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INHALT G<br />

Feuilleton<br />

Lesbenkultur:<br />

Spitzenschürzenjägerin<br />

Effi B. ...<br />

Kartenspiele ... O<br />

Corning out<br />

aus der Zwischenzeit... O ^<br />

Angelina Maccarone<br />

dreht Lesbenfilme für viele ... Q<br />

Lesben in<br />

Daily-Soaps .<br />

Durch die Berliner Lesbenszene<br />

führen I.u Kaiser und Annett Ahrends ... O Q<br />

Rezensionen:<br />

Bücherlips ... { ^<br />

Rubriken<br />

Gesundheit:<br />

Therapickonzept: Urin ...<br />

Mode: Ellen von Unwerths — _.<br />

Kreationen in Buchform .. / _?<br />

Medien: ,-.<br />

20 Jahre »Zeitpunkte« im SFB ... Ö W<br />

Wirtschaft: Arbeit:<br />

Q<br />

Erst orientieren, dann qualifizieren ... O -L<br />

Expertin M. Schwan _<br />

zur Steuerreform ... ö T" n c:<br />

Frauen-Aktienclubs im Kommen ... O J<br />

B'ldun8:<br />

Q r-,<br />

Frauen lesen anders ... O {<br />

Mix: Treff mit Marina, _<br />

transscxuell, lesbisch ... _/ \J<br />

Von der Chance einer Frau gegen Rau ... O<br />

Informationen:<br />

_<br />

Dies und Das & Kleinanzeigen ... 5 t—<br />

Cartoon,<br />

Vorschau und Impressum ... ~> U<br />

Sehr schnell mußte das unmittelbare<br />

Ziel des Natoeinsatzes, das Vertreiben der<br />

Kosovo-Albaner durch das serbische Militär<br />

zu beenden, einer anderen Realität weichen:<br />

Das Ausmaß an Brutalität und Vertreibung<br />

verschärfte sich von Tag zu Tag.<br />

Es wird ihn nicht geben, den schnellen<br />

Frieden für die Kosovo-Albaner und die Serben,<br />

auch wenn ihn sich heute in der achten Woche<br />

nach dem Fall der ersten Nato-Bomben immer<br />

mehr Menschen wünschen.<br />

Nur langsam beginnt die Mauer des<br />

Schweigens zu bröckeln, hinter der bruchstückweise<br />

die unvorstellbar leidvollen Erfahrungen<br />

der Frauen zutage treten, die vergewaltigt<br />

und gedemütigt wurden und bis zum<br />

heutigen Tag dieser Gefahr jederzeit schutzlos<br />

ausgeliefert sind. Sie können helfen, in dem sie<br />

die Arbeit von Medica mondiale unterstützen.<br />

Petra Welzel führte mit der engagierten Frauenärztin<br />

und Feministin der Organisation,<br />

Monika Hauser, ein ausführliches Gespräch<br />

und wird sie Mitte Mai auf ihrer Fahrt in das<br />

Krisengebiet vor Ort begleiten.<br />

Gewalt gegen Frauen und Kinder kennt<br />

keine Grenzen. Die Bundesregierung bezifferte<br />

die l lohe der Kosten, die dem Staat jährlich<br />

durch das Ausüben häuslicher Gewalt entstehen,<br />

auf 29 Milliarden Mark. Allein diese Zahl<br />

macht das Ausmaß des Dilemmas deutlich.<br />

Was erwartet Sie noch in unserer Ausgabe?<br />

Nach einem individuellen Streifzug durch<br />

Osteuropa, führt sie eine Autorin in das Leipziger<br />

Agneshaus. Hier sind junge Mädchen<br />

zu Hause, die <strong>als</strong> Mütter noch zur Schule<br />

gehen. Aus aktuellem Anlaß, daß sich nämlich<br />

seit kurzem die ersten schwullesbischen<br />

Paare ihren Treueschwur mit einem staatlichen<br />

Trauschein in Hamburg besiegeln lassen können,<br />

bekommen vielleicht einige Lust, ihre<br />

Flittcrwochcn in Berlin zu verbringen. Lu<br />

Kaiser machte sich mit der Fotografin Annett<br />

Ahrends auf den Weg, und sie haben für Sie<br />

eine heiße und spannende Spur gelegt.<br />

Bei aller Zerrissenheit in diesen Tagen<br />

/wischen Krieg und Frieden, bleiben Sie uns<br />

gewogen und empfehlen Sie uns weiter. Wir<br />

habens nötig, um nicht die Segel streichen<br />

