Poeta absconditus. Zu Goethes Gedicht Wiederfinden - Das ...
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MICHAEL BÖHLER<br />
<strong>Poeta</strong> Absconditus.<br />
<strong>Zu</strong> <strong>Goethes</strong> <strong>Gedicht</strong> <strong>Wiederfinden</strong><br />
– von Hofmannsthal her gelesen<br />
Vorblatt<br />
Publikation<br />
Erstpublikation in: Wolfram Malte Fues und Wolfram Mauser (Hg.): “Verbergendes<br />
Enthüllen”. <strong>Zu</strong> Theorie und Kunst dichterischen Verkleidens. Festschrift<br />
für Martin Stern. Königshausen & Neumann: Würzburg 1995, S.177–<br />
196.<br />
Vorlage: Datei des Autors<br />
URL:<br />
<br />
Eingestellt am 07.06.2004<br />
Autor<br />
Prof. Dr. Michael Böhler<br />
Universität Zürich<br />
Deutsches Seminar<br />
Abteilung für Neuere deutsche Literatur<br />
Schönberggasse 9<br />
CH-8001 Zürich<br />
Emailadresse: Direktlink unter<br />
<br />
Empfohlene Zitierweise<br />
Beim Zitieren empfehlen wir hinter den Titel das Datum der Einstellung oder<br />
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dieser Online-Adresse anzugeben:<br />
Michael Böhler: <strong>Poeta</strong> Absconditus. <strong>Zu</strong> <strong>Goethes</strong> <strong>Gedicht</strong> <strong>Wiederfinden</strong> – von<br />
Hofmannsthal her gelesen (07.06.2004) In: Goethezeitportal. URL:<br />
<br />
(Datum Ihres letzten Besuches).
Michael Böhler: <strong>Poeta</strong> Absconditus, S.1<br />
MICHAEL BÖHLER<br />
<strong>Poeta</strong> Absconditus.<br />
<strong>Zu</strong> <strong>Goethes</strong> <strong>Gedicht</strong> <strong>Wiederfinden</strong><br />
– von Hofmannsthal her gelesen<br />
I.<br />
Ein „Vorurteil“ hafte am West-östlichem Divan – so schreibt 1913 Hugo von<br />
Hofmannsthal –, das Vorurteil, es habe sich Goethe, „als ein im Herzen kühler<br />
alternder Mann, grillenhaft dem Fremden zu-, dem Nahen und Eigenen abgewandt<br />
und habe das orientalische Gewand wie eine Vermummung übergeschlagen,<br />
so sei dies Buch entstanden, woran alles fremd und seltsam, bis auf<br />
den Titel.“ Dem hält Hofmannsthal entgegen: „Wer aber <strong>Gedicht</strong>etes zu lesen<br />
und durch den Buchstaben den Geist zu empfangen begnadet ist, der wird in<br />
diesem West-östlichen Divan nichts von Vermummung gewahr werden, sondern<br />
nur von Enthüllung ohne jede Schranke. Doch ist es ein anderes, ob ein<br />
Jüngling leidenschaftlich sein Herz entblößt, oder ob ein reifer Mann, lebend<br />
und liebend, sich völlig denen dahingibt, die ihn zu fassen vermögen.“ Der<br />
Mann sei „der Welt inniger, als sich sagen läßt, verbunden, und nicht anders<br />
vermag er sein Inneres preiszugeben, als indem er gleichsam vor unsern Augen,<br />
aufleuchtend in der Glut seines Herzens, aus den Dingen hervortritt und<br />
sogleich sich wieder in die Dinge hinüberwandelt.“ So wäre im Divan alles<br />
„einer fremden Welt angenähert oder zwischen ihr und uns in der Schwebe:<br />
alles ist doppeltblickend, und eben dadurch dringt es uns in die Seele; denn das<br />
Eigentliche in uns und um uns ist stets unsagbar, und doch ist dem Dichter alles<br />
zu sagen gewährt.“ 1<br />
Es möchte reizvoll sein – ja winkt zur Fühlung fast aus allen Dingen, das Festschrift-Thema<br />
„Verbergendes Enthüllen“. <strong>Zu</strong> Theorie und Kunst dichterischen<br />
Verkleidens für den Jubilar zusammen mit Hofmannsthal an einem <strong>Gedicht</strong> aus<br />
dem West-östlichen Divan zu erproben.<br />
1 Hugo von Hofmannsthal: <strong>Goethes</strong> „West-östlicher Divan“ (1913). In: H. v. H.: Gesammelte<br />
Werke in zehn Einzelbänden. Hg. von Bernd Schoeller. Frankfurt 1979/80, VIII, S.<br />
439f.
Michael Böhler: <strong>Poeta</strong> Absconditus, S.2<br />
WIEDERFINDEN 2<br />
Ist es möglich! Stern der Sterne,<br />
Drück' ich wieder dich ans Herz!<br />
Ach, was ist die Nacht der Ferne<br />
Für ein Abgrund, für ein Schmerz!<br />
Ja, du bist es! meiner Freuden<br />
Süßer, lieber Widerpart;<br />
Eingedenk vergangner Leiden,<br />
Schaudr' ich vor der Gegenwart.<br />
Als die Welt im tiefsten Grunde<br />
Lag an Gottes ew'ger Brust,<br />
Ordnet' er die erste Stunde<br />
Mit erhabner Schöpfungslust,<br />
Und er sprach das Wort: ,Es werde!'<br />
Da erklang ein schmerzlich Ach!<br />
Als das All mit Machtgebärde<br />
In die Wirklichkeiten brach.<br />
Auf tat sich das Licht! So trennte<br />
Scheu sich Finsternis von ihm,<br />
Und sogleich die Elemente<br />
Scheidend auseinander fliehn.<br />
Rasch, in wilden, wüsten Träumen<br />
Jedes nach der Weite rang,<br />
Starr, in ungemeßnen Räumen,<br />
Ohne Sehnsucht, ohne Klang.<br />
Stumm war alles, still und öde,<br />
Einsam Gott zum erstenmal!<br />
Da erschuf er Morgenröte,<br />
Die erbarmte sich der Qual;<br />
Sie entwickelte dem Trüben<br />
Ein erklingend Farbenspiel,<br />
Und nun konnte wieder lieben<br />
Was erst auseinander fiel.<br />
Und mit eiligem Bestreben<br />
Sucht sich, was sich angehört,<br />
Und zu ungemeßnem Leben<br />
Ist Gefühl und Blick gekehrt.<br />
Sei's Ergreifen, sei es Raffen,<br />
Wenn es nur sich faßt und hält!<br />
Allah braucht nicht mehr zu schaffen,<br />
Wir erschaffen seine Welt.<br />
So, mit morgenroten Flügeln,<br />
Riß es mich an deinen Mund,<br />
Und die Nacht mit tausend Siegeln<br />
Kräftigt sternenhell den Bund.<br />
Beide sind wir auf der Erde<br />
Musterhaft in Freud' und Qual,<br />
Und ein zweites Wort: Es werde!<br />
Trennt uns nicht zum zweitenmal.<br />
Mehr noch als auf manche andere <strong>Gedicht</strong>e des Divan und das Unternehmen<br />
als Ganzes trifft Hofmannsthals Urteil von der Schwebelage und dem doppeltblickenden<br />
Charakter auf das <strong>Gedicht</strong> <strong>Wiederfinden</strong> im Buch Suleika zu. Goethe<br />
selbst wies ihm eine Doppelstellung zu, indem er das <strong>Gedicht</strong> gleich an<br />
zwei verschiedenen Orten in die Ausgabe letzter Hand aufnahm: Neben seinem<br />
angestammten Platz in Suleika Nameh. Buch Suleika erscheint es buchstabengetreu<br />
noch einmal im Abschnitt Lyrisches unter der Gruppe Gott und Welt der<br />
<strong>Gedicht</strong>e. 3 Der zwiefache Standort im Buch Suleika und unter Gott und Welt<br />
markiert die Doppelthematik von Liebe und Kosmogonie, die Goethe in <strong>Wiederfinden</strong><br />
in eins verfugt. Mit dem Liebesthema fügt sich das <strong>Gedicht</strong> in den<br />
Rahmen des Buchs Suleika ein, wie ihn <strong>Goethes</strong> Ankündigung im Morgenblatt<br />
für gebildete Stände vom 24. Februar 1816 umreißt: „<strong>Das</strong> Buch Suleika, leidenschaftliche<br />
<strong>Gedicht</strong>e enthaltend, unterscheidet sich vom Buch der Liebe<br />
dadurch, daß die Geliebte genannt ist, daß sie mit einem entschiedenen Charakter<br />
erscheint, ja persönlich als Dichterin auftritt und in froher Jugend mit dem<br />
2 HA, 2, S. 83f. (<strong>Goethes</strong> Werke werden in Siglen wie folgt zitiert: HA, Bd., Seitenzahl =<br />
<strong>Goethes</strong> Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bdn. Hg. von Erich Trunz. Hamburg 1948-<br />
1964. 7. Aufl. 1965; WA, Abt., Bd., Seitenzahl = <strong>Goethes</strong> Werke. Hg. im Auftrag der<br />
Großherzogin Sophie von Sachsen. Abt. I-IV. 133 Bde. Weimar 1887-1919 [Weimarer<br />
Ausgabe].)<br />
3 <strong>Goethes</strong> Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. Bd. 1-40. Stuttgart und Tübingen<br />
1827-1830. Bd. 3, S. 75.
