -5 = 8 ( „ 53, 54, 55, 58, 59, 61, 62, 63)<br />
k -6 = 13 ( „ 106, 107, 109, 110, 111, 117, 118, 119, 122, 123, 125,<br />
126, 127.<br />
Für einen weiblichen Probanden ergeben sich zwei „X-Chromsomen-<br />
Stammbäume―, <strong>der</strong> auf <strong>der</strong> mütterlichen Seite ist identisch mit dem<br />
obigen „X-Baum― eines männlichen Probanden. Hinzukommt auf <strong>der</strong><br />
väterlichen Seite:<br />
k +-0 = +- 0 : (Ahnen-Nr. 1):<br />
k -1 = 1 (Ahnen-Nr. 2)<br />
k -2 = 1 (Ahnen-Nr. 5)<br />
k -3 = 2…( „ 10, 11)<br />
k -4 = 3 ( „ 21, 22, 23)<br />
k -5 = 5 ( „ 42, 43, 45, 46, 47)<br />
k -6 = 8 ( „ 85, 86, 87, 90, 91, 93, 94, 95.<br />
k -7 = 13 ( „ 170, 171, 173, 174, 175, 181, 182, 183, 186, 187, 189,<br />
190, 191.<br />
Auch die männlichen und weiblichen „X-Ahnen― stehen in den einzelnen<br />
Generationen <strong>im</strong> Verhältnis <strong>der</strong> Fibonacci-Zahlen; z.B. bei einem<br />
männlichen Probanden in <strong>der</strong><br />
Generation k -6 = 5 männliche (170, 174, 182, 186, 190) und<br />
8 weibliche (171, 173, 175, 181, 183, 187, 189, 191).<br />
Daraus folgt also für die Personenanzahlen insgesamt, als auch einzeln<br />
nach männlich und weiblich getrennt, daß die Fibonacci-Zahlen sowohl<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 450<br />
senkrecht <strong>im</strong> Sinne des <strong>Zeit</strong>verlaufs <strong>der</strong> Generationen, als auch<br />
horizontal innerhalb <strong>der</strong> einzelnen Generationen auftreten!<br />
Die Fibonacci-Reihe ist mathematisch dadurch gekennzeichnet, daß die<br />
Verhältnisse (Quotienten) zwischen den benachbarten Glie<strong>der</strong>n sich bei<br />
zunehmenden Schritten dem Verhältnis des „Goldenen Schnittes“<br />
<strong>im</strong>mer mehr nähern, dessen Zahlenwert in <strong>der</strong> Mathematik mit dem<br />
griechischen Buchstaben φ (Phi) bezeichnet wird und eine<br />
Weltkonstante darstellt, ähnlich wie etwa die „Kreiszahl und Kugelzahl―<br />
π (Pi) und die Zahl e (E), die Basis des natürlichen Logarithmus, die in<br />
<strong>der</strong> höheren Mathematik (Differential- und Intergralrechnung) eine sehr<br />
große Rolle spielt.<br />
Als Beispiel dieser schrittweisen, abwechselnden (alternierenden)<br />
Annäherung:<br />
1/1=1, 2/1=2, 3/2=1,5, 5/3=1,667, 8/5=1,6, 13/8=1,625,<br />
21/13=1,615<br />
Der „Goldene Schnitt― ist geometrisch dadurch gekennzeichnet, daß <strong>der</strong><br />
längere Teil (= a) sich zum Ganzen (= 1) wie <strong>der</strong> kürzere (= b =1-a) sich<br />
zum längern (a) verhält:<br />
a/ b = (a+ b)/ a = φ = 1,61803…<br />
Es gilt auch: φ = (1 + 5) /2 = 1,61803…<br />
Manchmal wird auch <strong>der</strong> Kehrwert von Phi φ für das Teilungsverhältnis<br />
des „Goldenen Schnittes― verwendet, die Zahl Omega ω = 0,61803…<br />
Lieber Leser, vielleicht ist Dir etwas aufgefallen? Es ist kein<br />
Schreibfehler: tatsächlich sind die Ziffern von ω und φ nach dem<br />
Komma gleich! Die Zahle φ ist nämlich die einzige positive Zahl <strong>der</strong><br />
Welt, <strong>der</strong>en Kehrwert sich durch Subtraktion <strong>der</strong> Zahl 1 ergibt:<br />
φ - 1 = 1/φ = ω<br />
1,61803… -1 = 1 / 1,61803 … = 0, 61803…<br />
GeneTalogisch bedeutungsvoll ist, daß <strong>der</strong> „X-Chromosomen-<br />
Stammbaum“ des Menschen ganz <strong>der</strong> Ahnentafel-Struktur unserer<br />
Honigbiene entspricht. Darüber hat Siegfried RÖSCH bereits vor 40<br />
Jahren den schönen Artikel „Die Ahnenschaft einer Biene“<br />
geschrieben (Genealogisches Jahrbuch (1967) Nr. 6/7, S. 5-119) und<br />
die Fibonacci-Zahlenreihe schon damals mit Implex-Strukturen in<br />
Zusammenhang gebracht, wie er sie in seinen „Grundzügen einer<br />
quantitativen Genealogie― (1955) an Beispielen von krassem<br />
„Ahnenschwund― (Inzucht und Inzest) schon graphisch dargestellt hatte.<br />
Im konkreten Fall war es das Extrembeispiel von konsequenter Kind-<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 451<br />
Elter-Zeugung (dort Fig. 17), wie es <strong>im</strong> Pflanzen- und Tierreich,<br />
beson<strong>der</strong>s bei Züchtungen, aber auch be<strong>im</strong> Menschen vorkommt. Und<br />
das nicht nur bei Asozialen, son<strong>der</strong>n neuerdings auch in <strong>der</strong><br />
allerneusten Reproduktionsmedizin. Durch die Presse ging kürzlich ein<br />
Fall unter <strong>der</strong> Überschrift „Familie aus dem Setzkasten― (Süddeutsche<br />
<strong>Zeit</strong>ung 2007-07-05) wo z. B. eine junge Mutter aus Kanada Eizellen für<br />
ihre erst 7 Jahre alte Tochter gespendet hat, die selbst wegen einer<br />
seltenen Chromosomenkrankheit sonst nie Kin<strong>der</strong> bekommen könnte.<br />
Die Eizellenspen<strong>der</strong>in könnte sich dann bei <strong>der</strong> späteren Befruchtung<br />
<strong>der</strong> Eizellen und Geburt eines Kindes, das Ihre inzwischen erwachsene<br />
Tochter dann gebären würde, sowohl als Großmutter als auch als Mutter<br />
betrachten.<br />
Daß die Ahnentafel einer Biene mit dem menschlichen „X-<br />
Chromosomen-Stammbaum― strukturell völlig übereinst<strong>im</strong>mt, beruht<br />
einfach darauf, daß eine männliche Biene (Drohne) nur von einer Mutter<br />
(Königin) abstammt, also durch Parthenogenese (Jungfernzeugung)<br />
entsteht, während eine weibliche Biene, von Eltern (Drohnen und<br />
Königin) abstammt. Eine Abstammung Drohne(vater)- Drohne(sohn)<br />
kommt nicht vor, was das Analogon zur geneTalogischen Tatsache ist,<br />
daß eine X-chromosomale Vererbung Vater-Sohn nicht möglich ist.<br />
Hinsichtlich väterlicher und mütterlicher Bienenahnentafel (Drohn und<br />
Königin) ergeben sich die analogen Gemeinsamkeiten (Verschiebung<br />
um eine Generation) wie bei <strong>der</strong> Vererbung des X-Chromosomes be<strong>im</strong><br />
Menschen, für Mann und Frau.<br />
Bevor ich hier noch auf meine geneTalogischen Folgerungen bzw.<br />
Thesen eingehe, die mit <strong>der</strong> geschlechtsgebundenen Son<strong>der</strong>vererbung<br />
des Geschlechtschromosoms X bzw. seiner Gene (X-chromosomale<br />
Gene) zusammenhängen, möchte ich noch einige weitere Vorkommen<br />
des „Goldenen Schnittes bzw. <strong>der</strong> Fibonacci-Zahlenfolge erwähnen, wie<br />
sie uns in <strong>der</strong> Mathematik, <strong>der</strong> anorganischen und organischen Natur<br />
sowie in <strong>der</strong> Kunst begegnen.<br />
Es seien hier nur Stichworte zur Andeutung aufgezählt, daß die Zahl φ<br />
(Phi) in ihren beiden „Ausprägungen― <strong>der</strong> Fibonacci-Reihe und/o<strong>der</strong><br />
des „Goldenen Schnittes“ nicht nur in <strong>der</strong> menschlichen Ästhetik<br />
großer Kunstwerke eine Rolle spielt, wie bei: <strong>der</strong> Cheopspyramide, dem<br />
Parthenon, dem Dom in Florenz; bei berühmten Gemälden o<strong>der</strong><br />
Zeichnungen, wie bei: Leonardo da VINCI, 1452-1519, (Mona Lisa),<br />
RAFFAEL, 1483-1520, (Galatea, Sixtinischer Madonna), Albrecht<br />
DÜRER, 1471-1528, (Selbstbildnis, Melancholie).<br />
Auch <strong>im</strong> ganzen biologischen Naturgeschehen hat die Fibonacci-<br />
Reihe eine große Bedeutung, wie <strong>der</strong> italienische Mathematiker<br />
FIBONACCI, nach dem diese Reihe benannt ist, bereits an einer<br />
„geneTalogischen― Vermehrungstheorie, seiner berühmten Kaninchen-<br />
Fortpflanzung gezeigt hat, weitere Beispiel sind die Blattstellung an<br />
Pflanzenstengeln, <strong>der</strong> Anordnung <strong>der</strong> Ornamentelemente bei<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 452<br />
Tannenzapfen, be<strong>im</strong> Samenkopf <strong>der</strong> Sonnenblume, bei Blütenblättern,<br />
bei Fischschuppen usf., <strong>der</strong> Form <strong>der</strong> Schneckenhäuser, Proportionen<br />
des menschlichen Körpers, ja selbst <strong>der</strong> Doppelwendeltreppe des<br />
„Lebensfadens―, <strong>der</strong> Desoxyribonukleinsäure (DNS).<br />
Aber auch in <strong>der</strong> strengen Mathematik erscheint die Zahl φ (Phi)<br />
(Zehneck, Fünfeck, Pascal-Dreieck, logarithmische Spiral, gewisse<br />
Kettenbrüche), daß man wohl mit Recht sagen kann, daß sie eine<br />
„Weltkonstante― von ähnlicher Bedeutung ist wie die Zahlen π (Pi) und<br />
e (E).<br />
Siegfried RÖSCH war wohl auch als Pädagoge, Naturwissenschaftler<br />
und Mathematikliebhaber dafür prädestiniert nach seiner Pensionierung<br />
(1965) neben seinen weiteren wissenschaftlichen Fachstudien zur<br />
Farbenlehre und Quantitativen Genealogie auch<br />
populärwissenschaftliche Aufsätze für die „Allgemeinheit― und die<br />
Jugend zu schreiben. Einige Titel dieser Arbeiten seien hier genannt:<br />
„Expedition in unerforschtes Zahlenland― (1962, Neues Universum);<br />
„Neues vom Pascal-Dreieck― (1965, Bild <strong>der</strong> Wissenschaft);<br />
„Die Farben-Sonnenuhr von Gravenbruch― (1968, Deutsche Maler- u.<br />
Lackiererzeitschrift); „Gedanken eines Naturforschers zu Dürers<br />
‚Melancholie― (1971, Verein für Geschichte <strong>der</strong><br />
Stadt Nürnberg);<br />
„Eine Kartei deutscher Ortsnamen- mit Rückwärts-Alphabet― (1972, DK-<br />
Mitteilungen)<br />
„Wetzlar als Sonnenuhrenstadt― (1973, Schriften <strong>der</strong> Freunde alter<br />
Uhren);<br />
„Eine Z<strong>im</strong>mer-Sonnenuhr― (1974, Schriften <strong>der</strong> Freunde alter Uhren);<br />
„Abenteuer in <strong>der</strong> Zahlenebene― (1975, Neues Universum);<br />
„Gemessene Schönheit. Farbe bei Edelsteinen (1975, Bild <strong>der</strong><br />
Wissenschaft).<br />
„Rund um die Zahl Pi― (1976, Neues Universum),<br />
„Mathematik in Spiralen― (1977, Neues Universum);<br />
„Gleichziffrig o<strong>der</strong> Zifferngleich?― (1978, Bild <strong>der</strong> Wissenschaft);<br />
„Zahlen in <strong>der</strong> Natur und in <strong>der</strong> Kunst― (1980, Gesellschaft für<br />
Klassifikation).<br />
„Der Repunit-Turm (1978, Neues Universum);<br />
„Ordnungsfarben für die Büro- und Bibliothekstechnik (1979, Farbe +<br />
Design).<br />
„Der Mensch auf <strong>der</strong> Weltenleiter― (1981, Neues Universum);<br />
„Kugel mit quadratischem Querschnitt― (1982, Bild <strong>der</strong> Wissenschaft).<br />
Abschließend zum Exkurs „Goldner Schnitt― am „X-Chromosomen-<br />
Stammbaum― noch ein Ausspruch des bekannten englischen Physikers<br />
und Astronomen Arthur Stanley EDDINGTON, 1882-1944, einem<br />
führenden Vertreter <strong>der</strong> Relativitätstheorie, die er mit <strong>der</strong> Quantentheorie<br />
zu verschmelzen trachtete:<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 453<br />
„Wir haben an den Gestaden des Unbekannten eine rätselhafte<br />
Fußspur entdeckt. Wir haben viel Mühe und Scharfsinn darauf<br />
verwandt, ihren Ursprung zu erkunden. Schließlich ist es uns<br />
gelungen, das Wesen zu rekonstruieren, von dem sie stammt: und<br />
siehe, es ist unsere eigene.“<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
13.4 Fortsetzung Gene / <strong>GeneTalogie</strong> / kosmische<br />
Harmonie<br />
Es liegt mir nun am Herzen, nachfolgend noch einige Gedanken und<br />
Folgerungen aus <strong>der</strong> von mir entdeckten geschlechtsgebundenen<br />
Vererbung <strong>im</strong> Rahmen <strong>der</strong> genealogischen Strukturen darzulegen. Die<br />
geschlechtsgebundene Vererbung ist ein Kind aus dem Anfang des 20.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts (siehe oben! MORGAN und BRIDGES). Daß diese<br />
Erkenntnissse von <strong>der</strong> Genealogenschaft trotz <strong>der</strong> seit langem daraus<br />
resultierenden Erkenntnisse durch die Medizin (Rot-Grün-<br />
Farbenblindheit, Hämophilie, Mikrophthalmie, aber auch gewisser<br />
Geistesanomalien auf Grund defektem X-Chromosoms ) kaum bis heute<br />
berücksichtigt worden ist, hat wohl verschiedene Gründe, die neue<br />
Kapitel nötig machten. Ich möchte aus meiner Sicht versuchen, <strong>der</strong><br />
Genealogie einige weitere „geneTalogische Schübe― auf breiterer<br />
Basis(!) durch dieses Buch versetzen (wie ich es schon mehrfach seit<br />
1979 nur <strong>im</strong> engsten genealogischen Kreise durch Fachartikelbeiträge<br />
versucht habe) , und zwar aufbauend auf dem quantitativgenealogischen<br />
Geiste Siegfried RÖSCHs und erweitert <strong>im</strong> eigenen<br />
Sinne <strong>der</strong> noch jungen <strong>GeneTalogie</strong>.<br />
Meine bereits ausführlich an Beispielen erläuterte „X-chromosomale<br />
These― sei hier nur nochmals gestreift, um dann ausführlicher die<br />
allerneusten molekulargenetischen Forschungsergebnisse (2003) mit<br />
<strong>der</strong> patrilinearen Stammtafel <strong>der</strong> Genealogie in eine enge Beziehung<br />
zu bringen (Struktur des Y-Chromosomes).<br />
Die obige Struktur des „X-Chromosomen-Stammbaumes“ habe ich<br />
erstmals 1979 zur Überraschung mancher Genealogen veröffentlicht.<br />
Überraschend zunächst deshalb, weil hier geneTalogische<br />
Unterschiede zwischen „männlicher“ und „weiblicher Ahnentafel“<br />
sichtbar werden. Eine weitere Überraschung für die „Quantitative<br />
Genealogie― war es damals, daß innerhalb ein und <strong>der</strong>selben<br />
Generationen die einzelnen Ahnen unterschiedliche<br />
„Erbwahrscheinlichkeiten“ bezüglich <strong>der</strong> X-Chromosomen-<br />
Vererbung aufweisen. Wobei hier auch <strong>im</strong>mer Ahnen vorkommen, die<br />
in Bezug auf das X-Chromosom ganz ausscheiden, quasi „Lücken― auf<br />
<strong>der</strong> Ahnentafel verursachen! Im Falle eines männlichen Probanden war<br />
es <strong>der</strong> Vater selbst, da das X-Chromosom eines Vaters nie auf seinen<br />
Sohn, son<strong>der</strong>n <strong>im</strong>mer nur auf seine Tochter übertragen werden kann.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 454<br />
Wie wir aus <strong>der</strong> Abbildung erkennen, wird <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong> Ahnen, die für<br />
eine X-chromosomale Vererbung überhaupt in Frage kommen,<br />
prozentual <strong>im</strong>mer kleiner. Für die normalen Chromosomen<br />
(Autosomen) ist hingegen die biologische Erbwahrscheinlichkeit (z.<br />
B. <strong>der</strong> biologische Verwandtschaftsanteil b) innerhalb einer Generation<br />
<strong>im</strong>mer gleich; hier gibt es keine erbmäßig bevorzugten Plätze, son<strong>der</strong>n<br />
nur die Abhängigkeit von <strong>der</strong> Generation.-<br />
Wissenschaftshistorisch Interessierte, seien auf meinen ausführlicheren<br />
Grundsatzartikel von 1979 verwiesen, <strong>der</strong> jetzt auch in <strong>der</strong> <strong>GeneTalogie</strong>-<br />
Internetseite steht, unter dem Link: „Erbmäßig bevorzugte<br />
Vorfahrenlinien bei zweigeschlechtigen Lebewesen“ ….<br />
http://www.genetalogie.de/artikel/html/ar_afs79/ar_afs79.htm<br />
Der Artikel war Prof. Siegfried RÖSCH, dem Vater <strong>der</strong> Quantitativen<br />
Genealogie, zu seinem 80. Geburtstag gewidmet. Außerdem habe ich<br />
anhand eines praktischen Beispieles, <strong>der</strong> BISMARCK-Ahnentafel, diese<br />
Theorie noch ausführlicher erläutert, wobei hier meine These von <strong>der</strong><br />
beson<strong>der</strong>en Mittlerrolle X-chromosomaler Gene bei <strong>der</strong><br />
Ausprägung geistiger Eigenschaften <strong>im</strong> Mittelpunkt steht. Was<br />
frühere Genealogen, wie Stephan KEKULE von STRADONITZ für<br />
best<strong>im</strong>mte Bismarck-Ahnen, mutmaßten, habe ich aufgrund <strong>der</strong> neusten<br />
molekulargenetischen und medizinischen Erkenntnisse nun<br />
wissenschaftlich zu stützen versucht (Erweiterung <strong>der</strong> Quantitativen<br />
Genealogie um die X-chromosomale Verwandtschaft).<br />
Dazu siehe ebenfalls in <strong>der</strong> <strong>GeneTalogie</strong>-Internetseite den ausführlichen<br />
Artikel „Eine „Prachtgestalt“ in Bismarcks Ahnentafel“ – Aus <strong>der</strong><br />
Ideengeschichte einer Wissenschaft“ aus dem Jahre 1990 unter<br />
http://www.genetalogie.de/artikel/pdf/bismarck.pdf<br />
Meine These habe ich dann in meinem „Königsbuch― von 1997 mit einer<br />
großen Dynasten-Ahnentafelstatistik, die <strong>der</strong> Physiker und Studienrat<br />
Herr Weert MEYER, jetzt Leer/Ostfriesland, mit einem speziell für diesen<br />
Zwecke entwickelten Computerprogramm durchgeführt hat, weiter zu<br />
untermauern versucht. Siehe dazu:<br />
http://www.genetalogie.de/bil<strong>der</strong>htm/rezension.html<br />
Inzwischen gibt es für mich persönlich hinsichtlich dieser X-<br />
chromosomalen These keine Zweifel mehr. Damit ist auch die These<br />
früherer Genealogen, bezüglich <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en positiv (wie negativen)<br />
geistig-psychologischen Bedeutung <strong>der</strong> mütterlichen(!) Großväter (bei<br />
männlichen Probanden!) für mich keine These mehr, son<strong>der</strong>n hängt aufs<br />
engste mit <strong>der</strong> X-Chromosomen-Vererbung zusammen. Siehe dazu<br />
auch meinen Artikel:<br />
http://www.genetalogie.de/mgross/mgross.html<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 455<br />
----------------------------------------------------------------------------------------------<br />
Doch nun endlich zum allerneusten geneTalogischen Brückenschlag<br />
aufgrund <strong>der</strong> Schlagzeilen machenden „inneren Anatomie-<br />
Beschreibung― des Y-Chromosoms <strong>im</strong> britischen<br />
Wissenschaftsmagazin „Nature― vom 19.6.2003 (Bd. 423, S. 825-837) .<br />
Das solange vernachlässigte und völlig unterbewertete, ja geradezu<br />
erbarmungswürdige Bild des „verkrüppelten― Y-Chromosoms bekam<br />
durch allgemein überraschende neue Ergebnisse eine unerwartete<br />
Aufwertung. Diese wurden veröffentlicht von einem Team von 40<br />
internationalen Forschern unter <strong>der</strong> Leitung des US-Projektleiters David<br />
PAGE. Dieser Bericht reizte mich seinerzeit gleich zu einem<br />
geneTalogischen Kommentar in meiner <strong>GeneTalogie</strong>-Internetseite. Man<br />
findet ihn noch heute unter<br />
http://www.genetalogie.de/diskussion/ychromosom.html<br />
Durch eine hartnäckige, schmerzhafte Erkrankung (Herpes zoster)<br />
persönlich damals sehr beeinträchtigt, möchte ich jetzt nach einem<br />
zeitlichen Abstand von 4 Jahren zu diesem Thema erneut Stellung<br />
nehmen. War doch diese überraschende Entdeckung damals eine<br />
Herausfor<strong>der</strong>ung, mich mit <strong>der</strong> statistischen Auswertung von gut<br />
erforschten Stammtafeln und auch einigen Gesamtnachkommentafeln<br />
intensiv zu beschäftigen, beson<strong>der</strong>s aus dem Archiv von Siegfried<br />
RÖSCH. Im Mittelpunkt meiner geneTalogischen Neugier stand die<br />
einfache, wenn auch vielleicht naive Frage:<br />
„Was ist das eigentliche „Wesen“ des Y-Chromosoms und damit<br />
auch <strong>der</strong> genealogischen Stammtafel herkömmlicher patrilinearer<br />
Darstellung? Die Frage war schon seit 1990 durch das Aufkommen des<br />
„genetischen Fingerabdruckes― wie<strong>der</strong> etwas aktuell geworden. Jetzt<br />
rückte sie aber noch mehr in meinen Interessenkreis, da die<br />
Molekulargenetiker jetzt für das Y-Chromosom ausgesprochen<br />
progressive, dynamische und selbstreparierende Mechanismen<br />
entdeckt zu haben glaubten.<br />
Als Genealoge kann man dazu aufgrund <strong>der</strong> großen Sammlungen von<br />
patrilinearen mitteleuropäischen Stammtafeln zur Klärung meines<br />
Erachtens auch Wertvolles beitragen. Zumindest dort, wo <strong>der</strong> junge<br />
Molekulargenetiker zunächst aufgrund mangelnden Materials nur auf<br />
Spekulationen angewiesen sein dürfte.<br />
Zunächst ging ich <strong>der</strong> Frage nach, wie sich bei gut erforschtem<br />
dokumentiertem Stammtafelmaterial die zahlenmäßige Entwicklung über<br />
die Generation hindurch vollzieht. Kurzum: ich untersuchte statistisch<br />
das Wachsen und Schwinden und Sterben des Y-Chromosoms<br />
einzelner Familien aufgrund gut erforschten genealogischen<br />
Materials. Dabei bekam ich erstmals eine Vorstellung von <strong>der</strong><br />
quantitativen Streuung solcher „Y-Chromosomen-Stammtafeln―, wobei<br />
ich offenbar – zumindest in Deutschland - in ein völliges Neuland<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 456<br />
eingedrungen bin! Vielleicht kann die Frage nach dem Wesen des Y-<br />
Chromosomes aus geneTalogischer Sicht zu interdisziplinären<br />
Brückenschlägen führen. Genügend geeignetes familienkundliches<br />
Material haben in jahrhun<strong>der</strong>telanger emsiger Forschung Genealogen<br />
und an<strong>der</strong>e Privatpersonen erforscht. Darauf hinzuweisen ist meine<br />
Absicht und letztendlich auch die Absicht dieses Buches!<br />
Doch zunächst zu den neuen Erkenntnissen, wie sie sich z. B. in einem<br />
F.A.Z.-Artikel nach <strong>der</strong> oben genannten Nature-Veröffentlichung<br />
wi<strong>der</strong>spiegeln:<br />
Frankfurter Allgemeine <strong>Zeit</strong>ung (2003-06-20).<br />
„Ehrenrettung für den Mann. Erstaunlich progressiv: Das Y-<br />
Chromosom“:<br />
Eine internationale Forschergruppe um David PAGE hat das Y-<br />
Chromosom eines Mannes fast vollständig sequenziert und eine Reihe<br />
überraschen<strong>der</strong> Eigenschaften zutage geför<strong>der</strong>t.<br />
Dazu gehört die bemerkenswerte Anzahl an Genen. Verglichen mit<br />
an<strong>der</strong>en Chromosomen, wo <strong>im</strong> Schnitt etwa zehn Gene auf eine Million<br />
Bausteine des Erbmaterials (DNS) kommen, findet man <strong>im</strong> Y-<br />
Chromosom zwar gut zwei Drittel weniger Gene; aber doch erheblich<br />
mehr als erwartet:<br />
Mindestens 78 Gene hat man entschlüsselt, 27 darunter enthalten die<br />
Information für die Herstellung von Eiweißen. Eine Reihe davon, aber<br />
eben längst nicht alle, werden ausschließlich in den Zellen <strong>der</strong> Hoden<br />
benötigt. Ein gutes Dutzend <strong>der</strong> [dieser!] Y-Chromosom-Gene ist<br />
auch an zahlreichen an<strong>der</strong>en Orten, das Gehirn des Mannes<br />
eingeschlossen, aktiv. Das dürfte neuen Raum bieten für<br />
Spekulationen hinsichtlich <strong>der</strong> biologischen Unterschiede von Mann und<br />
Frau – Spekulationen aber eben bloß.―<br />
Lange galt als eine Beson<strong>der</strong>heit des Y-Chromosoms, daß es hier<br />
praktisch keinen Gen-Austausch („crossing-over―) zum entsprechenden<br />
Partner-Chromosom, wie bei den „normalen― Chromosomen (den<br />
sogenannten Autosomen) gibt. Nur von einem ganz kleinen Anteil, den<br />
man jetzt mit 5 % <strong>der</strong> Länge des Y-Chromosoms bemißt, wußte man,<br />
daß bei <strong>der</strong> Reifeteilung (Meiose) ein partnerschaftlicher Austausch mit<br />
dem X-Chromosom stattfindet.<br />
Die neuen Untersuchungen haben nun zunächst ergeben, daß 95 % <strong>der</strong><br />
Gesamtlänge des Y-Chromosomes ein abgeson<strong>der</strong>ter (discrete)<br />
männlichkeits-spezifischer MSY-Bereich („male-specific region of Y-<br />
chromosom―) ist. Nur <strong>der</strong> restliche Bereich von 5 % ist ein „offener―,<br />
Bereich, <strong>der</strong> zum X-Chromosom in Wechselwirkung steht; diese Region<br />
flankiert den MSY- Bereich von beiden Seiten.<br />
Das eigentlich Überraschende ist die Tatsache, daß diese MSY-<br />
Hauptregion des Y-Chromosoms eine gänzlich an<strong>der</strong>e molekulare<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 457<br />
Struktur besitzt, wie man sie vom üblichen Gen-Austauschbereich<br />
zwischen dem Partner-Chromosom bisher noch nicht gekannt hat. Diese<br />
Struktur ermöglicht einen „Therapie-Mechanismus“, <strong>der</strong> krankhaft<br />
mutierte Y-chromosomale Gene bzw. Genbereiche entfernen kann.<br />
Diese Struktur hat sich <strong>im</strong> Laufe <strong>der</strong> Evolution <strong>im</strong> „Geschlechterkampf zu<br />
dieser Einzelkämpferdisziplin― entwickelt, um den abgeson<strong>der</strong>ten MSY-<br />
Bereich vor fatalen Defekten zu schützen. Das charakteristische sind 8<br />
typische Bereiche („Pakete―) mit vielfach gleicher Genfolge<br />
(Basensequenz), die es gestatten, mit sich selbst Genabschnitte<br />
auszutauschen und auf diese Weise defekte Gene zu beseitigen.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
13.5 Palindrome – Inseln <strong>der</strong> „therapeutischen“ Ordnung<br />
in <strong>der</strong> genetischen Schrift<br />
Das wun<strong>der</strong>bare an dieser „Therapie-Struktur“ ist, daß dies durch<br />
Ausstülpungen auf dem sonst gleichmäßigen Band <strong>der</strong> DNA geschieht,<br />
gewissermaßen durch „Noppen―. Diese Noppen-Stränge stehen sich<br />
jetzt wie Gen-Spiegelbil<strong>der</strong> gegenüber und können dadurch kranke<br />
Gene abstoßen. Diese Spiegelbil<strong>der</strong> nennt man Palindrome. Der Begriff<br />
kommt aus dem Griechischen (palindrom: hin- und zurücklaufend). Ein<br />
Palindrom ist eine Schrift, die vor- und rückwärts gelesen den gleichen<br />
Wortlaut ergibt. Typische Palindrome sind die Worte Otto o<strong>der</strong> Retter.<br />
Weitere Beispiel sind Reliefpfeiler o<strong>der</strong> die etwas abstrusen Sätze:<br />
Ein Neger mit Gazelle zagt <strong>im</strong> Regen nie. – Leg in eine so helle<br />
Hose nie n’Igel.<br />
Diese Beispiele habe ich dem wun<strong>der</strong>schönen Buch „Chaos und<br />
Ordnung. Die komplexe Struktur des Lebendigen“ entnommen. Der<br />
Autor ist Prof. Dr. Friedrich CRAMER,<br />
* Breslau 1923, + Göttingen 2003, Chemiker und zuletzt Direktor des<br />
Göttinger MAX-Planck-Institutes für exper<strong>im</strong>entelle Medizin. Sein Buch<br />
habe ich schon 1990, kurz nach seinem Erscheinen (1988), in einem<br />
„geneTalogischen― Fachaufsatz (in: Archiv für Sippenforschung) lobend<br />
erwähnt: „ein schönes lebendiges Buch von berufener Seite, das helfen<br />
möchte, die Kluft zwischen <strong>der</strong> technisch-naturwissenschaftlichen und<br />
<strong>der</strong> philosophisch-künstlerischen Welt zu überbrücken.―<br />
Seinerzeit ahnte ich noch nicht, daß mich vor allem das 6. Kapitel<br />
seines Buches: „Die Welt ist harmonisch“ <strong>im</strong> Rahmen meiner<br />
geneTalogischen Studien zum Y-Chromosomes nach 17 Jahren - jetzt<br />
mit noch verständnisvollerem Interesse - beschäftigen sollte. Wenn<br />
Friedrich CRAMER als einer <strong>der</strong> Pioniere <strong>der</strong> Doppelhelix-<br />
Strukturaufklärung des „ Lebensfadens―, wie bekanntlich auch sein<br />
Chemiker-Kollege Erwin CHARGAFF, 1905-2001,– noch vor (!) F. H. C.<br />
CRICK und J. D. WATSON - um 1988 als 65-jähriger Forscher für die<br />
Palindrome als „verborgene Harmonien“ ins Schwärmen kommt,<br />
macht das natürlich neugierig. CRAMER zitiert sogar den griechischen<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 458<br />
Naturphilosophen HERAKLIT, ca. 550-480 v. Chr., <strong>im</strong> Zusammenhang<br />
mit den Palindromen: „Verborgene Harmonien sind stärker als<br />
offenkundige―. Für CRAMER sind die Palindrome sogar zusätzliche<br />
„Überstrukturen“ <strong>im</strong> Rahmen des üblichen Vierbuchstaben-Basen-<br />
Codes <strong>der</strong> linearisierten Anweisung für den Aufbau des Organismus, die<br />
<strong>der</strong> DNS quasi aufmoduliert worden sind. Nach CRAMER ―müssen die<br />
Palindrome notwendigerweise sehr kunstvolle Gebilde sein, da trotz <strong>der</strong><br />
einschränkenden Randbedingungen (Lesbarkeit von vorne und hinten<br />
gleichzeitig) <strong>der</strong> Sinn <strong>der</strong> darunterliegenden Schrift nicht verlorengehen<br />
darf. Die oben angeführten Sätze haben deshalb stark skurrilen<br />
Charakter. Vermöge ihrer gegenläufigen Symmetrie können<br />
palindromische Sequenzen unter Wahrung <strong>der</strong> Basenpaarstruktur sich<br />
seitlich ausstülpen (Bäumchenbildung, vergleiche Abb. 17) Sie stellen<br />
dann gewissermaßen genau definierte Noppen an dem sonst<br />
gleichförmigen Band <strong>der</strong> DNS dar. Dieses „Noppenmuster― könnte dann<br />
spezifisch erkannt werden. Die Rolle solcher Ausstülpungen und <strong>der</strong><br />
Einfluß benachbarter Regionen auf biologisch wichtige<br />
Strukturän<strong>der</strong>ungen in <strong>der</strong> DNS kürzlich nachgewiesen werden.<br />
(Fußnote: K. M. Sullivan, D. M. Lilley: A Dominant Influence of Flanking<br />
Sequences on a Local Structural Transition in DNA. Cell 47.(1986), S.<br />
817-827).…<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 459<br />
CRAMER schreibt abschließend zu diesem Kapitel: „Die Symmetrie<br />
könnte auch einfach zur Erkennung dienen, da die an <strong>der</strong> Reaktion<br />
beteiligten bindenden Proteine ebenfalls symmetrisch sind. Sie könnten<br />
sich also mit ihrer eigenen Symmetrie an die DNS anlagern. Jedenfalls<br />
stellen solche Palindrome Inseln „von Ordnung höheren Grades“<br />
dar, die auf die Schriftinformation <strong>der</strong> DNS aufgepfropft ist.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 460<br />
„Eines <strong>der</strong> schönsten Palindrome nicht genetischer Art, ein<br />
sprachliches, habe ich an einem Quellbrunnen in einem Klosterhof auf<br />
Kreta [Moni Preveli an <strong>der</strong> Südküste von Kreta] gefunden. […] Dieses<br />
höchst artifizielle Gebilde gibt trotzdem einen wun<strong>der</strong>baren Sinn und<br />
gerade an dem Ort, wo es eingemeißelt ist:<br />
ΝΙΨON ANOMIMATA MI MONAN OΨIN<br />
‚Wasch ab deine Sünden, wasch nicht nur dein<br />
Antlitz’ „ (CRAMER)<br />
Hier nur kurz noch etwas aus CRAMERS Buch zu den Eigenschaften<br />
<strong>der</strong> Palindrome, die kurz vor dem Erscheinen seines Buches gerade erst<br />
auf <strong>der</strong> DNS-Struktur entdeckt worden waren. Seinerzeit war<br />
offensichtlich noch nichts über den Selbstheilungs-Mechanismus dieser<br />
Palindrom-Strukturen bekannt. Sie besitzen also mehrere wichtige<br />
Funktionen. Zunächst spielen sie als sogenannte Repressoren auch bei<br />
<strong>der</strong> normalen Regulation <strong>der</strong> genetischen Botschaft eine wichtige Rolle<br />
(Selektion). Man machte sich ihre Struktur aber auch gleich als<br />
wichtigstes Hilfsmittel <strong>der</strong> Gentechnologie zu Nutze, indem man mit<br />
sog. Restriktionsenzymen – synthetisch hergestellter zirkulärer<br />
Nukleinsäure, sog. Plasmide - die DNS nämlich genau an solchen<br />
palindromischen Stellen zerschneiden kann! Damit kann man Gene<br />
zerlegen und wie<strong>der</strong> (an<strong>der</strong>s) zusammensetzen. Dies soll uns hier<br />
genügen.<br />
Kein Wun<strong>der</strong>, daß meine geneTalogische Neugier für das Y-<br />
Chromosom und seine engen genealogischen Beziehungen nun noch<br />
mehr angefacht worden sind. Schließlich erhebt sich die Frage, welche<br />
Querverbindungen hier zu den patrilinearen Stammbäumen <strong>der</strong><br />
Genealogen bestehen, die oft in mühevoller Kleinarbeit von traditionell<br />
familienbewußten Forschern über einen langen <strong>Zeit</strong>raum erforscht und<br />
zusammengestellt worden sind.<br />
Der patrilineare Stammbaum müßte doch aufgrund seiner<br />
Y-chromosomalen Wurzeln auch etwas vom inneren Wese <strong>der</strong> Y-<br />
Chromosomen und <strong>der</strong>en individuellen Eigenschaftsunterschiede<br />
erkennen lassen! „Gut o<strong>der</strong> krankhaft“ sollen nur Andeutungen<br />
sein.<br />
1979 schrieb ich in meinem Artikel „Erbmäßig bevorzugte<br />
Vorfahrenlinien bei zweigeschlechtigen Lebewesen―<br />
http://www.genetalogie.de/artikel/html/ar_afs79/ar_afs79.htm<br />
über die beiden Geschlechtschromosomen unter an<strong>der</strong>en: „Mag dabei<br />
auch das wesentlich größere X-Chromosom die Hauptrolle bei <strong>der</strong><br />
Anlagen-Übertragung spielen, so ist die „katalytische―, vermutlich sogar<br />
„dirigistische― Rolle des Y-Chromosoms sicherlich nicht weniger<br />
bedeutungsvoll.―<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 461<br />
1990 brachte ich die (patrilineare) Stammtafel dann in einen<br />
„gleichungsmäßigen― Zusammenhang mit dem Y-Chromosom. Ein<br />
kleines Kapitel in meiner Arbeit :―Eine „Prachtgestalt― in Bismarcks<br />
Ahnentafel – Aus <strong>der</strong> Ideengeschichte einer Wissenschaft―<br />
http://www.genetalogie.de/artikel/pdf/bismarck.pdf<br />
hatte die Überschrift:<br />
Stammtafel-Genealogie = „Y-chromosomale“ Genealogie.<br />
Es sei hier wie<strong>der</strong>gegeben: „Die beiden Geschlechts-Chromosomen X<br />
und Y kann man sowohl in biologischer als auch genealogischer<br />
Hinsicht als fundamentale „Gegenspieler― auffassen. Zunächst einige<br />
Gedanken zum Y-Chromosom, dessen Übertragungsmechanismus<br />
einige Genealogen offensichtlich am meisten faszinierte. Dies hängt<br />
wohl damit zusammen, daß die Übertragungswege des Y-<br />
Chromosomes mit <strong>der</strong> genealogischen Stammlinie exakt zusammen<br />
fallen und sich dadurch auch eine genetische Rechtfertigung für eine<br />
reine Stammtafelforschung zu ergeben scheint. Das Y-Chromosom, das<br />
erst vor einigen Jahrzehnten entdeckt wurde, erweckt ja auch<br />
tatsächlich den Eindruck, ein „biologischer Hintergrund― für die<br />
Namengebung, wie sie seit Jahrhun<strong>der</strong>ten in unserem Kulturkreis<br />
üblich ist, zu sein. Eine biologische Rechtfertigung bedarf die<br />
Stammtafeldarstellung und -ordnung allerdings nicht, hier sind es vor<br />
allem ordnungswissenschaftliche Gesichtspunkte, die diese bewährte<br />
Darstellungsart nach <strong>der</strong> Namenslinie („reine Manneslinie―)<br />
rechtfertigen, ja notwendig machen! Da das Y-Chromosom nur be<strong>im</strong><br />
Mann vorkommt und auch nur vom Vater auf seine Söhne übertragen<br />
wird, fällt sein Übertragungsweg eben mit <strong>der</strong> genealogischen<br />
Stammlinie zusammen. Bloßer Zufall? Diese einzige Linie – in <strong>der</strong><br />
Ahnentafel <strong>im</strong>mer nur eine von unendlich vielen – ist ja seit<br />
Jahrtausenden in <strong>der</strong> patriarchalisch orientierten Menschheit beson<strong>der</strong>s<br />
prädestiniert. Sie ist bisher geschichtsbest<strong>im</strong>mend gewesen. – Die<br />
Molekulargenetik wird die Frage, ob es so etwas wie ein „Wesen― des<br />
Stammes bzw. eines Geschlechts gibt, vielleicht schon in einigen<br />
Jahrzehnten o<strong>der</strong> gar Jahren genauer beantworten können. Daß das<br />
kleine Y-Chromosom (das kleinste!), nicht nur eine gen-rud<strong>im</strong>entäre<br />
Statistenrolle zu spielen scheint, geht m. E. schon aus <strong>der</strong> Tatsache<br />
hervor, daß eine krankhaftes Auftreten zweier Y-Chromosomen<br />
(Abberation X-Y-Y) wie<strong>der</strong>holt bei Frauenmör<strong>der</strong>n festgestellt worden<br />
ist.- Nun zum genealogischen Übertragungsmechanismus des X-<br />
Chromosoms, <strong>der</strong> <strong>im</strong> Rahmen dieses Aufsatzes eine größere<br />
Bedeutung besitzt.―<br />
Dazu sei hier nur gesagt, daß von <strong>der</strong> „X-chromosomalen― Genealogie<br />
am Beispiel von BISMARCKs Ahnentafel, meine These von <strong>der</strong><br />
„beson<strong>der</strong>en Mittlerrolle X-chromosomaler Gene bei <strong>der</strong><br />
Ausprägung geistiger Eigenschaften“ ihren (positiven)<br />
Ausgangspunkt hatte und dann später u. a. an <strong>der</strong> Ahnentafel <strong>der</strong><br />
beiden bayerischen Königsbrü<strong>der</strong> Ludwig II. und Otto (<strong>im</strong> negativen<br />
Sinne) weiter untermauert werden konnte. Inzwischen wurde diese<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 462<br />
These auch durch frühere Aussagen an<strong>der</strong>er Genealogen weiter<br />
gestützt. Siehe dazu „Mütterliche Großväter <strong>im</strong> Lichte meiner These“<br />
http://www.genetalogie.de/mgross/mgross.html<br />
Auch aufgrund <strong>der</strong> „palindromischen Son<strong>der</strong>rolle― des Y-Chromosoms<br />
erscheint es mir eher angebracht, in ihm nicht mehr die<br />
„erbarmungswürdige, verkrüppelte Zwerggestalt― eines sich<br />
evolutionsmäßig <strong>im</strong> Nie<strong>der</strong>gang befindlichen Chromosoms zu sehen,<br />
wie es <strong>der</strong> britische Genetiker Steve JONES tut. Vielleicht kann man es<br />
bald eher als „flinkes, schlank-dynamisches Vorreiterelement“<br />
ansehen, das mit seinem kleinen aber essentiell- spezifischen Genvorrat<br />
mit Triebkraft („Selige Sehnsucht!) nach passen<strong>der</strong> X-Chromosomen-<br />
Vereinigung strebt, wenn auch nur als „genetisches Würfelspiel―<br />
zunächst erkennbar. „Werde und stirb und werde ―.<br />
…<br />
Nicht mehr bleibest du umfangen<br />
In <strong>der</strong> Finsternis Beschattung,<br />
Und dich reißet neu Verlangen<br />
Auf zu höherer Begattung.<br />
Keine Ferne macht dich schwierig,<br />
Kommst geflogen und gebannt,<br />
Und zuletzt, des Lichts begierig,<br />
Bist du, Schmetterling, verbrannt.<br />
Und solang’ du das nicht hast,<br />
Dieses: Stirb und werde!<br />
- bist du nur ein trüber Gast<br />
Auf <strong>der</strong> dunklen Erde. -<br />
(Goethe, aus: Selige Sehnsucht, entstanden 1814)<br />
„Mit <strong>der</strong> ‚Entdeckung <strong>der</strong> Sexualität’ fand die Natur ein Prinzip, das stets<br />
Neues <strong>im</strong> Evolutionsbaum des Lebendigen hervortreibt― und „Polarität ist<br />
<strong>der</strong> Motor des Lebendigen.― sagt Friedrich CRAMER - und so sagte es<br />
sinngemäß GOETHE schon vor zweihun<strong>der</strong>t Jahren. Friedrich CRAMER<br />
macht das sogar an dem schrecklichen Wissenschaftsbegriffbegriff<br />
Bifurkationen nachdrücklich fest (von lat. furca: Gabel, Forke). Damit<br />
meint er – wenn ich es richtig verstehe –<strong>im</strong> Wesentlichen die<br />
Verzweigungspunkte bei dynamischen Prozessen. Sie können<br />
Übergangspunkte vom Chaos zum Kosmos werden. Aber gerade wir<br />
Familienforscher bemühen uns doch – freilich meist unbewußt – diese<br />
ordnenden Verzweigungspunkte (= Geburten!), aus denen unsere<br />
Stammbäume ja letztlich bestehen, übersichtlich darzustellen. Aus<br />
einem unendlich großen Netzwerk chaotischer verwandtschaftlicher<br />
Verflechtungen erzeugen wir mit unseren „Stammbäumen― eigentlich<br />
„geneTalogische Harmonien―!<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 463<br />
CRAMER sagt in seinem an<strong>der</strong>en schönen Buch „Der <strong>Zeit</strong>baum“:<br />
„Solche System können unstetig sein und über Bifurkationen einen<br />
baumartigen zeitlichen Verlauf nehmen, ganz gleich, ob es sich um den<br />
Stammbaum <strong>der</strong> biologischen Evolution, den Stammbaum <strong>der</strong><br />
Hauptreihensterne, um einen Blitz, um eine radioaktive Zerfallsreihe<br />
o<strong>der</strong> einen alten Eichbaum handelt.― Frage: Gehört hierzu nicht auch<br />
je<strong>der</strong> menschliche „Proband―: sein „Ahnenbaum―? o<strong>der</strong> auch je<strong>der</strong><br />
„patrilineare Stammbaum― eines menschlichen Y-Chromosomes und<br />
auch je<strong>der</strong> „matrilineare Stammbaum― einer menschlichen mtDNS?<br />
Ganz gleich ob ein LEIBNIZ, GOETHE o<strong>der</strong> eine Annette von DROSTE-<br />
HÜLSHOFF o<strong>der</strong> eine an<strong>der</strong>e beliebige Personen als Proband o<strong>der</strong><br />
auch als Nachkomme angesehen wird. Als Nachkomme in einem<br />
Nachkommenbaum sind sie Bestandteile <strong>der</strong> Nachkommenschaft eines<br />
„Urstammvater-Y-Chromosomes― und auch <strong>der</strong> „Urstammmutter einer<br />
mtDNS (dem mitochondrialen Genpaket, das nur in einer „Töchterkette―<br />
weitervererbt wird.).<br />
Sind diese genealogischen Stammbäume nicht die<br />
allermenschlichsten?<br />
Ob Hans Magnus ENZENSBERGER auch an sie gedacht hat? O<strong>der</strong><br />
CRAMER als er dessen Gedicht mit seinem Wissenschafts terminus<br />
technicus „überkrönte―? O<strong>der</strong> las ENZENBERGER gar in CRAMERs<br />
Büchern und Enzenberger „überkrönte― es dann selbst so? Sei es wie es<br />
wolle. Dank indes beiden, dem Schöpfer und dem launigen „Kunst-<br />
Molekulargenetik-Interpreten―, <strong>der</strong> das Gedicht in ein an<strong>der</strong>ers seiner<br />
schönen Bücher: „Symphonie des Lebendigen“ (1998) aufgenommen<br />
hat; (sonst hätte ich es wohl nie gefunden).-<br />
Bifurkationen<br />
Alles, was sich verästelt,<br />
verzweigt: Delta, Blitz, Lunge,<br />
Wurzeln, Synapsen, Fraktale,<br />
Stamm- und Entscheidungsbäume;<br />
Alles, was sich vermehrt<br />
Und zugleich vermin<strong>der</strong>t –<br />
nicht zu fassen,<br />
schon zu reichhaltig<br />
für dieses Spatzenhirn,<br />
dieses x-beliebige Glied<br />
einer infiniten Serie,<br />
die sich hinter dem Rücken<br />
dessen, <strong>der</strong> da, statt zu denken,<br />
gedacht wird, entwickelt,<br />
verästelt, verzweigt.<br />
(Hans Magnus ENZENBERGER, aus: Kiosk, 1995)<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 464<br />
Vielleicht gelingt es bald, berufene wissenshungrige Leser auf unsere<br />
großen genealogischen Materialsammlungen mehr als bloß aufmerksam<br />
aufmerksam zu machen. Dann würden auch neue interdisziplinäre<br />
Brücken zwischen molekularer Genetik und menschlicher „Stammtafel-<br />
Lehre― gebaut werden. Das so erforschte Wesen des Y-Chromosomes<br />
könnte dann aus jüngst-historischer und soziologischer Perspektive<br />
auch <strong>im</strong> Lichte bisher „unbekannter Wellenlängen― sich wi<strong>der</strong>spiegeln.<br />
Vielleicht sollte <strong>der</strong> Regenbogen auch hier ein passendes<br />
interdisziplinäres Symbol sein!<br />
Der spiegelt ab das menschliche Bestreben,<br />
Ihm sinne nach, und du begreifst genauer:<br />
Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.<br />
(Faust II, V. 4725- 27)<br />
Nett zu lesen ist in dieser Hinsicht, was Siegfried RÖSCH als<br />
Kristalloptiker und Regenbogenforscher in seiner großen<br />
interdisziplinären Studie „Der Regenbogen in <strong>der</strong> Malerei“ (Studium<br />
Generale (1960), H.7) hierzu zu zitieren hat. Dabei geht es in einem<br />
Brief an Sulpiz BOISSERÉE, den wir oben bereits erwähnten, um<br />
Farbphänomene und um eine köstliche Notiz des berühmten Göttinger<br />
Physikers Georg Christoph LICHTENBERG, 1742-1799, über künstliche<br />
Regenbögen. BOISSERÉE war einer <strong>der</strong> letzten Briefpartner (vom 11.<br />
Januar bis 25. Februar 1832) kurz vor Goethes Tode. LICHTENBERG<br />
war hingegen viele Jahre vorher ein wichtiger Briefpartner (von 1792-<br />
1796) in Sachen seiner „Farbenlehre―. LICHTENBERG enttäuschte<br />
Goethe aber tief, da er seiner „Farbenlehre― die Zust<strong>im</strong>mung versagte.<br />
Goethe schreibt an BOISSERÉE, worin seine temperamentvolle<br />
Lehrbegeisterung noch <strong>im</strong>mer erkennbar ist. „… Nun aber denken Sie<br />
nicht, daß Sie diese Angelegenheit jemals los werden. Wenn sie Ihnen<br />
das ganze Leben über zu schaffen macht, müssen Sie sichs gefallen<br />
lassen …―.<br />
Jetzt die humorvolle Notiz von LICHTENBERG aus seinen<br />
Physikalischen Schriften von 1804): „Regenbogen auf trockenem<br />
Wege: Wäre es nicht <strong>der</strong> Mühe wert, folgende Verzierungen in einem<br />
Garten anzubringen. Besetzte man eine <strong>der</strong> Sonne ausgesetzte Wand<br />
mit kleinen soliden Glaskügelchen, o<strong>der</strong> allenfalls auch mit Wasser<br />
gefüllten, so würde dieses dem Spazierenden einen sehr angenehmen<br />
Anblick gewähren. Er würde nämlich den Schatten seines Kopfes mit<br />
einem Kreise von den lebhaftesten Regenbogen-Farben umgeben<br />
sehen, sobald <strong>der</strong>selbe auf diese so besetzte Ebene fiele. Ginge man<br />
mit einigen Personen in Gesellschaft, <strong>der</strong>en Köpfe alle ihren Schatten<br />
auf die Ebene würfen, so hätte je<strong>der</strong> das schmeichelhafte Glück, seinen<br />
eigenen Schatten nur allein mit dieser Glorie verherrlicht, die seiner<br />
Begleiter hingegen in schuldigst niedriger Strahlenlosigkeit zu erblicken,<br />
welches eine <strong>der</strong> entzückendsten Lagen ist, in welche das<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 465<br />
Menschenherz kommen kann. Je<strong>der</strong> würde sich als den Auserwählten<br />
des H<strong>im</strong>mels betrachten, hingegen seinen Begleiter für einen gemeinen<br />
Tropf o<strong>der</strong> armen Teufel, wodurch denn jene Innigkeit und jenes<br />
Zusammenschmelzen <strong>der</strong> Herzen hervorgebracht wird, wodurch<br />
öffentliche Zusammenkünfte in Bä<strong>der</strong>n und an<strong>der</strong>en Orten einen so<br />
unwi<strong>der</strong>stehlichen Reiz für gewisse Menschen haben.―<br />
Im Rahmen <strong>der</strong> genealogischen Thematik dieses Buches darf hier<br />
wohl auch darauf hingewiesen werden, daß zwischen LICHTENBERG<br />
und Goethe Ahnengemeinschaft besteht; und zwar wie<strong>der</strong>um über die<br />
„geneTalogisch― hochinteressante Marburger Gelehrtenfamilie ORTH<br />
mit ihrem „gehe<strong>im</strong>nisvollen geistigen Ingenium―, <strong>der</strong> ja so viele<br />
Geistesgrößen angehören. Auch <strong>der</strong> Leibniz-Korrespondenzpartner<br />
Johann Georg LIEBKNECHT, 1679-1749, und dessen Nachkommen<br />
Wilhelm, 1826-1900, und Karl LIEBKNECHT, 1871-1919, beides<br />
sozialdemokratische Politiker und Reichstagsabgeordnete, waren<br />
ORTH-Nachkommen, wie wir bereits <strong>im</strong> Kapitel „Leibniz als Genealoge―<br />
erwähnt hatten.<br />
Im letzten Teil des Buches möchte ich nun versuchen, ausgehend<br />
von etwas Geschichte <strong>der</strong> genealogischen Stammbäume“ und<br />
dann meinen erst jüngst begonnenen Stammtafel-Auswertungen,<br />
zu weiteren Studien anzuregen. Vielleicht lerne ich neue<br />
<strong>GeneTalogie</strong>-Gesinnungsfreunde kennen!<br />
Zunächst sei hier versucht, eine „These― durch einen Artikel zu<br />
untermauern, die zwar nicht ganz neu ist, die aber neuerdings heftig<br />
unter Genealogen diskutiert worden ist.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 466<br />
14 WARUM WIR MITTELEUROPÄER (FAST) ALLE VON<br />
KARL DEM GROSSEN ABSTAMMEN<br />
Der in Fachkreisen namhafte Mathematiker für<br />
Wahrscheinlichkeitslehre (= Stochastik) Dr. Hermann von SCHELLING,<br />
1907-1977, hat in zwei Studien über das zahlenmäßige Verhältnis eines<br />
Probanden hinsichtlich <strong>der</strong> Anzahl seiner Vorfahren und Nachfahren<br />
eine sog. „Ahnenschwundregel“ aufgestellt. Auf die sehr schwierigen<br />
mathematischen Ableitungen muß hier zwar verzichtet werden, aber<br />
zahlreiche genealogische Textformulierungen sind meines Erachtens<br />
durchaus verständlich und lehrreich für unsere interdisziplinären und<br />
naturphilosophischen Betrachtungen. Hermann von SCHELLING war in<br />
<strong>der</strong> Mitte des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts ein beson<strong>der</strong>er Glücksfall für die<br />
wissenschaftliche Genealogie. Der Mathematiker Dr. Hermann ATHEN,<br />
1911-1981, konnte kurz vor seinem Tod die „Ahnenschwundregel― H. v.<br />
SCHELLINGs dann noch etwas präzisieren und an die mo<strong>der</strong>ne<br />
Stochastik <strong>der</strong> 80er Jahre anpassen. Zahlreiche unveröffentlichte<br />
Manuskripte von H. ATHEN (+1981) aufgrund <strong>der</strong> Arbeiten von H. v.<br />
SCHELLING und Siegfried RÖSCH sind in meinem Besitz.<br />
Aus: Hermann von SCHELLING: „Die Ahnenschwundregel“; in: Der<br />
Erbarzt (1944), Bd. 12, Heft 9/12, S. 113 (Einleitung):<br />
„PLATON läßt <strong>im</strong> Dialog Theaitetos das Gespräch auf eingebildete<br />
Edle kommen, die sich einer kleinen Zahl hervorragen<strong>der</strong> Ahnen<br />
rühmen. SOKRATES nennt sie kurzsichtig und tadelt, daß sie<br />
„aus Unwissenheit nicht vermögen, <strong>im</strong>mer auf das Ganze zu blicken<br />
noch zu berechnen, daß Vorfahren unzählige Tausend ein je<strong>der</strong><br />
gehabt hat, worunter Reiche und Arme, Könige und Knechte, Auslän<strong>der</strong><br />
und Hellenen oftmals zehntausend können gewesen sein bei dem<br />
ersten besten.―<br />
Dieses Zitat zeigt, daß man schon in Athen zur <strong>Zeit</strong> <strong>der</strong> Blüte<br />
Überlegungen über die Zahl und Art <strong>der</strong> Ahnen angestellt hat. Die Worte<br />
lassen sogar die Deutung zu, man habe versucht, die Zahl <strong>der</strong> Ahnen<br />
irgendwie zu berechnen. Auch ist man sich einer starken Vermischung<br />
von Hoch und Niedrig bewußt gewesen. So alt die Frage nach <strong>der</strong> Zahl<br />
<strong>der</strong> Ahnen und <strong>der</strong> verwandtschaftlichen Verflechtung in einer<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 467<br />
Bevölkerung also ist, so scheint man in ihrer Beantwortung seit<br />
SOKRATES nicht wesentlich weiter gekommen zu sein. Erst<br />
genealogisch-statistische Erhebungen großen Umfangs haben in<br />
jüngster <strong>Zeit</strong> an Beispielen unsere Kenntnisse bereichert. Walter<br />
SCHEIDT hat die ziemlich abgeschlossen lebende Bevölkerung <strong>der</strong><br />
Elbinsel Finkenwär<strong>der</strong> soweit zeitlich zurück verfolgt, wie es ihm möglich<br />
gewesen ist (in: „Bevölkerungsbiologie <strong>der</strong> Elbinsel Finkenwär<strong>der</strong>,<br />
Deutsche Rassenkunde Bd. 10, Jena 1932).―<br />
[…] Eine unmittelbare Vorstellung von <strong>der</strong> durchschnittlichen Zahl <strong>der</strong><br />
Ahnen in einer best<strong>im</strong>mten Generation gewährt die einzigartige, von E.<br />
RÜBEL zusammengestellte Ahnentafel RÜBEL-BLASS, zu <strong>der</strong> RUOFF<br />
dankenswerte statistische Erläuterungen gegeben hat. Seinen<br />
vorsichtigen Schätzungen wird man beipflichten. Danach läßt sich<br />
absehen, in welcher Vielfachheit in einer best<strong>im</strong>mten Generation die<br />
tatsächlichen Vorfahren durchschnittlich in <strong>der</strong> Ahnenreihe vorkommen.<br />
Diese Vielfachheit ist außerordentlich hoch. Obwohl selbstverständlich<br />
nicht entfernt alle Linien bis um das Jahr 800 zurückgeführt werden<br />
konnten, tritt nachweislich KARL DER GROSSE 42504mal als Ahn <strong>der</strong><br />
Geschwister RÜBEL auf. Die richtige Ziffer mag die Größenordnung von<br />
200.000 haben. Da Kaiser Karl <strong>der</strong> 39. Generation am häufigsten<br />
angehört, in <strong>der</strong> es<br />
2 39 ~ 5,5 x 10 11 Ahnen<br />
gibt, so haben die Geschwister RÜBEL in dieser Generation nach grober<br />
Vermutung<br />
5,5 x 10 11 / 2 x 10 5 = 2,75 x 10 6 = 2.750.000<br />
verschiedene Vorfahren.<br />
Die Zusammensetzung dieser Ahnen ist naturgemäß außerordentlich<br />
vielseitig. Es trifft die Feststellung von Hermann Werner SIEMENS zu,<br />
<strong>der</strong> unter den Vorfahren seiner Kin<strong>der</strong> Könige und Staatsmänner,<br />
Gelehrte und Künstler, aber auch kleine Handwerker und Bauern, ja<br />
Kothsassen, einen Sackträger und einen Wagenhüter gefunden hat. Das<br />
deckt sich mit <strong>der</strong> Auffassung des SOKRATES. So scheinen die<br />
mühevollen Zusammenstellungen ohne neue Ergebnisse geblieben zu<br />
sein. Das ist aber doch ein Irrtum. Denn die statistischen Bearbeitungen<br />
von SCHEIDT und RÜBEL /RUOFF haben gewisse Zahlenwerte<br />
ergeben, an denen nun eine Theorie überprüft werden kann.<br />
Eine solche Theorie ist von Arnold PÖSCHL in einem umfangreichen<br />
Werke „Das Gesetz <strong>der</strong> geschlossenen Blutkreise― vertreten worden.<br />
Der Schöpfer hat ihr durch einen mathematischen Scheinbeweis den<br />
N<strong>im</strong>bus <strong>der</strong> Unanfechtbarkeit zu geben gewußt, so daß sie trotz ihres<br />
offenbaren Wi<strong>der</strong>sinns nicht ohne Wi<strong>der</strong>hall geblieben ist. Die<br />
entscheidende Behauptung von PÖSCHL lautet kurz:<br />
„In <strong>der</strong> n-ten vorangegangenen Generation hat <strong>der</strong> Mensch <strong>im</strong><br />
Durchschnitt 2n,<br />
in Worten: zwe<strong>im</strong>al n, verschiedene Vorfahren.―<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 468<br />
Es sei mir sofort ein Beispiel gestattet. Für n = 39 liefert die Formel<br />
von PÖSCHL 78 Ahnen, während nach meiner Berechnung die<br />
Geschwister RÜBEL vermutlich 2,75 Millionen [verschiedene] Ahnen<br />
haben! Ich bemerke, daß <strong>im</strong> zweiten Viertel des 16. Jahrhun<strong>der</strong>ts, also<br />
etwa in <strong>der</strong> 10. bis höchstens 12. Generation, 645 verschiedene<br />
Vorfahren wirklich nachgewiesen worden sind gegen 20 bis 24 nach<br />
PÖSCHL. Diese Unterschiede scheinen mir so vernichtend für die<br />
PÖSCHLsche Formel zu sein, daß sich jedes weitere Wort erübrigt.<br />
Trotzdem ist es notwendig, den Trugschluß <strong>im</strong> sogenannten Beweise<br />
von PÖSCHL ausdrücklich aufzudecken. PÖSCHL sagt sich mit Recht,<br />
die Zahl <strong>der</strong> Vorfahren in <strong>der</strong> n-ten Generation dürfe nicht beliebig lange<br />
in geometrischer Progression wachsen, da sonst bald <strong>der</strong> Umfang <strong>der</strong><br />
gesamten Menschheit überschritten werde. Auf die theoretische<br />
Ahnenziffer 2 n trifft diese Schwierigkeit ja zu, das ist gerade das<br />
Ahnenrätsel, welches von jeher allen Lösungsversuchen wi<strong>der</strong>stand.<br />
Man hat stets Zuflucht zu dem Wort Ahnenausfall genommen, wodurch<br />
aber eine quantitative Einsicht nicht gewonnen wird. PÖSCHL läßt nun<br />
nach verschiedenen Schemata je Generation eine formelmäßig starr<br />
festgelegte Zahl von Ahnen ausfallen. Entwe<strong>der</strong> wächst die Zahl <strong>der</strong><br />
Vorfahren trotzdem noch in geometrischer Progression o<strong>der</strong> sie n<strong>im</strong>mt in<br />
einer endlichen Zahl von Schritten bis zu Null ab. Beides ist unmöglich.<br />
PÖSCHL entdeckt nach langen Versuchen ein einziges Schema, das<br />
beide Schwierigkeiten umgeht. Nach diesem Ansatz hat <strong>der</strong> Mensch in<br />
<strong>der</strong> n-ten vorangegangenen Generation 2n Ahnen [also z. B. in <strong>der</strong> 5.<br />
Generation: 5 x 2 = 10 Ahnen, statt 2 5 = 32 Ahnen. Die Ahnenzahl<br />
wüchse dann in <strong>der</strong> Folge 2, 4, 6, 8. 10 statt 2, 4, 8, 16, 32!]. Das ist<br />
nur möglich, wenn in je<strong>der</strong> Generation alle Ehen, bis auf zwei, Vetter-<br />
Base-Verbindungen sind. Niemand wird – außer PÖSCHL – behaupten,<br />
daß solche Stammtafeln [d. h. hier Ahnentafeln] in zivilisierten Völkern<br />
vorkommen o<strong>der</strong> gar die Regel bilden. Aber weil PÖSCHL nur auf diese<br />
Art ein übermäßiges Wachsen o<strong>der</strong> Abnehmen <strong>der</strong> Ahnenreihe zu<br />
verhin<strong>der</strong>n weiß, so schließt er per exclusionem, daß dieses Schema<br />
das wahre Gesetz des Ahnenschwundes darstelle.<br />
Dieser Schluß ist falsch! Man kann unzählige Wachstumskurven für<br />
die Zahl <strong>der</strong> Ahnen zeichnen, die allen zu stellenden For<strong>der</strong>ungen<br />
genügen und – <strong>im</strong> Gegensatz zu PÖSCHLs „Lösung― – tatsächlich<br />
möglich sind. Die wenigen Schemata von PÖSCHL stellen nicht entfernt<br />
alle Fälle dar, die zur Wahl stehen, per exclusionem darf man also nicht<br />
schließen. Im übrigen wächst ja auch die Ahnenzahl 2n über alle<br />
Grenzen, wenn sich daraus auch in historischer <strong>Zeit</strong> keine<br />
Schwierigkeiten ergeben. PÖSCHL bezeichnet seine Lösung zunächst<br />
als eindeutig, nennt sie später aber einen Durchschnitt, um den<br />
Schwankungen auftreten. Er räumt damit ein, daß in manchen<br />
Ahnentafeln in <strong>der</strong> n-ten Generation nicht genau 2n-Ahnen verzeichnet<br />
stehen. Auch nach seiner Ansicht ist die Ahnenzahl also nicht starr<br />
festgelegt. Wie kann er aber dann per exclusionem ein einziges<br />
Schema als eindeutige Lösung gewinnen wollen? Hier scheint mir ein<br />
Wi<strong>der</strong>spruch zu klaffen. Es ist eigenartig, daß we<strong>der</strong> <strong>der</strong> sonst so<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 469<br />
scharfsinnige Schöpfer <strong>der</strong> Theorie noch die Leser, die sich haben<br />
beeindrucken lassen, den Trugschluß erkannt haben. Der Fehler liegt<br />
aber eigentlich noch tiefer, PÖSCHL sucht ein starres Gesetz, das es<br />
nicht geben kann. Ein je<strong>der</strong> weiß von Familien, in denen sich nahe<br />
Verwandte geheiratet haben, <strong>der</strong> Ahnenausfall also offensichtlich ist, er<br />
kennt aber auch Fälle, in denen trotz lückenloser Ahnenforschung kein<br />
Ahnenschwund in <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> bis 1800 feststellbar ist. Danach ist es<br />
verkehrt, nach einem starren Gesetz des Ahnenausfalls zu trachten, es<br />
kann sich vielmehr nur darum handeln,<br />
den durchschnittlichen Ahnenschwund in einer Bevölkerung zu<br />
best<strong>im</strong>men, die sich aus sich heraus fortpflanzt und dabei we<strong>der</strong> zu<br />
noch abn<strong>im</strong>mt.<br />
Obwohl PÖSCHL vom Durchschnitt und von Schwankungen um ihn<br />
redet, hat er nicht erkannt, daß hier eine Aufgabe <strong>der</strong><br />
Wahrscheinlichkeitstheorie vorliegt. Ich habe dem Problem die<br />
entsprechende Fassung gegeben und damit den Weg zu seiner Lösung<br />
gefunden.<br />
Ein Proband hat in <strong>der</strong> n-ten Generation theoretisch 2 n-1 Ahnenpaare.<br />
Man kann einen ungefähren <strong>Zeit</strong>raum abgrenzen, in dem diese<br />
Ahnenpaare lebten. Bei einer einigermaßen seßhaften Bevölkerung läßt<br />
sich auch <strong>der</strong> Raum vermuten, in welchem die überwiegende Mehrzahl<br />
jener Vorfahren wohnte. In dem so abgegrenzten Raum-<strong>Zeit</strong>-Stück hat<br />
aber nur eine endliche Anzahl von Ehepaaren gelebt. Von ihnen mögen<br />
nur N-Paare gegenwärtig noch Nachfahren besitzen. Allein unter<br />
diesen N-Paaren sind die Vorfahren des Probanden zu suchen.<br />
Dabei kommen manche Paare in <strong>der</strong> Ahnenreihe mehrfach vor. Die<br />
Wahrscheinlichkeitstheorie liefert uns die durchschnittliche Anzahl <strong>der</strong> A n<br />
<strong>der</strong> verschiedenen Ahnen in <strong>der</strong> n-ten vorangegangenen Generation.<br />
Die Formel lautet:<br />
(1) A n = 2 N [1-(1-1/N) hoch ( 2 n-1 )].<br />
Das ist meine Ahnenschwundregel. Es ist hier nicht am Platze, die<br />
Formel mathematisch zu beweisen o<strong>der</strong> zu diskutieren, in dieser<br />
Beziehung muß auf meine ausführliche Darstellung verwiesen werden.<br />
An Zahlenbeispielen werde ich die Auswirkungen <strong>der</strong> Formel darlegen.<br />
Zuvor sind aber noch die wichtigsten allgemeinen Folgerungen kurz zu<br />
erwähnen, wobei ich mich ebenfalls auf die Wie<strong>der</strong>gabe <strong>der</strong> Formeln<br />
beschränken muß.<br />
Zwei beliebige Probanden aus einer Bevölkerungsgruppe mögen <strong>im</strong><br />
Durchschnitt in <strong>der</strong> n-ten vorangegangenen Generation g n Ahnen<br />
gemeinsam und v n Ahnen nicht gemeinsam haben. Dann gelten die<br />
Formeln:<br />
(2) g n = 2 A n – A n+1 und<br />
(3) v n = A n+1 - A n<br />
Für g n läßt sich daraus die wichtige Beziehung<br />
(4) g n : A n = A n : 2 N<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 470<br />
herleiten. Aus <strong>der</strong> Formel für v n folgt, daß die Gesamtzahl <strong>der</strong> Ahnen<br />
aus allen Generationen, die zwei beliebige Personen nicht gemeinsam<br />
haben, den endlichen Wert<br />
(5) V = 2 (N-1)<br />
besitzt. Die Zahl <strong>der</strong> den Probanden gemeinsamen Ahnen steigt<br />
dagegen be<strong>im</strong> Zurückgehen von Generation zu Generation über alle<br />
Grenzen. Um einen Überblick zu geben, habe ich in <strong>der</strong> Zahlenübersicht<br />
vier Beispiele zusammengestellt, nämlich die Fälle<br />
N = 250, N = 500, N = 1000 und N = 50000.<br />
Hierin bedeutet N die Anzahl <strong>der</strong> Pare, die in einer vorangegangenen<br />
Generation lebten und gegenwärtig noch Nachfahren besitzen. Diese<br />
Zahl ist auch in einer stationären Bevölkerung nicht absolut konstant, sie<br />
fällt vielmehr in den uns zunächst liegenden ersten vier Generationen<br />
ab, erreicht aber dann rasch einen Grenzwert. In den ersten<br />
Generationen spielt aber <strong>der</strong> Ahnenschwund gar keine Rolle. In den<br />
Generationen, in welchen <strong>der</strong> Ahnenausfall bedeutsam wird, können wir<br />
N praktisch als konstant ansehen, wenn die Bevölkerung abgeschlossen<br />
lebt und ihren Umfang nicht än<strong>der</strong>t.<br />
Die ersten beiden Beispiele treffen nur auf sehr kleine<br />
Bevölkerungssplitter zu, da man die Gesamtbevölkerung etwa gleich 4 N<br />
o<strong>der</strong> besser gleich 5 N annehmen kann. Auf die Verhältnisse auf <strong>der</strong><br />
Elbinsel Finkenwär<strong>der</strong> paßt jedoch schon <strong>der</strong> Fall N = 250. Das Beispiel<br />
N = 1000 entspricht <strong>der</strong> Größe <strong>der</strong> von Walter SCHEIDT (46)<br />
eingeführten „Heiratskreisen―, d.h. <strong>der</strong>jenigen Gruppe von Menschen,<br />
die untereinan<strong>der</strong> zu heiraten pflegen. Der Fall N = 50.000, <strong>der</strong> als<br />
Gegensatz gewählt wurde, kann für Großstadtbewohner Bedeutung<br />
gewinnen.<br />
Die Zahl A n <strong>der</strong> verschiedenen Ahnen bleibt rascher o<strong>der</strong> langsamer<br />
hinter <strong>der</strong> theoretischen Ziffer 2 n zurück, je nachdem ob N klein o<strong>der</strong><br />
groß ist. Mit wachsen<strong>der</strong> Generationszahl n nähert sich A n aber auf<br />
jeden Fall schließlich dem Grenzwert 2 N (Formel 1). In diesen fernen<br />
Generationen ist je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Gegenwart überhaupt noch<br />
Nachfahren besitzt, Vorfahre eines jeden heute <strong>der</strong><br />
Bevölkerungsgruppe angehörenden Menschen. Die Zahl g n <strong>der</strong> zwei<br />
beliebigen Probanden durchschnittlich gemeinsamen Ahnen wächst mit<br />
<strong>der</strong> Generationszahl n gegen A n , also gegen 2 N (Formel 4). Von einer<br />
gewissen Generation an haben zwei beliebige Personen fast alle<br />
Vorfahren gemeinsam. Die Zahl v n <strong>der</strong> zwei beliebigen Probanden<br />
durchschnittlich nicht gemeinsamen Ahnen steigt mit wachsen<strong>der</strong><br />
Generationszahl n zunächst an, um später wie<strong>der</strong>, und zwar bis zu Null,<br />
abzunehmen. Die Gesamtsumme <strong>der</strong> v n beträgt (nach Formel 5) V =<br />
2(N-1), <strong>im</strong> ersten Beispiel ist die Summe bereits ausgeschöpft, <strong>im</strong><br />
zweiten und dritten fehlt nur wenig daran.―<br />
Im Folgenden bringt v. SCHELLING die Heiratskreise nach <strong>der</strong><br />
Definition von Walter SCHEIDTs und die Ergebnisse <strong>der</strong> Statistik <strong>der</strong><br />
Ahnentafel RÜBEL-BLASS durch RUOFF in Beziehung zu seinen<br />
theoretischen Überlegungen. Schließlich faßt er zusammen:<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 471<br />
„Die Ausweitung <strong>der</strong> Heiratskreise spielt <strong>im</strong> Son<strong>der</strong>fall von<br />
Finkenwär<strong>der</strong> eine verhältnismäßig untergeordnete Rolle. Im<br />
allgemeinen ist aber die Vorstellung einer geschlossenen Bevölkerung<br />
über Generationen hinaus unzulässig. Der zunächst enge Heiratskreis<br />
erweitert sich von Generation zu Generation. Im Abendland, wo man in<br />
den seltensten Fällen 50 Generationen überblickt, genügt es,<br />
näherungsweise anzunehmen, daß sich <strong>der</strong> Heiratskreis von Generation<br />
zu Generation um einen gewissen konstanten Prozentsatz erweitert. Es<br />
ist eine sehr wesentliche Folgerung aus dem für das Abendland wohl<br />
kennzeichnenden Material von E. RÜBEL, daß meine<br />
Ahnenschwundregel (Formel 1) bei einer jeweils 20proz. Erweiterung<br />
<strong>der</strong> Heiratskreise mit dem RUOFFschen Schätzungen gut in Einklang zu<br />
bringen ist. Damit ist zum mindesten eine rohe Vorstellung gewonnen<br />
worden, wie sich Heiratskreise be<strong>im</strong> Rückschreiten in die Vergangenheit<br />
ausdehnen.<br />
Aus dieser Erkenntnis lassen sich wichtige Folgerungen ziehen.<br />
Einigermaßen abgeschlossen lebende kleinere o<strong>der</strong> mittlere<br />
Bevölkerungsgruppen haben bereits vor 1600 die Mehrzahl <strong>der</strong> Ahnen<br />
gemeinsam, wobei man den verheerenden Einfluß des Dreißigjährigen<br />
Krieges berücksichtigen muß. Vor 1400 haben bereits ganze Völker<br />
weitgehend dieselben Vorfahren, vor 1200 gilt das sogar für den<br />
gesamten abendländischen Kulturkreis. Es wird Aufgabe <strong>der</strong> Historiker<br />
sein, diese knappen Zahlenangaben mit blutvollem Leben zu erfüllen.<br />
Die Herausbildung von Stammeseigentümlichkeiten wird ebenso<br />
verständlich werden, wie die in vielem doch gemeinsame Grundhaltung<br />
<strong>der</strong> Völker <strong>im</strong> europäischen Raum. Das Wort Volksgemeinschaft erhält<br />
von <strong>der</strong> biologischen Seite einen zahlenmäßig faßbaren, neuen Sinn.<br />
Der einzelne mag sich innerlich gehoben fühlen in dem Bewußtsein, daß<br />
einst lebende berühmte Männer, die heute nachweislich noch<br />
Nachfahren besitzen, mit größter Wahrscheinlichkeit auch unter seinen<br />
eigenen Vorfahren vorkommen, ja sogar in hoher Vielfachheit. E.<br />
RÜBEL hat das ja <strong>im</strong> Falle von Karls des Großen für die Geschwister<br />
RÜBEL tatsächlich nachgewiesen.<br />
Die Annahme <strong>der</strong> gleichmäßigen Ausdehnung <strong>der</strong> Heiratskreise ist<br />
natürlich nur eine Approx<strong>im</strong>ation. Bei <strong>der</strong> Ahnentradition, die in<br />
Großostasien üblich ist, müßte man in <strong>der</strong> Näherung schon einen Schritt<br />
weitergehen, was aber keine grundsätzlichen Schwierigkeiten bereiten<br />
würde. Das japanische Kaiserhaus besitzt eine Tradition von mehr als<br />
2600 Jahren. Die hiermit angedeutete Erweiterung <strong>der</strong> Theorie ist<br />
keineswegs das einzige Problem, was noch zu lösen bleibt und als<br />
lösbar bezeichnet werden kann, nachdem die<br />
Wahrscheinlichkeitstheorie einmal als Forschungsmittel herangezogen<br />
worden ist. Es lassen sich auch Angaben über die durchschnittliche Zahl<br />
F n <strong>der</strong> Nachkommen in <strong>der</strong> n-ten folgenden Generation machen, die<br />
selbstverständlich – trotz MALTHUS – auch nicht dauernd in<br />
geometrischer Progression wachsen kann. Wie es einen Ahnenschwund<br />
gibt, so existiert auch ein Deszendenzschwund. PÖSCHL hat sich<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 472<br />
vorbehalten, auch über ihn ein Buch zu schreiben, das noch aussteht.<br />
Das „Gesetz <strong>der</strong> geschlossenen Blutkreise― beschäftigt sich nur mit dem<br />
Ahnenausfall. Zur Entgegnung auf dieses Werk genügt es also, sich<br />
ebenfalls auf den Ahnenschwund zu beschränken. In meiner<br />
ausführlichen Darstellung habe ich mich dagegen auch mit dem<br />
Deszendentenproblem befaßt.<br />