zu müssen.<br />

2)1999


TITEL<br />

Albanische Mutter mit ihrem Kind<br />

Foto: Marco Limbe.rg<br />

Osteuropa! Osteuropäische Frauen!<br />

Es sollte eine kleine Erfolgsgeschichte werden.<br />

Cut zehn Jahre nach den politischen<br />

Wenden, nach der polnischen Soüdarnosc,<br />

der russischen Perestroika, der Auflösung<br />

des Warschauer Paktes und der deutschen<br />

Wiedervereinigung wollten wir gen Osten<br />

blicken und sehen, was die Osteuropäerinnen<br />

im vergangenen Jahrzehnt auf die Beine<br />

gestellt haben. Wie sieht heute der Alltag der<br />

Frauen im Osten aus? Welche Chancen haben<br />

heute Polinnen, Russinnen, Ukrainerinnen,<br />

Rumäninnen etc., aus ihrem Leben etwas zu<br />

machen? Vor allem, welche Möglichkeiten<br />

stehen ihnen zuhause offen? Es dürfte doch<br />

kaum der Traum jeder Polin sein, in einem<br />

deutschen Haushalt aufzuräumen, oder das<br />

Ziel einer Russin, sich auf deutschen Autorouten<br />

<strong>als</strong> Prostituierte zu verdingen? Oder<br />

könnte es aber sein, daß diese Frauen sich<br />

auch auf diesen Wegen Schritt für Schritt in<br />

einer gewandelten Realität emanzipieren?<br />

Wie auch immer, es sollten jedenfalls<br />

Geschichten von Erfolgen sein, die wir uns<br />

vorstellten, <strong>als</strong> wir dieses Heft planten. Nicht<br />

die bekannten Stories von den armen, unterdrückten<br />

Frauen im Osten, die im Westen<br />

für ihre Familien putzen und anschaffen<br />

gehen müssen. Von schlitzohrigen Geschäftsfrauen<br />

wollten wir berichten, von kleinen oder<br />

großen Frauen mit noch viel größeren Ideen,<br />

erfolgreichen Künstlerinnen, aber auch von<br />

denen, die ihren Platz außerhalb ihres Landes<br />

hier in Deutschland gefunden haben<br />

oder gleich die ganze Welt erobern wollen.<br />

Mittenrein platzten die Nato-Bomben im<br />

Kosovo.<br />

Inzwischen geht der Krieg in den dritten<br />

Monat, und mit jeder Nacht, in der die Nato<br />

Hunderte von Einsätzen fliegt, wird ein Stück<br />

mehr vom Balkan zerstört, auf dem Frauen<br />

und Männer trotz nation<strong>als</strong>taatlicher Bestrebungen<br />

friedlich hätten miteinander leben<br />

können. Innerhalb von zehn Jahren, ist es nun<br />

schon der zweite Krieg, der die Bevölkerung<br />

um Jahrzehnte in ihrer Entwicklung, nicht nur<br />

wirtschaftlich, sondern auch gesellschaftlich<br />

zurückwirft: Ein ganzes Volk, das der Kosovo-<br />

Albaner, ist auf der Flucht und seine Rückkehr<br />

noch längst keine ausgemachte Sache. Selbst<br />

wenn dieser Krieg zuende ist, ist ihr Land zerstört,<br />

sind ihre Häuser abgebrannt und ganze<br />

Dörfer dem Boden gleich gemacht.<br />

Wir haben uns den aktuellen Zeitläufen<br />

nicht verschlossen, und unsere Autorinnen<br />

trotzdem Erfolgsgeschichten schreiben lassen.<br />

Kleine, denn die großen zeichnen sich erst ab.<br />

Es gibt Rückblicke, Analysen und teils persönliche<br />

Beobachtungen. Aber sie alle ändern<br />

eins nicht: Es ist Krieg in Europa.<br />

211999


TITEL<br />

Lina<br />

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L iilo<br />

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ic<br />

Die Gynäkologin Monika Hauser gründete 1993 im bosnischen Zenica ein<br />

Frauentherapiezentrum<br />

für kriegstraumatisierte Frauen. Dam<strong>als</strong> war sie die erste Person aus dem Westen, die steh vor Ort<br />

für eine humanitäre Lösung einsetzte und sich vor altem mit den Frauen solidarisierte.<br />