Michael Böhler: <strong>Poeta</strong> Absconditus, S.3<br />
Dichter, der sein Alter nicht verleugnet, an glühender Leidenschaft zu wetteifern<br />
scheint. [...]“ 4 Demgegenüber läßt sich der Schlußsatz von <strong>Goethes</strong> Kurzcharakteristik<br />
auf den mythisch-kosmogonischen Aspekt beziehen: „Auch hier<br />
dringt sich manchmal eine geistige Bedeutung auf, und der Schleier irdischer<br />
Liebe scheint höhere Verhältnisse zu verhüllen.“ 5 Seiner Doppelnatur folgend<br />
fluktuieren denn auch die zahlreichen Deutungen dieses wohl am häufigsten<br />
interpretierten <strong>Gedicht</strong>s des Divan meist um die beiden thematischen Pole mit<br />
variierenden Gewichtungen und Vermittlungsversuchen zwischen ihnen – einig<br />
indessen sind sie alle im emphatischen Lobpreis: „[...] das erhabenste Liebesgedicht<br />
der Weltliteratur“, 6 „glänzendstes Beispiel der Liebesphysik<br />
und -metaphysik“, 7 „Gipfel der kosmischen Lehrlyrik“, 8 „abgründigstes und<br />
weitgespanntestes aller <strong>Gedicht</strong>e des Buches Suleika“. 9<br />
Selten ins Blickfeld tritt dagegen der poetologische Aspekt, die Rede<br />
vom Dichter in diesem <strong>Gedicht</strong>, und doch ist sie es letztlich, die überhaupt erst<br />
die Verbindung zwischen kosmogonischem Schöpfungsmythos und persönlichster<br />
Liebesthematik herstellen läßt – dies freilich in einem Sprungtropus<br />
von derart kühner Grandiosität, daß der Bezug entweder nicht zu denken gewagt<br />
wird, oder aber die Vermutung auftaucht, „diese ungeheure, ja wahrhaft<br />
orientalische Hyperbel“ 10 der parabolischen Analogiebildung zwischen der<br />
eigenen Dichterexistenz und jener von Gott im Schöpfungsakt sei als Ironie zu<br />
verstehen. – Wenn denn überhaupt von Dichterexistenz gesprochen werden<br />
kann! Ist doch das sprechende Ich in <strong>Wiederfinden</strong> durchaus ungleich den<br />
meisten andern im Buch Suleika weder über den Titelnamen (,Hatem‘), noch<br />
durch explizite Thematisierungen in seinem Dichterberuf ausgewiesen, auffallenderweise<br />
fehlt die Signatur rollenlyrischen Sprechens in diesem <strong>Gedicht</strong><br />
überhaupt fast ganz, ebenso wie die Transposition in orientalisches Milieu. Der<br />
einzige Orientalismus ist der einmalige Gebrauch des islamischen „Allah“ für<br />
Gott in der Zeile „Allah braucht nicht mehr zu schaffen, / Wir erschaffen seine<br />
Welt.“ (V, 8), der gerade in seiner Isoliertheit wie ein Fremdkörper aufgesetzt,<br />
„künstlich“ wirkt. – Wer spricht, ist ein leidenschaftlich liebendes Ich, und<br />
erzählt wird ein Mythos der Weltwerdung im Sinne eines Gleichnisses. Wie das<br />
Gleichnis zu deuten sei, ist der Gattungsregel gemäß allemal Auslegungssache.<br />
Entscheiden wir uns indessen dazu, den Dichter ins Spiel zu bringen, dann<br />
4 HA, 2, S. 269.<br />
5 ebd.<br />
6 Wilhelm Schneider: Goethe: „<strong>Wiederfinden</strong>“. In: W.S.: Liebe zum deutschen <strong>Gedicht</strong>. 5.<br />
Aufl., Freiburg i.Br. 1963, S. 233.<br />
7 Emil Staiger: Goethe. 3 Bde., Zürich, Freiburg i.Br. 1952-1959, III, S. 52.<br />
8 Friedrich Gundolf: Goethe. Berlin 1917, S. 671.<br />
9 Paul Böckmann: Die Heidelberger Divan-<strong>Gedicht</strong>e. In: Goethe und Heidelberg. Hg. v. Kurpfälzischen<br />
Museum. Heidelberg 1949, S. 222.<br />
10 Hermann August Korff: Goethe im Bildwandel seiner Lyrik. 2 Bde. Leipzig 1958. Bd.2, S.<br />
188.
Michael Böhler: <strong>Poeta</strong> Absconditus, S.4<br />
stellt sich sogleich die Frage, auf welche Elemente des Schöpfungsmythos das<br />
poetologische Motiv zu beziehen sei: Dem alten Topos vom Dichter als alter<br />
deus oder petit dieu entsprechend und an den frühen Prometheus-Hymnus anklingend<br />
auf das zitierte „Allah braucht nicht mehr zu schaffen, / Wir erschaffen<br />
seine Welt“? – Oder auf den in Strophe zwei und drei beschriebenen ersten<br />
Schöpfungsakt Gottes, dem sich der Dichter ungesagt vergleicht, oder auf beide<br />
zugleich? Im Sinne der ,lectio difficilior‘ soll im folgenden die Spur der metaphora<br />
audax verfolgt und die These vertreten werden, die Parallelführung<br />
zwischen göttlichem und poetischem Schöpfungsakt gelte für die ganze Kosmogonie;<br />
sie impliziere damit auch zwei grundsätzlich verschiedene poetische<br />
Schaffenstypologien, und Goethe kontrastiere in <strong>Wiederfinden</strong> über die beiden<br />
Schöpfungsphasen der Weltwerdung den einen Typus des dichterischen Schaffensprozesses<br />
mitsamt dem ihm innewohnenden Leidensdruck mit seinem Gegentypus,<br />
der freilich deutlichen Wunschbildcharakter trage.<br />
II.<br />
„Enthüllung ohne jede Schranke“ oder „Vermummung“? – „Ist es möglich! ...“<br />
<strong>Das</strong> <strong>Gedicht</strong> entstand am 24. September 1815 in Heidelberg. Einen Tag zuvor<br />
waren die Willemers, d.h. Johann Jakob v. Willemer, seine Tochter Rosette<br />
und Marianne, für Goethe völlig überraschend aus Frankfurt herreisend – Goethe<br />
nachreisend – in Heidelberg eingetroffen. Die Zeit vom 12. August bis zum<br />
17. September hatten die Willemers, Goethe und Sulpiz Boisserée auf der Gerbermühle<br />
bei Frankfurt verbracht. Es war der zweite Sommer in Frankfurt und<br />
auf der Gerbermühle gewesen, wo sich im ersten Jahr jene freundschaftlichen<br />
Kontakte zu den Willemers angebahnt hatten, die sich dann im zweiten Jahr<br />
intensivierten und die berühmte Liebesbegegnung zwischen Goethe und Marianne<br />
in sich einschlossen. Die Tagebücher von Goethe und Sulpiz Boisserée<br />
berichten aus dieser Zeit von geselligem Beisammensein, Besuchen, Musik,<br />
Lesen von <strong>Gedicht</strong>en aus dem Divan. Über die Tagebuchberichte hinaus und<br />
das, was sich allenfalls noch aus dem späteren Briefwechsel zwischen Marianne<br />
und Jakob von Willemer mit Goethe erschließen läßt, geben die biographischen<br />
Quellen und Dokumente nur höchst spärlichen Aufschluß über die Begegnung<br />
zwischen den beiden. Alles uns noch <strong>Zu</strong>gängliche spielt sich somit im<br />
poetischen Medium der Divan-Dichtung ab, wozu neben <strong>Goethes</strong> eigenen<br />
<strong>Gedicht</strong>en und jenen von Marianne freilich auch jene reizvoll verrätselte Form<br />
des Zwiegesprächs in Chiffren-<strong>Gedicht</strong>en gehört, worin Marianne und Goethe<br />
mit numeriertem Zeilenmaterial aus Hammer-Purgstalls Diwan-Übersetzung<br />
des Hafis Botschaften austauschten, wie es Goethe wiederum im <strong>Gedicht</strong><br />