Wissenschaftliche Fragen haben wohl oft eine lange Geschichte.<br />
Meistens aber verän<strong>der</strong>n sie mit dem Fortschreiten <strong>der</strong> Kenntnisse ihren<br />
Gehalt. Es dürfte eine seltene Ausnahme sein, daß ein<br />
mathematisches Problem elementaren Charakters, das<br />
nachweislich schon in <strong>der</strong> Akademie des PLATON erörtert worden<br />
ist, erst in unseren Tagen gelöst wird [Hervorhebung AR]. Die<br />
Ahnenschwundregel (1) liefert die durchschnittliche Zahl <strong>der</strong> Ahnen in<br />
einer best<strong>im</strong>mten vorangegangenen Generation, über die sich bereits<br />
SOKRATES Gedanken gemacht hat. […Aus <strong>der</strong> ‚Zusammenfassung’:]<br />
Aus <strong>der</strong> Ahnenschwundregel ergeben sich weitreichende<br />
Folgerungen. In einer Bevölkerung braucht man je nach <strong>der</strong> Größe nur<br />
350 bis 750 Jahre zurückzugehen, um nur noch auf Ahnen zu stoßen,<br />
die fast allen gegenwärtig lebenden Volksgenossen gemeinsam sind.<br />
Was man allgemein ahnte, was viele behaupteten, läßt sich nun<br />
beweisen. Personen des abendländischen Kulturkreises, die vor dem<br />
Jahre 1200 lebten und heute noch gesicherte Nachfahren besitzen,<br />
haben wir alle mit verschwindenden Ausnahmen zu Ahnen, und zwar<br />
gleich in hoher Vielfachheit. Die Vorfahren eines jeden von uns<br />
repräsentieren, wie schon PLATON es SOKRATES sagen läßt, ein<br />
ganzes Volk, Hoch und Niedrig, Reich und Arm, Weise und Einfältig,<br />
alles ist vertreten!―<br />
Als Überleitung hier noch ein naturphilosophischer Gedanke H. v.<br />
SCHELLINGs, bevor wir einiges aus v. SCHELLINGs großer Studie<br />
zitieren:<br />
„Denn wenn auch nach einem alten Wort die Welt <strong>der</strong> Materie<br />
überwiegend more geometrico geordnet sein soll, das Leben strömt in<br />
Werden und Vergehen unverkennbar more aleatorio, nach Art eines<br />
Würfelspieles― (aus: ―Trefferwahrscheinlichkeit und Variabilität―; in: Die<br />
Naturwissenschaften (1942), H.20/21, S. 307).<br />
Nun aus Hermann v. SCHELLING: „Studien über die durchschnittliche<br />
verwandtschaftliche Verflechtung innerhalb einer Bevölkerung―, Verlag<br />
Gustav Fischer, Jena 1945, 63 Seiten:<br />
―Man hat sich wi<strong>der</strong>willig gewöhnt, <strong>der</strong> statistischen<br />
Betrachtungsweise in <strong>der</strong> Physik, insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Quantenmechanik<br />
ein Bürgerrecht einzuräumen. Aber es wird noch keineswegs erkannt,<br />
daß die Vielfalt des Lebens, die je<strong>der</strong> funktionalen Bindung trotzt, sich in<br />
das lockere Gewebe von Wahrscheinlichkeitsverteilungen bannen läßt.<br />
Das ist die naturgegebene, adäquate Beschreibung vieler<br />
Lebensvorgänge. Wenn sich diese Erkenntnis einmal durchgesetzt<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 473<br />
haben wird, sind rasche und entscheidende Fortschritte in <strong>der</strong> Biologie<br />
zu erwarten.―(S. 10/11).<br />
„Bei dem <strong>im</strong> Abendland üblichen kurzen Sippengedächtnis ist <strong>der</strong><br />
Ahnenschwund hauptsächlich nur insoweit beachtet worden, als er zu<br />
einer gehäuften Manifestation rezessiver Erbleiden führen kann. Bei<br />
diesem offen zutage tretenden Ahnenausfall in den nächstgelegenen<br />
Generationen handelt es sich aber letzthin doch nur um Ausnahmen.<br />
Die artenformende, fast unhe<strong>im</strong>liche Gewalt die <strong>der</strong> Ahnenschwund<br />
zwangsläufig in weit zurückliegenden Generationen ausübt, ist<br />
noch beinahe unbekannt. Sie erschließt sich, von den seltenen wirklich<br />
weit zurückliegenden Stammtafeln abgesehen, nur dem Mathematiker.<br />
(S. 12/13) […].<br />
„Es zeigt sich, daß alle Personen des abendländischen Kulturkreises,<br />
die vor dem Jahre 1200 gelebt haben und heute noch Nachfahren<br />
besitzen, praktisch bei uns allen unter den Vorfahren enthalten sein<br />
müssen, und zwar in hoher Vielfachheit. Obwohl das Material nicht<br />
entfernt in allen Linien bis ins achte Jahrhun<strong>der</strong>t zurückreicht, hat E.<br />
RÜBEL Kaiser KARL DEN GROßEN über 42000mal unter seinen<br />
Vorfahren nachgewiesen. Wenn diese Ziffer auch nur einen Bruchteil<br />
ihres wahren wertes darstellt, so ist sie <strong>im</strong>merhin <strong>im</strong>ponierend genug,<br />
um auch auf Menschen Eindruck zu machen, die wohl <strong>der</strong> mühseligen<br />
Arbeit des Genealogen, nicht aber dem Gedankenexper<strong>im</strong>ent <strong>der</strong><br />
Mathematik Vertrauen und Verständnis entgegenbringen. (S. 13) […].<br />
Die weitgehende Ahnengleichheit ganzer Völker macht es<br />
verständlich, daß sich <strong>im</strong> Laufe <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>te Wesenszüge<br />
herausbilden konnten, die für die Angehörigen eines Volkes unabhängig<br />
von den Anlagen des einzelnen als charakteristisch empfunden werden.<br />
Kleinere Volksteile, die einigermaßen abgeschlossen leben, haben<br />
schon um das Jahr 1500 herum einen so starken Ahnenausfall, daß alle<br />
heute Lebenden in <strong>der</strong> 15. Generation fast die gleichen Vorfahren<br />
besitzen. [auch Dynasten-AT! (Erich BRANDENBURG), LUDWIG II. v.<br />
BAYERN, S. RÖSCH (PFEIFFER aus Oberlie<strong>der</strong>bach, A. RICHTER<br />
(Änne ULLRICH, und Gregor MENDEL!)]<br />
Die gemeinsame Abstammung reicht also für kleinere Volksteile näher<br />
an die Gegenwart heran. Auf diese Art kommt es zu landschaftlich<br />
gebundenen Eigentümlichkeiten. Dabei spielt aber die Landschaft nur<br />
insoweit eine Rolle, als sie die Abgeschlossenheit <strong>der</strong> Bevölkerung<br />
begünstigt. Die kennzeichnenden Gruppenmerkmale <strong>der</strong> betreffenden<br />
Bevölkerung sind nicht milieubedingt, son<strong>der</strong>n vererbt. Das<br />
Entscheidende ist, daß alle Angehörigen einer gemeinsamen<br />
Ahnenschar entsprossen sind, die nicht in mythischer Vorzeit gelebt hat,<br />
son<strong>der</strong>n nur vier bis acht Jahrhun<strong>der</strong>te zurück liegt. (S. 13/14). […].<br />
Auch in unserem Volke lebt das Bewußtsein nicht, welches Ahnenerbe<br />
in ihm schlummert. Man hat sich bisher wenig darum bemüht,<br />
festzustellen, über wie viele Generationen hinweg Nachfahren eines<br />
berühmten Mannes ferner Vergangenheit nachweisbar sind. Gelingt es,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 474<br />
Nachfahren <strong>der</strong> 20. Generation aufzuspüren, so haben wir fast alle den<br />
betrachteten Großen zum Vorfahren. [Martin LUTHER, Lucas<br />
CRANACH, Adam RIESE, Karl d. Gr.?]. Sein Erbe kann nicht mehr<br />
untergehen, mag auch ein erbarmungsloser Krieg dem Volkskörper tiefe<br />
Wunden schlagen. Angesichts <strong>der</strong> Not <strong>der</strong> Gegenwart dürfen wir uns mit<br />
<strong>der</strong> Hoffnung trösten, daß dem deutschen Volke, wenn es sich die<br />
Freiheit wahrt, die Quellen seiner Kraft nicht verschüttet werden können.<br />
Ist ein gesicherter Frieden erkämpft, so werden sie wie<strong>der</strong> frisch<br />
sprudeln. (S. 14/15) […].<br />
Zahlentafeln und Diagramme lehren, wie die <strong>im</strong> 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
vergötterte Individualität nur das Ergebnis <strong>der</strong> allerletzten Generation ist,<br />
während alle Volksgenossen, ob hoch o<strong>der</strong> niedrig, in <strong>der</strong> Stadt o<strong>der</strong> auf<br />
dem Lande, letzthin <strong>der</strong> gleichen Schar von Vorfahren entstammen. Die<br />
Volksgemeinschaft entspricht also den natürlichen Gegebenheiten,<br />
nachdem mit <strong>der</strong> künstlichen Überbewertung des Individuellen Schluß<br />
gemacht worden ist.<br />
H. W. SIEMENS zeigt in seinen Grundzügen <strong>der</strong> Vererbungslehre (5.<br />
Aufl., München 1933, S. 168, daß seine Kin<strong>der</strong> mit Kaisern, Königen und<br />
Staatsmännern, mit Wissenschaftlern und Industriellen, mit Dichtern und<br />
Künstlern, aber auch mit Kothsassen, Wagenhütern und Sackträgern in<br />
Ahnengemeinschaft leben. (S. 26).<br />
[ in SIEMENS’ wesentlich verbreiteterem volkstümlichen Buch <strong>der</strong><br />
letzten 13. Auflage <strong>der</strong> „Grundzüge <strong>der</strong> Vererbungslehre,<br />
Rassenhygiene und Bevölkerungspolitik― von 1952, das lei<strong>der</strong> durch den<br />
Untertitel „Rassenhygiene― anstatt Eugenik bzw. das heutige Wort<br />
Pränataldiagnostik, die heute innerhalb <strong>der</strong> Humangenetik eine sehr<br />
ausgedehnte Anwendung innerhalb <strong>der</strong> Humangenetik gefunden hat,<br />
abschreckend wirken mag, schreibt SIEMENS ergänzend: „Die Einheit<br />
des Volkes wird folglich durch nichts so überzeugend dargetan, ja <strong>im</strong>mer<br />
von neuem lebendig, wie durch eine richtig betriebene Ahnenforschung.<br />
Umgekehrt aber werden uns gleichzeitig auch die Fäden aufgedeckt, die<br />
unser Volk mit den Nachbarlän<strong>der</strong>n verbinden. So ließen sich unter den<br />
Vorfahren meiner Kin<strong>der</strong> Franzosen, Italiener, Schweizer und Englän<strong>der</strong><br />
nachweisen. Die Familienforschung ist deshalb ein hervorragendes<br />
Erziehungsmittel, das uns nicht nur unsere ethischen Pflichten<br />
gegenüber <strong>der</strong> Familie zum Bewußtsein bringt, son<strong>der</strong>n uns auch eine<br />
vertiefte Auffassung vom Wesen unseres Volkes und von seinen<br />
Beziehungen zu den Nachbarvölkern verschafft.―<br />
von SCHELLING schreibt dann weiter: „Diese Sätze decken sich mit<br />
<strong>der</strong> hier vertretenen Anschauung. Lei<strong>der</strong> n<strong>im</strong>mt F. LENZ (in: BAUER,<br />
FISCHER, LENZ, Menschliche Erblehre, 4. Aufl. München 1936, Bd. 1,<br />
S. 596) eine an<strong>der</strong>e Haltung ein. Er fragt ironisch, warum man so viele<br />
Stammbäume bei KARL DEN GROSSEN beginnen lasse und hier nicht<br />
einmal weiter zurück gehe, obwohl man doch wisse, daß PIPIN <strong>der</strong><br />
Kurze KARLs Vater gewesen sei. In <strong>der</strong> Tat stamme ein großer Teil aller<br />
heute lebenden Deutschen irgendwie von KARL DEN GROSSEN ab.<br />
Das besagte aber sehr wenig, da eine Unzahl an<strong>der</strong>er Vorfahren die<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 475<br />
gleiche, <strong>im</strong> Grunde verschwindend geringe Beachtung verdiene. Dazu<br />
ist zu bemerken, daß KARL DER GROSSE in <strong>der</strong> Tat nichts weiter als<br />
ein beson<strong>der</strong>s eindrucksvolles Beispiel bedeutet. Es handelt sich gar<br />
nicht darum, daß die meisten von uns ausgerechnet KARL DEN<br />
GROSSEN als gemeinsamen Vorfahren besitzen. Wesentlich ist, daß<br />
alle Deutsche fast sämtliche vor dem Jahre 1200 lebenden Ahnen<br />
gemeinsam haben, wodurch sich die Einheitlichkeit des<br />
Volkscharakters erklärt. Auf diese Erkenntnis kommt es an. Neu ist sie<br />
freilich nicht, hat sie doch, wie erwähnt, H. W. SIEMENS schon seit<br />
längerer <strong>Zeit</strong> vertreten. Aber eine sichere quantitative Begründung<br />
dieser mehr vermuteten als bewiesenen Tatsache stand aus, um<br />
diesen Beweis geht es mir― (S. 26/27).<br />
Nach <strong>der</strong> schließlich hochmathematischen Ableitung aus <strong>der</strong><br />
„Ahnenschwundregel― für Ahnen A und Nachfahren N:<br />
A ∞ = N ∞<br />
heißt es:<br />
„Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> vor n Generationen lebte und gegenwärtig überhaupt<br />
noch Nachkommen besitzt, ist Ahn eines beliebigen Probanden, ein<br />
Proband, <strong>der</strong> nach n Generationen noch Nachfahren hat, wird alle dann<br />
lebenden Menschen zu seinen Nachkommen zählen, vorausgesetzt,<br />
daß man n mehr und mehr wachsen läßt.― (S. 41), und H. v.<br />
SCHELLING kommt dann zur Erkenntnis:<br />
„Im ganzen wird man sagen können: Wieviel Vorfahren, soviel<br />
Nachfahren!<br />
Diese Faustregel erleidet nur für die uns nächstgelegenen Generationen<br />
fühlbare Einschränkungen. Bei <strong>der</strong> Herleitung spielte die Anzahl <strong>der</strong><br />
zwei Probanden in <strong>der</strong> n-ten vorangegangenen Generation<br />
gemeinsamen Vorfahren eine Rolle.― (S. 42)<br />
Vorher schreibt H. v. SCHELLING: „Die vorstehenden<br />
einschränkenden Bemerkungen sollen aber nicht darüber<br />
hinwegtäuschen, daß trotzdem die Nachwuchsregel (21a[Hinweis auf<br />
Formel]) wegen ihrer Einfachheit Erstaunen erregen muß. Denn sie<br />
verdichtet <strong>der</strong>artig verwickelte Beziehungen in eine einzige knappe<br />
Gleichung, daß man wohl nie den Ariadnefaden durch dieses Labyrinth<br />
gefunden hätte, wenn man in Richtung auf die Zukunft fortgeschritten<br />
wäre. Erst <strong>der</strong> Kunstgriff, uns als Ahnen einstiger Geschlechter zu<br />
sehen, gab uns mit <strong>der</strong> Ahnenschwundregel das Mittel an die Hand, die<br />
unübersehbare Vielfalt zu überblicken und das Typische zu erkennen.―<br />
(S. 40).<br />
Mit dem beson<strong>der</strong>s interessanten Kapitel „Beispiele von<br />
Ahnengemeinschaften― aus H. v. SCHELLINGs eigener Ahnentafel<br />
wollen wir die allgemeinen Angaben von H. W. SIEMENS zu den<br />
Ahnengemeinschaften seiner Kin<strong>der</strong> noch durch konkrete Beispiele aus<br />
v. SCHELLINGs eigener Ahnentafel noch ergänzen:<br />
„Die Behauptung, es müsse nur wenige Jahrhun<strong>der</strong>te zurück bereits<br />
vielfältige Ahnengemeinschaften geben, könnte auf Unglauben stoßen,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 476<br />
wenn sie nicht durch allgemein nachprüfbare Beispiele belegt würde.<br />
Darum sollen hier in die Augen springende Fälle solcher<br />
Ahnengemeinschaften kurz aufgeführt werden. Ich lebe gegenwärtig,<br />
nachdem ich durch Feindeinwirkung meine ganze Habe verloren habe,<br />
sehr abgeschieden auf dem Lande. Literatur ist mir nicht zugänglich. So<br />
bitte ich es zu entschuldigen, wenn ich die Beispiele meinen eigenen<br />
Vorfahren entnehme, <strong>der</strong>en Stammtafeln ich <strong>im</strong> Luftschutzgepäck<br />
gerettet habe [<strong>der</strong> allgemeine Ausdruck „Stammtafel― bezieht sich <strong>im</strong><br />
konkreten Falle natürlich auf seine „Ahnentafel― bzw. „Ahnenliste―, die<br />
alle erforschen Vorfahrenfamilien enthält].<br />
Württembergische Genealogen, allen voran Hanns Wolfgang RATH,<br />
haben sich durch die Aufstellung „Schwäbischer Ahnentafeln― verdient<br />
gemacht. So ist u. a. eine Vorfahrentafel des Philosophen Friedrich<br />
Wilhelm Jos. SCHELLING (1775-1854) erschienen [Hermann selbst ist<br />
ein Urenkel des großen Philosophen!]. Sie ist dadurch bemerkenswert,<br />
daß sich aus ihr keinerlei Ahnenausfall nachweisen läßt, obwohl noch<br />
einzelne Ahnen <strong>der</strong> 11. Generation aufgeführt werden. Allerdings ist<br />
bereits die 6. Generation nur noch unvollständig bekannt, so daß ein<br />
Ahnenausfall durch diese Lücken unbemerkt bleiben könnte.<br />
Um so erstaunlicher ist es, daß des öfteren Ahnenpaare SCHELLINGs<br />
gleich mehrfach Vorfahrenpaare geistig hervorragen<strong>der</strong> Persönlichkeiten<br />
geworden sind. Der Superintendent David CLESS (1604-1670) und<br />
seine Ehefrau Katharina EZEL (1608-1675) sind viermal Ahnen des<br />
Ästhetikers Friedrich Theodor VISCHER, <strong>der</strong> Prof. <strong>der</strong> Rechte David<br />
SCHEINEMANN (1628-1676) und seine Ehefrau Maria Magdalena<br />
BARDILI (1630-1702) sind viermal Vorfahren des Dichters Karl GEROK,<br />
<strong>der</strong> Konsistorialdirektor Wilhelm Christian FABER (1599-1667) und<br />
seine Ehefrau Praxedes BREITSCHWERT (vor 1610-1647) sind viermal<br />
Ahnen des Dichters Wilhelm HAUFF. In allen genannten Fällen handelt<br />
es sich um einen starken Ahnenausfall für die aufgeführten<br />
Persönlichkeiten in einer nur rund zwei Jahrhun<strong>der</strong>te zurückliegenden<br />
Vergangenheit.<br />
Für eine weitgehende Ahnengemeinschaft legt die SCHELLING-<br />
Stammtafel [Ahnentafel!] aber noch ein schlagen<strong>der</strong>es Zeugnis ab. Der<br />
Prof. <strong>der</strong> Medizin Carl BARDILI (1600-1647) und seine Ehefrau Regina<br />
BURCKHARDT (1599-1669) sind Vorfahren des Philosophen<br />
SCHELLING, seines Tübinger Stiftsgenossen Friedrich HÖLDERLIN<br />
und Ludwig UHLANDs, um nur die glanzvollsten Namen zu nennen. Mit<br />
Recht hat Hanns Wolfgang RATH, dem wir die Aufdeckung dieser<br />
Zusammenhänge verdanken, Regina BURCKHARDT die „schwäbische<br />
Geistesmutter― genannt. [RATH hat diese Ahnengemeinschaften zwar<br />
durch sein Buch 1927 erst allgemein bekannt gemacht, in<br />
genealogischen Vereinskreisen waren sie indes bereits schon vor 1927<br />
bekannt, so z. B. be<strong>im</strong> jungen Familienforscher Siegfried RÖSCH].<br />
Doch die verwandtschaftliche Verflechtung greift über Schwaben<br />
hinaus. Zwei voneinan<strong>der</strong> unabhängige Vorfahren SCHELLINGs sind<br />
gleichzeitig Ahnen des Fürsten BISMARCK, nämlich Jakob MÜLLER,<br />
genannt GIENGER, 1440 Bürger, 1453 <strong>Richter</strong> zu Ulm, gestorben 1457<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 477<br />
und Hans HUTZ, Goldschmiedzunftmeister zu Ulm, gestorben daselbst<br />
1472.<br />
Ferner hat C. STAUDE in einer schon erwähnten Arbeit gezeigt, daß<br />
zwischen dem Reichsmarschall Hermann GÖRING, den Brü<strong>der</strong>n<br />
Wilhelm und Alexan<strong>der</strong> v. HUMBOLDT und dem Dichter Ludwig<br />
UHLAND eine Ahnengemeinschaft besteht. Da in <strong>der</strong> Ahnenreihe<br />
mehrere SCHEINEMANN vorkommen, die offenbar Vorfahren des<br />
schon erwähnten SCHELLING-Ahn David SCHEINEMANN sind, so<br />
gehört auch SCHELLING zu <strong>der</strong> von STAUDE aufgedeckten<br />
Ahnengemeinschaft, dazu seine Nachkommen, darunter in <strong>der</strong> 1. und 2.<br />
Generation <strong>der</strong> preuß. Staatsminister Hermann v. SCHELLING (1824<br />
bis 1908) [ein Onkel des Mathematikers Hermann v. SCHELLING!] und<br />
<strong>der</strong> Sieger in <strong>der</strong> Winterschlacht von Masuren, Generalfeldmarschall<br />
Hermann v. EICHHORN (1848-1918).<br />
Die Deutung dieser Tatsachen erscheint zunächst schwierig. Als ich<br />
zum ersten Male davon hörte, glaubte ich, es müsse sich um eine<br />
seltene Ausnahme handeln. Es werden aber <strong>im</strong>mer zahlreichere,<br />
beachtenswerte Ahnengemeinschaften bekannt, auf den<br />
diesbezüglichen Bericht von H. W. SIEMENS wurde schon verwiesen.<br />
So ist es wohl verfehlt, an Ausnahmen zu denken. In Wirklichkeit<br />
erleben wir nur die Bestätigung <strong>der</strong> vorgetragenen mathematischen<br />
Theorie, nachdem beliebige Probanden in genügend<br />
zurückliegenden Generationen viele Vorfahren gemeinsam haben<br />
müssen. Wenn solche Ahnengemeinschaften vornehmlich in den<br />
Stammtafeln von bekannten Persönlichkeiten entdeckt werden, so darf<br />
das nicht ohne weiteres zu dem Vorurteil verleiten, Höchstbegabungen<br />
träten gehäuft auf. Diese Tabellen stellen eine einseitige Auslese dar,<br />
weil es die Genealogen nun einmal mehr verlockte, den Vorfahren<br />
bekannter Persönlichkeiten nachzugehen, als sich für die Ahnen von<br />
Gevatter Schnei<strong>der</strong> und Handschuhmacher abzumühen.<br />
Die Arbeit <strong>der</strong> Genealogen wird <strong>der</strong> Allgemeinheit wenig bekannt. Ihre<br />
Stammtafeln [gemeint hier wie<strong>der</strong> Ahnentafeln!] mögen oft zu<br />
unvollständig sein, um den Ahnenausfall mit Sicherheit erfassen zu<br />
können [bei mir begann er schon bei <strong>der</strong> 7. Ahnengeneration, und<br />
erregte damit mein beson<strong>der</strong>es genealogisches Interesse]. Immerhin ist<br />
anzunehmen, daß sich unter den Genealogen Faustregeln über den<br />
durchschnittlichen Ahnenausfall herausgebildet haben. Es wäre<br />
wünschenswert, sie kennenzulernen. Die zuverlässigste Schätzung über<br />
den Ahnenverlust dürfte gegenwärtig die des Herrn RUOFF <strong>im</strong><br />
Gutachten zur Stammtafel RÜBEL-BLASS sein [Ahnentafel RÜBEL-<br />
BLASS, Zürich 1939].<br />
Ein Material ganz spezieller Art stellen die Stammtafeln [gemeint sind<br />
Ahnentafeln] hochfürstlicher Persönlichkeiten dar, die darum als<br />
Beispiele nicht ohne Wert sind. Von seltenen Ausnahmen abgesehen,<br />
haben die Vorfahren innerhalb eines ziemlich engen Kreises<br />
ebenbürtiger Familien geheiratet, <strong>der</strong> <strong>im</strong> Laufe <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>te nicht<br />
allzu starken Än<strong>der</strong>ungen unterlegen ist. Hier ist es also wohl vertretbar,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 478<br />
den Parameter N konstant zu halten. E. BRANDENBURG berichtet in<br />
den „Ahnentafeln berühmter Deutscher― (Leipzig 1934), daß von den<br />
4096 Ahnen <strong>der</strong> 12. Generation KARL V. noch 1609, Erzherzog FRANZ<br />
FERDINAND, <strong>der</strong> dem Attentat von Serajewo zum Opfer fiel, dagegen<br />
nur 526 verschiedene Vorfahren besässen hätte. Vergleichen wir unsere<br />
Tabellen, so stellen wir fest, daß<br />
bei N = 1000 und n = 12 <strong>im</strong> Durchschnitt 1742 Ahnen<br />
= 500 983<br />
Vorhanden sind. Bei Kaiser KARL V. wird man also etwa N = 940<br />
annehmen dürfen, eine erstaunliche hohe Ziffer, die einem normalen<br />
SCHEIDTschen Heiratskreis entspricht. Bei Erzherzog FRANZ<br />
FERDINAND ist man dagegen gezwungen N kaum höher als ½ x 526 =<br />
263 zu wählen. Die Abkapslung <strong>der</strong> Habsburger hat in den<br />
dazwischenliegenden vier Jahrhun<strong>der</strong>ten gewaltige Fortschritte<br />
gemacht. Wenn man bedenkt, daß das Erzhaus <strong>im</strong> 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
allein schon aus einer erheblichen Anzahl von Paaren bestand, <strong>der</strong>en<br />
Kin<strong>der</strong> sich untereinan<strong>der</strong> zu heiraten pflegten, wenn man andrerseits<br />
überlegt, daß <strong>im</strong>merhin vereinzelte Vorfahren aus weniger eng<br />
versippten Familien stammen mochten, die den Wert von N stark in die<br />
Höhe drücken, so muß die enge des Heiratskreises fast als erschütternd<br />
bezeichnet werden. Ist es ein Wun<strong>der</strong>, daß <strong>im</strong> Jahre 1918 das Haus<br />
Habsburg nach ruhmvoller Vergangenheit morsch in sich<br />
zusammenstürzte?― (S. 30-32).<br />
Auf <strong>der</strong> allgemeinen Tatsache von Ahnengemeinschaften in<br />
Deutschland fußt auch <strong>der</strong> sogenannte „Ahnenlistenaustausch― (ALA),<br />
<strong>der</strong> bereits von Landgerichtsrat Dr. Karl FÖRSTER nach einem Aufruf<br />
<strong>im</strong> Jahre 1921 ins Leben gerufen worden ist [Familiengeschichtliche<br />
Blätter (1921), 19. Jg., H. 2, Sp. 33-38]. und vor allem auch<br />
genealogische Doppelarbeit in <strong>der</strong> Forschung vermeiden sollte. Dieser<br />
„Ahnenlistenaustausch― führte dann 1923 zum wertvollen Aufbau einer<br />
„Ahnenstammkartei des deutschen Volkes― (ASTAKA) bzw. des Vereins<br />
„Deutsche Ahnengemeinschaft (DA)―, <strong>der</strong> heute über 2 Millionen<br />
Karteikarten umfaßt. Ich bin selbst seit 1956 jahrzehntelanges Mitglied<br />
dieses Vereins gewesen, <strong>der</strong> in Dresden ansässig war und seine<br />
Bestände wurden erst 1967 nach Leipzig zur „Zentralstelle für<br />
Genealogie in <strong>der</strong> DDR― überführt. Über meine sehr fruchtbare<br />
Mitgliedschaft möchte ich später noch berichten.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 479<br />
14.1 Über Stammtafeln in <strong>der</strong> Geschichte und Gegenwart<br />
Eine sehr große, weit verzweigte bürgerliche Stammtafel ist so<br />
selten wie ein großer klarer Kristall. Ein wohlgeformter Kristall konnte<br />
erdgeschichtlich nur unter ganz best<strong>im</strong>mten, selten vorkommenden<br />
ungestörten äußeren physikalischen Umgebungs- und „inneren―<br />
chemischen Zustandsbedingungen aus seiner Mutterlauge entstehen.<br />
Nur ihn kann <strong>der</strong> Mensch durch Schleifen zu einem kostbaren<br />
facettenreichen Edelstein, einem Juwel weiterveredeln.<br />
Auch eine sehr weit verzweigte bürgerliche Stammtafel kann nur<br />
zustande kommen, wenn in <strong>der</strong> Bevölkerung die äußeren<br />
geschichtlichen Umweltbedingungen zur Fortentwicklung günstig und<br />
die inneren genetischen Voraussetzungen dazu gegeben sind. Dabei<br />
verstehen wir hier unter Stammtafel ausdrücklich nur den Spezialfall<br />
<strong>der</strong>jenigen Personen, die alle nur einer einzigen Familie angehören<br />
(unter Ausschluß aller Töchternachkommen!). Geschichtliche Umwelt<br />
und das genetische innere Erbe sind hier die best<strong>im</strong>menden<br />
Schicksalsmächte. Diese äußern und inneren Kräfte entscheiden,<br />
welche Rolle die Nachkommenschaft eines von uns betrachtetes<br />
Ausgang- bzw. Urstammelternpaares <strong>im</strong> Laufe <strong>der</strong> Generationen in <strong>der</strong><br />
gesamten Bevölkerungsgeschichte einn<strong>im</strong>mt; einerseits quantitativ<br />
biologisch (z.B. Anzahl <strong>der</strong> Individuen) und an<strong>der</strong>erseits<br />
kulturgeschichtlich (dienend, führend o<strong>der</strong> als Kulturträger etc.).<br />
Von dynastischen Familien haben wir seit dem Beginn <strong>der</strong><br />
geschichtlichen Urkunden Kenntnis. Vom Pharao ECHNATON<br />
(AMENOPHIS IV), etwa 1370-1352 v.Chr., aus <strong>der</strong> ruhmreichen 18.<br />
Dynastie, <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> durch ihre wun<strong>der</strong>volle Büste bekannten Königin<br />
NOFRETETE verheiratet war, sind uns z.B. bereits beide<br />
Großelternpaare bekannt. Aus den vorchristlichen Jahrhun<strong>der</strong>ten sind<br />
uns auch z.B. von den Herrschergeschlechtern aus Persien,<br />
Makedonien, Syrien und Judäa Geschlechtertafeln bekannt, allerdings<br />
fehlen hier <strong>im</strong> allgemeinen aufgrund des vorherrschenden Patriarchats<br />
alle Frauen als Mütter vollkommen. Ganz analog wie bei den<br />
Geschlechtsregistern und Stammbäumen in <strong>der</strong> Bibel (z.B. 1. Moses,<br />
Kap. 4; Matthäus , Kap. 1; Lukas 3,23-38.<br />
Von bürgerlichen Familien hingegen beginnen unsere genealogischen<br />
Kenntnisse lei<strong>der</strong> erst 2000 Jahre später! Erst etwa zur <strong>Zeit</strong> des<br />
Mittelalters um 1500, - als Amerika gerade von Europa aus entdeckt<br />
worden war. Genealogie war ursprünglich eine vorwiegend<br />
staatspolitische Angelegenheit <strong>der</strong> Herrscherfamilien (Dynasten) , wobei<br />
es <strong>im</strong> wesentlichen darum ging, die Ebenbürtigkeit <strong>der</strong> einzelnen<br />
dynastischen Familien untereinan<strong>der</strong> nachzuweisen und zu<br />
klassifizieren, um den vorgeschriebenen Ehegesetzen o<strong>der</strong><br />
Ämteransprüchen zu genügen (Stammtafeln von<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 480<br />
Herrschergeschlechtern und sog. „Ahnenproben― in <strong>der</strong> Ritterschaft). Die<br />
sog. Heroldsämter waren für die Überwachung und Wappenvergabe<br />
(ursprünglich reine Unterscheidungskennzeichen) zuständig.<br />
Im Rahmen <strong>der</strong> Städtegründungen in Deutschland und des damit<br />
entstehenden Patriziats, etwa ab dem 14. Jahrhun<strong>der</strong>t, erwacht<br />
allerdings auch bei den führenden Amtsbürgern <strong>der</strong> Städte ein<br />
ausgeprägtes Standesbewußtsein, das zur Wappenführung und<br />
vereinzelt auch schon zum Aufstellen von bürgerlichen Stammbäumen<br />
führt. Die Fugger und Welser in Augsburg sind hier die bekanntesten<br />
Beispiele von Familien mit Stammbaum und Wappen. Der<br />
ausgesprochen standesbewußte Familien- und Forscherstolz des Hochund<br />
Briefadels dokumentiert sich in Deutschland in den Stammtafeln <strong>der</strong><br />
Adelshandbücher, z.B. dem „Gotha― (Verlag Perthes, Gotha (von 1764-<br />
1944, ca. 680(!) Bände und seinen Nachfolgern z.B. dem<br />
Genealogischen Handbuch des Adels (von 1951-2000) ca. 120 Bände<br />
(Verlag Stark, L<strong>im</strong>burg/Lahn). Auch zahlreiche Dynasten-Stammtafel-<br />
Sammlungen werden <strong>im</strong> 20. Jahrhun<strong>der</strong>t veröffentlicht, wobei hier nur<br />
die von W. K. Prinz v. ISENBURG 1936 begründeten „Europäischen<br />
Stammtafeln― erwähnt seien, die dann in <strong>der</strong> Nachkriegszeit von Detlev<br />
SCHWENNICKE bis heute fortgeführt werden (Verlag Stargardt,<br />
Marburg und V. Klostermann, Ffm., ca. 25 Bände).<br />
Erst viel später folgte die Dokumentation <strong>der</strong> bürgerlichen Stammtafeln<br />
in den „Deutschen Geschlechterbüchern―, DGB, (Verlag Starke), von<br />
1889-2004 über 200 Bände, und noch später auch <strong>im</strong> „Deutschen<br />
Familienarchiv― DFA, (Verlag Degener), 148 Bände von 1954-2007.<br />
Größere Stammtafeln sind in diesen bürgerlichen Reihenwerken aber<br />
hier nur selten zu finden. Eine große Stammliste des schwäbischen<br />
Apotheker- und Chemiker-Geschlechts GMELIN von <strong>der</strong> Mitte des 17.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts bis zur Jetztzeit mit mehr als 2300 Namensträgern gehört<br />
hier zur Ausnahme. Vereinzelt wurden einige große Stammtafeln als<br />
separate Bücher <strong>im</strong> Eigenverlag <strong>der</strong> Familien veröffentlicht.<br />
Anfang des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts beginnt sich auch bei einigen<br />
bürgerlichen Familien das Bewußtsein für Familiengeschichte zu<br />
entwickeln. Bereits Stephan August SIEMENS, 1746-1833, - ein Bru<strong>der</strong><br />
des Großvaters des Erfin<strong>der</strong>s und Großunternehmers Werner von<br />
SIEMENS, 1816-1892 - sammelte schon systematisch Daten von seiner<br />
Familie, die er einem SIEMENS-Verwandten zur Verfügung stellte, <strong>der</strong><br />
1829 daraus den ersten Stammbaum <strong>der</strong> Familie SIEMENS aufgestellt<br />
hat, den dann weitere Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Familie SIEMENS <strong>im</strong>mer weiter<br />
vervollständigt haben. Stephan August SIEMENS war Pächter des<br />
bäuerlichen „Ohlhofes― bei Goslar, den schon sein aus Goslar<br />
stammen<strong>der</strong> Großvater als Pächter bewirtschaftet hatte. Bereits bei<br />
Stephan August SIEMENS fallen seine naturwissenschaftlichen und<br />
mechanischen Begabungen auf, die er durch Studien in Halle und<br />
Helmstedt weiter ausgebaut hat. Neben <strong>der</strong> Ökonomie beschäftigte er<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 481<br />
sich mit <strong>der</strong> Anfertigung optischer Instrumente und soll noch <strong>im</strong> hohen<br />
Alter – er wurde 87 Jahre alt -<br />
seine Enkel, die daran Interesse hatten, stundenlang über solche Dinge<br />
belehrt haben und ihnen selbstgefertigte Mikroskope o<strong>der</strong> Fernrohre<br />
geschenkt haben. Bereits <strong>der</strong> bekannte Genealoge Stephan KEKULE<br />
von STRADONITZ, hat sich mit <strong>der</strong> Familie SIEMENS beschäftigt und<br />
einen Aufsatz „Über das Erfin<strong>der</strong>geschlecht SIEMENS― 1908<br />
veröffentlicht und erwähnt dort Stephan August SIEMENS ausdrücklich<br />
auch als Bereitsteller <strong>der</strong> Familienurkunden. KEKULE von<br />
STRADONITZ gibt sich nicht nur mit <strong>der</strong> Tatsache zufrieden, daß<br />
Werner von SIEMENS noch drei weitere Brü<strong>der</strong> hatte, die zu den<br />
bahnbrechenden Erfin<strong>der</strong>n ihrer <strong>Zeit</strong> gehören: Sir William (Wilhelm)<br />
SIEMENS in London (einer <strong>der</strong> gefeiertesten Ingenieure in England;<br />
Siemens-Martin-Verfahren zur Stahlherstellung), Friedrich SIEMENS in<br />
Dresdens (Glasindustrieller, zahlreiche Erfindungen zur<br />
Wärmeökonomie) und Karl von SIEMENS in St. Petersburg<br />
(Kupferbergwerksbesitzer <strong>im</strong> Kaukasus, führt später das Siemens-<br />
Starkstromgeschäft in Rußland als hochbefähigter Kaufmann zu neuer<br />
Blüte). KEKULE von STRADONITZ versucht <strong>der</strong> technischen Begabung<br />
<strong>der</strong> berühmten SIEMENS-Brü<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Ahnenschaft nachzugehen und<br />
interessant ist, daß er hier auch schon Vermutungen über die Vererbung<br />
durch die mütterlichen Linien anstellt. Wir zitieren deshalb KEKULE:<br />
„Findet sich nun irgendein solcher Typus bei einer Reihe von<br />
Geschwistern deutlich ausgeprägt, findet er sich, wie es bei <strong>der</strong> Familie<br />
SIEMENS <strong>der</strong> Fall ist, auch ausgeprägt bei den Nachkommen und<br />
nächsten Seitenverwandten dieser Geschwister, läßt sich, wie es hier<br />
<strong>der</strong> Fall ist, nachweisen, daß er außerdem bei einigen entfernt<br />
verwandten Mitglie<strong>der</strong>n desselben Geschlechts vorhanden ist, so ist es<br />
nach <strong>der</strong> gegenwärtigen Meinung <strong>der</strong> Wissenschaft berechtigt, diesen<br />
Typus einen Familientypus zu nennen.<br />
Danach ist es aber ganz gewiß berechtigt, von dem Vorhandensein<br />
des Erfin<strong>der</strong>typus als eines Familientypus in dem Geschlecht<br />
SIEMENS zu sprechen und es ein „Erfin<strong>der</strong>geschlecht“ zu nennen.<br />
Man weiß nur merkwürdigerweise gerade bei ihm nicht recht, von<br />
welcher Seite her er in die Familie gekommen ist. N<strong>im</strong>mt man ihn als<br />
von den Vorfahren ererbt an, und das muß man bei <strong>der</strong> ganzen<br />
Sachlage, so muß man, um Klarheit zu gewinnen, jedenfalls auf das<br />
gemeinsame Stammelternpaar <strong>der</strong> vorgenannten Personen zurückgehn.<br />
Dieses gemeinsame Stammelternpaar aller vorerwähnten „Erfin<strong>der</strong>― aus<br />
dem Geschlechte ist Hans Henning SIEMENS, gestorben 1725, <strong>der</strong><br />
erste Eigentümer des Ohlhofes aus dem Geschlechte, von dem man<br />
aber nichts näheres weiß als dieses. Nicht einmal <strong>der</strong> Name seiner<br />
Ehefrau ist bekannt. Und doch ist es wahrscheinlich gerade sie, die den<br />
Erfin<strong>der</strong>typus in das Geschlecht gebracht hat wie eine andre<br />
Stammutter, was dargelegt worden ist, die eheliche Fruchtbarkeit. Es ist<br />
dieses eine häufig feststellbare Erscheinung, nämlich daß irgendeine<br />
Eigenschaft durch die Stammutter von <strong>der</strong>en Vorfahren in die Familie<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 482<br />
ihres Ehemannes gebracht und dann bei den weitern Nachkommen zum<br />
Familientypus wird.―<br />
Inzwischen konnte die SIEMENS-Genealogie noch wesentlich besser<br />
erforscht werden und auch über Hans Henning SIEMENS, 1667-1725,<br />
und seine beiden Ehefrauen Anna Margarethe VOLBRECHT, von <strong>der</strong><br />
alle 11 Kin<strong>der</strong> des Hans Henning abstammen und seine zweite Frau<br />
Anna Elisabeth PFÖRTNER, die er nach dem Tode (1715) seiner ersten<br />
Frau noch heiratete, weiß man heute Bescheid. Wir werden später auf<br />
die SIEMENS-Genealogie noch <strong>im</strong> Rahmen von statistischen<br />
Ergebnissen an großen Familien-Stammtafel zu sprechen kommen,<br />
gehört <strong>der</strong> „SIEMENS-Stammbaum― doch mit zu den größten und<br />
besterforschten deutschen Stammtafeln überhaupt.-<br />
====================================================<br />
Hier sei als Beispiel auf die große Stammtafel <strong>der</strong> hessischen Familie<br />
SCHEIBLER verwiesen, die von einem Scheibler-Familienmitglied 1895<br />
in prächtiger Ausstattung herausgegeben worden ist. Meist gehen<br />
solchen größeren Stammtafel-Veröffentlichungen kleinere Stammtafel-<br />
Zusammenstellungen voraus, wie z. B. auch hier ein<br />
„Geschlechtsregister <strong>der</strong> Scheiblerschen Familie― von 1874. Auf diese<br />
hessische Familie SCHEIBLER wird später noch eingegangen, da sie<br />
auch in <strong>der</strong> Goethe-Genealogie (Goethes Ahnentafel) vorkommt und<br />
zahlreiche Scheibler-Töchter in soziologisch ähnliche Familien<br />
einheiraten und hier eine auffallend große Nachkommenschaft von<br />
„Goethe-Verwandtschaftsfamilien― begründen. Beson<strong>der</strong>s auf die<br />
verwandtschaftliche Verflechtung mit <strong>der</strong> hessischen Gelehrtenfamilie<br />
ORTH sei bereits hier hingewiesen.<br />
Siehe dazu auch „Goethes Verwandtschaft in Ostfriesland― unter:<br />
http://www2.genealogy.net/privat/goethe/aufsaetze/richter_2007.html<br />
Die größte bisher veröffentlichte bürgerliche Stammtafel ist wohl die <strong>der</strong><br />
Familie CONZELMANN aus dem Raum Tailfingen in <strong>der</strong> schwäbischen<br />
Alb, die 1940 erschienen ist. Diese Stammtafel in Listenform umfaßt<br />
mehrere CONZELMANN-Stammtafeln, die bis in das 16. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
zurückgeführt werden können. Die größte Stammliste von einem<br />
Stephan CONZELMANN, Einwohner in Truchtelfingen, 1619-1691,<br />
umfaßt über 4200 Nachkommen, die von ihm abstammen. Diese Arbeit<br />
kann als ein beson<strong>der</strong>er Glücksfall für die Wissenschaft bezeichnet<br />
werden, da sie einen ländlichen Personenkreis umfaßt, von dem sonst<br />
eigentlich keine lückenlosen Überlieferungen aus <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> vor dem<br />
Dreißigjährigen Krieges vorliegen, wie es sonst außer den Adelsfamilien,<br />
sonst nur noch bei den ratsfähigen Familien <strong>der</strong> deutschen Städten des<br />
Mittelalters <strong>der</strong> Fall ist. Bei <strong>der</strong> Familie CONZELMANN handelt es sich<br />
aber um bäuerliche und kleine Handwerkerfamilien, und zwar<br />
überwiegend Weberfamilien. Dem großen Fleiß und <strong>der</strong><br />
ordnungswissenschaftlichen Begabung des aus diesem Familienkreis<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 483<br />
stammenden D. Ernst BIZER, Pfarrer in Tailfingen (jetzt Albstadt), später<br />
Professor für Kirchengeschichte an <strong>der</strong> Universität Bonn, ist es zu<br />
verdanken, daß eine solche große Stammtafel in Listenform<br />
zusammengestellt und gedruckt werden konnte. Daß hier noch einige<br />
weitere Persönlichkeiten aus <strong>der</strong> CONZELMANN-Familie sich für die<br />
Finanzierung des Druckes einsetzten und auch ein Berufsgenealoge<br />
(Eugen KURZ, Ulm) den Vermutungen nachgegangen ist, ob die<br />
Tailfinger CONZELMANN-Familien sich von <strong>der</strong> noch älteren ratsfähigen<br />
Ulmer Patrizierfamilie (mit Wappen und Verbindung zu den FUGGERN)<br />
abstammen und ein bekannter Namensforscher (Josef Karlmann<br />
BRECHENMACHER, Stuttgart) einen Beitrag zur Namensdeutung dazu<br />
liefert, sei nur <strong>der</strong> Vollständigkeit wegen vermerkt.<br />
Es darf die Feststellung gewagt werden, daß es fast <strong>im</strong>mer nur große<br />
Persönlichkeiten sind, die in zäher, meist jahrzehntelanger Arbeit, solch<br />
große Stammtafeln erforschen und über Jahrhun<strong>der</strong>te bis zu ihrer <strong>Zeit</strong><br />
auch vollenden können. Wobei diese Forscher manchmal allerdings<br />
begünstigt werden durch frühere „Vorarbeiter― (genealogische<br />
Hinterlassenschaften) aus dem Familienkreis.<br />
In diesem Zusammenhang sei hier auch noch etwas näher auf die<br />
Stammtafel-Erforscher und<br />
-Autoren <strong>der</strong> bereits oben erwähnten schwäbischen Familie GMELIN<br />
eingegangen, bei <strong>der</strong> sich eine 300-jährige Familiengeschichts-<br />
Forschung nachweisen läßt. Die Familie GMELIN, aus dem<br />
Apothekerstand hervorgegangen, hat vor allem zahlreiche berühmte<br />
Chemiker und Mediziner hervorgebracht. Wobei natürlich <strong>der</strong><br />
Gelehrtenstatus mancher Familienangehörigen recht günstige<br />
Voraussetzungen für die Erforschung aus dem schriftlichen Quellen bot.<br />
Auch hier war es ein wissenschaftlich arbeiten<strong>der</strong> Pfarrer, Moritz<br />
GMELIN, 1839-1879, später Archivrat in Karlsruhe, <strong>der</strong> die<br />
hauptsächliche Kärrnerarbeit geleistet hat. Aber auch er konnte auf<br />
einen Vorgänger aufbauen, dessen Mutter(!) eine geborene GMELIN<br />
war. Und wer war dieser Pionier? Moritz GMELIN schreibt dazu in<br />
seinem „Stammbaum <strong>der</strong> Familie Gmelin― von 1877:<br />
„Der gemeinsame Stammvater <strong>der</strong> jetzt lebenden Gmelin mag etwa<br />
zwischen 1510 und 1520 geboren sein. Drei Generationen später wurde,<br />
von einem seiner Urenkel, dem Professor <strong>der</strong> hebräischen Sprache an<br />
<strong>der</strong> Universität Tübingen, Dr. Wilhelm SCHICKARDT, <strong>der</strong> erste Anfang<br />
mit dem Anlegen eines Familien-Stammbaumes gemacht;<br />
SCHICKARDT selbst führte denselben bis 1615 fort.― -<br />
Hier stutze ich erstmals neulich (April 2007) be<strong>im</strong> Wie<strong>der</strong>lesen des<br />
Namens SCHICKARD(T). Ein Prof. SCHICKARDT, <strong>der</strong> hebräischen<br />
Sprache war mir kein Begriff. Indessen war mir <strong>der</strong> Name SCHIKARD <strong>im</strong><br />
Rahmen spezieller LEIBNIZ-Forschungen begegnet. Und zwar <strong>der</strong><br />
LEIBNIZ-Vorgänger als Erbauer <strong>der</strong> ersten Rechenmaschine <strong>im</strong> Jahre<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 484<br />
1623, noch 17 Jahre vor Blaise PASCAL. Daß es sich hier um den<br />
gleichen SCHICKARD(T) handelte, konnte ich bald bestätigt finden!<br />
Ich zitiere hier eine Biographie von Wilhelm SCHICKARDs aus dem<br />
Buch von Hans KAUFMANN: „Die Ahnen des Computers― (1974):<br />
„Erstaunlich nun, daß LEIBNIZ gerade auf dem Gebiet <strong>der</strong><br />
Rechenmaschinen zwei Vorgänger gehabt hat, die beide Universal-<br />
Genies gewesen sind, nämlich Wilhelm SCHICKARDT und Blaise<br />
PASCAL, <strong>der</strong> erste nahezu vergessen, <strong>der</strong> zweite noch heute<br />
hochberühmt. SCHICKARDT (geb. 1592 in <strong>der</strong> Nähe von Tübingen),<br />
wurde <strong>im</strong> Alter von 27 Jahren in Tübingen Professor für biblische<br />
Sprachen, also beson<strong>der</strong>s Hebräisch und Aramäisch. Aber er erlernte<br />
dazu Arabisch, Chaladäisch, Syrisch. Ein von ihm verfaßtes Lehrbuch<br />
für Hebräisch ist in vielen Auflagen erschienen. Doch es zog ihn, den<br />
Freund KEPLERs, noch zu ganz an<strong>der</strong>en Dingen, was schließlich dazu<br />
führte, daß er dreizehn Jahre nach seiner Professor für semitische<br />
Philologie auch noch eine für Mathematik erhielt; dadurch lehrte er auch<br />
noch Astronomie und insbeson<strong>der</strong>e Geodäsie. Und als Geodät<br />
zeichnete er sich durch eine vorbildliche Landesaufnahme und durch ein<br />
mehrfach aufgelegtes Buch über die Methode <strong>der</strong> Geodäsie aus. Und<br />
schließlich war er Zeichner und Kupferstecher! Und Erfin<strong>der</strong>! Und so,<br />
fast zwischendurch, schuf <strong>der</strong> rastlose Mann 1623 die erste 4-Spezies-<br />
Rechenmaschine, von <strong>der</strong> es zwei Exemplare gegeben hat. Das zweite<br />
war für seinen Freund [Johannes] KEPLER best<strong>im</strong>mt, es verbrannte,<br />
bevor es übergeben werden konnte (Tafel VI).<br />
Das Ende SCHICKARDs: er starb 1635 zweiundvierzig-jährig mit seiner<br />
ganzen Familie an <strong>der</strong> Pest.―<br />
Johannes KEPLER, Mathematiker und Astronom (Keplersche Gesetzte),<br />
1571-1630, aus bürgerlich ärmlichen Verhältnissen in Württemberg<br />
stammend, geboren in <strong>der</strong> schwäbischen Reichsstadt Weil <strong>der</strong> Stadt,<br />
sein Vater ließ sich kurz nach Johannes Geburt als Söldner anwerben<br />
und kämpfte in Flan<strong>der</strong>n gegen die calvinistischen Protestanten,<br />
obgleich er und seine Frau Lutheraner waren. Johannes KEPLER<br />
erwähnt GOETHE ausführlich in seinen berühmten „Materialien zur<br />
Geschichte <strong>der</strong> Farbenlehre―, die viel zu wenig in seinem Gesamtwerk<br />
bisher gewürdigt werden, da es ja lei<strong>der</strong> vorwiegend<br />
Geisteswissenschaftler sind, die mit <strong>der</strong> Herausgabe von Goethes<br />
Gesamtwerk Erfolg hatten. GOETHE schreibt dort über KEPLER unter<br />
an<strong>der</strong>en:<br />
„Wenn man KEPLERs Lebensgeschichte mit demjenigen, was er<br />
geworden und geleistet, zusammenhält, so gerät man in ein frohes<br />
Erstaunen, indem man sich überzeugt, daß <strong>der</strong> wahre Genius alle<br />
Hin<strong>der</strong>nisse überwindet. Der Anfang und das Ende seines Lebens<br />
werden durch Familienverhältnisse verkümmert, seine mittlere <strong>Zeit</strong> fällt<br />
in die unruhigste Epoche, und doch dringt sein glückliches Naturell<br />
durch. Die ernstesten Gegenstände behandelt er mit Heiterkeit. (…)<br />
An<strong>der</strong>en sei es überlassen, seine Verdienste anzuerkennen und zu<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 485<br />
rühmen, welche außer unserm Gesichtskreis liegen; aber uns ziemt es,<br />
sein herrliches Gemüt zu bemerken, das überall auf das freudigste<br />
durchblickt. Wie verehrt er seinen Meister und Vorgesetzten TYCHO! …<br />
Und wie arbeitet er sein ganzes Leben unverrückt an <strong>der</strong> Vollendung!―<br />
((Link auf Keplers Ahnen))?<br />
Welches Glück, daß von dem Gelehrten und Erfin<strong>der</strong> Wilhelm<br />
SCHICKARD auch noch die erste Stammtafel GMELIN erhalten blieb,<br />
aus <strong>der</strong>en Familie seine Mutter Margarethe geb. GMELIN stammte. Der<br />
Autor ist <strong>im</strong> Besitz dieses seltenen, oben erwähnten „Stammbaums <strong>der</strong><br />
Familie GMELIN― von 1877, da er Bestandteil des genealogischen<br />
Nachlasses des universalen Gelehrten Prof. Dr. Siegfried RÖSCH ist,<br />
<strong>der</strong> vom Autor betreut wird.<br />
Prof. RÖSCH stammt zwe<strong>im</strong>al von einem Bru<strong>der</strong> dieser Margarethe<br />
GMELIN ab!<br />
Auf Siegfried RÖSCH wird nochmals eingegangen <strong>im</strong> Zusammenhang<br />
mit <strong>der</strong> großen Stammtafel <strong>der</strong> Familie ORTH aus Marburg, auf die sich<br />
ein „Stammtafel-Aufruf― bezieht und <strong>der</strong>en Veröffentlichung dem Autor<br />
ein beson<strong>der</strong>es Herzensanliegen ist; - und zwar möglichst mit reichem<br />
künstlerischem Bildschmuck (Merian Städteansichten und Ortswappen!),<br />
um die trockenen genealogischen Daten dem Leser besser genießbar<br />
zu machen.- .<br />
Auf einen weiteren „genealogischen― Pfarrer aus Schwaben sei noch<br />
eingegangen, da er wohl als allererster in Deutschland von (s)einer<br />
bürgerlichen Familie und seiner Frau eine sogenannte<br />
Gesamtverwandtschaftstafel aufgestellt hat! Er veröffentlichte seine<br />
Forschungsergebnisse in seinem 57. Lebensjahr als gedrucktes Buch<br />
mit dem Titel:<br />
„Hartmännisches Geschlechtshandbuch o<strong>der</strong> Beschreibung <strong>der</strong><br />
bekannten Voreltern M. Johann Friedrich HARTMANN, Pfarrers zu<br />
Kayh, und seiner Ehefrau, samt allen Seitenverwandten mit ihrer<br />
Nachkommenschaft, von ihm selbst gesammelt, mit Nachrichten auch<br />
zu a n d e r e n, in Württemberg noch blühenden, Hartmännischen<br />
Familien, <strong>im</strong> Vorbericht, vermehret, und herausgegeben, <strong>im</strong> Jahre 1785.<br />
Tübingen mit Fuesischen Schriften.―<br />
Dieses inzwischen stockfleckige ca. 300 Seiten umfassende Büchlein<br />
gehört mit zu den wertvollsten Beständen des Rösch-Nachlasses, den<br />
<strong>der</strong> Autor betreut. In seinem Büchlein „Grundzüge einer quantitativen<br />
Genealogie― (1955), das auch Bestandteil in Röschs großem Buch<br />
„Goethes Verwandtschaft― (1956) ist, heißt es u.a. „Interessant ist, daß<br />
eine <strong>der</strong> ältesten gedruckten bürgerlichen Genealogien, das<br />
„Hartmännische Geschlechts-Handbuch― von M. Joh. Friedr. Hartmann<br />
(…) in seiner Anordnung offensichtlich das Umschalungsprinzip<br />
anwendet. (…) Hätte sich <strong>der</strong> Autor noch etwas mehr von <strong>der</strong> Bindung<br />
<strong>der</strong> Familiennamen frei gemacht, so würde er wohl in aller Strenge das<br />
Umschalungsprinzip durchgeführt haben.―<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 486<br />
Röschs großes oben genannte Buch „Goethes Verwandtschaft― mit dem<br />
Untertitel „Versuch einer Gesamtverwandtschaftstafel mit Gedanken zu<br />
<strong>der</strong>en Theorie― ist nach diesem Umschalungsprinzip aufgebaut. Siehe<br />
dazu <strong>im</strong> Internet: „Bil<strong>der</strong> zur Quantitativen Genealogie―<br />
http://www.genetalogie.de/artikel/html/quant/quant.html<br />
Prof. Rösch hat sich <strong>der</strong> verdienstvollen Aufgabe unterzogen, die in<br />
Hartmanns Geschlechts-Handbuch listenmäßig dargestellten Personen<br />
zum größten Teil in übersichtliche größere Stammtafeln umzuzeichnen.<br />
In Rösch-Archiv sind dies die Tafeln: 929.21 Hartmann, f; Brodhag, a u.<br />
b; Geyer, c und Renz, f .<br />
Vielleicht ist es kein Zufall, daß wir gerade aus Schwaben schon so<br />
frühzeitig große Genealogien besitzen. Das hat wohl mehrere Gründe:<br />
Einerseits lobt <strong>der</strong> oben genannte Moritz GMELIN seine schwäbischen<br />
Landsleute: „als ein Lande, das fast sprichwörtlich geworden ist durch<br />
eine sorgsame Pflege des Stammes- und Familienbewußtseins, des<br />
pietätsvollen Sinnes für alle verwandtschaftlichen Beziehungen bis in die<br />
entferntesten Grade <strong>der</strong> Vetternschaft, eines treuen Gedächtnisses für<br />
alte Familientraditionen und für alle irgendwie merkenswerten Vorfahren<br />
auf Generationen zurück.― An<strong>der</strong>erseits erwähnt Moritz GMELIN aber<br />
auch eine schwäbische Beson<strong>der</strong>heit in den Standesbüchern <strong>der</strong> Kirche,<br />
die sogenannten Familienregister.: „Die sogenannten Familienregister,<br />
eine vortreffliche Einrichtung, um die Württemberg viel beneidet, und die<br />
jetzt auch an<strong>der</strong>wärts nachgeahmt wird [wo? AR]―. Die Familienregister<br />
wurden nach französischem Vorbild (Bureau de l’Etat civil) ab 1808 in<br />
Württemberg durch den allgemein reformfreudigen König FRIEDRICH I.<br />
per Gesetz eingeführt. Die Anordnung best<strong>im</strong>mte, wie ab Neujahr 1808<br />
für das königlich württembergische Staatsgebiet die Kirchbücher bei<strong>der</strong><br />
Konfessionen nach best<strong>im</strong>mter Formulargestaltung zu führen seien. Ein<br />
solches Formularregister erstreckt sich über drei Generationen einer<br />
Familie und faßt dort alle Lebensdaten übersichtlich tabellarisch<br />
zusammen, so daß ein Suchen in drei verschiedenen Büchern (Geburt,<br />
Heirat, Tod) nicht mehr erfor<strong>der</strong>lich ist. Für die Wissenschaft ist es<br />
beson<strong>der</strong>s wertvoll, daß in die Familienregister auch die tot geborenen<br />
Kin<strong>der</strong> einzutragen waren, wie es für eine vollständige<br />
Nachkommentafeln erfor<strong>der</strong>lich ist, wenn sie auch<br />
nachbarwissenschaftlichen Zwecken nützlich sein soll (z.B.<br />
Demographie, Biostatistik, Humangenetik ).<br />
Ein großer Befürworter <strong>der</strong> Familienregister war <strong>der</strong> Stuttgarter<br />
Sanitätsrat, Armenarzt und Populationsgenetiker Dr. Wilhelm<br />
WEINBERG, 1862-1937, <strong>der</strong> medizinische und erbwissenschaftliche<br />
Statistiken anlegte und zum eigentlichen Mitbegrün<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Populationsgenetik wurde; und zwar durch das nach ihm benannte<br />
HARDY-WEINBERG-Gesetz (Württembergisches Jahrbuch für Statistik<br />
und Landeskunde, Jg. 1907, H.1) . Dieses aus den MENDEL-Gesetzen<br />
abgeleitete Grundgesetz <strong>der</strong> Populationsgenetik hat er 1908 gleichzeitig<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 487<br />
und unabhängig vom berühmten englischen Oxford-Cambridge-<br />
Mathematiker Godfrey Harold HARDY, 1877-1947, entdeckt.<br />
Wenn solche Familienregister in den Kirchenbüchern fehlen, bestehen<br />
natürlich keine unüberwindlichen Hin<strong>der</strong>nisse, die Kirchenbücher in die<br />
Form von Ortsfamilienbüchern o<strong>der</strong> auch Stammtafeln zu bringen.<br />
Weiterhin nennt Moritz GMELIN an „schätzenswertesten Vorarbeiten,<br />
die <strong>der</strong> schwäbische Genealoge besitzt, FABERS’s Stipendienbücher<br />
und an<strong>der</strong>e kleinere Schriften seiner Vorgänger (MOSER, KLEIN,<br />
SPITTLER, HOFFACKER sowie STAIB u.a.).―<br />
Weitere große schwäbische Stammtafeln in Listenform, die ich besitze,<br />
sind die <strong>der</strong> Familien ALDINGER, KOMMERELL und RENZ.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
14.2 Die Stammtafel <strong>der</strong> „Goethe-Familie“ ORTH<br />
Um die datenmäßige Erforschung von Goethes Ahnenschaft<br />
(Ahnentafel) haben sich beson<strong>der</strong>s Heinrich DÜNTZER, 1813-1901, und<br />
Carl KNETSCH, 1874-1938, verdient gemacht, während Siegfried<br />
RÖSCH, 1899-1984, auch noch zusätzlich die Gesamtverwandtschaft<br />
(alle Nachkommen von Goethes Ururgroßeltern!) erforscht und in einem<br />
umfangreichen Buch zusammengestellt hat. ((Literaturhinweise)). Alle<br />
vererbungswissenschaftlich orientierten Arbeiten <strong>der</strong> Psychologen und<br />
Vererbungswissenschaftler basieren allerdings fast ausschließlich auf<br />
Goethes Aszendenz (Ahnentafel) und <strong>der</strong> Nachkommenschaft <strong>der</strong><br />
engsten Gesamtverwandtschaft (Nachkommen <strong>der</strong> Eltern, Großeltern<br />
und einigen Urgroßeltern).<br />
Mit RÖSCHs großem Buch „Goethes Verwandtschaft― läßt sich aber nun<br />
auch – wohl erstmals überhaupt! - von einer bürgerlichen<br />
Gesamtnachkommenschaft eine beachtlich große matrilineare, sog.<br />
„Mutterstammtafel― aufstellen, die von Goethes Urstammmutter ausgeht.<br />
Auf dieses wertvolle „geneTalogische― Material hatte <strong>der</strong> Mathematiker<br />
und Genealoge Prof. Otfried PRAETORIUS, 1878-1964, schon 1961 in<br />
einer kleinen Arbeit „’Mutterstämme’– Töchterketten― hingewiesen.<br />
Bereits 30 Jahre vorher, <strong>im</strong> Goethejahr 1932, hatte Otfried<br />
PRAETORIUS in <strong>der</strong> gleichen genealogischen <strong>Zeit</strong>schrift eine an<strong>der</strong>e<br />
Nachkommentafel in kompakter Listenform veröffentlicht, die in enger<br />
Beziehung zur mütterlichen Seite von Goethes Ahnenschaft steht. Diese<br />
Zusammenstellung trägt den Titel: „Goethes Vorfahr Anton ORTH als<br />
hessischer Gelehrtenahn―. Von diesem Antonius ORTH von Marburg<br />
aus dem 15. Jahrhun<strong>der</strong>t stammen eine Reihe von<br />
Lexikonberühmtheiten einfach o<strong>der</strong> auch mehrfach ab; Goethe zum<br />
Beispiel dreifach. Für O. PRAETORIUS war die Leichenpredigt eines<br />
Gießener Stadtpfarrers von 1635 eine genealogische Herausfor<strong>der</strong>ung,<br />
da dieser in <strong>der</strong> Trauerrede eine außergewöhnliche Professoren-<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 488<br />
Häufung in <strong>der</strong> Nachkommenschaft gerade dieses Anton ORTH, eines<br />
Marburger Krämers und Bürgermeisters aufzählte. Darin heißt es:<br />
„sein Uhruhraltvatter von <strong>der</strong> Mutter her (war) Ludwig ORTH …<br />
welcher Antonii Orthii Sohn gewesen, von welchem Antonii werden<br />
achtzehn Theolgiae Doctores, Professores, Superintendenten und<br />
Fürstliche Hoffprediger, so innerhalb achtzig Jahren entwe<strong>der</strong> von ihm<br />
her posteriret o<strong>der</strong> sich an seine posteros ehelich bestattet haben ,<br />
erzehlet. (…) Über das noch acht Promoti Doctores juris (…) und dann<br />
Zehen Doctores Medicinae, Professores und Archiatri― (...).<br />
Es war das große genealogische Verdienst von O. PRAETORIUS in<br />
Darmstadt, für diese 36 Gelehrten nicht nur den Nachweis <strong>der</strong> ORTH-<br />
Abstammung zu publizieren, son<strong>der</strong>n auch noch von mehr als 50<br />
weiteren Gelehrten aus späterer <strong>Zeit</strong> diesen ORTH-<br />
Nachkommensnachweis zu erbringen! Auf diese Arbeit und eigene<br />
Forschungen stützte sich auch S. RÖSCHs Beitrag in <strong>der</strong> Festschrift zur<br />
350-Jahrfeier <strong>der</strong> Gießener Universität (Justus-Liebig-Hochschule): „Die<br />
Professorengalerie <strong>der</strong> Gießener Universität. Ikonographische und<br />
genealogische Betrachtungen―. Rösch versteht es meisterlich, auf 4<br />
Schaublättern die Verwandtschaftsbeziehungen (Abstammungen,<br />
Verschwägerungen) <strong>der</strong> Dozenten <strong>der</strong> Gießener und an<strong>der</strong>er<br />
Universitäten sowie <strong>der</strong> Pfarrer, die von Antonius ORTH abstammen<br />
o<strong>der</strong> durch Töchternachkommen mit ihm verschwägert waren, graphisch<br />
darzustellen. Auf Blatt 1 läßt sich z.B. mit einem Blick die dreifache<br />
Abstammung Goethes von Antonius ORTH erkennen. Rösch schreibt zu<br />
diesen Verwandtschaftstafeln:<br />
―Es wird sich dabei zeigen, daß sie [die Verwandtschaftsbeziehungen]<br />
eine <strong>der</strong>art enge Verfilzung und Verflechtung darstellen, daß die<br />
theoretische Genealogie und die Vererbungslehre hier geradezu ein<br />
Musterbeispiel ständischer Inzucht vorfinden können. Und darin, daß<br />
solches Anschauungsmaterial für dessen sehr bedürftige Forschung<br />
geboten wird, sehe ich den wissenschaftlichen Nutzen dieser Blätter―<br />
(…) „Daß den „Alten― selbst diese enge „Berufsversippung― durchaus<br />
bewußt war, erkennen wir aus verschiedenen Äußerungen. So schreibt<br />
1693 Joh. Hch. MAY d.Ä.: „Nun ist die Kette inter professores ganz,<br />
nachdem Herr NITSCH Dr. HENNEKENII Tochter heiratet, und nur Dr.<br />
VALENTINI und ich nicht in <strong>der</strong>selben.― Bei dem Standesbewußtsein<br />
und dem strengen elterlichen Heiratsbest<strong>im</strong>mungen früherer <strong>Zeit</strong> sind<br />
solche engen Verflechtungen <strong>im</strong> gleichen sozialen o<strong>der</strong> beruflichen<br />
Milieu durchaus zu erwarten und treten auch bei an<strong>der</strong>en Gruppen auf<br />
(Zünfte, Adel usf.).<br />
Immer wie<strong>der</strong> weisen unsere Tafeln auf die auch sonst bekannte<br />
Tatsache hin, daß <strong>der</strong> Stand <strong>der</strong> Akademiker sich beson<strong>der</strong>s gern aus<br />
dem Pfarrhaus rekrutiert, daß <strong>der</strong> Landpfarrer bei sozial aufsteigenden<br />
Familien oft das Mittelglied auf dem Weg nach oben bildet. Aus diesem<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 489<br />
Grund sind auf den Tafeln alle Pfarrer durch ein beson<strong>der</strong>es Zeichen<br />
gekennzeichnet. – LIEBIGs Vorfahren waren fast ohne Ausnahme<br />
„kleine Leute― (Schuhmacher, Schnei<strong>der</strong>, Ackerleute), sie enthalten<br />
keinen Vertreter eines geistigen Berufes. Betrachten wir aber die Tafel<br />
4, so zeigt sich: es w<strong>im</strong>melt in seiner Nachkommenschaft und <strong>der</strong>en<br />
Ehepartnern geradezu von Professoren aller Art; wir finden Namen wie<br />
Hans DELBRÜCK, Karl THIERSCH, Adolf von HARNACK! Es ist als ob<br />
<strong>der</strong> göttliche Funke, <strong>der</strong> einen Großen berührt hat, nicht nur neue Lichter<br />
entzündet, son<strong>der</strong>n auch an<strong>der</strong>e herbeizieht!<br />
Aus <strong>der</strong> reichen Fülle interessanter Beziehungen, die unsere Tafeln<br />
enthalten, konnten hier textlich nur Andeutungen gemacht werden.<br />
Wieviel reicher ist darin noch die volle Wirklichkeit, wenn man alle<br />
Verwandtschaftsbeziehungen <strong>der</strong> Beteiligten berücksichtigte. Vielleicht<br />
gelingt es einmal, wenn auch einige andre Forscher ihre Erkenntnisse<br />
beigesteuert haben, die verwirrenden und erstaunlichen Verflechtungen<br />
auf einer großen Wandfläche aufzumalen: Es wäre eine Ehrentafel<br />
beson<strong>der</strong>er Art für unsere den biologischen Wissenschaften gewidmete<br />
Universität, die so <strong>im</strong> Zusammenwirken mit <strong>der</strong> Bildnissammlung<br />
beson<strong>der</strong>s anschaulich und lehrreich die vita humana „am eigenen Leib<br />
demonstrieren― könnte!―.<br />
----------------------------------------------------------------------------------------------<br />
Diesem von Rösch aufgerufenem Geiste fühle ich mich sehr verpflichtet<br />
nachzueifern, da umfangreiches noch nicht veröffentlichtes<br />
Datenmaterial, das Rösch in jahrzehntelanger Sammelarbeit und auch<br />
durch eigene Forschung in Form von Stammtafeln zusammengestellt<br />
hat, sich in meinem Besitz befindet. Einiges soll zunächst in Form einer<br />
großen ORTH-Stammfolge mit umfangreichen<br />
Töchternachkommenschaften, sowie einer ersten bürgerlichen<br />
matrilinearen „Mutterstammtafel―, die von Goethes „Urstammmuter―<br />
ausgeht, in einer zeitgemäßen Form veröffentlicht werden, sobald sich<br />
hierzu eine verlegerische Zusammenarbeit mit dem Autor finden läßt.<br />
Das Manuskript dazu ist schon weitgehend fertiggestellt.<br />
----------------------------------------------------------------------------------------------<br />
Daß gerade in den letzten beiden Jahrzehnten durch den „genetischen<br />
Fingerabdruck― die alte patrilineare Stammtafel wie<strong>der</strong> erneut<br />
„geneTalogisch― ins wissenschaftliche Blickfeld gerückt ist, macht die<br />
Publikation <strong>der</strong> ORTH-Stammtafel wohl nun auch interdisziplinär recht<br />
wünschenswert. Einerseits konnte gerade diese ORTH-Stammfolge<br />
aufgrund ihrer Größe (weite Verzweigungen!) bisher in noch keiner<br />
Stammtafelsammlung publiziert werden. An<strong>der</strong>erseits ist ja doch die<br />
patrilineare Stammtafel das getreue Spiegelbild <strong>der</strong><br />
Y-chromosomalen Vererbung! Hinzu kommt jetzt aber, daß mit dieser<br />
geplanten Veröffentlichung jetzt auch noch das an<strong>der</strong>e Basismaterial<br />
des genetischen Fingerabdruckes mit veröffentlicht werden soll, das<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 490<br />
„geneTalogisch― in an<strong>der</strong>er Hinsicht als Forschungsgegenstand sehr<br />
interessant sein dürfte:<br />
eine größere matrilineare bürgerliche Mutterstammtafel, die von<br />
Goethes reiner Mutterlinie, seiner „Urstammmutter― ausgeht. Also <strong>der</strong><br />
letzten urkundlich nachweisbaren Ahnfrau in Goethes Ahnentafel <strong>im</strong><br />
reinen „Mutterstamm―. Diese „Mutterstammtafel― besteht also aus reinen<br />
Töchterketten (nur Mutter-Tochter-Abstammungen und Schwestern-<br />
Verzweigungen!) und ist damit auch das getreue Spiegelbild <strong>der</strong><br />
mitochondrialen Vererbung (<strong>der</strong> mtDNA). Diese größere<br />
„Mutterstammtafel― von Goethes „Urstammmutter― dürfte wohl<br />
allgemeines genealogischen Interesse beanspruchen und den<br />
wissenschaftlichen interdisziplinären Wert noch dadurch steigern, da<br />
„Mutterstammtafeln― noch ein völliges Neuland sind, zumindest in <strong>der</strong><br />
deutschen genealogischen Literatur. In einer kleinen Arbeit „Die Welt<br />
<strong>der</strong> vernachlässigten Abstammungen: „Mutterstämme“ –<br />
Töchterketten“. habe ich erst kürzlich auf dieses unbeackerte<br />
geneTalogische Gebiet beson<strong>der</strong>s hingewiesen. Mußte dort aber noch<br />
auf ein Beispiel aus den sehr gut erforschten europäischen<br />
Dynastenfamilien zurückgreifen.<br />
Mit <strong>der</strong> Veröffentlichung <strong>der</strong> großen Stammtafel <strong>der</strong> Marburger Familie<br />
ORTH vom Ende des 15. Jahrhun<strong>der</strong>ts bis zur Gegenwart und<br />
wesentlichen Teilen <strong>der</strong> ORTH-Töchternachkommenschaft, sowie<br />
Goethes „Mutterstammtafel― soll hier u. a. auch ein Beitrag zur weiteren<br />
humangenetischen Goethe-Forschung <strong>im</strong> Beson<strong>der</strong>en und zum<br />
Thema Erbe und Umwelt <strong>im</strong> Allgemeinen (Intelligenz- und<br />
Eliteforschung) geleistet werden. Das genealogische Material <strong>der</strong> oben<br />
erwähnten patrilinearen und matrilinearen Stammtafeln steht nicht nur<br />
mit Goethes Verwandtschaft in enger Beziehung, son<strong>der</strong>n dürfte darüber<br />
für die gesamte deutsche Geistesgeschichte „geneTalogisch― von<br />
erheblicher Bedeutung sein. In <strong>der</strong> ORTH-Nachkommenschaft tritt eine<br />
solche Intelligenzhäufung auf, wie sie großräumig wohl nur ganz selten<br />
bisher beobachtet werden konnte. Von <strong>der</strong> medizinischen Genetik wird<br />
<strong>der</strong> Genealogie ja <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> mit Recht vorgeworfen, daß sie von<br />
einem Probanden hauptsächlich nur die direkte Vorfahrenschaft<br />
erforscht, und auf die zahlreichen sog. Seitenverwandten (die<br />
Geschwister <strong>der</strong> Ahnen und <strong>der</strong>en Nachkommen) nur wenig<br />
Forscherfleiß verwendet. Dieses Material stellt nun eine wichtige<br />
detaillierte Ergänzung beson<strong>der</strong>s hinsichtlich <strong>der</strong> vernachlässigten<br />
Seitenverwandtschaften von zahlreichen deutschen<br />
„Lexikonberühmtheiten― dar, das in dieser verwandtschaftlichen<br />
Gesamtschau noch nicht in diesem Umfang veröffentlicht worden ist. In<br />
<strong>der</strong> von mir betreuten Goethe-Genealogie-Internetseite findet man <strong>im</strong><br />
Rahmen einer Ahnengemeinschafts-Zusammenstellung<br />
unter<br />
http://goethegenealogie.de/verwandtschaft/ahnengemeinschaftst.html<br />
den größten Teil dieser berühmten Persönlichkeiten nur mit <strong>der</strong> Angabe,<br />
von welchem einzelnen Ahnenpaar (o<strong>der</strong> auch Ahnenpaaren) Goethes<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 491<br />
die Ahnengemeinschaft ausgeht. Nicht aber - wie in <strong>der</strong> geplanten<br />
Veröffentlichung dargestellt sein wird -, <strong>im</strong> Einzelnen die<br />
Abstammungslinien mit den Eheverbindungen über alle Generationen<br />
hin verlaufen.<br />
Auf das beson<strong>der</strong>e Phänomen <strong>der</strong> Ahnengemeinschaften <strong>im</strong><br />
Allgemeinen und <strong>der</strong> Ahnengemeinschaften mit Goethe <strong>im</strong> Beson<strong>der</strong>en<br />
wird hier in einem beson<strong>der</strong>en Kapitel noch einzugehen sein.<br />
Diese biologische Verwandtschaft ist <strong>im</strong> Gegensatz zum Ahnen- o<strong>der</strong><br />
Nachkommen<strong>im</strong>plex quantitativ exakt als Wahrscheinlichkeitswert<br />
angebar, d. h. als mittlerer biologischer Verwandtschaftsanteil b o<strong>der</strong> als<br />
biologischer Verwandtschaftsgrad g’b bei Mehrfachverwandtschaft. Es<br />
sei hier auch auf meine Literaturzusammenstellungen zu den Themen<br />
„Ahnen- und Nachkommen<strong>im</strong>plex― und „Ahnengemeinschaften― in<br />
meiner <strong>GeneTalogie</strong>-Internetseite<br />
www.genetalogie/..../.de<br />
hingewiesen.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