Anfang April fuhr sie zum ersten Mal nach Albanien, um dort eine sofortige Krisenintervention<br />

für die Kosovarinnen zu koordinieren. Und sie fordert: Milosevic muß weg.<br />

weibblick: Frau Hauser, Sie sind Anfang<br />

April für 10 Tage nach Tirana und an die<br />

albanische Grenze zum Kosovo gefahren.<br />

Was genau haben Sie dort gemacht?<br />

Monika Hauser: Wir wollten wissen, wie die<br />

Situation der kosovo-albanischen Flüchtlingsfrauen<br />

ist, was sie berichten, was sie erlebt<br />

haben und drittens, was wir machen können.<br />

Was wir zunächst angetroffen haben, war ein<br />

absolutes Chaos. Das heißt, die humanitäre<br />

Hilfe war überhaupt nicht organisiert, zumindest<br />

in Albanien. Das ist auch mein Vorwurf,<br />

daß die Bombardierungen begonnen wurden,<br />

ohne zeitgleich die humanitäre Hilfe vorzubereiten.<br />

Dementsprechend waren keine<br />

Auffanglager, weder genügend Essen noch<br />

Medikamente für die Flüchtlinge vorhanden.<br />

Die Menschen sind buchstäblich über die<br />

Grenzen geströmt und sitzen jetzt da auf den<br />

Straßen. Ich denke nicht, daß man sich eins<br />

zu eins auf diese Lage hätte vorbereiten können.<br />

Selbst wenn man weiß, was Milosevic seit<br />

acht fahren im Kosovo betreibt, war wirklich<br />

nicht vorhersehbar, mit welchem Tempo er<br />

einen derartigen Massenexodus verursacht.<br />

Dennoch war zu erwarten, daß es Flüchtlingsbewegungen<br />

geben wird.<br />

Wir fordern deshalb psychosoziale und<br />

gynäkologische Betreuung von Anfang an.<br />

Selbstverständlich müssen die Frauen erstmal<br />

ein Dach über dem Kopf haben und<br />

etwas zu essen für sich und ihre Kinder, erst<br />

dann kann ich an unser Programm denken.<br />

Aber damit muß unmittelbar danach begonnen<br />

werden. Alle Hilfsorganisationen müssen<br />

mehr Koordination zeigen. Wir kooperieren<br />

jetzt mit einer tiranischen Frauenorganistation,<br />

die vor Ort ein psychosoziales Projekt, <strong>als</strong>o<br />

eine psychologische Krisenintervention für<br />

Frauen aufbauen werden. Zudem werden wir<br />

einen Ambulanzwagen zur gynäkologischen<br />

Betreuung einsetzen.<br />

Mittlerweile liegen anscheinend glaubhafte<br />

Beweise vor, daß KosovoAlbanerinnen systematisch<br />

von serbischen Soldaten vergewaltigt<br />

werden. Was haben Ihnen die Frauen<br />

erzählt, mit denen Sie in den Flüchtlingscamps<br />

gesprochen haben?<br />

Aus den Aussagen derjenigen Frauen, die<br />

Gewalt selbst erlebt haben, und den Berichten<br />

derjenigen, die Augenzeugen von Gewalttaten<br />

sind, können wir bestätigen, daß es sehr verbreitet<br />

Gewalt gegen Frauen gibt. Allerdings<br />

ist es in der nach wie vor völlig unübersichtlichen<br />

Situation unmöglich, sich ein klares<br />

Bild zu machen. Von massenhaften oder<br />

systematischen Vergewaltigungen würde ich<br />

deshalb zu diesem Zeitpunkt noch nicht<br />

sprechen. Das kann seriöserweise niemand<br />