Geheimschrift thematisiert: 11<br />
11 WA I, 6, S. 191.
Michael Böhler: <strong>Poeta</strong> Absconditus, S.5<br />
[...]<br />
Mir von der Herrin süße<br />
Die Chiffer ist zur Hand,<br />
Woran ich schon genieße,<br />
Weil sie die Kunst erfand;<br />
Es ist die Liebesfülle<br />
Im lieblichsten Revier,<br />
Der holde, treue Wille<br />
Wie zwischen mir und ihr.<br />
[...]<br />
Ist unbedingten Strebens<br />
Geheime Doppelschrift,<br />
Die in das Mark des Lebens<br />
Wie Pfeil um Pfeile trifft.<br />
Was ich euch offenbaret,<br />
War längst ein frommer Brauch,<br />
Und wenn ihr es gewahret,<br />
So schweigt und nutzt es auch.<br />
„Wiederholte Spiegelungen“ eines Verbergenden Enthüllens finden hier statt:<br />
Die authentisch verbürgte chiffrierte Verschlüsselung von Botschaften durch<br />
Marianne im poetischen Medium von Hammer-Purgstalls Diwan-Übersetzung<br />
wird vom Dichter in Geheimschrift einerseits enthüllend preisgegeben und<br />
gleich wieder verschlüsselt zurückgespiegelt im möglichen Selbstbezug auf<br />
den eigenen Divan und dem andeutungsweise enthüllenden Wink an die Angesprochenen,<br />
auch diesen als verschlüsselten Text zu lesen, „Geheime Doppelschrift,<br />
/ Die in das Mark des Lebens / Wie Pfeil um Pfeile trifft“.<br />
Am 18. September war Goethe mit Boisserée aus Frankfurt Richtung<br />
Heidelberg abgereist, um dort mit dem Herzog Carl August zusammenzutreffen;<br />
der Abschied, wenn nicht für immer, so doch für diese Reise endgültig<br />
gedacht. Auf Veranlassung von Boisserée und ohne Wissen <strong>Goethes</strong> folgten<br />
ihnen indessen die Willemers am 23. September nach; auf der Reise entstand<br />
Mariannes berühmtes <strong>Gedicht</strong> Was bedeutet die Bewegung...? Über das Wiedersehen<br />
selbst, dessen unmittelbarer poetischer Niederschlag das <strong>Gedicht</strong><br />
<strong>Wiederfinden</strong> ist, berichtet wiederum Boisserée: „Mittags, als wir bei Tische,<br />
kömmt Willemer unerwartet. Ich hatte ihm, weil der Herzog immer erwartet<br />
wurde, am Montag zu kommen geschrieben. Nachdem wir eine kurze Weile<br />
gesessen und uns von der ersten Überraschung erholt, springt Goethe plötzlich<br />
auf, ich folge ihm in sein Zimmer, er sagt: Wir können doch nicht essen, während<br />
die Frauen im Gasthof warten. <strong>Das</strong> gibt ein precipicio von der ersten Sorte!<br />
Ich ging hin zu den Frauen, und erst als ich sie bringe, setzt sich Goethe wieder<br />
zu Tisch.“ 12 Am 26. September reisten die Willemers wieder nach Frankfurt<br />
zurück; darnach sahen sich Goethe und Marianne nicht mehr. Soweit zur Erinnerung<br />
der biographische <strong>Zu</strong>sammenhang.<br />
<strong>Das</strong> sechsstrophige <strong>Gedicht</strong> <strong>Wiederfinden</strong> ist einerseits symmetrisch um<br />
die Mittelachse nach der dritten Strophe angelegt, andererseits gliedert es sich<br />
in einen äußern und innern Ring von zwei bzw. vier Strophen. Die erste und<br />
letzte Strophe, welche den äußeren Ring bilden, lassen sich unmittelbar auf das<br />
unerwartete Wiedersehen am 23. September in Heidelberg beziehen. Mit der<br />
subjektiv-persönlichen Sinnsphäre der Rahmenstrophen kontrastiert sodann der<br />
innere Ring von vier Strophen, der dem überpersönlich kosmischen Mythos<br />
12 Boisserée: Tagebuch vom 23.9.1815.
Michael Böhler: <strong>Poeta</strong> Absconditus, S.6<br />
von der Schöpfung der Welt gilt. Der Ausruf „Ist es möglich!“, womit das <strong>Gedicht</strong><br />
einsetzt, hat in seiner unverkennbaren Nähe zur alltagssprachlichen Redensart<br />
spontaner Überraschung geradezu den Charakter eines Selbstzitats aus<br />
der Wiedersehensszene. Auch wenn er in seiner Authentizität nicht bezeugt ist,<br />
signalisiert er authentisches Erleben – und entspricht im übrigen der auch in<br />
<strong>Gedicht</strong>en von Marianne vereinzelt beobachtbaren Praxis, authentische Äußerungen<br />
<strong>Goethes</strong> zitierend aufzugreifen, so zum Beispiel in ihrem <strong>Gedicht</strong> <strong>Zu</strong><br />
den Kleinen zählt man mich, 1. Str., 2. Z.: „Liebe Kleine nennst du mich“ und<br />
dem Refrain „Lang wie breit und breit wie lang“, eine nach Pyritz „von Goethe<br />
gern gebrauchte Gesprächsformel“. 13 <strong>Zu</strong>gleich – darauf hat Carl Friedrich v.<br />
Weizsäcker in einem feinhörigen Vergleich mit dem „Ist's möglich, daß ich<br />
Liebchen dich kose, / Vernehme der göttlichen Stimme Schall!“ im „anapästisch<br />
rasch fließenden“ Responsions-Vierzeiler auf Hochbeglückt in deiner<br />
Liebe... „aus glücklichen Tagen des Beisammenseins“ hingewiesen – ist die<br />
Frage hier „tödlicher Ernst, der Schritt des Verses ist in Trochäen, der Ton liegt<br />
auf dem ersten Wort: Ist. Ist es möglich?“ 14<br />
Freilich wird der biographische Situationsbezug in der unmittelbar auf<br />
den Ausruf „Ist es möglich!“ folgenden Gestirnsmetaphorik „Stern der Sterne, /<br />
Drück' ich wieder dich an's Herz!“ sogleich im poetischen Medium allegorischmetaphorischer<br />
Figurenbezüge aufgefangen, und in solcher Gestirnsfigurativik<br />
im Verein mit einer auf <strong>Goethes</strong> Farbenlehre bezogenen Farbmetaphorik, die<br />
das <strong>Gedicht</strong> an ein ganzes Netz symbolischer Sinnbezüge bindet, bewegt sich<br />
auch die zweite Anrede an die Geliebte in der letzten Strophe: „So, mit rosenrothen<br />
Flügeln, / Riß es mich an deinen Mund, / Und die Nacht mit tausend<br />
Siegeln / Kräftigt sternenhell den Bund.“<br />
„Vermummung“ also, oder „Enthüllung ohne jede Schranke“? – Mit<br />
der Entdeckung der biographischen <strong>Zu</strong>sammenhänge zwischen der Divan-<br />
Dichtung, Goethe und Marianne v. Willemer durch Herman Grimm und deren<br />
Publikation im Aufsatz über Goethe und Suleika (1869) setzte jene Lektüre ein,<br />
die den Divan und so auch <strong>Wiederfinden</strong> primär in biographischem Rückbezug<br />
und als Erlebnislyrik las. Zeugnis davon ist etwa Konrad Burdachs Kommentar<br />
zu <strong>Wiederfinden</strong> in der Jubiläumsausgabe: „Am 24. Sept. 1815, dem Morgen<br />
nach Mariannens Eintreffen, auf dem Heidelberger Schloß gedichtet. Leidenschaftliches,<br />
erhabenes Bekenntnis der Empfindung für die wiedergefundene<br />
Geliebte.“ Und zur letzten Strophe: „Die neue, Mund auf Mund bekräftigte<br />
Liebesvereinigung mit Marianne, tatsächlich geschlossen in der Tagesfrühe an<br />
paradiesischer Stelle [...]. 15 Im Bestreben, die „menschliche Tragödie“ wieder<br />
13 Hans Pyritz: Marianne von Willemer. Vortrag. Mit einem Anhang: <strong>Gedicht</strong>e Mariannes<br />
von Willemer. Berlin 1944, S. 43.<br />
14 Carl Friedrich von Weizsäcker: Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur geschichtlichen<br />
Anthropologie. 6.Aufl., München und Wien 1978, S. 347f.<br />
15 <strong>Goethes</strong> sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe. Hg. v. E. von der Hellen. 40 Bde. Stuttgart<br />
und Berlin 1902-1912. Bd. V: West-östlicher Divan. Hg. v. K. Burdach. 1905, S. 396, 398.