14.3 Stammtafel-Erweiterung durch Einbeziehung <strong>der</strong><br />
Töchternachkommen!<br />
Aus <strong>der</strong> Werkstatt eines Stammbaumforschers -<br />
Skizzen aus den Rundbriefen <strong>der</strong> Familie KEERL;<br />
erforscht und zusammengestellt von Prof. Siegfried RÖSCH.<br />
1939 legte <strong>der</strong> Bearbeiter des KEERL-Stammbaumes, Herr August<br />
KEERL aus Altersgründen seine Tätigkeit nie<strong>der</strong>. Im Januar 1939<br />
übernahm Dr. Siegfried RÖSCH, Wetzlar, die Aufgabe, den KEERL-<br />
Stammbaum weiter zu führen und in den Rundbriefen an alle KEERL-<br />
Verwandten neue Familienereignisse mitzuteilen, sowie die<br />
Adressenliste <strong>der</strong> KEERL-Verwandten zu aktualisieren.<br />
Aus dem 1. Rundbrief:<br />
Am 29. 1. 1939 schrieb <strong>der</strong> 40-jährige RÖSCH von Wetzlar:<br />
„Liebe Verwandte! Da Herr Landeskirchenrat i. R. August KEERL<br />
(Wiesbaden) mich bittet, Ihnen die vorstehenden Zeilen mitzuteilen,<br />
möchte ich bei dieser Gelegenheit Sie alle herzlich begrüßen. Nachdem<br />
ich seit mehreren Jahren meine schon früher begonnene KEERL-<br />
Forschung in enger Fühlung mit August KEERL betreibe, hoffe ich seine<br />
Arbeit in seinem und Ihrer Aller Sinne weiterführen zu können. Deshalb<br />
denke ich (wenigstens zunächst) auch noch nicht an eine formelle<br />
„Familienverband―-gründung, son<strong>der</strong>n möchte vor allem um<br />
gemeinsame Forschung und Ermöglichung <strong>der</strong> gegenseitigen<br />
Anteilnahme an unseren Lebensschicksalen bemüht sein. Dabei muß<br />
ich natürlich mit Unterstützung durch Sie rechnen, und bitte Sie um<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 492<br />
Bekanntgabe aller neueren Ereignisse in Ihren Familien (nicht nur des<br />
KEERL-Stammes, son<strong>der</strong>n auch aller Abkömmlinge von diesem!) und<br />
etwaiger Forschungsergebnisse, beson<strong>der</strong>s auch um (leihweise)<br />
Überlassung jeglicher Bildnisse von Vorfahren und von den jetzt<br />
Lebenden.<br />
Sehr beschäftigt es mich, wie ich eine Bekanntgabe aller neueren<br />
Verän<strong>der</strong>ungen in <strong>der</strong> Familie und <strong>der</strong> zahlreichen Stammbaumerweiterungen<br />
ermöglichen kann (ich konnte <strong>im</strong> vorigen Jahr allein durch<br />
Kirchenbuchforschungen in Ansbach, Marktsteft, Mainbernhe<strong>im</strong>,<br />
Marktnordhe<strong>im</strong>, Uffenhe<strong>im</strong> u.a. mehr als 150 neue Namensträger an<br />
den Stammbaum anschließen, von denen ich mehrere lebende Zweige<br />
persönlich kennen lernte). Daher wäre ich sehr dankbar für Äußerungen<br />
Ihrer Meinung, ob wir eine Drucklegung des KEERL-Stammes <strong>im</strong><br />
Deutschen Geschlechterbuch erwägen wollen und können, o<strong>der</strong> ob<br />
jemand einen Weg zu einer wohlfeilen Herausgabe als Privatdruck<br />
weiß? [….] Sollte eine Drucklegung zunächst nicht möglich werden, so<br />
will ich bemüht sein, die Ergänzungen und Berichtigungen zur Chronik<br />
und Stammbaum August KEERLs in Form eines Nachtrages<br />
zusammenzustellen und (gegen Erstattung <strong>der</strong> Selbstkosten) Ihnen<br />
anzubieten. Auch hierfür möchte ich gerne schon jetzt wissen, wer von<br />
Ihnen an solchen Benachrichtigungen in interessiert ist.<br />
Für diejenigen unter Ihnen, die noch keine Kenntnis davon haben,<br />
möchte ich erwähnen, daß ich außer einer Bil<strong>der</strong>-Ahnentafel meiner<br />
Kin<strong>der</strong> (bis zur 32-er Reihe) von <strong>der</strong> KEERL-Familie die Fertigstellung<br />
mehrerer Bil<strong>der</strong>-Nachfahrentafeln plane. Ausgeführt sind bisher die<br />
folgenden: KEERL-Tafel A und B: sämtliche Nachkommen von<br />
Ferdinand KEERL (1803-67), Stammbaum-Nr. 158), KEERL-Tafel C:<br />
Nachkommen in 3 (teilweise 4) Generationen von Georg Andreas<br />
KEERL (1690-1758, Stammbaum-Nr. 51); bei letzterer Tafel sind<br />
mitdargestellt Amalie, Emilie und Anselm FEUERBACH. Die Tafeln<br />
stehen als Photoblätter <strong>im</strong> Format DIN A4 (210 : 297mm) gerne zur<br />
Verfügung. Preis je 1,50 M, Postscheckkto. Ffm. …). Zur Ausdehnung<br />
<strong>der</strong> Bil<strong>der</strong>tafeln auf die übrigen Zweige <strong>der</strong> Familie dient die obige Bitte<br />
um Überlassung von Bildnissen.<br />
Zwei weitere Vorschläge möchte ich anfügen, die beide helfen sollen<br />
unseren gegenseitigen Anschluß und Kennenlernen zu för<strong>der</strong>n. Erstens:<br />
Könnten wir <strong>im</strong> Laufe dieses Sommers o<strong>der</strong> Herbstes einmal in<br />
möglichst großer Zahl in Marktsteft, unserer Urhe<strong>im</strong>at,<br />
zusammentreffen? Wir würden in dieser schönen Mainlandschaft gar<br />
manche wertvolle Erinnerung an unsere Voreltern vorfinden, und uns<br />
erfreuen können an <strong>der</strong> Verehrung , die <strong>der</strong> Name KEERL heute noch<br />
dort genießt! Um die Ausgestaltung eines interessanten<br />
„Tagungsprogrammes― brauchten wir dabei nicht bange sein. Für<br />
zeitliche Vorschläge wäre ich dankbar. […]<br />
Mit verwandtschaftlichen Grüßen bin ich Ihr Siegfried RÖSCH.―<br />
Aus dem 2. Rundbrief vom 22.4.1939:<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 493<br />
[…] Mit dem heutigen Schreiben möchte ich Ihnen zweierlei bekannt<br />
geben:<br />
1. Das Anschriften-Verzeichnis nach dem Stand vom April 1939. Es sei<br />
hier erstmals <strong>der</strong> Versuch unternommen, die Anschriften, die ich <strong>im</strong><br />
Laufe einiger Jahre sammeln konnte, auch allen an<strong>der</strong>en<br />
Familienmitglie<strong>der</strong>n mitzuteilen. Vieles darin ist noch lückenhaft, und ich<br />
bin sehr dankbar, wenn mir durch Euch die vielen Fragezeichen und<br />
Fehlstellen ausgemerzt werden. Falls die Bekanntgabe dieser Liste<br />
Anklang findet, bin ich gern bereit, in geeigneten <strong>Zeit</strong>abständen<br />
verbesserte Auflagen zu versenden, soweit mir Än<strong>der</strong>ungen und<br />
Ergänzungen bekannt werden.<br />
In dem alphabetischen Namensverzeichnis findet sich vor dem<br />
Familiennamen jeweils die Nummer <strong>der</strong> Person, die sie <strong>im</strong> Wiesbadener<br />
KEERL-Stammbaum hat, bzw. von <strong>der</strong> sie aus dem Stammbaum<br />
abzweigt. Ein dem Namen beigesetztes „C― bzw. „S― heißt, daß die<br />
Person Besitzer <strong>der</strong> KEERL-Chronik bzw. des Stammbaumes ist. Die<br />
Nichtbesitzer dieser lei<strong>der</strong> inzwischen vergriffenen Schriften können<br />
somit (insbeson<strong>der</strong>e <strong>im</strong> Ortsverzeichnis) feststellen, wo sie die nächste<br />
Gelegenheit zur Einsicht finden.<br />
Das Ortsverzeichnis soll überhaupt anschaulich die räumliche<br />
Verteilung <strong>der</strong> Familienglie<strong>der</strong> zeigen. Mancher wird vielleicht<br />
entdecken, daß er in <strong>der</strong> gleichen Stadt o<strong>der</strong> erreichbarer Nachbarschaft<br />
mit Verwandten wohnt, von denen er noch nichts wußte, und die (so<br />
hoffe ich auf Grund vieler Erfahrungen) sich bei näherem Kennenlernen<br />
als erfreuliche Bereicherung des Bekanntenkreises erweisen mögen!<br />
[…].<br />
2. Familientreffen in Marktsteft.<br />
Der Vorschlag vom 1. Rundbrief in diesem Jahre einmal in Marktsteft<br />
zusammenzukommen, hat über Erwarten viel Anklang gefunden, etwa<br />
30 mehr o<strong>der</strong> weniger feste Zusagen sind mir schon zugegangen. […]<br />
Nach Rückfrage in Marktsteft soll nun das Wochenende vom 15./16. Juli<br />
für das Treffen in Aussicht genommen werden. […] Ferner bitte ich die<br />
Teilnehmer noch, ihre Quartierwünsche durch eine Rückantwortkarte an<br />
Herrn Hauptlehrer i. R. Karl SCHÄFER, Marktsteft a. Main, mitzuteilen,<br />
<strong>der</strong> freundlicherweise <strong>der</strong>en Regelung zugesagt hat; wer <strong>im</strong> Wagen<br />
ankommt, möge dies angeben, da bei größerer Teilnehmerzahl die<br />
Autobesitzer vielleicht zweckmäßig in Kitzingen o<strong>der</strong> Marktbreit<br />
untergebracht werden. – Möge das Treffen einen anregenden und<br />
allseitig befriedigenden Verlauf nehmen!<br />
Ich möchte allen, die mir seit dem letzten Rundbrief so zahlreiches<br />
Material an Familiendaten, Bil<strong>der</strong>n usw. zukommen ließen, auch hier<br />
nochmals herzlich danken, und hoffe, daß ich auch weiterhin auf<br />
Bekanntgabe aller Ereignisse rechnen darf. Mit verwandtschaftlichem<br />
Gruß! Siegfried RÖSCH―.<br />
Aus dem 3. Rundbrief Ende April 1950<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 494<br />
Liebe Verwandt! Nach etwa elfjähriger Pause habe ich heute die<br />
Freude, Euch wie<strong>der</strong> zu begrüßen, nicht ―<strong>im</strong> ersten Jahre nach dem<br />
Krieg―, wie wir 1939 hofften, aber doch <strong>im</strong> ersten Jahr, das uns wie<strong>der</strong><br />
Bewegungsfreiheit unter einigermaßen „friedensmäßigen― äußeren<br />
Verhältnissen gestattet. Wir wollen nicht klagen über das, was je<strong>der</strong><br />
Einzelne in diesen 11 Jahren durchgemacht und verloren hat und was<br />
ihn heute bedrückt – wohl je<strong>der</strong> könnte einen Beitrag zur<br />
Familienchronik liefern, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Aufzeichnung wert wäre – wir wollen uns<br />
freuen, daß wir heute uns wie<strong>der</strong> sammeln können, und wollen in<br />
Dankbarkeit und Verehrung <strong>der</strong> vielen Familienglie<strong>der</strong> gedenken, die <strong>der</strong><br />
sanfte und <strong>der</strong> kriegerische Tod uns inzwischen genommen haben.<br />
Soweit ich bisher Kenntnis davon erhielt, sind sie auf den folgenden<br />
Seiten aufgeführt. Erfreulicherweise steht diesen erschreckend hohen<br />
Verlusten [mehr als 40 Kriegsopfer und 65 weitere Verstorbene] auch<br />
eine stattliche jüngste Generation gegenüber. Etwas mehr als 80<br />
Geburten konnte ich seit 1939 bisher in die KEERLschen<br />
Nachfahrentafeln eintragen. […]<br />
Von Interesse ist vielleicht das allgemeine Ergebnis einer<br />
Alterszählung <strong>der</strong> ebengenannten beiden Gruppen <strong>der</strong> Toden. Während<br />
sich bei den Kriegsopfern trotz einiger Personen reiferen bzw. hohen<br />
Alters ein Durchschnittsalter von etwa 34 Jahren errechnet, ergeben die<br />
„friedlich Gestorbenen―, obwohl einige Jugendliche umfassend, eine<br />
Durchschnittszahl von 68 Jahren, also genau das Doppelte! Eine<br />
Statistik, die allerlei Gedanken auslösen kann![…]<br />
Der Sinn unserer Rundbriefe ist es, einen engeren Zusammenhalt zu<br />
ermöglichen und zu vertiefen zwischen Menschen, die die Natur durch<br />
engere Bande <strong>der</strong> Blutsverwandtschaft zusammengefügt hat. Groß ist<br />
die Menge <strong>der</strong> Verwandten, die je<strong>der</strong>mann über seine sämtlichen<br />
Ahnenlinien hat; aus dieser Fülle greifen wir hier alle Menschen heraus,<br />
die gemeinsam von dem Ehepaar Sebastian KEERL (+ 1577) ∞ 1567<br />
Appolonia STANG (+1636) abstammen. Es mag dabei jedem Einzelnen<br />
überlassen bleiben, ob er sich auf den kleinen Kreis seiner nächsten<br />
Angehörigen beschränken o<strong>der</strong> in die ganze Weite <strong>der</strong> Verwandtschaft<br />
vertiefen möchte (als Nachkommen des oben genannten Ehepaares<br />
habe ich bis heute 2166 Personen gezählt!); die Bedürfnisse und<br />
Charaktere sind darin verschieden, und niemand soll sich gezwungen<br />
fühlen; dagegen soll je<strong>der</strong> das Bewußtsein haben, einen Gewinn aus<br />
unserer Arbeit ziehen zu können. Man bedenke aber, daß die<br />
Verwandtschaft nicht allein am gleichen Namen hängt: man stammt<br />
von seiner mütterlichsten Ahnfrau 6. Generation trotz<br />
zwischenliegenden sechsfachen Wechsels <strong>der</strong> Familiennamen<br />
genau so nahe wie vom gleichnamigen Stammvater 6. Grades! [hier<br />
vom Autor AR hervorgehoben].<br />
Neben <strong>der</strong> Ermöglichung <strong>der</strong> persönlichen Anteilnahme am Leben <strong>der</strong><br />
Mitverwandten soll unsere Forschungsarbeit aber auch noch höheren<br />
Zwecken dienen. Es ist wissenschaftlich nämlich von großem<br />
Interesse, eine Gesamtnachkommenschaft größeren Umfanges<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 495<br />
vollständig kennen zu lernen und verfolgen zu können. Und wir dürfen<br />
mit Stolz sagen, daß unsere fränkische KEERL-Familie darin gar viel<br />
des Wertvollen bietet: Statistik, Erblehre, Psychologie, Soziologie<br />
u.a. Wissensgebiete können davon lernen. [hervorgehoben durch AR].<br />
Drei Wünsche: [1.] Daher ergeht die Bitte an Euch alle, an <strong>der</strong><br />
Vollendung des Baues mitzuarbeiten. Einerseits soll es zur Gewohnheit<br />
werden, alle Ereignisse <strong>der</strong> engeren Familie (Geburt, Heirat, Tod mit<br />
genauen Daten, auch <strong>der</strong> Angeheirateten und <strong>der</strong>en Eltern,<br />
Adressen, Berufs- und biographische Angaben) an eine Zentrale<br />
mitzuteilen. Darüber hinaus aber möchte ich dringend um aktive<br />
Forschungsunterstützung bitten: In jedem Zweig <strong>der</strong> großen Familie<br />
könnte sich wohl ein idealistischer und interessierter Forscher<br />
finden, <strong>der</strong> die Lücken in seinem Zweig in Angriff n<strong>im</strong>mt, die sich lei<strong>der</strong><br />
noch vielfach finden. Für einen Einzelnen ist das Gesamtgebiet des zu<br />
Erforschenden zu umfangreich. Auch wird vielleicht mancher bereit sein,<br />
in <strong>der</strong> Umgebung seines Wohnortes Son<strong>der</strong>forschungen zu<br />
übernehmen? Daß man auch bei intensiver Berufsarbeit <strong>im</strong>mer noch<br />
<strong>Zeit</strong> zur Familienforschung findet, wenn nur die Freude daran<br />
vorhanden ist, merke ich an mir selbst! [durch AR hervorgehoben].<br />
[2.] Ein weiterer wertvoller Beitrag zur Familiengeschichte, den je<strong>der</strong><br />
zu leisten vermag, ist das Aufschreiben von Erinnerungen des<br />
eigenen Lebens, des von Vorfahren o<strong>der</strong> von gut bekannten<br />
Verwandten. Dadurch kann unsere KEERL-Forschung außerordentlich<br />
an Leben gewinnen. In technischer Hinsicht sei <strong>der</strong> Wunsch<br />
ausgesprochen, das möglichst die Biographie je<strong>der</strong> Einzelperson für<br />
sich gestaltet werden möge, jeweils auf DIN-A4-Blätter (Format wie<br />
dieses hier), die dann zu einem Chronikband vereinigt werden können<br />
(Heftrand auf <strong>der</strong> Vor<strong>der</strong>seite links, auf <strong>der</strong> ebenfalls beschriebenen<br />
Rückseite rechts).<br />
[3.] Die vorliegenden Rundbriefblätter sollen unberechnet an Euch<br />
gelangen; sie sind in einer Auflage von 250 Stück angefertigt und<br />
versandt. Wer aber in <strong>der</strong> Lage ist, eine beliebige kleinere o<strong>der</strong> größere<br />
Spende zur Ermöglichung weiterer Forschungen und Korrespondenz zu<br />
leisten, wird gebeten, diese auf mein Postscheckkonto Frankfurt a.M.<br />
[…] zu überweisen.<br />
Sechs Fragen:<br />
Zu folgenden Fragen möchte ich möglichst zahlreiche Stellungnahmen<br />
erbitten:<br />
1) Wer hat noch ein Exemplar des Stammbaumes bzw. <strong>der</strong><br />
Familiengeschichte KEERL, die Kirchenrat August KEERL in Wiesbaden<br />
1935 vervielfältigte? Es wäre wertvoll zu wissen, wie viele Stück noch<br />
existieren und wo sie sich befinden.<br />
2) Besteht <strong>der</strong> Wunsch nach Gründung eines festen Familienverbandes<br />
KEERL? Wenn ja, können Vorschläge für Standort und Leiter des<br />
Verbandes gemacht werden? Mir persönlich liegt diese Tätigkeit<br />
weniger, zudem bin ich beruflich zu sehr gebunden.<br />
3) Wer kann Vorschläge für Ort und Leitung eines Familienarchivs<br />
machen? Ich wäre gern bereit, an ein solches mein nicht<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 496<br />
unbeträchtliches Material an Dokumenten, Bil<strong>der</strong>n, Akten, z.T. von<br />
Kirchenrat August KEERL in Wiesbaden geerbt, zu übergeben. Seit<br />
langem liebäugle ich mit einem Ort wie Marktsteft als Familienzentrale:<br />
Wir hätten dann eine richtige Familienhe<strong>im</strong>at; doch scheint dort z. Zt.<br />
we<strong>der</strong> die Personen- noch Raumfrage lösbar zu sein.<br />
4) Besteht, unabhängig von <strong>der</strong> Existenz eines rechtsgültigen<br />
Verbandes, <strong>der</strong> Wunsch nach weiteren regelmäßigen o<strong>der</strong> zwanglosen<br />
Familientagen? Weitere Vorschläge außer Marktsteft? Gerade hierbei<br />
wäre mir die Stellungnahme <strong>der</strong>jenigen wertvoll, die ich nicht demnächst<br />
persönlich sprechen kann.<br />
5) Erscheint in Fortsetzung unserer Rundbriefe ein regelmäßiges<br />
Mitteilungsblatt (Familienzeitschrift) wünschenswert? Wer will o<strong>der</strong> kann<br />
mitarbeiten, wer es leiten? Vorschläge für Finanzierung?<br />
6) Können brauchbare Vorschläge o<strong>der</strong> Wünsche für die<br />
Veröffentlichung einer Familienchronik vorgebracht werden?<br />
Insbeson<strong>der</strong>e steht das bisher erforschte Material <strong>der</strong><br />
Gesamtnachkommenschaft (auch <strong>im</strong> KEERL-Stamm selbst gegenüber<br />
dem Stammbaum von 1935 wesentlich erweitert) zur Verfügung. Für das<br />
rein genealogische Datenmaterial wäre eine zweckmäßige Art die<br />
Publikation in den Deutschen Geschlechterbüchern. Ein Privatdruck<br />
dagegen böte mehr Gelegenheit zu persönlicher Ausgestaltung, zur<br />
Beifügung von Bil<strong>der</strong>n, Biographien usf.<br />
Das diesjährige Familientreffen in Marktsteft:<br />
Das große Ereignis dieses Jahres wird für uns die Zusammenkunft in<br />
Marktsteft sein. An die Interessenten, die ihre wahrscheinliche<br />
Teilnahme bereits zugesagt haben o<strong>der</strong> sich in Kürze noch melden<br />
werden, ergeht <strong>im</strong> Lauf <strong>der</strong> nächsten Monate eine weitere Mitteilung<br />
über das nähere Programm, Fahrpläne usf. Heute sei nur Folgendes<br />
gesagt: Als <strong>Zeit</strong> ist auf vielseitigen Wunsch das erste Wochenende <strong>im</strong><br />
August (etwa 2-4 Tage) gewählt worden, die Teilnahme von etwa 2<br />
Dutzend Verwandten ist bereits ziemlich sicher zugesagt. Die<br />
Verhandlungen mit Marktsteft sind schon in vollem Gange, und es kann<br />
verraten werden, daß uns ein überaus freundlicher Empfang und<br />
mancherlei Überraschungen erwarten werden: Trotzdem die Ernte dort<br />
in vollem Gange sein wird, scheint die ganze Bevölkerung wie<strong>der</strong> an<br />
unserem „Fest― teilnehmen zu wollen. Wir selbst möchten in<br />
persönlicher Fühlungnahme uns kennen lernen o<strong>der</strong> alte<br />
Bekanntschaften auffrischen, mancherlei, z.B. obige Fragen besprechen<br />
und in Lichtbil<strong>der</strong>vorträgen die Familienkenntnis vertiefen. Auch von <strong>der</strong><br />
Gegend, also <strong>der</strong> He<strong>im</strong>at unserer Vorfahren, soll einiges besichtigt<br />
werden. […]<br />
Anschriftenverzeichnis <strong>der</strong> KEERL-Sippe:<br />
Ein Vergleich des vorliegenden Verzeichnisses mit dem des 2.<br />
Rundbriefes vom April 1939 läßt die gewaltigen Verän<strong>der</strong>ungen<br />
erkennen, die 11 Jahre, und gerade diese 11 Jahre in unser Leben<br />
brachten. Noch bin ich lange nicht mit allen Zweigen <strong>der</strong> großen Sippe<br />
nach dem Kriege wie<strong>der</strong> in persönliche Fühlung gekommen. Um dies<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 497<br />
klar erkennen zu lassen, ist am Ende je<strong>der</strong> Anschrift in Klammern das<br />
Datum gesetzt, von dem meine letzte Kenntnis stammt; ich bin<br />
beson<strong>der</strong>s dankbar für jede Berichtigung, die ich dazu erhalten kann.<br />
Die arabische Zahl am Anfang einer Zeile gibt die Nummer <strong>der</strong> Person<br />
<strong>im</strong> Wiesbadener Stammbaum von 1935 an bzw. die Nummer des<br />
KEERL-Namensträgers, von dem sie abstammt. Ist die genannte Person<br />
nicht selbst blutverwandter KEERL-Nachkomme, son<strong>der</strong>n<br />
angeheirateter Ehegatte, so ist seine Zahl in Klammern gesetzt. Die <strong>der</strong><br />
arabischen folgende römische Zahl nennt die Generation, <strong>der</strong> die<br />
Person in <strong>der</strong> KEERL-Nachfahrenfolge zugehört, wobei die des<br />
Stammvaters, Schultheiß Sebastian KEERL in Marktsteft (+ 1577, Nr. 1)<br />
als I. bezeichnet ist. Die Anschriften einiger interessierter<br />
Nichtverwandter bzw. Vereine, an die dieser Rundbrief ebenfalls<br />
versandt wird, sind ohne Nummernangabe beigefügt.<br />
[Es folgt dann ein 9-seitiges Anschriftenverzeichnis von über 400<br />
Personen, wovon 34 Anschriften noch den Namen KEERL haben, <strong>der</strong><br />
überwiegende Teil <strong>der</strong> restlichen Personen sind jedoch bereits<br />
Töchternachkommen.<br />
Das 5-seitige Ortsverzeichnis hat RÖSCH nach dem<br />
Ortsnummernverzeichnis <strong>der</strong> Dez<strong>im</strong>alklassifikation des Deutschen<br />
Reiches von 1928 sortiert. Dies war damals als 6-stellige Nummer, die<br />
genauste Fixierung <strong>der</strong> Orte in Deutschland. Dabei ergibt sich eine<br />
grobe Unterteilung mit folgen<strong>der</strong> Anzahl von Orten:<br />
mittleres Norddeutschland: 18; Nordwestdeutschland: 28; mittleres<br />
Westdeutschland: 33; Südwestdeutschland: 37, wobei in Werthe<strong>im</strong> a.M.<br />
allein 15 Namen vorkommen; Bayern, nördlicher Teil: 40, allein in<br />
Nürnberg 26 Namen; Bayern, südlicher Teil: 29, in München 9 Namen;<br />
Mittel- und Ostdeutschland: 15; <strong>im</strong> Ausland: 13, in <strong>der</strong> Schweiz 7<br />
Namen; in Nordamerika 9 Namen, in Südamerika: 6 Namen.<br />
Den 3. Rundbrief schließt RÖSCH mit folgenden Worten: „Allen, die mir<br />
seit dem letzten Rundbrief so zahlreiches Material an Familiendaten<br />
übersandt o<strong>der</strong> sonst ihre Verbundenheit an <strong>der</strong> großen Familie<br />
bekundet haben, sei hiermit herzlichst Dank gesagt. Zugleich darf ich<br />
aber auch die Hoffnung aussprechen, daß das Interesse an unserer<br />
Forschung und an unserem Zusammenhalt weiter wachsen möge! Auf<br />
frohes Wie<strong>der</strong>sehen <strong>im</strong> Sommer in Marktsteft! Mit verwandtschaftlichen<br />
Grüßen! Siegfried Rösch.―<br />
Aus dem 4. Rundbrief Weihnachten 1951<br />
In diesem Rundbrief wird von Prof. RÖSCH das KEERL-Treffen in<br />
Werthe<strong>im</strong> a. M. für Pfingsten 1952 angekündigt und das Tagungs-<br />
Programm bekanntgegeben. RÖSCH bringt dann noch seine Wünsche<br />
zum KEERL-Museum und Familienbuch in launigen Worten zum<br />
Ausdruck:: „Man sieht, es erwarten uns, auch unabhängig von den<br />
Launen <strong>der</strong> Wettergötter, einige schöne und eindrucksvolle Tage, und<br />
ich bin überzeugt, daß von den heute versandten etwa 250 Rundbriefen<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 498<br />
ein großer Teil zur Anmeldung Anlaß geben wird. Wir wollen aber nicht<br />
wie ein Unterhaltungsklub nur zum Lebensgenuß zusammenkommen,<br />
son<strong>der</strong>n nach Möglichkeit auch Gewinn für die Dauer nach Hause<br />
bringen. Deshalb schlage ich schon heute für die Tagung am Sonntag<br />
Nachmittag folgende Punkte zur Aussprache vor und bitte die<br />
Teilnehmer, sich darüber schon vorher ihre Gedanken zu machen:<br />
1. Schaffung eines KEERL-Archives in Marktsteft, wo <strong>der</strong> Herr<br />
Bürgermeister mir bereits einen Raum angeboten hat, den wir eventuell<br />
1954 einweihen könnten. Was kann dorthin gestiftet werden, und wie<br />
könnte die Verwaltung durchzuführen sein?<br />
2. Allmähliche Schaffung und Vervielfältigung eines Familienbuches<br />
<strong>der</strong> KEERL aus Marktsteft, das neben einer vollständigen<br />
Nachfahrenliste und Ahnentafeln möglichst zahlreiche Einzelbiographien<br />
enthalten soll. Einige Anfänge und Vorschläge dazu hoffe ich vorlegen<br />
zu können.<br />
3. Herr Dr. med. H. BETHKE aus Kassel hat sich freundlicherweise<br />
bereit erklärt, einen Vortrag zu halten: Medizinische und erbbiologische<br />
Beson<strong>der</strong>heiten in einem Zweig <strong>der</strong> KEERL-Familie―. Dies scheint mir<br />
ein beson<strong>der</strong>s interessantes Thema zu sein, mit dem wir, wenn Je<strong>der</strong><br />
Beobachtungen und Tatsachen aus seinem Familienkreis in positivem<br />
wie negativem Sinne beisteuern kann, eine wertvolle Bereicherung zur<br />
KEERL-Familiengeschichte gewinnen können―. Das kursive Satzende<br />
wurde sinngemäß ergänzt, da hier eine Rundschreibenseite verloren<br />
gegangen ist.<br />
Aus dem 5. Rundbrief vom Februar 1953<br />
Zunächst begründet Prof. RÖSCH die Verzögerung dieses Schreibens<br />
wegen einer an<strong>der</strong>en familienkundlichen Arbeit: „Länger als mir lieb war,<br />
hat sich dieses Schreiben verzögert: die KEERL-Sippe war ein Opfer <strong>der</strong><br />
Familie BUFF geworden, <strong>der</strong>en bekanntestes Mitglied, Charlotte<br />
KESTNER, Goethes Lotte, kürzlich den 200. Geburtstag feierte, aus<br />
welchem Anlaß ich ein BUFF-Buch verfaßte, das meine ganze Freizeit<br />
verschlang. Nun sollen endlich die "Keerle" wie<strong>der</strong> zu ihrem Recht<br />
kommen!<br />
Vor allem soll nun berichtet werden über unsere vorjährige<br />
Zusammenkunft, das 3. KEERL-Treffen, 1.-3. Juni 1952 in Werthe<strong>im</strong> a.<br />
M. Es ist mir eine beson<strong>der</strong>e Freude, darüber einen <strong>der</strong> vier KEERL-<br />
Namensträger, die teilnahmen, zu Wort kommen zu lassen: Herr Dr.<br />
Fritz KEERL, Freiburg i. Br. Verfaßte folgenden Bericht:<br />
„Am Pfingstsonnabend und am Pfingstsonntag früh trafen die etwa 50<br />
auswärtigen Teilnehmer ein. Ich war von <strong>der</strong> reizvollen Lage <strong>der</strong> Stadt<br />
Werthe<strong>im</strong> stark beeindruckt. […] Schon be<strong>im</strong> Morgenfrühstück konnte<br />
man seine Verwandten treffen und sich mit diesem o<strong>der</strong> jenem näher<br />
bekannt machen; es war mir eine beson<strong>der</strong>e Freude, unsere Seniorin,<br />
Frau Elisabeth KEERL, die ich seit 43 Jahren kenne, begrüßen zu<br />
können; sie war bei ihrem Alter von 85 Jahren die Älteste unter den<br />
anwesenden Verwandten des Familientreffens.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 499<br />
Am Pfingstsamstag trafen wir uns abends zwanglos <strong>im</strong> Hotel „Kette―.<br />
Eine stattliche Zahl von KEERL-Verwandten war anwesend, unter ihnen<br />
Prof. RÖSCH mit seiner Familie und die beson<strong>der</strong>s zahlreich<br />
erschienenen Werthe<strong>im</strong>er, alle die Nachkommen <strong>der</strong> Margaretha<br />
Magdalena KEERL aus Segnitz am Main, die 1782 dort den Werthe<strong>im</strong>er<br />
Schiffs- und Handelsmann Philipp MÜLLER heiratete. Erst gegen<br />
Mitternacht endete dieser Begrüßungsabend.<br />
Der 1. Pfingstfeiertag (1. Juni) strahlte <strong>im</strong> herrlichsten Sonnenschein,<br />
<strong>der</strong> uns nach den vorhergehenden merkwürdig kalten tagen beson<strong>der</strong>s<br />
angenehm erschien. Nach dem Gottesdienst fand die „offizielle―<br />
Begrüßung <strong>der</strong> KEERL-Verwandten um 11 Uhr in <strong>der</strong> alten Rathaushalle<br />
statt. Die Halle war bis auf den letzten Platz gefüllt; in sehr<br />
liebenswürdigen Worten begrüßte uns <strong>im</strong> Namen <strong>der</strong> Stadt unsere<br />
Verwandte, die Stadtsekretärin Fräulein Rosel FRISCHMUTH.[…]<br />
Gerade in <strong>der</strong> ehrwürdigen Rathaushalle kam uns die Tradition <strong>der</strong> Stadt<br />
und auch unserer KEERL-Familie eindrucksvoll zum Bewußtsein.[…]<br />
Um 15.30 trafen sich alle Verwandten, wohl etwa 80-90 Personen, zur<br />
Sippentagung <strong>im</strong> Waldhaussaal, <strong>der</strong> etwa 12 Minuten von <strong>der</strong> Stadtmitte<br />
entfernt liegt. Dort hatte unser Prof. RÖSCH eine Fülle von Fotos,<br />
Dokumenten aller Art, beson<strong>der</strong>s auch von Stammbäumen, aufgestellt;<br />
dieses Beisammensein, das bis etwa 18.30 dauerte, wurde zunächst<br />
durch einen Vortrag unseres Verwandten, Dr. med. BETHKE aus Kassel<br />
über „Erbbiologische Beson<strong>der</strong>heiten in einem Zweig <strong>der</strong> KEERL-<br />
Familie― eingeleitet. Dieser sehr anregende Vortrag, an den sich eine<br />
Aussprache anschloß, bildet einen zu begrüßenden Beitrag zur<br />
Familiengeschichte KEERL. In dem dann folgenden „geschäftlichen― Teil<br />
wurde erörtert […] 1.) Das Kerl-Archiv, 2.) das Familienbuch, 3.) das<br />
nächst Treffen, 4.) Sonstiges. Für die entstandenen Ausgaben aller Art<br />
(z. B. Porto, Rundbriefe) werden freiwillige Spenden auf ein zu<br />
errichtendes Konto erbeten; die Gründung eines KEERL-„Vereins― mit<br />
festen Beiträgen wurde nicht für zweckmäßig gehalten; falls es<br />
gutsituierten KEERL-Verwandten möglich ist, wäre eine wirtschaftliche<br />
Unterstützung von einigen Verwandten, beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> Sowjetzone,<br />
sehr zu begrüßen. Am Abend trafen wir uns nochmals in <strong>der</strong> alten<br />
Rathaushalle, die wie<strong>der</strong> bis auf den letzten Platz gefüllt war. Prof.<br />
RÖSCH hatte einen Lichtbil<strong>der</strong>vortrag über „Altes und Neues über die<br />
KEERL-Familie― angekündigt. Was wir dort in Wort und Bild zu hören<br />
und zu sehen bekamen, war nun freilich etwas Beson<strong>der</strong>es […]<br />
Farbfotos von hoher Vollendung, von großem malerischen Reiz<br />
erstanden vor unseren Augen, u. a. unser He<strong>im</strong>atstädtchen Marktsteft<br />
a.M., das KEERL’sche Stammhaus, alte Grabsteine in Marktsteft, Bil<strong>der</strong><br />
unserer Ahnen aus 4 Jahrhun<strong>der</strong>ten, Erinnerungsstätten <strong>der</strong> KEERL<br />
auch aus vielen an<strong>der</strong>en Orten; und mancher von uns Anwesenden war<br />
nicht schlecht erstaunt, plötzlich sich selbst auf <strong>der</strong> Leinwand begrüßen<br />
zu können. Ein gemütliches Beisammensein <strong>der</strong> Werthe<strong>im</strong>er und<br />
Auswärtigen schloß den Abend ab.<br />
Der 2. Feiertag (2, Juni) brach mit ebenso strahlendem Sonnenschein<br />
an wie <strong>der</strong> erste. Ich benutze die frühe Vormittagsstunde zunächst zu<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 500<br />
einem Spaziergang zur alten Burgruine, dem ehemaligen Sitz <strong>der</strong><br />
Grafen von Werthe<strong>im</strong>, die stolz über <strong>der</strong> Stadt auf einer Anhöhe thront<br />
und von <strong>der</strong> man einen umfassenden Blick über die Stadt, den Main, die<br />
Tauber und die weitere Umgebung hat. Als ich <strong>im</strong> Begriff war, von <strong>der</strong><br />
Ruine zur Stadt hinab zu steigen, begegnete mir zu meiner großen<br />
Überraschung oben an <strong>der</strong> Ruine Frau Elisabeth KEERL; mich<br />
beschäftigte lange <strong>der</strong> Gedanke: Wer mit 85 Jahren noch so rüstig<br />
solche Anhöhen ersteigen kann, mit dem hat es ein gütiges Geschick<br />
wirklich gut gemeint.<br />
Um 11 Uhr begann die Stadtführung unter sachkundiger Leitung. Wir<br />
sahen neben den uns bereits bekannten Bauten so manchen<br />
versteckten malerischen Winkel, die Kirchen, das Museum, in dem wir<br />
manche Einzelheiten über die Geschichte <strong>der</strong> Stadt erfuhren. Mittag und<br />
Nachmittag stand jedem zur freien Verfügung, es lohnte sich wirklich,<br />
einen Spaziergang <strong>im</strong> breiten Tale des Mains o<strong>der</strong> dem schmalen,<br />
lieblichen Tal <strong>der</strong> Tauber zu machen. Am Abend hielt prof. RÖSCH<br />
einen 2. Lichtbil<strong>der</strong>vortrag über das „2. KEERL-Treffen in Marktsteft <strong>im</strong><br />
Sommer 1950―. Es war eine Selbstverständlichkeit, daß ich nach diesem<br />
Vortrag <strong>im</strong> Namen vor allem <strong>der</strong> auswärtigen Verwandten, am Schluß<br />
<strong>der</strong> nun zu Ende gehenden, harmonisch verlaufenden Tagung, allen, die<br />
sich für das Gelingen dieses Familientreffens eingesetzt haben, Worte<br />
des Dankes zum Ausdruck brachte: des Dankes an die Verwandten in<br />
Werthe<strong>im</strong>, vor allem an Herrn Philipp SEHER und Fräulein Rosel<br />
FRISCHMUTH, dann aber auch an unseren lieben Prof. Dr. RÖSCH,<br />
<strong>der</strong> nicht nur durch seine seit Jahren geleisteten organisatorischen<br />
Arbeiten, jedem Familientag, son<strong>der</strong>n auch durch seine menschlich so<br />
sympathische Art uns KEERL-Verwandten – ganz <strong>im</strong> Sinne des<br />
verstorbenen Landeskirchenrates KEERL in Wiesbaden – das Gefühl<br />
<strong>der</strong> Zusammengehörigkeit wachhält, so daß allmählich das Gefühl <strong>der</strong><br />
Gemeinschaft einer großen Familie, eben <strong>der</strong> KEERL-<br />
Nachkommenschaft, sich weiter entwickelt. Ich schloß mit dem Wunsch,<br />
daß sich in zwei Jahren viele Verwandte be<strong>im</strong> nächsten Familientreffen<br />
in Marktsteft wie<strong>der</strong>sehen mögen. Nach einem zwanglosen<br />
Abendschoppen trennten wir uns gegen Mitternacht. Eine kleine Zahl<br />
<strong>der</strong> Verwandten nahm am folgenden Vormittag noch an einer kleinen<br />
Bootsfahrt auf dem Main teil. gez. Friedrich KEERL.―<br />
Dann wie<strong>der</strong> Prof. RÖSCH: „ Seit den Werthe<strong>im</strong>er Tagen konnten<br />
übrigens verschiedene sehr nett verlaufende örtliche KEERL-<br />
Zusammenkünfte abgehalten werden, wobei meist von mir Farbbil<strong>der</strong><br />
projiziert wurden (Die Werthe<strong>im</strong>er Ausbeute war recht erfreulich und soll<br />
<strong>der</strong> Allgemeinheit in Marktsteft vorgeführt werden). So waren in<br />
Nürnberg am 7.8.52 etwa 20 Personen, in Frankfurt am 23.11.52 10<br />
Personen beisammen. In München mißlang lei<strong>der</strong> bisher ein solcher<br />
Versuch. In Marktsteft wurde am 11.8.52 ein Saal von 150-180<br />
Interessenten fast gestürmt; auch in Landshut, Karlsruhe,<br />
Braunschweig, Berlin, Hannover, Thüngershe<strong>im</strong>, Kitzingen,<br />
Mainstockhe<strong>im</strong>, Berchtesgaden konnte ich Verbindungen mit lieben<br />
Verwandten aufnehmen o<strong>der</strong> wachhalten.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 501<br />
Eine sehr erfreuliche Mitteilung konnte den in Werthe<strong>im</strong> Versammelten<br />
aus Marktsteft überbracht und soll auch hier <strong>der</strong> Allgemeinheit bekannt<br />
gegeben werden: Herrn MÄGERLEIN glückte es in Zusammenarbeit mit<br />
Landrat und Gemeinde, ein Z<strong>im</strong>mer für ein KEERL’sches Familien-<br />
Archiv zu gewinnen! Wir dürfen <strong>der</strong> Stadt Marktsteft herzlich dankbar<br />
sein für dieses verständnisvolle Entgegenkommen, ebenso aber auch<br />
<strong>der</strong> Brauerei KESSELRING, die die notwendigen Schränke stiften will!<br />
Je<strong>der</strong>mann wird hiermit herzlich gebeten, Objekte, die in einem solchen<br />
Archiv erwünscht sind, wie Bil<strong>der</strong>, Möbel, Stammbücher, Akten, Hausrat,<br />
soweit sie KEERL’scher Herkunft o<strong>der</strong> auf diese Familie bezüglich sind,<br />
an Herrn Oberlehrer Fritz MÄGERLEIN (13a) Marktsteft (über Kitzingen<br />
a/M.) zu senden; in seinem Haus und in seiner Obhut befindet sich<br />
unser Raum. Oft stehen in <strong>der</strong> heutigen <strong>Zeit</strong> Familienaltertümer mancher<br />
Art unnütz herum, nehmen uns gar notwendigen Platz weg, und werden<br />
schließlich weggeworfen: dort sind sie am richtigen Ort! Als erstes Stück<br />
<strong>der</strong> Sammlung konnte in Werthe<strong>im</strong> eine schöne Sargdecke gezeigt<br />
werden, die von Joh. Valentin KEERL (1762-1811) stammt, und die Herr<br />
Pfarrer DANNER zufällig auf dem Dachboden des Segnitzer Rathauses<br />
gefunden hatte. Von Werthe<strong>im</strong>ern wurde ein aus Haaren geflochtener<br />
Silberhochzeitskranz unter Glas gestiftet. Es wäre schön, wenn wir 1954<br />
schon ein kleines Museum <strong>der</strong> KEERL-Familie vorfinden könnten. In<br />
diesem Zusammenhang möchte ich auf einen reizenden Brief von Dr.<br />
Max SEYFFERT vom 15.6.52 hinweisen, <strong>der</strong> in Begeisterung über das<br />
eben kennengelernte KEERL-Haus in Marktsteft geschrieben ist, und<br />
auf den be<strong>im</strong> nächsten Treffen noch einzugehen sein wird. Übrigens<br />
findet je<strong>der</strong> Besucher Marktstefts dort ein Gästebuch vor, in das er<br />
gebeten wird, seine Anwesenheit einzutragen.<br />
Wie ebenfalls in Werthe<strong>im</strong> besprochen, soll <strong>der</strong> Versuch unternommen<br />
werden, in Listenform die gesamte bisher bekannte KEERL-<br />
Nachkommenschaft zu vervielfältigen, damit jedes Familienmitglied<br />
übersehen kann, wohin es selbst, und wohin die an<strong>der</strong>en Verwandten<br />
gehören. In graphisch übersichtlicher Stammtafelform ist dies wegen <strong>der</strong><br />
Größe <strong>der</strong> Familie und wegen <strong>der</strong> untragbaren Kosten lei<strong>der</strong> nicht zu<br />
machen, ebenso wird sich ein gedrucktes Buch von uns kaum<br />
finanzieren lassen. So sind wir nach eingehen<strong>der</strong> Beratung zu dem<br />
Entschluß gekommen, eine ratenweise Vervielfältigung zu versuchen.<br />
Die erste Lieferung liegt diesem Rundbrief bei. Man möge sie<br />
wohlwollend betrachten und, wenn man findet, daß diese alten<br />
nichtsagenden Namen und Zahlen wenig Interesse bieten, bedenken,<br />
daß die späteren Lieferungen erst uns selbst darstellen und dadurch<br />
lebendiger sein werden, daß aber aus dem gesamten Körper nichts<br />
weggeschnitten o<strong>der</strong> fortgelassen werden darf!―<br />
Aus dem 6. Rundbrief vom Februar 1954:<br />
„Schon um die Jahreswende sollten diese Blätter Wetzlar verlassen.<br />
Lei<strong>der</strong> haben längere Krankheit und an<strong>der</strong>weitige dringende Pflichten<br />
mich bis heute daran gehin<strong>der</strong>t. Um so froher bin ich aber jetzt, Ihnen<br />
nun gleich einiges Positives mitteilen zu können.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 502<br />
Da die Jahreszahl durch zwei teilbar ist, haben wir heuer ein „KEERL-<br />
Jahr―: wir werden uns an Pfingsten wie<strong>der</strong> in <strong>der</strong> alten mainfränkischen<br />
He<strong>im</strong>at treffen, es wurde ja verabredet, daß wir „in den durch 4 teilbaren<br />
Jahren― einen steten wechselnden Keerlwohnsitz für unser Treffen<br />
wählen wollen, um etwas herumzukommen, dazwischen jeweils<br />
Marktsteft; dieser Brauch scheint Anklang gefunden zu haben. […] Wie<br />
Besteller gemerkt haben, ist die Fortführung <strong>der</strong> Nachfahrenliste <strong>der</strong><br />
KEERL-Familie <strong>im</strong> letzten Jahr lei<strong>der</strong> etwas langsamer vorangekommen,<br />
als beabsichtigt war. Immerhin ist sie durch die kürzlich versandte zweite<br />
Lieferung nun auf 24 Seiten angewachsen, und umfaßt vollständig die<br />
ersten 7 Generationen und einen Teil <strong>der</strong> 8. Damit nähert sie sich dem<br />
19. Jahrhun<strong>der</strong>t und gewinnt allmählich auch für die weniger<br />
wissenschaftlich-genealogischen Fachleute unter Ihnen lebendiges<br />
Interesse. Im übrigen sei hier auch schon denjenigen, die sich in <strong>der</strong><br />
bisherigen Fülle von Namen nicht ganz zurecht finden, zum Trost<br />
gesagt, daß den Bestellern zum Abschluß ein ausführliches Register<br />
von Familien- und Ortsnamen geliefert werden wird.<br />
Durch Neuforschungen seitens Herrn Dr. Hermann BECKH, Nürnberg,<br />
ergab sich eine erfreuliche Erweiterung, indem an die Linie KEERL-<br />
FISCHER (d VII 40) eine Reihe von neuen Verwandten angeschlossen<br />
werden konnte, von denen wir vielleicht an Pfingsten den einen o<strong>der</strong><br />
an<strong>der</strong>en persönlich kennen lernen dürfen. Die neuen Verwandten seien<br />
hiermit herzlichst in unserem Kreise begrüßt!―<br />
Dann folgt eine kleine Liste mit Familienereignissen, und zwar 2<br />
Eheschließungen, 8 Geburten (einmal Zwillinge), sowie 5 Sterbefälle.<br />
RÖSCH: „Bei gelegentlichen Reisen konnte ich wie<strong>der</strong>um mehrere<br />
Verwandtenbesuche ausführen, meist in Verbindung mit<br />
Farbbildvorführungen, so in Landshut, Nürnberg (20 Pers.), Marktsteft<br />
(über 150 Pers.), Mainstockhe<strong>im</strong>, Thüngershe<strong>im</strong> und Frankfurt <strong>im</strong><br />
August 1952, München September 1952, Braunschweig Oktober<br />
1952.―<br />
Aus dem 7. Rundbrief vom 1. Januar 1955:<br />
Die Veröffentlichung <strong>der</strong> KEERL’schen Nachfahrenliste geht stetig<br />
weiter. Die Nachfrage nach den Blättern wächst mehr und mehr, so daß<br />
die kleine Auflage, auf die wir uns bei <strong>der</strong> Herstellung beschränken<br />
mußten, schon fast erschöpft ist. Ich bitte also die glücklichen Besitzer<br />
<strong>der</strong> Blätter, diese gut aufzubewahren und später binden zu lassen, da<br />
sie vielleicht einmal wertvoll und gesucht sein werden. Die<br />
Vervielfältigung schließt jetzt die gesamte 11. Generation ein, womit<br />
schon eine Reihe jetzt Leben<strong>der</strong> mitumfaßt wird. Die Benutzbarkeit <strong>der</strong><br />
Liste wird, wie schon früher angedeutet, erst richtig erschlossen sein,<br />
wenn auch die Register erschienen sind, an <strong>der</strong>en Erstellung schon<br />
fleißige Hände tätig sind. Herr Karl WIRTH in Kitzingen hat übrigens, in<br />
verständnisvoller Erkenntnis <strong>der</strong> Möglichkeiten, bereits aus dem<br />
bisherigen Material eine kleine Statistik zu entwickeln versucht<br />
hinsichtlich Lebensalter, Beruf, Gesundheit und Verbreitung <strong>der</strong> Sippe,<br />
unter Vergleichung mit den allgemeinen <strong>Zeit</strong>verhältnissen. Möge die<br />
Liste weiterhin so anregend wirken! […]. Es bleibt mir zum Schluß die<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 503<br />
angenehme Pflicht, Ihnen allen <strong>im</strong> neuen Jahr recht viel Gutes zu<br />
wünschen und zu hoffen, daß <strong>der</strong> Zusammenhalt unserer Sippe <strong>im</strong>mer<br />
enger und für die Einzelnen wertvoller und nützlicher werden möge und<br />
uns mehr und mehr stolz auf unsere Herkunft, aber nicht überheblich<br />
mache. Mit herzlichen Grüßen nach allen Seiten! Ihr Siegfried RÖSCH.―<br />
Aus dem 9. Rundbrief vom 14. Januar 1956<br />
„Wie die Sportler <strong>der</strong> Welt in vierjährigen <strong>Zeit</strong>räumen, den<br />
Olympiaden, rechnen, so können w i r die <strong>Zeit</strong> glie<strong>der</strong>n in zweijährige<br />
„K e e r l i a d e n―. In diesem Jahr ist wie<strong>der</strong> eine solche<br />
außermarktsteftische Keerliade fällig. Das Treffen soll diesmal in<br />
Ansbach (Mfr.) stattfinden und zwar an Pfingsten, also am 20./21. Mai<br />
1956.―<br />
Aus dem 10. Rundbrief vom 30. Dezember 1957<br />
„Noch ehe das alte Jahr zu Ende geht, möchte ich mein Gewissen<br />
entlasten und den längst fälligen Rundbrief schreiben, <strong>der</strong> dann zu<br />
Beginn des neuen Jahres in Ihre Hände flattern soll. Mit Recht ist<br />
verschiedentlich beanstandet worden, daß <strong>im</strong> ganzen Jahr 1957 nichts<br />
„Keerlisches― verlautete, ja, daß noch nicht einmal <strong>der</strong> Tagungsbericht<br />
für Pfingsten 1956 versandt worden ist! Reumütig gestehe ich, daß ich<br />
alle Schuld daran auf mich nehmen muß (bedingt durch vielerlei an<strong>der</strong>e<br />
Pflichten und viele Reisen), möchte aber zugleich ankünden, daß das<br />
„Keerljahr― 1958 vieles wie<strong>der</strong> gutmachen soll.<br />
Da ist zuerst über unsere KEERL-Nachfahrentafel Rechenschaft zu<br />
geben: Seit Frühjahr 1953 sind in wechselnden Abständen etwa 12<br />
Generationen vervielfältigt und mit Herrn VOLLHARDT’s gütiger Hilfe<br />
versandt worden; eine weitere Lieferung wird dieser Tage ihre Besteller<br />
erreichen. Nun kann ich die erfreuliche Neujahrsnachricht geben, daß<br />
<strong>der</strong> Rest <strong>der</strong> Tafeln (eine 16. Generation ist mit einigen Vertretern<br />
vorerst die jüngste; insgesamt sind fast 3200 Personen als KEERL-<br />
Verwandte nachgewiesen worden!) <strong>im</strong> Manuskript soeben fertiggestellt<br />
ist; ich hoffe, daß er in <strong>der</strong> 1. Jahreshälfte ausgeliefert sein kann. Das<br />
dann noch dringend nötige Register wird sich vielleicht auch noch <strong>im</strong><br />
Jahre 1958 vollenden lassen, womit dann dieses Werk vorerst<br />
abgeschlossen ist, das unsere Familie den inneren<br />
Verwandtschaftsnachweis ermöglichen und die Existenz unseres<br />
Familienzusammenschlusses rechtfertigen soll. Auch an dieser Stelle<br />
möchte ich die Bitte aussprechen zu reger Mitarbeit weiterer<br />
Familienkreise, sei es durch Ergänzungsmitteilungen zu dem<br />
vorgelegten Familienwerk, in dem noch zahllose Lücken <strong>der</strong> Schließung<br />
harren, sei es durch an<strong>der</strong>e Beiträge zu einem Familienganzen<br />
(Biographien einzelner Persönlichkeiten, auch wenn diese in <strong>der</strong> großen<br />
Welt <strong>der</strong> Geistesgeschichte unbedeutend erscheinen; Beiträge zur<br />
Bil<strong>der</strong>sammlung von Personen und KEERL-Orten; Autographen<br />
u.a.m.).―<br />
Nachfolgend wird ein ausführlicher Bericht über das KEERL-Treffen an<br />
Pfingsten 1956 in Ansbach gegeben, das wie<strong>der</strong> wie die vorigen Treffen<br />
nach ähnlichem Programm abgelaufen war. KEERL-Vetter Dr. Fritz<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 504<br />
KEERL schrieb dazu wie<strong>der</strong> den Tagungsbericht. Daraus sei hier nur<br />
folgendes vom Pfingstsonntag (20. Mai) zitiert:<br />
„Nach dem Abendessen trafen wir uns wie<strong>der</strong> <strong>im</strong> „Deutschen Kaiser―<br />
zu einem Lichtbil<strong>der</strong>vortrag unseres Prof. RÖSCH über „Ansbach und<br />
die Familie KEERL―. Herr Pfarrer SEILER, seine Tochter und sein Sohn<br />
leiteten den Abend durch musikalische Vorträge ein. Daß die Lichtbil<strong>der</strong><br />
von unserem lieben Prof. RÖSCH das Können des erfahrenen und<br />
erfolgreichen Fotografen beweisen, haben wir bei jedem KEERL-Treffen<br />
<strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> mit beson<strong>der</strong>er Freude feststellen können. Wir sahen u.a.<br />
zum ersten Mal Bil<strong>der</strong> des vor kurzem wie<strong>der</strong>hergestellten KEERL-<br />
Hauses in Marktsteft, das sich jetzt in einem unserer Familie würdigen<br />
Zustand befindet; <strong>der</strong> Landrat, die Gemeinde Marktsteft und die KEERL-<br />
Familie haben gemeinsam die Mittel zur Wie<strong>der</strong>herstellung dieses<br />
vermutlich von Balthasar NEUMANN entworfenen Hauses aufgebracht;<br />
die „Amalthea“, die bis vor wenigen Monaten nur <strong>im</strong> kümmerlichen<br />
Trümmerstücken vorhanden war, ist von einem Fachmann wie<strong>der</strong><br />
zusammengesetzt worden und krönt nun wie<strong>der</strong> das stattliche Haus.―<br />
Der Pfingstmontag war <strong>der</strong> Umgebung von Ansbach gewidmet<br />
(Schloß Triesdorf, Wolframs-Eschenbach und Zisterzienserabtei<br />
Heilsbronn).<br />
Aus dem 11. Rundbrief vom 30. November 1958<br />
Daraus soll hier nur noch das zur Nachfahrenliste bezügliche durch<br />
Prof. RÖSCH zitiert werden: „Wie schon angedeutet, ist nunmehr das<br />
große Werk <strong>der</strong> Nachfahrenliste KEERL endlich fertig, und es wird die<br />
umfangreiche Restlieferung die Besteller zugleich mit diesem Brief<br />
erreichen. Vor 6 Jahren in Werthe<strong>im</strong> beschlossen, und vor 5 ½ Jahren<br />
mit einer ersten Lieferung, die dem KEERL-Rundbrief 5 beilag,<br />
begonnen, ist sie nun zu einem recht stattlichen Band angewachsen, <strong>der</strong><br />
alle bisher bekannt gewordenen Nachkommen unseres gemeinsamen<br />
Ahnherrn Sebastian KEERL (d I 1, 1534-1577) nennt und ihre<br />
Verwandtschaft nachweist. Wir dürfen stolz sein auf diese über 3000<br />
Personen in 16 Generationen umfassende Sippe, die manchen<br />
bedeutenden Namen zu den Ihren zählt. Das jetzt miterscheinende, sehr<br />
umfangreiche Namens- und Ortsregister macht das Ganze erst richtig<br />
benutzbar, und ich bin sehr gespannt auf das Urteil <strong>der</strong> Benutzer: Möge<br />
es ebenso günstig ausfallen wie bei den beiden Vorgängern, <strong>der</strong><br />
„Familie BUFF― (1953) und „GOETHEs Verwandtschaft― (1956). Mein<br />
ganz beson<strong>der</strong>s herzlicher Dank gebührt Herrn Rechtsanwalt O.<br />
VOLLHARDT (d XII 269) in Nürnberg, ohne dessen ebenso<br />
leibenswürdige wie opferwillige Hilfe das Werk nie hätte vollendet<br />
werden können. Lei<strong>der</strong> konnten wir aus finanziellen Gründen die<br />
Nachfahrenliste nur in <strong>der</strong> kleinen Auflage herstellen, die <strong>der</strong><br />
Bestellerzahl entsprach, sie ist daher mit dem Erscheinen bereits<br />
vergriffen! Ich bitte daher jeden <strong>der</strong> Besitzer, die Blätter gut<br />
aufzubewahren und möglichst binden zu lassen, da etwa<br />
verlorengehende Blätter nicht nachgeliefert werden können. Sollte<br />
jemand keinen Wert mehr auf den Besitz legen, o<strong>der</strong> sollte aus<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 505<br />
irgendwelchen Gründen ein Exemplar frei werden, so bitte ich herzlich,<br />
es mir zum Kauf anzubieten, da <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> Nachfragen danach bei<br />
mir eingehen.―<br />
Es fanden dann weitere Treffen unter Prof. RÖSCHs Leitung in<br />
Nürnberg (1960), Marktbreit (1962), Landshut (1964) und Marktbreit<br />
(1966) statt. Das letzte von Prof. RÖSCH organisierte Treffen fand dann<br />
am RÖSCHschen Wohnort in Wetzlar statt.<br />
Aus dem 18. Rundbrief vom 18. Januar 1968 sei abschließend noch<br />
folgendes zitiert, nachdem das Entstehen einer großen Nachfahrenliste<br />
(Sippenliste) an einem markanten Beispiel lebendig gezeigt worden ist.<br />
Aufgrund <strong>der</strong> hier mit zu erfassenden Töchternachkommen mit ihren<br />
zahlreichen Nicht-KEERL-Familien(namen) sind solche große<br />
Nachkommenschaft über viele Generationen eigentlich nur noch von<br />
mehreren Forschergenerationen zu leisten. Wobei aber letztlich wohl<br />
<strong>im</strong>mer eine einzige Persönlichkeit hier beson<strong>der</strong>s prädestiniert sein<br />
muß!<br />
RÖSCH schrieb zum Abschluß dieses vorletzten Rundbriefes:<br />
„Bei winterlich-klarem Sternenschein (drei goldene Sterne <strong>im</strong><br />
H<strong>im</strong>melsblau zieren ja unser KEERL-Wappen!) und während die<br />
atmosphärischen Mächte in Paradoxen schwelgen und<br />
Wetterkatastrophen bescheren – sicher als Vorarbeit für ein beson<strong>der</strong>s<br />
schönes Pfingst- und damit KEERL-Wetter! -, schreibe ich diesen<br />
Rundbrief. Wenn es nach meinen Hoffnungen geht, so wird es mein<br />
letzter sein. Dieser brutale Satz, <strong>der</strong> Sie sicher alle überraschen wird,<br />
soll freilich nicht so aufgefaßt werden, daß ich beabsichtige, demnächst<br />
<strong>im</strong> Jenseits Genealogie zu treiben, und auch nicht so, daß ich alles<br />
Interesse daran verloren hätte. Zwei Gründe sind es, die mich zu diesem<br />
nicht leichten Entschluß bewegen:<br />
1) Mit zunehmenden Alter arbeitet man langsamer, weil a) die<br />
Körperkräfte nicht mehr die frühere Frische haben; b) mit wachsen<strong>der</strong><br />
Erfahrung die Gründlichkeit und das Bedürfnis zu ausgefeiltabschließenden<br />
Leistungen zun<strong>im</strong>mt, c) <strong>der</strong> Interessenkreis wächst und<br />
damit die Anzahl <strong>der</strong> Gebiete, die man bearbeiten möchte. Da ich nun<br />
glaube, auf einer Reihe von Wissensgebieten noch einiges Wesentliche<br />
leisten zu können, und dies möglichst zum Abschluß bringen möchte,<br />
muß ich an<strong>der</strong>es einschränken, nämlich die Dinge, die an<strong>der</strong>e auch tun<br />
können.<br />
2) Es ist jetzt 29 Jahre her, daß mit dem ersten KEERL-Rundbrief die<br />
Mitteilungen an Sie hinausging, Herr Landeskirchenrat August KEERL in<br />
Wiesbaden wolle die Leitung des KEERL-Familienverbands und –<br />
archivs an mich übergeben, und seitdem habe ich versucht, das<br />
Schifflein dieser kleinen Schar durch die <strong>Zeit</strong>en zu steuern und die<br />
Schar zahlenmäßig auszudehnen. Viel Schönes haben wir bei<br />
Familientagen und bei gegenseitigen Besuchen miteinan<strong>der</strong> erleben<br />
dürfen. Bei den Familientreffen, die wir seit 1950 jedes zweites Jahr<br />
abhielten, hatte ich mehrmals ein etwas schlechtes Gewissen wegen <strong>der</strong><br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 506<br />
Dürftigkeit und Einförmigkeit des Programms. Gar Vieles in<br />
unterhalten<strong>der</strong>, belehren<strong>der</strong> o<strong>der</strong> sozialer Hinsicht hätte ich gern über<br />
das Gebotene hinaus durchgeführt, aber es fehlte an <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> zur<br />
Vorbereitung, vielleicht auch am Geschick dazu. Deshalb verspreche ich<br />
mir jetzt von <strong>der</strong> Übergabe an eine jüngere Kraft wesentliche Belebung<br />
und Neugestaltung dieser Zusammenkünfte, vielleicht auch <strong>der</strong><br />
Rundbriefe. Damit will ich mich keineswegs interesselos zurückziehen:<br />
Beratend und mitfreuend hoffe ich noch lange mitmachen zu dürfen!<br />
Der langen Anrede kurzer Sinn: Ich möchte noch in diesem Jahr ein<br />
Familienmitglied suchen, das die Leitung des (losen) Familienverbands,<br />
des Archivs und <strong>der</strong> Tagungs- und Rundbriefgestaltung aus meinen<br />
Händen übern<strong>im</strong>mt. Dazu scheint mir keine Gelegenheit besser als <strong>der</strong><br />
diesjährige Familientag.<br />
Vielleicht darf man es als eine Art symbolische Schicksalsfügung<br />
ansehen, daß wir die Freude haben, zum 11. KEERL-Tag nach Wetzlar<br />
einzuladen. Traditionsgemäß sollen dazu die Pfingsttage, Samstag, 1.<br />
und Sonntag 2. Juni verwendet werden (obwohl diese wegen des<br />
allgemeinen Reiseverkehrs sicher auch in Wetzlar nicht die günstigste<br />
<strong>Zeit</strong> bilden werden; schon aus diesem Grund empfiehlt sich baldige<br />
Anmeldung bei mir und eventuelle Quartierbeschaffung über das hiesige<br />
Verkehrsamt. Da ich anschließend gleich am 3. Juni zu einer Tagung<br />
nach Wien reisen muß, kann ich lei<strong>der</strong> keinen an<strong>der</strong>en Termin wählen.<br />
Wir haben vorerst als Programm erwogen, daß am Samstag <strong>der</strong><br />
Wetzlarer Dom, das Lottehaus (Goethestätte!) und ein prächtiges<br />
neues Möbelmuseum mit einzigartigen Renaissancestücken besichtigt<br />
wird. Im Zusammenhang damit könnte ich einen Lichtbil<strong>der</strong>vortrag<br />
„Bil<strong>der</strong> aus dem Renaissanceleben“ bringen. Der Sonntag mag einem<br />
Gottesdienst, einem Ausflug nach Braunfels, zum Goetheschen<br />
„Walhe<strong>im</strong>― (Garbenhe<strong>im</strong>) o<strong>der</strong> nach Greifenstein <strong>im</strong> Dilltal und als<br />
Ausklang vielleicht einem kleinen „Gartenfest― <strong>im</strong> Philosophenweg<br />
dienen― [dem Wohnsitz von Prof. RÖSCH in Wetzlar).<br />
Zur Forschungsstand (Statistik) <strong>der</strong> großen KEERL-<br />
Nachkommenschaft seien einige Zahlen genannt:<br />
RÖSCH hat in seiner Nachkommenliste über 3150 Personen innerhalb<br />
von nur 14 Generationen aufgeführt, die vom Stammvater Sebastian<br />
KEERL, * (1534)-1577, abstammen. Die Hauptlinie ab <strong>der</strong> 5.<br />
Generation, die von mir statistisch ausgezählt wurde und vom „Unter―-<br />
Stammvater Samuel KEERL, 1670-1748, (d V 21) ausgeht, umfaßt allein<br />
3088 Personen. Davon 411 KEERL-Namensträger (229 männliche und<br />
182 weibliche).<br />
Die allgemein berühmteste Persönlichkeit ist wohl hier <strong>der</strong> Maler<br />
Anselm FEUERBACH (d X 38),<br />
* Speyer 12.9.1829, + Venedig 4.1.1880 und seine ebenfalls ledige<br />
Schwester Emilie, 1827-1873, Schriftstellerin und gleichfalls Malerin.<br />
Durch beide hatte das FEUERBACH-Geschlecht seinen geistigen<br />
Höhepunkt überschritten und ihren physischen Nie<strong>der</strong>gang beschlossen.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 507<br />
Die Mutter bei<strong>der</strong> war Amalie KEERL (d IX 25), * Ansbach 18.1.1805, +<br />
Speyer 1.3.1830, <strong>der</strong> nur ein kurzes Leben beschieden war; sie starb an<br />
Schwindsucht, infiziert durch ihre Schwester Frie<strong>der</strong>ike (1802-1829).<br />
Amalie war mit Joseph Anselm FEUERBACH, 1798-1851, verheiratet.<br />
Er war <strong>der</strong> älteste Sohn einer 8-köpfigen Geschwisterreihe. Mit den 5<br />
Söhnen hatte das FEUERBACH-Geschlecht seinen Höhepunkt<br />
erreicht. Ein Paradebeispiel für die Macht <strong>der</strong> geistigen Vererbung<br />
innerhalb einer Familie! Die 5 Söhne sind:<br />
Joseph Anselm, Dr. phil., <strong>der</strong> Vater des Malers, war Prof. <strong>der</strong><br />
Archäologie in Freiburg i.B.; Carl Wilhelm war namhafter Mathematiker<br />
in Erlangen, nachdem <strong>der</strong> „Feuerbachsche Kreis― seinen Namen erhielt;<br />
Eduard August lehrte Rechtsgeschichte in Erlangen; Ludwig war<br />
reiner Philosoph, erst Hegelianer, dann Gegner dieser Richtung. „Sein<br />
Einfluß auf die HEGELsche ‚Linke’, insbeson<strong>der</strong>e ENGELS und MARX<br />
(Historischer Materialismus) war entscheidend― (aus: Großer<br />
Brockhaus); schließlich Friedrich Heinrich, er machte sich als<br />
Sprachforscher einen Namen und trat für die Philosophie seines Bru<strong>der</strong>s<br />
Ludwig ein.<br />
Prof. RÖSCH konnte <strong>im</strong> Rahmen seiner KEERL-<br />
Gesamtverwandtschafts-Forschungen die in den „Ahnentafeln<br />
berühmter Deutschen― (1929/1932) veröffentlichte Ahnentafel des<br />
Malers Anselm FEUERBACH (zusammengestellt von Peter von<br />
GEBHARDT) noch bedeutend erweitern. v. GEBHARDT hatte dort 130<br />
Personen innerhalb von 12 Generationen aufgeführt; RÖSCH konnte<br />
weitere 188 Ahnen ab <strong>der</strong> 4. bis zur 20. Generation hinzufügen.- Auch in<br />
dieser weit erforschten Ahnentafel gibt es wie<strong>der</strong> einen Dynasten-<br />
Übergang in den Hochadel. Des Malers Anselm FEUERBACHs<br />
Großvater Paul Johann FEUERBACH, 1775-1833, war <strong>der</strong> berühmte<br />
Ansbacher Kr<strong>im</strong>inalist in Sachen Kaspar HAUSER, 1812?-1833. Paul<br />
Johann FEUERBACH heiratete eine Wilhelmine TRÖSTER, <strong>der</strong>en<br />
Vater ein illegit<strong>im</strong>er Sproß von Ernst August I. von WEIMAR, 1688-<br />
1748, war. Letzterer war <strong>der</strong> Großvater von Großherzog Karl August von<br />
SACHSEN-WEIMAR-EISENACH, 1757-1828, des We<strong>im</strong>arer Goethe-<br />
Freundes und Sohns von Anna Amalie von WEIMAR, geb. Prinzessin<br />
von BRAUNSCHWEIG-WOLFENBÜTTEL, 1739-1807.<br />
RÖSCH war bei <strong>der</strong> KEERL-Nachkommenschaft <strong>im</strong>mer bestrebt, auch<br />
die weniger bedeutenden Personen, also vor allem die „schwarzen<br />
Schafe― aufzuspüren. Eine solche abzweigende Linie <strong>im</strong> Vergleich zu<br />
einer standesgemäß herausgehobenen KEERL-Linie ist in Anlage 6 in<br />
zwei Tafeln dargestellt.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 508<br />
14.4 Eine soziologische Gegenüberstellung bei <strong>der</strong> Familie<br />
KEERL<br />
∞: eheliche Verbindung; o-o: außereheliche Verbindung<br />
Rö 320 V 21 KEERL, Samuel,<br />
* Marktsteft/Ufr. 1670, + ebd. 1748, Bürger,<br />
Domprobsteischultheiß u. Bergmeister in<br />
Marktsteft; ∞(1) 1689 Elisabeth WEYGAND,<br />
vw. KEERL, 1661-1731 (Vater: fürstl. schwarzen-.<br />
bergischer Schultheiß in Buchbrunn).<br />
(9 Kin<strong>der</strong>, 6 aus ∞(1) )<br />
│<br />
─────────────────────────────<br />
│<br />
│<br />
Rö 160/161 VI 10 KEERL *, Georg VI 11 KEERL, Samuel,<br />
Andreas, * Marktsteft 1690, * Marktsteft 1692, + ebd. 1730<br />
+ Prichsenstadt/Ufr. 1758, Vogt Bürger, Büttner u. Bierbrauer<br />
in Ran<strong>der</strong>sacker, Amtskastner u.<br />
in Marktsteft; ∞ 1718 Marg.<br />
Stadtrichter in Prichsenstadt, Vogt<br />
Greulich, (1697)-1773, (Vater:<br />
in Fürstenforst b. Burghaslach,<br />
Schultheiß in Hüttenhe<strong>im</strong>).<br />
∞ Marktsteft 1725 Kath. Clara Sabina<br />
(7 Kin<strong>der</strong>)<br />
Michaelis, 1705-1776 (Vater: Hausvogt<br />
│<br />
u. Schloßverwalter in Ran<strong>der</strong>sacker). Fortsetzung siehe Tafel 2 !<br />
(12 Kin<strong>der</strong>) │ (siehe hinten bei Anlagen)<br />
│<br />
─────────────────────────────<br />
│<br />
│<br />
Rö 80/81 VII 24 KEERL, Jacob Ernst VII 26 KEERL, Joh. Joseph,<br />
Samuel, * Ran<strong>der</strong>sacker 1730, * Prichsenstadt 1733.<br />
+ Schwabach 1781, „Markgräfl. + Markststeft 1778, Kloster-<br />
Ansbachscher Hofkammerrath―<br />
verwalter u. Kammerrat in<br />
u. Kastner in Schwabach; Reisen Heidenhe<strong>im</strong>/Mfr.; ∞ (1) ebd.<br />
u.a. nach Straßburg u. Berlin;<br />
1756 Kath. Esenbeck (Vater:<br />
∞ Schwabach 1760 Frie<strong>der</strong>ike Sophie<br />
Kammerrat) (1 Sohn)<br />
Zinn, 1737-1808, „Gehe<strong>im</strong>rätin―.<br />
│<br />
(Vater: Kastner u. fürstl. brandenb.-<br />
VIII 22 KEERL, Johann,<br />
onolzbach. Kammerrat in Schwabach). * Heidenhe<strong>im</strong> 1759,<br />
(1 Sohn) + Ansbach 1810, Kgl.-<br />
│<br />
bayr. Appeltationsger.-<br />
Rö. 40/41 VIII 21 KEERL, Konrad Heinr.<br />
rat, -präsident in Ansbach,<br />
* Schwabach 1761 Schriftsteller, Dichter,<br />
+ Ansbach 1836, kgl.-bayr. ∞ 1789 Anna Marg.<br />
Regierungs- u. Finanzrat in Messerer, 1764-1835.<br />
Ansbach; ∞ Sommerhausen<br />
(11 Kin<strong>der</strong>)<br />
1787 Marg. Therese │<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 509<br />
Stadelmann, 1764-1847.<br />
IX 25 KEERL, Amalie,<br />
(Vater: gräfl. rechternscher Amtmann, * Ansbach 1805,<br />
l<strong>im</strong>purg.-speckfeldischer Hof- u. + Speyer 1830;<br />
Konsistorialrat, Kanzlei- u. Kammer-<br />
∞ Ansbach 1826 Joseph Anselm<br />
direktor in Sommerhausen).<br />
Feuerbach,<br />
(11 Kin<strong>der</strong>) * Jena 1798,<br />
│ + Freiburg 1851, .<br />
Rö 20/21 IX 13 KEERL, Ferdinand,<br />
Dr. phil. Prof. <strong>der</strong><br />
* Ansbach 1803, + Crailshe<strong>im</strong> 1867 Archäologie.<br />
Pfarrer in Trochtelfingen und.<br />
(2 Kin<strong>der</strong>).<br />
Gaildorf u. 1862 Dekan in Crailshe<strong>im</strong>;<br />
[er: Bru<strong>der</strong> des<br />
∞ Trochtelfingen 1829 Helene Mack,<br />
Philosophen Ludwig<br />
1808-1881, (Vater: kgl.-bayr. Hof- u. Feuerbach, 1804-1872]<br />
Bauinspektor in Syburg, Freiherrl.<br />
│<br />
Schenck v. Geyernscher Gerichts-<br />
X 38 Feuerbach, Anselm,<br />
schreiber in Nennslingen u. Ellingen). * Speyer 1829<br />
(10 Kin<strong>der</strong>) + Venedig 1880<br />
│<br />
begraben in Nürnberg.<br />
Rö 10/11 X 23 KEERL, Wilhelm<br />
Maler, ledig.<br />
* Trochtelfingen 1836,<br />
+ Fichtenberg (Württ.) 1896,<br />
Pfarrer ebd; ∞ Stuttgart 1865<br />
Pauline Blum, 1803-1866.<br />
(Vater: Revisor in Schwäbisch Hall<br />
u. Stuttgart)<br />
(6 Kin<strong>der</strong>)<br />
│<br />
Rö 5/4 XI 42 KEERL, Maria,<br />
* Fichtenberg 1874, + Heidelberg 1949<br />
∞ Fichtenberg 1893 Adolf Rösch,<br />
* Blaubeuren/Württ. 1860, + Heidelberg<br />
1943, kaufm. Angestellter bei <strong>der</strong><br />
BASF in Stuttgart und Ludwigshafen a.R.<br />
(sein Vater: Gymnasialprofessor in<br />
Heilbronn [Lehrer von Theodor Heuss] ).<br />
(2 Kin<strong>der</strong>)<br />
│<br />
Rö 2/3 XII 71 Rösch, Siegfried,<br />
* Ludwigshafen a.R. 1899<br />
+ Wetzlar 1984, Dr. phil., Prof.<br />
<strong>der</strong> Mineraloge, Kristalloptiker u. Familienforscher;<br />
∞ Dresden 1927 Mali Stürenburg,<br />
1897-1988. (Vater: Heinr. Stürenburg, Dr. phil.<br />
klass. Philologie, Rektor <strong>der</strong> Kreuzschule<br />
in Dresden); sowohl über die Mutter, M. Keerl,<br />
als den Vater A. Rösch (Vetter-Base 2. Grades)<br />
hat Siegfried Rösch relativ enge Verwandtschaft<br />
zum Dichter Friedrich Höl<strong>der</strong>lin, 1770-1843.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 510<br />
(4 Kin<strong>der</strong>)<br />
Tafel 2<br />
(Fortsetzung)<br />
│<br />
VI 11 KEERL, Samuel,<br />
* Marktsteft 1692, + ebd. 1730,<br />
Bürger, Büttner u. Bierbrauer<br />
in Marktsteft; ∞ 1718 Marg.<br />
Greulich, (1697)-1773, (Vater:<br />
Schultheiß in Hüttenhe<strong>im</strong>).<br />
(7 Kin<strong>der</strong>)<br />
│<br />
VII 34 KEERL, Joh. Samuel,<br />
* Marktsteft 1718<br />
+ … zw. 1770 und 1782,<br />
1744 Bürger u. Bierbrauer in<br />
Obernbreit, 1755 Rotgerber in<br />
Marktsteft, 1760 Bürger u.<br />
Häcker in Mainbernhe<strong>im</strong>, 1762<br />
Rotgerber, 1765 Bauer, 1770<br />
Drechsler, 1782 Büttner; ∞<br />
Mainbernhe<strong>im</strong> 1744 Ursula Barb.<br />
Mesch, aus Mainbernhe<strong>im</strong>,<br />
+ 1782. (Vater: Bürger u. Bauer)<br />
(12 Kin<strong>der</strong>).<br />
│<br />
VIII 28 KEERL, Joh. Michael,<br />
* Marktsteft 1751<br />
+ Mainbernhe<strong>im</strong> 1833<br />
Bürger, Bauer u. Häcker in<br />
Mainbernhe<strong>im</strong>. o-o um 1777<br />
Kath. Barb. Kolb (Vater:<br />
wässerndorfscher Schultheiß in<br />
Hüttenhe<strong>im</strong>).<br />
[∞ Mainbernhe<strong>im</strong> 1782 Ursula<br />
Barbara Brunner]<br />
(5 Kin<strong>der</strong>: 1 uneheliches, 4 eheliche).<br />
│<br />
IX 43 KEERL, Balthasar.<br />
* Hüttenhe<strong>im</strong> 1778,<br />
+ Kottenhe<strong>im</strong> 1865<br />
Bürger u. Wagnermeister in<br />
Kottenhe<strong>im</strong>; o-o um 1802<br />
Marg. Dorsch (Tochter von N.N.)<br />
[∞ Marktnordhe<strong>im</strong> 1806 Elisabeth<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 511<br />
Rückert]<br />
(9 Kin<strong>der</strong>: 2 unehelich, 7 eheliche ).<br />
│<br />
X 83 KEERL, Sabina (Zwilling)<br />
* Marktnordhe<strong>im</strong> 1802, + ebd. 1873,<br />
Taglöhnerin, „Windshe<strong>im</strong>er Bötin―,<br />
o-o um 1824 mit N.N., ledig<br />
(2 uneheliche Kin<strong>der</strong>).<br />
│<br />
XI 110 KEERL, Maria Marg.<br />
* Marktnordhe<strong>im</strong> 1825<br />
+ ebt. 1897, Dienstmagd<br />
in Geckenhe<strong>im</strong>; o-o(1) um 1845<br />
Joh. Georg Reuter, * Krassolzhe<strong>im</strong><br />
1824, Taglöhner;<br />
o-o(2) um 1856 N. Mann,<br />
Schuhmacher in Nenzenhe<strong>im</strong>;<br />
o-o(3) um 1858 Konrad Kolb,<br />
* Hanbach bei Neustadt/Aisch<br />
1830; Dienstknecht in Stübach<br />
bei Neustadt/Aisch, den sie<br />
später 1869 ∞ Marktnordhe<strong>im</strong>.<br />
(5 uneheliche Kin<strong>der</strong>: 2 aus o-o(1),<br />
1 aus o-o(2) und 2 aus o-o(3) ).<br />
│<br />
XII 149 KEERL, Dorothea, * Marktnortdhe<strong>im</strong><br />
1846, + ebd. 1924, Taglöhnerin ebd.;<br />
o-o(1) um 1868 Joh. Andreas Jacob,<br />
Dienstknecht in Seenhe<strong>im</strong>; o-o(2)<br />