sagen. Aber aus all dem, was wir gehört haben,<br />

daß serbische Einheiten Dörfer beschossen<br />

haben, eingefallen sind, die moslemischen<br />

Eliten, Männer und Frauen aus ihren Häusern<br />

gezehrt und vor den Augen der anderen<br />

erschossen haben, die letzteren dann in<br />

Lagerhallen zusammengepfercht und die<br />

Frauen unter ihnen herausgeholt wurden<br />

und dann nach einigen Tagen halbtot und<br />

schwerverletzt zurückkehrten, daß Kinder<br />

vor den Augen ihrer Mütter umgebracht<br />

wurden, aus diesen Szenarien läßt sich<br />

schließen, daß vielfach Gewalt gegenüber<br />

Frauen angewendet wird. Aber die Frauen<br />

sprechen noch nicht alle. Zum einen sprechen<br />

sie nicht, weil sie noch unter Schock<br />

stehen. Und zum zweiten, weil sie aus einem<br />

sehr patriarchalen Kontext kommen.<br />

Ich denke, daß der noch patriarchaler ist,<br />

<strong>als</strong> wir das in Bosnien erlebt haben. Und die<br />

Frauen haben noch einen anderen, wichtigeren<br />

Grund zu schweigen: Was sie derzeit in<br />

Tirana, in den Camps erleben - nur Medien,<br />

Medien, Medien, ein Kamerateam nach dem<br />

anderen steckt seine Kamera in die Zelte hinein<br />

und hält sie auf die weinenden Frauen -<br />

sie haben überhaupt gar keine Möglichkeit,<br />

sich zurückzuziehen.<br />

Dieser Vorwurf wurde von Ihnen bereits<br />

im Bosnienkrieg erhoben: Den Medien sei<br />

hauptsächlich daran gelegen, das Grauen<br />

abzubilden und hinterher die Frauen mit<br />

ihren Erlebnissen und Verletzungen alleine<br />

zulassen.<br />

Es ist immer ein Drahtseilakt, auch für<br />

uns. Ich brauche die Medien, weil ich öffentlich<br />

machen will, was wir erlebt haben, was<br />

wir wissen, und zum anderen natürlich, weil<br />

wir Geld brauchen. Aber die Frage ist doch,<br />

wie man arbeitet. Mein Appell heißt deshalb<br />

mehr Selbstdisziplinierung. Die Medien haben<br />

sich in den Flüchtlingslagern gegenseitig<br />

die Klinke in die Hand gegeben, eine Sendeanstalt<br />

nach der anderen aus der ganzen<br />

Welt. Das war einfach nur ekelhaft. »<br />

2 1999


TITEL<br />

Wir haben Geschichten gehört, wo Frauen<br />

nicht mehr zurückgekommen sind. Niemand<br />

weiß, ob sie tot sind, aber wie soll man das<br />

wissen? Jedenfalls sind sie nicht von den<br />

Orten zurückgekehrt, an die man sie verschleppt<br />

hat. Ich habe bisher keinen Anhalt<br />

darüber, ob im Kosovo so viele Frauen wie<br />

in Bosnien umgebracht wurden. Auch dort<br />

wurden Frauen ja schon nach Vergewaltigungen<br />

und im Gefängnis umgebracht,<br />

Aber das ist auch gar nicht der Punkt. Viel<br />

wichtiger ist zu sehen, was da jetzt seit drei<br />

Wochen abläuft, und immer wieder zu sagen,<br />

daß solche Szenarien, wie sie uns beschrieben<br />

werden, die Gewalt gegenüber<br />

Frauen einschließt, auch wenn wir noch<br />

keine konkreten Zahlen haben.<br />

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sind l »fiel K \ni \nshiin li des KI re;;es rt\\.i<br />