Michael Böhler: <strong>Poeta</strong> Absconditus, S.7<br />
bloßzulegen, die hinter dem Divan stehe, und die zu verhüllen Goethe die <strong>Gedicht</strong>e<br />
absichtlich und aus „menschlichen, nichtkünstlerischen Gründen“ in<br />
schwer durchschaubarer Weise angeordnet habe, unterschied H. A. Korff zwischen<br />
einer „natürlichen“, d.h. chronologischen, und einer „künstlichen Reihenfolge“<br />
der <strong>Gedicht</strong>e. 16 Und erst aus der Restitution der ersteren lasse sich<br />
u.a. auch begreifen, „was das plötzliche Wiedersehen bedeuten mußte, mit dem<br />
Willemers Goethe am 23. September in Heidelberg überraschten. Es war der<br />
Herzstoß in eine kunstvoll aufrechterhaltene Fassung. Es riß die Dämme ein,<br />
mit denen sich Goethe gegen die drohende Überflutung durch die Leidenschaft<br />
geschützt hatte. Es machte aus dem seligen Spiel einen vielleicht noch seligeren<br />
Ernst – aber auch eine menschliche Tragödie, der nur Goethe, nicht aber<br />
Marianne mehr gewachsen war.“ 17 Ihren Höhepunkt erfuhr diese das Werk auf<br />
die authentische Begegnung <strong>Goethes</strong> und Mariannes beziehende Deutung in<br />
Pyritz' „biographischer Studie“, die in der Rekonstruktion des „Liebesromans“<br />
18 bzw. des „psychologischen Romans“ 19 wohl am weitesten gegangen<br />
ist und wo es zu <strong>Wiederfinden</strong> heißt: „Ein jubelnder Rausch der Vereinigung<br />
strömt hier mit der Nachgewalt des Trennungsschmerzes und mit dem Schauder<br />
vor der abermaligen Scheidestunde in den dunklen Wirbel eines demiurgisch<br />
gestimmten Grundgefühls zusammen [...]. Sein Leid, die Qual der Einsamkeit,<br />
wird zum Urleiden der Welt erhöht; sein Glück, die Wonne desWiederverbundenseins,<br />
zum Urtrieb des Weltprozesses gesteigert.“ 20 Daß die biographischen<br />
Geschehnisse nicht ohne <strong>Zu</strong>griff auf die Dichtung erschlossen<br />
werden können – womit wiederum die Deutung der Dichtung aus dem Erlebten<br />
heraus problematisch wird –, konzediert indessen selbst Pyritz: „Von dem entrückten<br />
Spiel aber, das jetzt zwischen Goethe und Marianne anhebt wie zwischen<br />
bewußtlos Wandelnden und doch auf einer Stufe der höchsten Klarheit<br />
sich vollzieht – von ihm legt allein der Divan, und in leisen Nachklängen der<br />
spätere Briefwechsel Zeugnis ab.“ 21<br />
An Gegenbewegungen zu solcher Fixierung der Dichtung auf Lebensumstände<br />
fehlt es freilich nicht. In z.T. polemischer Entgegensetzung zu Pyritz<br />
und anderen hält Böckmann fest: „[Wir...] können sie [die Liebesgedichte]<br />
nicht als unmittelbaren Gefühlsausdruck einer momentanen Erregung auffassen<br />
[...] niemals meint das <strong>Gedicht</strong> damit die konkreten Anlässe, sondern immer<br />
nur ihre sinnbildlichen Beziehungen. [...] Was wir von dieser Liebe erfahren,<br />
16 Korff, S. 35-39.<br />
17 Korff, S. 109.<br />
18 Hermann August Korff: Die Liebesgedichte des West-östlichen Divans in zeitlicher Folge<br />
mit Einführung und entstehungsgeschichtlichem Kommentar. 2. Aufl., Stuttgart 1949, S.<br />
40.<br />
19 Böckmann, S. 207.<br />
20 Pyritz, S. 44.<br />
21 Hans Pyritz: Goethe und Marianne von Willemer. Eine biographische Studie. 3. Aufl. Stuttgart<br />
1948, S. 34.
Michael Böhler: <strong>Poeta</strong> Absconditus, S.8<br />
erweist sich immer nur dadurch, daß sie sich als wirkliche Liebe im zyklischen<br />
Spiel des metaphorischen Sprechens erfüllt.“ 22 Gegenüber dem leidenschaftlichen<br />
Liebesgeschehen betont Böckmann die heiter gesellige Gesprächskultur<br />
als Grundlage der persönlichen Begegnung zwischen Marianne von Willemer<br />
und Goethe wie auch des Divan als Dichtung insgesamt. In vergleichbarer Vorsicht<br />
vor dem unmittelbaren Situationsbezug verweist Staiger auf das Altvertraute<br />
in Thematik, Motivik und Symbolik von <strong>Wiederfinden</strong>: „Dies alles hat<br />
Goethe längst in seinen chromatischen, osteologischen und botanischen Schriften<br />
ausgeführt. Um so erstaunlicher ist das Feuer – halb Leidenschaft, halb<br />
pädagogischer Eifer – mit dem er seine Lehre vorträgt.“ 23 Und: Man tue „sehr<br />
unrecht, diesen Sommer in tragischer Beleuchtung zu sehen. Die Dokumente<br />
reden unzweideutig eine andere Sprache.“ Alles bleibe „geschützt durch orientalisches<br />
Kostüm.“ 24 – Es scheint fast, als wäre Hofmannsthals Alternative von<br />
„Vermummung“ oder „Enthüllung ohne jede Schranke“ des Divan zum akademischen<br />
Streitfall für Gelehrte im unwirtlichen, weil unlösbaren ästhetischen<br />
Glaubens-Dilemma von Kunstautonomie und Wirklichkeitsbezogenheit geworden,<br />
der auch dadurch nicht gelöst werden kann, daß der ästhetische Schein<br />
schon in die Lebenswirklichkeit der Begegnung selbst hineingenommen wird,<br />
wie dies Adolf Muschg nahelegt: „Die Wahrheit dieser Liebe war nicht Lüge,<br />
aber Schein – um diesen Preis mutet uns heute noch der wunderbare Schein<br />
des ,West-östlichen Divan‘ wie eine Wahrheit an. [...] gerade die Form, die<br />
diese <strong>Gedicht</strong>e kraft der Erschütterung ihres vorbereiteten schönen Scheins<br />
gewonnen haben, transzendiert die ,Erlebnisdichtung‘.“ 25<br />
Indessen weist das <strong>Gedicht</strong> selbst einen Weg, der uns weiterführt; wenn<br />
wir nämlich nur erst seinem eigenen rhetorischen Duktus folgen, den es von<br />
den Rahmen- zu den Binnenstrophen durchläuft: Einsetzend im ganz und gar<br />
unmittelbaren Überraschungsmoment des unverhofften Wiedersehens bewegen<br />
sich die Verse der ersten Strophe über eine rasche Empfindungsabfolge von<br />
erinnertem Trennungsschmerz und Wiedersehensfreude zu einem Gefühlsstau,<br />
einer ,Antizipationslähmung‘ gleichsam in den letzten zwei Zeilen, worin künftige<br />
Leidenserfahrung die erlebte erinnernd vorweggenommen wird: „Eingedenk<br />
vergangner Leiden, / Schaudr' ich vor der Gegenwart.“ <strong>Das</strong> „Schaudr'<br />
ich ...“ hat das Ausdruckstimbre einer Aposiopese, deutet das Verstummen und<br />
den Redeabbruch im Moment der Gefühlsüberwältigung an. Der Übergang zur<br />
zweiten Strophe sodann mit ihrem Schauplatzwechsel ist abrupt und bestätigt<br />
im völligen Neubeginn umso beredter das Verstummen des sprechenden Ichs<br />
22 Böckmann, S. 208f., 216.<br />
23 Emil Staiger: Goethe, III, S. 52f.<br />
24 Emil Staiger: Goethe, III, S. 42.<br />
25 Adolf Muschg: Goethe als Emigrant. <strong>Zu</strong>m ,West-östlichen Divan‘. (1982) In: A.M.: Goethe<br />
als Emigrant. Auf der Suche nach dem Grünen bei einem alten Dichter. Franfurt a.M. 1986,<br />
S. 86.
Michael Böhler: <strong>Poeta</strong> Absconditus, S.9<br />
in der ersten: „Als die Welt im tiefsten Grunde / Lag an Gottes ew'ger Brust, /<br />
Ordnet' er die erste Stunde / Mit erhabner Schöpfungslust“. Offenkundig ist<br />
auch das Moment der Distanzgewinnung von der Gemütsbewegung der ersten<br />
Strophe durch die übergangslose synekdochische Verschiebung des Themas<br />
auf die allgemeinst-mögliche Abstraktebene der Weltentstehung sowie durch<br />
den poetischen Gattungswechsel ins Medium eines epischen Erzählstils aus der<br />
überwältigenden Gegenwärtigkeit des Momentangeschehens hinaus und hinüber<br />
in das „Als...“ eines vorzeitlich-überzeitlichen Mythenberichts. Nicht nur<br />
dies: <strong>Zu</strong>gleich vollzieht sich im Übergang von der ersten zur zweiten Strophe<br />
die Verwandlung eines erlebenden, erschütterten Ichs in einen Erzähler, des<br />
liebend leidenden Menschen in den Dichter, die Transfiguration von Leben in<br />
Kunst. Wie sich Leben und Kunst vermitteln, Leben in Kunst vermittelt, sagt<br />
das <strong>Gedicht</strong> also selber aus. Es ist die aus Torquato Tasso vertraute Transfiguration:<br />
„[...] ließ im Schmerz mir Melodie und Rede, / Die tiefste Fülle meiner<br />
Not zu klagen“ (V, 5, v. 3430f.); die hier im Tasso wie wiederum im Motto zu<br />
Marienbader Elegie in Trilogie der Leidenschaften erscheinende Formel: „Und<br />
wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, / gab mir ein Gott zu sagen, was<br />
[wie] ich leide.“ <strong>Das</strong> ganz und gar Kühne ist an dieser Stelle indessen, daß der<br />