um 1871 N.N. (nicht ermittelt).<br />
∞(3) 1872/74 Nikolaus Schultheiss,<br />
* Ulsenhe<strong>im</strong> b. Uffenhe<strong>im</strong> 1840,<br />
+ Nordhe<strong>im</strong> 1930, Taglöhner in<br />
Marktnordhe<strong>im</strong>.<br />
(7 Kin<strong>der</strong>: 2 uneheliche aus o-o(1),<br />
1 uneheliches aus o-o(2), 4 eheliche<br />
aus ∞(3)).<br />
│<br />
XIII 227 KEERL, Sabina, * Markt Nordhe<strong>im</strong> 1869,<br />
+ ebd. 1899, ledige Dienstmagd in Markt<br />
Nordhe<strong>im</strong> und Ansbach, o-o(1) um 1886<br />
Leonhard Friedhe<strong>im</strong>, in Neuzenhe<strong>im</strong>;<br />
o-o(2) um 1889 Friedrich Hümm,<br />
Bauernsohn aus Weigenhe<strong>im</strong>/Uffenhe<strong>im</strong>;<br />
o-o(3) um 1893 Georg Friedrich Wirsching,<br />
1855-1932, verwitweter Gutspächter in<br />
Rothenburg o.T.; o-o(4) um 1894 Sebastian<br />
Kleinlein, Maurer in Bamberg.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 512<br />
(7 uneheliche Kin<strong>der</strong>: 2 von o-o(1), 3 von<br />
o-o(2), 1 von o-o(3) u. 1 von o-o(4) ).<br />
│<br />
XIV 48 KEERL, Eva Sabina, * Markt Nordhe<strong>im</strong> 1890,<br />
+ Würzburg 1929, begr. Ippeshe<strong>im</strong>; o-o um 1914<br />
Joh. Rabenstein, * Krassolzhe<strong>im</strong> 1890 (Vater:<br />
Landwirt in K.); ∞ Ippeshe<strong>im</strong> 1918 Heinrich<br />
Grombach, * ebd. 1889, Landwirt (Sohn von<br />
Katharina Grombach (!), Vater unbekannt).<br />
(3 Kin<strong>der</strong>: 1 uneheliches aus o-o, 2 eheliche ).<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
15<br />
15.1 Aus meiner eigenen Familienforschung seit meiner<br />
Dresdner Schulzeit um 1950<br />
Im Rahmen meiner frühzeitig begonnenen Ahnenforschung war es<br />
beson<strong>der</strong>s die Vetter-Base-Ehe innerhalb <strong>der</strong> Ur-Ur-Urgroßeltern-<br />
Generation mütterlicherseits, die meine beson<strong>der</strong>e Neugier erweckte!<br />
Zum einen handelte es sich bei dem Bräutigam dieser Verwandtenehe<br />
von 1815 um die Familie PA(H)LITZSCH, die durch den<br />
Bauernastronom Johann Georg PALITZSCH, 1723-1788, „weltberühmt―<br />
geworden war. Innerhalb meiner Grundschulzeit in Leubnitz-Neuostra<br />
(seit 1921 Stadtteil von Dresden) hatte ich durch meine Volksschullehrer<br />
schon manches von ihm erzählt bekommen. Mein Naturkundelehrer für<br />
die Fächer Chemie, Physik und Biologie war auch ein allgemein<br />
anerkannter He<strong>im</strong>atforscher war (Häusergeschichte, Archäologie) und<br />
wurde von mir beson<strong>der</strong>s verehrt: Es war Ernst Karl RÜHLE, 1887-1981,<br />
<strong>der</strong> uns als Ernst-HAECKEL-Verehrer gern dessen Radiolarien-<br />
Zeichnungen voller Naturstolz zeigte. Auch war RÜHLE ein geschickter<br />
Exper<strong>im</strong>entator <strong>im</strong> ersten Physik- und Chemie-Unterricht. Vielleicht war<br />
es dieser Lehrer, <strong>der</strong> bei mir den ersten Grund dafür legte, daß ich mich<br />
für genealogische und genetische Fragen gleichzeitig interessiert habe!<br />
Hinzu kam die Tongrube des väterlichen Dresdner Ziegelwerkes am<br />
Dresdner Stadtrand, wo es Fossilen (z. B. Muschelabdrücke) aus <strong>der</strong><br />
Urzeit leicht auszugraben gab!<br />
Dies sei hier zum besseren Verständnis meines unten zitierten Briefes<br />
vorausgeschickt, wobei hier noch hingewiesen sei, daß die spätere<br />
Erforschung dieser PAHLITZSCH-Linie ergab, daß sich durch eine<br />
zusätzliche verwandtschaftliche Verflechtung über drei(!) PAHLITZSCH-<br />
Ahnengeschwister (Bru<strong>der</strong>, zwei Schwestern) ein PAHLITZSCH-<br />
Ahnenpaar 4-mal in meiner Ahnentafel mütterlicherseits vorkommt und<br />
dadurch auch eine Verwandtschaft zwischen meinen mütterlichen<br />
Großeltern nachgewiesen werden konnte.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 513<br />
Dieser Umstand mag wohl auch mitbest<strong>im</strong>mend gewesen sein, daß<br />
die genealogische Tatsache des sogenannten Ahnenschwundes bzw. -<br />
verlustes (Implex) mein jahrzehntelanges Spezialgebiet innerhalb <strong>der</strong><br />
Genealogie werden sollte und ich bald das große Glück hatte, hier Prof.<br />
Siegfried RÖSCHs wissenschaftlichen Fußspuren folgen zu können.<br />
Zunächst waren mir RÖSCHs „Grundzüge einer quantitativen<br />
Genealogie― (1956), die ich 1966 zum ersten Mal las, eine sichere<br />
Wegleitung, bis ich dann 7 Jahre später 10 Jahre lang auch seine<br />
persönliche Freundschaft genießen konnte.<br />
1965:<br />
Doch jetzt sei <strong>der</strong> Brief an meinen verehrten Volksschullehrer E. K.<br />
RÜHLE vom Ostermontag 1965 zitiert, den ich 12 Jahre nach unserer<br />
DDR-Flucht aus Dresden nach Süddeutschland erstmals an E. K.<br />
RÜHLE geschrieben habe:<br />
„Sehr geehrter, lieber Herr Rühle!<br />
Heute am Ostersonntag gehen be<strong>im</strong> Ordnen meiner familienkundlichen<br />
Papiere nicht nur die Gedanken zur Stätte meiner Kindheit und Jugend<br />
zurück, son<strong>der</strong>n auch an meinen verehrten ehemaligen Lehrer Herrn<br />
RÜHLE denke ich mit Dankbarkeit. Haben Sie uns doch auf Grund Ihrer<br />
intensiven Studien und Forschungen aus <strong>der</strong> He<strong>im</strong>at <strong>im</strong>mer viel<br />
Interessantes aus unserem Leubnitzer Kirchspiel zu berichten gewußt.<br />
Schon lange habe ich es vorgehabt einmal mit Ihnen wegen eines<br />
Wunsches Fühlung aufzunehmen, da ich hoffe, daß Sie mir bei <strong>der</strong><br />
Nennung von Literatur und Quellen über die Geschichte des<br />
Kirchspieles Leubnitz behilflich sein können. Meine ehemalige<br />
Liebhaberei, die Familienforschung, hat nämlich durch die Geburt eines<br />
„Stammhalters― <strong>im</strong> vergangenen Jahre wie<strong>der</strong> etwas „Oberwasser―<br />
bekommen.<br />
Bei weitreichen<strong>der</strong>en Forschungen ist man ja früher o<strong>der</strong> später auf<br />
He<strong>im</strong>atliteratur und Chroniken <strong>der</strong> betreffenden Räume angewiesen,<br />
beson<strong>der</strong>s zumal lei<strong>der</strong> die Leubnitzer Kirchenbücher einige Lücken<br />
aufweisen. U.a. bekam ich bereits von Herrn Pfarrer Oskar HÄNICHEN,<br />
Waltersdorf/Zittau, viel Material über meine Leubnitzer Ahnen<br />
mitgeteilt. Dieser gehört seit Jahren ebenfalls zum Kreis <strong>der</strong><br />
Umlaufteilnehmer <strong>der</strong> Ahnenstammkartei Dresden, die von Herrn Kurt<br />
WENSCH, Dresden, Gostritzer Str. 12, betreut wird [in <strong>der</strong> Gostritzer Str.<br />
in Dresden stand mein Elternhaus, wo ich die ersten 18 Jahre meines<br />
Lebens wohnte!].<br />
Bei dieser Gelegenheit, möchte ich erwähnen, daß auch ich von seiten<br />
meiner Großmutter mütterlicherseits RÜHLE-Vorfahren besitze (auch<br />
geschrieben: Rüel, Rull, Ruel, rhuel, rul, rula). Der älteste mir bekannte<br />
ist: Ahn 14.992, <strong>der</strong> Peter RUL, war Bauer in Gaustritz [dicht bei<br />
Dresden], (+ vor 1572), <strong>der</strong> getraut wurde vor 1542 mit Walpurga<br />
HÄNICHEN (sie + Gaustritz nach 1570). Die Stammfolge ist mir dann<br />
lückenlos bis zu Ahn 937, <strong>der</strong> Anna RÜL (geb. in Gaustritz, getauft<br />
Leubnitz 15.5.1627, + Nickern 1683/96) oo mit Hans HÄNICHEN (geb.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 514<br />
Sobrigau, Bauer in Nickern) bekannt. Weiterhin erscheint <strong>der</strong> Name<br />
RÜHLE bei meinem Ahn Nr. 30, Johann Heinrich WIRTHGEN,<br />
Gemeindevorstand, <strong>Richter</strong> und Gutsbesitzer in Gaustritz und zuletzt<br />
Hausbesitzer in Goppeln (geb. Kaitz 11.8.1799, + Goppeln 30.4.1867).<br />
Er war in erster Ehe mit Anna Rosina RÜHLE verheiratet, getraut<br />
Leubnitz 9.5.1823, die ein Stiefahn von mir. In zweiter Ehe wurde er mit<br />
meiner Ahnfrau Nr. 31 getraut, <strong>der</strong> Johanne Christiane Ullrich aus Kleba,<br />
in Possendorf am 22.11.1840.<br />
Zu sehr großem Dank wäre ich Ihnen verbunden, wenn es Ihnen<br />
möglich wäre, mir einiges Quellenmaterial über das Kirchspiel Leubnitz<br />
zu nennen, das mir ggf. auch genealogisch von Nutzen sein könnte.<br />
Über den Internationalen Bücheraustausch bzw. den hiesigen<br />
Staatsbibliotheken könnte ich dann versuchen, mir manches zu<br />
beschaffen.<br />
1949 wurde ich aus <strong>der</strong> Leubnitzer Schule entlassen, wo ich – so<br />
glaube ich – <strong>im</strong> gleichen Jahre noch an <strong>der</strong> Aufführung des „Leubnitzer<br />
He<strong>im</strong>atspieles― (als Hoferichter) mitwirken konnte. Gern denke ich auch<br />
noch an das schöne He<strong>im</strong>atmuseum in <strong>der</strong> Schule! Seit 1953 bin ich<br />
nun schon in <strong>der</strong> Bundesrepublik. 1956 beendete ich mein Studium als<br />
Ingenieur (Fachrichtung: Chemie) in Nürnberg. Nachdem ich 4 Jahre in<br />
Ulm/Do. tätig war (bei Telefunken) bin ich seit 1961 hier in München als<br />
Ingenieur bei Siemens & Halske. Meine Eltern leben in Fürth (Bay.), wo<br />
mein Vater in seinem alten Beruf als Geschäftsführer eines<br />
Ziegelwerkes, das in <strong>der</strong> Nähe liegt, wie<strong>der</strong> wirken kann. Meine<br />
Großmutter, Frau Liddy INKERMANN, geb. WAGNER (aus Gaustritz)<br />
verstarb dieses Jahr am 15. Januar <strong>im</strong> hohen Alter von 89 Jahren in<br />
Altleubnitz 11, wie Ihnen vielleicht bekannt geworden ist.<br />
In <strong>der</strong> Hoffnung, daß es Ihnen und Ihrer Gattin gut geht und ich<br />
demnächst mit einer Nachricht von Ihnen rechnen darf, grüße ich Sie<br />
ganz herzlich in alter Verbundenheit als<br />
Ihr sehr ergebener <strong>Arndt</strong> <strong>Richter</strong>.―<br />
Die handschriftliche Antwort von E. K. RÜHLE, „8020 Dresden am 20. 6.<br />
1965<br />
„Lieber Herr <strong>Richter</strong>,<br />
mit Erstaunen sehe ich, daß bereits acht Wochen vergangen sind<br />
seitdem Ihr Schreiben an mich gelangte, über das ich mich recht gefreut<br />
habe. Ersehe ich doch daraus, daß Ihre Familie drüben wie<strong>der</strong> Wurzeln<br />
geschlagen hat, nachdem sie hier die He<strong>im</strong>at verlassen mußte. Ich<br />
gedenke Ihrer <strong>im</strong>mer, wenn ich am Werke vorbeikomme o<strong>der</strong> mit<br />
Wissenschaftlern auf die Funde zu sprechen komme, die dort gemacht<br />
wurden. Bei <strong>der</strong> heutigen Baggerei ist es damit aus. Merkwürdig auch,<br />
daß keine Lößschnecken mehr zu finden sind, die früher doch<br />
massenhaft vorkamen in allen 3 Arten.<br />
Die ergiebigste Quelle für Familienforschung sind die Kaufbücher <strong>im</strong><br />
Landeshauptarchiv hier, die Ihnen drüben natürlich nicht zugänglich<br />
gemacht werden können. Wenn Ihnen wegen <strong>der</strong> HÄNICHENs etwas<br />
fehlt, kann Ihnen Hans HÄNICHEN, 8045 Dresden, Altdobritz 3,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 515<br />
Auskunft geben. Er hat sein Geschlecht weitgehendst erforscht bis zum<br />
14. Jahrhun<strong>der</strong>t. Sein väterliches Gut war Alt[dobritz] 3; Ihre Eltern<br />
werden ihn kennen, er war manchmal <strong>im</strong> Büro von HERMSDORF in <strong>der</strong><br />
Ziegelei Prohlis tätig. Sicher kommen Sie mit ihm in <strong>der</strong> Ahnenreihe<br />
einmal zusammen. Er hat auch Vorfahren in L.[eubnitz], 1529-1541<br />
Gregor u. Thomas H.[ÄNICHEN] auf Altleubnitz 3, von dem nur noch<br />
das Groß..?..haus steht. 1652-1724 ist es in RÜHLschen Besitz.<br />
Meine Vorfahren saßen in Brockwitz b. Meißen. Von dort strahlten sie<br />
nach Norden und Süden <strong>im</strong> Elbtal aus. Zu den hiesigen habe ich noch<br />
keine Verbindung finden können. Die ältesten kommen <strong>im</strong> Leubnitzer<br />
Totenbuch (nicht gedruckt) in Gaustritz vor, vor 1500. Sonst liegt kein<br />
Schrifttum vor, das Ihnen nützlich sein könnte. Herr WENSCH kennt sich<br />
dorten ja wohl nicht aus.<br />
Eduard HEYDENREICHs „Kurze Geschichte des Kirchspiels Leubnitz-<br />
Neuostra bei Dresden―, 1878, ist Ihnen gewiß bekannt. Lei<strong>der</strong> ist das<br />
Schriftchen mit unglaublichen Fehlern durchsetzt.<br />
Lei<strong>der</strong> sind ja größere he<strong>im</strong>atkundliche Arbeiten heute nicht zu<br />
veröffentlichen. Auch in Tageszeitungen sollen stadtgeschichtliche<br />
Artikel nicht über 40 Maschinenzeilen sein!!<br />
Vom Tode Ihrer lieben Großmutter [INKERMANN] erfahre ich erst<br />
durch Sie. Ich hatte sie schon am Fenster vermißt, wo ich sie zuweilen<br />
von <strong>der</strong> Straße aus grüßen konnte. Von KÜTTNERs [Familie <strong>der</strong><br />
Schwester meiner Mutter] habe ich auch lange niemand getroffen.<br />
Schade, daß es den Verein „Roland― nicht mehr gibt – wenigstens hier<br />
nicht! Herr WENSCH war in diesem ja auch tätig – ich habe ihn aber nie<br />
persönlich kennen gelernt.<br />
Übrigens ist die Schreibweise rul, rull <strong>im</strong>mer rül zu lesen. Die<br />
Bezeichnung des Umlauts unterblieb lange <strong>Zeit</strong>. Auch die Aussprache<br />
libnitz (bis gegen 1500) ist falsch, nur aus lübnitz konnte Leubnitz<br />
werden. Ich habe auch den Nachweis vom Jahre 1405, wo in einer<br />
Urkunde <strong>der</strong> Umlaut bezeichnet ist.<br />
Ich freue mich, daß Ihre Ahnenreihe mit so hohen Zahlen aufwarten<br />
kann – vielleicht kommen Sie auch auf Karl d. Gr. und den Bischoff v.<br />
Tours 605! Wie Arno LANGE in Strehlen u. <strong>der</strong> [Dresdner] Zoodirektor<br />
BRANDES. Freilich ist ja alle Ahnenforschung eine unsichere Sache.<br />
Kennen Sie des Franzosen N.(?) BOILEAU(?)’ Ausspruch? Zu deutsch:<br />
Denn wer verbürgt, daß Eure Ahnfrauen all die <strong>Zeit</strong><br />
An Euren Ahnherrn treu Genüge fanden,<br />
Und den Versuchen stets erfolgreich wi<strong>der</strong>standen!<br />
Ich kenne Fälle aus den Akten!! Das soll Ihnen aber die Lust am<br />
Forschen nicht nehmen! Bitte grüßen Sie Ihre lieben Eltern und alles<br />
Gute Ihnen und Familie mit herzlichen Grüßen aus <strong>der</strong> He<strong>im</strong>at.<br />
Hoffentlich erscheinen Sie einmal persönlich hier.<br />
Ihr E. K. RÜHLE.―<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 516<br />
Am 22. Nov. 1965 bedankt sich mein Lehrer Rühle für das ihm am 9.<br />
November gesandte Kaffee-Schokoladen-Päckchen herzlich mit:<br />
„Donnerwetter, die Eiern!―, sagte unser gutes Jungelchen, wenn <strong>der</strong><br />
Osterhase gekommen war.- Donnerwetter, die besten Schokomarken,<br />
<strong>der</strong> herrlichste Kaffe― – das war unser Ruf als Ihr Päckchen vorhin<br />
ankam, liebe Frau und Herr <strong>Richter</strong>! Dazu noch eine Tafel über das<br />
erlaubte Maß – ja, unsere Regierung sorgt, daß wir uns nicht<br />
überfuttern. Wäre die Sendung nachgesehen worden, hätten wir nichts<br />
davon zu schmecken bekommen! Glück muß man haben! Und nun<br />
herzlichen Dank für diese unverdienten schönen Sachen. Trotz des<br />
hohen Preises kommen die hiesigen Sachen den westlichen doch nicht<br />
gleich – und sind kaum zu haben – wenig und sofort verkauft. In den<br />
Selbstbedienungsläden hat sie die Kassiererin bei sich stehen. Als ich<br />
einmal gerade dazukam und zwei Packungen an mich nahm, wurden sie<br />
mir gleich wie<strong>der</strong> entrissen (Selbstbedienung!) und mir eins gnädigst<br />
verkauft.―-<br />
Mein Lehrerehepaar RÜHLE hatte ihre beiden einzigen<br />
hoffnungsvollen Söhne gleich zu Anfang des Krieges verloren. Seit dem<br />
sagte man Lehrer RÜHLE eine verdrießlich-grämliche Gemütshaltung <strong>im</strong><br />
allgemeinen und Strenge in <strong>der</strong> Schule nach. Aber offensichtlich fand<br />
RÜHLE dann in <strong>der</strong> wissenschaftlichen He<strong>im</strong>atgeschichtsforschung,<br />
einschließlich Archäologie, eine ablenkende und befriedigende<br />
Erfüllung. Er ist mir auch als ein begeisterter Exper<strong>im</strong>entator <strong>im</strong> Physikund<br />
Chemie-Unterricht in lebhafter Erinnerung. Die Versuche mit <strong>der</strong><br />
Elektrisiermaschine <strong>im</strong> Physikunterricht und seine Versuche mit<br />
Metallstückchen des Alkal<strong>im</strong>etalls Kalium, die auf <strong>der</strong> Wasseroberfläche<br />
leuchtend verbrennen, sind mir noch lebhaft in Erinnerung. Auch lud er<br />
unsere Klasse manchmal nachmittags außerhalb <strong>der</strong> Unterrichtszeit in<br />
die Schule zu freiwilligen Vorträgen über die Geschichte von Leubnitz-<br />
Neuostra ein (das erst 1921 zum Dresdner Stadtgebiet kam). Auch hielt<br />
er noch <strong>im</strong> hohen Alter öffentliche Vorträge über die Leubnitzer<br />
Geschichte. Er starb erst 1981 <strong>im</strong> Alter von 94 Jahren.<br />
Umfangreicher Leubnitzer Besitz mit Herrenhof und Wirtschaftsgasthof<br />
gehörte früher zum Kloster Altzelle bei Nossen aufgrund herrschaftlicher<br />
Schenkung durch Markgräfin Elisabeth von 1288. Der<br />
Wirtschaftsgasthof ist eines <strong>der</strong> ältesten Häuser von Dresden mit<br />
Jahreszahlwappen von 1572, Dieser „Alte Klosterhof―, war bis zu seinem<br />
Abbruch in <strong>der</strong> DDR-<strong>Zeit</strong> noch erhalten. Er war ein beson<strong>der</strong>es<br />
Studienobjekt von RÜHLE, um dessen Abriß er lei<strong>der</strong> vergebens<br />
gekämpft hat; er war <strong>der</strong> Meinung, daß es <strong>der</strong> Standort eines früheren<br />
Burgwards gewesen sei, so wie auch <strong>der</strong> benachbarte Burgward in<br />
Dresden-Briesnitz. Siehe unten! Es ist auch nicht ganz<br />
unwahrscheinlich, daß das Geschlecht LEIBNIZ, dem <strong>der</strong> große<br />
Universalgelehrte Gottfried Wilhelm LEIBNIZ, 1646-1716, angehörte,<br />
seinen Ursprung und Namen auf Leubnitz bei Dresden zurückführt,<br />
zumal seine frühest erforschten LEIBNIZ-Ahnen Verwaltungsbeamte in<br />
herrschaftlichen Diensten in Sachsen waren. Dazu später mehr.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 517<br />
Daß <strong>der</strong> jahrzehntelange in Dresden-Leubnitz wohnende passionierte<br />
He<strong>im</strong>atforscher RÜHLE - mit Fachwissenschaftlern in regem<br />
Erfahrungsaustausch -, an HEYDENREICHs, ―Kurzer Geschichte des<br />
Kirchspieles Leubnitz bei Dresden― von 1878, manches auszusetzen<br />
hatte, ist wohl verständlich. Dr. Eduard HEYDENREICH, 1852-1915, war<br />
<strong>der</strong> Sohn eines Leubnitzer Pfarrers, dem <strong>der</strong> „dankbare Sohn, dem<br />
lieben Vater Herrn Julius HEYDENREICH zu seinem<br />
fünfundzwanzigjährigen Amtsjubiläum als Pfarrer zu Leubnitz am 20.<br />
Juni 1878― diese Chronik gewidmet hatte. Eduard HEYDENREICH hatte<br />
von 1871-1876 in Leipzig Philologie und Geschichte studiert und war<br />
gerade einmal 26 Jahre alt, als er sein erstes wissenschaftliches Werk,<br />
die Leubnitzer Chronik „auf Grund <strong>der</strong> Archive bearbeitet und mit<br />
fortlaufenden Quellennachweisungen versehen― geschrieben hatte.<br />
Damals war E. HEYDENREICH noch Oberlehrer am Gymnasium<br />
Albertinum in Freiberg in Sachsen. 1902 wurde HEYDENREICH an das<br />
Kgl. Sächsische Ministerium des Inneren berufen. E. HEYDENREICH<br />
wurde zu einem Vorkämpfer <strong>der</strong> wissenschaftlichen und praktischen<br />
Genealogie zugleich. Berühmt wurde er vor allem durch die Herausgabe<br />
seines zweibändigen „Handbuches <strong>der</strong> praktischen Genealogie―<br />
(1911/1912), an dem auch namhafte Genealogen, wie Otto von<br />
DUNGERN, Otto FORST-BATTAGLIA, Robert SOMMER, Armin TILLE<br />
u. a. beteiligt waren.<br />
Als mich RÜHLE auf diese Chronik aufmerksam machte, war sie mir<br />
nur vom Hörensagen bekannt. Durch eine Beziehung gelang es mir zur<br />
DDR-<strong>Zeit</strong> über das Dresdner Stadtarchiv eine Kleinbild-Verfilmung<br />
dieser über 100 Seiten umfassenden wertvollen Chronik meines<br />
Volksschulortes zu bekommen.<br />
RÜHLE schreibt dann weiter: „Hatte ich Ihnen schon geschrieben, daß<br />
<strong>im</strong> Obstgarten von Ihrer großelterlichen Villa bei <strong>der</strong> Ziegelei<br />
umfangreiche vorgeschichtliche Dinge liegen. Vor mehr als 5 Jahren fing<br />
man dort an, Grund zu graben für einen Konsumladen, dessen Bau aber<br />
bis heute unterblieb. Wir konnten dabei mehrere Urnen bergen, zahllose<br />
Scherben, also Reste einer Siedlung. Lei<strong>der</strong> stellte das Institut weitere<br />
Grabungen ein, wegen an<strong>der</strong>er dringen<strong>der</strong>er Objekte. In <strong>der</strong> Bronzezeit<br />
scheinen auch bei uns die später versumpften Bachauen trocken<br />
gelegen zu haben und besiedelt gewesen zu sein. Fanden sich doch<br />
auch mehrfach in <strong>der</strong> JOHNschen Gärtnerei an <strong>der</strong> Bo<strong>der</strong>itzer Str.<br />
Steinbeile, eines mit Bohrung.― [...]<br />
12 Jahre später 1978 entschloß man sich dann bei neuerlichen<br />
Planierungsarbeiten nochmals an gleicher Stelle <strong>im</strong> Obstgarten meiner<br />
Großeltern (Gostritzer Str.) archäologische Grabungen durch den<br />
damaligen Bezirksbodendenkmalspfleger Reinhard SPEHR<br />
durchführten zu lassen. Einer Dresdner <strong>Zeit</strong>ungsnotiz (Union 13.4.1978):<br />
„Dreitausend Jahre altes Urnengräberfeld am Rande <strong>der</strong> Flur von<br />
Leubnitz entdeckt― entnehme ich: „Nach zweitägigen Grabungen war<br />
folgendes gesichert: Unter dem Humushorizont lag ein Urnengräberfeld<br />
mit etwa 100 Bestattungen aus <strong>der</strong> späten Bronzezeit (9. und 8.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 518<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t v. Chr.). Zu Reinhard SPEHRs Ausbeute zählten rund 20<br />
Kilogramm Bruchstücke von gut verzierten Urnen mit Lehmbrand und<br />
Beigefäßen, sowie eine verzierte Schale.[…] Der neue Fund – in unserer<br />
Registratur hat er die Nummer 293 <strong>im</strong> Stadtgebiet von Dresden – belegt<br />
aber einmal mehr, daß die leichten Hanglagen von Leubnitz, Gostritz,<br />
Mockritz und Kaitz schon vor mehreren tausend Jahren eine<br />
siedlungsfreundliche Gegend gewesen sind. […] Interessant ist zum<br />
einen die Lage des Gräberfeldes unmittelbar in <strong>der</strong> Nöthnitzbachaue,<br />
zum an<strong>der</strong>en <strong>der</strong> etwa 40 bis 50 Zent<strong>im</strong>eter mächtige neolithische<br />
Schwarzerdehorizont, den wir unter dem bronzezeitlichen angestochen<br />
haben. Der Fund ist ein Zeugnis für die dichte Besiedlung <strong>im</strong> Löß-Lehm-<br />
Gebiet am südlichen Randstreifen <strong>der</strong> Dresdner Elbtalweitung.―<br />
RÜHLE schreibt dann weiter:<br />
„Jetzt haben wir Sorgen wegen des 1000-jährigen Klosterhofes. Trotz<br />
aller Bemühungen übern<strong>im</strong>mt ihn <strong>der</strong> Staat nicht, und es besteht<br />
durchaus die Gefahr des Abbruches durch diese völligen Ignoranten in<br />
den Ämtern. Arno LANGE war jetzt 80 Jahre alt, sein Sohn war dazu<br />
von drüben da. […] Wußten Sie, daß er zuletzt als Professor an <strong>der</strong><br />
Tharandter Forstschule tätig war?―<br />
„In <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>schrift „Sächsische He<strong>im</strong>atblätter― (1966), Heft 6, S. 514-<br />
523, veröffentlichte RÜHLE einen wertvollen Artikel vom „Alten<br />
Klosterhof― mit Grundrißskizzen und zwei Zeichnungen unter dem Titel.<br />
„Der Burgward Leubnitz bei Dresden―. Eine Zeichnung stammt von Carl<br />
August RICHTER, dem Vater von Ludwig RICHTER, wo außer dem<br />
„Klosterhof― auch noch <strong>der</strong> Bauernhof mit Einfahrt (dem Geburtshaus<br />
meiner Mutter!) zu sehen ist, <strong>der</strong> dem „Klosterhof― schräg gegenüber<br />
liegt. Vor dem Krieg war <strong>der</strong> „Klosterhof― eine Gaststätte (das<br />
„Klosterstübel― mit spätgotischer Sterngewölbedecke).<br />
Prof. Arno LANGE war nämlich danach mein Chemie-Lehrer an <strong>der</strong><br />
Dresdner Oberschule Reick, die ich ab 1949 besuchte. Und er war <strong>der</strong><br />
zweite Chemie-Lehrer, <strong>der</strong> dann meinen Entschluß, Chemie zu<br />
studieren, besiegelt hat. Daß Arno LANGE - bereits auch <strong>der</strong> Biologie-<br />
Lehrer meiner Mutter! - ein großer Familienforscher war und sehr aktiv<br />
<strong>im</strong> allerersten bürgerlichen Genealogie-Verein Deutschlands, dem<br />
„Roland― in Dresden vor dem Krieg gewirkt und dort auch publiziert<br />
hatte, wußte ich damals noch nicht. Meine Neigung zur<br />
Familienforschung wurde eigentlich durch keine Vorbil<strong>der</strong> aus <strong>der</strong><br />
eigenen Familie o<strong>der</strong> dem Bekanntenkreis angeregt. Diese Neigung<br />
kam wohl aus <strong>der</strong> eigenen inneren Wissbegier in Vererbungsfragen<br />
(MENDELsche Gesetze), die durch das Lesen aus naturkundlichen<br />
Büchern, beson<strong>der</strong>s wohl <strong>der</strong> Evolutionslehre (DARWIN u. HAECKEL)<br />
noch weiter lebendig wurde. Bereits mit 16 Jahren begann ich<br />
Familienurkunden zu sammeln, für die mütterliche Seite waren lei<strong>der</strong><br />
zunächst nur mündliche Überlieferungen die Ausgangsbasis. Als ich<br />
1953 mit meinen Eltern als 18-jähriger aus <strong>der</strong> DDR über West-Berlin<br />
nach <strong>der</strong> Bundesrepublik flüchtete, hatte ich jedoch schon eine kleine<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 519<br />
Ahnen-Zettelkartei <strong>im</strong> Flüchtlingsgepäck versteckt dabei! Die<br />
Familienurkunden väterlicherseits hatte ich sicherheitshalber <strong>im</strong><br />
Geburtshaus meiner Mutter (bei Oma, Tante, Onkel und Cousine) in<br />
Leubnitz hinterlegt. Von dort aus wurden mir diese Unterlagen später in<br />
zahlreichen kleinen Schüben nach Bayern nachgesandt. -<br />
Es sei noch aus einem RÜHLE-Brief vom 2. Juni 1966 folgendes<br />
zitiert:<br />
„In den letzten Tagen kam ich endlich wie<strong>der</strong> einmal mit Hans<br />
HÄNICHEN zusammen. Ich erfuhr dabei, daß Sie noch nicht an ihn<br />
geschrieben haben. Er ist gern bereit Ihnen Auskunft über Ahnen zu<br />
geben, wenn Ihnen solche noch fehlen. Der Pfarrer [Oskar] HÄNICHEN<br />
bei Zittau hat seine Kenntnisse zum großen Teil von ihm. Es ist<br />
erstaunlich, was er zusammengebracht hat. Dabei ist er sehr genau und<br />
hat schon viele Fehler an<strong>der</strong>er Forscher aufgedeckt. Ich stellte auch<br />
gemeinsame Ahnen mit ihm bei Mühlberg fest. Walpurga HÄNICHEN<br />
usw., von denen Sie mir voriges Jahr schrieben, waren ihm natürlich<br />
sofort gegenwärtig und er bestätigte die Richtigkeit Ihrer Angaben. Es ist<br />
traurig, wie dieses tüchtige Bauerngeschlecht <strong>der</strong> HÄNICHEN abtreten<br />
mußte. […] Daß Prof. Arno LANGE <strong>im</strong> Februar gestorben ist, haben Sie<br />
gewiß noch nicht erfahren. Er lag ein Vierteljahr <strong>im</strong> Krankenhaus und<br />
muß noch sehr gelitten haben. Kurz zuvor waren wir noch zusammen in<br />
einem botanischen Kolloquium. Seine umfangreiche Kartei über<br />
Hun<strong>der</strong>te von Bauerngeschlechtern <strong>der</strong> Colditzer Gegend hat das<br />
Hauptstaatsarchiv übernommen. Seine Frau zieht zu ihrem Sohn Dr.<br />
Günter LANGE nach Ludwigshafen.―<br />
Aufgrund meiner kurzen genealogischen Korrespondenz mit Prof.<br />
Arno LANGE, hatte ich über seine Witwe bereits eine Todesanzeige<br />
erhalten. Die Korrespondenz kam dadurch zustande, daß LANGE in <strong>der</strong><br />
genealogischen westdeutschen Fachzeitschrift „Archiv für<br />
Sippenforschung― (1964), H. 16, einen Artikel („Anna -Ein<br />
Indizienbeweis―) unter seiner Dresdner Adresse veröffentlicht hatte.<br />
Daraufhin meldete ich mich bei ihm <strong>im</strong> Juni 1965 aus München nach 15<br />
Jahren! Lei<strong>der</strong> dauerte unsere rege Korrespondenz nur ein halbes Jahr;<br />
schon am 20. März 1966 ist er nach kurzer schwerer Krankheit mit 80<br />
Jahren verstorben. Über seinen zweiten Sohn, Prof. Dr. Hermann<br />
LANGE in Tübingen, wurden mir dann auch freundlicherweise Arno<br />
LANGEs berühmte Kreisahnentafel zum Kopieren ausgeliehen, woraus<br />
auch eine Dynastenbrücke in den Hochadel ersichtlich war. Ein nicht<br />
allzu häufiger Fall, daß von einem sächsischen Bauerngeschlecht <strong>der</strong><br />
Gegenwart über eine illegit<strong>im</strong>e Adelsabstammung („natürlicher― Sohn)<br />
eine lückenlose Abstammungsreihe bis zur Karolinger <strong>Zeit</strong> noch<br />
nachgewiesen werden konnte! „In <strong>der</strong> 8. Ahnen-Generation heiratet am<br />
17.11.1678 in Oberbobritzsch <strong>der</strong> kurfürstliche Hegereiter Christoph<br />
EDELMANN eine Beata Julina KREMPE, Tochter des Jobst Friedrich<br />
KREMPE aus Lichtenstein, <strong>der</strong> sich als Sproß des Geschlechts GREMP<br />
von FREUDENSTEIN erwies― (Kurt WENSCH). Solche Ergebnisse sind<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 520<br />
bei bürgerlichen und beson<strong>der</strong>s rein bäuerlichen Ahnenschaften nur<br />
sehr selten nachzuweisen. Nur wer so systematisch wie Arno LANGE<br />
mit großem <strong>Zeit</strong>aufwand die einzelnen Heiratskreise seiner<br />
westsächsischen Ahnen nicht nur aufgrund <strong>der</strong> Kirchenbücher, son<strong>der</strong>n<br />
auch aller Kaufbücher und an<strong>der</strong>er Nebenbücher durchforscht, und zwar<br />
ganzer Dörfer analog <strong>der</strong> Bearbeitungstechnik von Ortsfamilienbüchern,<br />
kann zu einer solchen Vollständigkeit (= Erforschtheitsgrad) wie LANGE<br />
kommen. Eine <strong>der</strong> weitest erforschten bürgerlichen mitteleuropäischen<br />
Ahnentafeln (RÜBEL-BLASS durch RUOFF) kommt in <strong>der</strong> 9.<br />
Ahnengeneration auf 78 % (400/512), auch LANGE konnte seine<br />
Ahnenlisten hier noch fast auf den gleichen Wert erforschen: 78%<br />
(399/512).<br />
Aus eigener längerer Beobachtung <strong>im</strong> Rahmen meiner Mitgliedschaft <strong>im</strong><br />
Ahnenlistenumlaufverfahren <strong>der</strong> „Astaka― können gerade einmal etwa 10<br />
% <strong>der</strong> Ahnenlisteneinsen<strong>der</strong> ihre Ahnentafel vollständig, bis zur 6.<br />
Ahnengeneration, also 100% (64/64) erforschen, wozu ich mich<br />
glücklicherweise auch zählten darf. In den weiteren Generation fällt <strong>der</strong><br />
Erforschtheitsgrad <strong>im</strong> allgemeinen steil ab und die meisten<br />
Ahnenzuwächse beschränken sich auf nur wenige Linien, da bäuerliche<br />
Ahnenlinien nur vereinzelte bis über die <strong>Zeit</strong> des 30jährigen Krieges<br />
bzw. des Beginns <strong>der</strong> Kirchenbücher erforscht werden können. Bis 1973<br />
konnte ich insgesamt 786 Ahnen erforschen. Wobei die Vollständigkeit<br />
<strong>der</strong> einzelnen Generationen von <strong>der</strong> 7. bis zur 16. Ahnengeneration in<br />
folgen<strong>der</strong> Reihe abfällt: 75,0- 38, 7- 17,0- 9,8 – 4,6 – 1,8 – 0, 8 – 0,2 – 0,<br />
02 – 0,00 % und wohl weitgehend typisch für die meisten bürgerlichen<br />
Ahnenlisten ist.<br />
Kurt WENSCH, Dresden, dem ich die Ergebnisse <strong>der</strong> von mir<br />
ausgewerteten LANGE-Ahnentafel zugänglich gemacht hatte, hat dann<br />
auch eine Würdigung für Professor Arno LANGEs zum 100. Geburtstag<br />
veröffentlicht (in: Mitteldeutsche Familienkunde (1985), H. 3, S. 112-<br />
115). Dort wird auch LANGEs großer „Bauernkartei― erwähnt, die in 50<br />
Kästen ca. 70.000 Zettel für etwa 140 Dörfer <strong>der</strong> Colditz-Leisniger<br />
Gegend enthält. Dem Familienforscher Detlev PAPSDORF konnte ich<br />
zwei Bil<strong>der</strong> (eine Schülerkarikatur LANGEs auf einer botanischen<br />
Exkursion von 1948 mit Pflanze in erhobener Hand!) für seine<br />
Internetseite zur Verfügung stellen, wo er aus LANGEs berühmter<br />
„Bauernkartei― alle relevanten westsächsischen Ortschaften für die<br />
Familienforscher aufgelistet hat.<br />
http://www.familienarchiv-papsdorf.de/bauka.htm<br />
Am 13. Juni 1966 schrieb ich aus dem Urlaub: „Lieber Herr RÜHLE!<br />
Über Ihren Brief habe ich mich riesig gefreut, und ich danke dafür ganz<br />
herzlich. Er erreichte uns gerade <strong>im</strong> Urlaub. Kürzlich bin ich mit <strong>der</strong><br />
Zusammenstellung <strong>der</strong> Ahnentafeldaten, die ich in den letzten 10 Jahren<br />
sammeln konnte, fertig geworden. Diese Ahnenliste habe ich auf<br />
Matrizen geschrieben und vervielfältigen lassen. Jetzt ist es nun<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 521<br />
bedeutend einfacher, mit interessierten Forschern in Verbindung zu<br />
treten.<br />
Sobald ich wie<strong>der</strong> in München bin, werde ich Herrn HÄNICHEN in<br />
Altdobritz ein Exemplar <strong>der</strong> Ahnenliste, das bereits für ihn best<strong>im</strong>mt ist,<br />
zugehen lassen. Geschmunzelt habe ich über Ihre amüsant-launigen<br />
Bemerkungen hinsichtlich des „biologischen Wahrheitsgehaltes― <strong>der</strong><br />
„Ahnentafel-Filiationen―! (BOILEAU, Pfarrer OPITZ!). Ich bescheide mich<br />
mit einem Bild <strong>der</strong> Vorfahren, wie es sich auf Grund <strong>der</strong> auffindbaren<br />
Quellen ergibt, eingedenk, daß die „biologische Wirklichkeit―<br />
möglicherweise auch „etwas abseits― davon liegen kann!!<br />
Aber allein das Statistische sowie das soziologisch-he<strong>im</strong>atkundliche<br />
Element solcher Forschung ist mir Reiz und Ansporn für dieses mein<br />
Steckenpferd. Unter diesem Aspekt betrachtet, erscheint mir das<br />
zuweilen „Fragliche― in <strong>der</strong> Ahnenforschung auch nicht als Grundfrage.<br />
Die nackten Lebensdaten, woraus meine Liste ja fast nur besteht, sind<br />
nicht das eigentliche Ziel meiner Bemühungen. Sind sie doch nur bloße<br />
Kenndaten eines fleischlosen Skelettes! Das schönste<br />
„Fleischstückchen― ist mir bisher <strong>der</strong> Kaufbrief des Spitzenahns meiner<br />
Stammliste aus dem Jahre 1698, Andreas RICHTER aus Bräunsdorf<br />
(Ahn 128). [Später konnte ich meine Stammlinie noch durch freundliche<br />
Pfarrerhilfen in Westsachsen und über die von Kurt WENSCH betreute<br />
„Astaka― bis zum Spitzenahn Nr. 2048 Georg RICHTER, „dem Wirt in<br />
Rußdorf―, + daselbst 29.4.1582, ausdehnen!]. Den Kaufbrief fand vor<br />
etwa 5 Monaten <strong>der</strong> Archivpfleger Herr W. HUNGER, Dresden, <strong>im</strong><br />
Landeshauptstaatsarchiv Dresden. Da er recht interessant und sehr<br />
sauber geschrieben ist, fertigte er davon Kleinbildnegative an, die ich mir<br />
hier kopieren ließ. Da ich mir vorstelle, daß auch Sie sich dafür<br />
interessieren, sende ich Ihnen demnächst eine Photokopie des<br />
Kaufbriefes zusammen mit einem Exemplar meiner Ahnenliste (zum<br />
Verbleib). Vielleicht finden Sie unter den ca. 700 erforschten Ahnen,<br />
wovon <strong>der</strong> größte Teil <strong>im</strong> Raum Dresden-Meißen saß, einige Bekannte,<br />
die Sie von Ihren he<strong>im</strong>atkundlichen Studien her „kennenlernten―.<br />
Aber allein schon das Bewußtsein, Ihnen meinem noch verehrten<br />
ehemaligem Lehrer, dem Kenner und Erforscher <strong>der</strong> alten He<strong>im</strong>at,<br />
dadurch einen beson<strong>der</strong>en Genuß zu überbringen, erfüllt mich mit<br />
großer Freude! […] Ganz beson<strong>der</strong>s gefreut habe ich mich, von Ihnen<br />
zu erfahren, daß Sie noch <strong>im</strong>mer mit großem Eifer und erstaunlicher<br />
Rüstigkeit die schöne He<strong>im</strong>at durchstreifen können [40 km <strong>der</strong> uralten<br />
Völkerstraße von Pirna nach Westen!].<br />
Am 2. Aug. 1966 bedankte sich RÜHLE für die Übersendung meiner<br />
Ahnenliste, nachdem er den Eingang bereits kurz mit einer Karte<br />
bestätigt hatte („nur schnell die Bestätigung des Eingangs Ihrer werten<br />
Sendung – zollamtlich geprüft―): „Mein lieber Herr <strong>Richter</strong>, vor einiger<br />
<strong>Zeit</strong> war Herr [Hans] HÄNICHEN hier, und wir haben da Ihrer gedacht.<br />
Er wollte Ihnen ausführlich zu Ihrer Ahnenliste schreiben, so daß ich<br />
meinerseits nicht darauf einzugehen brauche. Nur hätte ich unter I.<br />
[Quellen] an <strong>der</strong> Stelle meines Namens lieber den seinen gesehen, da<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 522<br />
einige <strong>der</strong> von Ihnen angeführten Herrschaften ihr Wissen von ihm<br />
haben – wie er sagte. Er ist ja neben A. LANGE wohl <strong>der</strong> bedeutendste<br />
Erforscher seinen Ahnen – und sehr zuverlässig. Was nicht genau<br />
belegt werden kann, scheidet bei ihm aus. Am übersichtlichsten ist ja die<br />
von A. LANGE angewandte Darstellung <strong>der</strong> Ahnen in konzentrischen<br />
Kreisen. Kennen Sie die? Im innersten Kreise <strong>der</strong> Aufsteller <strong>der</strong> Tafel,<br />
also Sie, <strong>im</strong> nächsten oben Vater, unten Mutter, usw., so daß <strong>im</strong> oberen<br />
Teil die väterlichen, <strong>im</strong> unteren die mütterlichen Ahnen erscheinen und<br />
die Zusammenhänge sehr übersichtlich sind. A. LANGE hat dieses<br />
Verfahren schon 1933 in <strong>der</strong> Ausstellung vom ROLAND angewandt.<br />
Beson<strong>der</strong>s interessant ist <strong>der</strong> Kaufbrief Ihres Spitzenahns nun aber<br />
nicht, so sind doch alle abgefaßt; ein „Fund― hat Herr HUNGER damit<br />
nicht gemacht. Sie finden sich so in schöner Schrift zu Tausenden in<br />
den Gerichtsbüchern. Da konnte A. LANGE mit an<strong>der</strong>en Dingen<br />
aufwarten. Ich weiß nicht mehr, wie viele verurteilte Wilddiebe er unter<br />
seinen Vorfahren hatte – einer hatte Selbstmord begangen, die<br />
Angehörigen gingen mit zum Waldrande, wo er verscharrt werden sollte,<br />
um auszuschließen, daß ihn <strong>der</strong> Scharfrichter nicht den Bauch<br />
aufschneide, um daraus Selbstmör<strong>der</strong>salbe zu bereiten. […]. Ich habe<br />
LANGE oft gebeten, diese kulturgeschichtlichen Funde aus seiner<br />
Ahnengeschichte zusammenzuschreiben und zu veröffentlichen, lei<strong>der</strong><br />
ist es nicht dazu gekommen.<br />
Natürlich ist uns jede Zeile <strong>der</strong> Kaufbriefe usw. wertvoll. [Hans]<br />
HÄNICHEN hat sich sehr viele solcher Urkunden reproduzieren lassen.<br />
– Sie haben recht, daß erst dieses „Fleisch― um die Knochen die<br />
Forschung reizvoll macht. Man darf sich deshalb nicht auf die<br />
Kirchenbücher beschränken, die liefern nur das Knochengerüst. Es ist<br />
schade, daß Sie nicht selbst hier in den Archiven arbeiten können. Ihre<br />
Vorfahren um Leubnitz sind mir vielfach begegnet. Die ältesten <strong>im</strong><br />
Totenbuch <strong>der</strong> Leubnitzer Kirche <strong>im</strong> 15. Jahrhun<strong>der</strong>t aus Gaustritz [Es<br />
folgt eine Aufzählung einiger Namen in <strong>der</strong> damaligen Schreibweise,<br />
ohne Großbuchstaben]. Ich freue mich <strong>im</strong>mer, daß Sie mit Ihrer Familie<br />
auch in den Ferien <strong>der</strong> deutschen He<strong>im</strong>at treu bleiben und keine Grüße<br />
aus fremden Gegenden senden. Die Schönheiten unseres Vaterlandes<br />
sind nicht auszuschöpfen. In alter Treue Ihr E. K. RÜHLE―<br />
Am 28. Aug. 1966 bedankte ich mich kurz bei RÜHLE und erkundigte<br />
mich bei ihm über den berühmten Bauernastronomen Johann Georg<br />
PALITZSCH, 1723-1788, aus Prohlis, das damals zum Kirchspiel<br />
Leubnitz gehörte. „Vieles Interessantes haben Sie mir darin wie<strong>der</strong><br />
mitgeteilt. Von Herrn HÄNICHEN habe ich bisher noch keine Nachricht.<br />
In den letzten zwei Jahren habe ich aus einer he<strong>im</strong>atkundlichen und<br />
soziologischen Neigung heraus versucht, die Ahnen des<br />
Bauernastronomen J. G. PALITZSCH zu erforschen. [insgehe<strong>im</strong> spielte<br />
natürlich bei mir ebensosehr die Hoffnung mit, eine Ahnengemeinschaft<br />
zu diesem berühmten PALITZSCH erforschen zu können]. Lei<strong>der</strong> bisher<br />
so gut wie vergebens. Alle auffindbaren Quellen in den Münchner<br />
Archiven halfen mir kaum. Auch Herrn WENSCH ist keine Ahnentafel<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 523<br />
des J. G. PALITZSCH bekannt. Anfragen bei den Pfarrämtern Nossen<br />
und Deutschenbora nach dem Traueintrag (1722?) waren negativ. Ob<br />
Ihnen, lieber Herr RÜHLE, jener Traueintrag wohl zufällig begegnet ist?―<br />
Schon am 31. August antwortet RÜHLE auf meine Frage: „[…] „Die<br />
Wissenschaft ist und bleibt, was einer ab vom an<strong>der</strong>n schreibt― – das<br />
fängt bei PALITZSCH gleich mit seiner Mama an. Vor 60 Jahren war ich<br />
sehr stolz, daß sie aus Nossen stammte, da ich dort auf dem Seminar<br />
war; später wun<strong>der</strong>te ich mich aber doch, daß PALITZSCH soweit auf<br />
Heirat ausging und eine Städterin in sein Gut holte! Sie stammt natürlich<br />
aus Neuostra! [Abkürzung]. „Martha HEININ [HEINE] getauft 1701, 12.3.<br />
aus Neuostra.― PALITZSCH hat auch nicht die Kartoffeln „erfunden―,<br />
ebenso hatte er keine int<strong>im</strong>en Beziehungen zum kurfürstlichen Hofe<br />
usw. Um große Männer ranken sich ja <strong>im</strong>mer Legenden. THEILE hat bei<br />
PALITZSCH sehr dazu beigetragen – und je<strong>der</strong> schreibt es ihm nach.<br />
[…] Ich freue mich sehr über Ihren Forschertrieb. Mit Dresdner Dingen<br />
werden Sie aber in München nicht vorwärts kommen. Können Sie Ihre<br />
Ferien nicht einmal in Altleubnitz verbringen o<strong>der</strong> in München dortigen<br />
Größen nachgehen?<br />
In München wohnt übrigens auch Erich KÄSTNER – haben Sie irgend<br />
eine Verbindung zu ihm – hält er Leseabende? Er soll aber schwer<br />
zugänglich sein. […] Herrn HÄNICHEN werde ich aufmöbeln!<br />
Lieber Herr RICHTER, umstehendes für den Fall, daß Ihnen noch die<br />
Güter in Leubnitz unbekannt sind, die Ihre Vorfahren hier besaßen. Von<br />
allen können Sie so schöne Kaufverträge haben wie von Andreas<br />
RICHTER!― [Eine ganze Rückseite zählt RÜHLE Seiten und Ahnen-<br />
Nummern aus meiner Ahnenliste auf, wovon er solche Kaufbriefe kennt!<br />
Dabei sind auch einige aus <strong>der</strong> Reformationszeit vom 16. Jahrhun<strong>der</strong>t,<br />
die <strong>im</strong> Türkensteuerregister erwähnt sind o<strong>der</strong> die Schöffen bei<br />
irgendwelchen Prozessen waren, wie z. B. ein Gregor HENGEN in <strong>der</strong><br />
Mordsache HANTZSCH (mit Steinkreuz <strong>im</strong> Hohlweg), erwähnt 1525.<br />
„Meine Frau ist gestern von Hamburg zurück, die trüben Tage des<br />
Alleinseins sind vorüber. Und mitgebracht hat sie nicht einen<br />
Briefkastenverschluß mit Klappe von <strong>der</strong> Straße her, durch den die<br />
Postsachen eingesteckt werden – sie hatte kein Geld mehr dazu! Hier<br />
fertigt man sie wahrscheinlich aus Sparsamkeit nur noch bedeutend<br />
kleiner, so daß ich sie an meinem 40jährigen Holzkasten nicht anbringen<br />
kann. Der alte Verschluß ist völlig unbrauchbar geworden. Darf ich Sie<br />
damit behelligen – auf Ihr freundliches Anerbieten hin? Die Einfuhr wird<br />
hoffentlich erlaubt sein!― [eine Maßskizze hat er aufgezeichnet].<br />
Daraufhin schrieb ich am 12. September 1966: „[…] Sie glauben ja<br />
gar nicht, wie sehr ich mich über Ihren lieben Brief vom 31. 8. gefreut<br />
habe. Ganz beson<strong>der</strong>en Dank für die Mitteilung, daß Martha HEYNE<br />
(HEUNE) am 12.3.1701 getauft wurde und aus Neuostra stammt! Dieser<br />
mir so interessanten Mitteilung haftet natürlich nunmehr ein ganz<br />
beson<strong>der</strong>s sachverständiger wie liebenswürdiger Akzent an! Sicher<br />
waren es bisher nicht viele, die sich mit J. G. PALITZSCH’ Vorfahren<br />
beschäftigten. Herr K. WENSCH, Gostritzer Str., kennt jedenfalls<br />
niemanden, <strong>der</strong> sich außer [Dr. F.] THEILE hierum bemühte. Letztes<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 524<br />
Jahr konnte ich eine schöne Lithographie von J. G. PALITZSCH ( von F.<br />
A. Z<strong>im</strong>mermann) aus einer Frankfurter Antiquariatsbuchhandlung<br />
erstehen. Auf jeden Fall seien Sie – lieber Herr RÜHLE – versichert, daß<br />
ich für alle weiteren Daten zu J. G. PAHLITZSCH’ Vorfahren ein<br />
„dankbar offenes Ohr― besitze!<br />
Münchner Größen interessieren mich eigentlich wenig, ohne dabei<br />
etwas gegen die Bajuwaren schlechthin zu haben! Erich KÄSTNER ist<br />
wohl jetzt <strong>im</strong> Tessin ansässig. Sahen neulich eine Fernsehsendung über<br />
ihn. Auch die zahlreichen Angaben zu meinen Leubnitzer Ahnen sind<br />
mir bis auf die Güterverhältnisse <strong>der</strong> Ahnen 24 und 48 [INKERMANN]<br />
unbekannt gewesen! Die Daten sind mir also eine wertvolle<br />
Bereicherung meiner Sammlung. Schön, daß Sie mir die genauen<br />
Quellenangaben zu den Kaufbuchdaten mitteilten.<br />
Die Erforschung meiner Leubnitzer Ahnen besorgte mir übrigens <strong>im</strong><br />
Jahre 1957 <strong>der</strong> Kirchenbuchbeflissene Herr Willy RICHTER, Dresden,<br />
Kronenstr., zu meiner Zufriedenheit [kein Verwandter!]. Fast nur hier war<br />
man bisher bei meiner Forschung gezwungen, zu den Kaufbüchern<br />
Zuflucht zu nehmen. Lei<strong>der</strong> sollen die Leubnitzer Kirchenbücher ja sehr<br />
lückenhaft sein, und sie sind wohl auch <strong>im</strong> letzten Krieg noch weiter<br />
dez<strong>im</strong>iert worden. Von einigen meiner Leubnitzer Ahnen erfuhr ich daher<br />
vereinzelt auch etwas über <strong>der</strong>en Besitzverhältnisse. Allerdings wurden<br />
die Kaufbücher lediglich <strong>im</strong> Hinblick auf die Feststellung bzw. Erhärtung<br />
<strong>der</strong> Filiationen [= Abstammungen] zu Rate gezogen (Kosten!). Auf jeden<br />
Fall war es nur möglich, an Hand <strong>der</strong> Leubnitzer Kaufbücher z. B. die<br />
Herkunft meiner Ahnenfrau Nr. 25 zu klären:<br />
Kaufbuch 404/ Bl. 425 „Dresden 4.10.1837 bekennt Christian<br />
Traugott<br />
INKERMANN, daß ihm seine Ehefrau Anna Sophia geb. DIETZE<br />
500 Thlr. baar<br />
zugebracht―<br />
und<br />
Kaufbuch 403/ Bl. 236b „Johann Gottfried PAHLITZSCH verkauft<br />
sein 1 ½ Hufengut<br />
in Leubnitz zwischen LEHRKNECHT und HEMPEL an Johann<br />
George DIETZE,<br />
Bauer und Nachbar in Leuteritz für 5275 Thaler, 6.5.1805. Conf.<br />
15.5.1805. –<br />
14.5.1806 bekennt <strong>der</strong> Käufer, daß ihm<br />
seine Ehefrau Regina DIETZIN geb. TÖGELIN 200 fl. Eingebracht<br />
habe.―<br />
Diese Ahnfrau 25 [Hanna Sophia DIETZE, * Leuteritz 1.2.1798, +<br />
Leubnitz 21.1.1844] war dann Ausgangspunkt für die meisten meiner<br />
Briesnitzer Ahnen.<br />
Am Samstag besorgte ich für Sie den Briefkastenverschluß. Es gab in<br />
dieser Größe lei<strong>der</strong> nicht viel Auswahl; es ist eine normale Alu-<br />
Ausführung. Hoffentlich entspricht er Ihren Wünschen und<br />
Anfor<strong>der</strong>ungen. Gern bin ich bereit, wenn er nicht paßt o<strong>der</strong> gefällt, mich<br />
nach einem ANDEREN Exemplar umzuschauen. Morgen geht das<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 525<br />
Päckchen ab, meine Frau wird noch ½ Pfund Kaffee und etwas<br />
Schokolade zupacken. Möge <strong>der</strong> Briefkastenverschluß Ihnen in Leubnitz<br />
noch recht lange <strong>Zeit</strong> als Eingangspforte vieler möglichst nur<br />
angenehmer Botschaften dienen!!<br />
Eine unendlich traurige Botschaft erreichte uns dieser Tage. Mein<br />
Forscherfreund Pfarrer Oskar HÄNICHEN ist nach langem schweren<br />
Leiden verstorben! Es ist sicher angemessen, hier eine Lanze für ihn zu<br />
brechen! Ich glaube einfach, mir das von <strong>der</strong> Seele schreiben zu<br />
müssen! Es sollen sich um diesen Mann zwischen uns doch keinesfalls<br />
irgendwelche bedauerlichen Mißverständnisse festsetzen!<br />
Er war ein eifriger und äußerst sachkundiger wie selbstloser Forscher.<br />
Ich verdanke ihm unsagbar viel! Ein Vorwurf, er habe mehr o<strong>der</strong> weniger<br />
kritiklos die Forschungsergebnisse an<strong>der</strong>er Herrschaften übernommen,<br />
wäre wohl geradezu eine bösartige Unterstellung. Die mir von ihm<br />
mitgeteilten Daten sind jedenfalls zum überwiegenden Teil von ihm<br />
persönlich erforscht! Noch <strong>im</strong> Februar d. J. – bereits als schwerkranker<br />
Mann! – hat er „gelegentlich eines Besuchs be<strong>im</strong> Arzt in Dresden― die<br />
Kirchenbücher in Pesterwitz eingesehen und mir Anschlüsse zu neuen<br />
„Ahnengemeinschaften― geschaffen (BARTH Nr. 81 …648 [162, 163,<br />
164, 165, 166, 167, 172, 173, 174, 175, 324, 325, 649 etc.). Es war<br />
übrigens die interessante Linie KÜNTZELMANN, an <strong>der</strong> außer Oskar<br />
HÄNICHEN nach Mitteilung meines Forscherfreundes Richard WÄTZIG,<br />
Braunschweig, auch Prof. Arno LANGE mitgearbeitet hat! WÄTZIG<br />
stand ja jahrelang mit Arno LANGE wie auch Oskar HÄNICHEN in<br />
genealogischer Korrespondenz. Wie schon oft, konnte ich hier wie<strong>der</strong><br />
einmal glücklicher Nutznießer sein.<br />
Voriges Jahr waren die Vorfahren meiner Großmutter väterlicherseits<br />
nur bis zu den folgenden Spitzen erforscht: Nr. 80 (RICHTER II), 81<br />
(BARTH), 82 (BÖHMERT), 83 (IRMER), 43 (WEISSE), 88 (RUDOLPH),<br />
89 (HILBER), 90 (MÜLLER I) u. 91 (BERNHARDT). Im Juni vorigen<br />
Jahres als sich Pfarrer Oskar HÄNICHEN für ein paar Tage zur<br />
Nachkur nach einer Herzkur in Bad Liebenstein in Dresden aufhielt,<br />
erforschte er mir über 85 Vorfahren <strong>der</strong> oben genannten Ahnen aus dem<br />
Raum Possendorf, Briesnitz, Plauen und Freital-Döhlen!<br />
Freilich, er war ein Forscher aus Leidenschaft und meine Ahnentafel<br />
hatte es ihm auf Grund zahlreicher Ahnengemeinschaften wohl<br />
beson<strong>der</strong>s angetan. Auf meine Warnung, sich doch keinesfalls zu<br />
übernehmen, schrieb er mir: „Die Forschungen sind für mich lediglich<br />
Freude und haben mich auch nach <strong>der</strong> Kur nicht etwa angestrengt.<br />
Sollten Sie noch beson<strong>der</strong>e Wünsche haben, teilen Sie es mir bitte mit.―<br />
Den allergrößten Dank schulde ich Pfarrer HÄNICHEN aber durch die<br />
Überwindung eines bislang „chronisch-toten Punktes― in meiner<br />
Forschung. Seit 10 Jahren war es nämlich nicht gelungen, die Herkunft<br />
meines Ahns Johann Gottlieb DÖRING (Nr. 26) aufzuklären. Ebenso wie<br />
meine Anfragen <strong>im</strong> Pfarramt Bärnsdorf – dem ich übrigens sehr viele<br />
an<strong>der</strong>e Daten verdanke – lei<strong>der</strong> nur negativ beantwortet werden<br />
konnten, bemühte sich auch d. o. Willy RICHTER <strong>im</strong> Jahre 1958 um Ahn<br />
26. Aber lei<strong>der</strong> blieben auch seine Nachforschungen in Bärnsdorf,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 526<br />
Klotzsche, Wilschdorf und Lausa ohne Erfolg, er gab schließlich<br />
resignierend auf. Nach vielen vergeblichen Bemühungen und großem<br />
<strong>Zeit</strong>aufwand konnte mir vor 2 Jahren Pfarrer HÄNICHEN zu meiner<br />
natürlich großen Freude die Geburturkunde des Johann Gottlieb<br />
DÖRING aus Schönfeld zuschicken! Die Suche glich fast <strong>der</strong> Aufklärung<br />
eines Kr<strong>im</strong>inalfalles! Wie oft, wurde auch hier die Forschung durch<br />
uneheliche Geburt des „Probanden― erheblich erschwert. Im Taufeintrag<br />
heißt es u. a.: „Liega 18. Juni ist Anna, weil. Johann Adam JOHNENS,<br />
Gärtner und Maurers zu Liega ehel. Zweite Tochter glücklich von einem<br />
unehelichen Söhnchen entbunden worden. Dessen Vater ein lediger<br />
Bräuerbursche zu Kötzenschbroda, namens Johann George DÖRING<br />
sein soll, wie diese zum zweitenmal Geschwächte versicherte. Ihr Kind<br />
wurde am 20. ejus getauft und Johann Gottlieb DÖRING benannt.―<br />
Altersangabe <strong>im</strong> Bärnsdorfer Totenbuch st<strong>im</strong>mt mit Geburtsdatum auf<br />
den Tag genau überein. (Ähnliche, wenn auch geringere<br />
Schwierigkeiten, hatte ich in meiner RICHTER-Stammlinie bei Ahn 16!).<br />
30 DÖRING-Vorfahren hat mir Oskar HÄNICHEN dann noch bei dieser<br />
Gelegenheit aus dem Kirchenbuch Kötzenschenbroda erschlossen. Auf<br />
meinen diesbezüglichen Dank hin, schrieb mir Pfarrer HÄNICHEN<br />
seinerzeit: „Sie brauchen aber in keiner Weise beschämt o<strong>der</strong> verlegen<br />
zu sein. Das Suchen und Finden hat mir ja selber Freude gemacht, als<br />
ginge es um meine Vorfahren. So sind Sie keineswegs irgendwie in<br />
meiner Schuld. Die Auslagen, die ich hatte, haben Sie ja reichlich<br />
abgegolten. Aber ich bin auch weiterhin gern bereit, soweit ich es kann,<br />
Ihnen behilflich zu sein.―<br />
So wurde mir also Pfarrer HÄNICHEN zu einem geschätzten<br />
Forscherfreund, dessen früher Tod (63 Jahre) mich tief bewegt hat. Als<br />
Umlaufteilnehmer <strong>der</strong> Dresdner Ahnenstammkartei (Leiter: Kurt<br />
WENSCH) lernte ich ihn schon 1958 kennen. Er teilte mir bereits damals<br />
ca. 150 !! neue Ahnen aus dem Raum Lockwitz-Leubnitz mit. Sie<br />
ergaben sich auf Grund zahlreicher Ahnengemeinschaften mit seiner<br />
Ahnentafel und sonstigen Forschungsergebnissen. Möglicherweise hat<br />
Herr Hans HÄNICHEN – von dem ich bisher noch keine Nachricht erhielt<br />
– sehr viele Ahnen mit ihm gemeinsam. Vielleicht hat Hans HÄNICHEN<br />
viele dieser Ahnen auch zuerst erforscht und vielleicht hat sogar Pfarrer<br />
HÄNICHEN später darauf aufgebaut? Ich weiß es nicht! Tatsache ist<br />
aber, daß dieser Pfarrer HÄNICHEN ein leidenschaftlicher wie<br />
qualifizierter Erforscher seiner Ahnen war. Da er jährlich seinen Urlaub<br />
in Lockwitz verbrachte, wo seine Schwester das elterliche Grundstück,<br />
die ehemalige „Dreßler’sche Mühle― betreut, war er ganz gewiß hier auf<br />
fremde Hilfe nicht angewiesen! Im Gegensatz zu mir. Und <strong>im</strong><br />
allgemeinen ist ja die Gilde <strong>der</strong> Familienforscher <strong>im</strong> Austausch ihrer<br />
Daten schon <strong>im</strong>mer recht großzügig gewesen.<br />
Lieber Herr RÜHLE, bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Aber ist es<br />
nicht so: „Eines Mannes Rede ist keines Mannes Rede, man muß sie<br />
billig hören beede!―. – Es war mir wirklich ein echtes Anliegen, mir das<br />
frei von <strong>der</strong> Leber zu schreiben! Denn dieser prächtige Mensch hat es<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 527<br />
nicht verdient, etwa in genealogischen Dingen „schief angesehen―! zu<br />
werden. Nachdem voriges Jahr die älteste Schwester meiner Mutter aus<br />
Heidenau bei meinen Eltern in Fürth und bei uns zu Besuch war,<br />
besuchte uns nun dieser Tage zu unserer Freude kurz mein Onkel<br />
Walther KÜTTNER aus Leubnitz. Meine Tante Liesbeth durfte lei<strong>der</strong><br />
noch nicht mitkommen! Für heute grüße ich Sie sowie Ihre Gattin ganz<br />
herzlich in alter Verbundenheit.―<br />
Es sei hier nur noch RÜHLEs Antwort auf meinen Brief gebracht:<br />
„Dresden am 22.9.1966, das war ja eine nette „Zupackung― liebe Frau<br />
<strong>Richter</strong>! Ich belohnte mich nach jedem gestrichenen Fenster gleich mit<br />
einer <strong>der</strong> vielen fortschrittlichen Schogetten. Na, und meiner Frau wird<br />
sich ein Täßchen mit <strong>der</strong> ihr von Hamburg her so geschätzten<br />
Kaffeesorte machen. Herzlichsten Dank! Und durch Ihren so schönen<br />
Briefkastenverschluß schlüpften als erstes ein „Känguruh― mit Jungen <strong>im</strong><br />
Beutel, lieber Herr <strong>Richter</strong>. Ein einstiger Schüler, jetzt bei Zeiß in Jena,<br />
flog nach Melbourne – zum Entsetzen seiner Mutter. Beson<strong>der</strong>s scheint<br />
es ihm dort nicht zu behagen – häßliches Frühlingswetter! Der<br />
Verschluß erregte schon die Bewun<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Nachbarschaft. Nur <strong>der</strong><br />
Postfrau war das offene Loch lieber; nun muß sie doch den Deckel<br />
heben! Es paßte auf das Mill<strong>im</strong>eter genau! Auch Ihnen herzlichsten<br />
Dank! Ich werde ihn mit anmelden als Beitrag zur Verschönerung des<br />
Stadtbildes anläßlich <strong>der</strong> nächstjährigen Arbeiterfestspiele o<strong>der</strong> was es<br />
ist, zu <strong>der</strong> aufgerufen wird. Habe auch schon die Fenster gestrichen –<br />
was ich Ihnen aber nicht rate, und sei es in <strong>der</strong> eigenen Villa – hinterher<br />
freut man sich aber doch!<br />
Wegen Pfarrer HÄNICHEN werde ich mit Hans HÄNICHEN reden. Ich<br />
kenne ihn gar nicht. Ich weiß aber, daß so mancher geistiges Eigentum<br />
bedenkenlos stiehlt, so auch Max LÖFFLER, den Sie wohl kennen. Ich<br />
mußte ihn durch den Rechtsanwalt auf sein strafbares Verhalten<br />
aufmerksam machen lassen. Vielleicht hat Ihr Onkel, Herr KÜTTNER,<br />
auch den Vortrag des „jungen Gelehrten― in <strong>der</strong> Kirchgemeinde gehört,<br />
in dem er von Dokumenten gesprochen hat und man daraufhin ein 800-<br />
jähriges Jubiläum <strong>der</strong> Kirche feiern will. Als er dasselbe an <strong>der</strong> T.U.<br />
vortrug, meinte Professor H., das sei wohl nicht auf seinem M….<br />
gewachsen, er hätte es wohl von Herrn R.! Dabei hat mir <strong>der</strong> junge<br />
Mann noch ein wertvolles Bild von Leubnitz „verloren―. […] Ihre schöne<br />
Briefmarke mit dem Bildnis von LEIBNIZ habe ich meiner Leubnitzer<br />
Sammlung einverleibt. Es besteht nämlich die Möglichkeit, daß das<br />
Geschlecht von hier stammt. Sein Vater schrieb sich ja noch LEUBNITZ<br />
und ein Vorfahre unter diesem Namen saß in Altenburg. Dieser könnte<br />
ev. von unserem Dörfchen aus gelangt sein. Wollen Sie dem nicht<br />
einmal nachgehen? Bei Ihnen gibt es sicher mehr Stoff über ihn als hier.<br />
Mit nochmaligem herzlichsten Dank grüßt Sie Ihr E. K. RÜHLE― Auch<br />
Frau RÜHLE schrieb noch darunter: „Liebe Frau <strong>Richter</strong>, lieber Herr<br />
<strong>Richter</strong>, Ihr Päckchen machte bei uns ganz große Freude. Für uns<br />
sozusagen ein kostbarer Gruß aus dem Lande <strong>der</strong> unbegrenzten<br />
Möglichkeiten (als Vergleich gesehen). Als Ihre Sendung gestern<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 528<br />
ankam, spendierte ich gleich Kuchen und wir genossen dazu mit<br />
wahrhaft bachanalem Wohlbehagen Ihren köstlichen Tschibo. Seien Sie<br />
herzlichst bedankt für Ihre Liebenswürdigkeit und gegrüßt von Hela<br />
RÜHLE.―<br />
Mit <strong>der</strong> Antwort auf diesen Brief sei diese Korrespondenz<br />
abgeschlossen, die sich noch über 13 Jahre mit wertvollen<br />
he<strong>im</strong>atkundlichen und auch genealogischen Mitteilungen unter <strong>der</strong><br />
vertraulichen Anrede „Frau <strong>Arndt</strong>i und „<strong>Arndt</strong>i― fortsetzte und schließlich<br />
mit <strong>der</strong> Erblindung bei<strong>der</strong> ihr natürliches Ende fand. Nur noch Frau<br />
RÜHLE war unter großen Mühen in <strong>der</strong> Lage uns für kleine<br />
Weihnachtspäckchen zu danken. In einem Ihrer letzten Briefe schrieb<br />
sie: „Wir hoffen, daß es Ihnen „innerlich und äußerlich― gutgeht, wir<br />
hören aus den westlichen Sen<strong>der</strong>n von den Turbulenzen <strong>im</strong> allgemeinen<br />
und beson<strong>der</strong>en und am Sonntag mittags <strong>im</strong>mer den Internationalen<br />
Frühschoppen <strong>der</strong> Journalisten [geleitet damals von Werner HÖFER] –<br />
schon seit vielen Jahren, das sind die einzigen wahren<br />
Informationsquellen, denn – nun, ja, darüber schweigt des Sängers<br />
Höflichkeit!! Hoffentlich können Sie alles lesen, ich schreibe mehr nach<br />
Gefühl als nach Sicht. Augen sind ganz mies geworden und mein Mann<br />
sieht fast gar nichts mehr.― Am 2. September 1981 verstarb Ernst Karl<br />
RÜHLE <strong>im</strong> Alter von 94 Jahren.<br />
RÜHLES Hinweis vom 22.9.1966 auf Gottfried Wilhelm LEIBNIZ war<br />
mir Ansporn mich ab diesem <strong>Zeit</strong>punkt eingehen<strong>der</strong> mit ihm zu<br />
beschäftigen. Und zwar insbeson<strong>der</strong>e auch mit LEIBNIZ’ Ahnenschaft,<br />
worüber ich zunächst nur sehr wenig Angaben fand. Noch in Dresden<br />
las ich als Oberschüler das Buch „Vom Einmaleins zum Intergral― von<br />
Egmont COLERUS, wo mich beson<strong>der</strong>s das Zweierzahlensystem (das<br />
duale bzw. binäre Zahlensystem) von Gottfried Wilhelm LEIBNIZ sehr<br />
beeindruckte. Damals sah ich allerdings noch nicht, daß LEIBNIZ mit<br />
diesem System <strong>der</strong> Stammvater aller mo<strong>der</strong>nen Computer werden<br />
sollte, da ja intern <strong>der</strong> Computer nur mit diesem System rechnet. Bald<br />
sollte ich aber beruflich hautnah damit zu tun bekommen, d. h.<br />
technologisch mit <strong>der</strong> Herstellung von „rechteckmagnetischen―<br />
Ringkernspeicherelementen aus Ferriten (Eisenoxid-Werkstoffen), die<br />
als Sinterelemente mit Drahtanschlüssen zu Matrizen geflochten wurden<br />
und nur die Informationen 0 o<strong>der</strong> 1 speichern konnten. Diese<br />
Speicherringe waren die Vorläufer <strong>der</strong> Halbleitertechnik, die bald mit<br />
ihren kleineren „Chips― die Ferrittechnik ablösten.<br />
Als Genealoge entdeckte ich auch bald die enge Beziehung zwischen<br />
Dualzahlsystem und Ahnentafelstruktur aufgrund des gleichartigen<br />
Wachstumsgesetztes von Stellenwert (2 n ) einerseits und Generation<br />
(2 g ) an<strong>der</strong>erseits. Beson<strong>der</strong>s eindrucksvoll kommt dies ja in <strong>der</strong><br />
Ahnentafelnummerierung nach Stephan KEKULE von STRADONITZ<br />
zum Ausdruck.<br />
Es sei hier auf meine <strong>GeneTalogie</strong>-Seite verwiesen:<br />
http://www.genetalogie.de/artikel/html/dual/dualzahlsystem.html<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 529<br />
So wie LEIBNIZ sehr stolz auf die Entdeckung seines Zweiersystems<br />
war, das er geradezu ein „göttliches System― nannte und<br />
Gedenkmünzen mit dem entdeckten Zweierzahlensystem-Tafeln prägen<br />
ließ,<br />
http://www.genetalogie.de/bil<strong>der</strong>htm/leibman.html<br />
war ich stolz, diese Zahlenzusammenhänge zwischen Dualzahlsystem<br />
und Ahnentafelstruktur (= „Dualzahlstammbaum―) entdeckt zu haben;<br />
hatte ich doch solche Hinweise noch nirgends gefunden. Ähnlich wie <strong>im</strong><br />
Jahre 1966 bei meiner Entdeckung <strong>der</strong> „X-chromosomalen Genealogie―,<br />
die mit ihren beson<strong>der</strong>en Gesetzmäßigkeiten ganz best<strong>im</strong>mte<br />
Ahnenpositionen mit Sicherheit ausschließt und sich dadurch sehr<br />
unterschiedliche Erbwahrscheinlichkeiten für die übrigen Ahnen<br />
innerhalb einer einzigen Generation ergeben, und zwar nach <strong>der</strong><br />
Gesetzmäßigkeit <strong>der</strong> berühmten FIBONACCI-Zahlenreihe, die eng mit<br />
dem sog. „Goldnen Schnitt― verbunden ist.- Letztere Gesetzmäßigkeit<br />
habe ich allerdings erst 1979 in einer Arbeit veröffentlicht, die ich Prof.<br />
Siegfried RÖSCH zum 80. Geburtstag gewidmet habe:<br />
http://www.genetalogie.de/artikel/pdf/ar_afs79.pdf<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
15.2 LEIBNIZ’ Vorfahren in Leubnitz bei Dresden?<br />
Durch Lehrer RÜHLEs Hinweis, daß <strong>der</strong> Ortsname Leubnitz (jetzt<br />
Dresden) und <strong>der</strong> Familienname des großen LEIBNIZ eventuell in einem<br />
Zusammenhang stehen könnten, wurde natürlich meine Neugier<br />
geweckt. Vor allem auch auf Grund <strong>der</strong> Tatsache, daß sich LEIBNIZ’<br />
Vater noch LEUBNITZ geschrieben und ein bekannter Vorfahre <strong>im</strong><br />
benachbarten Altenberg unweit Dresdens an <strong>der</strong> deutschtschechischen<br />
Grenze gesessen habe. Wußte ich doch aus meiner<br />
eigenen Ahnenforschung in West- und Ostsachsen, daß viele<br />
Familiennamen nicht nur mit dem „slavischen -itz“ enden, wie z. B. in<br />
meiner eigenen Ahnentafel:<br />
Blasewitz („Gustel von Blasewitz―), Bockwitz, Bo<strong>der</strong>itz, Briesnitz,<br />
Dobritz, Köttwitzsch, Leubnitz, Leuteritz, Lockwitz, Merbitz, Pesterwitz,<br />
Räcknitz, Schlagwitz, Seidnitz, Sörnewitz, Wölfnitz und Zschertnitz,<br />
son<strong>der</strong>n auch sich sogar Familiennamen nachweislich auf frühere<br />
Ortsnamen zurückführen lassen; wie z.B. die eigenen Ahnenfamilie<br />
LEUTERITZ und MERBITZ auf den gleichnamigen Ort Leuteritz bzw.<br />
Merbitz, wo diese Familie noch um 1500 bzw. 1410 (so weit erforscht)<br />
bis um 1600 noch saßen.<br />
Prof. Ernst KROKER, Leipzig, (siehe unten!) schreibt 1898 über die<br />
nachweislich zwischen Elbe und Saale ansässige Familie LEIBNITZ:<br />
„Leibnitz ist offenbar gar kein wirklicher Familienname, son<strong>der</strong>n ein<br />
Ortsname: einer <strong>der</strong> Hun<strong>der</strong>te von ursprünglich slavischen Ortsnamen,<br />
die in unserer Gegend <strong>im</strong> späteren Mittelalter zu deutschen<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 530<br />
Familiennamen geworden sind. Die älteren Leipziger Steuerbücher<br />
w<strong>im</strong>meln von solchen Namen. So gab es 1466 in Leipzig einen Hans<br />
Chemnitz (Kempnitz), Valentin Colditz und Nickel Connewitz (Ganewitz),<br />
einen Doktor Eutritzsch (V<strong>der</strong>itzsch), einen Andreas Leutzsch (Luczsch),<br />
Hans und Nickel Reudnitz (Rudenitz) und Hans Wurzen.― [In meiner<br />
eigenen Ahnentafel <strong>im</strong> Sektor Dresden sieht es ähnlich aus; hier<br />
kommen die Ahnenfamilien GRAUPITZ, MERBITZ, LEUTERITZ, OPITZ<br />
und PAHLITZSCH vor]. „Fast regelmäßig wird <strong>der</strong> Ortsname an den<br />
Vornamen einfach angefügt. All diese Ortsnamen sind ja<br />
slavischen Ursprungs, die Männer aber, die sie als Familiennamen<br />
trugen, waren, wie ihre Vornamen beweisen, entwe<strong>der</strong> selbst<br />
Deutsche o<strong>der</strong> ihre Familie war doch schon seit langer <strong>Zeit</strong><br />
germanisiert, denn wir finden sie sämtliche in sächsischen Städten<br />
als Bürger ansässig, während die Wenden wohl nirgends das<br />
Bürgerrecht erhielten.“<br />
Im ältesten Stadtbuch von Dresden 1404-1436 (veröffentlicht 1963 von<br />
<strong>der</strong> Archivarin Elisabeth BOER) finden wir eine ganze Reihe Leubnitze,<br />
meist als Lubenicz, geschrieben, mit den deutschen Vornamen Anna,<br />
Barbara, Friedrich, Lorencz und Nickel (Nikolaus).<br />
„Ebenso bezeichnet nun auch Ambrosius LEIBNITZ einen Mann, <strong>der</strong><br />
selbst o<strong>der</strong> dessen Vorfahren aus einem Orte Namens Leibnitz o<strong>der</strong><br />
Leubnitz stammten – die Schreibweise des Namens schwankt<br />
fortwährend zwischen ei, ey und eu zwischen b (e) und p (e) und<br />
zwischen nitz, nütz und nutz; nur die volle slavische Form Lubeniecz<br />
kommt in unserer Familie nicht ein einziges Mal vor.―<br />
Das mag bei unserer LEIBNITZ-Familie zutreffen, <strong>im</strong> Dresdner<br />
Stadtbuch von 1404-1436 finden wir diese Form allerdings noch, was<br />
freilich keinerlei Aussagen über das Verhältnis <strong>der</strong> deutsch-slavischen<br />
„Blutsverwandtschafts-Mischung― aussagt.<br />
So wurde ich schließlich neben meiner eigenen Familienforschung<br />
(einschließlich auch <strong>der</strong> meiner Frau!), zum LEIBNIZ-Forscher in<br />
Sachen LEIBNIZ-Genealogie. Zunächst interessierte mich seine<br />
Ahnenschaft insgesamt, also alle Ahnenfamilien, auch auf <strong>der</strong><br />