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TITEL<br />

hat. Die kosovarischen Frauen lebten seit<br />

zehn Jahren in der Angst, daß das passieren<br />

würde, was sie jetzt erlebt haben. Wenn<br />

man sie zum Beispiel auf ihre vielen Kinder<br />

anspricht, dann sagen sie:» Eins war immer<br />

für Milosevic bestimmt«. Und wenn man sie<br />

dann fragt, was sie damit meinen, sagen sie:<br />

»Wir wußten immer, daß Milosevic uns auslöschen<br />

will. Und deshalb haben wir immer<br />

ein Kind mehr bekommen, weil wir dachten,<br />

eins bringt er sicher um«. Ich habe auch<br />

einen alten Mann getroffen, der sagte: »Das<br />

Schrecklichste an der ganzen Geschichte ist,<br />

daß wir immer gesagt haben, daß das passieren<br />

wird, und niemand hat uns gehört«. Und<br />

jetzt ist alles noch viel schrecklicher gekommen,<br />

<strong>als</strong> man es sich in der Phantasie hätte<br />

vorstellen können. Also deshalb Holocaust,<br />

Apokalypse? Irgendwann beschreiben die<br />

Worte nicht mehr das, was die Menschen<br />

erlebt haben. Milosevic hat sie aus ihrem<br />

Land vertrieben und zwar so, daß sie wissen,<br />

dorthin können sie nie mehr zurückkehren,<br />

und er hat ihnen sämtliche Papiere wegnehmen<br />

lassen, jedes noch so kleine Fitzelchen,<br />

auf denen ihr Name oder Geburtsdatum<br />

stand. Sie haben noch nicht einmal mehr<br />

eine Identität.<br />

Nach dem Bosnienkrieg hieß es, die Heilung<br />

der kriegstraumatisierten Frauen wäre nur<br />

dann möglich, wenn in Den Haag ausgesprochen<br />

werde, was geschehen ist. Am 12. April<br />

wurde wieder ein Kriegsverbrecherprozeß<br />

gegen zwei Kroaten in Den Haag eröffnet<br />

Wie schätzen Sie den Erfolg des Tribun<strong>als</strong><br />

nach sechs fahren Arbeit ein?<br />

Dario Kordic, einer der jetzt Angeklagten,<br />

war einer der Kriegsverbrecher, der in Bosnien<br />

wütete, während wir in Zenica unser Zentrum<br />

aufbauten. Nur 20 Kilometer von uns entfernt.<br />

Zu uns kamen dam<strong>als</strong> sehr viele Kroatinnen<br />

und Muslirninnen, die durch ihn und seine<br />

Schergen Gewalt erlebt haben. Insofern ist<br />

Kordic einer der Männer, von denen ich immer<br />

gehofft habe, daß er nach Den Haag kommt<br />

und für das verurteilt wird, was ich praktisch<br />

live durch jene Frauen miterlebt habe.<br />

Und wie denken die betroffenen Frauen<br />

darüber?<br />

Im Endeffekt hat Anto Furundzija, um dessen<br />

Prozeß herum wir im letzten fahr eine<br />

große Kampagne gestartet hatten, zehn Jahre<br />

gekriegt, was absolut richtig ist. Aber der<br />

Weg dahin war sehr schmerzhaft für die einzige<br />

Zeugin. Ihre Glaubwürdigkeit wurde in<br />

Zweifel gezogen. Sie mußte sich von ihrer<br />

Diagnose distanzieren und dann in Den<br />

Haag ein zweites Kreuzverhör über sich<br />

ergehen lassen. Sie mußte sagen: »Ich bin<br />

nicht traumatisiert, und ich habe keine Therapie<br />

gemacht«. Und das ist wirklich eine<br />

ganz großes Armutszeugnis für den Verlauf<br />

des Tribun<strong>als</strong>, daß Frauen es nötig haben,<br />

sich von ihrer Geschichte zu verabschieden,<br />

anstatt sagen zu können: »Natürlich bin ich<br />

traumatisiert, aber das, was ich erlebt habe,<br />

das bin ich, wer wäre denn da nicht traumatisiert.<br />

Das ist mir passiert und da sitzt der<br />

Mann, der das getan hat. Punkt.«<br />

Hatte sich <strong>als</strong>o bis dieser läge nicht längst<br />

schon wieder das große Schweigen über die<br />

an den Frauen ausgeübte Gewalt ausgebreitet?<br />

Das sind zwei verschiedene Dinge. In<br />

Bosnien und weltweit hat sich über die Bosnierinnen<br />

das Schweigen ausgebreitet, absolut.<br />

Und wenn ich sehe, wie sich jetzt die<br />

Medien auf uns und die Frauen stürzen,<br />