Mythos von <strong>Wiederfinden</strong> in seinem ersten Teil darauf hinaus läuft ,zu sagen,<br />
wie Gott leidet‘: „Einsam Gott zum erstenmal!“ Und auch der Grund für dieses<br />
Leiden an der Einsamkeit wird genannt; es ist der Schöpfungsakt selbst aus der<br />
Macht des Wortes: „Und er sprach das Wort: ,Es werde!‘ / Da erklang ein<br />
schmerzlich Ach!“ <strong>Das</strong> Leiden Gottes und das des Dichters ist eins und dasselbe:<br />
Die Einsamkeit des schöpferischen Wesens. Sein Leiden am logothetischen<br />
Akt des Schaffens im Wort und durch das Wort. Und so lautet denn auch der<br />
hoffnungsfromme Wunsch des Schlusses: „Und ein zweites Wort: Es werde! /<br />
Trennt uns nicht zum zweitenmal.“<br />
III.<br />
„[...] der Welt inniger, als sich sagen läßt, verbunden“:<br />
Nicht mit strenger Konsequenz, aber doch jeweils deutlichem Schwergewicht<br />
enthalten die einzelnen Strophen der Kosmogonie je einen thematischen<br />
Grundgedanken: Strophe zwei und drei (übergehend noch in Vers eins und<br />
zwei der vierten Strophe) bilden zusammen, was man einen Schöpfungsakt<br />
bzw. -mythos der Scheidung nennen kann, wobei die zweite den Schöpfungsakt<br />
mit „Es werde!“ (II, 5) artikuliert, die dritte dessen Folgen als ein Trennungsgeschehnis<br />
schildert: „Und sogleich die Elemente / Scheidend auseinander<br />
fliehn“ (III, 3f.). Strophe vier und fünf sprechen von einer Weltenschöpfung<br />
durch Vereinigung, und wiederum liegt das Gewicht in den beiden Strophen<br />
verteilt auf Schöpfungsakt: „Da erschuf er Morgenröthe“ (IV, 3) und des-
Michael Böhler: <strong>Poeta</strong> Absconditus, S.10<br />
sen Folgen: „Und mit eiligem Bestreben / Sucht sich was sich angehört“ (V,<br />
1f.). Die beiden Schöpfungsakte vollziehen jene Bewegung von Expansion und<br />
Kontraktion, von Diastole und Systole, die Goethe in Maximen und Reflexionen<br />
als „Grundeigenschaft der lebendigen Einheit“ bezeichnet 26 und die auch<br />
im Schöpfungsmythos im achten Buch von Dichtung und Wahrheit 27 zwei Phasenmomente<br />
des Gesamtprozesses ausmachen. <strong>Zu</strong>gleich stehen sie in einem<br />
Verhältnis sowohl der Sukzession wie der Opposition zueinander und bilden<br />
somit die typisch <strong>Goethes</strong>che Denkfigur der Dialektik von Polarität und Steigerung<br />
ab. Denn der erste Schöpfungsprozeß erweist sich als unvollkommen, sind<br />
doch seine Folgen Schmerz, Leiden, wortlose Qual der ins Unendliche zerstreuten<br />
Wirklichkeiten einerseits, der Einsamkeit Gottes andererseits. Erst mit<br />
dem zweiten Schöpfungsakt ist die Weltwerdung ganz und vollkommen, denn<br />
mit dem Prinzip der Vereinigung in Liebe wird die Schöpfung selbst schaffensund<br />
reproduktionsfähig: „Allah braucht nicht mehr zu schaffen, / Wir erschaffen<br />
seine Welt.“ (V, 8)<br />
Über das Thema der Liebe und die Motive von Trennung und Vereinigung<br />
hebt sich nun vordergründig auch der Kontrast von persönlich-subjektiver<br />
Sinnsphäre der Rahmenstrophen und von universell kosmischem Geschehen<br />
der Binnenstrophen in einem Korrespondenzverhältnis mikrokosmischmakrokosmischer<br />
Analogie auf. Formal geschieht dies über die rhetorische<br />
Figur des Gleichnisses, mit dem „So, ...“ als Auftakt zur letzten Strophe angedeutet.<br />
Nicht eindeutig ist dabei entscheidbar, ob sich dieses „So ...“ nur auf<br />
den Vereinigungsmythos der Strophen vier und fünf bezieht, oder ob die Analogiebildung<br />
auf den ganzen Schöpfungsprozeß mit seinen zwei Phasen gerichtet<br />
ist. Meist entscheidet man sich für das erstere, nach Carl F. v. Weizsäcker<br />
spricht das „So ...“ die „platonische Teilhabe, die meqecij aus. Die Morgenröte<br />
ist auch für uns erschaffen.“ 28 Anders dagegen Monika Lemmel: „Die letzte<br />
Strophe von <strong>Wiederfinden</strong> bezieht die Schöpfung auf die im Buch Suleika<br />
geschilderte Liebe, in der Weise, daß sich der gesamte Schöpfungsakt in der<br />
einmaligen individuellen Liebe widerspiegelt und umgekehrt. Damit schließt<br />
sich das <strong>Gedicht</strong>, denn eben dieses individuelle Liebeserlebnis war es, das die<br />
Augen öffnete für die Bedeutung von Trennung und Vereinigung und Liebe für<br />
alles Sein überhaupt und es so symbolisiert. [...] Und Dichtung vollendet nichts<br />
Geringeres als die ganze Schöpfung, indem sie die Gegenwart bereichert um<br />
die Präsenz der Einheit an Gottes ew'ger Brust. Nur in dieser Größenordnung<br />
war die existentielle Verzweiflung aufhebbar und erst mit diesem Griff nach<br />
der gesamten Schöpfung tritt heitere Ruhe ein.“ 29<br />
26 HA, 12, S. 367.<br />
27 HA, 9, S. 351-353.<br />
28 v. Weizsäcker, S. 353.<br />
29 Monika Lemmel: Poetologie in <strong>Goethes</strong> west-östlichem Divan. Reihe Siegen. Beiträge zur<br />
Literatur- und Sprachwissenschaft, Bd. 73. Heidelberg 1987, S. 205, 262.
Michael Böhler: <strong>Poeta</strong> Absconditus, S.11<br />
Eine ganze Reihe von Eigentümlichkeiten und Brüchen des kosmogonischen<br />
Mythos in <strong>Wiederfinden</strong>, nicht nur im Vergleich zur theologischen und<br />
naturphilosophischen Tradition, sondern im Rahmen selbst von <strong>Goethes</strong> eigenem<br />
Denken, lassen indessen die „heitere Ruhe“ als trügerisch und die mikrokosmisch-makrokosmische<br />
Analogieharmonie nicht ganz so bruchlos erscheinen;<br />
im versöhnlich gerundeten Grundtext bewegt sich ein spannungsreicherer<br />
Subtext: Bemerkenswert bereits die ungewohnte Richtung der Gleichnisfunktion,<br />
steht doch nicht etwa der Mikrokosmos persönlich-individueller Liebe<br />
für das makrokosmische Geschehen der Weltenschöpfung, vielmehr dient<br />
umgekehrt in beinahe hybrider – oder verzweifelter – Vertauschung der Weltwerdungsprozeß<br />
zur gleichnishaften Artikulation des subjektiven Geschehens<br />
persönlicher Liebeserfahrung im Zeichen von Trennungsschmerz, Vereinigungsfreude<br />
und Trennungsbefürchtung. Die Verweisrichtung läuft auch konträr<br />
zu der von Goethe in der Ankündigung im Morgenblatt für gebildete Stände<br />
angedeuteten Verweisungsstruktur: „[...] und der Schleier irdischer Liebe<br />
scheint höhere Verhältnisse zu verhüllen“, sind es hier doch die „höheren Verhältnisse“,<br />
welche gerade umgekehrt die Umstände der „irdischen Liebe“, evoziert<br />
in der ersten Strophe, verschleiern.<br />
Im Lichte signifikanter Nuancen und Unterschiede sind auch die zahlreichen<br />
Berührungspunkte zur biblischen Genesis, zu antiken Mythen wie zu<br />
solchen des Neuplatonismus, der Mystik und der Naturphilosophie zu sehen:<br />
Während die Divan-Forschung im allgemeinen die Nähe zu ihnen hervorhebt,<br />
ist nicht zu übersehen, daß Goethe bei z.T. wörtlichen Übernahmen oder Anklängen<br />
entscheidende Verschiebungen oder Umdeutungen vornimmt. Auffallend<br />
beispielsweise, mit welch starker emotionaler Emphase Goethe im Gegensatz<br />
zu aller Tradition den logothetischen Schöpfungsakt der Genesis bei<br />
wörtlicher Übernahme des „Es werde!“ mit der Betonung auf seinen schmerzlichen<br />
Folgen belegt. Carl Friedrich v. Weizsäcker nimmt den Vers: „Da erklang<br />
ein schmerzlich Ach!“ (II, 4) nach dem „Es werde!“ für den „Angelpunkt des<br />
<strong>Gedicht</strong>s. Er spricht das Geburtstrauma der Welt aus. [...] Für die Geschöpfe ist<br />
die Schöpfung nicht Lust.“ Nach v. Weizsäcker ein genuin <strong>Goethes</strong>cher Gedanke,<br />
denn „die drei Religionen der hebräischen Tradition haben Gott nicht<br />
mit der Verursachung des Schöpfungsschmerzes belasten wollen und haben dafür<br />
den Mythos des Sündenfalls eingesetzt.“ 30 Fast noch auffallender ist das<br />
von v. Weizsäcker nicht hervorgehobene und gedeutete Motiv der Einsamkeit<br />
Gottes, das in der christlich-neuplatonischen Tradition ebenfalls fehlt und das<br />
hier bei Goethe überhaupt erst den Anlaß zum zweiten Schöpfungsgeschehen<br />
im Zeichen von Eros bildet. In diesem <strong>Zu</strong>sammenhang ist auch die einzige<br />
größere Textvariante zum <strong>Gedicht</strong> sowie eine Äußerung von Goethe dazu von<br />
höchster Bedeutung – nach Marg läßt sich danach gar von zwei Fassungen<br />
30 v.Weizsäcker, S. 350.