Mutterseite, zumal die bisherigen Forschungen hauptsächlich patrilinear<br />
nur <strong>der</strong> väterlichen Familie LEIBNIZ gegolten hatten.<br />
Lei<strong>der</strong> hatte <strong>der</strong> jugendliche LEIBNIZ durch Aussagen zu seinem<br />
väterlichen Geschlecht LEIBNIZ für viel Verwirrung in <strong>der</strong> LEIBNIZ-<br />
Forschung gesorgt. In einer kurzen lateinischen Selbstbiographie<br />
schreibt Gottfried Wilhelm LEIBNIZ nämlich: Leibniziorum sive<br />
Lubeniecziorum nomen Slavonicum; familia in Polonia, Boh …, auf<br />
deutsch: „Der Name Leibniz o<strong>der</strong> Lubeniecz ist slavisch; die Familie (ist<br />
nachzuweisen) in Polen, Böhmen― – von dem Worte Bohemia (Böhmen)<br />
stehen in <strong>der</strong> Handschrift nur noch die drei ersten Buchstaben, etwa<br />
sechs Zeilen des nachfolgenden Textes einschließlich des rückseitigen<br />
Textes sind von LEIBNIZ selbst absichtlich herausgeschnitten worden.<br />
Daß solche Äußerungen gern von polnischer, aber auch französischer<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 531<br />
Seite aufgegriffen worden sind, um LEIBINZ seine rein deutsche<br />
Abstammung streitig zu machen, liegt natürlich nahe. Schon LEIBNIZ’<br />
erster Biograph G. E. GUHRAUER verteidigt LEIBNIZ gewissermaßen<br />
gegen LEIBNIZ selbst als echten Deutschen, aber sagt, daß <strong>der</strong> Name<br />
LEIBNIZ o<strong>der</strong> LEUBNÜTZ auf slawische Ursprünge <strong>der</strong> Familie mit<br />
Wahrscheinlichkeit hinweise. Nach sehr gründlichen<br />
Quellenforschungen durch Prof. D. Dr. Ernst KROKER, Leipzig<br />
(„Leibnizens Vorfahren―, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte<br />
und Altertumskunde, 19. Bd., Dresden 1898, S. 314-338), siehe oben,<br />
wird zwanglos <strong>der</strong> Nachweis rein deutscher Abstammung des LEIBNIZ-<br />
Geschlechts in Sachsen erbracht.<br />
KROKER konnte den Stammbaum <strong>der</strong> Familie LEIBNIZ bis zur 7.<br />
Ahnengeneration auf den bisherigen Stammvater Ambrosius d. Ä.<br />
LEIBNIZ (Ahnen-Nr. 128) zurückverfolgen, <strong>der</strong> um 1450 geboren sein<br />
muß und „Gutsverwalter aus Rochlitz/Sachsen― unter <strong>der</strong> Adelsfamilie<br />
von DIESKAU <strong>im</strong> Stift Magdeburg war. Diese Linie läßt sich mit wenigen<br />
Verzweigungen über Gottenz bei Halle (Ahn 64), bis zu Gottfried<br />
Wilhelm LEIBNIZ verfolgen; und zwar nach: Rochlitz als Bürgermeister,<br />
+ 1551 (Ahn 32); Ratsherr und „Geleitsmann―, 1510-1562, (Ahn 16); und<br />
<strong>im</strong>mer noch in fremden bzw. öffentlichen Diensten in Pirna (Organist),<br />
Bergießhübel (Bergmeister), Altenberg (<strong>Richter</strong>), Pirna (Ratsherr und<br />
Steuereinnehmer), 1537-1587, (Urgroßvater = Ahn 8); Angestellter bei<br />
den sächsischen Bergwerken in Altenberg, 1569-1617, (Großvater) und<br />
schließlich <strong>der</strong> in Altenberg geborene Vater Friedrich LEIBNIZ (Leibnütz,<br />
Leubnitz), 1597-1652, Notar und Professor <strong>der</strong> Moralphilosophie in<br />
Leipzig. Alle bisher erforschten weiteren Ahnenfamilien haben rein<br />
deutschen Namen und sind mittel- o<strong>der</strong> süddeutscher Herkunft bis auf<br />
eine Urgroßmutter Barbara N.N. aus Dänemark (Ahn 9, die<br />
Kammerjungfer bei <strong>der</strong> Kurfürstin Anna von SACHSEN war, letztere<br />
eine geborene Prinzessin v. DÄNEMARK) und einen vermutlich aus<br />
Reval eingewan<strong>der</strong>ten Urururgroßvater, den Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> KLODT-<br />
Linie, dessen Sohn Stephan (Ahn 30) fürstlich we<strong>im</strong>arischer Kanzler<br />
gewesen ist und in Warburg/Westfalen geboren wurde.<br />
Nach neueren Forschungen bestehen bei dieser KLODT-Linie enge<br />
verwandtschaftliche Beziehungen zur westfälischen Familie CLOT mit<br />
Stammsitz Klotinghof, Gemeinde Nateln/Welver, südöstlich von Soest.<br />
Ein CLOT(D)-Zweig nennt sich <strong>im</strong> 15. Jahrhun<strong>der</strong>t CLODT von<br />
JÜRGENSBURG.<br />
Einige weitere Ahnenfamilien seinen hier noch aufgeführt: SCHMUCK<br />
und HORNEFFER aus Suhl (Ahn 6 und 13); LINDNER aus Schulpforta,<br />
Naumburg und Halle (Ahn 7); ADLER aus Königsstein (Ahn 11); KLOTH<br />
(Klothius) aus Naumburg und We<strong>im</strong>ar (Ahn 15); JÖPPEL aus Nürnberg<br />
(Ahn 17); DEUERLEIN aus Lauf bei Nürnberg (Ahn 20),<br />
FRANKENSTEIN aus Pegau/Sachsen (Ahn 29).<br />
Daraus ist klar ersichtlich daß LEIBNIZ eine kerndeutsche<br />
Abstammung besitzt!<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 532<br />
Trotzdem war es für mich interessant, dem Ortsursprung des LEIBNIZ-<br />
Geschlechts noch näher nachzugehen, da zumindest von weiteren<br />
Forschern unter an<strong>der</strong>em auch <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Ort des altsächsischen<br />
Burgward-Ortes Leubnitz, meines He<strong>im</strong>atkirchspiels (jetzt Dresdner<br />
Stadtteil), genannt worden ist. In einem neueren Forschungsbericht zum<br />
250-jährigen Todestag von LEIBNIZ von Rudolf FISCHER, „Der Name<br />
Leibniz―; in: „Forschungen und Fortschritte― 41. Jg., H. 3, (1967), S. 83-<br />
85 (nach einem Vortrag vor dem Plenum <strong>der</strong> Sächsischen Akademie zu<br />
Leipzig) wird auch nochmals dem Ursprung des LEIBNIZ-Geschlechts<br />
nachgegangen, und die Frage erörtert, welcher Ort wohl dem LEIBNIZ-<br />
Geschlecht den Namen gegeben habe, zumal auch noch ein<br />
österreichischer Ort in die Wahl gezogen worden war.<br />
Wie bereits Prof. KROKER, nennt zwar auch R. FISCHER drei<br />
sächsische Orte namens Leubnitz, nämlich unser Leubnitz (seit 1921<br />
Stadtteil von Dresden), das bereits 1227 urkundlich erwähnt wird; ein<br />
Leubnitz <strong>im</strong> Kreise Werdau, urkundlich seit 1381 und ein Leubnitz bei<br />
Plauen. In diesem Zusammenhang soll hier auch noch eine Familie<br />
LEIBNITZ aus Gr<strong>im</strong>ma erwähnt sein, wo ein Dorf Leibnitz liegt, worauf<br />
schon KROKER hinwies. Gottfried Wilhelm LEIBNIZ lernte in Nürnberg<br />
durch die Vermittlung des Nürnberger Pfarrers Justus Jakob LEIBNIZ,<br />
geb. 1610 in Nürnberg, den Kurmainzischen Minister Baron Johann<br />
Christian von BOINEBURG kennen, <strong>der</strong> ja LEIBNIZ’ weiteren<br />
Lebensweg entscheidend beeinflussen sollte. Justus Jakobs Vater<br />
Christoph LEIBNIZ wurde 1579 in Gr<strong>im</strong>ma geboren und nach seinem<br />
Studium in Altdorf bei Nürnberg war er 1610 Diakonus an <strong>der</strong> St.<br />
Sebalduskirche in Nürnberg. Gottfried Wilhelm LEIBNIZ hat eine<br />
weitläufige Verwandtschaft mit dieser LEIBNIZER-Linie aus Gr<strong>im</strong>ma<br />
wohl einmal erwähnt o<strong>der</strong> bloß gemutmaßt.<br />
Mir scheint aber auch die Tatsache, daß bereits <strong>im</strong> 14. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
LEIBNIZE in Gr<strong>im</strong>ma als Ratsherrn und Schultheißen erwähnt sind, kein<br />
hinreichen<strong>der</strong> Beweis für G. W. LEIBNIZ’ Abstammung aus dem Ort<br />
Leibnitz bei Gr<strong>im</strong>ma (mit dem benachbarten Kloster N<strong>im</strong>bschen!).<br />
Liegen doch hier <strong>im</strong>merhin fast 200 Jahre unerforscht (über 6<br />
Generationen!) zwischen den beiden LEIBNIZ-Linien. Als eines <strong>der</strong><br />
allerältesten sächsischen Dörfer in Sachsen scheint mir eher unser<br />
Leubnitz bei Dresden am wahrscheinlichsten für die LEIBNIZ-<br />
Namensgebung zu sein! Es sprechen hier vor allem auch familiärsoziologische<br />
Gründe mit, da Leubnitz bei Dresden schon <strong>im</strong> 13.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t ein beachtliches Wirtschaftszentrum des Klosters Altzella<br />
war und mit ihm durch eine Handelsstraße („Zellscher Weg―) eng<br />
verbunden war. Denn die 3. Gemahlin von Markgraf Heinrich dem<br />
Erlauchten von MEISSEN, Elisabeth von MALTITZ, 1238-1333,<br />
vermachte nach dem Tode ihres Gatten 1288 ihren bereits bestehenden<br />
reichen Leubnitzer Herrenhof bei Dresden als Witwensitz<br />
(„Leibgedinge―) am 12. 6. 1288 dem Zisterzienser Kloster Altzella bei<br />
Nossen. Die Besitzungen in dem sehr fruchtbaren Lößland in und um<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 533<br />
Leubnitz waren erst kurz vor 1288 von <strong>der</strong> einflußreichen Adelsfamilie<br />
von SCHÖNBURG an die Wettiner, an Heinrich den Erlauchten von<br />
MEISSEN, gekommen. Die erste Gemahlin Heinrich des Erlauchten war<br />
Constantia Prinzessin von ÖSTERREICH, + 1243, und durch diese<br />
Verbindung aus dem Hause BABENBERGER in <strong>der</strong> Steiermark dürfte<br />
auch eine sächsische LEIBNIZ-Linie von dort in die Steiermark nach<br />
Österreich gekommen sein und <strong>der</strong> Ort mit dem Schloß LEIBNITZ in <strong>der</strong><br />
Steiermark seinen Namen erhalten haben. Also von Sachsen nach<br />
Österreich, - und nicht wie einige Forscher (z. B. Dr. Paul WIEDEBURG,<br />
Homburg-Bruchhof) umgekehrt mutmaßen, das sächsische LEIBNIZ-<br />
Geschlecht von Österreich nach Sachsen.<br />
Die große wirtschaftliche, politische und kirchliche Bedeutung unseres<br />
Leubnitz bei Dresden dürfte auch zahlreichen tüchtigen und ehrbaren<br />
sächsischen Familien <strong>im</strong> Wirtschaftsgebiet Leubnitz-Altzella Arbeit<br />
und Brot gegeben haben. Bedeutsam war auch die an Leubnitz<br />
vorbeiführende Völkerstraße von Westsachsen über Wilsdruff,<br />
Pesterwitz und Räcknitz. Der Herrenhof mit dem Klosterhof in Leubnitz<br />
war lange auch Sitz <strong>der</strong> oberen und unteren Gerichtsbarkeit <strong>im</strong> ganzen<br />
Kreis südlich von Dresden. Das Wirtschaftsgebiet des Klosters Altzella<br />
bestand 1288, zur <strong>Zeit</strong> <strong>der</strong> Schenkung, aus acht ganzen Dörfern und<br />
fünf Dorfanteilen mit dem Dorf Leubnitz als Mittelpunkt. Durch<br />
Urbarmachung <strong>der</strong> ursprünglich kleinen sorbischen Flur um Leubnitz<br />
wurde die Nutzfläche auf die beachtliche Fläche von etwa 120 ha<br />
fruchtbarsten Landes gebracht (Bodengüteklasse 1-2!). Und als<br />
Burgward-Ort war Leubnitz auch schon frühzeitig abwehren<strong>der</strong><br />
Stützpunkt gegen eindringende slawische Volksstämme seit Otto des<br />
Großen Kolonisations- und Ansiedlungsbestrebungen und seiner<br />
Nachfolger. Eine Studie von E. K. RÜHLE gibt hierüber interessante<br />
geschichtliche Aufschlüsse: „Der Burgward Leubnitz bei Dresden―; in:<br />
Sächsische He<strong>im</strong>atblätter, 12. Jg., H. 6, S. 514-521 (mit 4 Abb., davon 2<br />
Grundrißskizzen und zwei historische Zeichnungen des „Alten<br />
Klosterhofes― um 1800 von Carl August RICHTER [Vater von Ludwig<br />
R.!] und von 1824 von Christian KLENGEL).<br />
Bereits <strong>im</strong> Jahre 1162 war Kloster Altzella von Markgraf Otto dem<br />
Reichen von MEISSEN, + 1190, gegründet worden (auch ist <strong>im</strong> gleichen<br />
Jahre eine Schenkung von 800 Hufen durch Kaiser Friedrich<br />
BARBAROSSA an das entstehende Kloster Altzella urkundlich). Etwa<br />
ca. 200 Jahre lang war Kloster Altzella auch Begräbnisstätte <strong>der</strong><br />
WETTINER. In diesem Wettiner Hauskloster sind 21 Glie<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
WETTINER bestattet worden, bis später ab Friedrich dem Streitbaren, +<br />
1428, erst <strong>der</strong> Dom zu MEISSEN zur weiteren Begräbnisstätte <strong>der</strong><br />
WETTINER geworden ist. Otto <strong>der</strong> Reiche von MEISSEN war <strong>der</strong><br />
Großvater von Markgraf Heinrich dem Erlachten, dessen 3. Gemahlin<br />
Elisabeth - wie wir wissen - ihren Leubnitzer Besitz dem Kloster Altzella<br />
<strong>im</strong> Jahre 1288 geschenkt hatte. Natürlich können all diese zeitlichen,<br />
örtlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse von Leubnitz bei Dresden<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 534<br />
(seit 1898 Leubnitz-Neuostra, seit 1921 Dresdner Stadtteil) nicht die<br />
Herkunft von G. W. LEIBNIZ’ Namensgeschlecht beweisen. Wenn auch<br />
die vage Vermutung meines Lehrer RÜHLE mit Sicherheit<br />
auszuschließen ist, daß ein nächster Vorfahre LEIBNIZ’ aus Leubnitz bei<br />
Dresden nach Altenberg <strong>im</strong> Erzgebirge, nahe <strong>der</strong> tschechischen Grenze,<br />
ausgewan<strong>der</strong>t ist, so ist doch nicht unwahrscheinlich, daß ein wesentlich<br />
älterer LEIBNIZ-Vorfahre vom Dresdner Leubnitz aus nach<br />
Westsachsen als herrschaftlicher Dienstherr o<strong>der</strong> Geleitsmann <strong>im</strong> 14.<br />
o<strong>der</strong> 15. Jahrhun<strong>der</strong>t in die Dienste <strong>der</strong> Adelsfamilie von DIESKAU nach<br />
Rochlitz gekommen ist o<strong>der</strong> auch über Gr<strong>im</strong>ma nach Rochlitz, wodurch<br />
dann doch eine gemeinsame Wurzel bei<strong>der</strong> westsächsischer Linien<br />
bestanden hätte. Mit hoher Wahrscheinlichkeit stammt auch eine<br />
Dresdner bürgerliche Familie LEUBNITZ, erwähnt z. B. als „Bartusch<br />
von LEUBNITZ― und „Barbara LEUBNITZ― <strong>im</strong> Dresdner<br />
Einwohnerverzeichnis <strong>im</strong> 14. Jahrhun<strong>der</strong>t, aus dem Altzella’er Leubnitz;<br />
dasselbe kann man wohl auch von <strong>der</strong> Adelsfamilie von LEUBNITZ aus<br />
Frie<strong>der</strong>sdorf in <strong>der</strong> Lausitz annehmen.<br />
In meiner <strong>GeneTalogie</strong>-Internetseite habe ich den „Erforschtheitsgrad―<br />
<strong>der</strong> Ahnentafel Gottfried Wilhelm LEIBNIZ’ in einer Übersicht graphisch<br />
dargestellt und dann alle Ergänzungen zur Ahnentafel listenmäßig<br />
zusammengestellt:<br />
http://www.genetalogie.de/artikel/pdf/leibniz.pdf<br />
(zuvor veröffentlicht in: Knowledge Organisation 23, (1996), Nr. 2,<br />
page 103-106)<br />
da die Ahnentafel in keinem genealogischen Reihenwerk (z. B.<br />
„Ahnentafeln berühmter Deutscher―), son<strong>der</strong>n nur an recht abgelegenen<br />
Stellen durch W. C. von ARNSWALDT (1910) <strong>im</strong> Heft 7, S. 61-67, <strong>der</strong><br />
„Mitteilungen― <strong>der</strong> Zentralstelle für deutsche Personen- und<br />
Familiengeschichte und von Joach<strong>im</strong> LAMPE; in: „Aristokratie Hofadel<br />
und Staatspatriziat in Kurhannover―, Göttingen 1963, noch sehr<br />
unvollständig publiziert worden ist.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
15.3 Zur eigenen familienkundlichen Auftragsforschung in<br />
Sachsen<br />
(in <strong>der</strong> kaffee- und schokoladenarmen <strong>Zeit</strong> <strong>der</strong> 70er Jahre)<br />
Bei meiner DDR-Flucht als Oberschüler mit meinen Eltern <strong>im</strong> Januar<br />
1953 aus Dresden über West-Berlin in die Bundesrepublik hatte ich <strong>im</strong><br />
Flüchtlingshandgepäck eine kleine Ahnen-Zettelkartei (DIN A7), die<br />
schon nach den üblichen Ahnen-Nummern sortiert war. Damals war ich<br />
18 Jahre. Meine erste familienkundliche Korrespondenz (Anfragen an<br />
Kirchenämter in Dresden und Westsachsen) begann während meiner<br />
Semesterferien <strong>im</strong> Sommer 1955 von Langenzenn/b. Fürth i. Bay. Ich<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 535<br />
hatte gerade mein 4. Semester an <strong>der</strong> Fachhochschule Ohm-<br />
Polytechnikum, Nürnberg, <strong>im</strong> Fachgebiet: Chemie abgeschlossen.<br />
Es ist nicht meine Absicht, in diesem Buch davon eine umfassende<br />
Schil<strong>der</strong>ung zu geben. Alles in allem kann ich heute aber sehr dankbar<br />
auf das verständnisvolle, auskunftsbereite Entgegenkommen <strong>der</strong><br />
meisten Pfarrämter (Pfarrer, manchmal auch Pfarramtsangestellt)<br />
zurückschauen. Hatten doch die politischen Umstände <strong>im</strong> „Dritten Reich―<br />
mit dem Nachweis <strong>der</strong> „arischen Großmutter― lei<strong>der</strong> bei vielen einen<br />
betrüblichen Schatten auf die „Ahnenforschung― geworfen.<br />
Einige mir hier beson<strong>der</strong>s hilfreich Menschen möchte ich nachfolgend<br />
indes noch hervorheben, da sie in meinem Leben außer meiner Familie<br />
eine große Rolle gespielt haben, zumal sich daraus freundschaftliche<br />
Beziehungen entwickelt haben. Von den spätern Begegnungen mit den<br />
zahlreichen Genealogen auf den Deutschen Genealogentagen ab <strong>der</strong><br />
70er Jahre soll hier aber dann nicht mehr die Rede sein. Lediglich die<br />
ersten Anfänge meiner genealogischen Bemühungen um meine<br />
persönliche Familienforschung (später kam die Ahnenschaft meiner<br />
lieben Frau hinzu!) möchte ich hier schil<strong>der</strong>n, bevor meine Freundschaft<br />
mit Prof. Siegfried RÖSCH <strong>im</strong> Jahre 1973 begann, wobei meine<br />
genealogischen Bemühungen dann einen allgemeineren, jetzt mehr<br />
wissenschaftlichen Charakter annehmen sollten.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
15.4 Vom Glück, die Ahnenforschung mit <strong>der</strong> „Astaka“ zu<br />
beginnen!<br />
Bereits nach meinem Studium 1956 begann ich meine<br />
familienkundlichen Daten aus den elterlichen Familienunterlagen für die<br />
Dresdner Ahnenstammkartei (Astaka) nach dem dort vorgeschriebenem<br />
Schema (alphabetisch nach Ahnenstämmen) in einer Ahnenliste<br />
zusammen zu stellen. Nach meinem ersten Kontakt mit Herrn Kurt<br />
WENSCH, Dresden, dem Betreuer <strong>der</strong> umfangreichen Dresdner<br />
Sammlungen <strong>der</strong> ehemaligen „Deutschen Ahnengemeinschaft― (DA),<br />
Berlin/Dresden, Ende 1956, konnte mir Herr WENSCH schon <strong>im</strong> April<br />
1957 den Eingang meiner ersten Ahnenliste mit etwas mehr als 100<br />
Ahnen bestätigen. Meine seinerzeit noch etwas naiven Vorstellungen<br />
von den Möglichkeiten des gegenseitigen Forschungsaustausches<br />
zwischen den Teilnehmern des AL-Umlaufverfahrens erhielten allerdings<br />
bald einen „Dämpfer―, obgleich mir bereits nach dem Einreichen meiner<br />
AL einige erste interessante Ergänzungen zu 5 Ahnenstämmen<br />
mitgeteilt werden konnten, wovon die westsächsische Linie SAUPE<br />
sogar in Cossen bis zum Jahre 1578 zurückgeführt werden konnte. Das<br />
war ein Ansporn! Bereits 1956 hatte mir das Kirchenbuchamt Dresden<br />
mitgeteilt, daß es selbst nicht mehr aus Personalmangel in <strong>der</strong> Lage sei,<br />
familiengeschichtliche Forschungen durchzuführen. Man verwies mich<br />
auf meinen nichtverwandten Namensvetter Willy RICHTER, Dresden N,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 536<br />
Kronenstr. 40, <strong>der</strong> gern meinen Forschungsauftrag erledigen würde, da<br />
er Zugang zum Archiv des Kirchenbuchamtes Dresden habe. Kurzum:<br />
Herr Willy RICHTER erhielt bald von mir für einige Ahnenstämme einen<br />
Forschungsauftrag zu den üblichen Gebühren, die ich über meine<br />
Dresdner Großmutter abwickeln konnte, da dies für mich seinerzeit die<br />
praktischste Geldüberweisung von West nach Ost war. Durch Willy<br />
RICHTER konnte meine AL nun rasch beträchtlich erweitert werden, so<br />
daß bald weitere Ergänzungslisten möglich wurden, zumal Herr Kurt<br />
WENSCH die Forschungen von Willy RICHTER auch für überaus<br />
zweckmäßig hielt, um auf breiterer Front die Ahnenstämme bis zur <strong>Zeit</strong><br />
um 1750 zurückführen zu können. Denn das erhöht dann erst die<br />
Wahrscheinlichkeit, einerseits aus <strong>der</strong> Dresdner Ahnenstammkartei<br />
Anschlüsse mitgeteilt zu bekommen und an<strong>der</strong>erseits mit an<strong>der</strong>en<br />
Forschern <strong>im</strong> Ahnenlisten-Umlaufverfahren zu Ahnengemeinschaften zu<br />
kommen.<br />
Bis über ein Jahr erhielt Willy <strong>Richter</strong> von mir Aufträge. Auf Grund <strong>der</strong><br />
Jahrgangslücken bei den Kirchenbüchern mußte aber lei<strong>der</strong> auch<br />
manchmal auf die Kaufbücher <strong>im</strong> Dresdner Staatsarchiv ausgewichen<br />
werden, was eine zeitaufwendigere Forschung bedeutete. Aus<br />
beruflichen, privaten aber auch finanziellen Gründen beendete ich als<br />
24-jähriger Ingenieur bei <strong>der</strong> Firma Telefunken in Ulm/do. für zunächst<br />
fast 6 Jahre meine Ahnenforschung in Dresden.<br />
Der letzte Brief des Ahnenforschers Willy RICHTER, Dresden, vom<br />
27.4.1958 sei hier eingefügt:<br />
„Sehr geehrter Herr <strong>Richter</strong>!<br />
Mit einer Grußkarte hatte ich Ihnen schon kurz mitgeteilt, daß ich in<br />
Liebstadt mit dem besten Erfolg arbeiten konnte. Ich hatte das nach<br />
dem Schriftwechsel mit dem Pfarrer gar nicht erwartet; er war sehr<br />
zurückhaltend, taute aber dann auf. Die Bücher sind ausgezeichnet<br />
durchgearbeitet und haben ein vollständiges alphabetisches Register.<br />
Es wäre nun wirklich Kraft- und <strong>Zeit</strong>vergeudung gewesen, wenn ich die<br />
Quelle nicht voll ausgeschöpft hätte. Ich mußte früh 5 Uhr in Dresden<br />
aufbrechen, um rechtzeitig den ersten Bus nach Liebstadt zu erreichen,<br />
und konnte aber erst nach 15 Uhr von L. zurückfahren. Ich habe die <strong>Zeit</strong><br />
dazu verwendet, eine ansehnliche Strecke das Seidewitztal zu<br />
durchwan<strong>der</strong>n. Ich hoffe, daß Sie auch mit dem weit über Ihren Wunsch<br />
hinausgehenden Ergebnis zufrieden sind.<br />
Nr. 26 bleibt noch Schmerzenskind. Ich habe außer in Bärnsdorf in<br />
Klotzsche, Wilschdorf und Lausa (Weixdorf) als zunächst liegenden<br />
Parochien angefragt, hatte aber nur negatives Ergebnis. Ich will nun erst<br />
mal in Dresden Neustadt, dann in Radeberg suchen bzw. anfragen.<br />
Mit besten Grüßen Ihr Willy <strong>Richter</strong>.<br />
Anlagen―<br />
[Liste <strong>der</strong> Forschungsergebnisse übersichtlich nach Ahnen-Nrn. und<br />
Rechnung]<br />
Hier die Rechnung vom 27.4.1958:<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 537<br />
Für meine Bemühungen erlaube ich mir, zu berechnen: Forschungen<br />
usw. <strong>im</strong> Kirchenbuchamt 27. 10., 31. 10., 1. 11. 1957 desgl. <strong>im</strong><br />
Landeshauptarchiv 24.-28. 2. 1958.<br />
Schriftwechsel mit Pfarrämtern (Nr. 26) 9. 3. und 20. 4. - Forschung in<br />
Liebstadt 24. 4. und Bericht.<br />
Auslagen:<br />
DM 57,00<br />
3,50 Klotzsche u. Wilsdruff<br />
-,50 Kirchenbuchamt<br />
2,50 Pfarramt Liebstadt<br />
1,40 Postgebühren<br />
3,50 Tagesgeldanteil<br />
DM 68,40<br />
Heute erscheint mir diese fünfte(!) und letzte Rechnung als 73-jähriger<br />
Rentner nicht zu hoch, was ich damals als junger Forscher allerdings<br />
nicht genauso sah! Vielleicht war ich auch etwas gekränkt, daß Willy<br />
RICHTER nicht für jede Kaufbuch-Forschung zuvor mein Einverständnis<br />
eingeholt hatte. Im nachhinein bin ich aber dafür froh, daß alles so<br />
abgelaufen ist. Gehört meine Ahnenliste heute doch wohl statistisch<br />
hinsichtlich Lückenlosigkeit bis zur 6. Ahnengeneration und des<br />
Erforschtheitsgrades in den höheren Generationen in den 10%- Bereich<br />
<strong>der</strong> Astaka-Ahnenlisten mit <strong>der</strong> „Bestnote―. Dies verdanke ich aber auch<br />
zahlreichen an<strong>der</strong>en Persönlichkeiten, von denen hier über einige<br />
beson<strong>der</strong>s verdienstvolle noch berichtet werden soll.<br />
Meine Forschungen begannen erst wie<strong>der</strong> nach meiner Eheschließung<br />
1963. Nachdem sich bald Familiennachwuchs angemeldet hatte, ist <strong>der</strong><br />
Wunsch wohl verständliche, auch für meine Frau <strong>der</strong>en ostfriesische<br />
Ahnenschaft zu erforschen. Dies hatte dann auch meine persönliche<br />
Forschung wie<strong>der</strong> neu beflügelt! Die für mehrere Jahre unterbrochene<br />
Teilnahme am kostenpflichtigen Dresdner Ahnenlistenumlauf habe ich<br />
1964 daher ebenfalls wie<strong>der</strong> aufgenommen!<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
15.5 Aus dem Briefwechsel mit sächsischen Pfarrämtern<br />
Die erste große Ergänzung zu meiner Ahnenliste, die ich <strong>im</strong> April 1957<br />
in zwei Exemplaren an den Betreuer <strong>der</strong> Ahnenstammkartei<br />
(„Astaka“), Dresden, Herrn Kurt WENSCH, zum Ahnenlistenumlauf<br />
eingeschickte hatte, bekam ich <strong>im</strong> Juni 1958 von Pfarrer Oskar<br />
HÄNICHEN, Waltersdorf, Kr. Zittau.<br />
Den Umfang <strong>der</strong> Ergänzungen (über 60 neue Ahnen und eine<br />
Aufstellung von Kirchenbuchauszügen Dresdner Vorortgemeinden)<br />
vermochte ich noch kaum zu würdigen! Lei<strong>der</strong> erreichten mich diese<br />
Ergänzungen <strong>im</strong> Alter von noch nicht einmal 24 Jahren nach meinem<br />
Ingenieur-Studium, als ich durch meine erste Berufsanstellung sehr<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 538<br />
gefor<strong>der</strong>t war, um meine berufliche Plattform zu festigen. Es war die<br />
<strong>Zeit</strong>, wo mein Interesse für die Ahnenforschung für einige Jahre ganz<br />
eingeschlafen war. Erst <strong>im</strong> Jahre 1964 habe ich die „neue―<br />
Korrespondenz mit Pfarrer Oskar HÄNICHEN von Ulm/Do. aus wie<strong>der</strong><br />
begonnen und mich für seine umfangreichen Ahnenergänzungen lei<strong>der</strong><br />
erst sehr verspätet bei ihm bedankt. Es entstand aber sehr bald eine<br />
tiefe Freundschaft zu diesem prächtigen und uneigennützigen großen<br />
Menschen! Die zahlreichen Ahnengemeinschaften aber auch seine<br />
große Erfahrung mit den alten Kirchenbüchern und in Archiven trugen<br />
dazu bei, daß er mir sehr bald zum väterlichen Freunde wurde. Lei<strong>der</strong><br />
nur für zwei Jahre, denn bald sollte diese kurze fruchtbare<br />
genealogische Freundschaft schon durch seinen Tod <strong>im</strong> September<br />
1966 beendet werden.-<br />
Aus seinem ersten Schreiben vom 13. Juni 1958 sei hier einiges<br />
zitiert:<br />
„Sehr geehrter Herr Ingenieur!<br />
Anbei sende ich Ihnen Ergänzungen zu Ihrer Ahnenliste, die durch den<br />
Umlauf bei mir durchging. Es besteht Ahnengemeinschaft ab George<br />
HÄNICHEN (Ziffer 468). Ich habe seinerzeit alle Vorkommen des<br />
Namens HÄNICHEN in den Lockwitzer Kirchenbüchern, die bis 1757<br />
nur zurückreichen, registriert und weiterhin die Lockwitzer<br />
Gerichtsbücher <strong>im</strong> Hauptstaatsarchiv in Dresden daraufhin<br />
durchgearbeitet. Diese reichen bis Anfang des 16. Jahrhun<strong>der</strong>ts zurück<br />
(1537), zugleich für die Orte Nickern, Kauscha, Rippien, Gaustritz,<br />
Nöthnitz u.a. Ziffer 234 muß Christian HÄNICHEN heißen, nicht<br />
Gotthelf. Es muß irgendeine Verwechslung sein. Einen <strong>Richter</strong> Christian<br />
Gotthelf HÄNICHEN gibt es erst später in Lockwitz, er ist <strong>der</strong> Enkel Ihres<br />
Christian H. und lebte von 1777-1859. Wahrscheinlich besteht auch<br />
Ahnengemeinschaft mit dem Ahnenstamm MÜLLER, Burgstädtel. In<br />
den Briesnitzer Kirchenbüchern wäre nur festzustellen, ob Nicol<br />
MÜLLER (Ziffer 206), <strong>der</strong> Sohn – wie ich vermute – von George<br />
MÜLLER ist (vergl. meine Aufstellung S. 4). Wahrscheinlich besteht<br />
auch sonst noch vielfach Ahnengemeinschaft, wenn Sie noch ein Stück<br />
weiter rückwärts forschen. Ein großer Teil meiner Ahnen sind ebenfalls<br />
in <strong>der</strong> Umgebung von Lockwitz behe<strong>im</strong>atet (in Sobrigau, Gittersee,<br />
Leubnitz, Bo<strong>der</strong>itz, Kauscha usw.). Die Geschlechter WAGNER und<br />
WIRTHGEN sind alte Lockwitzer Geschlechter; LEUBNER ist in<br />
Sobrigau, Nöthnitz, auch Lockwitz zu Hause. […] Folgende<br />
Ahnenstämme habe ich außer den bereits auf <strong>der</strong> beiliegenden Liste<br />
genannten: RÜHL, Gaustritz, ZELTER (Zeller), Bo<strong>der</strong>itz, KLIEMANN,<br />
Lockwitz, WIRTHGEN, Lockwitz, FUCHS, Heidenau, PALITSCH,<br />
Eutschütz, KEMPE, Leubnitz, RIETZSCHEL, Neuostra, HEGER,<br />
Nickern, SCHINDLER. Gostritz, PATZIG, Rosentitz, CHRISTMANN,<br />
Gittersee, ebenso viele Ahnen in Kesselsdorf und Umgebung. […] Wenn<br />
Sie noch ein Stück weiter zurück geforscht haben und auf die oben<br />
genannten Namen stoßen, will ich Ihnen gern weiter helfen, um Ihnen<br />
Doppelarbeit zu ersparen.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 539<br />
Eine kleine Bitte hätte ich. Vom C.A.Starke-Verlag in<br />
Glücksburg/Ostsee bezog ich das VdFF 1956 und die <strong>Zeit</strong>schrift<br />
„Praktische Forschungshilfe―. Da ich keine Möglichkeit habe, von hier<br />
aus Geld zu überweisen, und ich dort noch eine Schuld von etwa 30,-<br />
DM habe, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie einen kleinen Beitrag für<br />
die gehabte Mühe an den Starke-Verlag zu meinen Gunsten überweisen<br />
würden, damit mein Konto dort allmählich ausgeglichen wird. […] Die<br />
Schreibweise des Namens HÄNICHEN ist in ältester <strong>Zeit</strong> HENCHIN,<br />
dann HEINICHEN, HEYNICHEN, HENICHEN, in späterer <strong>Zeit</strong> ziemlich<br />
willkürlich HÄHNICHEN, HÄNNICHEN, HÄHNCHEN u.a.<br />
Mit freundlichen Grüßen<br />
Ihr Oskar Hänichen―<br />
Am 26. Februar 1959 erhielt ich dann von Pfarrer HÄNICHEN nochmals<br />
eine umfangreiche mehrseitige Ahnenergänzungsliste:<br />
„Sehr geehrter Herr Ingenieur!<br />
Gelegentlich eigener Forschungen <strong>im</strong> Landeshauptarchiv in Dresden<br />
habe ich einiges nachgesehen, um den Anschluß an die Lockwitzer<br />
Chronik für die Geschlechter WAGNER und WIRTHGEN zu gewinnen.<br />
Anbei sende ich Ihnen eine Ergänzung zu Ihrer Ahnenliste, die mich<br />
beson<strong>der</strong>s interessierte, weil ein großer Teil <strong>der</strong> Ahnen aus dem Raume<br />
Dresden stammt. Ahnengemeinschaft besteht mit mir ab WIRTHGEN,<br />
Hans oo Maria FUCHS. Die ehemals DRESSLERische Mühle ist seit<br />
1834 <strong>im</strong> Besitz unserer Familie (Dresden-A 47, Preußerstr. 8) Mein<br />
Schreiben vom 13. Juni 1958 mit einer Ergänzungsliste haben Sie wohl<br />
erhalten?<br />
Mit freundlichem Gruß<br />
Ihr Oskar Hänichen―<br />
Am 27. Mai 1964 schrieb ich an Pfarrer Hänichen:<br />
„Sehr verehrter Herr Pfarrer!<br />
Nachdem ich jetzt nach längerer <strong>Zeit</strong> meine familienkundlichen<br />
Forschungen wie<strong>der</strong> aufnahm, stellte ich mit Entsetzen fest, daß ich<br />
mich offenbar für Ihre beiden letzten Einsendungen (AL 8056, 13.6.58<br />
und 26.2.59) we<strong>der</strong> bedankt noch irgendwie abfand. War es nun meine<br />
stärkere berufliche Beanspruchung o<strong>der</strong> mein Wohnungswechsel, auf<br />
jeden Fall kamen mir Ihre Einsendungen ganz aus dem Sinne.<br />
Bitte entschuldigen Sie vielmals! Die Fülle des Materials und den<br />
eigentlichen Wert Ihrer Einsendungen vermag ich aber eigentlich erst<br />
jetzt voll abzuschätzen. Als kleinen Dank – <strong>der</strong> zwar nun reichlich<br />
verspätet kommt – dachte ich an die Überweisung von etwa DM 50,- zu<br />
Ihren Gunsten an den Verlag C.A. Starke, L<strong>im</strong>burg a.L. bzw. an die<br />
Erfüllung eines an<strong>der</strong>en entsprechenden Wunsches<br />
(Kaffeesendungen?) Ihrer Wahl. In <strong>der</strong> Hoffnung recht bald in diesem<br />
Sinne wie<strong>der</strong> von Ihnen zu hören,<br />
grüße ich freundlichst als Ihrer sehr ergebener <strong>Arndt</strong> <strong>Richter</strong>―<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 540<br />
„Sehr geehrter Herr Ingenieur!<br />
Haben Sie herzlichen Dank für Ihren Brief. Ich freue mich, daß ich Ihnen<br />
bei <strong>der</strong> Ergänzung Ihrer Ahnenliste behilflich sein konnte. Mir machen<br />
<strong>der</strong>artige Forschungen selber <strong>im</strong>mer Freude. Wir haben ja doch ziemlich<br />
viele gemeinsame Ahnen. Ich verlebe jedes Jahr meinen Urlaub in<br />
Lockwitz, wo meine Schwester das elterliche Grundstück, die<br />
ehemalige „Dreßlersche Mühle― betreut. Den mir freundlich zugedachten<br />
Betrag senden Sie bitte an meine Tochter: [M….H…, Düsseldorf, …]<br />
Aber 50,- DM erscheinen mir doch zu reichlich. Wenn Sie es wünschen<br />
bin ich Ihnen auch gern weiter behilflich.<br />
Mit herzlichen Grüßen Ihr sehr ergebener Oskar Hänichen―<br />
Nachdem meine alte Ahnenneugier neu beflügelt war, teilte ich Pfarrer<br />
O. HÄNICHEN bereits am 6. Juni 1964 meinen konkreten<br />
Forschungswunsch nach einem „toten Punkt― in meiner Ahnentafel mit.<br />
Ich ahnte damals noch nicht, daß gerade von diesem Ahn auf <strong>der</strong><br />
mütterlichen Seite die „erbmäßig bevorzugteste X-chromosomale“<br />
Abstammungslinie innerhalb <strong>der</strong> Ahnentafel ausgeht. Erst 14 Jahre<br />
später sollte ich diese grundsätzliche Tatsache, die für alle<br />
zweigeschlechtigen Lebewesen Gültigkeit besitzt, entdecken! -<br />
„Sehr geehrter Herr Pfarrer!<br />
Über Ihre Zeilen vom 4.6. d.J. habe ich mich sehr gefreut und danke<br />
Ihnen dafür bestens. Die Überweisung von DM 50,- an Ihre Frl. Tochter<br />
habe ich daraufhin unverzüglich vorgenommen und mich gefreut, daß<br />
eine solche Möglichkeit bestand. Bitte entschuldigen Sie nochmals mein<br />
jahrelanges Schweigen; es war reine Vergeßlichkeit, da ich die<br />
Familienforschung erst in letzter <strong>Zeit</strong> wie<strong>der</strong> aktiv in Angriff nahm (an<br />
Herrn WENSCH sandte ich dieser Tage eine 3. Ergänzungsliste zu<br />
meiner AL 8056).<br />
Am meisten Kummer bereitet mir bei <strong>der</strong> Forschung nach wie vor<br />
Ahn Nr. 26.<br />
[Erläuterung:<br />
Auf diesen Ururgroßvater kommt man in <strong>der</strong> Ahnentafel durch die<br />
abwechselnde Geschlechtsfolge:<br />
Mann (1; ich)-Frau (3; Mutter)- Mann (6; Großvater, mütterl.) – Frau<br />
(13; Urgroßmuttter, mütterl.-väterl.) – Mann (26; Ururgroßvater)]<br />
Es fehlt mir dessen Geburtsort und –datum sowie je<strong>der</strong> Hinweis auf<br />
seine Eltern; er war wahrscheinlich Waisen- o<strong>der</strong> Adoptivkind. Ein<br />
Kirchenbuchsachverständiger (Herr Willy RICHTER, Dresden N,<br />
Kronenstr.) hat bereits vor Jahren einige Nachforschungen angestellt,<br />
lei<strong>der</strong> ohne jeden Erfolg. Angefragt wurde in Bärnsdorf, Klotzsche,<br />
Wilschdorf und Lausa (Weixdorf). Be<strong>im</strong> Ahn Nr. 26 handelt es sich<br />
um den Johann Gottlieb DÖRING, Häusler und Wirtschaftsbesitzer, geb.<br />
… (18.6.1797[err.]), gest. Volkersdorf, 30.1.1857. Getraut Bärnsdorf bei<br />
Moritzburg 5.2.1826 (Jo)hanne Christiane STIEHLER (geb. Marsdorf<br />
11.6.1797; gest. Volkersdorf 9.4.1863). Im Traueintrag des Bärnsdorfer<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 541<br />
Kirchenbuches von 1826 sind die Eltern nicht genannt. Nur sein<br />
Stiefvater Mstr. Johann Gottlieb JACOB, Büttner in Volkersdorf.<br />
Geburtsort und –datum sowie Namen seiner Eltern sind dort nicht<br />
auffindbar. Von Bärnsdorf wurde mir weiter mitgeteilt, daß Joh. Gottlieb<br />
DÖRING am 30.1.1857 <strong>im</strong> Alter von 59 Jahren 7 Monaten und 12 Tagen<br />
zu Volkersdorf starb. Nun eine Bitte an Sie, verehrter Herr Pfarrer: Wäre<br />
es Ihnen möglich, mir lediglich einige weitere benachbarte Pfarrämter<br />
dieser Gegend zu nennen? Über die jetzigen Kirchgemeinden bin ich<br />
lei<strong>der</strong> überhaupt nicht <strong>im</strong> Bilde. Ich würde dann auch gern dorthin noch<br />
diesbezügliche Anfragen richten.<br />
Wenn es Ihnen also möglich wäre, verehrter Herr Pfarrer, mir noch<br />
dies o<strong>der</strong> jenes Pfarramt zu nennen, wo ich ggf. mein Glück noch<br />
versuchen könnte, wäre ich Ihnen zu großem Dank verbunden. Vielleicht<br />
ist Ihnen zufällig hie und da sogar <strong>der</strong> jetzt amtierende Pfarrer<br />
namentlich bekannt. Dann würde ich mich natürlich sehr gern auf Sie<br />
beziehen, um so vielleicht etwas eher dort das Wohlwollen zur<br />
Nachforschung zu finden.<br />
Mit freundlichen Grüßen! Ihr sehr ergebener <strong>Arndt</strong> <strong>Richter</strong>―<br />
Bereits nach zwei Monaten erreichte mich die frohe Botschaft, daß <strong>der</strong><br />
„tote Punkt― in meiner Ur-ur-großeltern-Generation beseitigt werden<br />
konnte. Pfarrer Oskar HÄNICHEN schrieb mir am 21. September 1964<br />
aus Dresden:<br />
„Sehr geehrter Herr <strong>Richter</strong>!<br />
Nach vielen vergeblichen Bemühungen habe ich nun doch noch die<br />
Geburtsurkunde des Johann Gottlieb DÖRING – auch zu meiner Freude<br />
– erhalten. Auf Grund <strong>der</strong> Notiz von Reichenberg, die nach<br />
Oberlößnitz wies, forschte ich <strong>im</strong> Kirchenbuchamt in Dresden <strong>im</strong><br />
Kirchenbuch von Dresden-Kaditz, wohin Oberlößnitz gehörte. Ich fand<br />
auch etliche des Namens DÖRING. Die Spur wies jedoch noch<br />
Kötzschenbroda, jetzt Radebeul 2. In den dortigen Kirchenbüchern<br />
fand ich zwei Familien Johann George DÖRING und schrieb mir alles<br />
heraus. Jedoch war noch keine Verbindung zu dem Volkersdorfer<br />
DÖRING zu finden. Ich habe dann noch einmal in Bärnsdorf selbst<br />
alles durchgesehen, insbeson<strong>der</strong>e auch sämtliche Paten von 1813 bis<br />
1826. Aber nur einmal trat Joh. Gottl. DÖRING als Pate auf. Lei<strong>der</strong><br />
stand nur dabei: „Dienstknecht in Volkersdor―, aber nicht, wie ich hoffte<br />
„Sohn des …―. Gleich am Anfang <strong>der</strong> Forschung hatte ich <strong>im</strong><br />
Landeshauptarchiv in Dresden die Volkersdorfer Kaufbücher<br />
durchgesehen. Aber sie versagten ebenfalls. Im Band Nr. 112 <strong>der</strong><br />
Gerichtsbücher von Radeburg Blatt 195 steht wohl <strong>der</strong> Kauf Johann<br />
Gottlieb DÖRINGs, aber da steht lediglich die Bemerkung: „Johann<br />
Gottlieb DÖRING aus Volkersdorf, welcher sich nach dem Versichern<br />
des <strong>Richter</strong>s seit seinem 9. Lebensjahr in Volkersdorf aufgehalten hat.―<br />
Der Kauf lautet: „Es verkauft […] Auf Grund <strong>der</strong> Bezeichnung<br />
„Stiefsohn― <strong>im</strong> Kirchenbuche [Traueintrag in Bärnsdorf] vermutete ich,<br />
daß – da eine Ehe des Joh. Gottlieb JACOB mit einer Witwe nicht<br />
nachzuweisen war – <strong>der</strong> Gesuchte unehelich geboren sein könnte. Und<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 542<br />
so war es auch. […] Lei<strong>der</strong> sind für Liega die Kaufbücher aus dieser <strong>Zeit</strong><br />
nicht mehr vorhanden. Aber die Kirchenbücher gehen bis 1728 in<br />
Schönfeld bei Großenhain zurück. Da mein Urlaub zu Ende geht, kam<br />
ich nicht mehr dazu, dort nachzuforschen. Aber ich habe noch einmal in<br />
Kötzschenbroda die Kirchenbücher durchgesehen. Da kann es wohl<br />
kein Zweifel sein, daß <strong>der</strong> dort am 5.9.1778 geborene Johann George<br />
DÖRING <strong>der</strong> Vater des Johann Gottlieb DÖRING ist. Es gibt sonst in<br />
Kötzschenbroda um diese <strong>Zeit</strong> keinen Johann George DÖRING des<br />
entsprechenden Alters. Vor allem wird er bei seiner Ehe 1805 als Mälzer<br />
und Bierbrauer bezeichnet. Das paßt zu <strong>der</strong> Bezeichnung<br />
„Bräuerbursche― 1797 bei <strong>der</strong> Geburt des Johann Gottlieb. Außerdem<br />
wird sein Vater 1811 als Dammeister <strong>im</strong> Amt Großenhain bezeichnet.<br />
Liega liegt aber bei Großenhain. Ich habe daraufhin die Vorfahren<br />
des Johann George DÖRING, soweit sie in den Kirchenbüchern in<br />
K. zu ermitteln waren, herausgeschrieben. Es sind etwa 30 [sic!].<br />
[…] Ich habe auch noch einiges über die Vorfahren <strong>der</strong> Hanna<br />
Christiana STIEHLER aus Marsdorf herausgeschrieben. Aber ich wußte<br />
nicht, wie weit Sie bereits sie in Ihrer Ahnenliste haben. […] Da mein<br />
Urlaub am 24. 9. zu Ende geht, muß ich vorläufig die Forschung<br />
einstellen. Ich könnte höchstens, wenn Sie es wünschen, an dies o<strong>der</strong><br />
jenes Pfarramt schreiben. Aber größere Forschungen sind nur in<br />
wenigen Fällen den Ämtern zuzumuten. Jedoch bin ich gern weiterhin<br />
bereit, ihnen zu helfen. Mit selbst hat das Forschen Freude gemacht.<br />
Die Abschriften <strong>der</strong> Kirchenbucheinträge schicke ich Ihnen noch zu.<br />
Vorläufig nur die Zusammenstellungen.<br />
Mit freundlichen Grüßen Ihr sehr ergebener Oskar Hänichen<br />
[P.S.] Alles Liebe auch für Ihr Söhnchen und liebe Empfehlungen an Ihre<br />
Gattin.―<br />
Die beigefügte Taufurkunde hat den folgenden Text:<br />
„Auszug aus dem Tauf- bzw. Geburtsregister<br />
<strong>der</strong> Ev.-Luth. Kirchgemeinde Schönfeld Kr. Großenhain<br />
Jahrgang 1797, Nr. 5<br />
Liega 18. Juni ist Anna Rosina, weil. Johann Adam Johnens Gärtners<br />
und Maurers zu Liega ehel. zweite Tochter glückl. von einem<br />
unehelichen Söhnchen entbunden worden. Dessen Vater ein lediger<br />
Bräuerbursche zu Kötzenschbroda, namens Johann George Döring sein<br />
soll, wie diese zum zweitenmal geschwächte versichert. Ihr Kind wurde<br />
am 20. ejus getauft und Johann Gottlieb DÖRING benannt. Die Paten<br />
waren: a.) Daniel Ruhland, Gärtner in Liega. b.) Gottfried Dörpfel jun.<br />
Gottfried Dörpfels Bauers in Liega ehel. zweiter Sohn. c.) Jgfr. Johanna<br />
Christiana, weil. Johann Gottfried Ringels Gärtners in Liega<br />
hinterlassene jüngste Tochter.― Der Wortlaut st<strong>im</strong>mt mit dem<br />
Kirchenbucheintrag wörtlich (nicht orthographisch) überein. Ev.-Luth.<br />
Pfarramt Schönfeld, Heinrich, Pf. (Stempel).―<br />
Im nächsten Jahr (1965) hat mir Pfarrer Oskar HÄNICHEN noch sehr<br />
umfangreiche Forschungsergebnisse aus den Kirchgemeinden in und<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 543<br />
um Dresden mitteilen können (Annenkirche, Auferstehungskirche,<br />
Dresden-Leubnitz-Neuostra, Dresden-Plauen, Pfarramt Freital-<br />
Döhlen, Pfarramt Possendorf). Lei<strong>der</strong> erfuhr ich bereits damals von<br />
ihm, daß er gesundheitliche Probleme hat.<br />
Am 25. Juni 1965 schrieb er mir u. a:<br />
„Ihr Brief vom 29. Mai erreichte mich in Dresden, als ich dort für ein paar<br />
Tage zur Nachkur nach einer Herzkur in Bad Liebenstein mich aufhielt.<br />
Da habe ich gleich einiges, was in <strong>der</strong> Nähe lag, erforscht, <strong>im</strong><br />
Kirchenbuchamt Dresden, be<strong>im</strong> Pfarramt Freital-Döhlen und<br />
Possendorf. Das Forschen <strong>im</strong> Kirchenbuchamt ist zum Teil etwas<br />
schwierig, da für die <strong>Zeit</strong> vor 1800 <strong>im</strong> allgemeinen keine Register<br />
vorhanden sind. So müssen die oft sehr umfangreichen Jahrgänge<br />
einzeln durchgegangen werden. […] Augenblicklich habe ich etliche<br />
Beschwerden wohl durch einen Nierenstein, die auch erst behoben<br />
werden müssen. […]<br />
Im nächsten Jahr mußte mir Pfarrer HÄNICHEN lei<strong>der</strong> mitteilen, daß<br />
sich sein Zustand nicht wesentlich gebessert hat, daß er<br />
Bindegewebsmassagen und Vitaminspritzen bekommt und er sein Amt<br />
noch nicht wie<strong>der</strong> ausüben kann. Und trotzdem schrieb er mir bei dieser<br />
Mitteilung <strong>im</strong> Winter am 9. Februar 1966: „Gelegentlich eines Besuches<br />
be<strong>im</strong> Arzt in Dresden habe ich die Kirchenbücher in Pesterwitz<br />
eingesehen. Im Kirchenbuchamt in Dresden ist <strong>der</strong> betr. Raum nicht<br />
geheizt, sonst wäre ich dorthin gegangen. Was ich in Pesterwitz<br />
gefunden habe, teile ich Ihnen anbei mit. In Pesterwitz. ergab sich eine<br />
neue Ahnengemeinschaft mit mir. Hans KÜNTZELMANN (Ziff. 2596)<br />
ist auch mein Ahn. Herr Studienrat Richard WÄTZIG ist dabei, eine<br />
Stammliste KÜNTZELMANN aufzustellen, an <strong>der</strong> ich zum Teil<br />
mitgearbeitet habe.―<br />
Sein letzter persönlicher Gruß kam mit einer Postkarte am 5. 8. 1966<br />
aus dem Kreiskrankenhaus in Görlitz. Anfang September erhielt ich<br />
dann von Frau Hildegard HÄNICHEN die für mich so schmerzliche<br />
Nachricht, daß Ihr geliebter Mann am 1. September 1966 <strong>im</strong> Alter von<br />
63 Jahren nach „langer Leidens- und Prüfungszeit― verstorben sei.<br />
Der Entwurf <strong>der</strong> Stammtafel (bzw. –liste) KÜNTZELMANN sollte dann<br />
später mit sehr viel Datenmaterial über Herrn WÄTZIG in meinen Besitz<br />
gelangen. Dies war für mich dann auch <strong>der</strong> Beginn für eine ganz „neue<br />
Qualität“ in <strong>der</strong> Genealogie. Denn die Stammtafel als Spezialfall einer<br />
Gesamtnachkommenschaft brachte ich auch mit <strong>der</strong> Genetik in<br />
Verbindung, d.h. mit <strong>der</strong> geschlechtgebundenen Vererbung durch<br />
das Y-Chromosom. Damit war damals schon die Basis für die von mir<br />
als „<strong>GeneTalogie</strong>“ bezeichnete Forschungsrichtung ( = Genetik,<br />
Genealogie und Statistik) gelegt. Die Stammtafel KÜNTZELMANN war<br />
dann auch viel später um 2004 ein Ausgangspunkt für vergleichende<br />
Studien an Stammtafeln an Dutzenden an<strong>der</strong>er Geschlechter aus<br />
verschiedenen deutschen Landschaften.<br />
http://www.genetalogie.de/diskussion/ychromosom.htmln<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 544<br />
http://www.genetalogie.de/schema/sfam.html<br />
Nur zur KÜNTZELMANN-Stammtafel hatte ich als ein KÜNTZELMANN-<br />
Nachkomme persönliche Beziehungen. -<br />
Doch zur Stammtafelforschung <strong>im</strong> allgemeinen und zu „meiner―<br />
KÜNTZELMANN-Stammtafel <strong>im</strong> beson<strong>der</strong>en wird später noch<br />
ausführlicher berichtet. Zunächst sei über meine Forschungen berichtet,<br />
die ohne die verständnisvolle Hilfe einiger amtieren<strong>der</strong> Pfarrer in<br />
Sachsen nicht möglich gewesen wären.<br />
Am 23.2.1964 schrieb ich folgenden Dankesbrief an den jungen<br />
Pfarrer Ernst KIMME in Wolkenburg/Mulde:<br />
Sehr geehrter Herr Pfarrer K<strong>im</strong>me!<br />
Eine wirklich große Freude machten Sie mir durch die so<br />
außerordentlich prompte Erfüllung meiner Bitte. Die so schöne und klare<br />
Anordnung (mit Angabe <strong>der</strong> Kirchenbücher) hat mich beson<strong>der</strong>s erfreut.<br />
Hierfür sage ich Ihnen meinen allerbesten Dank. Ich wünschte, das<br />
Verständnis für familienkundliche Forschungen wäre überall so groß! An<br />
das Ev.-Luth. Pfarramt Nie<strong>der</strong>steinbach bei Penig i. Sa. wandte ich mich<br />
1955 und 1956 mit einer ähnlichen Bitte; lei<strong>der</strong> bekam ich keine<br />
Nachricht. Vor 14 Tagen versuchte ich es nunmehr nochmals. Ob dieses<br />
Pfarramt wohl verwaist o<strong>der</strong> aufgelöst ist?<br />
Ein kleines Kaffeepäckchen schickte ich gestern früh an Sie und hoffe,<br />
Ihnen damit eine ganz kleine Freude zu machen. Sollten Sie einen<br />
kleinen Wunsch haben? Bitte schreiben Sie es mir! Mit freundlichen<br />
Grüßen Ihr ergebener <strong>Arndt</strong> <strong>Richter</strong>―<br />
(Briefkarte von Pfarrer Ernst KIMME, handschriftlich):<br />
„Wolkenburg/Mulde 11. III. 1964<br />
Sehr geehrter Herr <strong>Richter</strong>!<br />
Haben Sie herzlichen Dank für Ihren freundlichen Brief vom 23. Februar,<br />
in welchem Sie ein Päckchen ankündigten. Am 9. März erreichte es uns<br />
zu unserer großen Freude wohlbehalten. Zudem haben Sie alles<br />
ausgezeichnet getroffen. Kaffe können wir uns nicht selbst kaufen,<br />
da er bei uns zu unerschwinglich <strong>im</strong> Preise ist und Raucher bin ich<br />
zudem auch noch. Haben Sie für diese Freundlichkeit recht herzlichen<br />
Dank.<br />
Erst seit 4 Monaten bin ich Pfarrer <strong>der</strong> beiden Kirchengemeinden<br />
Wolkenburg und Kaufungen. Es ist meine erste selbständige Pfarrstelle<br />
überhaupt. Obwohl es hier sehr viel zu tun gibt (die beiden Gemeinden<br />
waren früher selbständig), macht mir die Arbeit doch auch Freude, weil<br />
ich in meinen Kirchenvorstehern tatkräftige Hilfe habe. Nie<strong>der</strong>steinbach<br />
wird von Langenleuba-Oberhain aus mitverwaltet. Den seit vielen Jahren<br />
dort amtierenden Pfr. FÜHRER habe ich allerdings als einen sehr<br />
zuverlässigen Pfarrer bisher kennengelernt. Es sollte mich wun<strong>der</strong>n,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 545<br />
wenn er gar nichts von sich hören ließe. Haben Sie nochmals herzlichen<br />
Dank für Ihr liebes Päckchen und seien Sie herzlich gegrüßt von Ihrem<br />
E. K<strong>im</strong>me―.<br />
Am 13. Dezember 1965 schickte mir Pfarrer Ernst KIMME weitere<br />
umfangreiche Forschungsergebnisse aus den Kirchenbüchern mit<br />
folgendem Begleitschreiben:<br />
„Sehr geehrter Herr <strong>Richter</strong> !<br />
Gestern erinnerten Sie mich auf Ihre freundliche Weise durch ein<br />
Päckchen, das wohlbehalten bei uns eingetroffen ist und meine Frau<br />
und mich hoch erfreut haben. Schon seit dem Sommer liegen diese<br />
beiden Bogen mit Ihrer Ahnenforschung bei mir herum. Ich hatte mir<br />
vorgenommen, den einen Ast noch weiter zu verfolgen, komme aber<br />
einfach nicht mehr dazu, weil die Pfarramtsarbeit mich völlig in Beschlag<br />
n<strong>im</strong>mt. An<strong>der</strong>e Ahnendinge liegen schon über ein halbes Jahr ebenfalls<br />
unangerührt.- Hoffentlich geht es Ihnen und Ihrer Familie gesundheitlich<br />
gut. Wir erwarten noch vor dem Christfest unser zweites Kind. Unser<br />
kleiner Thomas ist schon ein großer kräftiger Junge geworden, an dem<br />
wir große Freude haben. Nun wünschen wir uns ein Schwesterchen<br />
dazu. Wenn ich an Sie eine Bitte äußern darf, dann möchte ich für die<br />
Pfarramtsschreibmaschine um ein gutes Farbband bitten, weil die<br />
unsrigen so schnell durchgeschlagen sind. Doch das eilt keinesfalls! Mit<br />
herzlichen Segenswünschen für Sie und Ihre Familie für die Adventsund<br />
Weihnachtszeit grüße ich Sie herzlich zugleich <strong>im</strong> Namen meiner<br />
Frau Ihr Ernst K<strong>im</strong>me―<br />
Darauf schrieb ich Pfarrer K<strong>im</strong>me am 19. 12. 1964:<br />
„Sehr geehrter, lieber Herr Pfarrer K<strong>im</strong>me!<br />
Was für eine riesige Wochenendfreude zur Adventszeit haben Sie mir<br />
durch Ihren lieben Brief bereitet. Das ist ja wirklich eine reiche Ernte an<br />
Datenmaterial für meine familienkundliche Sammlung! Haben Sie mir<br />
doch – sage und schreibe – 50 Ahnen neu erschlossen! Dazu sage<br />
ich Ihnen meinen allerherzlichsten Dank. Von dem Umfang <strong>der</strong> Arbeit,<br />
die damit verbunden war, kann ich mir in etwa schon eine Vorstellung<br />
machen!! Hierdurch haben Sie mich aber auch etwas verlegen gemacht.<br />
Wie soll ich mich für soviel wohlwollendes Verständnis und die liebevolle<br />
Mühe jemals abfinden?<br />
Vorhin brachte ich gleich ein Päckchen für Ihre Gattin zur Post, das<br />
meine Frau gestern packte. Es enthält eine „Penaten―-Wickelgarnitur<br />
(Kin<strong>der</strong>seife, -öl, -pu<strong>der</strong> u. –creme). Hoffentlich kommt es bald in Ihre<br />
Hände, denn manchmal betrachtet ein etwas finsterer Kontrolleur<br />
solches als eine Medikamentensendung, die bekanntlich ja verboten<br />
sind. Eine ähnliche Sendung an meine Cousine in Dresden wurde uns<br />
neulich wie<strong>der</strong> zurückgeschickt. Wir schickten das Päckchen daraufhin<br />
nochmals ab – und da kam es dann unbeschadet auch an! Vielleicht hat<br />
Ihr kleiner Thomas bereits ein Schwesterchen bekommen? Wir<br />
wünschen jedenfalls Ihrer Gattin alles Gute und rasche Genesung.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 546<br />
Unser Udo ist jetzt auch schon 9 Monate alt, untern<strong>im</strong>mt die ersten<br />
Gehversuche und macht uns viel Freude. Ein Farbband geht nächste<br />
Woche an Sie ab.- Während <strong>der</strong> Weihnachtsfeiertage sind wir bei<br />
meinen Eltern, die jetzt in <strong>der</strong> Nähe von Nürnberg wohnen. Momentan<br />
schneit es hier in München. Schön wäre es, wenn zu Weihnachten eine<br />
Schneedecke die Landschaft überzöge, dann könnte auch Udo auf<br />
Omas Schlitten fahren und wir brauchten den Kin<strong>der</strong>wagen nicht mit auf<br />
die Reise nehmen. Herzliche Grüße, gesegnete Weihnachten sowie die<br />
allerbesten Wünsche für das neue Jahr an Sie und Ihre liebe Familie<br />
Ihr <strong>Arndt</strong> <strong>Richter</strong>―<br />
Darauf schrieb Frau Christa KIMME am 6. I. 65 aus Wolkenburg an<br />
meine Frau den folgenden Dankesbrief:<br />
„Liebe Frau <strong>Richter</strong>!<br />
Ich möchte mich sehr herzlich bedanken für die Penaten-Wickelgarnitur,<br />
die bei uns unbeschadet am 31. XII. 64 eingetroffen ist. Ich kann dieses<br />
recht gut gebrauchen, da ja nun zwei Buben glatte Hinterviertel haben<br />
wollen. – Am 14. XII. wurde unser kleiner Martin geboren. Da konnten<br />
wir zwei dann auch zu Weihnachten zu Hause sein. Wir haben recht<br />
glückliche Feiertage verlebt, obwohl mein Mann eine Predigt nach <strong>der</strong><br />
an<strong>der</strong>en schreiben mußte. Unser „Großer― hat lange den brennenden<br />
Christbaum angestaunt. Sein neues Spielzeug hat ihn kaum interessiert,<br />
dafür aber um so mehr das Papier von den vielen Päckchen. Und jetzt<br />
angelt er <strong>im</strong>mer mit zwei Fingern nach den Lamettafäden. Interessant<br />
für ihn ist auch das A-a-Töpfchen und täglich kriecht er hinein in seine<br />
Wun<strong>der</strong>welt, die Vatis Studierstube mit den vielen Büchern und das<br />
Wohnz<strong>im</strong>mer mit den großen Blumentöpfen ist.<br />
Später erzählte er uns dann alles mit viel Hand- und Armbewegungen<br />
und für uns lei<strong>der</strong> noch unverständlichen Vokabeln. –Sie machen uns<br />
viel Freude, die zwei kleinen Buben.<br />
Wir Wünschen auch Ihrem Söhnchen gutes Gedeihen, Ihnen und Ihrer<br />
Familie Gottes Segen für dieses neue Jahr! Mein Mann möchte sich<br />
auch sehr herzlich bedanken für das Farbband! Viele Grüße! Ihre<br />
Christa K<strong>im</strong>me und Familie―.<br />
Mit Pfarrer Ernst K<strong>im</strong>me sollte ich später nochmals bei <strong>der</strong> Erforschung<br />
meiner RICHTER-Stammlinie in Verbindung kommen, nachdem in<br />
Dresden die Archivforschungen nach Rußdorf bei L<strong>im</strong>bach-Oberfrohna<br />
gewiesen hatten, das auch zum Amtsbereich von Pfarrer KIMME gehört.<br />
Doch zunächst eine auch wie<strong>der</strong> zeitgenössisch interessante<br />
Korrespondenz mit Pfarrer Ernst Führer, mit dem ich nun nach 9<br />
Jahren doch noch in Verbindung gekommen bin - und welch’<br />
freundliches Verständnis fand ich auch bei ihm!<br />
„Ernst Führer<br />
Pfarrhaus Langenleuba-Oberhain,<br />
den 31. Juli 1964<br />
Mein sehr verehrter Herr <strong>Richter</strong>!<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 547<br />
Vorhin kam mit <strong>der</strong> Post ein Päckchen, dem ein lieblicher, aromatischer<br />
Duft entströmte! Seien Sie allerherzlichst bedankt! Ich weiß nicht, ob Sie<br />
in Leipzig bekannt sind: zu meiner Thomanerzeit (ich war 1913-1922 <strong>im</strong><br />
Thomanerchor) war Ecke Petersstraße und Königsplatz (heute<br />
Leuschner-Platz) das beste Kaffeegeschäft Leipzigs (hochberühmt):<br />
Kaffeegeschäft <strong>Richter</strong>! Sollten Sie ob Ihrer Güte und Freude, die Sie<br />
mit dem edlen Getränk verbinden, etwa auch ahnenmäßig mit dem<br />
Leipziger „Kaffee-<strong>Richter</strong>― zu tun haben???!!! Also: nochmals<br />
allerherzlichsten Dank!<br />
Ich hoffe, daß Sie in diesen Tagen die zwei Briefe von mir empfangen<br />
haben, die ich am letzten Sonntag (26. Juni) und am vergangenen<br />
Dienstag (28. Juni) schrieb: darin habe ich Ihre Fragen nach Ihren<br />
Ahnen Börnig und Kästner beantwortet, und zwar so ausführlich, wie es<br />
mir möglich war! Ich nehme an, daß Sie das interessierte!<br />
Herzliche Grüße von Haus zu Haus! Und sehr, sehr herzlichen<br />
Dank!<br />
Ihr sehr ergebener Pfarrer<br />
Ernst Führer―<br />
Er war <strong>der</strong> Vater von Christian Führer, des später berühmten Nikolai-<br />
Kirchen-Pfarrers <strong>der</strong> Leipziger Montags-Demonstrationen kurz vor <strong>der</strong><br />
politischen Wende! In den 90er Jahren hatte ich Gelegenheit mit meiner<br />
Frau Pfarrer Ernst Führers Grab in Langenleube-Oberhain zu besuchen<br />
und mir in Leipzig nach einem Gottesdienstbesuch in <strong>der</strong> Leipziger<br />
Nikolaikirche von Pfarrer Christian Führer persönlich seinen von mir<br />
vermuteten Vater bestätigen zu lassen.-<br />
Am 2.7. 1964 hatte ich Ernst FÜHRER meine persönlichen<br />
Beziehungen zu Langenleuba-Oberhain mitgeteilt, wo er seit 36 Jahren<br />
das Pfarramt bekleidete hat (wie er mir später mitteilte). Ich schrieb:<br />
„Eine große Freude würden Sie mir – verehrter Herr Pfarrer – bereiten,<br />
wenn Sie mir aufgrund <strong>der</strong> Kirchenbücher noch versuchen könnten, die<br />
Lebensdaten <strong>der</strong> Eltern und ggf. <strong>der</strong> Großeltern zweier meiner Ahnen zu<br />
ermitteln. In <strong>der</strong> Anlage füge ich die mir bekannten Daten bei.― Es<br />
handelte sich hier um das Ehepaar Andreas BOERNIG, Bauer und<br />
Nachbar und Eva KÄSTNER, die beide in Langenleuba-<br />
Oberhain/Westsachsen, geboren und getraut worden waren. Die<br />
späteren Forschungsergebnisse zur Familie KÄSTNER führten dann<br />
sogar auf eine Ahnengemeinschaft mit meinem Dresdner Landsmann,<br />
dem bekannten Schriftsteller Erich KÄSTNER, (* Dresden 23.2.1899, +<br />
München 29.7.1974). Freilich wurde bei ihm ja nach seinem Tode<br />
bekannt, daß sein leiblicher Vater nicht <strong>der</strong> Dresdner Sattlermeister Emil<br />
Kästner, 1867-1957, war, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> jüdische Arzt Sanitätsrat Dr. med.<br />
Emil ZIMMERMANN, 1864-1953, <strong>der</strong> 1938 seine Approbation als Arzt in<br />
Dresden verlor und 1939 über die Schweiz nach Südamerika<br />
auswan<strong>der</strong>n mußte! (siehe: Archiv für Sippenforschung (1999) Jg. 3,<br />
H.1, S. 30-48).<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 548<br />
Ich schrieb dann weiter: „Mein Großvater väterlicherseits Friedrich<br />
Hermann RICHTER wurde übrigens in Langenleuba-Oberhain am 5.<br />
Okt. 1957 geboren. Er war zuletzt Baumeister und Ziegelwerksbesitzer<br />
in Dresden (+ 1942). Eine Fahrt nach Langenleuba-Oberhain als Kind<br />
mit meinen Eltern während <strong>der</strong> letzten Kriegsjahre ist mir noch gut in<br />
Erinnerung: Ein schmuckes langes, unglaublich langes Dorf an einer<br />
Straße. Und bei <strong>der</strong> Familie Willy WEBER türmten sich Berge von<br />
wun<strong>der</strong>bar leckerem Kuchen aller Sorten! Wie hat <strong>der</strong> mir damals<br />
geschmeckt! Es mußte wohl seinerzeit gerade Kirmes gewesen sein.―<br />
Am 29. Aug. 1964 antworte ich Pfarrer Ernst FÜHRER auf sein<br />
Schreiben vom 31. Juli:<br />
„Nachdem nun auch bei mir <strong>der</strong> Alltag wie<strong>der</strong> begonnen hat, möchte ich<br />
mich noch einmal ganz herzlich für das so umfangreiche<br />
familienkundliche Material bedanken, das Sie mir freundlicherweise aus<br />
den Kirchenbüchern von Langenleuba-Oberhain und Nie<strong>der</strong>steinbach<br />
zusammenstellten. Vor allem warten auch die vielen mir von Ihnen<br />
mitgeteilten Einzelheiten für mich äußerst wertvoll und interessant.<br />
Die Daten sind nunmehr von mir in meine Kartei eingeglie<strong>der</strong>t, und ich<br />
bin sehr stolz über den beachtlichen Zuwachs, den meine Sammlung<br />
durch Ihre so wohlwollende Unterstützung gefunden hat. Bei „unserem―<br />
Willy WEBER handelt es sich um den <strong>im</strong> Mitteldorf (Gasthof)<br />
wohnenden. Von meinen Eltern erhielt ich vor einer Woche eine sehr<br />
schöne Photo-Postkarte aus dem Jahre 1923, in <strong>der</strong> W. WEBER meinen<br />
Großeltern in Dresden („Lieber Onkel & Tante …―) ankündigt, daß er die<br />
Pferdeausstellung in Dresden besuchen wird und bittet bei ihnen<br />
übernachten zu dürfen. Unterschrift: „Willy WEBER mit Elfriede und<br />
Günter―. Das Photo zeigt den Fachwerkhof mit Familie, Gesinde und<br />
Pferden! Ein Stück meiner Sammlung, über das ich mich auch riesig<br />
gefreut habe. Auch Ihre so netten Zeilen vom 31.7. haben mich sehr<br />
erfreut. Über den Vergleich mit dem „Leipziger-Kaffe-<strong>Richter</strong>― habe ich<br />
mich amüsiert; in Leipzig kenne ich mich so gut wie gar nicht aus –<br />
sicher ist dieser <strong>Richter</strong> auch nicht mit uns verwandt, zumindest nicht<br />
direkt.―<br />
Im Lauf meiner Forschungen konnte ich dann später vier unabhängige<br />
RICHTER-Linien in meiner Ahnentafel erforschen (zwei <strong>im</strong> Raume<br />
Chemnitz/Altenburg (Thür.) und zwei in Dresden und Umgebung.<br />
Am 8. September 1964 teilte mir Pfarrer Führer bereits weiter<br />
Ahnendaten mit und schrieb: ―Anbei die erbetenen Auskünfte. Es langte<br />
mit <strong>der</strong> Arbeit bloß bis zu den Eltern <strong>der</strong> Maria geb. GEISSLER. „Ihr―<br />
Willy WEBER war (jetzt heißt es schon „war―) <strong>der</strong> sogenannte<br />
„Schenken―-Weber (Gasthofsbesitzer in <strong>der</strong> Mittelgemeinde): <strong>im</strong><br />
Gegensatz zum Willy WEBER <strong>im</strong> Oberdorf, <strong>der</strong> als „Jagd―-Weber<br />
bekannt war. Das Fachwerk-Bauernhaus und <strong>der</strong> Gasthof stehen heute<br />
noch so, wie sie Ihnen bekannt sind. Den Gasthof (verpachtet, von<br />
jeher) und den Hof besitzt heute <strong>der</strong> jüngere Sohn: Martin WEBER. Es<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 549<br />
lebt nur noch die zweite Frau von Willy WEBER. Er selbst, Willy<br />
WEBER, ist in diesem Jahr - 70 Jahre alt – verstorben (ich hatte ihn<br />
noch acht Tage vorher vor seinem He<strong>im</strong>gang besucht). … Willy WEBER<br />
war ein begeisterter Reiter und Pferdefreund.<br />
Da ich 36 Jahre schon Pfarrer in Langenleuba-Oberhain und<br />
Nie<strong>der</strong>steinbach bin, bekommen für mich die Kirchenbucheinträge<br />
<strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> Leben und Gestalt. Bei Gelegenheit (es gibt wie<strong>der</strong> viel<br />
Arbeit, wenn <strong>der</strong> Herbst anfängt (Bibelwochenvorbereitung usw.) will ich<br />
sehen, ob ich noch die Daten von Georg GEISSLER /Sybille geb.<br />
BÖRNIG und George HARZENDORF/ Dorothee geb. WELCKER finden<br />
kann. Herzliche Grüße von Haus zu Haus! Ihr sehr verbundener Pfarrer<br />
Ernst Führer―<br />
Noch am gleichen Tag verfaßte Ernst FÜHRER einen weiteren Brief<br />
mit nochmals zwei Seiten Datenangaben. Er schrieb: „Sehr geehrter<br />
lieber Herr <strong>Richter</strong>! Da es vorhin regnete, und ich deshalb keine<br />
Besuche machen konnte, habe ich mich gleich noch hingesetzt und<br />
Ihnen den Rest Ihrer Anfrage beantwortet. Bei den alten Kirchenbüchern<br />
sind oft die Namen schwer zu entziffern. Die Echtheit kommt dann be<strong>im</strong><br />
Forschen und Vergleichen ans Tageslicht. So ist einwandfrei nicht<br />
BOERNIG zu lesen, son<strong>der</strong>n Sibylle GEISSLER geb. BIERING.<br />
Herzliche Grüße von Haus zu Haus! Ihr sehr verbundener Pfarrer Ernst<br />
Führer.―<br />
Bereits am 22. September 1964 erhielt ich von Pfarrer FÜHRER weitere<br />
Daten mit dem Anschreiben: „Mein sehr verehrter, lieber Herr <strong>Richter</strong>!<br />
Es ist mir eine große Freude, daß ich Ihnen mit <strong>der</strong> Aufstellung Ihrer<br />
Ahnen eine Freude machen konnte! Es ist tatsächlich etwas ganz<br />
Großes, die alten Kirchenbücher aufschlagen zu können und die<br />
lieben Menschen lebendig vor die Augen gestellt zu bekommen, die<br />
uns vorangingen! Stammt Ihr lieber Herr Großvater Friedrich Hermann<br />
RICHTER aus dem Oberdorf, o<strong>der</strong> ist Ihnen die Stätte Ihrer Väter nicht<br />
bekannt? Herzlichen Dank für Ihren Brief vom 16. September, <strong>der</strong><br />
gestern ankam und für das so sehr liebe Päckchen, das heute in meine<br />
Hände gelangte! Seien Sie auf das herzlichste bedankt: für den Trank<br />
Arabiens (wir Sachsen lieben ja so sehr den Kaffee!!), für das in<br />
Friesland so beliebte Getränk (die Frieslän<strong>der</strong>, Hamburger und vor allem<br />
die Englän<strong>der</strong> trinken ja den Tee so gerne: They like a cup of tea)! Und<br />
auch Schokolade war noch drin! Es ist alles unversehrt zu uns gelangt!<br />
Allerherzlichsten Dank! Das war alles eine hin und her gehende Freude!<br />
Nun noch zu Ihren Fragen: …..Lassen Sie es sich bitte nochmals sagen:<br />
Ihr Brief vom 16. September und das so feine Paket hat mir eine<br />
herzlichste Freude bereitet! Allerherzlichsten Dank dafür! Herzliche<br />
Grüße von Haus zu Haus: von <strong>der</strong> Mulde bis zur Isar: Ihr sehr<br />
verbundener Pfarrer Ernst Führer.―<br />
Auch aus dem folgenden Brief geht hervor, welches Glück ich hatte,<br />
auch in Pfarrer FÜHRER auf einen so aufgeschlossenen, verständigen<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 550<br />
und lieben Menschen für meine Ahnenforschung in Westsachsen zu<br />
stoßen:<br />
„Pfarrer Ernst FÜHRER<br />
Pfarrhaus Langenleuba-Oberhain,<br />
den 26. Oktober 1964<br />
Mein sehr verehrter, lieber Herr <strong>Richter</strong>!<br />
Haben Sie sehr herzlichen Dank für den Brief, den Sie mir am<br />
Geburtstag Ihres lieben Großvaters (Friedrich Hermann <strong>Richter</strong>, geb.<br />
den 5. Oktober 1857) schrieben und für das liebe Päckchen mit dem<br />
hervorragenden Kaffee, das heute unversehrt in meine Hände gelangte.<br />
Sie haben mir damit eine sehr, eine große Freude bereitet! Nochmals<br />
allerherzlichsten Dank! Ich habe nochmals <strong>im</strong> Kirchenbuch<br />
nachgesehen: Ihr Herr Großvater stammte aus <strong>der</strong> Untergemeinde<br />
(Vater: Herr Ernst Gottlob RICHTER, Instrumentenbauer und begüterter<br />
Einwohner <strong>der</strong> UG. = Untergemeinde). Bei <strong>der</strong> Trauung Ihrer<br />
Urgroßeltern (Anfang 1851 in Flemmingen) steht als Beruf Ihres Herrn<br />
Urgroßvaters da: „Tischlermeister und Gartengutsbesitzer allhier.― Da<br />
hat er sich dann in den nächsten Jahren also „qualifiziert― zum<br />
Instrumentenbauer. Schreiben Sie doch bitte noch einmal an Herrn<br />
Pfarrer VOGELSANG nach Flemmingen! Es kommt schon vor (bei mir<br />
war’s doch auch so!!!!!), daß ein Pfarrer vor sonstiger vieler Arbeit nicht<br />
zur Beantwortung von Forschungsfragen kommt und dann die<br />
Angelegenheit – in keiner Weise etwa ungehalten – außer Acht läßt!<br />
Herzlichsten Dank und herzlichste Grüße von Haus zu Haus!<br />
Ihr sehr verbundener Pfarrer Ernst Führer―<br />
Abschließend sei noch ein weiterer Brief unserer ausgiebigen<br />
Korrespondenz vom gleichen Jahr zitiert:<br />
„Ernst Führer Pfarrhaus Langenleuba-Oberhain,<br />
den 10. November –<br />
Luthers Geburtstag - 1964<br />
Mein sehr verehrter, lieber Herr <strong>Richter</strong>! Ihren freundlichen Brief vom<br />
Reformationsfest beantworte ich stilgerecht an Luthers Geburtstag! Ich<br />
freue mich, gefunden zu haben, daß die liebe Frau Justina GRAICHEN,<br />
geb. HARZENDORF in Steinbach („jenseits des Bächleins― = früher zu<br />
Flemmingen gehörig) aus Wernsdorf stammt und in Nie<strong>der</strong>steinbach<br />
getauft wurde (geboren in Wernsdorf). Gestern und vorgestern war<br />
unsere Kirmes hier, wie vor 14 Tagen in Nie<strong>der</strong>steinbach. Da habe ich<br />
am Kirchweihmontag eine Glockenpredigt gehalten. Ihre<br />
Nie<strong>der</strong>steinbacher Vorfahren wurden mit den Glocken zur Taufe,<br />