denke ich schon wieder, was wird in einem<br />

Jahr sein? Wer wird uns noch Geld geben,<br />

damit wir das Projekt weitermachen können,<br />

sowohl in Bosnien <strong>als</strong> auch jetzt im Kosovo<br />

und in Albanien? Wer wird dann noch über<br />

die Frauen reden? Jetzt will man nur möglichst<br />

viele Details über die Vergewaltigungen<br />

wissen. In Den Haag gibt es hingegen Leute,<br />

die wirklich bemüht sind, die Dimensionen<br />

der sexualisierten Gewalt darzulegen. Aber<br />

es sind Fehler gemacht worden, zum Beispiel,<br />

daß jene Zeugin keinen rechtlichen<br />

Beistand hatte, während der Kriegsverbrecher<br />

mit einem Verteidiger dasaß, der mit<br />

allen Wassern gewaschen war und mit allen<br />

juristischen Mitteln versuchte, die Zeugin zu<br />

demontieren. Es gibt im Amerikanischen das<br />

Wort vom fair trial gegenüber dem Angeklagten,<br />

aber wie steht es um die Opfer dieser<br />

Kriegsverbrecher, was ist mit ihrem fair trial?<br />

Da sind wir noch nicht weitergekommen.<br />

Wir haben Briefe nach Den Haag geschrieben,<br />

weil wir <strong>als</strong> Projekt auch unmittelbar betroffen<br />

sind, weil wir zum Beispiel die psychologischen<br />

Unterlagen über diese Frau rausgeben<br />

mußten. Das ist ein großes Problem. Wie<br />

können unsere Klientinnen noch Vertrauen<br />

zu uns haben, wenn uns Den Haag dazu<br />

zwingt, ihre Unterlagen herauszurücken?<br />

Dieser Umstand, und daß die Frauen keinen<br />

Rechtsbeistand haben sowie die Verteidigungsstrategie,<br />

die Zeuginnen zu demontieren,<br />

empfinden wir <strong>als</strong> äußerst sexistisch,<br />

zumal die Richter dieser Strategie folgen.<br />

Mit Männern ist so etwas noch nie vorgekommen.<br />

Die Serben und Kosovo-Albaner beschuldigen<br />

sich bereits seit ungefähr 15 Jahren gegenseitig,<br />

die einen würden die Frauen der anderen<br />

vergewaltigen, wobei immer die einen schlimmer<br />

<strong>als</strong> die anderen sein. Was ist daran wahr?<br />

In den 8oer Jahren ist da eine große<br />

Propagandamaschine in Bewegung gesetzt<br />

wurden, in der behauptet wurde, die Kosovo-<br />

Albaner hätten aus nationalistischen Motiven<br />

Serbinnen vergewaltigt. Dazu kann ich <strong>als</strong> Feministin<br />

nur sagen, es wird sicher Kosovo-<br />

Albaner gegeben haben, die Serbinnen vergewaltigt<br />

haben, so wie deutsche Männer meinetwegen<br />

italienische Frauen vergewaltigen.<br />

Darüber müssen wir nicht diskutieren. Aber<br />

was in den 8oer Jahren über die nationalistische<br />

Propaganda gegen die Kosovo-Albaner<br />

gelaufen ist, war reine Hetze unter dem<br />

Motto »Unsere reinen serbischen Frauen<br />

werden von den dreckigen Kosovaren vergewaltigt«.<br />

Es gab aber nie Zahlen dazu, die<br />

diese Vergewaltigungen belegten. Nach allen<br />

Belegen muß man sagen, daß dam<strong>als</strong> die<br />

Gewalt gegenüber Frauen zu nationalistischen<br />

Zwecken instrumentalisiert wurden.<br />

Nach Angaben der UNO befinden sich<br />

$5.000 Schwangere unter den Flüchtlingen<br />

aus dem Kosovo, mit 700 Geburten pro Monat<br />

wird gerechnet: Seit etwa zwei Wochen<br />

stellen die UNO in Albanien Erste-Hilfe-<br />

Pakete für Geburten bereit Für die zwei bis<br />

fünf Prozent hochgerechneten Vergewaltigungsopfer<br />

gibt es die »Pille für den Morgen<br />

danach«, um ungewollte Schwangerschaften<br />

zu verhindern. Sind das die richtigen Sofortmaßnahmen?<br />

Es wird ganz bestimmt zu vielen Frühgeburten<br />

kommen. Man spricht in solchen Fällen<br />

von streßbedingten Frühgeburtsbestrebungen.<br />

Da ist es sicherlich gut, wenn für diese<br />

Frauen Erste-Hilfe-Pakete bereitstehen. Ich<br />

habe diese Pakete in Tirana auch selbst gesehen<br />