Michael Böhler: <strong>Poeta</strong> Absconditus, S.12<br />
sprechen. 31 Sie bestätigen und verstärken die Vermutung, daß das Einsamkeitsmotiv<br />
im Schöpfungsprozeß der Kosmogonie von <strong>Wiederfinden</strong> einen<br />
zentralen Stellenwert hat: Die frühere Fassung und die des Erstdrucks von Vers<br />
21 in Strophe drei bis zu Beginn von Strophe fünf lauten nebeneinandergestellt<br />
folgendermaßen: 32<br />
Da erscholl in Jammerklagen<br />
Was die Ewigkeit verband<br />
Und in schmerzlich strengen Tagen,<br />
Einsam sich, allein empfand.<br />
Rasch [zuerst: Und] in wilden, wüsten Träumen<br />
Jedes nach der Weite rang,<br />
Starr, in ungemeßnen Räumen,<br />
Ohne Sehnsucht, ohne Klang.<br />
Denn das Oben und das Unten<br />
Ward zum erstenmal geschaut<br />
Unter freyem Himmelsrunde<br />
Tief der Erde Schoos erbaut.<br />
Ach da trennte sich fur immer,<br />
War doch der Befehl geschehn!<br />
Feuerwasser in den Himmel<br />
Wellenwasser in die Seen.<br />
Stumm war alles, still und öde,<br />
Einsam Gott zum erstenmal!<br />
[...]<br />
Stumm war alles, still und öde,<br />
Einsam Gott zum erstenmal!<br />
[...]<br />
Boisserée berichtet von einem Gespräch mit Goethe über „sein <strong>Gedicht</strong> von der<br />
Schöpfung, [...] wo nur ein Gedanke verkehrt war und die ganze Komposition<br />
gestört und verdorben hat. Er fands nachher und warf ihn heraus.“ – Freilich<br />
ohne den falschen Vers zu nennen. 33 Nach Marg stehen der ursprünglichen<br />
Fassung Ovids Metamorphosen und insbesondere eine Stelle aus der Ars amatoria<br />
bis in einzelne Formulierungen hinein Gevatter. 34 Dort sind es indessen<br />
die Menschen, die auf einsamem Lande umherirren. 35 Und genau diesen Gedanken<br />
finden wir auch bei Goethe noch in der ersten Fassung des <strong>Gedicht</strong>s:<br />
„Da erscholl in Jammerklagen / Was die Ewigkeit verband / Und in schmerzlich<br />
strengen Tagen, / Einsam sich, allein empfand.“ Durch die Änderung wird<br />
jedoch nicht lediglich eine allenfalls nur stilistisch störende Wiederholung<br />
von ,einsam‘ am Zeilenbeginn von III, 8 und V, 2 (in der ersten Fassung hatte<br />
das <strong>Gedicht</strong> eine Strophe mehr) eliminiert, die Einsamkeit Gottes erhält vielmehr<br />
ein ganz anderes Gewicht, das Gewicht von Höhepunkt und Peripetie im<br />
dramatischen Schöpfungsgeschehen. Wenn es dagegen neu von den Wesenheiten<br />
heißt: „Jedes nach der Weite rang, / Starr, in ungemeßnen Räumen, / Ohne<br />
Sehnsucht, ohne Klang“, so schafft das explizite Fehlen von Sehnsucht, das<br />
31 Walter Marg: <strong>Goethes</strong> „<strong>Wiederfinden</strong>“. In: Euphorion 46 (1952), S. 63-66.<br />
32 Goethe: West-östlicher Divan. Kritische Ausgabe der <strong>Gedicht</strong>e mit textgeschichtlichem<br />
Kommentar von Hans Albrecht Maier. 2 Bde., Tübingen 1965.<br />
33 Boisserée: Tagebuch, 3.10.1815.<br />
34 Marg, S. 67-71.<br />
35 Ovid: Ars amatoria, v. 467 ff.
Michael Böhler: <strong>Poeta</strong> Absconditus, S.13<br />
resonanzlose Auseinanderfliehen der Elemente einen zusätzlichen Kontrapunkt<br />
zur Einsamkeit Gottes: Einsamkeit ist ein Alleinsein voller Sehnsucht nach<br />
dem Andern. Ebenfalls in der Ars amatoria findet sich die Topologie von Oben<br />
und Unten, von Himmel und Erde, die in der ursprünglichen Fassung den Inhalt<br />
von Strophe vier bestimmte, und auch diese dualistische Vorstellung muß<br />
es gewesen sein, die Goethe im Rahmen seines <strong>Gedicht</strong>s als „verkehrten Gedanken“<br />
empfand, da sie mit seinem dynamischen Weltbild einer Schöpfungs-<br />
Dialektik von Expansion und Kontraktion kollidierte.<br />
Die ausgeprägte Besonderheit von <strong>Goethes</strong> Kosmogonie in <strong>Wiederfinden</strong><br />
bestätigt sich des weitern auch im Umfeld der zeitgenössischen Naturphilosophie,<br />
wo Horst Haller auf die große Nähe des <strong>Gedicht</strong>s zu Gedanken<br />
Schellings, insbesondere zu dessen Freiheitsschrift und zum Vortrag Über die<br />
Gottheiten von Samothrake aufmerksam gemacht hat. 36 Auch da fällt gerade<br />
bei der hohen Übereinstimmung im Ganzen umso mehr die Abweichung im<br />
Detail auf. In den Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der<br />
menschlichen Freiheit... ist zwar von einem „Grund der Dunkelheit“, einem<br />
„Quell der Traurigkeit“ in Gott die Rede, die hier aber nicht etwa aus einer<br />
Einsamkeit über die Entzweiung im Schöpfungsprozeß entspringt und die auch<br />
„nie zur Wirklichkeit kommt, sondern nur zur ewigen Freude der Überwindung<br />
dient.“ 37 Schließlich kontrastiert die Kosmogonie in <strong>Wiederfinden</strong> selbst mit<br />
<strong>Goethes</strong> eigenem Schöpfungsmythos im 8. Buch von Dichtung und Wahrheit.<br />
Denn dort wird die Expansionsbewegung des Auseinanderstrebens im Zeichen<br />
des Lichts als der Schöpfung „bessere Hälfte“ bezeichnet und zur „einseitigen<br />
Richtung Luzifers“ in der „Konzentration“ auf sich selbst ausschließlich positiv<br />
bewertet 38 – dies in auffallendem Gegensatz zur schmerzvoll vereinsamen-<br />
36 Horst Haller: <strong>Goethes</strong> <strong>Gedicht</strong> „<strong>Wiederfinden</strong>“. Ein Beitrag zur Quellenfrage seiner Kosmogonie.<br />
In: Pädagogische Rundschau 15 (1961), S. 101-104.<br />
Für weitere Hinweise zum Motivfeld ,Schöpfungsmythos / Schaffensprozeß / Einsamkeit‘<br />
im Umkreis der Romantik bin ich Ulrich Stadler zu Dank verpflichtet.<br />
37 „Auch in Gott wäre ein Grund der Dunkelheit, wenn er die Bedingung nicht zu sich machte,<br />
sich mit ihr als eins und zur absoluten Persönlichkeit verbände. Der Mensch bekommt<br />
die Bedingung nie in seine Gewalt, ob er gleich im Bösen darnach strebt; sie ist eine ihm<br />
nur geliehene, von ihm unabhängige; daher sich seine Persönlichkeit und Selbstheit nie<br />
zum vollkommenen Actus erheben kann. Dieß ist die allem endlichen Leben anklebende<br />
Traurigkeit, und wenn auch in Gott wenigstens beziehungsweise unabhängige Bedingung<br />
ist, so ist in ihm selber ein Quell der Traurigkeit, die aber nie zur Wirklichkeit kommt, sondern<br />
nur zur ewigen Freude der Überwindung dient. Daher der Schleier der Schwermuth,<br />
der über die ganze Natur ausgebreitet ist, die tiefe unzerstörliche Melancholie alles Lebens.“<br />
Friedrich Wilhelm Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der<br />
menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände. In: Schellings<br />
Werke. Nach der Originalausgabe in neuer Anordnung herausgegeben von Manfred Schröter.<br />
4. Hauptband. Schriften zur Philosophie der Freiheit 1804-1815. München 1927, S.<br />
291.<br />
38 „Da nun das ganze Unheil, wenn wir es so nennen dürfen, bloß durch die einseitige Richtung<br />
Luzifers entstand; so fehlte freilich dieser Schöpfung die bessere Hälfte: denn alles,<br />
was durch Konzentration gewonnen wird, besaß sie, aber es fehlte ihr alles, was durch Expansion<br />
allein bewirkt werden kann; [...] Sie [die Elohim][...] supplierten durch ihren blo-