Trauung und Gottesacker geführt, die von 1585 bis 1858 läuteten.<br />
Seitdem haben wir „neue― Glocken. In Langenleuba-Oberhain läutet es<br />
seit 19. Mai 1600. Da heißt es <strong>im</strong> Kirchenbuch: „Hier wurde mit einer<br />
Glocke angefangen zu läuten.― „Vorher ist alles still zugangen!― Aber nun<br />
steht die Gegenwart (Bibelwoche, Ewigkeitssonntag, Bußtag und die<br />
ganze Weihnachtsarbeit) for<strong>der</strong>nd vor mir. Da werden die Kirchenbücher<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 551<br />
– wenn nicht Amtshandlungen von jetzt eingetragen werden müssen –<br />
ruhen von forschenden Augen. Viel, viel Bedeutsames weisen unsere<br />
lieben alten Kirchenbücher auf! Seien Sie und Ihre Lieben herzlichst<br />
gegrüßt vom Mittelsächsischen Hügelland zur Münchner Hochebene! Ihr<br />
sehr verbundener Pfarrer Ernst Führer―<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
15.6 Der eigene RICHTER-Stamm <strong>im</strong> thüringischsächsischen<br />
Territorialgeflecht.<br />
Außer den großen Schwierigkeiten zur Überwindung des „toten Punktes―<br />
bei meinem mütterlichen Ur-Ur-großvater Johann Gottlieb DÖRING, *<br />
Liega 18. 6. 1797 (Ahnen-Nr. 26) gab es bei <strong>der</strong> weiteren Erforschung<br />
meiner väterlichen RICHTER-Stammlinie in Westsachsen ähnliche<br />
Probleme, wovon hier ebenfalls noch einiges berichtet werden soll. Aus<br />
einer Ahnentafel, in die mein Vater die Daten in ein gedrucktes<br />
Ahnentafelformular fein säuberlich mit grüner Tinte eingetragen hatte,<br />
waren mir <strong>im</strong>merhin von meiner väterlichen Ahnentafelseite fast alle<br />
genealogischen Grunddaten vollständig bis zur Ur-ur-ur-Großeltern-<br />
Generation (Ahnen-Nrn. 32-47) bekannt.<br />
Diese Daten hatte mein Vater von seinem Bru<strong>der</strong> erhalten, <strong>der</strong> diese<br />
Angaben als Eigentümer einer Dresdner Baufirma als „Arier-Nachweis―<br />
in <strong>der</strong> NS-<strong>Zeit</strong> vorlegen mußte. Diese schon relativ gut erforschte<br />
Ahnentafelseite war <strong>im</strong>merhin eine gute Ausgangsbasis zur weiteren<br />
Forschung.<br />
Ausgangspunkt zur weiteren Erforschung meiner RICHTER-<br />
Stammlinie tunlichst bis ans Ende <strong>der</strong> urkundlichen Nachweise war das<br />
Ev.-Luth. Pfarramt in Nie<strong>der</strong>frohna, Kr. Chemnitz. Hier hatte ich wie<strong>der</strong><br />
das große Glück, auf den sehr hilfsbereiten Pfarrer Joach<strong>im</strong><br />
ENGEMANN zu stoßen, dem die verständnisvolle Küsterin und<br />
Kanzleihilfe Frau E. BUCHMANN bei den Kirchenbuchforschungen zur<br />
Seite stand.<br />
Am 18. 4. 1964 schreib mir Pfarrer ENGEMANN:<br />
„Sehr geehrter Herr <strong>Richter</strong>!<br />
Sie haben lange auf Antwort warten müssen, aber dafür ist auch die<br />
Ausbeute reich. Unsere Küsterin und Kanzleihilfe, Frau BUCHMANN,<br />
hat sich alle Mühe gegeben, die verwandtschaftlichen Linien so weit als<br />
möglich auszuziehen. Da unsere Kirchbücher glücklicherweise bis in die<br />
Reformationszeit zurückreichen, hat sie allerhand finden können. Eine<br />
Gebühr können wir, aus währungstechnischen Gründen, nicht erheben.<br />
Wir verzichten auch von seiten des Pfarramtes auf eine an<strong>der</strong>e Form<br />
<strong>der</strong> Vergütung. Ich wäre Ihnen jedoch dankbar, wenn Sie Frau<br />
BUCHMANN, die die ganze Arbeit geleistet hat (sie war mehrere<br />
Wochen, mit Unterbrechungen natürlich, mit Ihrer Ahnensache<br />
beschäftigt), als Anerkennung ein Lebensmittelpäckchen senden<br />
würden. Sie leidet zwar keine Not, würde sich aber sicher über eine<br />
solche Aufmerksamkeit freuen.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 552<br />
Mit freundlichen Grüßen! Ihr Pfarrer Joach<strong>im</strong> Engemann―<br />
Am 3. Juni 1964 kam aus Nie<strong>der</strong>frohna das Dankesschreiben von<br />
Pfarrer ENGEMANN:<br />
Sehr geehrter Herr <strong>Richter</strong>!<br />
Mit ganz großer Freude empfingen Frau BUCHMANN und auch ich<br />
Ihre wun<strong>der</strong>vollen Sendungen. Wir haben uns beide riesig darüber<br />
gefreut. Dass Sie auch mich mit so feinem Kaffee und famosen<br />
Tabakwaren bedachten, hatte ich wirklich nicht erwartet, aber gerade<br />
deshalb war die Freude beson<strong>der</strong>s groß. Die Pakete waren sehr lange<br />
unterwegs, kamen aber dann doch noch wohlbehalten an. Diesem<br />
Schreiben liegt noch ein Kirchenbuchauszug bei, <strong>der</strong> Ihre Vermutung<br />
bestätigt: Gottlob RICHTER ist tatsächlich <strong>der</strong> Vater des 1801<br />
geborenen Johann Christian Friedrich RICHTER. Ein an<strong>der</strong>er<br />
Landfuhrmann Gottlob RICHTER ist nicht nachweisbar. Auch das<br />
Todesjahr 1808 paßt zu dem 1736 geborenen Gottlob RICHTER. Frau<br />
Buchmann wird Ihnen wohl selbst den Empfang Ihres Paketes bestätigt<br />
haben.<br />
Mit herzlichen Grüßen bin ich Ihr Joach<strong>im</strong> Engemann―<br />
Den Empfang des Paketes hatte mir Frau BUCHMANN schon am 21.<br />
Mai 1964 bestätigt:<br />
„Werter Herr <strong>Richter</strong>!<br />
„Für Ihr so liebes Paket, welches ich am Pfingstsonnabend erhielt,<br />
meinen besten Dank. Habe mich sehr darüber gefreut über all die guten<br />
Sachen, es ist ganz pr<strong>im</strong>a angekommen, nur lei<strong>der</strong> steht das Päckchen<br />
an Herrn Pfarrer noch aus. Frau Pfarrer freut sich doch schon so auf den<br />
Kaffe – nun wollen wir hoffen, daß es noch ankommt. […] Die Linsen<br />
hatte ich schon am Dienstag zu Mittag und gestern – waren pr<strong>im</strong>a.<br />
Nochmals meinen besten Dank dafür. Es hat mir wirklich Freude<br />
gemacht, alles zu suchen.<br />
Mit bestem Gruß Frau E. Buchmann―<br />
Wohl durch Empfehlung von Herrn Kurt WENSCH, kam ich in<br />
Verbindung mit Herrn W. HUNGER, Dresden, Archivpfleger <strong>im</strong><br />
Landeskirchenamt für den Kreis Borna, <strong>der</strong> mir zunächst <strong>im</strong> Sommer<br />
1965 aus den Kirchenbüchern Sahlis, Meußdorf und Jahnshain, Kr.<br />
Geithain sowie Bärnsdorf b. Morizburg noch zahlreiche fehlende<br />
Daten ermitteln konnte. Meine finanzielle „Währung― für diese und<br />
spätere Forschungen bestand wie<strong>der</strong>um in Lebensmittelpaketen nach<br />
seiner Wahl (wie z. B. Kaffee, Kakao, Schokolade, Zigarren á 0,30,<br />
einigen Päckchen „Opekta― Geliermehl für die Marmelade; auch zwei<br />
Stück Butter wurden einmal gewünscht).<br />
Ende 1965 gelang es mir auch, Herrn HUNGER noch für einen weiteren<br />
„toten Punkt― in meiner RICHTER-Stammlinie zu gewinnen, <strong>der</strong> jetzt<br />
nun schon ziemlich tief in <strong>der</strong> Vergangenheit lag: be<strong>im</strong> Ahn-Nr. 128 in<br />
<strong>der</strong> 7. Ahnengeneration!<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 553<br />
Es ging hier um Andreas RICHTER, Bauer in Mittelfrohna, geb. um<br />
1657, gest. Nie<strong>der</strong>frohna 23.3.1729 (72 Jahre). Verheiratet mit einer<br />
Rosina N.N., die 1729 noch lebte. Erschwert wurde die Forschung zur<br />
Herkunft dieses Andreas R. dadurch, daß es um die fragliche <strong>Zeit</strong> in<br />
L<strong>im</strong>bach-Nie<strong>der</strong>frohna zwei Andreas RICHTER gegeben hat. Da die<br />
intensive Kirchenbuchforschung in diesem Raume nicht weitergeführte<br />
hatte, bat ich nun Herrn HUNGER noch, die Kauf- bzw.<br />
Gerichtsbücher des fraglichen Raumes in Dresden<br />
(Landeshauptarchiv) zu Rate zu ziehen, wozu er sich auch<br />
freundlicherweise bereit erklärte.<br />
Noch kurz vor Weihnachten schrieb mir Herr HUNGER am 22.12.1965<br />
eine Postkarte aus dem Dresdner Staatsarchiv:<br />
„Sehr geehrter Herr <strong>Richter</strong>,<br />
Sie sollten meine Weihnachtsfreude teilen: Ich habe nach einigen<br />
Irrfahrten<br />
(3 Gerichtsbarkeiten!) den Kauf gefunden: 26. Januar 1698 kaufte<br />
Andreas RICHTER aus Bräunsdorf [Bez. Chemnitz] das Gut in<br />
Mittelfrohna von einem Hans STEIN. In Bräunsdorf beginnen die<br />
Kirchenbücher 1640, da können wir Ihren Ahn auch dort fassen– ich<br />
schreibe selbst an das Pfarramt – alles Genauere und noch einige<br />
interessante Funde (Kin<strong>der</strong>!) nach dem Fest – heute nur schnell diese<br />
Postkarte aus dem Staatsarchiv.<br />
Frohes Fest! Ihr W. Hunger―<br />
Bereits am 24. Dezember 1965 schrieb mir Herr HUNGER und schickte<br />
mir die Ergebnisse seiner Sucharbeit in den Gerichtsbüchern, wo 5<br />
Gerichte zuständig gewesen sind und er erst nach Durchsuchen von 8<br />
Gerichtsbüchern auf den Kauf stieß. –<br />
Er schrieb mir auch, daß <strong>der</strong> Doppelgänger Andreas RICHTER natürlich<br />
auch durch die Bücher ging und ein an<strong>der</strong>es Gut in Nie<strong>der</strong>frohna kaufte.<br />
Da die Belehung des Andreas RICHTER von 1698 sehr deutlich und<br />
schön geschrieben und auch kulturgeschichtlich sehr interessant sei,<br />
empfahl mir Herr HUNGER eine Schmalfilm-Aufnahme für 4,- Mk.<br />
machen zu lassen und mir die Positive dann selbst herstellen zu lassen.<br />
Dies habe ich auch veranlaßt, Herr HUNGER hatte sich das Buch<br />
einstweilen zurücklegen lassen.<br />
Vom Pfarramt Bräunsdorf erhielt Herr HUNGER auch mitgeteilt, daß<br />
sich die Trauung des Andreas RICHTER hat finden lassen und seine<br />
Ehefrau eine Rosina MÜLLER aus Kaufungen ist und – was ganz<br />
beson<strong>der</strong>s wichtig – daß er selbst in Rußdorf [jetzt L<strong>im</strong>bach-<br />
Oberfrohna] geboren ist!<br />
Damit war <strong>der</strong> Weg frei zur weiteren Forschung in Kaufungen, wo ja<br />
auch mein sehr bewährter Pfarrer Ernst KIMME von Wolkenburg aus<br />
noch zusätzlich(!) amtiert. Meine späteren Anfragen bei Pfarrer KIMME<br />
nach einer Päckchensendung wurden sehr nett von seiner Frau mit<br />
einer Karte am 21.12.1966 beantwortet:<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 554<br />
Sehr geehrte, liebe Familie <strong>Richter</strong>!<br />
Zunächst herzlichen Dank für Ihr liebes Päckchen und auch für die<br />
Zeilen an meinen Mann. So ein Päckchen löst bei uns <strong>im</strong>mer Jubel aus,<br />
und das ist bei uns schon ein ganz kräftiger Jubel, denn inzwischen<br />
haben wir 3 kleine Buben: den Thomas 3 Jahre, den Martin 2 Jahre und<br />
den Michael 1 Jahr. Gott sei Dank sind alle drei gesund und auch wir<br />
Eltern brauchen nicht klagen. Mein Mann läßt ausrichten, daß er sich<br />
gern Ihrer Ahnenforschung zuwenden will, sobald dieses ihm möglich<br />
wird. Bis Ende Januar ist er aber schon amtlich <strong>der</strong>artig besetzt, daß es<br />
ihm jetzt nicht möglich ist, Ahnenforschung zu betreiben. Ab zweiten<br />
Weihnachtsfeiertag fahren wir alle für wenige Tage nach Leipzig zur<br />
Oma. Dort wollen wir uns etwas Ruhe gönnen und uns auch sehr viel<br />
<strong>Zeit</strong> für die Kin<strong>der</strong> nehmen. Wir wünschen Ihnen ein recht frohes<br />
Weihnachtsfest und Gottes Segen für das neue Jahr!<br />
Ihre Familie K<strong>im</strong>me―<br />
Am 13.4.1967 erhielt ich nun von Pfarrer Ernst KIMME ein großartiges<br />
Forschungsergebnis aus den Kaufunger und Rußdorfer<br />
Kirchenbüchern mitgeteilt:<br />
„Sehr geehrter, lieber Herr <strong>Richter</strong>!<br />
Gestern habe ich mir wie<strong>der</strong> einmal eine Nacht um die Ohren<br />
geschlagen mit RICHTERs in Rußdorf. Für das Alter <strong>der</strong> Geschlechter<br />
ist es eine erstaunlich gute Ausbeute geworden. Einzelnes ließe sich<br />
evtl. noch weiter verfolgen. Die <strong>Richter</strong>s aber nicht mehr. Das Buch<br />
beginnt 1582. […] Anfang Juni erwarten wir unser 4. Kind. […] Jetzt<br />
beginnt wie<strong>der</strong> die Gartenarbeit und heute Nachmittag will ich das Erste<br />
säen. Hoffentlich sind Sie und Ihre Familie alle ebenfalls wohlauf. Mit<br />
herzlichen Grüßen Ihr E. K<strong>im</strong>me―<br />
Die Ausbeute war in <strong>der</strong> Tat großartig! Von Andreas RICHTER hat mir<br />
Pfarrer KIMME in Rußdorf vier (!) Generationen weiter erforschen<br />
können und übersichtlich auf einem Blatt aufgezeichnet. Auch die in<br />
Kaufungen verstorbenen Eltern seiner Frau Rosina MÜLLER konnte er<br />
noch ermitteln. Insgesamt wurden mir damit die Lebensdaten von 12<br />
neuen Ahnen in Rußdorf und Kaufungen mitgeteilt. Damit war nun<br />
meine RICHTER-Stammliste bis zur 11. Ahnengeneration erforscht.<br />
Die letzten drei Generationen waren Wirtsleute in Rußdorf. Bei jedem<br />
RICHTER (Greger, Jacob und Georg) war als Berufsbezeichnung „<strong>der</strong><br />
Wirt zu Rußdorf― eingetragen. Mein Urstammvater war somit <strong>der</strong> Wirt<br />
Georg RICHTER (Ahnen-Nr. 2048), dessen Sohn - mein Ahn Jacob R. -<br />
am 7.1.1584 in Rußdorf die Margareta FRIESCHMANN geheiratet hat.<br />
1582 beginnen gerade die Kirchenbücher von Kaufungen und<br />
Rußdorf!-<br />
Bald gab ich dieses Ergebnis mit einer ergänzten Ahnenliste an die<br />
Dresdner Ahnenstammkartei weiter und Herr Kurt WENSCH konnte mir<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 555<br />
daraufhin alle Daten sogar nochmals bestätigen! An Pfarrer KIMME<br />
schrieb ich hocherfreut am 4. Juni 1967 u.a.:<br />
„An Ihrer umfangreichen Rußdorfer Kirchenbuchforschung meines<br />
Namenstammes habe ich viel Freude. Haben Sie mir doch damit zu<br />
„Ahnengemeinschaften― verholfen! Die Linie ab Gregor RICHTER (1599-<br />
1658) bis zu seinem Großvater Georg RICHTER kommt nämlich gleich<br />
in drei Ahnenlisten an<strong>der</strong>er Forscher vor! Dies erfuhr ich neulich von <strong>der</strong><br />
Dresdner Ahnenstammkartei in Dresden (Staatsarchiv), die ein enormes<br />
genealogisches Material besitzt und in wun<strong>der</strong>barer Weise erhalten<br />
geblieben ist. Aus dieser Auskunftsstelle habe ich als mehrjähriges<br />
Mitglied <strong>im</strong> Umlaufverfahren schon viel Nutzen für meine<br />
Familienforschung ziehen können. Diese Einrichtung kann ich jedem<br />
Familienforscher, <strong>der</strong> in seiner Ahnentafelforschung schon bei einigen<br />
Linien etwa zwei Jahrhun<strong>der</strong>te erforscht hat, aufs wärmste empfehlen.<br />
Obige Linie ist also schon z.T. früher einmal „unter die Lupe― genommen<br />
worden. Die Einsen<strong>der</strong> <strong>der</strong> betreffenden Ahnenlisten sind allerdings<br />
schon seit Jahrzehnten verstorben. Alle mir von Ihnen über meine „drei<br />
ältesten RICHTER― mitgeteilten Daten wurden mir von <strong>der</strong> Dresdner<br />
Ahnenstammkartei aufs genauste bestätigt!― -<br />
Daß meine RICHTER-Stammlinie aus Rußdorf stammt, einer<br />
altenburgisch-ernestinischen Exklave <strong>im</strong> Grenzgebiet <strong>der</strong><br />
benachbarten Herrschaftsgebiete <strong>der</strong> von SCHÖNBURGs und <strong>der</strong><br />
albertinisch-sächsischen Län<strong>der</strong> (Chemnitz), hatte ich schon vor<br />
geraumer <strong>Zeit</strong> vermutet. In einer alten Landkarte des Schönburgischen<br />
Kreises von 1760 ist bei Rußdorf eine „<strong>Richter</strong>sche Mühle“<br />
verzeichnet! Diese schön kolorierte Landkarte COMITATUS<br />
SCHOENBURGENSIS, gezeichnet vom Kartographen Paul<br />
TRENCKMANN, jun., hatte ich bereits vor Jahren als Z<strong>im</strong>merschmuck<br />
erworben. –<br />
1457 kommt Rußdorf <strong>im</strong> Rahmen eines Tauschgeschäfts des<br />
kurfürstlichen Rates Hildebrand von EINSIEDELN zum St. Georgenstift<br />
zu Altenburg. Aus <strong>der</strong> Enklaven-Lage Rußdorfs ergaben sich<br />
erhebliche Verkehrsbehin<strong>der</strong>ungen. Mitten <strong>im</strong> Dorf stand das<br />
Einnehmerhäuschen, vor dem ein Schlagbaum jeden zum Halten<br />
zwang. Erst 1928(!) wurde diese heute kurios anmutende Son<strong>der</strong>rolle<br />
mittels Staatsvertrag beendet und Rußdorf wurde wie<strong>der</strong> in das Land<br />
Sachsen eingeglie<strong>der</strong>t. 1935 wurde Rußdorf mit 4000 Einwohnern zu<br />
Oberfrohna eingemeindet, dem gleichzeitig das Stadtrecht verliehen<br />
wurde, da jetzt die notwendige Einwohnerzahl von 10.000 erreicht<br />
werden konnte. 1950 wurden die Städte L<strong>im</strong>bach und Oberfrohna zur<br />
Stadt L<strong>im</strong>bach-Oberfrohna vereinigt. Heute ist L<strong>im</strong>bach-Oberfrohna<br />
durch die Anglie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Orte Bräunsdorf, Kän<strong>der</strong>. Pleißa und<br />
Wolkenburg-Kaufungen in den Jahren 1998 bis 2000 auf über 26.000<br />
Einwohner gewachsen (lt. Internetseite <strong>der</strong> Stadt L<strong>im</strong>bach-Oberfrohna).<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 556<br />
Einige bekannte Persönlichkeiten aus <strong>der</strong> heutigen Kreisstadt<br />
L<strong>im</strong>bach-Oberfrohna nennt auch das Internet-Lexikon „Wikipedia―. Am<br />
bekanntesten ist hier Kunz von KAUFFUNGEN (um 1410-1455) durch<br />
den „Sächsischen Prinzenraub― <strong>im</strong> Jahre 1455, <strong>der</strong> aus Kaufungen<br />
stammte. Kaufungen ist <strong>der</strong> urkundlich älteste erwähnte Ort <strong>im</strong> heutigen<br />
L<strong>im</strong>bach-Oberfrohna, zuerst 1226 genannt. Rußdorf, das ursprünglich<br />
aus einem Waldhufendorf hervorging, wird erstmals 1335 als<br />
„Rudelsdorf“ erwähnt.<br />
Weitere Söhne und Töchter <strong>der</strong> Stadt L<strong>im</strong>bach-Oberfrohna sind z. B:<br />
Hans Haubold<br />
(+ 1700) und Graf Detlef (+ 1861) aus <strong>der</strong> Familie von EINSIEDEL,<br />
ersterer Oberhofmeister <strong>der</strong> verwitweten Königin-Kurfürstin ANNA<br />
SOPHIE und Gehe<strong>im</strong>er Rat in Dresden, letzterer sächsischer<br />
Kabinettsminister. Der Kunstmaler Fritz von UHDE (1848-1911); Georg<br />
Heinrich WAHLE (1854-1934), deutscher Rechtswissenschaftler; Georg<br />
WÜNSCHMANN (1868-1937) Architekt; Gottfried GROTE (1903-1976),<br />
Kirchenmusiker, Leiter des Staats- und Domchores in Berlin; Herbert<br />
KÖHLER (1906-1982), Mundartdichter des sächsischen Vorerzgebirges;<br />
Siegfried SCHNABL (* 1927), Sexualwissenschaftler und<br />
Psychotherapeut; Werner MITTENZWEI, (*1927), Theater- u.<br />
Literaturwissenschaftler (BRECHT-Forscher); Frank VOGEL (1929-<br />
1999), Filmregisseur u. Drehbuchautor; Gert HOFMANN (1931-1993),<br />
Schriftsteller; Elke HOPFE (*1945), Zeichnerin u. Professorin in<br />
Dresden; Falko WEISSPFLOG (*1954), Skispringer, DDR-Meister.<br />
Aus <strong>der</strong> Vielzahl positiver Forschungsmitteilungen hier nur noch eine<br />
Äußerung eines Pfarrers aufgrund eines Anliegens, aus dem die<br />
personelle Überlastung <strong>der</strong> Pfarrämter hervorgeht.<br />
Am 3.3.1966 schickte mir <strong>der</strong> <strong>im</strong> Ev.-Luther. Pfarramt Bärnsdorf , Kr.<br />
Dresden, amtierende Pfarrer einige Kirchenbuchdaten aus den<br />
Kirchenbücher und verband dies mit einem „Stoßseufzer―:<br />
„Sehr geehrter Herr <strong>Richter</strong>!<br />
Sicher sind Sie mir längst böse – aber es wurde nicht bisher. Es ist<br />
wirklich eine zeitraubende Suchaktion – die man selten auf Anhieb<br />
glücklich löst: […] Mögen Ihnen diese Angaben nützen! Ihr<br />
Kaffeepäckchen ist vor zwei Wochen etwa gut angekommen. Haben Sie<br />
herzlich dank dafür. Trotz dieser Nervenpeitsche und Gaumengenuß bin<br />
ich nicht eher zu dieser Arbeit gekommen, die ja nur nachts getan<br />
werden kann, weil man dabeibleiben muß, wenn man die „Schrift― <strong>der</strong><br />
fe<strong>der</strong>führenden Amtsvorgänger enträtseln will. Es macht aber am Ende<br />
selbst Freude, den Atem <strong>der</strong> Vergangenheit zu spüren. Sonst kommt<br />
man ja sowieso nicht dazu. Wenn diese seligen Amtsbrü<strong>der</strong> wüßten,<br />
was heute los ist…………<br />
Gehaben Sie sich wohl ! Ihr H. Kuch (??), Pfr."<br />
Nachdem ich nach mehrjähriger Forschungsunterbrechung meine<br />
Ahnenforschung wie<strong>der</strong> aufgenommen hatte, war es ja vor allem Pfarrer<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 557<br />
Oskar HÄNICHEN mit dem mich eine intensive, lei<strong>der</strong> aber nur kurze<br />
Forschungskorrespondenz verbunden hat. Seiner so uneigennützigen<br />
Mitteilungen zu sehr schwierig auffindbaren Abstammungen werde ich<br />
mich stets dankbar erinnern.-<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
15.7 Von <strong>der</strong> Ahnenforschung zur nachbarwissenschaftlichen<br />
Demographie.<br />
(KÜNTZELMANN-Stammtafel)<br />
Eine ähnlich fruchtbare, beson<strong>der</strong>s auch um Ahnengemeinschaften<br />
bemühte Korrespondenz, hatte ich mit dem aus Dresden gebürtigen<br />
Studienrat Richard WÄTZIG in Braunschweig, zu dem mich ab 1964<br />
eine langjährige Forscherfreundschaft verbinden sollte.<br />
Ich hatte oben schon erwähnt, daß ich nach meiner Kontaktaufnahme<br />
zu Pfarrer Oskar HÄNICHEN <strong>im</strong> Jahre 1964, nachdem er mir als erster<br />
schon 1958/ 1959 umfangreiche Ahnenlistenergänzungen geschickt<br />
hatte, ich auch von Herrn Richard WÄTZIG, Braunschweig, schon 1960<br />
interessante Ahnenergänzungen und Ahnengemeinschaften mitgeteilt<br />
bekommen hatte. Nach meiner mehrjährigen Pause habe ich mich dann<br />
ebenfalls <strong>im</strong> Jahr 1964 bei Herrn WÄTZIG entschuldigend<br />
zurückgemeldet. Mein Berufswechsel von Ulm/Do. nach München<br />
(1961), die anschließende Eheschließung (1963) und die Geburt<br />
unseres ersten Kindes, unseres Sohnes Udo (1964), waren die<br />
tatsächlichen Gründe für diese „Ahnen-Pause―.<br />
Am 11. Oktober 1964 schrieb mir Richard WÄTZIG:<br />
„Sehr geehrter Herr <strong>Richter</strong>!<br />
Es freut mich sehr, daß Sie wie<strong>der</strong> zur „Gilde― <strong>der</strong> Familienforscher<br />
„zurückgefunden― haben. Denn nicht nur ich, son<strong>der</strong>n auch Herr Pfarrer<br />
HÄNICHEN waren betrübt, daß wir von Ihnen nichts mehr hörten. Nun,<br />
die lange Pause sei verziehen, und die Weiterarbeit kann beginnen.<br />
Zunächst noch nachträglich meine besten Wünsche zu Ihrer<br />
Vermählung und vor allem zum „Stammhalter―. Und ihm sind Sie es ja<br />
schuldig weiterzuforschen. Hierzu möchte ich Ihnen einige Tips geben,<br />
da ich mir damals von Ihrer AL 8056 einige Notizen gemacht hatte und<br />
in meiner AL 8302 gewaltig vorangekommen bin. Bisher haben wir<br />
„Ahnengemeinschaft mit<br />
Martin MERBITZ 3300 bei mir 1152, Maria PATZ 3301 bei mir 1153.<br />
[…]<br />
Eine Weiterforschung ist be<strong>im</strong> Pfarramt Bärnsdorf, Kr. Dresden möglich<br />
und kann zu weiteren gemeinsamen Ahnen von uns führen.― WÄTZIG<br />
führte jetzt eine Liste mit zahlreichen Personen und Lebensdaten aus<br />
seiner Ahnenliste auf, bei denen er vermutete, daß eine Weiterforschung<br />
auch hier zu Ahnengemeinschaften führen könne. Es waren die Familien<br />
GEBAUER, MEIßNER, STIEHLER, EICHHORN, ULLRICH und SPEER.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 558<br />
Abschließend schrieb er mir: ―Ehe Sie die geplante Neufassung<br />
schriftlich festlegen und einschicken, empfehle ich Ihnen, die angeregten<br />
Kirchenbuchforschungen bei den entsprechenden Pfarrämtern<br />
vorzunehmen. Dadurch wird Ihre AL noch vollständiger und die<br />
„Ahnengemeinschaften― mit AL 8302 größer!! Rechten Erfolg für Ihre<br />
Weiterarbeit! Zu weiteren Auskünften bin ich gern bereit und verbleibe<br />
mit freundlichen Grüßen Ihr Richard Wätzig―<br />
Richard WÄTZIGs Vermutung sollte sich bald bestätigen, denn fast zu<br />
allen von ihm genannten Familien <strong>im</strong> Raume Bärnsdorf sollten sich<br />
bald bei <strong>der</strong> weiteren Forschung verwandtschaftliche Beziehungen<br />
knüpfen und damit wie<strong>der</strong> neue Ahnengemeinschaften auch zu ihm<br />
ergeben. Doch davon soll nun aber nicht mehr viel die Rede sein.<br />
Vielmehr möchte ich hier nur noch auf die Stammtafel<br />
KÜNTZELMANN eingehen, die Richard WÄTZIG in gemeinsamer Arbeit<br />
mit an<strong>der</strong>en Forschern allmählich aufbaute und <strong>im</strong>mer weiter ergänzte.<br />
Es war in meiner familiengeschichtlichen Forschung die erste<br />
Stammtafel, die auch eine ganz beson<strong>der</strong>e persönliche Rolle spielen<br />
sollte. Und zwar nicht nur als bloße Ahnenlinie in meiner Ahnenliste bis<br />
zu einem Pfarrer Martin KÜNTZELMANN in Döhlen (jetzt Freital) bei<br />
Dresden zur Reformationszeit, son<strong>der</strong>n als Stammvater einer sehr<br />
großen Nachfahrenschaft, beson<strong>der</strong>s <strong>im</strong> Süden von Dresden! Das mir<br />
hier erstmals bemußt gewordene völlig abweichende Erscheinungsbild<br />
einer großen Nachkommschaft gegenüber <strong>der</strong> Ahnentafel erregte jetzt<br />
meine Neugier!<br />
Anstelle <strong>der</strong> streng mathematischen Gesetzmäßigkeit <strong>der</strong> Ahnentafel<br />
mit ihrem exponentiellen Wachstum, nach dem eisernen Gesetz <strong>der</strong><br />
Potenzen von 2 - jede Person hat 2 Eltern, 4 Großeltern, 8 Urgroßeltern<br />
usw. - wurde jetzt bei <strong>der</strong> Stammtafel bzw. dem „Stammbaum“ ein<br />
ganz an<strong>der</strong>es Erscheinungsbild des Wachstums in <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />
<strong>Zeit</strong>richtung erkennbar: die Unregelmäßigkeit aufgrund des<br />
biologischen Zufalls! Ergeben sich hier doch sehr verschiedene<br />
Stammbäume je nach <strong>der</strong> Kraft des „Fortpflanzungserfolges“ <strong>der</strong><br />
Eltern und des Überlebens <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>! Der Vergleich solcher<br />
Stammbäume hat mich dann erst Jahrzehnte später intensiv beschäftigt,<br />
nachdem ich an<strong>der</strong>e interessante „Stammbäume― kennengelernt hatte.<br />
Diese Stammbaum-Vergleiche sollten mich in ein noch kaum<br />
erschlossenes Neuland führen! Oben hatte ich dies ja bereits schon<br />
angedeutet. Es ist meines Wissens in <strong>der</strong> Genealogie bis heute auf<br />
diesem Gebiet noch kaum quantitativ vergleichend(!) gearbeitet<br />
worden. Nur die äußeren unterschiedlichen Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> Stammbäume<br />
waren aus <strong>der</strong> Demographie (Bevölkerungswissenschaft) bekannt und<br />
sind vereinzelt auch auf gut erforschte Geschlechter (= Namensträger<br />
einer Familie) übertragen worden.<br />
Der ahnenforschende Pfarrer Johannes ZACHAU, <strong>der</strong> durch<br />
zahlreiche genealogische Publikationen bekannt geworden ist,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 559<br />
veröffentlichte bereits 1928 in einer Fachzeitschrift den Aufsatz:<br />
„Ausbreitungsformen <strong>der</strong> Geschlechter“ (in: Archiv für<br />
Sippenforschung (1928), 5. Jg., H. 10, 325-327). ZACHAU spricht hier<br />
von den Schicksalspfaden, die es bei den Geschlechtern, die ein<br />
rätselhaftes großes Ganzes bilden, zu erkunden gibt. ZACHAU spricht<br />
von „verschiedenartigen Einflußmächten― denen ein Geschlecht<br />
unterworfen ist, das den Auf- und Abstieg, das „Blühen― und Vergehen<br />
entscheidend best<strong>im</strong>mt. An „genealogischen Wirkungsfaktoren― nennt er<br />
Epidemien (Seuchen) wie z.B. Pest und die Kriegsfolgen.<br />
Das sind aber alles äußere Faktoren, die das Wachsen eines<br />
Geschlechts behin<strong>der</strong>n.<br />
Der Genealoge Thomas Frhr. von FRITSCH hat dann in einem Aufsatz<br />
„Aussterben?“ („Archiv für Sippenforschung―(1964) 30. Jg., H. 16, S.<br />
534-536) gefor<strong>der</strong>t, weniger das Aussterben zu untersuchen, als das<br />
historisch [und natürlich beson<strong>der</strong>s auch biologisch!] viel wertvollere<br />
Überleben und Wachsen <strong>der</strong> Geschlechter zu untersuchen. Und hier<br />
wird man wohl beson<strong>der</strong>s nach inneren Ursachen suchen müssen!<br />
Zunächst seien aber hier erst einmal die Bil<strong>der</strong> verschiedener<br />
Wachstumsvorgänge wie<strong>der</strong>gegeben, die ZACHAU in seinem oben<br />
erwähnten Artikel bringt. Er schreibt: „Ein jedes Geschlecht gleicht in <strong>der</strong><br />
Tat einem Baume― und er empfiehlt die „Ausbreitungsdolde <strong>der</strong><br />
Stammtafel von unten nach oben herauf aufzuzeichnen.― Solche<br />
Darstellungen sind uns ja inzwischen aus <strong>der</strong> Demographie längst<br />
bekannt, um die Altersstruktur einer Bevölkerung darzustellen.<br />
ZACHAU: „Es zeigt sich […], daß unter den genealogischen Aufrissen<br />
[…] ganz best<strong>im</strong>mte phänomenologische Grundformen auftreten und<br />
sich öfters wie<strong>der</strong>holen. Sie werden […] zum Zwecke einprägsamer<br />
Unterscheidung als „Linde“, „Eberesche“ und „Pappel“ bezeichnet.<br />
Dabei charakterisiert er die einzelnen Baumarten wie folgt:<br />
1. Gesunde Ausbreitung: „Linde“. Typisch für Bauerngeschlechter und<br />
landgesessenen Adel.<br />
2. unruhige Ausbreitung: „Eberesche“. Typisch für<br />
Soldatengeschlechter, Geschlechter mit vielem Berufswechsel,<br />
Globetrottertum.<br />
3. Spärliche Ausbreitung: „Pappel“. Typisch für neuere <strong>Zeit</strong><br />
(Geburteneinschränkung), bisweilen auch für Gelehrtengeschlechter.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 560<br />
Mit großen Worten for<strong>der</strong>t ZACHAU dazu auf, analytische<br />
Untersuchungen <strong>der</strong> Geschlechter dazu zu benutzen, daß sie „auch die<br />
letzten, zusammenfassenden Züge <strong>im</strong> Schicksalsgang <strong>der</strong> Geschlechter<br />
darzubieten versucht. […] Sie ist mit dazu berufen, jene faustische<br />
Sehnsucht <strong>im</strong> menschlichen Erkenntnistrieb auch in <strong>der</strong><br />
Familienforschung zu stillen, die nicht mehr will in Worten kramen,<br />
son<strong>der</strong>n schauen „Wirkungskraft und Samen“.<br />
Bei <strong>der</strong> Suche nach den Ursachen einer gesunden großen Ausbreitung<br />
eines Geschlechts (Familien) glaube ich vor allem innere Ursachen,<br />
d.h. genetischen Ursachen suchen zu müssen. Und auf Grund von<br />
genealogisch gut erforschten Familien-Geschlechtern, die (größtenteils)<br />
in <strong>der</strong> Literatur veröffentlicht worden sind, konnte ich nachweisen, daß<br />
eine große Ausbreitung ursächlich nicht unbedingt von einer<br />
soziologischen, also <strong>der</strong> beruflichen Ausrichtung <strong>der</strong> Geschlechter<br />
abhängt. Auch Gelehrtengeschlechter können z. B. nachgewiesener<br />
Weise eine sehr gesunde und kräftige Ausbreitung besitzen.<br />
Wenn ZACHAU von einem „rätselhaften Ganzen“ bei einem<br />
Geschlecht spricht, dann dürfte die Hauptursache also in inneren<br />
Faktoren zu suchen sein! Und daß hier das Y-Chromosom bei <strong>der</strong><br />
Ausprägung dieser quantitativen Unterschiede eine entscheidende<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 561<br />
Rolle spielt, ist meinerseits eine gleichfalls aufgestellte These, wie<br />
meine an<strong>der</strong>e „qualitative“ These „von <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Mittlerrolle<br />
X-chromosomaler Gene bei <strong>der</strong> Ausprägung geistiger<br />
Eigenschaften, wovon hier ja schon ausführlich gesprochen worden ist.<br />
Das Y-Chromosom, das ja auch enge ursächliche Beziehungen zur<br />
Geschlechtshormonbildung Testosteron hat, dürfte den männlichen<br />
„Trieb zu großem Fortpflanzungserfolg― wesentlich quantitativ<br />
mitbest<strong>im</strong>mt haben!<br />
Daß hier tatsächlich vor allem genetisch von einem „großen Ganzen“<br />
gesprochen werden kann, beweisen ja die genetischen Forschungen<br />
seit Anfang des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Das gemeinsame einigende Band<br />
ist <strong>der</strong> Besitz des gleichen Y-Chromosoms bei allen männlichen<br />
Glie<strong>der</strong>n eines best<strong>im</strong>mten Geschlechts! Die Unterschiede durch<br />
verschiedene Eigenschaftsausprägungen (Allele) <strong>der</strong> Y-Chromosomen<br />
kann auch hier die unterschiedliche Entwicklung <strong>der</strong> Geschlechter aus<br />
inneren Ursachen mit erklären helfen.<br />
Bereits 1936 hatte <strong>der</strong> Genealoge Dr. Felix von SCHROEDER, 1912-<br />
2003, auf die Son<strong>der</strong>rolle des Y-Chromosoms in <strong>der</strong> genealogischen<br />
Literatur hingewiesen („Ahnentafeln, Stammtafeln und Nachfahrentafeln,<br />
Sinn und Aufgaben familienkundlicher Forschungen―, <strong>im</strong> 57. Heft <strong>der</strong><br />
„Mitteilungen― <strong>der</strong> Leipziger „Zentralstelle für deutsche Personen- und<br />
Familiengeschichte―, Kapitel „Erbkunde― S. 11-23). Felix von<br />
SCHROEDER zweifelte bereits damals an <strong>der</strong> weit verbreiteten<br />
genetischen Meinung, daß das Y-Chromosom außer <strong>der</strong><br />
geschlechtsbest<strong>im</strong>menden Funktion sonst keine an<strong>der</strong>en physischpsychischen<br />
Funktionen habe, - also praktisch „genleer― sei.<br />
Es hat ziemlich lange gedauert, bis diese Tatsache <strong>der</strong> „Gen-Leere―,<br />
die ich auch aufgrund empirischer Beobachtungen innerhalb einzelner<br />
Familien schon lange angezweifelte hatte<br />
http://www.genetalogie.de/diskussion/ychromosom.html<br />
auch molekulargenetisch 2003 zweifelnd untermauert werden konnte.<br />
Es sei hier nochmals auf den oben bereits genannten Link in meiner<br />
<strong>GeneTalogie</strong>-Seite hingewiesen:<br />
http://www.genetalogie.de/artikel/html/ar_afs79/ar_afs79.htm<br />
(Erbmäßig bevorzugte Vorfahrenlinie bei zweigeschlechtigen<br />
Lebewesen, 1979)<br />
Im Rahmen <strong>der</strong> genetische Son<strong>der</strong>rolle <strong>der</strong> Geschlechts-<br />
Chromosomen schrieb ich damals: „Mag dabei auch das wesentlich<br />
größere X-Chromosom die Hauptrolle bei <strong>der</strong> Anlagen-Übertragung<br />
spielen, so ist die „katalytische― vermutlich sogar „dirigistische― Rolle des<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 562<br />
Y-Chromosoms sicherlich nicht weniger bedeutungsvoll (S.98)― Diese<br />
Vermutung wurde ja dann nach über 20 Jahren (!) schließlich auch<br />
molekulargenetisch überzeugend untermauert.<br />
Im Folgenden soll noch <strong>im</strong> Rahmen meiner eigenen Familienforschung<br />
über den Stammbaum <strong>der</strong> Familie KÜNTZELMANN gesprochen<br />
werden, den ich von Richard WÄTZIG für meine vergleichenden<br />
Untersuchungen zur Verfügung gestellt bekam. Daß sich gerade hier<br />
quantitative Parallelen zur größten mir bekannten Stammtafel<br />
Deutschlands, <strong>der</strong> schwäbischen Familie CONZELMANN (auch<br />
CÜNTZELMAN, KUNTZELMANN!) von <strong>der</strong> Schwäbischen Alb, ergeben,<br />
dürfte meine genannte Y-chromosomale These wohl noch<br />
interessanter machen! Es wird nämlich von mir vermutet, daß <strong>der</strong> Vater<br />
des um 1506 in Possendorf b. Dresden geborenen Pfarrers Martin<br />
KÜNTZELMANN, ein Laurentius KÜNTZELMANN aus Dippoldiswalde<br />
bei Dresden ist. Dieser wurde um 1480 (!) geboren und <strong>im</strong> Anschluß an<br />
sein 1504 nachgewiesenes Studium (Martikel) in Wittenberg, wo er aus<br />
Dippoldiswalde/Sachsen kommend, bezeichnet wurde, vermutlich<br />
Verwaltungsbeamter gewesen ist - o<strong>der</strong> sogar kathol. Theologe. Dann<br />
wäre allerdings <strong>der</strong> Sohn Martin aus einer unehelichen Abstammung<br />
hervorgegangen. Zumindest dürften aber sehr enge verwandtschaftliche<br />
Beziehungen zwischen den beiden KÜNTZELMANNern bestanden<br />
haben. Möglicherweise besteht auch eine Onkel-Neffe-Beziehung, da<br />
auch einmal eine bäuerliche Abstammung von Martin KÜNTZELMANN<br />
erwähnt worden ist. Indes sind vorher in Sachsen keine<br />
KÜNTZELMANNer nachweisbar, so daß eine Herkunft und<br />
Abstammung von den schwäbischen CONZELMANNern (aus<br />
Albstadt/Hohenzollern (früher Tailfingen) o<strong>der</strong> auch Augsburg eine<br />
sehr lohnende genealogische Forschungsaufgabe wäre. Die<br />
neuzeitlichen Möglichkeiten <strong>der</strong> DNA-Genealogie hätten hier eine<br />
interessantes Objekt, das auch von allgemeiner Bedeutung wäre<br />
aufgrund <strong>der</strong> Tatsache, daß es sich hier in beiden Fällen um<br />
Stammväter mit einer außergewöhnlich großen gut erforschten<br />
Nachkommenschaft („Stammbäume―) in <strong>der</strong> rein patrilinearen Vater-<br />
Sohn-Abstammung handelt. -<br />
1965 hatte ich Herrn WÄTZIG schon meine „schönste genealogische<br />
Entdeckung― mitgeteilt, die ich aufgrund eines Artikels („Anna - Ein<br />
Indizienbeweis―) in <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>schrift „Archiv für Sippenforschung― (1964)<br />
H.16, S. 540-541, machte: mein hochverehrter ehemaliger Chemielehrer<br />
Arno LANGE, Dresden, ist ein langjähriger intensiver Familienforscher!<br />
LANGE war bereits Lehrer in Biologie von meiner Mutter(!) <strong>im</strong> Dresden-<br />
Strehlener Lehrerseminar! Im Rahmen meiner daraufhin angeknüpften<br />
Korrespondenz mit Prof. Arno LANGE (damals dann Dozent an <strong>der</strong><br />
Forsthochschule in Tharandt) erfuhr ich auch von ihm, daß er<br />
forschungsmäßig in ständiger Verbindung mit Richard WÄTZIG steht.<br />
Auch daß Arno LANGEs Frau vom „Urstammvater― Pfarrer Martin<br />
KÜNTZELMANN in Döhlen jetzt Freital b.Dresden, abstammt, habe<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 563<br />
ich seinerzeit bereits erfahren, was meiner KÜNTZELMANN-<br />
Stammtafel-Neugier nun kräftigen Auftrieb gab.<br />
Am 9. Oktober 1965 schrieb Richard WÄTZIG: „Dann erwähnen Sie<br />
Herrn Prof. Arno LANGE als Ihren ehemaligen Chemielehrer und als<br />
Biologielehrer Ihrer Frau Mutter. Das ist wirklich sehr interessant.<br />
Persönlich habe ich ihn in Dresden lei<strong>der</strong> nicht kennengelernt, nur seit<br />
1960 korrespondiere ich mit ihm recht eifrig. Er konnte mir für meine<br />
Wetzig-Forschung in Mittelsachsen wertvolles und reichhaltiges Material<br />
aus seinem unerschöpflichen Archiv zustellen. Wußten Sie, daß er am<br />
15. Juli d.J. 80 J (achtzig!) alt geworden ist? Es wurden ihm allerhand<br />
Ehrungen zuteil. Ich las darüber in <strong>der</strong> „Dresdner Universitätszeitung―, in<br />
<strong>der</strong> auch ein Abriß seiner wissenschaftlichen Tätigkeit angegeben war.―<br />
Am 20. März 1966 teilte mir Richard WÄTZIG noch mit: „Noch<br />
überraschen<strong>der</strong> ist die Feststellung, die Herr Pfarrer HÄNICHEN<br />
machen konnte, daß auch Sie ein „KÜNTZELMANN-Nachkomme― sind,<br />
genauso wie Herr Pfarrer HÄNICHEN und ich selbst und meine liebe<br />
Frau sogar zwe<strong>im</strong>al. […] Herr Pfarrer HÄNICHEN übersandte mir am<br />
6.2.1960 umfangreiches Material über die Nachkommen des alten<br />
Pfarrers Martin KÜNTZELMANN, das ich dann mit Hilfe weiterer<br />
Literatur zu einer 15. familienkundlichen Studie über Pfarrer<br />
KÜNTZELMANN in Döhlen am 7.6.1960 auf 31 Seiten ausarbeitete.<br />
Inzwischen habe ich mit Hilfe <strong>der</strong> Dresdner Genealogen Karl<br />
WUNDERLICH, Willy RICHTER[!] und Prof. Arno LANGE das<br />
Mehrfache an Material zusammengetragen und will eine große Stammund<br />
Nachfahrenliste KÜNTZELMANN ausarbeiten“.<br />
Im nächsten Monat schrieb mit R. WÄTZIG: „Zu Ihrer Orientierung<br />
und zum Verbleib übersende ich Ihnen einen Durchschlag <strong>der</strong> in<br />
meinem Schreiben vom 20.3.66 bereits erwähnten 37.<br />
familienkundlichen Studie über die Nachfahren des Pfarrers Martin<br />
KÜNTZELMANN. Sie gehören nach <strong>der</strong> bisherigen Glie<strong>der</strong>ung in <strong>der</strong> 4.<br />
Generation zum 3. Pesterwitzer Ast. Ich mußte die Einteilung treffen,<br />
da die Nachfahren so zahlreich sind und eine an<strong>der</strong>e Ordnung gar nicht<br />
möglich ist. Mein Dresdner Freund Karl WUNDERLICH ist bereits schon<br />
mehrmals in Döhlen gewesen, um gewisse Angaben durch genaue<br />
Daten zu erhärten. Es wird aber noch einige <strong>Zeit</strong> dauern, ehe die<br />
umfangreiche Nachkommenschaft einigermaßen geordnet ist. Völlig<br />
erfassen kann man sie niemals. Weiterhin lege ich Ihnen zur<br />
Orientierung und Ergänzung 10 Familienfragebögen für die Sippe<br />
KÜNTZELMANN bei, die ich bitte gelegentlich wie<strong>der</strong> zurückzusenden.―<br />
Bald konnte mir Richard WÄTZIG zahlreiche weitere<br />
Ahnengemeinschaften von Genealogen zum „Stammvater― Martin<br />
KÜNTZELMANN, geboren um 1506 in Possendorf bei Dresden, +<br />
Döhlen um 20.5.1568, Pfarrer in Döhlen mitteilen, <strong>der</strong> in Leipzig<br />
studierte und 1535 katholischer und 1539 evangelischer Pfarrer in<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 564<br />
Döhlen war. Von seinen 7 Kin<strong>der</strong>n haben 4 Söhne eine sehr große<br />
Nachkommenschaft begründet, die von zahlreichen Genealogen<br />
zumindest bis zur 7. Nachkommengeneration gut erforscht werden<br />
konnte. Die KÜNTZELMANN-Stammliste mußte ich aufgrund meiner<br />
Vergleiche mit an<strong>der</strong>en größeren Stammlisten später in die Reihe <strong>der</strong><br />
„statistischen Ausreißer“ einordnen, die nun auch dadurch<br />
bevölkerungswissenschaftliches Interesse gewinnt.<br />
Es ist ein beson<strong>der</strong>er Glücksfall, daß <strong>der</strong> bekannte Genealoge Dr. Felix<br />
von SCHROEDER 1935 seine Dissertation in Leipzig ausgerechnet über<br />
eine bevölkerungsgenealogische Untersuchung aus dem Plauenschen<br />
Grund bei Dresden an <strong>der</strong> Bevölkerung in Döhlen machen konnte: „Der<br />
Zufluß ortsfremden Blutes in die Bevölkerung des Kirchspiels<br />
Döhlen 1648-1799.― Veröffentlicht in: Mitteilungen <strong>der</strong> Zentralstelle für<br />
Deutsche Personen- und Familiengeschichte, 56. Heft, Leipzig 1935.<br />
In dieser Studie wird auch unser Pfarrer Martin KÜNTZELMANN <strong>im</strong><br />
beson<strong>der</strong>en und das Geschlecht KÜNTZELMANN <strong>im</strong> allgemeinen<br />
erwähnt. Einmal (S. 26) wird dieser Pfarrer als Pionier <strong>der</strong> Gemeinde<br />
Gittersee (jetzt Dresden) erwähnt, wo er sieben Hufen Land erwarb und<br />
dieses durch weitere Urbarmachung beträchtlich vergrößerte. An<br />
an<strong>der</strong>en Stelle (S. 28-29) heißt es: „Die Einführung eines umfangreichen<br />
Obstbaues wird dem Döhlener Pfarrer Martin KÜNTZELMANN<br />
zugeschrieben, <strong>der</strong> seit 1535 dieses Amt bekleidete. Er trat 1939 zum<br />
Protestantismus über und zeigte sich in allen Dingen und bei allen<br />
Gelegenheiten als ein außerordentlich rühriger Mann. Sein Leben lang<br />
hat er versucht, aus allen Gegenden des Landes die besten Pfropfreiser<br />
zu erhalten und hat dadurch in seinem Kirchspiel die Pflege <strong>der</strong><br />
Obstbäume auf lange <strong>Zeit</strong> hinaus zu einer hohen Blüte gebracht. Dies<br />
geht zum Beispiel daraus hervor, daß <strong>im</strong> Jahre 1717 die „Steinkohlen,<br />
Obstbäume und Baumschulen― als Merkmal von Burgk [bei Gittersee<br />
(jetzt Dresden)] genannt werden. Allerdings wurde <strong>der</strong> Obstbau durch<br />
die verschiedenen Kriege, beson<strong>der</strong>s den siebenjährigen arg<br />
mitgenommen, er hat sich jedoch bis in die Gegenwart erhalten können.―<br />
Über Martin KÜNTZELMANN aus Possendorf, Pfarrer in Döhlen (j.<br />
Freital) gibt es weitere interessante glaubhafte Überlieferungen:<br />
In einer Veröffentlichung aus dem 18. Jahrhun<strong>der</strong>t: Der Plauische<br />
Grund bei Dresden mit Hinsicht auf Naturgeschichte und schöne<br />
Gartenkunst“ von W. G. BECKER, Nürnberg 1799 heißt es:<br />
„ Ich verweile auf diesem Platze, wo man Döhlen <strong>im</strong> Auge behält,<br />
um hier das Andenken eines merkwürdigen Mannes zu erneuern, <strong>der</strong> in<br />
Rücksicht auf Landwirthschaft, hauptsächlich aber in Ansehung <strong>der</strong><br />
Obstbaumzucht, ein Wohltäter <strong>der</strong> ganzen Gegend wurde. Der<br />
Kirchturm von Döhlen erinnert an ihn, denn er war <strong>im</strong> sechszehnten<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t Pfarrer daselbst. Sein Name ist Martin KÜNTZELMANN. Er<br />
trat sein Pfarramt 1535 an, bekannte sich 1539 zur evangelischen<br />
Religion, verwaltete sein Amt 33 Jahre bei <strong>der</strong> nämlichen Gemeinde,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 565<br />
und starb 1568. Er genoß schon bei seinem Leben einer Art von<br />
Berühmtheit, die aber von <strong>der</strong>jenigen, welche ihm jetzt in unsern<br />
Gegenden gebührt, ziemlich verschieden ist. Damals stand er <strong>im</strong> Rufe,<br />
daß er die Kraft besitze, die Teufel auszutreiben, und wurde daher weit<br />
und breit herum geholt, diese schlechten Gäste aus dem armen<br />
Menschen, in welchem sie ihre Wohnung aufgeschlagen hatten,<br />
herauszujagen.―-<br />
Es folgt jetzt eine ausführliche Beschreibung vom Besuch Martin<br />
KÜNTZELMANNs in Böhmen bei einem „von bösen Geiste besessenen―<br />
reichen Grafen, den man in Ketten legen mußte, und seiner<br />
Wun<strong>der</strong>heilung. Dort wird Martin KÜNTZELMANN auch als „kleines<br />
verwachsenes Männchen“ bezeichnet und daß man sich deshalb<br />
zunächst nicht getraute, KÜNTZELMANN vor den Grafen zu lassen,<br />
„aus Furcht, er mögte denselben, wie er schon mehrmals stärkeren<br />
Personen gethan, zu Boden werfen und übel zurichten.― Auf Bitten von<br />
KÜNTZELMANN wurde er aber doch hingeführt: „So wie die Thüre<br />
geöffnet war, erblickte er den Unglücklichen, <strong>der</strong> mit wil<strong>der</strong><br />
verzweiflungsvoller Miene nach <strong>der</strong> geöffneten Thüre schielte, in einem<br />
Winkel mit vielen Ketten geschlossen. KÜNTZELMANN eilte sogleich<br />
voll inniger Rührung und mit einer liebvollen zutraulichen Miene auf ihn<br />
zu, reichte ihm beide Hände, und sagte mit freudiger St<strong>im</strong>me: Armer<br />
Freund, ich komme euch zu erlösen. Der Graf stutze, sah ihm ein paar<br />
Minuten lang starr ins Gesicht, und darauf verwandelte sich seine wilde<br />
Miene in ein freundliches Lächeln. Er stand endlich auf, rief mit einem<br />
tiefen Seufzer aus: Ach daß es Gott wolle! Und gab ihm die Hände.<br />
KÜNTZELMANN faßte sie muthig, drückte sie ihm zärtlich, versicherte<br />
ihn mit einer Art von Begeisterung, daß er <strong>im</strong> Namen Jesu frei sei, und<br />
befahl den Umstehenden, ihm sogleich die Ketten abzunehmen. Der<br />
Graf gerieth darüber in die größte Freude, aber wie groß ward dieselbe<br />
erst dann, als er sich von den Ketten befreit sah! Er war geheilt; doch<br />
zur Vollendung <strong>der</strong> Kur blieb KÜNTZELMANN noch einige Tage bei ihm,<br />
unterhielt sich mit ihm in traulichen Gesprächen, benahm ihm alle<br />
Zweifel, und verbannte die fixen Ideen die ihn wahnsinnig gemacht<br />
hatten, aus seiner Seele gänzlich.― - In neueren <strong>Zeit</strong>ungsartikeln wird<br />
<strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> darauf hingewiesen, daß KÜNTZELMANN keine Gel<strong>der</strong><br />
dafür angenommen hat, er sich aber, wo es möglich war, sich gute<br />
Kulturpflanzen für seine landwirtschaftlichen und gärtnerischen<br />
Liebhabereien erbeten habe. Hiervon wird auch in diesem Buch<br />
berichtet:<br />
„Für mich […] verlange ich keine an<strong>der</strong>e Belohnung, als daß ihr mir<br />
auf künftiges Frühjahr einige junge Obstbäume von guten Arten,<br />
<strong>der</strong>gleichen ihr so viele besitzt, nebst einigen Pfropfreisern in meine<br />
Gärten verehrt. Diese Bitte wurde reichlich erfüllt. Auch in <strong>der</strong> Folge, als<br />
er durch diese Kur noch berühmter geworden, und oft in weit entfernte<br />
Gegenden geholt ward, bat er sich, da er selbst eine einträgliche Stelle<br />
hatte, für seine Bemühungen <strong>im</strong>mer nur junge Bäume und Pfropfreiser<br />
von solchen Obstarten aus, die er noch nicht besaß. So ward er<br />
gleichsam <strong>der</strong> wohlthätige Stifter des Obstbaus in hiesiger Gegend, und<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 566<br />
munterte durch sein Beispiel zur Verbreitung desselben auf. Diese Liebe<br />
zum Obstbau hat sich auf beiden Seiten des [Plaunschen] Grundes<br />
erhalten. Aber <strong>im</strong> siebenjährigen Kriege erlitt die ganze Gegend,<br />
Dölzschen [jetzt zu Dresden] allein ausgenommen, einen<br />
außerordentlichen Verlust an Obstbäumen. Die kaiserliche Armee, die<br />
so lange <strong>Zeit</strong> ein Lager auf dem Windberge hatte, ließ sie alle zu<br />
Brennholz und für die Verschanzungen fällen, Gittersee [jetzt zu<br />
Dresden] allein verlor dadurch auf 2500 Stück. Einige <strong>Zeit</strong> nach dem<br />
Frieden hat man wie<strong>der</strong> angefangen, die Fel<strong>der</strong> und Obstbäume zu<br />
besetzen; die schönsten aber befinden sich auf den Wegen und Rainen<br />
<strong>der</strong> Roßthaler Fluren [jetzt zwischen Freital und Dresden].<br />
Dieser Martin KÜNTZELMANN war vermutlich ein eben so weiser<br />
Menschenkenner, als er ein vortrefflicher Landwirth war. Seine Gabe,<br />
arme Hirnkranke Menschen von bösen Geistern zu befreien, bestand<br />
wahrscheinlich bloß in seiner Klugheit, den Grund <strong>der</strong> Krankheit richtig<br />
zu fassen und sie auf eine weise Art zu behandeln, wozu sich vielleicht<br />
noch ein einnehmendes Wesen gesellte, was den Kranken sogleich<br />
Vertrauen einflößte. Dieß mochte zumal dann die glücklichste Wirkung<br />
hervorbringen, wenn Gewissensbisse und verzweiflungsvolle Gedanken<br />
die Teufel waren, die in dem Kranken sich festgesetzt hatten. […]<br />
KÜNTZELMANN ließ die Menschen, die ihn für einen Wun<strong>der</strong>mann<br />
hielten, vielleicht aus guter Absicht bei ihrer Meinung, um desto<br />
nachdrücklicher auf ihre Vernunft und auf ihre Empfindung zu wirken.<br />
Wenigstens rührte seine Theilnehmung und Thätigkeit aus keinem<br />
Eigennutz her; und als ein trauter Naturfreund gestattete er vielleicht<br />
nicht einmal <strong>der</strong> Eitelkeit einen merklichen Einfluß auf seine<br />
Bewegungsgründe. Nichts zog ihn stärker an, als Obstbau und<br />
Landwirtschaft. Er erkaufte in Gittersee sieben Hufe Land, die er urbar<br />
machte, und „erbauete zwei Güther von Grund aus, die gegenwärtig in<br />
fünf Güther vertheilt sind. Auf dem einen <strong>der</strong>selben lebt noch ein<br />
Abkömmling, <strong>im</strong> siebten Gliede, von ihm. Sein Guth soll unter allen<br />
Güthern, die unter dem Dresdner Amte stehen, das einzige seyn, was<br />
von einer und eben<strong>der</strong>selben Familie in einer so langen Reihe von<br />
Jahren ununterbrochen besessen worden.―<br />
Den größten bleibenden Einfluß dürfte Pfarrer Martin KÜNTZELMANN<br />
aber durch die große von ihm begründete Nachkommenschaft<br />
hinterlassen haben: Von 7 Kin<strong>der</strong>n (4 Söhnen und 3 Töchtern) hatte er<br />
allein von seinen 4 Söhnen 22 Namensträger-Enkel. Zahlreiche<br />
Familienforscher, die in dieser Gegend forschten, konnten daher Ihre<br />
Abstammung bis zu Martin KÜNTZELMANN nachweisen, was auch mir<br />
mit Hilfe von Pfarrer Oskar HÄNICHEN bekanntlich gelungen war.<br />
Inzwischen dürfte die Vielzahl <strong>der</strong> erforschten KÜNTZELMANN-Daten<br />
ausreichen, eine <strong>der</strong> größten Stammtafeln („Stammbäume―) in Sachsen<br />
aufzustellen. In meiner Verantwortung liegt es jetzt, dieses wertvolle<br />
Material, das mir von Richard WÄTZIG übergeben wurde (siehe unten!)<br />
noch selbst, o<strong>der</strong> mit Hilfe von Genealogie-Freunden, in eine Form zu<br />
bringen, die in einem genealogischen Stammfolgen-Reihenwerk<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 567<br />
veröffentlicht werden kann. Die KÜNTZELMANN-Stammliste umfaßt<br />
innerhalb <strong>der</strong> ersten 7 Generationen bereits 421 erforschte<br />
KÜNTZELMANN-Namensträger (243 männliche und 178 weibliche).<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
15.8 Von hochfliegenden Pläne zur EDV-Genealogie (1973)<br />
7 Jahre vergingen, bevor die KÜNTZELMANN-Forschung wie<strong>der</strong> ins<br />
Blickfeld trat. Auslösend für diese Tatsache war ein Schreiben vom 18.<br />
Februar 1973, wo ich Herrn WÄTZIG zunächst eine neue<br />
Ahnengemeinschaft über die westsächsische Familie PFEFFERKORN<br />
mitteilte, die ich aus einem Astaka-AL-Umlauf entnehmen konnte.<br />
„Wie<strong>der</strong> einmal bin ich Nutznießer hinsichtlich dieser Vorfahren.<br />
Beson<strong>der</strong>s interessant auch die geschichtlichen Daten aus Bauernkrieg<br />
und Reformation. […]<br />
Jetzt etwas ganz an<strong>der</strong>es:<br />
Ahnen-Datenmaterial scheint mir grundsätzlich ideal geeignet zum<br />
Aufbau einer EDV-Datenbank bzw. eines Informationssystems. Ihr<br />
Datenmaterial erscheint mir hierfür beson<strong>der</strong>s prädestiniert zu sein.<br />
Nicht nur wegen <strong>der</strong> Datenfülle, beson<strong>der</strong>s hinsichtlich <strong>der</strong> so<br />
ausgezeichneten Qualität <strong>der</strong> „Querverbindungen― (Stiefahnen,<br />
Geschwisterahnen, Paten, Nachfahrenlisten (KÜNTZELMANN!!). Als „<br />
egoistisches Attribut― kommt hinzu, daß unsere Ahnen vor wiegend in<br />
den gleichen sächsischen Gegenden saßen.<br />
Ihr Datenmaterial möchte ich in EDV-gerechter Form auf den<br />
entsprechenden Datenträgern haben!!! Z.B. auf Lochkarten o<strong>der</strong><br />
Magnetbän<strong>der</strong>n. Das wäre toll! Ich weiß nicht, ob Ihnen die<br />
Möglichkeiten <strong>der</strong> Verarbeitung nach ganz beliebigen Ordnungskriterien<br />
„ruchbar― sind. Als Siemens-EDV-Mann glaube ich hier einiges<br />
abschätzen zu können.<br />
Es sind Programme möglich, die das Ahnen-Datenmaterial auf<br />
Großrechnern (Computer <strong>der</strong> 3. Generation) innerhalb weniger Minuten<br />
nach den verschiedensten Gesichtspunkten listenmäßig auf<br />
Schnelldruckern (sogar vervielfältigt) ausdrucken bzw. noch besser<br />
auswerten. Als da sind: Ahnenlisten (nach beliebigen Schema (Astaka!),<br />
Ahnentafeln, Nachfahrenlisten, Sippschaftslisten, Umwandlung <strong>der</strong><br />
Ahnen-Nr. eines Probanden in die Ahnen-Nr. eines an<strong>der</strong>en, eleganter<br />
Nachtrags- und Än<strong>der</strong>ungsdienst („Pflege <strong>der</strong> Datei―) an je<strong>der</strong> beliebigen<br />
Stelle, statistische Auswertungen des vorliegenden Ahnenmaterials<br />
(biologischer Verwandtschaftsanteil, Ahnengemeinschaftsanteil,<br />
Ahnenverlust etc.). O<strong>der</strong> sogar das Ausdrucken von Diagrammen auf<br />
sog. Plottern (graphische Ausgabeeinheiten).<br />
Hinsichtlich <strong>der</strong> mathematischen Zusammenhänge möchte ich auf die<br />
ganz ausgezeichnete Schrift von Prof. Dr. Siegfried RÖSCH „Grundzüge<br />
einer quantitativen Genealogie― mit einer Unmenge von Quellenangaben<br />
verweisen; es ist als Praktikumsheft Nr. 31, 1955 bei Degener & Co.<br />
Erschienen. Vielleicht trage ich hier „Eulen nach Athen―?<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 568<br />
Ob Sie wohl für so etwas zu „erwärmen― wären? Zunächst nur als<br />
S<strong>im</strong>ulation bzw. „Sandkastenspiel―! Als Kontaktmann zum Computer<br />
stehe ich gern zur Verfügung. Morgen stehe ich z.B. an einer sog. 4004-<br />
Maschine und teste ein Problem <strong>der</strong> Fertigungssteuerung eines<br />
technologischen Arbeitsablaufes. Wie reizvoll wäre es da natürlich für<br />
mich, einmal ein genealogisches Programm mit „hinein-zu-<br />
„schmuggeln―.<br />
Ich kenne nur flüchtig das Ahnenprogramm PRS (Pedigree Referal<br />
Service) <strong>der</strong> Amerikaner (Mormonen) aus dem Jahre 1965 (dort ist die<br />
Zielsetzung wohl auch etwas an<strong>der</strong>s). Aber inzwischen ist die EDV mit<br />
Riesenschritten vorangekommen. Auch auf dem Gebiet <strong>der</strong> „Software―.<br />
Heute existieren ausgezeichnete problemorientierte<br />
Programmiersprachen wie COBOL, FORTRAN, und ganz beson<strong>der</strong>s die<br />
von IBM entwickelte Universalsprache PL/1. In allen diesen Sprachen<br />
habe ich wenigstens Grundkenntnisse.<br />
Vielleicht sind Ihnen auch „Komplizen― bekannt, mit denen ich so<br />
etwas „aushecken― könnte. Vielleicht ist auch schon eine Menge<br />
Vorarbeit auf diesem Gebiet geleistet, wovon ich nichts weiß. Denn in<br />
den letzten Jahren habe ich die genealogischen <strong>Zeit</strong>schriften aus<br />
<strong>Zeit</strong>mangel nicht mehr verfolgt. Aber für ein „EDV-Ahnen―-Hobby da<br />
würde ich mir schon noch etwas von meiner Freizeit abzwacken. Und<br />
das mit Vergnügen!―<br />
Am 16. März 1973 schrieb WÄTZIG u. a.:<br />
„Und nun zu dem an<strong>der</strong>en Thema „Aufbau einer EDV-Datenbank für<br />
Genealogie―. Ich persönlich fühle mich wegen meines Alters (68 Jahre!)<br />
dieser Arbeit nicht mehr gewachsen, nämlich dem Schreiben von<br />
einigen tausend Lochkarten, die bei mir in Frage kämen. Da aber unser<br />
ältester Sohn Wilfried, Jahrgang 1940, Diplom-Physiker an <strong>der</strong><br />
Universität Marburg in <strong>der</strong> Abteilung Kernchemie auch einen Computer<br />
bedient und Programme schreiben muß, also in <strong>der</strong> Materie drinsteckt,<br />
will ich mit ihm in den Osterferien, wenn er zu Besuch nach<br />
Braunschweig kommt, über dieses Problem reden. Vielleicht fühlt er sich<br />
angesprochen und beschäftigt sich dann mit dem neuen Problem <strong>der</strong><br />
EDV-Datenbank für Genealogie.―<br />
Nach einigen Monaten am 11. November 1973 schrieb mir Richard<br />
WÄTZIG:<br />
„Sehr geehrter Herr <strong>Richter</strong>!<br />
Durch viele an<strong>der</strong>e Arbeiten in <strong>der</strong> Familienforschung verhin<strong>der</strong>t, hatte<br />
ich versäumt, auf ihre beiden umfangreichen Briefe vom 18.3.73 und<br />
3.11.73 genauer einzugehen. Ich danke Ihnen herzlich für die<br />
Zusendung und hole dies jetzt nach.<br />
1) Forschungsergebnisse von + Herrn Pfarrer HÄNICHEN a.d.J.<br />
1965 […]<br />
2) Nachkommenliste KÜNTZELMANN<br />
Dazu muß ich gestehen, daß ich einige Jahre nichts mehr daran<br />
gemacht habe. Es kamen <strong>im</strong>mer an<strong>der</strong>e Probleme zuvor, und mein<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 569<br />
Schuldienst wollte auch erledigt sein! Aber wenn Sie einmal Einblick<br />
nehmen wollen in das vorhandene Material, so schicke ich es Ihnen<br />
dieser Tage zur Einsicht und meinetwegen auch zur Weiterbearbeitung<br />
zu. Es ist nur grob geordnet, da laufend <strong>im</strong>mer Neues dazugekommen<br />
ist. Sie werden Stunden brauchen, um sich in das Material<br />
einzuarbeiten. Sie werden aber bald den roten Faden finden, nach dem<br />
die Stamm- und Nachfahrenliste aufgestellt ist. Römische Ziffern sind<br />
die Generationsziffern, Kleinbuchstaben sind dann die entsprechenden<br />
Kin<strong>der</strong> von a bis z, teilweise weiter von za, zb usw. Die Grundlage bildet<br />
die 37. Studie v. 1.1.1966, die ‚Sie ja auch besitzen. Die geplante<br />
Einteilung auf Blatt 15 ist noch nicht konsequent durchgeführt. Vielleicht<br />
empfiehlt sich eine an<strong>der</strong>e und bessere Unterteilung. Was schlagen<br />
Sie vor?? Vielleicht finden Sie auch einen passenden Weg <strong>der</strong><br />
schriftlichen Darstellung. Ich habe die Familienblätter vom Verlag<br />
Degener/Neustadt a.d.Aisch zugrunde gelegt, um dadurch eine bessere<br />
Übersicht und Reihenfolge zu bekommen. Es liegen noch viele lose<br />
Blätter herum, die eingearbeitet werden müssen. Aber z. Z. habe ich<br />
meine AL und zwar Teillisten REUTER und KADEN, sowie die<br />
Nachkommenliste WOLFF/KEMMLITZ in Bearbeitung, so daß ich auf<br />
längere <strong>Zeit</strong> nicht zur Bearbeitung <strong>der</strong> KÜNTZELMANN-Liste komme, da<br />
ich noch halb <strong>im</strong> Schuldienst stehe!<br />
Die Sendung besteht aus:<br />
6 Schnellheftern KÜNTZELMANN<br />
1 Heft KÜNTZELMANN<br />
1 Mappe KÜNTZELMANN mit losen Blättern.<br />
Ich wünsche Ihnen viel Spaß und rechte Freude bei <strong>der</strong> Einteilung und<br />
Bearbeitung<br />
3) Nachtragsliste zur AL 9260 b:<br />
Ich danke Ihnen für die Überlassung <strong>der</strong> Ergänzungen zu Ihrer AL<br />
9260. Neue Ahnengemeinschaften habe ich auch noch nicht entdecken<br />
können. Aber was nicht ist, kann evtl. noch werden. Wir haben ja<br />
schon eine ganze Menge Ahnenstämme gemeinsam, mindestens<br />
12!!<br />
4) EDV für die Genealogie:<br />
Über dieses Thema habe ich mit meinem älteren Sohne Wilfried<br />
gesprochen. Er meinte, daß dazu sehr viel Schreiberei notwendig sei.<br />
Es müßten mehrere 100, wenn nicht gar mehrere 1000 Lochkarten<br />
ausgefüllt werden. Für einen Ahnen müßten mehrere Typen von Karten<br />
ausgestellt werden: Namenkarte mit Ahnenummer, Berufskarten,<br />
Geburts-, Sterbe- und Traukarten, Kin<strong>der</strong>karten.<br />
Für eine EDV-Datenbank müßten dann einheitliche Richtlinien<br />
bestehen, um alle AL gemeinsam auswerten zu können. Er selbst ist z.<br />
Z. überlastet und könnte sich nicht darum kümmern. Ich persönlich bin,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 570<br />
wie ich schon schrieb, nicht mehr in <strong>der</strong> Lage, mich in das neue Gebiet<br />
einzuarbeiten, zumal ich mit meinen 69 Jahren noch aktiv <strong>im</strong><br />
Schuldienst tätig bin, wenn auch verkürzt!<br />
Mit freundlichen Grüßen verbleibe ich Ihr Richard Wätzig.―<br />
Nach diesem Überblick zu meiner eigenen Ahnenforschung <strong>der</strong> ersten<br />
Lebenshälfte sei hier abschließend noch meine erste kleine<br />
genealogische Arbeit aus dem Ahnengebiet meiner lieben Frau,<br />
Johanne geb. PARK aus Ostfriesland, wie<strong>der</strong>gegeben, wo ich erstmals<br />
mit <strong>der</strong> genealogischen Bedeutung <strong>der</strong> Ortssippenbücher in Berührung<br />
kam, - neuerdings <strong>der</strong> „political correctness― wegen jetzt meist als<br />
Ortsfamilienbücher bezeichnet.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
16<br />
16.1 Zum Ortssippenbuch Hesel (- <strong>im</strong> beson<strong>der</strong>en und zu<br />
den OSB <strong>im</strong> allgemeinen)<br />
von <strong>Arndt</strong> <strong>Richter</strong>, München<br />
Durch Kirchenbuchforschung in Holtland, Bagband, Strackholt,<br />
Remels und Filsum zur AT [Ahnentafel] meiner Frau gelegentlich meines<br />
diesjährigen Urlaubs in Ostfriesland konnte ich aus dem kürzlich<br />
erschienenen OSB [Ortssippenbuch] Hesel weitere Ergänzungen für<br />
meine Forschung entnehmen. Bereits vor dem Druck waren mir<br />
freundlicherweise zahlreiche Daten hierzu mitgeteilt worden. Die neuen<br />
Anschlüsse ergaben sich hauptsächlich durch in benachbarten<br />
Kirchspielen aufgefundene „Zwischenglie<strong>der</strong>―, die an die „Kleinfamilien―<br />
des OSB Hesel anschließen und die Filiationslinien [Abstammungslinien]<br />
fortsetzen (diese Ergänzungen zur AL [Ahnenliste] PARK QuF 1973 S.<br />
97ff und S. 125, werden in einem späteren Heft <strong>der</strong> QuF veröffentlicht).<br />
Großen Wert legten die Herausgeber des OSB Hesel auch darauf, die<br />
Kirchenbuchauszüge um diejenigen Daten zu erweitern, die die reiche<br />
Schatzkammer <strong>der</strong> Arbeitsgruppe Familienkunde und Heraldik in ihren<br />
an<strong>der</strong>en Quellen besitzt. Dadurch wurde <strong>der</strong> Wert des OSB Hesel<br />
beträchtlich erhöht. Auf weitere Forschungsmöglichkeiten in an<strong>der</strong>en<br />
Orten ist damit hingewiesen, die Wechselbeziehungen zu den<br />
Nachbargemeinden werden deutlicher und manche Filiation kann erst<br />
dadurch abgesichert werden.<br />
Einen unerwarteten weiteren Datenzuwachs erhielt ich aus dem OSB<br />
Hesel auch noch unmittelbar ohne zusätzliche Kirchenbuchforschungen.<br />
Zur AT meines „Schwippschwagers― (einer kleinen AT bis zu den<br />
Urgroßeltern) ergaben sich für das Ahnenpaar Nr. 10/11 folgende neue<br />
Ahnen. Diese sind hier nur schematisch durch Ahnennummern und die<br />
Familiennummer <strong>der</strong> „Kleinfamilien― <strong>im</strong> OSB Hesel dargestellt. [hier nicht<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 571<br />
dargestellt; es konnten 13 Ahnenpaare innerhalb von 6 Ahnen-<br />
Generationen ermittelt werden!].<br />
Wechselseitig kann ich an<strong>der</strong>erseits auf Grund meiner diesjährigen<br />
Kirchenbuch-Forschung in den Nachbargemeinden von Hesel, das OSB<br />
Hesel weiter ergänzen (diese umfangreiche Datenliste werde ich <strong>der</strong><br />
Arbeitsgruppe ebenfalls zur Veröffentlichung übergeben).<br />
Eine Anschaffung des ostfriesischen OSB Hesel wird für jeden in<br />
Ostfriesland Forschenden lohnend sein, ebenso wie die vorher<br />
erschienenen OSB von Ostfriesland, die lei<strong>der</strong> nicht mehr alle lieferbar<br />
sind.<br />
Man bedenke, welcher Aufwand an Kosten und <strong>Zeit</strong> allein die<br />
Erforschung des dargestellten Verwandtschaftsgeflechtes heute kosten<br />
würde, das hier ja nur in seiner Struktur skizziert wurde! So gesehen<br />
erscheint <strong>der</strong> Preis von DM 30,-- für das teuerste OSB Ostfrieslands<br />
(Hesel) als „Schutzgebühr―.<br />
Welche Fülle von Filiationen wurde durch die OSB Ostfrieslands<br />
erschlossen und dem Forscher leicht zugänglich gemacht! Bei fast allen<br />
<strong>der</strong> ca. 4000 <strong>im</strong> OSB Hesel angegebenen „Kleinfamilien― konnten die<br />
Filiationen zu den entsprechenden „Kleinfamilien― <strong>der</strong><br />
Vorfahrengeneration und/o<strong>der</strong> Nachfahrengeneration durch<br />
übersichtliche Nummernverweise angegeben werden.<br />
Daß gerade ostfriesische Filiationen es durch den Namenswechsel „in<br />
sich haben―, leicht verunsichern und hier oft „harte Nüsse zu knacken―<br />
sind, kommt noch hinzu. Sich hier sicher zu bewegen, setzt große<br />
genealogische Erfahrung und jahrelanges Vertrautsein mit Ostfrieslands<br />
Namensgebung voraus. Die Herausgeber Ludwig JANSSEN (+) und<br />
Hans Rudolf MANGER besitzen dieses Wissens in hohem Maße.<br />
Vermißt wird lei<strong>der</strong> ein Ortsverzeichnis. Denn damit ließe sich das<br />
Material örtlich noch leichter erschließen. Vielleicht kann dieser Mangel<br />
am besten bald durch ein Gesamtortsverzeichnis zu allen ostfriesischen<br />
OSB behoben werden. Es wäre ein großer Gewinn. In diesem<br />
Zusammenhang sei auf das noch weitgehend unbekannte<br />
„Ortsnummernverzeichnis des Deutschen Reiches― von 1928<br />
hingewiesen (vergl. Prof. S. RÖSCH, Orts- und <strong>Zeit</strong>angaben in <strong>der</strong><br />
Genealogie― in Genealogie 1971, S. 705-708).<br />
Dieses Ortsnummernverzeichnis ist beson<strong>der</strong>s für die Geschichte und<br />
Genealogie als rückblickende Wissenschaften von großem Wert.<br />
Darüber hinaus bietet es eine eindeutige Bezifferung für jeden Ort <strong>im</strong><br />
Gegensatz zur jetzigen Postleitzahl, die ja oft bis zu 100 verschieden<br />
benannte Orte zusammenfaßt. Eine sinnvolle lineare numerische<br />
Sortierung, wie sie das Alphabet nicht ermöglicht, wird damit erreicht.<br />