und bei der schlechten Infrastuktur der<br />

albanischen Krankenhäuser, sind die sehr<br />

wichtig. Was die Pille danach betrifft, so ist<br />

klar, daß die ohnehin nur bis zu 48 Stunden<br />

nach dem Geschlechtsverkehr funktioniert.<br />

Wenn man die Lage vor Ort auch nur ein<br />

bißchen realistisch einschätzt, wird man sich<br />

vorstellen können, daß keine Frau innerhalb<br />

von 48 Stunden in den Genuß dieser Pille<br />

kommt. Außerdem wird keine Kosovo-Albanerin<br />

nach Albanien fliehen und sagen, ich<br />

hätte gerne die Pille für danach. Das ist völliger<br />

Quatsch. Die UNFPA, die UNO-Organisation,<br />

die die Pakete und die Pillen ins<br />

Land bringt, hat ganz andere Motive. Man<br />

will die Gesundheit der Flüchtlingsfrauen »<br />

2)1999


TITEL<br />

mit Verhütungsmitteln insofern schützen,<br />

daß die Frauen jetzt in dieser Situation<br />

nicht schwanger werden, nicht durch<br />

Vergewaltigung, sondern generell. Und<br />

das finde ich sehr sinnvoll. Denn in einer<br />

solchen Situation schwanger zu werden,<br />

bedeutet eine enorme Zusatzbelastung für<br />

eine Frau. Es verringert ihre Lebenserwartungen<br />

und die des Ungeborenen. Außerdem<br />

finde ich es gut, daß endlich mal an<br />

solche Mittel gedacht wurde. Wir haben<br />

das in Bosnien erlebt, daß zwar Medikamente<br />

ins Land gebracht wurden, aber<br />

an gynäkologische Medikamente wurde<br />

nie gedacht. Es geht hier <strong>als</strong>o überhaupt<br />

nicht um die Vergewaltigungen, das ist<br />

eine rein reißerische Geschichte.<br />

Adona@KobOvo<br />

Was Ende Set/:; ,: ;,:^.-.'s per Züfai: !<br />

sches t'ncit. !;:.,iyr :;.- rs i iVk-rutt? ia;.<br />

in San Francs. .,, ä.^ilr-.-mien [. IVrai;<br />

Albanerin, b?^ tl-e ••..-.-•ititvJu?;^ A L£ . ufn.i<br />

ut'i;, ijitiM/i vo'-JiVi gthesrn.<br />

IH'h!.i''U) ,j.äüij!|i<br />

eine Bombenexplosion im Zentrum, nahe dem<br />

Platz, wo wir Jungendlichen immer hingehen.«<br />

»Hallo Finney, ich denkt, Dirgehtsgut.<br />

Und sei nicht besorgt, Deinem Finger geht es<br />

bestimmt bald besser. Okay Finney (ich nenne<br />

Dich gerne so), habe ich Dir gesagt, daß ich<br />

nicht-praktizierende Muslimin bin, und weißt<br />

Du warum? Wenn die Türken meine Urgroßeltem<br />

nicht gezwungen hätten, zum Islam überzutreten,<br />

wäre ich heute vielleicht Katholikin<br />

oder orthodox. Ich glaube schon, daß Religion<br />

eine gute und reine Idee ist, ich denke auch,<br />

viele Leute furchten Gott und glauben, daß es da<br />

eine ändert Welt gibt nach unserem Tod, die sie<br />

abschreckt, Schlimmes zu tun. Aber ich persönlich<br />

stimme mit Descartes überein; Gott ist eine<br />

Erfindung des menschlichen Gehirns. Und nur,<br />

um es Dir zu sagen: Deine E-Mails langweilen<br />

mich überhaupt nicht, ich lese sie total gerne.<br />

Ich höre gerne etwas über Euer Leben und ich<br />

bin wirklich glücklich, irgendwo einen Freund<br />

zu haben, mit dem ich reden kann.<br />

Bye, Adona.«<br />

»Liebster Finney, wie hast Du Deine Klausuren<br />

gemeistert? Was die Musik angeht; Ich<br />

mag die Stones, Saat, Jewel, Cher und andere.<br />

Bonjovi, Beatles und REM sind meine Favoriten.<br />

Ich stehe nicht nur auf eine Art von Musik,<br />

und ich tanze auch sehr gern. Du kannst Dir<br />

gar nicht vorstellen, wie gern ich zu einer Party<br />

gehen würde, verreisen oder so. Ich muß Dir<br />

sagen - manchmal ist es beängstigend. Wenn<br />

ei bedrohlich wird, sitzt die ganze Familie zusammen,<br />

und wir überlegen, wo wir im Ernstfall


TITEL<br />

hingehen, wo wir Geld außreiben können, ob<br />

wir um Hilfe bitten, wo wir unsere Pui.se und<br />

andere Papiere verstecken. Wir haben warme,<br />

Sachen gekauft, falls wirßiehen mitten und<br />

in die Berge gehen oder sonstwohin. Wir sind<br />