Michael Böhler: <strong>Poeta</strong> Absconditus, S.14<br />
den Wirkung des Auseinanderfliehns der Elemente in der ersten Weltschöpfungsphase<br />
in <strong>Wiederfinden</strong>. 39 Erstaunlicherweise am nächsten kommt in der<br />
Verbindung des Einsamkeitsmotivs sowohl mit dem des schöpferischen Künstlers<br />
wie dem des Schöpfergottes und der Analogiebildung zwischen den beiden<br />
Clemens Brentanos <strong>Gedicht</strong> Nachklänge Beethovenscher Musik von 1814. 40<br />
Hier heißt es zum Abschluß des <strong>Gedicht</strong>s in Strophe drei: „Selig, wer ohne<br />
Sinne / Schwebt, wie ein Geist auf dem Wasser, / [...] / dem Gott gleich, /<br />
Selbst sich nur wissend und dichtend / Schafft er die Welt, die er selbst ist, / [...]<br />
/ Keinem ward alles, denn jedes / Hat einen Herrn, nur der Herr nicht; / Einsam<br />
ist er und dient nicht, / So auch der Sänger!“ Wiederum radikal anders als <strong>Goethes</strong><br />
<strong>Wiederfinden</strong> ist Brentanos <strong>Gedicht</strong> jedoch ein eigentlicher Hymnus auf<br />
die Einsamkeit, die Isolation des tauben Künstlers Beethoven von der Außenwelt<br />
als das Aufgehen der inneren Klangsphären und Sphärenklänge feiernd –<br />
was ganz besonders stark mit dem klanglos stummen und stillen All in der Einsamkeit<br />
Gottes bei Goethe kontrastiert:<br />
Einsamkeit, du Geisterbronnen,<br />
Mutter aller heil'gen Quellen, [...]<br />
Seit du ganz mich überronnen<br />
Mit den dunklen Wunderwellen,<br />
Hab' zu tönen ich begonnen,<br />
Und nun klingen all die hellen<br />
Sternenchöre meiner Seele [...]<br />
[...]<br />
Gott, wie soll ich doch mein Herz bewahren,<br />
Daß ich deine Schätze sicherstelle,<br />
Also fleht der Sänger und es fließen<br />
Seine Klagen hin wie Feuerbronnen,<br />
Die mit weiten Meeren ihn umschließen;<br />
Doch inmitten hat er Grund gewonnen,<br />
Und er wächst zum rätselvollen Riesen.<br />
Memnons Bild, des Aufgangs erste Sonnen,<br />
Ihre Strahlen dir zur Stirne schießen,<br />
Klänge, die die alte Nacht ersonnen<br />
Tönest du, den jüngsten Tag zu grüßen: [...]<br />
IV.<br />
„[...] nicht anders vermag er sein Inneres preiszugeben, als indem er gleichsam<br />
vor unsern Augen, aufleuchtend in der Glut seines Herzens, aus den Dingen<br />
hervortritt und sogleich sich wieder in die Dinge hinüberwandelt.“<br />
ßen Willen in einem Augenblick den ganzen Mangel [...] Sie gaben dem unendlichen Sein<br />
die Fähigkeit, sich auszudehnen, sich gegen sie zu bewegen; der eigentliche Puls des Lebens<br />
war wieder hergestellt, und Luzifer selbst konnte sich dieser Einwirkung nicht<br />
entziehen. Dieses ist die Epoche, wo dasjenige hervortrat, was wir als Licht kennen, und wo<br />
dasjenige begann, was wir mit dem Worte Schöpfung zu bezeichnen pflegen. (HA 9, S.<br />
39 351f.) Vgl. wiederum Schelling: „Die erste Periode der Schöpfung ist [...] die Geburt des Lichts.<br />
<strong>Das</strong> Licht oder das ideale Princip ist als ein ewiger Gegensatz des finstern Princips das<br />
schaffende Wort, welches das im Grunde verborgene Leben aus dem Nichtseyn erlöst, es<br />
aus der Potenz zum Actus erhebt. Über dem Wort gehet der Geist auf, und der Geist ist das<br />
erste Wesen, welches die finstre und die Lichtwelt vereiniget und beide Principien sich zur<br />
Verwirklichung und Persönlichkeit unterordnet.“ Schelling, S. 296.<br />
40 Clemens Brentano: Werke. Hg. v. Wolfgang Frühwald, Bernhard Gajek und Friedhelm<br />
Kemp. Studienausgabe Hanser, Bd. 1, 2. Aufl., München 1978, S. 308-310. (Den Hinweis<br />
verdanke ich Ulrich Stadler)
Michael Böhler: <strong>Poeta</strong> Absconditus, S.15<br />
Insgesamt deuten die ganz und gar genuinen Besonderheiten des Schöpfungsmythos<br />
in <strong>Wiederfinden</strong> darauf hin, daß die Kosmogonie der vier Binnenstrophen<br />
in ihrer Ganzheit und nicht nur in deren zweitem Teil oder in ihrer<br />
situativen Gestimmtheit in nächster Verbindung mit der persönlich-subjektiven<br />
Sinnsphäre der Rahmenstrophen gelesen werden muß, denn nur so erhalten die<br />
Nuancen und Abweichungen ihre Erklärung. <strong>Das</strong> zentrale Motiv von der Einsamkeit<br />
Gottes insonderheit evoziert einen Anthropomorphismus, der den göttlichen<br />
Schöpfungsakt in unmittelbare Nähe zum kreativen Prozeß des Künstlers<br />
überführt und die Einsamkeit Gottes in Verbindung mit dem Vakuum im<br />
Künstler nach der Entlassung des Geschaffenen aus sich selbst sehen läßt. Dem<br />
folgend müssen wir das <strong>Gedicht</strong> nicht nur als Liebesgedicht und Kosmogonie,<br />
sondern zudem poetologisch als Aussage zum Wesen des poetischen Schaffens<br />
und der Existenzbedingungen des Dichters (Goethe) lesen. <strong>Zu</strong> solcher Lektüre<br />
legitimieren indessen nicht allein die bereits herausgearbeiteten Momente der<br />
synekdochischen Verschiebungsrhetorik von der ersten zur zweiten Strophe<br />
und der spezifischen Besonderheiten in der Kosmogonie von <strong>Wiederfinden</strong>,<br />
sondern auch eine ganze Reihe von thematischen, motivlichen und figurativen<br />
Querbezügen zu <strong>Gedicht</strong>en im Umkreis von <strong>Wiederfinden</strong>: So zu den beiden<br />
im Divan – nur durch Mariannes ,Westwind-<strong>Gedicht</strong>‘ abgetrennt – unmittelbar<br />
voranstehenden <strong>Gedicht</strong>en Hochbild und Nachklang (beide 7.11.1815, Weimar);<br />
dann zu den kurz vor <strong>Wiederfinden</strong> entstandenen Die Sonne kommt! Ein<br />
Prachterscheinen! und Sag, du hast wohl viel gedichtet (beide vom 22.9.1815,<br />
Heidelberg), schließlich auch zum gleichentags entstandenen An vollen Büschelzweigen...<br />
(24.9.1815 Heidelberg).<br />
<strong>Das</strong> motivlich-figurative Netz, das sich in diesem Kontext zeitlicher<br />
Entstehungsnähe und „räumlicher“ Anordnungsnachbarschaft der <strong>Gedicht</strong>e in<br />
der Divan-Sammlung aufbaut, verbindet die poetologische Thematik des Dichtens<br />
mit der Liebesthematik im Zeichen der Geschlechterpolarität, und zwar<br />
derart, daß sich das dichterische Schaffen zugleich als männliches Prinzip zum<br />
Ausdruck bringt: Während Die Sonne kommt! Ein Prachterscheinen! und<br />
Nachklang eine Geschlechtersymbolik im Zeichen der traditionellen Metaphorik<br />
von Sonne und Mond aufbauen, thematisieren Sag, du hast wohl viel gedichtet,<br />
Hochbild und Nachklang das Dichtermotiv, das erstere verschränkt mit<br />
dem Liebesthema, die letzteren beiden zudem mit der Gestirnsmetaphorik von<br />
Sonne und Mond. An vollen Büschelzweigen... schließlich verbindet in deutlicher<br />
erotischer Symbolik den dichterischen Schaffensakt über ein Naturbild<br />
mit dem Zeugungsakt und weist ihn so als männliches Schöpfungsprinzip aus:<br />
„So fallen meine Lieder / Gehäuft in deinen Schoos.“ 41<br />
Die unmittelbar aufeinander folgenden und explizit aufeinander bezogenen<br />
Hochbild und Nachklang entwickeln über die Gestirnsmetapher der<br />
Sonne gleichsam eine Phänomenologie (männlich-)dichterischer Selbstdarstel-<br />