Für die spätere EDV-mäßige Verarbeitung genealogischen Materials<br />
wird eine eindeutige numerische Ortsbezeichnung ohnehin die „conditio<br />
sine qua non― brauchbarer und wirtschaftlicher Programme sein (ich<br />
kann hier aus eigener EDV-Erfahrung in <strong>der</strong> Industrie sprechen).<br />
Zurzeit bin ich dabei, den Inhalt des genannten Ortsverzeichnisses,<br />
das offenbar durch die Kriegsereignisse zur Rarität geworden ist, für das<br />
Gebiet Ostfrieslands herauszuziehen und zusammenzustellen.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 572<br />
Die Herausgabe des 8. Bandes <strong>der</strong> Reihe „Ostfrieslands<br />
Ortssippenbücher― durch die Arbeitsgruppe Familienkunde und Heraldik<br />
<strong>der</strong> Ostfriesischen Landschaft in Aurich sei aber auch einmal erneut<br />
Anlaß, das Interesse auf die allgemeine Bedeutung <strong>der</strong> OSB für die<br />
Genealogie und an<strong>der</strong>er Wissenschaften zu lenken. Beson<strong>der</strong>s sei<br />
dabei hingewiesen auf den überaus aufschlußreichen Aufsatz von Dr.<br />
Johannes HOHLFELD „Die Dorfsippenbücher― in<br />
„Familiengeschichtliche Blätter―, 1944, H.5/6, Sp.65-90, 9 Beilagen.<br />
Man kann den Inhalt und die Darstellungsform <strong>der</strong> Ortssippenbücher<br />
wohl mit Recht als „objektive Genealogie― bezeichnen. [besser: Vorstufe<br />
einer „objektiven Genealogie―, denn jede echte Genealogie muß einen<br />
zentralen Bezugspunkt haben (den Probanden!); ergänzt vom Autor 38<br />
Jahre nach <strong>der</strong> erneuten Nie<strong>der</strong>schrift dieses Artikels]. Sie sind das<br />
Ergebnis einer vollständigen systematischen und ortsorientierten<br />
Auswertung vor allem <strong>der</strong> Kirchenbücher. Hinzu kommen<br />
gegebenenfalls auch noch an<strong>der</strong>e Register. Manchmal werden weitere<br />
Quellen, wie „subjektive― Einzelforschungen mit einbezogen. Letztere<br />
sind oft ebenfalls von hohem wissenschaftlichen Wert und meist das<br />
Ergebnis langjähriger, manchmal generationenlanger emsiger<br />
Forschertätigkeit. Diese beziehen sich fast <strong>im</strong>mer auf einen Probanden<br />
(Aszendenz) o<strong>der</strong> einen Stammvater bzw. Stammelternpaar<br />
(Deszendenz) als Bezugspunkt.<br />
Querverbindungen zwischen <strong>der</strong> Einzelforschung und den<br />
„Kleinfamilien― <strong>der</strong> OSB schaffen verwandtschaftliche Brücken zur<br />
„Seitenverwandtschaft― (Geschwisterahnen und <strong>der</strong>en<br />
Nachfahrenschaft), die bei <strong>der</strong> Aszendenz meist wenig bekannt ist.<br />
Gewissermaßen verzahnen an<strong>der</strong>erseits die „geographischen<br />
Koordinaten― <strong>der</strong> Kleinfamilien <strong>der</strong> OSB die Einzelforschung mit dem<br />
geschichtlichen und he<strong>im</strong>atkundlichen Hintergrund <strong>der</strong><br />
Ortssippenbücher. HOHLFELD spricht in diesem Zusammenhang auch<br />
vom herrschenden „Ortsgeist―, <strong>der</strong> in jahrhun<strong>der</strong>telanger Vergangenheit<br />
entwickelt, sich nur langsam verän<strong>der</strong>t.<br />
HOHLFELD erkannte frühzeitig den großen materiellen Wert <strong>der</strong><br />
Ortssippenbücher für eine Gemeinschaftsgenealogie. HOHLFELD<br />
verwarf aber auch den zentralistischen Plan des Dr. Ach<strong>im</strong> GERCKE,<br />
<strong>der</strong> darauf hinauslief, den Inhalt aller deutschen Kirchenbücher in einer<br />
einzigen Ahnenstammkartei systematisch aufzuarbeiten. Diesen Plan<br />
hielt er mit Recht für dilettantisch. Er sagt: „Die wissenschaftliche<br />
Auswertung des Inhalts <strong>der</strong> Kirchenbücher kann überhaupt nur <strong>im</strong> Wege<br />
orts- und landesgeschichtlicher, hauptsächlich aber sozial- und<br />
sippengeschichtlicher Einzelforschung, niemals <strong>im</strong> Wege einer zentralen<br />
Gesamtbearbeitung <strong>der</strong> Kirchenbücher erfolgen. Das ist für jeden<br />
gebildeten Historiker eine Selbstverständlichkeit. […] Der Strom <strong>der</strong><br />
Forschungsergebnisse sollte sich also nicht in ein Meer ergießen,<br />
dessen Fluten schließlich je<strong>der</strong> Eindämmung spotteten, er sollte<br />
vielmehr in Einzelbecken geleitet und in ihnen sogleich verarbeitet<br />
werden, wie er jeweils zufloß. Der Vorteil liegt klar zutage: 1. die<br />
unübersehbare Gesamtarbeit wurde in klar abgegrenzte Einzelaufgaben<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 573<br />
geteilt und 2. es war, so wie die Verkartung in Einzelgebieten<br />
abgeschlossen war, mit baldigen positiven Einzelergebnissen zu<br />
rechnen.―<br />
Im genannten Aufsatz geht HOHLFELD auch eingehend auf die<br />
statistischen Möglichkeiten ein, die das Material <strong>der</strong> OSB enthält und<br />
umreißt <strong>der</strong>en Bedeutung auch für an<strong>der</strong>e Gebiete. Es seien hier nur<br />
Namensforschung und Namensgeographie, Soziologie, Orts- und<br />
Landesgeschichte, Stammesgeschichte, Bevölkerungsstatistik und<br />
Humanbiologie erwähnt.<br />
Die Verfahrenstechnik <strong>der</strong> statistischen Auswertung von OSB ist erst<br />
kürzlich beschrieben worden in einer Publikation von Wulf ERBE<br />
„Auswertung eines Ortssippenbuches mit Hilfe <strong>der</strong> Familiennummern,<br />
dargestellt am Beispiel Altweilnau Kreis Usingen in Hessen― in<br />
Genealogie, 1974, H. 1, S. 15-20. Hierauf sei noch ausdrücklich<br />
hingewiesen.<br />
Abschließend soll nicht unerwähnt bleiben, daß die Arbeitsgruppe<br />
Familienkunde und Heraldik <strong>der</strong> Ostfriesischen Landschaft hinsichtlich<br />
<strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> OSB in <strong>der</strong> Bundesrepublik mit an <strong>der</strong> Spitze steht.<br />
Möge diese Arbeitsgruppe auch auf diesem Gebiet weiterhin<br />
Vorbildliches leisten! Je<strong>der</strong> in Ostfriesland Forschende kann sein<br />
Scherflein dazu beisteuern. Beson<strong>der</strong>s alle Arbeitsgruppenmitglie<strong>der</strong><br />
seien aufgerufen, an dieser schönen gemeinsamen Aufgabe<br />
mitzuwirken!<br />
Aus: ―Quellen und Forschungen zur Ostfriesischen Familien- und<br />
Wappenkunde―, Aurich, 23.Jahrgang, 1974, H. 9-10, S. 86-89.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
16.2 Zwei E-Mails in genealogischen Mailinglisten<br />
E-Mail vom 8. 2. 2008 an drei deutsche genealogische Mailinglisten<br />
(Compgend, AMF und Hessen)<br />
Hallo alle "Stammbaum-Insassen",<br />
wer das Glück hat, Mitglied eines größeren, gut erforschten Familien-<br />
Stammbaumes zu sein, kann meist auf den Forschungen aktiver,<br />
früherer meist längst verstorbener Familienmitglie<strong>der</strong> aufbauen (- o<strong>der</strong><br />
sich dort auch "ausruhen"). Denn ein großer Familienstammbaum<br />
(Stammfolge bzw. -liste) ist meist das Ergebnis mehrer<br />
Forschergenerationen. Noch weit mehr gilt dies natürlich für<br />
Gesamtnachfahrenlisten, wo auch alle Töchternachkommen eines<br />
"Stammelternpaares" erforscht werden. Doch bleiben wir einmal bei den<br />
"reinen patrilinearen" Stammbäumen, <strong>der</strong>en männliche Mitglie<strong>der</strong> ja alle<br />
das gleiche Y-Chromosom haben sollten.- Mit meiner "neugierigen<br />
Frage?" von neulich, hatte ich ich nämlich vor allem <strong>im</strong> Hinterkopf,<br />
Stammbaum-Mitglie<strong>der</strong> kennen zu lernen, um meine Studien über:<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 574<br />
"Das zahlenmäßige Verhältnis <strong>der</strong> Geschlechter innerhalb<br />
einzelner Familien"<br />
fortsetzen zu können. Auf diese bisherigen Studien-Ergebnisse möchte<br />
ich hier in meiner "<strong>GeneTalogie</strong>"-Seite:<br />
http://www.genetalogie.de/stammtafeln/einleitung.html<br />
hinweisen, wo ich von den größten mir bekannten deutschen<br />
Stammbäumen (CONZELMANN; ALDINGER; GMELIN; ORTH;<br />
WELSER; FUGGER und SIEMENS) jeweils tabellarisch das<br />
Geschlechterverhältnis (in Abb.1) und die Kin<strong>der</strong>zahl<br />
(Geschwistergröße), Zahl <strong>der</strong> Väter und daraus die "Fruchtbarkeitsziffer"<br />
je Generation ermittelt habe (Abb.2).<br />
Wer kann aus seinen - tunlichst großen! - Familienstammbaum mir<br />
solche Ergebnisse liefern bzw. auszählend aufbereiten? Die damit<br />
verbundene Arbeit sieht schl<strong>im</strong>mer aus als sie ist. Vielleicht macht sie<br />
sogar dem einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en auch ein wenig Spaß, - wie es bei mir<br />
<strong>der</strong> Fall war (und noch ist; die SCRIBAs "lassen grüßen"!).<br />
Mit freundlichen Grüßen,<br />
<strong>Arndt</strong> (<strong>Richter</strong>)<br />
-----------------------------------------------------------<br />
<strong>Arndt</strong> <strong>Richter</strong><br />
Grünstadter Platz 21<br />
81539 München<br />
www.genetalogie.de<br />
www.goethe-genealogie.de<br />
====================================================<br />
Die Geschwister sind es …!<br />
Liebe AMF-, Hessen- und Compgend-Leser/Innen!<br />
Vor über 6 Jahren habe ich in <strong>der</strong> AMF-, BLF- und<br />
Computergenealogie-Mailingliste am 17. Oktober 2001 folgenden E-<br />
Mail-Beitrag gebracht, den ich heute nochmals wie<strong>der</strong>hole, zumal<br />
inzwischen viele neue Leser hinzugekommen sind:<br />
„Liebe A-B-C-ler !<br />
(*A*MF-, *B*LF-, *C*ompgend-Listler; natürlich nicht schulmeisterlich<br />
gemeint!)<br />
Die *Geschwister* sind es, die eine Bevölkerung – „Volk― ist ja heute<br />
schon vielfach verpönt [Reichstag!] – vor dem Aussterben bewahren! -<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 575<br />
Ohne Geschwister keine Genealogie! Zumindest keine mehr, wie wir sie<br />
kennen und wie sie uns Spaß macht.<br />
Ohne Geschwister gibt es ja dann auch keine *Geschwisterkin<strong>der</strong>*, also<br />
keine *Cousins* (Vettern)* und *Cousinen („Basen―)* mehr! Je<strong>der</strong><br />
heutige <strong>Zeit</strong>genosse hat aber noch Vettern. Einige wenige haben aber<br />
bereits keine mehr vom 1. Grad, die allermeisten haben zumindest noch<br />
solche vom 2. Grad und wohl fast alle Menschen welche ab dem 3.<br />
Grad.<br />
Ohne Geschwister also keine *Seitenverwandtschaften* und damit auch<br />
keine *Ahnengemeinschaften* mehr! Auch mit *―Ahnenschwund―<br />
(Implex)* brauchten wir uns dann nicht mehr „plagen―. Denn wenn es<br />
keine Geschwister, und damit keine *Seitenverwandtschaften* mehr<br />
gibt, kann es auch keine *Verwandtenehen* mehr geben. Allein letztere<br />
Ehen bewirken aber den *Implex*!<br />
Eine normale *Stammtafel* kann es ohne Geschwister natürlich auch<br />
nicht mehr geben! Denn *Stamm- und Nachkommentafeln* sind ja <strong>im</strong><br />
Prinzip *Geschwister-Tafeln*. Und wenn Geschwister fehlen, da kann<br />
man nur noch *Ein-Kind-Linien* über die Generationen hin darstellen:<br />
Quasi Linien, die den *geneTalogischen Untergang* als<br />
Zukunftsperspektive symbolisieren.-<br />
Wir können uns aber vielleicht damit trösten, daß die Genealogie eine<br />
*rückblickende Wissenschaft* ist, und wir (als auch unsere<br />
Kindeskin<strong>der</strong>), uns deshalb wenigstens noch eine zeitlang an den<br />
reizvollen *verwandtschaftlichen Verflechtungen* innerhalb unserer<br />
Familienforschung erfreuen können, - wenn uns nicht vorher eine<br />
globale Katastrophe he<strong>im</strong>suchen sollte.-<br />
Mit nachdenklichen Grüßen am Abend,<br />
<strong>Arndt</strong> (<strong>Richter</strong>)―<br />
Dem habe ich heute eigentlich höchstens nur noch hinzuzufügen, daß<br />
es auch nur die Geschwister in unseren Ahnentafeln sind, die eine<br />
Ursache dafür sind, daß es offensichtlich mehr „Mannesstämme― als<br />
„Mutterstämme― gibt. Doch hier muß ich auf meine kleine Broschüre „Die<br />
Welt <strong>der</strong> vernachlässigten Abstammungen: „Mutterstämme― –<br />
Töchterketten― hinweisen:<br />
http://www.genetalogie.de/mgross/fana.html<br />
(siehe dort: Seite 26 ff. „Die Verschwisterungsliste (VSL) als Schlüssen<br />
zur Erkenntnis!)<br />
abermals mit nachdenklichen Grüßen am Abend aus München,<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 576<br />
<strong>Arndt</strong> (<strong>Richter</strong>)<br />
Mit nachdenklichen Grüßen am Abend,<br />
<strong>Arndt</strong> (<strong>Richter</strong>)"<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
17 ANLAGEN<br />
17.1 Anlage 1<br />
Vererbungswissenschaftlich orientierte Goethe-Genealogie-<br />
Literatur<br />
http://goethe-genealogie.de/literatur/literaturst.html<br />
Francis Galton: Genie und Vererbung (deutsch: 1910, Original:<br />
Hereditary Genius (London 1869).<br />
Paul J. Möbius: Das Pathologische bei Goethe (1898),<br />
Albert Reibmayr: Die Entwicklungsgeschichte des Talentes und Genies,<br />
2 Bände (1908).<br />
Robert Sommer: Goethe <strong>im</strong> Lichte <strong>der</strong> Vererbungslehre (1908).<br />
Robert Sommer: Goethes Wetzlarer Verwandtschaft (1908).<br />
Ludwig Geiger: Goethe und die Seinen (1908).<br />
Robert Sommer: Familienforschung und Vererbungslehre, 2. Aufl.<br />
beson<strong>der</strong>s Kap. 13:<br />
Die Familie Soldan und Kap. 21: Goethe (1922).<br />
Hermann Werner Siemens: Die Zwillingspathologie. Ihre Bedeutung,<br />
ihre Methodik, ihre bisherigen Ergebnisse (Berlin 1924).<br />
Heinrich Reichel: Familien- und Erbforschung. Am Beispiel von Goethes<br />
Blutsverwandtschaft (1926).<br />
Bruno Springer: Der Schlüssel zu Goethes Liebesleben. Ein Versuch.<br />
(1926).<br />
Niels Hansen: Ein Tropfen Türkenblut in Goethes A<strong>der</strong>n (1927).<br />
Jenny Kopp: Die Vererbung in Goethes Geschlecht (1928).<br />
Emil Ludwig: Genie und Charakter. Zwanzig männliche Bildnisse (1928).<br />
Bruno Springer: Die Blutmischung als Grundgesetz des Lebens<br />
(zw.1929-1931).<br />
Johannes Hohlfeld: Gehe<strong>im</strong>nis <strong>der</strong> Vererbung (1929).<br />
Kurt Gerlach: Begabung und Stammesherkunft <strong>im</strong> deutschen Volke.<br />
Feststellungen über die Herkunft <strong>der</strong> deutschen Kulturschöpfer in<br />
Kartenbil<strong>der</strong>n (1929).<br />
Heinrich Reichel: Methoden <strong>der</strong> Familienforschung am Beispiel Goethes<br />
(1930).<br />
S. Wellisch: Genealogische Betrachtungen am Beispiel Goethes (1930).<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 577<br />
E. Roesle: Die Messung <strong>der</strong> Häufigkeit <strong>der</strong> Intelligenz bei den Ahnen<br />
von Hermann Gr<strong>im</strong>m und Wolfgang Goethe als Beispiel für die<br />
praktische Auswertung von Ahnentafeln (1932).<br />
Walther Rauschenberger: Goethes Abstammung und Rassenmerkmale<br />
(1934).<br />
Wilhelm Karl Prinz von Isenburg: Genie und Landschaft <strong>im</strong> europäischen<br />
Raum (1936).<br />
H. Kirste: Die Familie Goethes <strong>im</strong> Lichte <strong>der</strong> Vererbung (1936).<br />
Oskar Jellinek: Die Geistes- und Lebenstragödie <strong>der</strong> Enkel Goethes<br />
(1938).<br />
Willy Hellpach: Deutsche Physiologie. Grundlegung einer<br />
Naturgeschichte <strong>der</strong> Nationalgesichter (1942).<br />
Walther Rauschenberger: Mediterrane Züge in Goethes Persönlichkeit<br />
(1944).<br />
Walther Rauschenberger: Erb- und Rassenpsychologie schöpferischer<br />
Persönlichkeiten (1942).<br />
Th. Spoerri: Genie und Krankheit. Eine psychopathologische<br />
Untersuchung <strong>der</strong> Familie Feuerbach, Basel (1952).<br />
Willy Hellpach: Universelle Psychologie eines Genius – Goethe (1952).<br />
Adele Juda: Höchstbegabungen, ihre Erbverhältnisse sowie ihre<br />
Beziehungen zu psychischen Anomalien. München-Berlin (1953).<br />
J. Wyrsch: Familiengeschichte und Erbforschung. Monatsschrift für<br />
Psychiatrie und Neurologie, 125:745 (1953).<br />
H. O. Kleine: Der Untergang <strong>der</strong> Goethe-Sippe <strong>im</strong> Lichte <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />
Blutmerkmale-Forschung (1954).<br />
Gottfried Roesler: Die Gefahren des Rhesus-Faktors (1955).<br />
Horst Geyer: Über die Dummheit (1955).<br />
Ernst Kretschmer: Geniale Menschen (1958).<br />
V. Lange: Die Abhängigkeit seelischen Verhaltens von Vererbung und<br />
Umwelt. Ergebnisse einer biographischen Zwillings- und<br />
Familienuntersuchung. Nervenarzt 33:150 (1962).<br />
Hermann Wr. Siemens: Zur Entstehungsgeschichte <strong>der</strong><br />
Zwillingsforschung (Leiden/Holland 1966).<br />
Richart Reitmann: Vorpflichten, nicht Vorrechte ( 1967).<br />
Rudolf Krämer-Badoni; Deutschland deine Hessen. Dumm Gebabbel auf<br />
dem Prüfstand (1968).<br />
August Kuhn-Foelix: Vom Wesen des genialen Menschen (1968).<br />
Walter G. Jankowsky: Genetik und Genealogie; in: Medizinischer<br />
Monatsspiegel, 5, 116-121, Fa. Merck (1973).<br />
Wilhelm Lange-Eichbaum/ Wolfram Kurth: Genie, Irrsinn und Ruhm.<br />
Genie-Mythos und Pathographie des Genies (1979).<br />
Walther A. Güldner: Söhne? – Das Aussterben von Familien (1982).<br />
Walter Weisbecker: Schon mit den Enkeln starb die Familie Goethe aus<br />
(1986, FAZ).<br />
Klaus Keßler( Ulrich Frank-Planitz): Sind Thüringer heller als Sachsen?<br />
(1990).<br />
Manfred Wenzel: Goethe und die Medizin (1992).<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 578<br />
17.2 Anlage 2<br />
An Herrn Haller Professor <strong>der</strong> Medizin in Göttingen<br />
Das hier ist nicht etwa eine Widmung; denn Sie sind allzu erhaben über<br />
alles Lob, das ich Ihnen spenden könnte, und ich kenne nichts, was<br />
so unnütz und so abgeschmackt wäre wie eine akademische<br />
Abhandlung. Es ist auch keine Darlegung <strong>der</strong> neuen Methode, die ich<br />
verfolgt habe, um ein so verbrauchtes, so abgedroschenes Thema ein<br />
wenig aufzufrischen. Sie werden ihr wenigstens dieses Verdienst<br />
zuerkennen, <strong>im</strong> übrigen aber selbst darüber urteilen, ob Ihr Schüler und<br />
Freund seine Aufgabe gut. erfüllt hat. Von dem Vergnügen, das ich be<strong>im</strong><br />
Nie<strong>der</strong>schreiben dieses Werkes empfunden habe, will ich nun sprechen; ich<br />
empfehle Ihnen mich selbst und nicht mein Buch, um Aufklärung über die<br />
hohe Freude am Studium zu erhalten. Das ist <strong>der</strong> Gegenstand dieser<br />
Abhandlung. Ich wäre nicht <strong>der</strong> erste Schriftsteller, <strong>der</strong> nichts zu sagen<br />
hat und <strong>der</strong> daher, um die Unfruchtbarkeit seiner Einbildungskraft<br />
gutzumachen, ein Thema gewählt hätte, bei dem die Einbildungskraft keine<br />
Rolle gespielt hätte, Sagen Sie mir also, Sie zweifacher Sohn des Apoll, Sie<br />
berühmter Schweizer, Sie mo<strong>der</strong>ner Fracastor, <strong>der</strong> Sie die Natur zugleich<br />
zu erkennen und zu ermessen - ja mehr noch, sie zu empfinden und gar<br />
auszudrücken verstehen -, sagen Sie mir, Sie gelehrter Arzt und noch<br />
größerer Dichter, durch welche Zauberei das Studium die Stunden in<br />
Augenblicke zu verwandeln vermag und worin die Natur jener Vergnügen<br />
des Geistes besteht, die von gewöhnlichen Vergnügen so verschieden<br />
sind ... Aber die Lektüre Ihrer reizvollen Gedichte ist mir zu<br />
nahegegangen, als daß ich nicht zu sagen versuchte, wozu sie mich<br />
begeistert hat. Wird <strong>der</strong> Mensch von diesem Standpunkt aus betrachtet, so<br />
hat er nichts, was meinem Gegenstand fremd wäre.<br />
So geliebt und begehrt die Sinnenlust auch sein mag und so viel Lob ihr<br />
die offenbar dankbare Fe<strong>der</strong> eines jungen französischen Arztes auch<br />
gespendet hat, so verschafft sie uns doch nur einen einmaligen Genuß, <strong>der</strong><br />
zugleich ihr Grab ist. Wenn die höchste Lust auch diesen Genuß nicht für<br />
<strong>im</strong>mer tötet, so bedarf es doch einer gewissen <strong>Zeit</strong>, um ihn wie<strong>der</strong><br />
hervorzurufen. Wie verschieden sind dagegen die Quellen <strong>der</strong> geistigen<br />
Freuden! Je näher man <strong>der</strong> Wahrheit kommt, desto reizvoller findet man<br />
sie. Ihr Genuß steigert nicht nur die Begierden, son<strong>der</strong>n man empfindet<br />
hier schon Genuß, während man Genuß sucht. Man genießt lange und<br />
doch schneller, als ein Blitz vom H<strong>im</strong>mel zuckt. Muß man sich wun<strong>der</strong>n,<br />
wenn die Lust des Geistes so hoch über <strong>der</strong> Lust <strong>der</strong> Sinne steht wie <strong>der</strong><br />
Geist über dem Körper? Ist denn <strong>der</strong> Geist nicht <strong>der</strong> erste <strong>der</strong> Sinne und<br />
gleichsam <strong>der</strong> Sammelpunkt aller Empfindungen? Vereinigen sich in ihm<br />
nicht alle Empfindungen - wie ebenso viele Strahlen - in einem Zentrum,<br />
das sie hervorbringt? Forschen wir also nicht weiter, durch welchen<br />
unwi<strong>der</strong>stehlichen Zauber ein Herz, das von <strong>der</strong> Liebe zur Wahrheit<br />
entflammt ist, plötzlich sozusagen in eine schönere Welt versetzt wird, in<br />
<strong>der</strong> es Freuden genießt, die <strong>der</strong> Götter würdig sind. Von allen Reizen <strong>der</strong><br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 579<br />
Natur ist <strong>der</strong> stärkste - zumindest für mich wie für Sie, lieber Haller - <strong>der</strong><br />
Reiz <strong>der</strong> Philosophie. Gibt es einen herrlicheren Ruhm, als von <strong>der</strong><br />
Vernunft und Weisheit zu ihrem Tempel geführt zu werden? Welche<br />
Errungenschaft wäre schmeichelhafter als die, sich alle Geister zu<br />
unterwerfen!<br />
Überblicken wir kurz die Gegenstände dieser Freuden, die den<br />
niedrigen Seelen unbekannt sind. Wie schön und umfassend sie<br />
sind! <strong>Zeit</strong>, Raum, Unendlichkeit, Land und Meer, das<br />
H<strong>im</strong>melsgewölbe, alle Elemente, alle Wissenschaften und Künste,<br />
all das gehört zu dieser Art von Lust. Da sie sich in den Grenzen<br />
unserer Welt allzu beengt fühlt, denkt sie sich Millionen Welten aus.<br />
Die ganze Natur ist ihre Nahrung und die Einbildungskraft ihr<br />
höchster Triumph. Gehen wir nun auf Einzelheiten ein.<br />
Bald ist es die Poesie o<strong>der</strong> die Malerei, bald die Musik, die<br />
Architektur, <strong>der</strong> Gesang, <strong>der</strong> Tanz usw., die den Kennern köstliches<br />
Vergnügen bereiten. Sehen Sie die Delbar (die Frau Prions) in einer<br />
Loge <strong>der</strong> Oper an. Abwechselnd erblassend und errötend, schlägt<br />
sie den Takt mit Rebel, wird mit <strong>der</strong> Iphigenie gerührt und mit<br />
Roland rasend. Alle Eindrücke des Orchesters malen sich in ihrem<br />
Gesicht wie auf einer Leinwand. Ihr Blick wird bald sanft, bald wild,<br />
ihre Augen lachen o<strong>der</strong> wappnen sich mit kriegerischem Mut. Man<br />
hält sie für eine Wahnsinnige. Sie ist dies aber durchaus nicht, es sei<br />
denn, es wäre Wahnsinn, Vergnügen zu empfinden. Sie ist nur von<br />
tausen<strong>der</strong>lei Schönheiten erfüllt, die mir entgehen.<br />
Voltaire kann seiner Merope Tränen nicht versagen; denn er<br />
empfindet den Wert des Werkes ebenso wie den <strong>der</strong> Darstellerin. Sie<br />
haben seine Schriften gelesen; doch zu seinem Unglück ist er nicht in<br />
<strong>der</strong> Lage, Ihre Schriften zu lesen. In wessen Händen, in wessen<br />
Gedächtnis sind sie nicht? Und welches Herz ist so hart, daß es von<br />
ihnen nicht gerührt würde? Wie konnten alle seine Neigungen den an<strong>der</strong>en<br />
nicht mitgeteilt werden? Er spricht doch darüber so begeistert.<br />
Wenn ein großer Maler - wie ich zu meinem Vergnügen sah, als ich vor<br />
kurzem das Vorwort von Richardson gelesen habe - von <strong>der</strong> Malerei<br />
spricht: welches Lob spendet er ihr dann nicht? Er verehrt seine Kunst, er<br />
stellt sie über alles, er zweifelt fast daran, daß man glücklich sein könne,<br />
ohne Maler zu sein. So entzückt ist er von seinem Beruf.<br />
Wer hat nicht dieselbe Begeisterung wie Sacliger o<strong>der</strong> Malebranche<br />
empfunden, wenn er einige schone Stellen <strong>der</strong> griechischen, englischen<br />
o<strong>der</strong> französischen Tragödiendichter o<strong>der</strong> gewisse philosophische Werke<br />
las? Niemals hatte Frau Dacier mit dem gerechnet, was ihr ihr Mann<br />
versprach, und doch fand sie hun<strong>der</strong>tmal mehr. Wenn wir schon bei <strong>der</strong><br />
Übertragung o<strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> Gedanken eines an<strong>der</strong>en eine Art<br />
Begeisterung empfinden, wie ergeht es uns dann erst, wenn wir selbst<br />
denken? Worin besteht denn jene Zeugung, jene Geburt von Ideen,<br />
welche die Freude an <strong>der</strong> Natur und die Erforschung <strong>der</strong> Wahrheit<br />
hervorrufen? Wie soll man diese Handlung des Willens o<strong>der</strong> diesen Akt<br />
des Gedächtnisses schil<strong>der</strong>n, durch den die Seele sich gewissermaßen<br />
selbst reproduziert, indem sie eine Idee mit <strong>der</strong> Spur einer an<strong>der</strong>en<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 580<br />
gleichartigen Idee verbindet, damit aus ihrer Ähnlichkeit und Verbindung<br />
eine dritte hervorgehe? Bewun<strong>der</strong>n Sie also die Schöpfungen <strong>der</strong> Natur.<br />
Ihre Gleichförmigkeit ist so, daß sie fast alle in <strong>der</strong>selben Weise<br />
entstehen.<br />
Sind die Sinnesfreuden zügellos, so verlieren sie ihre ganze<br />
Lebhaftigkeit und sind keine Freuden mehr. Die Freuden des Geistes<br />
gleichen ihnen bis zu einem gewissen Grade. Man muß sie zuweilen<br />
unterbrechen, um sie zu steigern. Schließlich hat doch das<br />
Studium ebenso seine Ekstasen wie die Liebe. Es gibt, wenn ich so<br />
sagen darf, eine Katalepsie o<strong>der</strong> Erstarrung des Geistes, <strong>der</strong> von<br />
dem Gegenstand, <strong>der</strong> ihn fesselt und bezaubert, so trunken ist,<br />
daß er durch Abstraktion von seinem eigenen Körper und seiner<br />
ganzen Umgebung losgelöst erscheint, um sich ganz dem<br />
hinzugeben, was er verfolgt. Er empfindet dann nichts an<strong>der</strong>es,<br />
weil er das eine so stark empfindet. Das ist die Freude, die man<br />
genießt, sowohl wenn man die Wahrheit sucht, als auch wenn<br />
man sie findet. Ermessen Sie die Macht ihrer Reize an <strong>der</strong> Ekstase<br />
des Arch<strong>im</strong>edes; Sie wissen, daß sie ihm das Leben kostete.<br />
Mögen die an<strong>der</strong>en Menschen in <strong>der</strong> Menge untertauchen, da sie sich<br />
selbst nicht erkennen wollen o<strong>der</strong> vielmehr sich hassen; <strong>der</strong> Weise<br />
flieht die große Welt und sucht die Einsamkeit. Warum findet er nur<br />
Gefallen an sich selbst o<strong>der</strong> seinesgleichen? Weil seine Seele ein<br />
treuer Spiegel ist, in dem seine gerechte Eigenliebe Genugtuung<br />
findet, wenn er sich darin betrachtet. Wer tugendhaft ist, hat von <strong>der</strong><br />
Selbsterkenntnis nichts zu befürchten - es sei denn die angenehme<br />
Gefahr, sich selbst zu lieben.<br />
Wie in den Augen eines Menschen, <strong>der</strong> vom H<strong>im</strong>mel aus die Welt<br />
betrachtete, alle Größe <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Menschen verschwinden<br />
müßte, die prächtigsten Schlösser sich in armselige Hütten<br />
verwandeln und unübersehbare Heere einem Haufen von Ameisen,<br />
die mit <strong>der</strong> lächerlichsten Wut um ein Körnchen kämpfen, gleichen<br />
würden, so müssen einem Weisen wie Ihnen die Dinge erscheinen.<br />
Er lacht über die eitle Geschäftigkeit <strong>der</strong> Menschen, wenn ihre<br />
Menge die Erde überflutet und um ein Nichts kämpft, mit dem<br />
doch gerechterweise keiner von ihnen zufrieden wäre.<br />
Wie erhaben zeigt sich Pope zuerst in seinem Versuch über den<br />
Menschen! Wie klein sind ihm gegenüber die Großen und die Könige!<br />
Sie aber, weniger mein Lehrer als mein Freund, haben von <strong>der</strong><br />
Natur dieselbe Kraft des Genies erhalten wie Pope, sie aber<br />
mißbraucht; Sie Undankbarer, <strong>der</strong> Sie nicht verdienen, sich so sehr<br />
in den Wissenschaften auszuzeichnen, haben mich also wie<br />
dieser große Dichter gelehrt, über die Spielereien und Bagatellen,<br />
mit denen sich sogar Monarchen ernsthaft beschäftigen, zu lachen<br />
o<strong>der</strong> vielmehr zu seufzen. Ihnen verdanke ich mein ganzes Glück.<br />
Nein, die Eroberung <strong>der</strong> ganzen Welt wiegt nicht die Freude auf,<br />
die ein Philosoph in seinem Arbeitsz<strong>im</strong>mer empfindet <strong>im</strong> Kreis <strong>der</strong><br />
stummen Freunde, die ihm doch alles sagen, was er zu hören<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 581<br />
wünscht. Möge mir Gott das Notwendigste und die Gesundheit nicht<br />
nehmen, das ist alles, worum ich ihn bitte. Bei guter Gesundheit<br />
wird mein Herz das Leben lieben, ohne seiner jemals überdrüssig zu<br />
werden. Und wenn ich das Notwendigste besitze, wird mein<br />
zufriedener Geist wohl <strong>im</strong>mer die Weisheit pflegen.<br />
Ja, das Studium ist eine Freude auf allen Altersstufen, an allen Orten,<br />
zu allen Jahreszeiten und in allen Augenblicken. Wem hat Cicero<br />
nicht die Lust eingeflößt, diese glückliche Erfahrung zu machen?<br />
Ein Vergnügen ist das Studium in <strong>der</strong> Jugend, <strong>der</strong>en ungestüme<br />
Leidenschaften es mäßigt; um es wirklich zu genießen, mußte ich<br />
mich zuweilen auch <strong>der</strong> Liebe hingeben. Die Liebe macht dem<br />
Weisen keine Angst; er weiß alles zu verbinden und das eine durch<br />
das an<strong>der</strong>e hervorzuheben. Die Wolken, die seinen Verstand<br />
verdunkeln, machen ihn nicht träge; sie zeigen ihm nur, wie man sie<br />
zerstreuen muß. Wahrhaftig, die Sonne vertreibt die Wolken in <strong>der</strong><br />
Atmosphäre nicht schneller.<br />
Gibt es <strong>im</strong> Alter, das von solcher Kälte ist und in dem man an<strong>der</strong>e<br />
Freuden we<strong>der</strong> zu bereiten noch zu empfangen vermag, einen<br />
schöneren Trost als Lesen und Nachdenken? Wie erfreulich ist es,<br />
jeden Tag mit eigenen Augen kraft seiner Hände ein Werk wachsen<br />
und reifen zu sehen, das die kommenden Jahrhun<strong>der</strong>te und sogar<br />
die <strong>Zeit</strong>genossen bezaubern wird! »Ich wünschte«, sagte mir einmal<br />
ein junger Mensch, <strong>der</strong> in seiner Eitelkeit zu empfinden begann, was<br />
für eine Freude es ist, Autor zu sein, »ich wünschte, ich könnte mein<br />
Leben damit verbringen, <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> von meiner Wohnung zu<br />
meinem Drucker zu gehen.« Hatte er unrecht? Und wenn man<br />
Beifall findet: welche zärtlich liebende Mutter müßte dann nicht<br />
überglücklich darüber sein, ein so liebenswürdiges Kind zur Welt<br />
gebracht zu haben?<br />
Warum rühmt man so sehr die Freuden des Studiums? Wer weiß<br />
nicht, daß es ein Gut ist, das we<strong>der</strong> so viel Verdruß noch solche<br />
Sorgen wie an<strong>der</strong>e Güter mit sich bringt, ein unerschöpflicher Schatz<br />
und das zuverlässigste Gegengift gegen die schreckliche<br />
Langeweile? Es begleitet uns <strong>im</strong>mer und überall. Glücklich ist, wer<br />
die Kette aller seiner Vorurteile zerbrochen hat. Er allein wird<br />
diese Freude in voller Reinheit genießen. Er allein wird sich jener<br />
sanften Ruhe des Geistes und jener vollkommenen Zufriedenheit<br />
einer starken, nicht ehrgeizigen Seele erfreuen, welche die Mutter<br />
des Glücks ist, wenn nicht das Glück selbst.<br />
Halten wir einen Augenblick inne, um Blumen auf den Weg jener großen<br />
Männer zu streuen, die Minerva wie Sie mit unsterblichem Lorbeer<br />
gekrönt hat. Hier for<strong>der</strong>t Flora Sie auf, mit Linnaeus auf neuen Pfaden die<br />
eisbedeckten Gipfel <strong>der</strong> Alpen zu besteigen, um von dort, unter einem<br />
an<strong>der</strong>en Schneeberg, einen Garten zu bewun<strong>der</strong>n, den die Natur selbst<br />
angelegt hat - einen Garten, <strong>der</strong> einst das ganze Erbe des berühmten<br />
schwedischen Professors war. Dann steigen Sie zu den Wiesen dort unten<br />
hinab, <strong>der</strong>en Blumen ihn erwarten, um sich in einer Ordnung<br />
aneinan<strong>der</strong>zureihen, die sie bisher verschmäht zu haben scheinen.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 582<br />
Dort sehe ich Maupertuis, die »Ehre« <strong>der</strong> französischen Nation; doch sie zu<br />
genießen hat eine an<strong>der</strong>e Nation verdient. Er verläßt gerade die Tafel eines<br />
Fürsten, <strong>der</strong> für Europa - so behaupte ich - ein Gegenstand <strong>der</strong><br />
Bewun<strong>der</strong>ung o<strong>der</strong> des Erstaunens ist. Wohin geht er? In den Rat <strong>der</strong><br />
Natur, wo ihn Newton erwartet.<br />
Was soll ich über den Chemiker, den Geometer, den Physiker, den<br />
Mechaniker, den Anatomen sagen? Der letztere empfindet bei <strong>der</strong><br />
Untersuchung eines toten Menschen fast ebensoviel Vergnügen, wie man<br />
empfunden hat, als man ihm das Leben schenkte.<br />
Alles aber steht <strong>der</strong> großen Heilkunst nach. Der Arzt ist <strong>der</strong> einzige<br />
Philosoph, <strong>der</strong> sich um sein Vaterland verdient macht; er gleicht in den<br />
Stürmen des Lebens den Brü<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Helena. Welche Magie, welche<br />
Zauberkraft! Schon sein Anblick beruhigt das Blut, gibt einer erregten<br />
Seele wie<strong>der</strong> Frieden und läßt <strong>im</strong> Herzen <strong>der</strong> unglücklichen Sterblichen<br />
die süße Hoffnung wie<strong>der</strong>aufleben. Er verkündet Leben und Tod, wie<br />
ein Astronom die Sonnenfinsternis voraussagt. Je<strong>der</strong> hat seine<br />
Fackel, die ihm leuchtet. Wenn aber <strong>der</strong> Geist zu seiner Freude die<br />
Regeln gefunden hat, von denen er sich leiten läßt, welchen<br />
Triumph muß dann Ihnen täglich die glückliche Erfahrung bereiten!<br />
Was für ein Triumph ist es doch, wenn <strong>der</strong> Erfolg die Kühnheit<br />
rechtfertigt!<br />
Der erste Nutzen <strong>der</strong> Wissenschaften besteht also darin, sie zu<br />
pflegen; darin liegt schon ein echtes und unvergängliches Gut.<br />
Glücklich ist, wer Geschmack am Studium findet. Noch glücklicher<br />
ist, wer durch das Studium seinen Geist von Illusionen und sein Herz<br />
von Eitelkeit zu befreien vermag - ein erstrebenswertes Ziel, zu dem<br />
Sie schon seit früher Jugend von <strong>der</strong> Hand <strong>der</strong> Weisheit geführt<br />
worden sind. Dagegen scheinen so viele Pedanten, die nach fünfzig<br />
Jahren schlafloser Nächte und mühsamer Arbeit mehr von <strong>der</strong> Last<br />
<strong>der</strong> Vorurteile als von <strong>der</strong> Bürde des Alters gebeugt erscheinen, zwar<br />
alles gelernt zu haben, nur nicht das Denken. Das Denken ist<br />
wahrhaftig eine seltene Wissenschaft, beson<strong>der</strong>s bei den Gelehrten,<br />
und es sollte doch zumindest die Frucht aller an<strong>der</strong>en<br />
Wissenschaften sein. Nur dieser Kunst habe ich mich von früher<br />
Jugend an gewidmet. Urteilen Sie selbst, ob mit Erfolg. Wenn ja, so<br />
möge diese Huldigung meiner Freundschaft ewig von <strong>der</strong> Ihrigen<br />
geschätzt werden.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
------------------------------------------------------------------------------------------------<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 583<br />
17.3 Anlage 3<br />
THURE v. ÜXKÜLL<br />
Das physikalische Naturbild<br />
Es ist eine stillschweigend angenommene Meinung, daß die Medizin erst<br />
in dem Augenblick aus dem Stadium uferloser Spekulationen o<strong>der</strong><br />
grober Empirie heraustrat und anfing, eine Wissenschaft zu werden, als<br />
sie begann, sich den Erfahrungsbegriff <strong>der</strong> exakten Naturwissenschaft<br />
zu eigen zu machen. Der Ausspruch Naunyns: „Die Heilkunde wird<br />
(exakte) Naturwissenschaft sein o<strong>der</strong> sie wird gar nicht sein", umreißt<br />
dieses Programm <strong>der</strong> Medizin. Unter dem Eindruck <strong>der</strong> Erfolge <strong>der</strong><br />
physikalischen Methode vergaß man den Anteil, den Männer wie<br />
Albrecht von Haller und Johannes Müller an <strong>der</strong> Begründung <strong>der</strong><br />
mo<strong>der</strong>nen Medizin hatten, Männer, die gerade nicht von dem<br />
Erfahrungsbegriff <strong>der</strong> Physik ausgingen. Die Physik war auf ihre Weise in<br />
das Innere <strong>der</strong> unbelebten Natur eingedrungen und hatte dort<br />
staunenswerte Entdeckungen gemacht. Warum sollte nicht die Medizin<br />
auf die gleiche Weise versuchen, in das Innere <strong>der</strong> belebten Natur<br />
einzudringen?<br />
Die Frage nach dem Unterschied zwischen belebt und unbelebt galt bis<br />
dahin als philosophische Frage. Aber vielleicht war sie ja auf empirischem<br />
Wege lösbar — und wenn sie es war, wo sollte sich diese Lösung finden<br />
lassen, wenn nicht in dem Inneren <strong>der</strong> Natur selbst?<br />
Je konsequenter man dieses Programm durchführte, um so mehr<br />
verschob sich die Grenze zwischen belebter und unbelebter Natur<br />
zugunsten <strong>der</strong> anorganischen Welt. Noch zu Beginn des vorigen<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts hatte man geglaubt, daß die Stoffe, aus denen die<br />
belebten Organismen bestehen, einen grundsätzlich an<strong>der</strong>en Aufbau<br />
hätten als die Stoffe <strong>der</strong> unbelebten Natur. Durch die Entdeckung <strong>der</strong><br />
Harnstoffsynthese durch Wöhler wurde diese Meinung zuerst<br />
erschüttert, und seitdem ist es den Chemikern gelungen, eine <strong>im</strong>mer<br />
größere Anzahl solcher organischen Stoffe ebenso zusammenzusetzen,<br />
wie das bei den anorganischen schon lange möglich war. Damit fiel<br />
schließlich die Grenze zwischen organischer und anorganischer<br />
Chemie, und heute glaubt man, daß es grundsätzlich möglich ist, alle in<br />
<strong>der</strong> belebten Natur vorkommenden Stoffe in <strong>der</strong> Retorte aus<br />
anorganischen Grundstoffen herzustellen. Wo das in <strong>der</strong> Praxis noch nicht<br />
möglich ist, liegt es nicht etwa daran, daß die chemischen Vorgänge <strong>im</strong><br />
Körper an<strong>der</strong>s ablaufen als in <strong>der</strong> Welt des Unbelebten, son<strong>der</strong>n nur<br />
an <strong>der</strong> manchmal außerordentlich komplizierten Struktur <strong>der</strong> Stoffe. Die<br />
synthetische Darstellung verschiedener Hormone scheint ein<br />
schlagen<strong>der</strong> Beweis für die Richtigkeit dieser Vorstellung.<br />
Der Unterschied zwischen belebt und unbelebt, <strong>der</strong> früher ein<br />
wesensmäßiger zu sein schien, enthüllte sich <strong>im</strong>mer mehr als bloßer<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 584<br />
Unterschied zwischen groß und klein, zwischen kompliziert und<br />
unkompliziert.<br />
Als dann in neuester <strong>Zeit</strong> die Grenze zwischen Physik und Chemie fiel<br />
und man den Aufbau <strong>der</strong> chemischen Stoffe aus den physikalischen<br />
Grundelementen erkannte, schien auch die Grenze zwischen Physik<br />
und Biologie überflüssig zu werden, und das Problem des Organischen<br />
wurde <strong>im</strong>mer mehr zu einer Frage <strong>der</strong> physikalisch-chemischen<br />
Zusammenhänge.<br />
Auf diese Weise scheint es möglich, die unübersehbare Mannigfaltigkeit<br />
<strong>der</strong> belebten und unbelebten Erscheinungen auf nur zwei Bausteine<br />
zurückzuführen, aus denen das Universum besteht. Die Chemie hatte<br />
uns gelehrt, daß es 92 Grundelemente gibt, die aus kleinsten<br />
Stoffteilchen, den Atomen bestehen. Die mo<strong>der</strong>ne Physik zeigt uns, daß<br />
auch die Atome sich aus noch kleineren und noch einfacheren<br />
Bestandteilen zusammensetzen, den Elektronen und Protonen.<br />
Ähnlich wie bei einem Planetensystem die Planeten um die Sonne<br />
kreisen, so kreisen innerhalb des Atoms die negativ geladenen Elektronen<br />
um den zweitausendmal schwereren positiv geladenen Kern des<br />
Protons. Je nach <strong>der</strong> Anzahl von Elektronen, die in verschiedenen<br />
Schichten den Kern umhüllen, entsteht ein an<strong>der</strong>es Atom, ein an<strong>der</strong>er<br />
chemischer Grundstoff.<br />
Die Kräfte, welche zwischen Kern und Elektronenhülle herrschen, sind bei<br />
den meisten Atomen nicht ganz <strong>im</strong> Gleichgewicht. So kommt es zur<br />
Anziehung und Abstoßung zwischen diesen Atomen und dazu, daß die<br />
Atome sich zu größeren räumlichen Gebilden, den Molekülen,<br />
zusammenfinden. Diese Moleküle, die nächste Stufe <strong>der</strong> Größenordnung<br />
nach den Atomen, stellen das Gebiet <strong>der</strong> chemischen Verbindungen<br />
dar.<br />
An die einfachen Moleküle, die aus wenigen Atomen bestehen, reihen<br />
sich die größeren und komplizierteren Gebilde, bis wir schließlich in den<br />
Eiweißkörpern, aus denen die Organismen sich aufbauen, Gebilden<br />
begegnen, die sich oft aus vielen Tausenden einzelner Atome<br />
zusammensetzen.<br />
All diese Moleküle stellen räumliche Gebilde von best<strong>im</strong>mter Gestalt dar.<br />
Im einzelnen haben sich die Atome zu kubischen, polyedrischen runden<br />
o<strong>der</strong> langgestreckten Körpern zusammengeschlossen, aus denen sie<br />
Seitenketten wie Arme herausstrecken. Auch innerhalb <strong>der</strong><br />
Moleküleverbände sind die Anziehungs- und Abstoßungskräfte einzelner<br />
Atome nicht ganz gebunden, so daß auch zwischen den Molekülen die<br />
gleichen Anziehungs- und Abstoßungserscheinungen auftreten wie<br />
zwischen den Atomen. Ja, es kann vorkommen, daß ein Molekül aus<br />
einem an<strong>der</strong>en größere o<strong>der</strong> kleinere Teile herausreißt, wobei dann<br />
beide in eine an<strong>der</strong>e chemische Verbindung übergehen.<br />
Die gehe<strong>im</strong>nisvollen Kräfte, die aus dem Inneren <strong>der</strong> Atome stammen,<br />
sind also die eigentlichen Beweger des Universums. Je nachdem wie<br />
fest o<strong>der</strong> wie elastisch die Bindung dieser Kräfte zwischen den<br />
einzelnen Molekülen ist, haben wir es mit festen o<strong>der</strong> flüssigen, chemisch<br />
aktiven o<strong>der</strong> inaktiven Verbindungen zu tun.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 585<br />
Gehen wir noch einen Schritt weiter, so kommen wir in das Gebiet <strong>der</strong><br />
zusammengesetzten Stoffe, wo z. B. in den Lösungen Moleküle<br />
verschiedener chemischer Verbindungen zueinan<strong>der</strong> in Beziehung<br />
treten. In einer Zuckerlösung schw<strong>im</strong>men die großen Zuckermoleküle<br />
in dem Medium <strong>der</strong> sehr viel kleineren Wassermoleküle umher, wobei<br />
zwischen den Molekülen des Zuckers und denen des Wassers<br />
best<strong>im</strong>mte Kräfte <strong>der</strong> Anziehung und Abstoßung herrschen. Dadurch<br />
stellt die Zuckerlösung ein best<strong>im</strong>mtes Kräftesystem dar, das sich<br />
von einem bloßen Gemenge unterscheidet, in dem die Stoffteilchen<br />
wie eine Anzahl Erbsen in einem Topf Mehl verteilt sind.<br />
In den Lösungen <strong>der</strong> großen Moleküle, wie sie uns in <strong>der</strong> Kolloid-<br />
Chemie begegnen, treten diese Kräfte beson<strong>der</strong>s sinnfällig in<br />
Erscheinung: wenn eine Eiweißlösung, die man als Sol bezeichnet,<br />
plötzlich zu einer festen Gallerte erstarrt, ein Gel wird, so haben wir die<br />
Wirkung dieser Kräfte vor uns.<br />
Nun brauchen wir nur noch einen Schritt weiter zu gehen, um das Bild<br />
des mikrokosmischen Aufbaus aller Gebilde <strong>der</strong> belebten und unbelebten<br />
Welt in großen Zügen zu überblicken. Haben wir in den Lösungen<br />
Systeme von best<strong>im</strong>mtem chemisch-physikalischen Charakter erkannt, die<br />
ihren Aggregatzustand und die chemische Zusammensetzung ihrer<br />
Bestandteile auf Grund <strong>der</strong> ihnen innewohnenden Kräfte verän<strong>der</strong>n<br />
können, so können wir die Zellen als Systeme verschiedener Lösungen<br />
auffassen, die durch festere, aber nicht durch völlig undurchlässige Wände<br />
voneinan<strong>der</strong> geschieden sind. Zwischen den in einzelnen Kammern<br />
eingeschlossenen Lösungen kommt es dann zum Austausch kleiner<br />
Teilchen unter Leitung <strong>der</strong>selben Kräftebeziehungen, die den Aufbau<br />
<strong>der</strong> Kammern und ihrer Wände bewirkt haben. Machen wir uns weiter<br />
klar, daß die Wände <strong>der</strong> Kammern durch die gleichen Kräfte von den<br />
Lösungen wie<strong>der</strong> eingeschmolzen und neu gebildet werden können,<br />
indem aus einem Gel ein Sol wird und umgekehrt, so haben wir ein<br />
Modell <strong>der</strong> lebenden Zelle vor uns, in dem sich <strong>der</strong> Stoffaustausch und<br />
Stoffanbau innerhalb <strong>der</strong> Zellen und zwischen den Zellen nach rein<br />
chemisch-physikalischen Gesichtspunkten begreifen laßt. Aber dieses<br />
Modell leistet noch mehr: wir können Eigenschaften <strong>der</strong> Lebewesen auf<br />
best<strong>im</strong>mte chemische Vorgänge in <strong>der</strong> Zelle zurückführen. Im Zellkern<br />
finden sich kleine fadenförmige Körper, die Chromosomen, <strong>der</strong>en<br />
Verhalten bei <strong>der</strong> Zellteilung schon lange die Aufmerksamkeit <strong>der</strong><br />
Wissenschaft erregt hat. Auf Grund neuester Forschungen, wie <strong>der</strong><br />
von Kuhn in Heidelberg über die geschlechtsbest<strong>im</strong>menden Stoffe,<br />
können wir in den Chromosomen des Zellkerns genau definierte<br />
Molekülgruppen erkennen, <strong>der</strong>en chemische Kräfte die Entstehung <strong>der</strong><br />
geschlechtlichen Eigenschaften <strong>der</strong> Lebewesen bewirken.<br />
Aber nicht nur die Vorgänge <strong>der</strong> Ontogenese werden als Auswirkung<br />
dieser chemischen Vorgänge <strong>im</strong> Zellinnern verständlich, die mo<strong>der</strong>ne<br />
Vererbungsforschung zeigt, daß auch die Mutationssprünge, auf die<br />
man die Entstehung neuer Arten zurückführt, sich mit chemischen<br />
Prozessen <strong>im</strong> Chromosomengerüst des Zellkerns in Verbindung,<br />
bringen lassen. Inhaltsverzeichnis<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 586<br />
17.4 Anlage 4<br />
Verzeichnis chemischer, mineralogischer, geologischer und biologischer<br />
Ausdrücke aus <strong>der</strong> Protogaea.<br />
Prof.. Dr. W. v.ENGELHARDT schreibt als Übersetzer hierzu:<br />
„Das folgende Verzeichnis enthält in <strong>der</strong> Protogaea vorkommende<br />
Ausdrücke aus <strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong> Naturforschung. Auf <strong>der</strong> rechten Seite<br />
steht an erster Stelle die <strong>im</strong> Text verwendete deutsche Übertragung<br />
(sofern nicht das lateinische Wort beibehalten wurde); durch einen<br />
Doppelpunkt davon getrennt folgt, wenn nötig, eine kurze Erläuterung.<br />
An manchen Stellen wird <strong>der</strong> Text erst unter Hinzuziehung dieser<br />
Erklärung verständlich sein. Darüber hinaus bedeutet das Verzeichnis<br />
einen Querschnitt durch das chemische, mineralogische und<br />
geologische Wissen Leibnizens und seine Kenntnis <strong>der</strong> deutschen<br />
Mineral- und Erzlagerstätten.“<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />
S e i t e | 587
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />
S e i t e | 588
S e i t e | 589<br />
17.5 Anlage 5<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
Die in HAECKELs „Natürlicher Schöpfungsgeschichte“ dargestellten Stammbäume <strong>der</strong><br />
organischen Welt (7. Auflage von 1879).<br />
1. Einstämmiger Stammbaum <strong>der</strong> Urpflanzen (Protophyta) und Urtieren (Protozoa) und<br />
neutralen Urwesen (Protista) von „Archigonen Moneren― ausgehend―, die sich verzweigen<br />
in Tange, Pilze und Flechten einerseits und Urdarmtiere, Sterntiere Weichtiere bis zu den<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 590<br />
Wirbeltieren. (S.400).<br />
2. Vielstämmiger einen Stammbaum, wo diese 3 „Reiche― Pflanzen- Prostiten- und Tierreich<br />
sich weiter verzweigen über Schachtlinge, Geißlinge, Infusorien, W<strong>im</strong>perlinge, Strarrlinge<br />
und Kammerlinge. (S.401).<br />
3. Einheitlicher o<strong>der</strong> monophyletischer Stammbaum des Pflanzenreichs palaeontologisch<br />
begründet. Falttafel in Form eines Stammbaumes als Rasterdiagramm ausgehend vom<br />
Archolithischen <strong>Zeit</strong>alter (Laurentische Periode) bis zur Quartaer <strong>Zeit</strong> <strong>der</strong> Gegenwart.<br />
(S.432).<br />
4. Stammbaum ausgehend <strong>der</strong> Gastraea (Stammform aller mehrzelligen Tiere), verzweigt<br />
zu den Pflanzentieren (Zoophyta) und Wurmtieren (Helminthes), diese sich weiter<br />
verzweigend zu Sterntieren, Weichtieren, Glie<strong>der</strong>tieren und schließlich Wirbeltieren.<br />
(S.452).<br />
5. eine Stammbaum über das „Historische Wachstum <strong>der</strong> sechs Tierstämme (Pflanzentiere,<br />
Sterntiere, Würmer, Weichtiere Glie<strong>der</strong>tiere und Wirbeltiere. (S.456).<br />
6. 7 Stammbäume : Nesseltiere, Wurmtiere, Weichtiere (Mollusken), Sterntiere,<br />
Glie<strong>der</strong>tiere, Krustentiere, Luftröhrentiere (Tracheaten) mit den Spinnen, Tausendfüßlern<br />
und Insekten (Schmetterlinge an <strong>der</strong> Spitze), <strong>im</strong>mer ausgehend von den mehrzelligen<br />
Tieren (Gastraea). (S. 467, 469, 481, 491, 499, 505, 511).<br />
7. Stammbaum <strong>der</strong> Wirbeltiere, ausgehend von den Gastraea zu den Würmern, abzweigend zu<br />
den Manteltieren, verzweigend zu Schädellosen und Schädeltieren und sich weiter<br />
verzweigend zu den Knochenfischen, Zweilunger, Vögeln und Säugetieren. (S.529).<br />
8. Stammbaum <strong>der</strong> „Amnionlosen Schädeltiere― (Urfische, Schmelzfische, Knochenfische<br />
Amphibien). (S. 533).<br />
9. Einheitlicher o<strong>der</strong> monophyletischer Stammbaum des Wirbeltierstammes<br />
palaeontologisch begründet. Falttafel in Form eines Stammbaumes als Rasterdiagramm<br />
ausgehend vom Archolithischen <strong>Zeit</strong>alter (Laurentische Periode) bis zur Tertiaer <strong>Zeit</strong>.<br />
Hier bereits mit relativer <strong>Zeit</strong>längenangabe <strong>der</strong> 5 <strong>Zeit</strong>alter in Prozenten!<br />
Quartär- 0,5; Tertiär- 2,3; Sekundär- 11,5; Pr<strong>im</strong>är- 32,1; Pr<strong>im</strong>ordial-<strong>Zeit</strong> 53,6:<br />
Summa 100,0 %. (S. 544).<br />
10. Stammbaum <strong>der</strong> Reptilien und Vögel. (S.549).<br />
11. Stammbaum <strong>der</strong> Säugetiere von den Kloakentieren (Monotrema) ausgehend verzweigend<br />
zu den pflanzenfressenden und fleischfressenden Beuteltiere zu den Plazentaltieren,<br />
abzweigend zu den Huftieren und weiterverzweigend zu den Zahnarmen, Fleischfressern,<br />
verzweigend zu den Walfischen, Nagetieren, Scheinhufern, Fle<strong>der</strong>tieren (Fle<strong>der</strong>hunde,<br />
Fle<strong>der</strong>mäuse), Walfische, Scheinhufer (Elephanten), Affen (S<strong>im</strong>iae), Menschen<br />
(Homines). (S.567).<br />
12. Stammbaum <strong>der</strong> Huftiere ausgehend von den Stammhuftieren (Schweine) verzweigend in<br />
Stammpaarhufer (Schweine) und Wie<strong>der</strong>käuer und verzweigend in Nashörner und Pferde.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 591<br />
(S.579).<br />
13. Stammbaum <strong>der</strong> „12 Menschen-Arten― von den Menschenaffen über die Urmenschen<br />
verzweigend zu den „Schlichthaarigen“ (Lissotriches) und „Wollhaarigen“<br />
(Ulotriches). Letzter verzweigen sich zu den 1) Papuas, 2) Hottentotten, 3) Kaffern<br />
und 4) Negern. Die „Schlichthaarigen― verzweigen sich zu den 6) Malayen,<br />
7) Mongolen, 8) Arktikern, 9) Amerikanern, 10) Dekanesen, 11) Nubier und<br />
12) Mittellän<strong>der</strong>, diese wie<strong>der</strong> in die a) Basken, b) Kaukasier, c) Hamosemiten<br />
und d) Indogermanen an <strong>der</strong> Spitze. (S. 629).<br />
14. Stammbaum <strong>der</strong> semitischen Rasse ausgehend von den Hamosemiten verzweigend in<br />
Semiten und Hamiten. Letztere über die Altägypter verzweigend in Aethiopier,<br />
Neuägypter, Lybier, Tuarik, Berber, Marokkaner, Tunesen Algerier und die<br />
Semiten verzweigend über die Araber (Südsemiten) und Urjuden. Erstere verzweigend<br />
in die Südaraber, Abessinier und Mauren an <strong>der</strong> Spitze. Letztere in die Mesopotamier,<br />
Samariter, Phönicier und Juden an <strong>der</strong> Spitze. (S. 648).<br />
15. Stammbaum <strong>der</strong> indogermanischen Rasse ausgehend von den Indogermanen,<br />
verzweigend in die Slavogermanen und Arioromanen. Erstere sich verzweigend in die<br />
Slaven (mit den Westslaven: Cechen, Polen und Sorben) und Baltiker (mit den Letten<br />
Litauer und Altpreußen) und Urgermanen. Die Arioromanen verzweigend in die Arier<br />
(mit den In<strong>der</strong>n und Iranern) und Gräcoromanen (mit den Albanesen, Griechen<br />
und Italokelten. Diese verzweigend in Romanen, Lateiner und Kelten (Galen und<br />
Britanier.. Die Urgermanen verzweigend in die Skandinavier, Goten und Deutsche.<br />
Letzterte verzweigend in Hochdeutsche an <strong>der</strong> Spitze und Nie<strong>der</strong>deutsche (mit Friesen<br />
und Sachsen). Sachsen verzweigend in Nie<strong>der</strong>län<strong>der</strong>, Plattdeutsche und<br />
Angelsachsen, zusammen mit den Hochdeutschen an <strong>der</strong> Spitze. (S. 649).<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
17.6 Anlage 6<br />
Leibniz’ Marmorblock-Gleichnis<br />
Über die eingeborenen Ideen, „samt allem, was von ihnen abhängt.<br />
Nach LEIBNIZ ist die Seele bei <strong>der</strong> Geburt eines Menschen keine tabula<br />
rasa (leere Tafel) wie <strong>der</strong> englische Philosoph John LOCKE, 1632-<br />
1704, als Empiriker behauptet.<br />
LOCKE: Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu (Nichts ist <strong>im</strong><br />
Verstand, was nicht zuvor in den Sinnen gewesen ist).<br />
Leibniz wi<strong>der</strong>spricht hier, indem er diesen Satz wie<strong>der</strong>holt und ihn<br />
ergänzt: „ …; excipe: nisi intellectus ipse (außer: dem Verstand selbst).<br />
Leibniz stellt <strong>der</strong> Behauptung von LOCKE mit <strong>der</strong> leeren Tafel den<br />
Vergleich mit einem Stück Marmor gegenüber, das mit A<strong>der</strong>n<br />
durchzogen ist: „Denn wenn die Seele jenen leeren Täfelchen gliche,<br />
dann wären die Wahrheiten so in uns, wie die Gestalt des Herkules <strong>im</strong><br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 592<br />
Marmor ist, wenn dieser Marmor gänzlich gleichgültig dagegen ist, ob er<br />
diese o<strong>der</strong> irgendeine an<strong>der</strong>e Gestalt bekommt. Wenn <strong>der</strong> Stein aber<br />
von A<strong>der</strong>n durchzogen wäre, die eher auf die Gestalt des Herkules als<br />
auf an<strong>der</strong>e Gestalten führten, dann wäre <strong>der</strong> Stein eben dazu mehr<br />
best<strong>im</strong>mt, und Herkules wäre ihm in gewisser Weise eingeboren, wenn<br />
auch Arbeit nötig wäre, um seine A<strong>der</strong>n zu entdecken und um sie durch<br />
den Schliff rein herauszustellen, wobei man alles, was sie am<br />
Hervortreten hin<strong>der</strong>t, entfernen müsste. In dieser Weise aber sind uns<br />
Ideen und Wahrheiten eingeboren, als Geneigtheiten,<br />
Bereitschaften, Fertigkeiten o<strong>der</strong> natürliche Möglichkeiten, nicht<br />
etwa als Tätigkeiten; obwohl jene Möglichkeiten stets von<br />
irgendwelchen, oft unmerklichen Tätigkeiten begleitet sind, die ihnen<br />
entsprechen.― (Neue Studien über den menschlichen Verstand, 1704).<br />
Hier sind wir aber schon mitten in <strong>der</strong> Philosophie: Genannt seien nur<br />
die Begriffe: „Entelechie― (ARISTOTELES), Monade (Giordano BRUNO)<br />
und „Dämon― (Goethe). -<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
17.7 Anlage 7<br />
Naturphilosophisches und Phosphor<br />
Als genetisch orientierter Genealoge (Familienforscher) mit Rückblick in<br />
die „Urzeit―, stößt man unwillkürlich auch auf das sog. Körper-Seele-<br />
Problem (psycho-physisches Grundproblem) und kommt in den Bereich<br />
<strong>der</strong> Naturphilosophie.-<br />
Das Rätsel <strong>der</strong> Lebensentstehung gehört hierzu, das uns wohl ewig<br />
verschlossen bleiben wird, wenn hier die wissenschaftlichen Meinungen<br />
auch sehr auseinan<strong>der</strong> gehen. Meines Erachtens werden auch<br />
künstliche Selbstorganisations-Systeme die Wissenschaft wohl nie dazu<br />
befähigen, eine lebende „Homunkulus―-Zelle aus elementaren<br />
Grundbausteinen herzustellen. Freilich bringen solche Forschungen<br />
auch <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> neue Nebenerkenntnisse zum „chemischen<br />
Wun<strong>der</strong>tempel― <strong>der</strong> Zellchemie mit sich, die dem wissenschaftlichen<br />
Fortschritt dienen.-<br />
Nobelpreisträger Prof. Manfred EIGEN, Göttingen, stiftete <strong>im</strong> Jahre 2002<br />
dem Deutschen Museum in München seine erste von ihm entwickelte<br />
automatische Evolutionsmaschine. Aber auch EIGEN bekennt sich<br />
kleinlaut zu Gottfried Wilhelm LEIBNIZ’ Aussage: „Wenn es unter den<br />
möglichen Welten keine beste (opt<strong>im</strong>um) gäbe, dann hätte Gott<br />
überhaupt keine hervorgebracht― (LEIBNIZ in „Theodizee―, 1710).<br />
EIGEN: „Diese Aussage scheint zumindest auf die Welt <strong>der</strong> Gene, auf<br />
die molekulare Ebene <strong>der</strong> Organisation des Lebens, zuzutreffen― (in:<br />
„Stufen zum Leben―, 1993).<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 593<br />
Als Chemiker faszinieren mich beson<strong>der</strong>s die komplizierten chemophysikalischenVorgänge<br />
in je<strong>der</strong> menschlichen Zelle, die gegenüber den<br />
meisten tierischen Zellen keinen Son<strong>der</strong>status haben. Die parallelgleichzeitig<br />
ablaufenden chemischen Stoffwechsel- und Membran-<br />
Reaktionen sind Zyklusvorgänge, gesetzmäßig und ganz spezifisch<br />
katalysiert in sog. „Fließgleichgewichten― (Stichworte: z.B. Citratzyklus,<br />
Pentosezyklus; stöchiometrisch dem jeweiligen Massenwirkungsgesetz<br />
folgend). „Alles fließt― - HERAKLIT läßt grüßen.<br />
Ein solches Netzwerk von bio-chemisch Prozessen – zellenspezifischindividuell<br />
– grenzt an ein ein „wahres Wun<strong>der</strong>―! Kein Chemiker kommt<br />
je auf den Gedanken, wenn er einen organischen Stoff rein isolieren<br />
o<strong>der</strong> synthetisieren will, diesen Stoff gleichzeitig mit hun<strong>der</strong>t an<strong>der</strong>en<br />
Stoffen in seinen chemischen Reaktionsgefäßen herzustellen, wie es in<br />
je<strong>der</strong> lebenden Zelle ständig <strong>der</strong> Fall ist! Aus eigener Laborerfahrung <strong>im</strong><br />
organisch-chemischen Praktikum meiner Studienzeit weiß ich, wie<br />
schwierig es ist, einen einzigen Stoff rein herzustellen, d.h. alle<br />
störenden chemischen Reaktionen hier auszuschalten. Auch heute ist<br />
die Wissenschaft <strong>der</strong> Biochemie ohnehin nur in <strong>der</strong> Lage relativ<br />
nie<strong>der</strong>molekulare Lebensgrundbausteine herzustellen. Bereits Carl<br />
Wilhelm SCHEELE, 1742-1786, gebürtig aus Stralsund, den ich in<br />
meinem „Chemie-Stammbaum― auch erwähne, hat aber schon solche<br />
Stoffe entdeckt (Milchsäure, Äpfelsäure, Citronensäure, Glyzerin), die<br />
man bald später dann auch synthetisch herstellen konnte. Dem<br />
hessischen Chemiker Friedrich WÖHLER, 1800-1882, gelang 1828<br />
dann nämlich die erste Synthese eines organischen Stoffes (Harnstoff)<br />
aus anorganischen Grundbaustoffen<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 594<br />
Kurzum, dieser reiche Stoff naturphilosophischer Gedanken könnten das<br />
Thema eines weiteren Buches sein: Erblicke ich doch als Chemiker in<br />
je<strong>der</strong> lebenden Zelle, – um es leibniz-philosophisch auszudrücken: eine<br />
<strong>der</strong> Seelen-Monade untergeordnete Unter-Monade, die einen<br />
„fensterlosen― eigenständigen biochemischen Mikrokosmos für sich<br />
bildet. Die Entelechie (Lebenskraft) des Lebewesens steuert den<br />
Organismus zur lebendigen Gesamtheit hin und erhält ihn bis zum Tode<br />
aufrecht.<br />
LEIBNIZ hätte rechthabend seine helle Freude an diesen genetischen<br />
Informationsmuster-Prozessen <strong>der</strong> Zellteilung gehabt: Mitose-<br />
Reduplikation und Meiose-Rekombination auf <strong>der</strong> Basis <strong>der</strong> „Basen-<br />
Schrift“ des genetischen Codes mit seiner biomathematischen<br />
Kombinatorik („Bio-Schrift―). Als Ahnherr des Computers (Dualzahl-<br />
Rechnen) sähe sich LEIBNIZ nun auch noch durch seine lebenslangen<br />
kombinatorischen Studien biologisch bestätigt.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 595<br />
Auch für das neuentdeckte leuchtende Element Phosphor, das <strong>der</strong><br />
Alch<strong>im</strong>isten-Arzt Henning BRAND aus Hamburg auf <strong>der</strong> Suche nach<br />
<strong>der</strong> pr<strong>im</strong>a materia entdeckt hatte, zeigte LEIBNIZ größtes Interesse und<br />
holte BRAND sogar 1678 zur Herstellung größerer Mengen (aus dem<br />
Urin einer ganzen Kompanie Soldaten!) extra nach Hannover! Durch<br />
LEIBNIZ’ Jugendsünde als 20-jähriger Sekretär einer alchemistischen<br />
Gesellschaft in Nürnberg (Rosenkreuzer) kannte er aus eigener<br />
Erfahrung alle Tricks dieser Gilde.<br />
Ausgerechnet dieser Phosphor ist aber tatsächlich <strong>der</strong> zentrale<br />
Bestandteil <strong>der</strong> „Informations-Grundbausteine des Lebens“: <strong>der</strong> 5<br />
Nucleotide, die aus Phosphor, Stickstoff-Basen und Zucker bestehen!<br />
Die Salze <strong>der</strong> Phosphorsäure („Säurekönigin“) nehmen außerdem<br />
eine ganz zentrale Rolle als Energieerzeugungsstoffe <strong>im</strong><br />
Zellstoffwechsel ein (Adenosintriphosphat). Diese Energieerzeugung<br />
spielt sich hauptsächlich in den Mitochondrien <strong>der</strong> Zellen aber auch<br />
vielen an<strong>der</strong>en Zellen ab, die zur Hirarchie <strong>der</strong> Zellbestandteile gehören.<br />
Auch in <strong>der</strong> neuzeitigen <strong>GeneTalogie</strong> (Genetik + Genealogie + Statistik)<br />
spielen diese Mitochondrien eine interessante Rolle, da diese speziellen<br />
Mitochondrien-Gene (mt-DNA) ausschließlich von <strong>der</strong> Mutter auf ihre<br />
Kin<strong>der</strong> weitervererbt werden; Männer (Väter) besitzen diese Gene zwar<br />
auch, können sie aber nicht weitervererben, da diese Gene <strong>der</strong><br />
Samenzelle nicht in den Zellkern <strong>der</strong> Eizellen eindringen können.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 596<br />
18 BILDERLISTE<br />
Alle Bil<strong>der</strong> stammen aus <strong>der</strong> Privatbibliothek und Sammlung des<br />
Verfassers.<br />
Die Reihen-Bezeichnungen und lfd. Nummern sind nur interne<br />
Ordnungsziffern, hier aber ohne Bedeutung.<br />
Reihe A (allgemein)<br />
1 Goethe als Genealoge (Cagliostros Abstammung) S. 51<br />
2 Stammtafel <strong>der</strong> Medici von Goethes Hand S. 54<br />
3 „ „ (gedruckt) S. 55<br />
4 Haeckels Stammbaum <strong>der</strong> Pr<strong>im</strong>aten (prinzipiell), eigenhändig (1866) S. 99<br />
5 Haeckels (Eichen-)Stammbaum des Menschen , „ (1874) S. 100<br />
6 Haeckels Physiognomie <strong>der</strong> Gesichter Mensch-Tier (1868) S. 104<br />
10 van Helmont, 1577-1644, 8 Familien-Wappen (1648) S. 184<br />
11a Protogaea, Versteinerungen (Fische) S. 346<br />
11b ― ― Ammoniten S. 343<br />
11c ― ― Kopf eines Haies S. 344<br />
11d ― Zahn eines Meerestieres + Einhorn S. 195 und S. 345<br />
12 Dyadik –Medaille (lateinisch) S. 363<br />
13 ― ― (deutsch) S. 363<br />
14a Leibniz: Welfenstammbaum 1 S. 380<br />
14b ― ― 2 S. 381<br />
14c ― ― 3 S. 381<br />
16 Erbwege für die Geschlechts-Chromosome (Ahnentafel) S. 448<br />
17 Palindrome (DNS-Sequenzen) S. 459<br />
18 Phänomenologische Ausbreitungsbil<strong>der</strong> (Bäume) S. 560<br />
19 Pascal-Dreieck-Fibonaccizahlen S. 446<br />
20 Dualer „Stammbaum― am Beispiel von Goethes Ahnentafel S. 447<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
------------------------------------------------------------------------------------------------<br />
Reihe C (Chemiker)<br />
4 Apparate für Destillation (Geber 1541) S. 120<br />
4.1c Paracelsus 17. Jh. S. 128<br />
4.2b Acricola (aus De re metallica, 1556) S. 132<br />
4.2c Schwefelgewinnung nach Agricola (aus De re metallica) S. 147<br />
4.2d Beschreibung einer Pferde-Maschine (aus De re metallica) S. 148<br />
5 Ku Kunckel 1630-1702, S. 304<br />
5.1a Titelblatt Pirotechnia von Biringuccio, Venedig 1540 S. 159<br />
5.1b Destillation <strong>im</strong> Wasserbad (aus: Pirotechnia von Biringuccio) S. 160<br />
5.1c ― mit Kühlschlange (aus Pirotechnia von Biringuccio) S. 160<br />
5.1d Amalgiermühle (aus Pirotechnia von Biringuccio) S. 159<br />
5.2 Libavius, 1540-1616, S. 162<br />
5.5a Faust S. 167<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 597<br />
5.5b Alchemist. Labor S. 172<br />
5.5c Wagner, Mephisto u. Homunkulus S. 170<br />
5.8 Joach<strong>im</strong> Jungius, 1587-1657, S. 187<br />
5.9a Otto von Guericke, 1649, S. 191<br />
5.9b ― ― bei verschiedenen Versuchen S. 193<br />
5.9c Magdeburger Halbkugeln, Reichstag zu Regensburg 1654, S. 194<br />
5.10 Glauber, 1604-1670, S. 200<br />
5.12 Robert Boyle (quadratisch) S. 205<br />
5.13 Becher, 1635-1682, S. 208<br />
8b Georg Stahl, Halle 1715, S. 244<br />
8.3 Marggraf, S. 252<br />
8.5 Cavendish, S. 254<br />
8.6 Pristley, S. 258<br />
8.7a Carl Wilhelm Scheele , 1742-1786, S. 268<br />
8.7d Chemische Apparate nach C.W. Scheele , S. 270<br />
8.10c Herr u. Frau Lavoisier, S. 275<br />
8.12 Jeremias Benjamin <strong>Richter</strong>, 1762-1807, S. 280<br />
8.13 Lampadius S. 301<br />
8.17 Johann Wolfgang Döbereiner, S. 293<br />
8.19a Justus von Liebig mit Gemahlin und Kin<strong>der</strong>n, S. 308<br />
8.19e Liebig (Altersbild) S. 309<br />
8.19g Liebig-Laboratorium 1842, S. 310<br />
8.19i Liebig-„Stammbaum― <strong>der</strong> Wissenschaftsfamilie, S. 310<br />
8.19j Liebigschule - Nobelpreisträger S. 311<br />
8.20 Friedrich Wöhler, S. 590<br />
8.21a Jöns Jakob Berzelius, 1779-1848, S. 305<br />
8.22 Bunsen, 1811-1899, S. 312<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 598<br />
19 ENTWURF DES NAMENSVERZEICHNISSES NACH<br />
KAPITELN<br />
28. 11. 2009<br />
1. Goethes Naturbild <strong>im</strong> Lichte <strong>der</strong> Genealogie – seine „Urworte.<br />
Orphisch.“ als roter Faden<br />
Ariost;<br />
Byron;<br />
Camóes;<br />
Darwin, Charles;<br />
Galton, Francis;<br />
Goethe;<br />
Heinse, W.;<br />
Her<strong>der</strong>;<br />
Lingg, A.;<br />
Marino;<br />
Mendel, Gregor;<br />
Napoleon;<br />
Schiller;<br />
Schlegel, W.;<br />
Tasso;<br />
Tobler;<br />
We<strong>im</strong>ar, Großherzog Carl August von;<br />
Wieland;<br />
1.1. Urworte. Orphisch.<br />
Goethe;<br />
1.2 Zur Geschichte <strong>der</strong> „Urworte. Orphisch.“<br />
Boisserée, Sulpiz;<br />
Bojanowski, Dr. Paul von;<br />
Buchwald, Prof. Reinhard;<br />
Buck, Theo;<br />
Creuzer, G. F.;<br />
Geiger, Ludwig;<br />
Gräf, Hans Gerhard;<br />
Hermann, G.;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 599<br />
John;<br />
Leibniz;<br />
Luden, Heinrich;<br />
Maria Paulowna, Großherzogin;<br />
Petsch, Dr. Robert;<br />
Schiller;<br />
Truntz, Erich;<br />
Wilpert, Gero von;<br />
Zoégas, Georg;<br />
1.3.1 Kommentar zur 1. Stanze ΔΑΙΜΩΝ, Dämon.<br />
Berzelius;<br />
Boisserée, Sulpiz;<br />
Borinski, Karl;<br />
Darwin;<br />
Descart;<br />
Döbereiner;<br />
Eckermann;<br />
Einstein, Albert;<br />
Engel, Eduard;<br />
Epikur;<br />
Flitner, Wilhelm;<br />
Galton;<br />
Goethes Mutter „Frau Aja“;<br />
Göttling;<br />
Gottsched;<br />
Grün, Klaus-Jürgen;<br />
Helmolt, Hans F.;<br />
Hoffmeister, Johannes;<br />
Höl<strong>der</strong>lin, Friedrich;<br />
Horaz (65-8 v.Chr.);<br />
Jacobi, Friedrich Heinrich;<br />
Leibniz;<br />
Leue, Johannes A. E.;<br />
Lohmeyer, Dorothea;<br />
Lückert, Prof.;<br />
Markl, Prof. Hubert;<br />
Mendel, Gregor;<br />
Newton;Pelagius;<br />
Petsch, Robert;<br />
Piper, Otto;<br />
Plato;<br />
Pomponatius;<br />
Reinöhl, Dr. Friedrich;<br />
Schantz, Reinhard;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 600<br />
Schiller;<br />
Schmidt, Gerhart;<br />
Schopenhauer, Arthur;<br />
Seidel, J. H.;<br />
Shaftesbury;<br />
Singer, Prof. Wolf;<br />
Spinoza;<br />
Strohmeier;<br />
Troebst, Dr. phil. Elsbeth;<br />
Viétor, Karl;<br />
Wink, Michael;<br />
Witkop, Philipp;<br />
Zeno<br />
1.3.2 Kommentare zur 2. bis 5. Stanze<br />
Flitner, Wilhelm;<br />
Kant;<br />
Leue, A. E.;<br />
Luther;<br />
Petsch, Dr. Robert;<br />
Piper, Otto<br />
1.4 Von den genetischen Unterschieden <strong>der</strong> Menschen (Bruno<br />
Bürgel)<br />
Bürgel, Bruno H.;<br />
Faraday;<br />
Fraunhofer;<br />
Hebbel;<br />
Herschel;<br />
Rosegger;<br />
Schliemann, Heinrich;<br />
Sommer, Emilie;<br />
Trendelenburg, Adolf;<br />
Wattenberg, Diedrich<br />
1.5 Goethes Dämon und LEIBNIZ’ Monade<br />
Dietze, Walter;<br />
Eckermann;<br />
Hirsch, Eike Christian;<br />
Hoffmeister, Johannes;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 601<br />
Johansson, Ivar;<br />
Kammerer, Paul;<br />
Kanthack, Katharina;<br />
Leibniz;<br />
Lenin;<br />
Spinoza;<br />
Weismann, August<br />
1.6 Goethes Vorahnung und Gregor MENDELs Entdeckung<br />
Dawkins, Richard;<br />
Johansson, Wilhelm;<br />
Markl, Hubert Prof.<br />
Mendel, Gregor;<br />
1.7 Goethe als Genealoge<br />
Balsamo, Antonin;<br />
Balsamo, Familie;<br />
Balsamo, Guiseppe;<br />
Balsamo, Joseph;<br />
Balsamo, Peter;<br />
Bertuch;Boie;<br />
Bracconeri, Eheleute: Felicitas, Matthäus, Antonin<br />
Bracconeri, Joseph;Branconi, Maria Antonia;<br />
Brauer, Dr. Adalbert;<br />
Cagliostro, Graf Alessandro von;<br />
Cagliostro, Joseph;<br />
Capitummino, Johann Baptista;<br />
Cellini, Benvenuto;<br />
Clemens VII., Papst<br />
Düntzer;<br />
Goethe;<br />
Jacobi, J. G.;<br />
Jagemann;<br />
Kekule von Stradonitz, Stephan;<br />
Lavater, Johann;<br />
Caspar;<br />
Lorenzeno, Alexan<strong>der</strong>;<br />
Martello, Matthäus;<br />
Martello, Vincenza;<br />
Medici (in Florenz);<br />
Oncken, Wilhelm;<br />
Ottokar;<br />
Pellegrini, Marchese;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 602<br />
Recke, Elisabeth von <strong>der</strong>;<br />
Schlosser, Johann Georg;<br />
Urbino, Herzogs von;<br />
Vincenza;<br />
Viona;<br />
Voigtel, Clemens;<br />
Wilpert, Gero von<br />
1.8 Goethe-Genealogie als Bezugspunkt einer europäischen<br />
Universalgenealogie<br />
1.9. Goethes Ahnen-Gesinnung<br />
Artern, Christel von;<br />
Berglar, Dr. Peter;<br />
Boisserée, Sulpiz;<br />
Düntzer;<br />
Her<strong>der</strong>;<br />
Hettche, Walter;<br />
Huther, Dr.;<br />
Huxley;<br />
Schmidt, Friedrich;<br />
Stein, Frau von;<br />
von Eyck;<br />
Wilpert, Gero v.<br />
1.10 Wesen und Wirken <strong>der</strong> Ahnen bei Goethe<br />
Cranach, Lucas;<br />
Eckermann;<br />
Friedenthal;<br />
Geiger, Ludwig;<br />
Goethe geb. Walther, Cornelia;<br />
Goethe, Friedrich Georg;<br />
Günther, Dr. Theodor;<br />
Her<strong>der</strong>;<br />
Koch, Prof. Franz;<br />
Manzoni, Alessandro;<br />
Shakespeare;<br />
Textor, Großeltern Goethes<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 603<br />
1.11. Goethes Naturbild <strong>im</strong> Lichte <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne.<br />
1.12 Das Naturepos „Die Natur“<br />
Tobler;<br />
1.13 Goethes Erläuterung zum aphoristischen Aufsatz „Die<br />
Natur“<br />
Bertuch;<br />
Braunschweig-Wolfenbüttel, Herzog Carl von;<br />
Friedrich <strong>der</strong> Große;<br />
Göchhausen, Louise v.;<br />
Goethe;<br />
Her<strong>der</strong>;<br />
Humboldt, Brü<strong>der</strong>;<br />
Knebel, Carl Ludwig von;<br />
Müller, Kanzler Friedrich von;<br />
Paul, Jean;<br />
Preussen, Philippine Charlotte von<br />
Sachsen-We<strong>im</strong>ar, Herzogin Anna Amalia von;<br />
Schiller;<br />
Seidel, Philipp Friedrich;<br />
Tobler, Georg Christoph;<br />
Voss, J. H.;<br />
Wieland;<br />
Wilpert, Gero v.;<br />
2.1 Werner HEISENBERG und Goethe<br />
Bernardin de Saint Pierre;<br />
Heisenberg, Werner;<br />
Humboldt, Alexan<strong>der</strong> von;<br />
Newton;<br />
Rousseau;<br />
Tobler, Johann Georg;<br />
2.2 Die Brü<strong>der</strong> v. HUMBOLDT und Goethe<br />
Bab, Julius;<br />
Bredt;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 604<br />
Humboldt, Brü<strong>der</strong>;<br />
Plutarch;<br />
Riemer;<br />
Schiller;<br />
2.3 Goethes Vorausschau – kurz vor seinem Tode (1832)<br />
Agricola;<br />
Blumenbach, Johann Friedrich;<br />
Braun, Dr. Alexan<strong>der</strong>;<br />
Buffon;<br />
Camper, Peter;<br />
Cuvier, Baron Georges;<br />
d’Dalton, Eduard Joseph;<br />
Eckermann;<br />
Haeckel, Ernst;<br />
Heisenberg;<br />
Kekulé, August;<br />
Kepler, Johannes;<br />
Kielmeyer;<br />
Leibniz;<br />
Linné, Karl von;<br />
Lyell, Charles;<br />
Meckel, Johann;<br />
Merck, Johann Heinrich;<br />
Montaigne;<br />
Oken;<br />
Platon;<br />
Riemer;<br />
Rösch, Siegfried;<br />
Saint-Hilaire, Etienne Geoffroy de;<br />
Schleiermacher, von;<br />
Sömmering, Samuel Thomas [von];<br />
Soret, Frédéric Jacob;<br />
Spinoza;<br />
Spix;<br />
Stein, Charlotte von;<br />
Steinbeck, John;<br />
Tiedemann;<br />
Vogel, Chr. Georg Karl;<br />
We<strong>im</strong>ar, Großherzog Karl August von<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 605<br />
2.4 Ernst HAECKEL, 1834-1919<br />
und<br />
Charles DARWIN, 1809-1882<br />
Büchner;<br />
Darwin, Charles;<br />
Darwin, Dr. Erasmus;<br />
Einstein, Albert;<br />
Galilei;<br />
Geoffroy;<br />
Gobineau;<br />
Haeckel, Ernst;<br />
Huxley, Thomas Henry;<br />
Kant, Immanuel;<br />
Kuhn, Dr. Dorothea;<br />
Lamarck, Jean Baptiste Chevalier de;<br />
Lecoq, M.;<br />
Lubbock;<br />
Lyell;<br />
Medding, Karl;<br />
Moszkowski, Alexan<strong>der</strong>;<br />
Rolle;<br />
Schopenhauer;<br />
Viktor, J.;<br />
Vogt;<br />
Wallace;<br />
Wendt<br />
3.1 Zur Rassenfrage: Rückblick und Ausblick<br />
Benedict, Ruth;<br />
Chamberlain, Houston Stewart;<br />
Conrads, Hetta;<br />
Dahlberg, Gunnar;<br />
Darwin, Charles;<br />
Frankenberg, Gerhard von;<br />
Fryman, Daniel;<br />
Gobineau, Arthur,Graf von;<br />
Haeckel;<br />
Hohlfeld, Dr. Johannes;<br />
Höl<strong>der</strong>lin;<br />
Lauck, Johann;<br />
Nettnagel, Cunradine;<br />
Nietzsche, Friedrich;<br />
Rösch, Siegfried;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 606<br />
Schiller;<br />
Stark, E.;<br />
Wagner, Josef;<br />
Wagner, Richard;<br />
3.2 Gottfried BENN: Goethe und die Naturwissenschaften<br />
Benn, Gottfried;<br />
Heisenberg;<br />
Helmholtz;<br />
Hertwig, Oskar;<br />
Kamper;<br />
Lamarck;<br />
Soemmering;<br />
Voltaire<br />
3.3. Neodarwinismus und Sowjetbiologie<br />
Chruschtschow;<br />
Darwin, Charles;<br />
Haeckel;<br />
Kammerer, Paul;<br />
Lamarck;<br />
Lyssenko;<br />
Medwedjew, Shores A.;<br />
Mendel, Gregor;<br />
Mitschurin;<br />
Morgan, Thomas Hunt;<br />
Muller, Hermann Joseph;<br />
Noble;<br />
Stalin;<br />
Tschermak-Seysenegg, Armin von;<br />
Tschermak-Seysenegg, Erich von;<br />
Tschermak-Seysenegg, Gustav von;<br />
Vries, Hugo de;<br />
Wallace;<br />
Weismann, August;<br />
4. „Chemie-Stammbaum“ in Listenform<br />
Von PARACELSUS und AGRICOLA bis zur Chemie <strong>der</strong> Goethe-<strong>Zeit</strong><br />
Agricola, Georg;<br />
Aristoteles;<br />
Böttger;<br />
Brand, Albertus Henning;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 607<br />
Cavendish;<br />
Cronstedt;<br />
Döbereiner, Johann Wolfgang;<br />
Gadolin;<br />
Gahn;<br />
Göttling, Johann Friedrich;<br />
Hjelm;<br />
Hohenhe<strong>im</strong>, Theophrast Bombast von;<br />
Kerstein G.;<br />
Klaproth;<br />
Klettenberg, Susanne Catharina von;<br />
Lavoisier, Antoine Laurent;<br />
Leibniz, Gottfried Wilhelm;<br />
Newton;<br />
Paracelsus, Theophrastus;<br />
Priestley, Joseph;<br />
Römpp, Hermann;<br />
Sachsen, August <strong>der</strong> Starke von;<br />
Scheele, Karl Wilhelm;<br />
Szabadváry F.;<br />
Tschirnhaus, Walter von;<br />
Vauquelin;<br />
Walden, Paul;<br />
Watson/ Wood<br />
4.1 PARACELSUS, 1493-1541.<br />
Aristoteles;<br />
Becher;<br />
Franck, Seb.;<br />
Froben, Buchdrucker;<br />
Fueger, Graf Sigm.;<br />
Glauber, K. R.;<br />
Hohenhe<strong>im</strong>, Georg (Jörg) Bombast von;<br />
Hohenhe<strong>im</strong>, Theophrastus Bombastus von;<br />
Hohenhe<strong>im</strong>, Wilhelm Bombastus von;<br />
Mariotte;<br />
Ochner, Rüdi;<br />
Ochsner, Els(e);<br />
Paracelsus;<br />
Riet,Wilhelm Bombast von;<br />
Stahl, Georg Ernst;<br />
Walden, Paul;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 608<br />
4.2 Georg AGRICOLA, 1494-1555.<br />
Agricola, Georg;<br />
Albinus, Petrus;<br />
Aristoteles;<br />
Arnold, Anna;<br />
Arnold, Matthias;<br />
August, Kurfürst;<br />
Aurel, Marc;<br />
Blaschke, Karlheinz;<br />
Cato, Marcus Porcius;<br />
Columella, Junius Mo<strong>der</strong>atus;<br />
Elterlein, Heinrich von;<br />
Fabricius, Georg;<br />
Fischer, Dr. Walther;<br />
Galen;<br />
Georg „<strong>der</strong> Bärtige“, Herzog;<br />
Heinrich „<strong>der</strong> Fromme“, Herzog;<br />
Hippokrates;<br />
Kentmann;<br />
Klemm, Prof. Dr. Friedrich;<br />
Leibniz;<br />
Luther, Martin;<br />
Magnus, Albertus Mathesius;<br />
Mathesius, Johannes;Max<strong>im</strong>ilian I., Kaiser;<br />
Meiner geb. Arnold, Anna;<br />
Meiner, Matthäus;<br />
Meiner, Matthias;<br />
Moritz, Kurfürst;<br />
Mosellanus, Petrus;<br />
Opizo Hippokrates, Professors Johann Battista;<br />
Pawer Georg;<br />
Pflug, Bischof Julius;<br />
Porcius, Marcus;<br />
Preussen, Kaiser Wilhelm II. von; Rotterdam, Erasmus von;<br />
Schlick, Lorenz Graf von; Schönburg;<br />
Schönburg-Glauchau, Beatrix, Alexan<strong>der</strong>, Maya-Felicitas;<br />
Schönburg-Glauchau, Gräfin Mariae Gloria von;<br />
Schönburg-Glauchau, Joach<strong>im</strong> Graf Joach<strong>im</strong> von;<br />
Schütz d.J., Ulrich;<br />
Schütz, Anna;Tertsch, Hermann;<br />
Thurn und Taxis, Fürst Johannes von;<br />
Uthmann (Uttmann), Barbara;Uthmann (Uttmann), Christoph;<br />
Uthmann, Barbara;<br />
Wermann, Lorenz;<br />
Werner, Abraham Gottlob;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 609<br />
Wilsdorf, H.<br />
4.3 ‚Habent fata sua libelli’<br />
Bech, Philipp;<br />
Dürer, Albrecht;<br />
Froben;<br />
Hoover, Frau Lou Henry;<br />
Hoover, Herbert Clark;<br />
Leupold, Jakob;<br />
Lomonossow;<br />
Manuel genannt Deutsch, Hans Rudolf;<br />
Manuel, Niklaus;<br />
Matschoss, Conrad;<br />
Miller, Oskar von;<br />
Rotterdam, Erasmus von;<br />
Sachsen, Kurfürst August von<br />
4.4 AGRICOLA als Genealoge und Hofhistoriograph.<br />
Agricola, Georgius;<br />
Agricola, Valerius;<br />
August, Kurfürst;<br />
Fabricius, Georgius;<br />
Horst, Dr.-Ing. Ulrich;<br />
Karl <strong>der</strong> Großee;<br />
Pfefferkorn, Christoph von;<br />
Straube, Wolf;<br />
Wettiner;<br />
Wi<strong>der</strong>in von Ottersbach, August;<br />
Wi<strong>der</strong>in von Ottersbach, Dr. Martin;<br />
Witukind;<br />
4.5 Auszüge über Goethes Materialien über AGRICOLA<br />
Baco;<br />
5. Rückschau: Zur Chemie-Geschichte <strong>der</strong> Urzeit:<br />
Agricola;<br />
Bacon, Roger;<br />
Bugge, Dr. Günther;<br />
Lockemann, Prof. Dr. Georg;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 610<br />
Paracelsus;<br />
Porta;<br />
Ramses II., Pharao;<br />
Ruska, Prof. Dr. Julius;<br />
Szabadváry, Ferenc;<br />
Vogel, S.;<br />
Walden, Paul;<br />
Z<strong>im</strong>mermann, W. F. A.;<br />
5.1 Vannocio BIRINGUCCIO, 1480-1538.<br />
Biringuccio;<br />
Pandolfo;<br />
Petrucci<br />
5.2 Andreas LIBAVIUS (LIBAU), 1550? – 1616.<br />
Libau, Johann;<br />
Libavius;<br />
Paracelsus;<br />
□<br />
5.3 Leonhard THURNEYSSER, 1531-1596.<br />
Berzelius, Jöns Jacob;<br />
Brandenburg, Kurfürst Johann Georg von;<br />
Bunsen, Robert;<br />
Kirchhoff, Gustav;<br />
Knebel;<br />
Paracelsus;<br />
Szabadváry, Ferenc;<br />
Thurneysser, Leonhard<br />
5.4 Pseudo „Basilius VALENTINUS“ (= Johannes THÖLDE);<br />
(geb. Ende 16. Jahrhun<strong>der</strong>ts)<br />
Paracelsus;<br />
Schwarz, Berthold;<br />
Thölde, Johannes;<br />
Valentinus, Basilius;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 611<br />
5.5 Alchemie in Goethes Faust<br />
Carus;<br />
Gaier, Ulrich;<br />
Goethe;<br />
Schliemann, Heinrich;<br />
Humboldt;<br />
Kirste, Dr. med. Hans;<br />
Lippmann, Prof. Dr. Edmund O. von;<br />
Paracelsus;<br />
Schelling;<br />
Schöne, Albrecht;<br />
Schliemann, Heinrich;<br />
Teniers d. J.;<br />
Trendelenburg, Adolf;<br />
Wagner, Johann Jakob;<br />
Wöhler, Friedrich<br />
5.6 Der junge Goethe als Alchemist,<br />
August <strong>der</strong> Starke;<br />
Barckhausen, Rebecca v.;<br />
Barckhausen, Rebecca von;<br />
Basilius Valentinus;<br />
Boerhaave;Cagliostro;<br />
Eysseneck, Anna Maria Baur von;<br />
Glauber, Johann Rudolf;<br />
Goethe, Johann Caspar;<br />
Guericke, Otto von;<br />
Hahnemann, Samuel;<br />
Helmont, Johann Baptist van;<br />
Hettche, Walter;<br />
Jaeger;<br />
Jordis, Susanne Margarethe;<br />
Klettenberg, Catharina Elisabeth v.;<br />
Klettenberg, Johann Hector von;<br />
Klettenberg, Johannes Erasmus Seyf(f)art von;<br />
Klettenberg, Karl Heinrich von;<br />
Klettenberg, Remigius Seyfart von;<br />
Klettenberg, Susanna Katharina von;<br />
Lobstein;<br />
Metz, Dr. Johann Friedrich;<br />
Oldekopp, Anna Katharina;<br />
Ostwald, Wolfgang;Paracelsus;<br />
Paracelsus, Theophrastus;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 612<br />
Sachsen, Kurfürsten August I. von;<br />
Sachsen-We<strong>im</strong>ar, Herzog Wilhelm Ernst von;<br />
Schwedt, Prof. Dr. Georg;<br />
Seiffarth, Erasmus;<br />
Senckenberg;<br />
Spielmann, Prof.;<br />
Starkey;<br />
Stauf; Textor,<br />
Walden, Paul;<br />
Welling, Georg von;<br />
Wildeck, Freiherrn von;<br />
Willemer, Marianne von;<br />
5.7 Johann Baptist van HELMONT, 1577-1644.<br />
Bauw;<br />
Epiktet;<br />
Halmale;<br />
Hannover, Kurfürstin Sophie von;<br />
Helmont, Baron Francis Mercuris van;<br />
Helmont, Johann Baptist van;<br />
Leibniz;<br />
Mérode;<br />
Paracelsus;<br />
Pythagoras;<br />
Ranst;<br />
Renialme;<br />
Seneca;<br />
Stahl, Georg Ernst;<br />
Stassart;<br />
Vilain;<br />
Walden, Paul;<br />
5.8 Joach<strong>im</strong> JUNGIUS, 1587-1657.<br />
Becher;<br />
Berzelius;<br />
Boyle, Robert;<br />
Coppernicus;<br />
Dalton;<br />
Galilei;<br />
Glauber;<br />
Goethe;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 613<br />
Guericke, Otto von;<br />
Jungius, Joach<strong>im</strong>;<br />
Kunckel;<br />
Leibniz, Gottfr. Wilh.;<br />
Linné <strong>der</strong> Scholastiker;<br />
Lockemann, Georg;<br />
Newton;<br />
Sennert;<br />
Stahl, Georg Ernst;<br />
Vagetus, Augustin;<br />
Walden, Paul;<br />
5.9 Otto von GUERICKE, 1602-1686.<br />
Alemann, Margaretha;<br />
Emden, von;<br />
Feuerhacke;<br />
Gericke, Hans;<br />
Grönehagen, von;<br />
Großer Kurfürst;<br />
Guericke, Friedrich Wilhelm von;<br />
Guericke, Leberecht von;<br />
Guericke, Otto von;<br />
Hiob;<br />
Keller, von;<br />
Kleinschmied;<br />
Leibniz;<br />
Lentke, Dorothea;<br />
Lentke, Steffan;<br />
Mailett, Benoit de;<br />
Peine, von;<br />
Plangenmeyer;<br />
Plauen;<br />
Pralle(n);<br />
Ulcken, Hedwig von;<br />
Vechelt, von;<br />
Wansleben, von;<br />
Wendt, Herbert;<br />
Wittekopp;<br />
Ziegenmeyer;<br />
Zweydorff;<br />
5.10 Johann Rudolf GLAUBER, 1604-1670<br />
Brieger, W.;<br />
Farner;Ferguson, J.;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 614<br />
Glauber, Johann Rudolf;<br />
Lister;<br />
Paracelsus;<br />
Sertürner;<br />
Walden, Paul;<br />
□<br />
5.11 Georg Ernst STAHL, 1660-1734,<br />
<strong>der</strong> Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> Phlogistontheorie und sein Kreis.<br />
Becher, Johann Joach<strong>im</strong>;<br />
Boyle, Robert;<br />
Pristley, Joseph;<br />
Stahl Georg Ernst;<br />
5.12 Robert BOYLE, 1627-1691,<br />
Bowes-Lyon, Lady Elizabeth;<br />
Boyle, Richard;<br />
Boyle, Robert;<br />
Bugge, Dr. Günther;<br />
Cavendish, Dorothy;<br />
Cork, 2nd Earl of;<br />
Cromwell Earl of;<br />
Eliszabeth II.;<br />
Guericke, Otto von;<br />
Leibniz;<br />
Lockemann, G.;<br />
Mariotte; Mariotte, Edme;<br />
Oldenburg, Heinrich;<br />
Paget, Gerald;<br />
Pas, Leo van de;<br />
Queen Mum;<br />
Shakespeare, William;<br />
Stahl, George Ernst;<br />
Wales, Prince Charles of;<br />
5.13 Johann Joach<strong>im</strong> BECHER, 1635-1682.<br />
Becher, Johann Joach<strong>im</strong>;<br />
Guericke, Otto von;<br />
Paracelsus;<br />
Stahl, George Ernst;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 615<br />
5.14 Über Georg Ernst STAHLs Ahnen<br />
Stahl, Georg Ernst;<br />
6. Genealogische Zwischenbetrachtung zur Wissenschaftsgeschichte<br />
<strong>der</strong> Chemie<br />
Berglar, Peter;<br />
Boisserée;<br />
Goethe;<br />
Huschke, Wolfgang;<br />
Stahl, Georg Ernst<br />
6.1 STAHLs Großmutter war eine Ahnfrau Goethes!<br />
Alber, Mattheus;<br />
Andreä, Jakob;<br />
Andreä, Joh. Valentin;<br />
Ansbach, Markgraf Joach<strong>im</strong> Ernst von;<br />
Arends, Dr. med. Johann August;<br />
Auerbach, Heinr. <strong>Strome</strong>r v.;<br />
Bardili, Chistoph. Gottfried;<br />
Becker, Hartmann;<br />
Böhmer, Adolph;<br />
Böhmer, Friedrich von;<br />
Böhmer, Professorenfamilie;<br />
Bonhoeffer, Dieter;<br />
Brenz, Johannes;<br />
Buff, Charlotte;<br />
Christoph, Johann;<br />
Cöler, Anna Rosina;<br />
Cöler, Barbara;<br />
Cöler, Christoph Martin;<br />
Cöler, Johann Achatius;<br />
Cöler, Johann Philipp;<br />
Cöler, Martin Clemens;<br />
Conrad, Christian Friedrich Johann;<br />
Conring, Hermann;<br />
Cordus, Valerius;<br />
Cramer, Max;<br />
Daniel, Johann;<br />
Darré, W.;<br />
Delbrück, Hans;<br />
Delius, Rudolf v.;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 616<br />
Dietze, Georg Wilhelm;Eberhard;<br />
Erhard, Georg; Erk, Ludwig;<br />
Euler, Friedrich Wilhelm;<br />
Eyth, Max;<br />
Fallada, Hans;<br />
Feuerbach, Anselm;<br />
Finck, Ludwig;<br />
Fischer-Diskau, Dietrich;<br />
Flattich, Johann Friedrich;<br />
Frie<strong>der</strong>ichs, Dr. H .F.;<br />
Gerok, Karl v.;<br />
Gmelin, Leopold u. Otto;<br />
Goethe, Joh. Wolfg. v.;<br />
Gräter, Caspar;<br />
Gr<strong>im</strong>m, Jakob u. Wilhelm;<br />
Günther, Dr. Theodor;<br />
Hager;<br />
Hamberger <strong>der</strong> Jüngere, Georg Ludwig;<br />
Hamberger Georg Ludwig;<br />
Hamberger, Anna Catharina, Anna Dorothea, Clara Elisabeth,<br />
Susanna Hedwig; Hamberger, Clara Elisabeth;<br />
Hamberger, Dorothea Elisabeth Sophia;<br />
Hamberger, Friedrich Joseph;<br />
Hamberger, Georg Albrecht;<br />
Hamberger, Georg Erhard;<br />
Hamberger, Georg Friedrich;<br />
Hamberger, Georg Ludwig;<br />
Hamberger, Hans Georg;<br />
Hamberger, Jacob Wilhelm;<br />
Hamberger, Lorenz Andreas;<br />
Hamberger, Maria Catharina;<br />
Hamberger, Maria Sibylla;<br />
Harnack, Adolf von;<br />
Hauff, Wilhelm;<br />
Hauschild;<br />
Hegel, Friedrich;<br />
Hempel, Johann Christian Friedrich;<br />
Henkell, Stephan;<br />
Heuss, Theodor;<br />
Hoffmann, Heinrich;<br />
Höl<strong>der</strong>lin, Friedrich;<br />
Hummel, Dekan Friedrich;<br />
Husswedel, Johanna Katharina;<br />
Husswedel, Maria Sophia;<br />
Jehring, Rudolph v.;<br />
Jung-Stilling, Joh. Heinr.;<br />
Kerner, Justinius;<br />
Killinger, Manfred v.;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 617<br />
Knetsch, Dr. Carl;<br />
Köhler (Cöler), Anna Margaretha;<br />
Krebs, Johann Friedrich;<br />
Krupp, Friedr. Alfred;<br />
Kurz, Hermann u. Isolde;<br />
Laelius, Agnes;<br />
Laelius, Lorenz;<br />
Leiberich, Karl Mack v.;<br />
Leibniz, Gottfried Wilhelm;<br />
Leitz, Ernst;<br />
Lenckner, Georg;<br />
Ley, Conrad;<br />
Lichtenberg, Georg Chr.;<br />
Liebig;<br />
List; Lorenz, Johann;<br />
Ludwig, Georg;<br />
Lufft, Hanns;<br />
Mästlin, Michael;<br />
Mayer, Robert;<br />
Meelfürer, Johann Burkard;<br />
Meelfürer, Marie Sophie;<br />
Merck, Joh. Heinr.;<br />
Mercklein, Johann Leonhard;<br />
Michael, Augustin;<br />
Mitscherlich, Eilhard;<br />
Mörlin;<br />
Muschenbroek;<br />
Nansen, Fridtjof;<br />
Newton;<br />
Niethammer, Frdr.;<br />
Onegin, Sigrid; Orth;<br />
Osian<strong>der</strong>, Andreas u. Lukas;<br />
Otterbein, Phil. Wilh.;<br />
Palm, Joh. Phil.;<br />
Pfeiffer, Paul;<br />
Pierer;<br />
Planck, Karl;<br />
Planck, Max;<br />
Polyxena, Margarethe;<br />
Posern;<br />
Prielmayer, Pfarrer Georg;<br />
Priester, Anna Margaretha;<br />
Priester, Dekan Wolf(gang) Heinrich;<br />
Priester, Wolf(gang) Heinrich;<br />
Rauck, Melchior;<br />
Reichardt, Christoph Friedrich;<br />
Reichardt, Johann August,<br />
Reichardt, Landesbischof von Thüringen D. theol. Wilhelm;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 618<br />
Reuter, Gabriele;<br />
Richthofen, Manfred v.;<br />
Ritter, Esther;<br />
Rösch, Prof. Dr. Siegfried;<br />
Rössler, Barbara;<br />
Rotenbuch, Amalie;<br />
Rottenbuch, Aemilia, verwitwete;<br />
Rücker, Johann Michael;<br />
Rückert, Friedrich;<br />
Schubart, Christian;<br />
Sibylla, Margaretha;<br />
Siemens, Hermann von;<br />
Speyer, Johann Georg;<br />
Spitz, Prof. Dr. jur Felix;<br />
Spitz, Sophie Catharina;<br />
Stahl, Catharina Louise Charlotte;<br />
Stahl, Georg Ernst;Stettner, Dr. Thomas;<br />
Stürenburg, Mali geb.;<br />
Textor (den Älteren), Johann Wolfgang;<br />
Textor (<strong>der</strong> Jüngere), Wolfgang;<br />
Thiersch, Karl;<br />
Tirpitz, Alfred von;<br />
Trautwein;<br />
Uhland, Ludwig;<br />
Wagner, Johann Friedrich August;<br />
Waitz; Wedel, Johann Adolph;<br />
Wedel, Sophia Margaretha;<br />
Weibezahl;<br />
Weigel, Anna Catharina;<br />
Weigel, Erhard;<br />
Weizsäcker, Richard von;<br />
Wiedemann, Eilhard;<br />
Wieland, Christ. Martin;<br />
Wilcke, Gero von;<br />
Wil<strong>der</strong>muth, Ottilie;<br />
Wolff; Wolf-Ferrari, Ermanno;<br />
Wun<strong>der</strong>, Dr. Gerd;<br />
Zeppelin, Ferdinand v.;<br />
7. These: Von <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Mittlerrolle X-chromosomaler<br />
Gene bei <strong>der</strong><br />
Ausprägung geistiger Eigenschaften<br />
Aune, Anne Louise;<br />
Aune, Isaac Adam ;<br />
Balthasar, Christian Ludwig;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 619<br />
Balthasar, Daniel Richard;<br />
Banniza von Bazan, Dr. Heinrich;<br />
Barfuß;<br />
Bayern, Könige Ludwig II. und Otto von;<br />
Bertin, Elisabeth;<br />
Bismarck, Otto von;<br />
Bittenfeld, v.;Blankenfelde;<br />
Bode, Wilhelm v.;<br />
Boehmer, Eduard v.;<br />
Boehmer, Friedrich von;<br />
Boehmer, Johanna Elisabeth von;<br />
Bülow, Hans v.;<br />
Bunsen, Robert;<br />
Caprivi, Leo Graf von;<br />
Cartillieri;<br />
Cirksena, Carl Edzard;<br />
Cranach, Elisabeth;<br />
Cranach, Lucas;<br />
Crusius, Philologenfamilie;<br />
England, Georg III. v.;<br />
Euler, Friedrich Wilhelm;<br />
Fabrice, v.;<br />
Fallersleben;<br />
Friedrich <strong>der</strong> Große;<br />
Ganzland, Anna;<br />
Ganzland, Tilemann;<br />
Gauß, Carl Friedrich;<br />
Goethe, Johann Wolfgang v.;<br />
Goldstein;<br />
Grammann, Elisabeth;<br />
Grammann, Nicolaus;<br />
Grolmann, Christoph von;<br />
Haeckel, Ernst;<br />
Hahn, Dorothea;<br />
Hahn, Laurentius;<br />
Hanau-Lichtenberg, Joh. Reinhard III. v.;<br />
Hartmann <strong>der</strong> Älteren, Dr. phil. et med. Peter;<br />
Hartmann <strong>der</strong> Jüngerne, Peter;<br />
Hartmann, Malwine;<br />
Hartmann, Malwine;<br />
Hartmann, Peter;<br />
Haugwitz, von;<br />
Heil;<br />
Herwarth;<br />
Hoffmann v.Fallersleben, August Heinrich;<br />
Hoffmann, H. F.;<br />
Holstein, v.;<br />
Immelmann;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 620<br />
Kirchhoff;<br />
Klopstock;<br />
Köhler (Cöler), Anna Margaretha;<br />
Köhler (Cöler), Wendelin;<br />
Köpke, D. Dr. phil. Gustav;<br />
Kotzebue;<br />
Krüger, Gertrud;<br />
Ley, Conrad;<br />
Ley, Maria;<br />
Leyser d. Ä., Polycarp;<br />
Leyser, Christiane Elisabeth;<br />
Leyser, Christine;<br />
Leyser, Friedrich Wilhelm;<br />
Lindemann, Professor Ferdinand;<br />
Loebel, v.;<br />
Lotter, Hieronymus;<br />
Lotter, Maria;<br />
Ludwiger, Caspar;<br />
Ludwiger, Helene;<br />
Luther, Martin;<br />
Luther, Martin Gottlob;<br />
Malsch, Christine Margarethe;<br />
Malsch, S<strong>im</strong>on; Mann, Thomas;<br />
Meelfü(h)rer, Johann Burkhard;<br />
Meelfü(h)rer, Marie Sophie;<br />
Mergenthal, von;<br />
Metz;<br />
Meyer, Franz Wilhelm;<br />
Meyer, Johanne Marie;<br />
Meyer, Weert;<br />
Möbius, August Ferdinand;<br />
Moser, Hans R.;<br />
Müller, Dr. Richard;<br />
Müller, Regina;<br />
Niemeyer, Johann;<br />
Petz, Hans;<br />
Petz, Pastor Johannes;<br />
Philippi, Anna Magdalena;<br />
Philippi, Johann Melchior;<br />
Preußen, Albrecht Friedrich v.;<br />
Ra<strong>im</strong>ar, Wolfgang;<br />
Rayski, v.;<br />
Reidemeister, Kurt;<br />
Reidemeister, Sophie;<br />
Riemann; Riemann, Georg Friedrich Bernhard;<br />
Rohle<strong>der</strong>, Carl;<br />
Rohle<strong>der</strong>, Henriette;<br />
Rohle<strong>der</strong>, Ulrike;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 621<br />
Sarre, Marie;<br />
Sarre, Pierre;<br />
Schade, Elisabeth;<br />
Schade, Philipp; Schlegel, Gebrü<strong>der</strong>;<br />
Schmidt, Charlotte;<br />
Schmiedecke, Susanne;<br />
Schwind, Cornelius;<br />
Seidlitz, v.;<br />
Seyfart, Regina;<br />
Seyfarth, Christian;<br />
Seyffart, Catharina;<br />
Stahl, Catharina Louise Charlotte;<br />
Stahl, Georg Ernst;<br />
Stisser, Chilian;<br />
<strong>Strome</strong>yer, Friedrich;<br />
Struve, Jacob;<br />
Struve, Wilhelm;<br />
Stützing, Eleonore Rosine;<br />
Stützing, Johann Gotthilf;<br />
Süpke, Christoph;<br />
Tirpitz, Alfred von;<br />
Tirpitz, Christian Ferdinand;<br />
Tirpitz, Friedrich Wilhelm;<br />
Tirpitz, Jacob Friedrich;<br />
Vultejus, Dr. jur. Hermann von;<br />
Waldow, v.;<br />
Wesener, Regina Elisabeth;<br />
Wesner, Wolfgang Christoph;<br />
Wichmann, Anna Marg.;<br />
Wiese, Emerentia<br />
Wiese, Johann Heinrich Ludwig;<br />
Wilcke, Gero von;<br />
Wilhelm <strong>der</strong> „Schweiger“;<br />
8. Der Lebenslauf von Georg Ernst STAHL, 1660-1734.<br />
Boerhaave, Hermann;<br />
Brandenburg, Kurfürst Friedrich III. von;<br />
Bugge; Friedrich Wilhelm I.;<br />
Friedrich Wilhelm I. („Soldatenkönig“), König;<br />
Hoffmann, Friedrich;<br />
Koch, Prof. Richard;<br />
Köhler (Cöler), Anna Margaretha;<br />
Leibniz, Gottfried Wilhelm;<br />
Meelführer, Johann Burkhard;<br />
Meelführer, Marie Sophie;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 622<br />
Miculci, Catharina Margarethe;<br />
Paracelsus;<br />
Priester, Anna Margaretha;<br />
Priester, Wolfgang Heinrich;<br />
Sachsen-We<strong>im</strong>ar, Herzog Johann Ernst III. von;<br />
Sachsen-We<strong>im</strong>ar, Herzog Wilhelm Ernst von;<br />
Sachsen-We<strong>im</strong>ar-Eisenach, Großherzog Karl August von;<br />
Stahl, Georg Ernst;<br />
Stahl, Johann Lorenz;<br />
Tentzel, Dr. jur. Johann Christian;<br />
Textor, Johann Wolfgang;<br />
Untzer, Anna Maria Elisabeth;<br />
Wedel, Georg Wolfgang;<br />
Wesner, Regina Elisabeth;<br />
8.1 STAHLs Phlogiston-Theorie beflügelt die forschenden<br />
Geister und bricht <strong>der</strong> Chemie breite Zukunftsbahnen, - obgleich<br />
sie „falsch“ ist!<br />
Becher;<br />
Black;<br />
Boyle; Bugge;<br />
Cavendish;<br />
Galilei;<br />
Haller, Albrecht von;<br />
Homberg;<br />
Kant;<br />
Koch;<br />
Kunkel;<br />
Lemery;<br />
Liebig, Justus von;<br />
Mayer, Robert;<br />
Ostwald, Wilhelm;<br />
Pristley;<br />
<strong>Richter</strong>, Jeremias Benjamin;<br />
Scheele;<br />
Schopenhauer;<br />
Stahl;<br />
Torricelli;<br />
Wenzel<br />
8.2 Chemische Entdeckungen <strong>im</strong> <strong>Zeit</strong>alter <strong>der</strong> Phlogiston-Theorie.<br />
Bernoulli I., Daniel;<br />
Bernoulli, Sohn des Johann I.;<br />
Berthollet, Claude Louis;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 623<br />
Black, Joseph;<br />
Cavendish, Henry;<br />
Fontana, Felice;<br />
Guericke, Otto von;<br />
Lavoisier, Antoine Laurent;<br />
Leibniz;<br />
Marggraf, Andreas;<br />
Pristley, Joseph;<br />
Ramsay, William;<br />
Rutherford, Daniel;<br />
Scheele, Carl Wilhelm;<br />
Stahl, G. E.;<br />
Volta, Alessandro;<br />
Walden, Paul;<br />
8.3 Andreas Sigismund MARGGRAF, 1709-1782.<br />
Achard, Franz Carl;<br />
Eller, Johann Theodor;<br />
Friedrich Wilhelm II.;<br />
Friedrich <strong>der</strong> Große;<br />
Lehmann, Johann Gottlieb;<br />
Marggraf, Andreas Sigismund;<br />
Neumann, Caspar;<br />
Neumann, Professor;<br />
Stahl, Georg Ernst;<br />
8.4 Drei Phlogistiker als „Stürmer und Dränger“<br />
des chemischen Fortschritts<br />
Bugge;<br />
Cavendish;<br />
Lockemann, Prof. Georg;<br />
Pristley;<br />
Scheele<br />
8.5 Henry CAVENDISH, 1731-1810.<br />
Biot, J. B.;<br />
Bowes-Lyon, Elizabeth;<br />
Boyle, Robert;<br />
Brougham, Lord;<br />
Bunsen;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 624<br />
Cavendish, Henry;<br />
Cavendish, Prinz Charles William;<br />
Dalton, John;<br />
Devonshire, Herzog von;<br />
Gay-Lussac;<br />
Grey, Anne;<br />
Kent, Herzog von;<br />
Paget Gerald;<br />
„Queen Mum“;<br />
Ramsay, William;<br />
Rayleigh, John William;<br />
Rayleigh, Lord;<br />
<strong>Richter</strong>, Jeremias Benjamin;<br />
Russel, Rachel;<br />
Wales, Prinz Charles of;<br />
8.6 Joseph PRISTLEY, 1733-1804.<br />
Bayen;<br />
Boulton, Matthew;<br />
Bueke, E.;<br />
Cavendish;<br />
Darwin, Charles;<br />
Darwin, Erasmus;<br />
Davy, Humphrey;<br />
Edgeworth, Richard L.;<br />
Franklin, Benjamin;<br />
Hackney; Hales, Stephan;<br />
Landsdown, Marquis of;Lavoisier;<br />
Lavoisier; Lockemann, Prof. Georg;<br />
Murdock, William;<br />
Newton;<br />
Pristley;<br />
Scheele;<br />
Shelburne, Earl of; Shelburne, Graf;<br />
Shelburne, Lord;<br />
Turner, Dr.;<br />
Watt, James;<br />
Wedgewood, Josiah;<br />
Wilkinson, Dr.;<br />
8.7 Carl Wilhelm SCHEELE, 1742-1786.<br />
Bauch, Apotheker;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 625<br />
Bergman, Torbern;<br />
Liebig, Justus;<br />
Lockemann, Prof. Georg;<br />
Marggraf;<br />
Römpp, Hermann;<br />
Rußland, Zarin von;<br />
Scheele, Carl Wilhelm;<br />
Szabadváry, Ferenc;<br />
Walden, Prof. Paul;<br />
Warnekros;<br />
8.8 Die Wende zur modenen Chemie um 1800.<br />
Bayeb;<br />
Berzelius, Jöns Jakob;<br />
Black;<br />
Cavendish;<br />
Glauber;<br />
Hoffmann, Friedrich;<br />
Lavoisier;<br />
Liebig;<br />
Lockemann, Prof. George;<br />
Lomonossow, Michael;Macquer;<br />
Mayow;<br />
Pristley;<br />
Rey, J.;<br />
Scheele;<br />
Walden, Prof. Paul<br />
8.9 Antoin-Laurent LAVOISIER, 1743-1794.<br />
Bayen ;<br />
Boyle ;<br />
Cavendish ;<br />
Hauy, Mineraloge;<br />
Lavoisier ;<br />
Lockeman ;<br />
Paulze, Maria Anne Pierette;<br />
Pristley ;<br />
Rouelle;<br />
Stahl;<br />
Szabadváry, Ference;<br />
Walden<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 626<br />
8.10 LAVOISIERs Oxydationstheorie von 1775-1789..<br />
Boyle, R.;<br />
Goethe;J<br />
Jungius, J.;<br />
Lavoisier, Antoine-Laurent ;<br />
Pristley ;<br />
<strong>Richter</strong>, Jeremias Benjamin;<br />
Sachsen-We<strong>im</strong>ar, Großherzog Carl August von;<br />
Stahl;<br />
Walden, Paul;<br />
Wenzel, Carl Friedrich;<br />
8.11 Carl Friedrich WENZEL, 1740-1793.<br />
Glauber;<br />
Goethe;<br />
Guldberg, C. M.;<br />
Ostwald, Wilhelm;<br />
Paracelsus;<br />
Stahl;<br />
Waage, P.;<br />
Walden, Hermann Paul;<br />
Wenzel, Carl Friedrich;<br />
8.12 Jeremias Benjamin RICHTER, 1762-1807.<br />
Bugge, G.;<br />
Kant, Immanuel;<br />
Ostwald, Wilhelm;<br />
<strong>Richter</strong>, Jeremias Benjamin;<br />
Walden, Paul;<br />
Wenzel, Carl Friedrich;<br />
8.13 Berühmte alchemistische Laboratorien<br />
Anna, Mutter;<br />
Aristoteles;<br />
Banniza von Bazan, Dr. Heinrich;<br />
Basilius;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 627<br />
Becher, J. J.;<br />
Böckmann, Johann Lorenz;<br />
Böckmann, Karl Wilhelm;<br />
Brandenburg Kurfürst Friedrich Wilhelm I. von;<br />
Brandenburg, Markgraf Johannes von;<br />
Friedrich Christian Münter,<br />
Seeland, Bischof von;<br />
Helmont;<br />
Holstein-Gottorp, Herzog Friedrich von;<br />
Kunckel, Conz;<br />
Kunckel, Johann;<br />
Lauenburg, Herzog von;Mecklenburg-Güstrow, Herzogs von;<br />
Münter, Balthasar;<br />
Münter, Frie<strong>der</strong>ike;<br />
Plinius;<br />
Rudolf II., Kaiser;<br />
Sachsen, Kurfürst Johann Georg II. von;<br />
Sachsen, Kurfürsten August von;<br />
Sala, Angelus;<br />
Theophrastus;<br />
Thurneysser;<br />
Wallenstein;<br />
8.14 Die Erfindung des Porzellans.<br />
Beireis;<br />
Böttger, Johann Friedrich;<br />
Homberg, Wilhelm;<br />
Tschirnhaus, Walter Graf von;<br />
Walden, Paul;<br />
8.15 Chemie erobert die Universitäten – Goethe als För<strong>der</strong>er <strong>der</strong><br />
Chemie in Jena<br />
Bunsen, Robert Wilhelm;<br />
Döbereiner, Johann Wolfgang;<br />
Goethe;<br />
Göttling, Johann Friedrich August;<br />
Gutbier, Alexan<strong>der</strong>;<br />
Leibniz;<br />
Liebig, Justus von;<br />
Paracelsus;<br />
<strong>Strome</strong>yer, Friedrich;<br />
Walden, Paul;<br />
Walloth, A.;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 628<br />
8.16 Johann Friedrich August GÖTTLING, 1753-1809.<br />
Bertuch;<br />
Bode;<br />
Bucholtz, Dr. med. Wilhelm Heinrich Sebastian;<br />
Bucholtz, Karl Wilhelm;<br />
Bucholz; Bucholz;<br />
Carl August, Großherzog;<br />
Döbling, Hugo;<br />
Einsiedel, August von;<br />
Gmelin, Johann Friedrich;<br />
Goethe;<br />
Göttling;<br />
Gutbier, Alexan<strong>der</strong>;<br />
Hahnemann, Dr.;<br />
Her<strong>der</strong>;<br />
Knebel;<br />
Lichtenberg,<br />
Georg;<br />
Pristley, Joseph;<br />
Schwedt, Georg;<br />
Szabadváry, Ferenc;<br />
Voigt, C. G.;<br />
Wiedeburg;<br />
Wiegleb, Johann Christian;<br />
Wieland;<br />
8.17 Johann Wolfgang DÖBEREINER, 1780-1849.<br />
Böckmann;<br />
Carl August, Herzog;<br />
Döbereiner, Johann Wolfgang;<br />
Färber, Schloßvogt;<br />
Fuchs, Georg Friedrich Christian;<br />
Gehlen, Adolph Ferdinand;<br />
Gmelin;<br />
Goethe;<br />
Göttling;<br />
Gutbier, Dr. Alexan<strong>der</strong>;<br />
Kölreuter;<br />
Körner, Friedrich;<br />
Lockemann, Prof. Georg;<br />
Lothar Meyer, Lothar;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 629<br />
Mendelejeff, D<strong>im</strong>itri;<br />
Nestler;<br />
Schwarz, Hofapotheker<br />
8.18 Wilhelm August LAMPADIUS, 1772-1842<br />
Bessemer;<br />
Gmelin;<br />
Göttling;<br />
Henry;<br />
Lampadius, Wilhelm August;<br />
Lichtenberg;<br />
Liebig<br />
9. Goethe als Chemiker und Techniker<br />
Alexan<strong>der</strong> I., Kaiser;<br />
Berzelius;<br />
Döbereiner, Professor;<br />
Giese;<br />
Goebel;<br />
Göttling;<br />
Grindel, Dav.;<br />
Kunckel;<br />
Osann;<br />
Pawlowna, Erzherzogin Maria;<br />
Scherer, A.;<br />
Schultz;<br />
Schwedt, Dr. Georg;<br />
Trebra;<br />
Wackenro<strong>der</strong>;<br />
Walden, Prof. Paul;<br />
10. Goethes Wahlverwandtschaft mit SPINOZA und<br />
Ideengemeinschaft mit LEIBNIZ<br />
Bavink, Bernhard;<br />
Bertalanffy, Ludwig von;<br />
Boerhaave;<br />
Born, Max;<br />
Bruno, Giordano;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 630<br />
Colerus, Egmont;<br />
Darwin;<br />
Einstein, Albert;<br />
Euler, Friedrich Wilhelm;<br />
Friedrich <strong>der</strong> Große;<br />
Glockner, Hermann;<br />
Goethe;<br />
Haller, Albrecht von;<br />
Heisenberg, Werner;<br />
Her<strong>der</strong>;<br />
Husserl, Edmund;<br />
Jordan, Pascual;<br />
Junker, Reinhard;<br />
Kant, Immanuel;<br />
Kepler;<br />
Kopernikus;<br />
Kues (Cusanus), Nikolaus von;<br />
La Mettri, Julien Offray de;<br />
Laplace ;<br />
Leeuwenhoek, Anton van;<br />
Leibniz, Gottfried Wilhelm;<br />
Linné, Carl von;<br />
Mahnke, Dietrich;<br />
Maxwell;<br />
Mendel, Gregor;<br />
Napoleon;<br />
Newton, Isaac;<br />
Nierenberg, Eusebius;<br />
Orth;<br />
Petsch, Robert;<br />
Plotin;<br />
Rémond, Nicolas;<br />
Riemer, Wilhelm;<br />
Schelling, Friedrich Wilhelm;<br />
Scherer, Siegfried;<br />
Spinoza, Baruch de;<br />
Staudinger, Professor Hermann;<br />
Swammerdam, Jan;<br />
Üxküll, Dr. med. Thure von;<br />
Wallace;<br />
Wendt, Herbert;<br />
Zelter;<br />
11.1 LEIBNIZ’ Protogaea<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 631<br />
Agricola, Georg;<br />
Agricola, Georgius;<br />
Darwin;<br />
Engelhardt, W. v.;<br />
Fürstenberg, Ferdinand von;<br />
Galilei, Galileo;<br />
Guhrauer;<br />
Hannover, Kurfürst Ernst August von;<br />
Hannover, Kurfürst Georg I. von;<br />
Hecht, Hartmut;<br />
Johannes Paul II., Papst;<br />
Kanthack, Katharina;<br />
Köhler, Anna Margaretha;<br />
Leibniz;<br />
Mahnke, Dietrich;<br />
Medici;<br />
Michelotti, P. A.,<br />
Scheel, G.;<br />
Newton;<br />
Nietzsche;<br />
Palissy, Bernard;<br />
Paracelsus;<br />
Pertz, Heinrich;<br />
Porphyrios;<br />
Priester, Anna Margaretha;<br />
Pristley, Joseph;<br />
Scheele, Karl;<br />
Scheidt, Ludwig;<br />
Schopenhauer;<br />
Spengler, Oswald;<br />
Spinoza;<br />
Stahl, Georg Ernst;<br />
Stensen, Niels;<br />
Textor, Johann Wolfgang;<br />
Vinci, Leonardo da;<br />
Viviani, Vincenzio;<br />
Welfen;<br />
Windelband, Wilhelm;<br />
11.2 LEIBNIZ als Chemiker und Mineraloge<br />
Bacon, Francis;<br />
Boyle, Robert;<br />
Cork, Graf von;<br />
Egelhardt, W. von;<br />
Guericke, Otto von<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 632<br />
Hiob;<br />
Kertz, Walter;<br />
Leibniz;<br />
Plinius;<br />
Steno;<br />
11.3 Phosphor (Entdeckung)<br />
Brand, Henning;<br />
Fontenelle;<br />
Leibniz;<br />
Lockemann, Prof. Georg;<br />
Peters, Hermann;<br />
Tschirnhausen;<br />
11.4 LEIBNIZ als Genealoge<br />
Altenburg, Martin;<br />
Augustinus, Heiliger;<br />
Avemann, Heinrich;<br />
Aventinus;<br />
Azzolini, Kardinal Decio;<br />
Baden, Markgrafen Hermann von;<br />
Barckhaus, Superint. Hermann;<br />
Barclay, John;<br />
Barth, Paul;<br />
Becher, Johann Joach<strong>im</strong>;<br />
Bernoulli, Jacob;<br />
Böhmen, Wenceslav König in;<br />
Brandenburg , Sophie Charlotte Königin von Preußen;<br />
Brandenburg, Marie Eleonore von;<br />
Braunschweig, Heinrich des Jüngeren von;<br />
Braunschweig, Otto von;<br />
Braunschweig-Lüneburg, Prinz Karl Philipp von;<br />
Bussche, A. Ph. von <strong>der</strong>;<br />
Canon, Claude Francois De ;<br />
Caputo, Niccolò;<br />
Consbruch, Caspar Florenz von;<br />
Crafft, Johann Daniel;<br />
Cranach, Lucas;<br />
Crasso, Loronzo;<br />
Damaideno, Teodoro;<br />
Deuerlein, Familie;<br />
Dragoni;Eckhart, J. G.;<br />
Estenis, Azonis;<br />
Fabricius, Franz;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 633<br />
Floramonti, Francesco De;<br />
Fram, Salomon;<br />
Gamans, Johann;<br />
Gamnitzer;<br />
Goethe;<br />
Greiffencrantz, Chr. J. Nicolai;<br />
Gr<strong>im</strong>aldi S.J., Claudio Filippo;<br />
Grote, Otto;<br />
Gustav Adolf;<br />
Guttöchter;<br />
Hannover, Herzog Ernst August von;<br />
Helmont, van;<br />
Hessen, Landgraf Ernst von;<br />
Hessen-Kassel, Landgrafen Karl von;<br />
Hörnigk, Philipp Wilhelm von;<br />
Innocenz XI., Papst;<br />
Kirkby, Ingenieur;<br />
Krönert, Gisela;<br />
Lachmund, Dr. Friedrich;<br />
Leibniz, Johann Jakob;<br />
Leibniz, Justus Jakob;<br />
Leopold, Kaiser;<br />
Lothringen, Herzogs Karl von;<br />
Ludolf, Hiob;<br />
Ludwig XIV., König;<br />
Luther;<br />
Magnus Carolus (Karl <strong>der</strong> Große);<br />
Marci, Christian;<br />
Mauro, B. O. ;<br />
Mayr, Dr. Daniel;<br />
Menegatti, P.;<br />
Mercure, Francois;<br />
Merian, Maria Sibylla;<br />
Merian, Matthäus;<br />
Metzger, Peter Paul;<br />
Milaner, Lic.;<br />
Modena, Herzog Franz II. von;<br />
More, Henry;<br />
Müller, Kurt;<br />
Neapel, Königin Johanna von;<br />
Nessel, Daniel von;<br />
Neudörffer, Johann;<br />
Orschall, Johann Christian;<br />
Passau, Fürstbischof von;<br />
Peutinger, Konrad;<br />
Pfalz, Kurfürst Philipp Wilhelm von <strong>der</strong>;<br />
Pfalz-Zweibrücken, Karl Gustav von;<br />
Prasch, J. L. ;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 634<br />
Pratisius, G.;<br />
Raasch, Herren von;<br />
Remus, Georg;<br />
Rojas;<br />
Rojas y Spinola;<br />
Rosenroth, Christian Knorr von;<br />
Sachsen, Kurfürst Johannes von;<br />
Scalati, Baron;<br />
Schweden, Königin Christine von;<br />
Seume, Johann Gottfried;<br />
Sig<strong>im</strong>undus;<br />
Sophie, Herzogin;<br />
Spener, Philipp Jakob;<br />
Spinola, Bischof Cristobal de Rojas y;<br />
Spitzel, Gottlieb;<br />
Stebele;<br />
Steffani, Agostino;<br />
Strattmann, Th. A. H. von ;<br />
Strattmann, Theodor A. Heinrich von;<br />
<strong>Strome</strong>yer, Manfred ;<br />
Talientschger de Glänegg, Elias Wolfgang;<br />
Terzago;<br />
Textor, Johann Wolfgang;<br />
Trithemius, Abt;<br />
Turmair genannt Aventinus, Johann;<br />
Valetta, Giùseppe;<br />
Vorburg, Joh. Wolfgang von;<br />
Waldschmid, Dr. Johann Jacob;<br />
Weigel, Valentin;<br />
Welser; Weselow, Chr. v.;<br />
Weselow, Hofrat Christoph von;<br />
Windischgrätz, Gottlieb Amadeus von;<br />
Windischgrätz, Gottlieb von;<br />
Witzel, Joh. Joach<strong>im</strong>;<br />
Wülfer;<br />
Wurfbein, Dr. Johann Paul;<br />
Z<strong>im</strong>mermann, Karl Paul von<br />
11.5 Zwischenbetrachtung:<br />
LEIBNIZ als Ahnherr des Computers und Genie <strong>der</strong><br />
Mathematik<br />
Bernoulli, Gebrü<strong>der</strong>;<br />
Braunschweig, Herzog Rudolf von;<br />
Greve, Hermann-Josef;<br />
Gr<strong>im</strong>aldini;<br />
Guhrauer, G. E.;<br />
Huygens;<br />
Knolle;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 635<br />
Leibniz;<br />
Newton, Isaac;<br />
San<strong>der</strong>;<br />
Scheffers, Georg;<br />
Spinoza;<br />
Wolfenbüttel, Rudolf August von;<br />
11.6 Fortsetzung : LEIBNIZ als Genealoge<br />
Alexandrum VIII Ponitificem Max<strong>im</strong>um, S. D. N.;<br />
Andreini, Pietro Andrea;<br />
Angeli, Charles Patin Stefano de’;<br />
Arnauld, Antoine;<br />
August <strong>der</strong> Starke;<br />
Aventin;<br />
Bacchini, Benedetto;<br />
Barbagio, Kardinal G.;<br />
Barclay;<br />
Bayern, Heinrich <strong>der</strong> Schwarze von;<br />
Bayle, Pierre;<br />
Bernstorff, Andreas Gottlieb von;<br />
Bissaiga, H. Giovanni;<br />
Bodenhausen gen. Bodenus, Rudolf Christian von;<br />
Böttger, Johann Friedrich;<br />
Cantelli, Giacomo;<br />
Casanta, Kardinal;<br />
Celle, Herzogin von ;<br />
Chappuzeau, Samuel de;<br />
Chateauthiers, Mad. De;<br />
C<strong>im</strong>icelli, Cesare;<br />
Colerus, Egmont;<br />
Conaro, Senator Girolamo;<br />
Conze, Werner;<br />
Coronelli, P. Vincenzo;<br />
Cunnigham, Hofmeister Alexan<strong>der</strong>;<br />
Deseine, Francois;<br />
Doeberl, Michael;<br />
Douglas, Lord George;<br />
Dragoni, Graf Francesco;<br />
Eckhart, Johann Georg;<br />
Elisabeth Christine, Kaiserin;<br />
Ericus, Johann Peter;<br />
Erythropel, Ober-Hof-Prediger H.;<br />
Este von, Markgrafen Taddeo und Bertoldo;<br />
Fabretti, Antiquar Rafael;<br />
Fabricius, Johann;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 636<br />
Falletti, G.;<br />
Fardella, Angelo;<br />
Felicitas, Prinzessin Charlotte;<br />
Feuilade, Herzog de la;<br />
Franchini, Giovanni;<br />
Frankreich, Ludwig XIV. von;<br />
Franz II., Herzog;<br />
Gaston, Ferdinand und Giovanni;<br />
Gatterer, Johann Christoph;<br />
Georg I., König;Giordani, Vitale;<br />
Guglielmini, Domenico;<br />
Hannover, Kurfürst Georg Ludwig von;<br />
Hannover, Kurfürstin Sophie in;<br />
Heinrich <strong>der</strong> Heilige;<br />
Heinrich <strong>der</strong> Löwe;<br />
Heinrich <strong>der</strong> Schwarze von Bayern, Herzog;<br />
Heinrich IV.;<br />
Hessen-Rheinfels, Landgraf Ernst von;<br />
Heydenreich, Dr. Eduard;<br />
Imhof, Jakob Wilhelm von;<br />
Jablonski, Daniel Ernst;<br />
Johann Friedrich, Herzog;<br />
Justel, Henri;<br />
Kochanski, Mathematiker;<br />
Kunigunde, Gräfin erste Gemahlin des Markgrafen Albert Azzo II.;<br />
Leibniz;<br />
Levesius, Augustinus;<br />
Liebknecht, Johann Georg;<br />
Liebknecht, Karl;<br />
Linsingen, Reichshofrat Johann Friedrich von;<br />
Löffler, Friedrich S<strong>im</strong>on;<br />
Lothringen, Beatrix von;<br />
Magalotti, Graf Lorenzo;<br />
Magliabechi, Antonio;<br />
Malpighi, Marcello;<br />
Marchesini, Camillo;<br />
Marchetti, Teofilo;<br />
Mathilde;<br />
Modena, Herzog und Herzogin von;<br />
Newton;<br />
Noris, Enrico;<br />
Olbreuse von Celle, Herzogin Eleonore d’;<br />
Orléans, Elisabeth Charlotte von;<br />
Orth, Anna Maria;<br />
Orth, Dr. theol. Hermann Philipp;<br />
Otto III.; Otto IV., Kaiser;<br />
Pertz , Georg Heinrich;<br />
Peter <strong>der</strong> Große, Zar;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 637<br />
Pfalz, Lieselotte von <strong>der</strong>;<br />
Pigna, G.;<br />
Pöllnitz, Frl. von;<br />
Ramazzini, Bernardino;<br />
Redi, Francesco;<br />
Remond, Nicolas;<br />
Rena, Cos<strong>im</strong>o Della;<br />
Rena, Filippo Buonarotti Cos<strong>im</strong>o Della;<br />
Rietzler, Siegmund von;<br />
Rinaldo III., Herzog;<br />
Sabbatini, P. Aloysio;<br />
Scheidt, Christian Ludwig;<br />
Scheit, Andreas;<br />
Schelstrate;<br />
Schmid, Alois;<br />
Schweden, Königin Christine von;<br />
Seip, David;<br />
Seip, Dr. Johann Philipp;<br />
Seip, Johann Ludwig;<br />
Sonnemann, Joh. Gottfried;<br />
Sophie Charlotte, Kurfürstin;<br />
Spitzel, Gottlieb;<br />
Spoleti, Francesco;<br />
Teyler, Johannes;<br />
Thomasius, Chr.;<br />
Tourreil, Amabale de;<br />
Tschirnhaus, Ehrenfried Walter von;<br />
Tuszien, Markgraf Bonifaz III. von;<br />
Tuszien, Markgräfin Mathilde von;<br />
Vervaux;<br />
Vittorio, Prälat Mons.;<br />
Viviani, Vincenzo;<br />
Vogler, Sekretär;<br />
Wales, Prinzessin von;<br />
Welf IV. Herzog in Bayern;<br />
Welser;<br />
Wolfenbüttel, Herzogin Christine Luise von;<br />
11.7 ECKHART und die „Würzburger Lügensteine“<br />
Beringer, Professor Johannes Bartholomäus Adam;<br />
Eckhart;<br />
Hehn, Nikolaus und Valentin;<br />
Neumann, Balthasar;<br />
Ro<strong>der</strong>ique, Ignaz;<br />
Wendt, Herbert;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 638<br />
Zänger, Christian;<br />
12.1 LEIBNIZ und Siegfried RÖSCH als Brückenbauer zwischen<br />
Natur- und Geisteswissenschaften.<br />
August <strong>der</strong> Starke;<br />
Baden, Christoph I. von;<br />
Baden, Markgrafen von;<br />
Brahms, Johannes;<br />
Brandenburg, Erich;<br />
Brauer, Dr. Adalbert;<br />
Buff, Familie;<br />
Busch, Wilhelm;<br />
Droste-Hülshoff, Annette v.;<br />
Düntzer, Heinrich;<br />
Euler, Friedrich Wilhelm;<br />
Feuerlein, Familie;<br />
Förste, Artur Conrad;<br />
Freytag von Loringhoven, Frank Baron;<br />
Friedrich <strong>der</strong> Große;<br />
Goethe;<br />
Goethes Lotte aus Wetzlar;<br />
Heisenberg, Werner;<br />
Isenburg, Prinz Wilhelm Karl v.;<br />
Karl <strong>der</strong> Große;<br />
Kayser, Heinrich;<br />
Knetsch, Carl;<br />
Lampert, Ulrich;<br />
Leibniz, Gottfried Wilhelm;<br />
Leitz, Ernst;<br />
Maria Theresia;<br />
Mendel, Gregor;<br />
Meyer, Weert;<br />
Möller, Walther;<br />
Ottheinrich von <strong>der</strong> Pfalz;<br />
Pius XII., Papst;<br />
Planck, Max;<br />
Praetorius, Otfried;<br />
Reginar I., Graf;<br />
Roesle, E. E.;<br />
Rösch, Prof. Siegfried;<br />
Rübel-Blass;<br />
Ruoff;<br />
Sachsen-We<strong>im</strong>ar, Karl August von;<br />
Schelling, Hermann von;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 639<br />
Schmid, Alois;<br />
Schrödinger, Erwin;<br />
Sirjean, Gaston;<br />
Sommerfeld, Prof. Arnold;<br />
Strohmeyer;<br />
Werl-Arnsberg;<br />
Werner, Karl Ferdinand;<br />
Wien, Wilhelm;<br />
Winkhaus, Eberhard;<br />
Zähringen, Herzoge von,<br />
12.2 Siegfried RÖSCH: 50 Jahre <strong>im</strong> Dienste <strong>der</strong> Wissenschaft<br />
Berek, Prof. Max;<br />
Brewster;<br />
Buff Familie,<br />
Carolus Magnus (Karl <strong>der</strong> Große);<br />
Debye;<br />
Eddington;<br />
Goethe;<br />
Goldschmidt, Prof. Viktor;<br />
Groth;<br />
Haber, Prof. Fritz;<br />
Heisenberg;<br />
Herschel;<br />
Heuss, Prof. Theodor;<br />
H<strong>im</strong>mel, Hans;<br />
Hönigschmid, Prof. O.;<br />
Hönl;<br />
Hund;<br />
Kienle;<br />
Laporte;<br />
Leibniz;<br />
Lenard;<br />
Liebig, Justus;<br />
Mahnke, Dietrich;<br />
Merck, Christiane;<br />
Nörrenberg;<br />
Peters, Hermann;<br />
Placcius;<br />
Porthe<strong>im</strong>, v.;<br />
<strong>Richter</strong>, Prof. Manfred;<br />
Rinne, Prof. Friedrich;<br />
Salomon-Calvi, Prof. Wilhelm;<br />
Sänger geb. Z<strong>im</strong>mermann, Wilhelmine;<br />
Sommerfeldt;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 640<br />
Spengler, Oswald;<br />
Weickmann;<br />
Wenzel;<br />
Wiener;<br />
Wülfing;<br />
Zedlitz, Frida;<br />
13.1 Werner HEISENBERG: Über Abstraktion/ Urphänomen/<br />
„Urpflanze“ (= DNA)<br />
Aristarch;<br />
Beethoven;<br />
Bohr, Nils;<br />
Crick;<br />
Darwin;<br />
Dürr, Hans-Peter;<br />
Eckermann;<br />
Falk, Johannes David;<br />
Gailei;<br />
Goethe;<br />
Heisenberg, Elisabeth;<br />
Heisenberg, Werner;<br />
Heller, Erich;<br />
Holst, Erich v.;<br />
Leibniz;<br />
Lorenz, Konrad;<br />
Mahnke, Dietrich;<br />
Mendel, Gregor;<br />
Nernst;<br />
Newton;<br />
Plato (Platon);<br />
Schopenhauer, Arthur;<br />
Watson;<br />
Weizsäcker, Carl Friedrich von;<br />
13.2. Gene / <strong>GeneTalogie</strong> / kosmische Harmonie<br />
Brandenburg, Erich;<br />
Bridges, Calvin B.;<br />
Carolus Magnus (Karl <strong>der</strong> Große);<br />
Fibonacci;<br />
Goethe;<br />
Isenburg, Wilhelm Karl Prinz v.;<br />
Kekule von Stradonitz, Stephan;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 641<br />
Mendel;<br />
Morgan, Thomas H.;<br />
Rösch, Siegfried;<br />
Ruoff, Wilhelm Heinrich;<br />
Schelling, Dr. Hermann von;<br />
13.3 Zwischenbetrachtung: „Goldner Schnitt“ am „X-<br />
Chromosomen- Stammbaum“<br />
Dürer, Albrecht;<br />
Eddington, Arthur Stanley;<br />
Fibonacci;<br />
Mona Lisa;<br />
Pascal;<br />
Raffael;<br />
Rösch, Siegfried;<br />
Vinci, Leonardo da;<br />
13.4 Fortsetzung Gene / <strong>GeneTalogie</strong> / kosmische Harmonie<br />
Bismarck;<br />
Bridges;<br />
Kekule von Stradonitz, Stephan;<br />
Meyer, Weert;<br />
Morgan;<br />
Page, David;<br />
Rösch, Siegfried;<br />
13.5 Palindrome<br />
– Inseln <strong>der</strong> „therapeutischen“ Ordnung in <strong>der</strong> genetischen<br />
Schrift.<br />
Bismarck;<br />
Boisserée, Sulpiz;<br />
Chargaff, Erwin;<br />
Cramer, Prof. Dr. Friedrich;<br />
Crick, F. H. C.;<br />
Droste-Hülshoff;<br />
Enzenberger, Hans Magnus;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 642<br />
Goethe;<br />
Heraklit;<br />
Leibniz;<br />
Lichtenberg, Georg Christoph;<br />
Liebknecht, Johann Georg;<br />
Liebknecht, Wilhelm und Karl;<br />
Lilley, D. M.;<br />
Orth;<br />
Planck, Max;<br />
Sullivan, K. M.;<br />
Watson, J. D.<br />
14. Warum wir Mitteleuropäer (fast) alle von KARL DEM<br />
GROSSEN abstammen.<br />
Athen, Dr. Hermann;<br />
Bardili, Carl;<br />
Baur-Fischer-Lenz;<br />
Bayern, Ludwig II. v.;<br />
Brandenburg, Erich;<br />
Breitschwert, Praxedes;<br />
Burckhardt, Regina;<br />
Cless, David;<br />
Cranach, Lucas;<br />
Eichhorn, Hermann v.;<br />
Ezel, Katharina;<br />
Faber, Wilhelm Christian;<br />
Förster, Dr. Karl;<br />
Franz Ferdinand, Erzherzog;<br />
Gerok, Karl;<br />
Göring, Hermann;<br />
Hauff, Wilhelm;<br />
Höl<strong>der</strong>lin, Friedrich;<br />
Humboldt, Wilhelm und Alexan<strong>der</strong> v.;<br />
Hutz, Hans;<br />
Karl <strong>der</strong> Große;<br />
Karl V., Kaiser;<br />
Lenz, F.;<br />
Luther, Martin;<br />
Malthus;<br />
Maria Magdalena;<br />
Mendel, Gregor;<br />
Müller genannt Gienger, Jakob;<br />
Pfeiffer;<br />
Pipin <strong>der</strong> Kurze;<br />
Platon;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 643<br />
Pöschl, Arnold;<br />
Rath, Hanns Wolfgang;<br />
<strong>Richter</strong>, <strong>Arndt</strong>;<br />
Riese, Adam;<br />
Rösch, Siegfried;<br />
Rübel, E.;<br />
Rübel-Blass;<br />
Ruoff;<br />
Scheidt, Walter;<br />
Scheinemann, Prof. David;<br />
Schelling, Dr. Hermann von;<br />
Schelling, Friedrich Wilhelm Jos.;<br />
Siemens, Hermann Werner;<br />
Sokrates;<br />
Staude, C.;<br />
Uhland, Ludwig;<br />
Ullrich, Änne;<br />
Vischer, Friedrich Theodor;<br />
14.1 Über Stammtafeln in <strong>der</strong> Geschichte und Gegenwart<br />
Aldinger;<br />
Bizer, D. Ernst;<br />
Brechenmacher, Josef Karlmann;<br />
Brodhag; Conzelmann, Familie;<br />
Conzelmann, Stephan;<br />
Echnaton (Amenophis IV), Pharao;<br />
Faber;<br />
Geyer;<br />
Gmelin, Familie;<br />
Gmelin, Margarethe geb.;<br />
Gmelin, Moritz;<br />
Goethe;<br />
Hardy, Godfrey Harold;<br />
Hartmann, Johann Friedrich;<br />
Hoffacker;<br />
Isenburg, W. K. Prinz v.;<br />
Kaufmann, Hans;<br />
Kekule von Stradonitz, Stephan;<br />
Kepler, Johannes;<br />
Klein;<br />
Kommerell;<br />
Leibniz;<br />
Lukas;<br />
Matthäus;<br />
Mendel;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 644<br />
Moser;<br />
Moses;<br />
Nofretete 1., Königin;<br />
Orth, Familie;<br />
Pascal, Blaise;<br />
Pförtner, Anna Elisabeth;<br />
Renz;<br />
Rösch, Siegfried;<br />
Scheibler, Familie;<br />
Schickard, Wilhelm;<br />
Schwennicke, Detlev;<br />
Siemens, Hans Henning;<br />
Siemens, Stephan August;<br />
Siemens, Werner von;<br />
Spittler;<br />
Staib;<br />
Tycho;<br />
Volbrecht, Anna Margarethe;<br />
Weinberg;<br />
Württemberg, König Friedrich I. von;<br />
14.2 Die Stammtafel <strong>der</strong> „Goethe-Familie“ ORTH<br />
Delbrück, Hans;<br />
Düntzer, Heinrich;<br />
Harnack, Adolf von;<br />
Hennekenii;<br />
Knetsch, Carl;<br />
Liebig;<br />
May d.Ä., Joh. Hch.;<br />
Nitsch;<br />
Orth, Antonius;<br />
Orth, Ludwig;<br />
Orth-Stammfolge;<br />
Praetiorius, Prof. Otfried;<br />
Rösch, Siegfried;<br />
Thirsch, Karl;<br />
Valentini, Dr.<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 645<br />
14.3 Stammtafel-Erweiterung durch Einbeziehung <strong>der</strong> Töchternachkommen!<br />
Aus <strong>der</strong> Werkstatt eines Stammbaumforschers<br />
Beckh, Dr. Hermann;<br />
Bethke, Dr. med. H.;<br />
Braunschweig-Wolfenbüttel, Anna Amalie;<br />
Buff, Familie;<br />
Danner, Pfarrer;<br />
Engels;<br />
Feuerbach, Eduard August;<br />
Feuerbach, Ludwig;<br />
Feuerbach, Amalie, Emilie und Anselm;<br />
Feuerbach, Anselm;<br />
Feuerbach, Carl Wilhelm;<br />
Feuerbach, Joseph Anselm;<br />
Feuerbach, Paul Johann;<br />
Frischmuth, Fräulein Rosel;<br />
Gebhardt, Peter von;<br />
Goethe;<br />
Goethes Lotte;<br />
Hauser, Kaspar;<br />
Hegel;<br />
Keerl, Amalie;<br />
Keerl, Dr. Fritz;<br />
Keerl, Elisabeth;<br />
Keerl, Ferdinand;<br />
Keerl, Frie<strong>der</strong>ike;<br />
Keerl, Friedrich;<br />
Keerl, Georg Andreas;<br />
Keerl, Kirchenrat August;<br />
Keerl, Samuel;<br />
Keerl, Sebastian;<br />
Keerl-Fischer;<br />
Kestner, Charlotte;<br />
Mägerlein, Fritz;<br />
Marx;<br />
Müller, Philipp;<br />
Rösch, Prof. Siegfried;<br />
Sachsen-We<strong>im</strong>ar-Eisenach, Großherzog Karl August von;<br />
Schäfer, Karl;<br />
Seher, Philipp;<br />
Seiler, Pfarrer;<br />
Seyffert, Dr. Max;<br />
Stang, Appolonia;<br />
Tröster, Wilhelmine;<br />
Vollhardt, O.;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 646<br />
We<strong>im</strong>ar, Ernst August I. von;<br />
Wirth, Karl von;<br />
14.4 Eine soziologische Gegenüberstellung bei <strong>der</strong> Familie<br />
KEERL<br />
(nicht berücksichtigt)<br />
15.1 Aus meiner eigenen Familienforschung seit meiner Dresdner<br />
Schulzeit um 1950<br />
Barth;<br />
Bernhardt;<br />
Böhmert;<br />
Boileau;<br />
Boileau, Franzose N.;<br />
Brandes, Zoodirektor;<br />
Colerus, Egmont;<br />
Darwin;<br />
Dietze, Anna Sophia;<br />
Dietze, Johann George;<br />
Döring, Johann Gottlieb;<br />
Dungern, Otto von;<br />
Edelmann, Christoph;<br />
Fibonacci;<br />
Forst-Battaglia, Otto;<br />
Freudenstein, Gremp von;<br />
Haeckel, Ernst;<br />
Hänichen, Gregor Thomas;<br />
Hänichen, Hans;<br />
Hänichen, Oskar;<br />
Hänichen, Walpurga;<br />
Hantzsch;<br />
Heine, Martha;<br />
Hempel;<br />
Hengen, Gregor;<br />
Hermsdorf;<br />
Heydenreich, Dr. Eduard;<br />
Heydenreich, Julius;<br />
Heyne, Martha;<br />
Hilber;<br />
Hunger, W.;<br />
Inkermann, Christian Traugott;<br />
Inkermann, geb. Wagner, Liddy;<br />
Irmer; John;<br />
Johne, Johann Adam;<br />
Karl <strong>der</strong> Große;<br />
Kästner, Erich;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 647<br />
Kekule von Stradonitz, Stephan;<br />
Krempe, Beata Julina;<br />
Künzelmann;<br />
Küttner, Walther;<br />
Lange, Dr. Günter;<br />
Lange, Prof. Arno;<br />
Lange, Prof. Dr. Hermann;<br />
Lehrknecht;<br />
Leibniz, Gottfried Wilhelm;<br />
Löffler, Max;<br />
Mendel;<br />
Müller;<br />
Opitz, Pfarrer;<br />
Pa(h)litzsch, Familie;<br />
Pahlitzsch, Johann Gottfried;<br />
Palitzsch, Johann Georg;<br />
Papsdorf, Detlev;<br />
<strong>Richter</strong>, Andreas;<br />
<strong>Richter</strong>, Carl August;<br />
<strong>Richter</strong>, Georg;<br />
<strong>Richter</strong>, Ludwig;<br />
<strong>Richter</strong>, Willy;<br />
Rübel-Blass;<br />
Rudolph;<br />
Rühle, Anna Rosina;<br />
Rühle, Ernst Karl;<br />
Rühle, Frau Hela;<br />
Ruoff;<br />
Sommer, Robert;<br />
Spehr, Reinhard;<br />
Theile;<br />
Tille, Armin;<br />
Tögel, Regina;<br />
Tours, Bischoff v.;<br />
Wätzig, Richard;<br />
Weiße;<br />
Wensch, Kurt; Wirthgen, Johann Heinrich;<br />
Z<strong>im</strong>mermann, F. A.;<br />
15.2 LEIBNIZ’ Vorfahren in Leubnitz bei Dresden?<br />
Adler;<br />
Arnswaldt, W. C. von;<br />
Babenberger;<br />
Boer, Elisabeth;<br />
Boineburg, Johann Christian von;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 648<br />
Colditz, Valentin;<br />
Connewitz, Nickel;<br />
Dänemark, Barbara N.N. aus;<br />
Deuerlein;<br />
Diskau, von;<br />
Eutritzsch;<br />
Fischer, Rudolf;<br />
Frankenstein;<br />
Friedrich Barbarossa, Kaiser;<br />
Friedrich <strong>der</strong> Streitbare;<br />
Graupitz;<br />
Guhrauer, G. E.;<br />
Heinrich <strong>der</strong> Erlauchte;<br />
Klengel, Christian;<br />
Kloth (Klothius);<br />
Kroker, Ernst;<br />
Leibniz;<br />
Leibniz d.Ä., Ambrosius;<br />
Leibniz, Friedrich;<br />
Leubnitz, Adelsfamilie von;<br />
Leubnitz, Barbara;<br />
Leubnitz, Bartusch von;<br />
Leubnitz, Familie;<br />
Leuteritz;<br />
Leutzsch (Luczsch), Andreas;<br />
Lorencz; Maltitz, Elisabeth von;<br />
Meißen, Markgraf Heinrich <strong>der</strong> Erlauchten von;<br />
Meißen, Markgraf Otto <strong>der</strong> Reiche von;<br />
Merbitz;Merbitz;<br />
Opitz;<br />
Österreich, Constantia Prinzessin von;<br />
Pahlitzsch;<br />
Reudnitz, Hans;<br />
Reudnitz, Nickel;<br />
<strong>Richter</strong>, Carl August;<br />
<strong>Richter</strong>, Ludwig;<br />
Rühle, E. K.;<br />
Sachsen, Kurfürstin Anna von;<br />
Schönburg,<br />
Wettiner;<br />
Wurzen, Hans;<br />
Lampe, Joach<strong>im</strong>;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 649<br />
15.3 Zur eigenen familienkundlichen Auftragsforschung in Sachsen<br />
(in <strong>der</strong> kaffee- und schokoladenarmen <strong>Zeit</strong> <strong>der</strong> 70er Jahre)<br />
15.4 Vom Glück, die Ahnenforschung mit <strong>der</strong> „Astaka“ zu<br />
beginnen!<br />
<strong>Richter</strong>, Willy;<br />
Saupe, Ahnenlinie;<br />
Wensch, Kurt;<br />
15.5 Aus dem Briefwechsel mit sächsischen Pfarrämtern.<br />
Biering, Sibylle;<br />
Boernig, Andreas;<br />
Börinig, Sybille;<br />
Börnig;<br />
Christmann;<br />
Döring, Johann Gottlieb;<br />
Dörpfel;<br />
Dreßler;<br />
Fuchs, Maria;<br />
Führer, Christian;<br />
Führer, Ernst;<br />
Geissler, Georg;<br />
Geissler, Maria;<br />
Hänichen, Christian Gotthelf;<br />
Hänichen, George;<br />
Hänichen, Hildegard;<br />
Hänichen, Pfarrer Oskar;<br />
Harzendorf, George;<br />
Harzendorf, Justina;<br />
Heger;<br />
Jacob, Johann Gottlieb;<br />
Johne, Johann Adam;<br />
Kästner, Erich;<br />
Kästner, Eva;<br />
Kempe;<br />
K<strong>im</strong>me, Christa;<br />
K<strong>im</strong>me, Ernst;<br />
Kle<strong>im</strong>ann;<br />
Küntzelmann, Hans;<br />
Leubner;<br />
Luther;<br />
Müller, George;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 650<br />
Müller, Nicol;<br />
Palitsch;<br />
Patzig;<br />
<strong>Richter</strong>, Ernst Gottlob;<br />
<strong>Richter</strong>, Friedrich Hermann;<br />
<strong>Richter</strong>, Friedrich Hermann;<br />
<strong>Richter</strong>, Willy;<br />
Rietzschel;<br />
Ringel, Johanna Christiana;<br />
Rühl;<br />
Ruhland, Daniel;<br />
Schindler;<br />
Stiehler, (Jo)hanne Christiane;<br />
Vogelsang, Pfarrer;<br />
Wagner, Geschlechter;<br />
Wätzig, Richard;<br />
Weber, Elfriede;<br />
Weber, Günter;<br />
Weber, Willy;<br />
Welcker, Dorothee;<br />
Wensch, Kurt;<br />
Wirthgen;<br />
Zelter (Zeller);<br />
Z<strong>im</strong>mermann, Dr. med. Emil;<br />
15.6 Der eigene RICHTER-Stamm <strong>im</strong> thüringisch-sächsischen<br />
Territorialgeflecht<br />
Anna Sophie, Königin-Kurfürstin;<br />
Brecht;<br />
Buchmann, Frau E.;<br />
Döring, Johann Gottlieb;<br />
Einsiedel, Graf Detlef von;<br />
Engemann, Pfarrer Joach<strong>im</strong>;<br />
Frieschmann, Margareta;<br />
Grote, Gottfried;<br />
Hänichen, Oskar;<br />
Haubold, Hans;<br />
Hofmann, Gert;<br />
Hoppe, Elke;<br />
Hunger, W.;<br />
Kaufungen, Kunz von;<br />
K<strong>im</strong>me, Ernst;<br />
Köhler, Herbert;<br />
Mittenzwei, Werner;<br />
Müller, Rosina;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 651<br />
<strong>Richter</strong>, Andreas;<br />
<strong>Richter</strong>, Georg;<br />
<strong>Richter</strong>, Gottlob;<br />
<strong>Richter</strong>, Gregor;<br />
<strong>Richter</strong>, Johann Christian Friedrich;<br />
<strong>Richter</strong>-Stammlinie;<br />
Stein, Hans;<br />
Trenckmann, Paul;<br />
Uhde, Fritz von;<br />
Vogel, Frank;<br />
Wahle, Georg Heinrich;<br />
Weisspflog, Falko;<br />
Wensch, Kurt;<br />
Wünschmann, Georg;<br />
15.7 Von <strong>der</strong> Ahnenforschung zur nachbarwissenschaftlichen<br />
Demographie.<br />
(KÜNTZELMANN-Stammtafel)<br />
Becker, W. G. ;<br />
Conzelmann;<br />
Cüntzelmann;<br />
Eichhorn;<br />
Fritsch, Thomas Frhr. von;<br />
Gebauer;<br />
Hänichen, Oskar;<br />
Kuntzelmann;<br />
Küntzelmann, Martin;<br />
Lange, Arno;<br />
Meißner;<br />
Merbitz, Martin;<br />
Patz, Maria;<br />
<strong>Richter</strong>, Willy;<br />
Schroe<strong>der</strong>, Dr. Felix von;<br />
Speer;<br />
Stiehler;<br />
Ullrich;<br />
Wätzig, Richard;<br />
Wun<strong>der</strong>lich, Karl;<br />
Zachau, Johannes;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 652<br />
15.8 Von hochfliegenden Pläne zur EDV-Genealogie (1973)<br />
Kaden;<br />
Kemmlitz;<br />
Küntzelmann;<br />
Pfefferkorn, Familie;<br />
Reuter;<br />
Rösch, Prof. Dr. Siegfried;<br />
Siemens;<br />
Wätzig, Richard;<br />
Wolff;<br />
16.1 Zum Ortssippenbuch Hesel (- <strong>im</strong> beson<strong>der</strong>en und zu den<br />
OSB <strong>im</strong> allgemeinen) von <strong>Arndt</strong> <strong>Richter</strong>, München<br />
Gercke, Ach<strong>im</strong>;<br />
Hohlfeld, Dr. Johannes;<br />
Janssen, Ludwig;<br />
Manger, Hans Rudolf;<br />
Park;<br />
Rösch, Prof. S.<br />
16.2 Zwei E-Mails in genealogischen Mailinglisten<br />
E-Mail vom 8. 2. 2008 an drei deutsche genealogische Mailinglisten<br />
(Compgend, AMF und Hessen)<br />
Aldinger;<br />
Conzelmann;<br />
Fugger;<br />
Gmelin;<br />
Orth;<br />
Scriba;<br />
Siemens;<br />
Welser<br />
Anlagen<br />
Anlage 1 ((S. 20))<br />
Vererbungswissenschaftlich orientierte Goethe-Genealogie-<br />
Literatur<br />
http://goethe-genealogie.de/literatur/literaturst.html<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 653<br />
Feuerbach, Famlie;<br />
Frank-Planitz, Ulrich;<br />
Galton, Francis;<br />
Geiger, Ludwig;<br />
Gerlach, Kurt;<br />
Geyer, Horst;<br />
Goethe;<br />
Gr<strong>im</strong>m, Hermann;<br />
Güldner, Walther A.;<br />
Hansen, Niels;<br />
Hellpach, Willy;<br />
Hohlfeld, Johannes;<br />
Isenburg, Wilhelm Karl Prinz von;<br />
Jankowsky, Walter G.;<br />
Jellinek, Oskar;<br />
Juda, Adele;<br />
Keßler, Klaus;<br />
Kirste, H.;<br />
Kleine, H. O.;<br />
Kopp, Jenny;<br />
Krämer-Badoni, Rudolf;<br />
Kretschmer, Ernst;<br />
Kuhn-Foelix, August;<br />
Kurth, Wolfram;<br />
Lange, V.;<br />
Lange-Eichbaum, Wilhelm;<br />
Ludwig, Emil;<br />
Möbius, Paul J.;<br />
Rauschenberger, Walther;<br />
Reibmayr, Albert;<br />
Reichel, Heinrich;<br />
Reitmann, Richart;<br />
Roesle, E.;<br />
Roesler, Gottfried;<br />
Siemens, Hermann Werner;<br />
Soldan, Familie;<br />
Sommer, Robert;<br />
Spoerri, Th.;<br />
Springer, Bruno;<br />
Weisbecker, Walter;<br />
Wellisch, S.; Wenzel, Manfred;<br />
Wyrsch, J.;<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>
S e i t e | 654<br />
Anlage 2 (S. 207 f)<br />
Cicero;<br />
Delbar;<br />
Haller;<br />
Linnaeus;<br />
Malebranche;<br />
Maupertuis;<br />
Merope;<br />
Pope;<br />
Prions, Frau;<br />
Rebel;<br />
Sacliger<br />
------------------------------------------------------------------------------------------------<br />
Anlage 3<br />
Goethe;<br />
Kekule von Stradonitz, Dr. Stephan;<br />
Kokorsch;<br />
Leibniz, Gottfried Wilhelm von;<br />
Naunyns;<br />
Schwerin; von;<br />
Üxküll, Thure v.; Schwerin; von;<br />
Anlage 5<br />
Haeckel;<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
<strong>Festgefügtes</strong> <strong>im</strong> <strong>Strome</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>