41 WA I, 6, S. 176.
Michael Böhler: <strong>Poeta</strong> Absconditus, S.17<br />
de!“ gelesen werden können. Und in der Tat steht diese zweite Schöpfung ja im<br />
Zeichen eines männlich-weiblichen Schaffens unter dem Gesetz von Eros und<br />
Liebe, das als kollektives Wirken mit dem Pronomen ,wir‘ ausgewiesen wird:<br />
„Wir erschaffen seine Welt.“ – Dürfen wir darin womöglich einen Wink <strong>Goethes</strong><br />
auf jene andere Art einer „Geheimen Doppelschrift“, auf die Tatsache der<br />
mit Marianne geteilten und gemeinsamen Autorschaft von <strong>Gedicht</strong>en im Divan<br />
sehen? Könnte hier der Ansatz zu einem dialogischen Prinzip dichterischen<br />
Schaffens liegen? Werfen wir noch einmal einen Blick auf das biographische<br />
Umfeld, so erscheint eine derartige Vermutung nicht ganz abwegig: <strong>Das</strong> <strong>Gedicht</strong><br />
<strong>Wiederfinden</strong> entsteht am Tag nach der überraschenden Anreise der Willemers.<br />
Wie wir wissen, hat Marianne unterwegs das berühmte Reisegedicht<br />
An den Ostwind: „Was bedeutet die Bewegung?“ gedichtet; es ist dies das erste<br />
ihrer großen <strong>Gedicht</strong>e im Rahmen der Begegnung mit Goethe – sofern nicht<br />
das am 16. September entstandene Hochbeglückt in deiner Liebe, dessen Handschrift<br />
nicht erhalten ist, ebenfalls mindestens in Teilen auf Mariannes Hand<br />
zurückgeht und als ihr ,Abschiedsgedicht‘ zum – dann doch nur vorläufigen –<br />
Abschied vom 18. September betrachtet werden kann. Aber selbst wenn dies<br />
der Fall sein sollte, dürfen wir davon ausgehen, daß Marianne ihr neu entstandenes<br />
großes <strong>Gedicht</strong> „Was bedeutet die Bewegung?“ mit Goethe teilte, daß<br />
also das Wiedersehen auch im Zeichen von Mariannes <strong>Gedicht</strong>(en) gestanden<br />
und daß das erstmalige oder zum zweitenmal wiederholte Ereignis von Mariannes<br />
Ko-Autorschaft in der Welt des Divan das Wiedersehens-Erlebnis entscheidend<br />
mitgeprägt haben muß. Und dann ist auch die weitere Vermutung<br />
nicht von der Hand zu weisen, <strong>Wiederfinden</strong>, das unmittelbar nächste zeitlich<br />
auf Mariannes <strong>Gedicht</strong> folgende <strong>Gedicht</strong> <strong>Goethes</strong>, trage – wenn es schon nicht<br />
eine unmittelbare Antwort auf ihr <strong>Gedicht</strong> sei – doch zumindest einen Reflex<br />
auf Mariannes Autorschaft, ihr Dichtertalent und Dichtertum in sich. Wie denn<br />
nun bekanntlich Goethe selbst sich darüber nie ausließ und sonstige Zeugnisse<br />
bis zur späten Aufdeckung ihrer Autorschaft gegenüber Herman Grimm fehlten,<br />
so hat sich auch die sonst nicht immer nur zurückhaltende, ausgebreitete Goethe-<br />
und Divan-Literatur kaum mit der Frage befaßt, wie das Ereignis von Mariannes<br />
Autorschaft sich unmittelbar auf die Begegnung und auf <strong>Goethes</strong> eigenes<br />
Schaffen ausgewirkt haben mag, ob und wenn ja, welche Spuren davon im<br />
Divan faßbar seien – über den Tatbestand der spätern Aufnahme ihrer <strong>Gedicht</strong>e<br />
in die Sammlung hinaus. 44 Eine dieser Spuren dürfte die Aufspaltung des<br />
Schöpfungsvorgangs in ein allein und machtvoll schaffendes, logothetisches<br />
Schöpfertum, das in Einsamkeit aufgeht, im ersten und ein gemeinsames<br />
Schaffen in Dialog und Liebe im zweiten Teil von <strong>Wiederfinden</strong> sein. Eine an-<br />
44 Korff zum Beispiel schreibt lediglich: „Am nächsten Morgen antwortet Goethe diesem<br />
Sehnsuchtsgedichte Mariannens mit der poetischen Verherrlichung des inzwischen erfolgten<br />
wunderbaren Wiedersehns. Und unmittelbar fühlt man auch von diesem <strong>Gedicht</strong>, daß es<br />
die maskenlose [!] Wahrheit seines Herzens ist. So hatte er zu Marianne noch nie gesprochen<br />
wie in dieser ersten Strophe [von <strong>Wiederfinden</strong>].“ Korff, S. 116.
Michael Böhler: <strong>Poeta</strong> Absconditus, S.18<br />
dere Spur mag in der Anordnung der <strong>Gedicht</strong>e liegen: <strong>Das</strong> Doppelgespann der<br />
beiden aufeinander bezogenen <strong>Gedicht</strong>e Hochbild und Nachklang mit seiner<br />
hohen Gefühlsamplitude zwischen Grandiosität und Melancholie ist eingerahmt<br />
von den beiden Ostwind- / Westwind-<strong>Gedicht</strong>en Mariannes, sodaß sich<br />
eine Abfolge der Autorschaft von Marianne – Goethe / Goethe – Marianne<br />
ergibt, gleichsam die Figur aus dem <strong>Gedicht</strong> Suleika: „Die Sonne kommt! Ein<br />
Prachterscheinen! / Der Sichelmond umklammert sie“ nachvollziehend. Und an<br />
diese Sequenz schließt unmittelbar <strong>Wiederfinden</strong> an, das mit seiner alles beherrschenden<br />
Kontrapunktik von „Und er sprach das Wort: ,Es werde‘!“ des<br />
ersten gegen „Wir erschaffen seine Welt“ des zweiten Teils der Kosmogonie<br />
auf die Synthese einer Verbindung in einem dialogisch männlich-weiblichen<br />
Schaffen hinstrebt.<br />
Freilich ist hier Vorsicht am Platz, muß das ,Darauf-Hinstreben‘ betont<br />
werden. Beachten wir nämlich die Farbensymbolik des den zweiten Teil konstituierenden<br />
Schöpfungsaktes, so gewinnt das dialogische Prinzip wiederum<br />
ambivalente Züge:<br />
Da erschuf er Morgenröte,<br />
Die erbarmte sich der Qual;<br />
Sie entwickelte dem Trüben<br />
Ein erklingend Farbenspiel,<br />
Und nun konnte wieder lieben<br />
Was erst auseinander fiel.<br />
Wohl wird mit der ,Morgenröte‘ eine weibliche Allegorie eingeführt, weiblich<br />
nicht zuletzt auch in ihren Barmherzigkeits-, Mitleids- und Liebesattributen. Im<br />
Rahmen von <strong>Goethes</strong> Farbenlehre ist Morgenröte indessen vor allem ein<br />
Ableitungs- und Mischphänomen: Sonnenlicht, das sich in Stofflichem,<br />
in ,Dünsten‘ bricht, Resonanzgefäß gleichsam der flüchtigen Materie für das<br />
männlich einstrahlende Licht. 45 So auch das synästhetische „erklingend Farbenspiel“,<br />
nach Peter Utz der Vor-Schein von Synthese. 46 Zwar durchaus<br />
Klang und stark mit den vorangehenden Versen „Jedes nach der Weite rang, /<br />
Starr, in ungemeßnen Räumen, / Ohne Sehnsucht, ohne Klang“ kontrastierend,<br />
ist es doch von der Sonne resonierender Klang. So erhält sich in der Figurativik<br />
von Licht und Farbe, Morgenröte und (nicht genannter!) Sonne die Dominanz<br />
45 „Die Sonne, durch einen gewissen Grad von Dünsten gesehen, zeigt sich mit einer gelblichen<br />
Scheibe. Oft ist die Mitte noch blendend gelb, wenn sich die Ränder schon rot zeigen.<br />
Beim Heerrauch [...] und noch mehr bei der Disposition der Atmosphäre, wenn in südlichen<br />
Gegenden der Scirocco herrscht, erscheint die Sonne rubinrot mit allen sie im letzten Falle<br />
gewöhnlich umgebenden Wolken, die alsdann jene Farbe im Widerschein zurückwerfen.<br />
Morgen- und Abendröte entsteht aus derselben Ursache. Die Sonne wird durch eine Röte<br />
verkündigt, indem sie durch eine größere Masse von Dünsten zu uns strahlt.“ (HA 13, S.<br />
363)<br />
46 vgl. Peter Utz: <strong>Das</strong> Auge und das Ohr im Text. Literarische Sinneswahrnehmung in der<br />
Goethezeit. München 1990. S. 170f.
Michael Böhler: <strong>Poeta</strong> Absconditus, S.19<br />
des männlichen Schaffensprinzips. 47 <strong>Das</strong> <strong>Gedicht</strong> <strong>Wiederfinden</strong> mag wohl –<br />
auch dies freilich metaphorisch hoch verschlüsselt – eine Phänomenologie und<br />
Kritik logothetischer Wirklichkeitsschaffung männlich alleiniger Autorschaft<br />
artikulieren. Aber trotz der realen Ko-Autorschaft von Marianne im Divan und<br />
der Proklamation von „Wir erschaffen seine Welt“ in <strong>Wiederfinden</strong> bleibt die<br />
dialogische Alternative nicht eingelöste Utopie, die Schlußzeile: „Und ein<br />
zweites Wort: Es werde! / Trennt uns nicht zum zweitenmal“ Wunschdenken<br />
auch in poetologischer Hinsicht.<br />
47 Eine kürzliche Untersuchung des gesamten Liebesdialogs zeigt, „daß der West-östliche<br />
Divan, welcher zu recht als ein mehrstimmiges Werk [gilt], das der Dimension des Spiels<br />
und der mehrfachen Inszenierung großen Platz einräumt, gerade dort, wo er sich explizit<br />
dialogisch gibt, eigentlich monologisch ist.“ Es scheine, „daß das avantgardistische Wagnis<br />
des poetologischen 'Projekts West-östlicher Divan' den Rückhalt in einer festgeschriebenen,<br />
dem Spielerischen entzogenen hierarchischen Differenz der Geschlechter“ brauche, worin<br />
die Autorschaft männlich besetzt ist und dem weiblichen Gegenüber die Rolle der lesenden<br />
oder zuhörenden ,Rezipientin‘ zukommt. Gabriele Schwieder: „Seine Liebe sei mein Leben“.<br />
Marianne Willemer und <strong>Goethes</strong> Suleika: Der Liebesdialog des West-östlichen Divan:<br />
Ein Dialog über Liebe und Autorschaft. Ungedruckte Lizentiatsarbeit. Zürich 1993, S.<br />
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