tinj das Schlimmste vorbereitet und sagen uns,<br />

das Leben geht weiter, egal wie.<br />

Was die NATO angeht. Du weißt, daß ich<br />

finde, daß die kommen und uns beschützen sollten.<br />

Ich wünschte, jemand könnte das. Ich weiß<br />

schon gar nicht mehr, wieviele. Leute umgekommen<br />

sind. Man sieht immer nur Todesanzeigen<br />

in den Zeitungen. Ich möchte wirklich nicht vergewaltigt<br />

werden, an keinem Teil meinet Körpers<br />

wie all die anderen Massakrierten. Ich wünschte<br />

mir. daß niemand in der ganzen Welt, im ganzen<br />

Universum, das durchmachen muß, was wir<br />

hierdurchmachen. Du weißt gar nicht, wie<br />

g/m kl ich Du sein kannst, ein ganz normales<br />

Leben zußihren. Wir alle möchten nur frei<br />

sein und so leben wie Du, wollen unsere Rechte<br />

haben und nicht unterdrück! werden. Finnegan.<br />

ich erzähle Dir. wie ich über diesen Krieg denke,<br />

und alle meine Freunde sehen das genauso.<br />

Bye, Adona, Kosovo<br />

PS: Schick mir mal Fotos von Dir - ich<br />

schick Dir dann welche von mir, sobald der<br />

Scanner wieder funktioniert.«<br />

••Hallo Finne}!. Ja, die Gewalt halt immer<br />

noch an. Mysteriöse Morde passieren. Vor ein<br />

paar Tagen wurde ein Mann in Pristina umgebracht,<br />

und viele Menschen werden unter mysteriösen<br />

Umständen in anderen Städten ermordet,<br />

das heißt, letztendlich sind die Umstände mir<br />

und meinen Freunden unbekannt. Gerade vor<br />

ein paar Tagen hatte eine meiner Freundinnen<br />

Geburtstag. Wir haben nicht gefeiert, weil wir<br />

dachten, daß sei nicht richtig. Letztendtich war<br />

es eine Form von Solidaritätßir die vielen Opfer.<br />

Nur die wenigen, besten Freundinnen trafen sich<br />

hei ihr zuhause, und wir haben über alles mögliche<br />

gesprochen, begonnen mit der Situation hier<br />

bis hin über die Schule, Musik undjungs. F.inige<br />

sagten, es sei nicht richtig, so weiterzumachen<br />

wie immer, während andere Menschen umgebracht<br />

werden.<br />

Du erwähntest die Unabhängigkeit des<br />

Kosovo. Mir ist der Status nicht wirklich wichtig,<br />

ich sehe das hier nicht <strong>als</strong> einen Krieg, der die<br />

Albaner und Serben teilt. Ich glaube auch nicht,<br />

daß dieser Krieg aus nationalistischen Gründen<br />

begonnen wurde oder um neue Grenzen zu ziehen.<br />

Während Europa versucht, die Grenzen<br />

aufzuheben und die Globalisierung voranzubringen,<br />

müssen wir nicht neue Grenzen ziehen.<br />

Wir brauchen nur die Rechte, die auch andere<br />

haben. Auf der Schultasche eines Freundes kann<br />

ich lesen: >Frieden ist die Zeit zwischen Kriegen.<<br />

'Zuerst erschien mir das dumm, aber wenn ich<br />

länger drüber nachdenke, macht es Sinn.«<br />

»Lieber !:inncy, Danke für Dein Angebot,<br />

mir helfen zu wollen, ein Stipendium zu finden.<br />

Ich versuche das nun schon seit Wochen. Ich<br />

sehe mir über Yahoo die Webseiten verschiedener<br />

Hochschulen an. Aber bisher habe ich noch<br />

nichts gefunden. Ich weiß, ich komme nicht weiter,<br />

wenn ii.h hier bleibe ... es wäre ein Desaster.<br />

Die Leute denken nicht viel über die Schute und<br />

Zukunßspläne nach, aber ich versuche, meinen<br />

Kopj irgendwie wach zu halten, in Distanz zu<br />

dieser Katastrophe, und versuche, meine 7,itkunft<br />

zu planen.<br />

Ich werde Dir mehr über mein Leben und<br />

mich erzählen. Ich liebe es. Spaß zu habeit. und<br />

verrückte Dinge zu tun. Früher bin ich mit meinen<br />

Freunden gewöhnlich bis elf Uhr abends<br />

unterwegs gewesen. Wir waren niem<strong>als</strong> sicher<br />

auf der Straße. Aber jetzt sind wir nicht einmal<br />

mehr zu Hause sicher. Ich habe niem<strong>als</strong> meinen<br />

Personalausweis dabei, wenn ich rausgehe, denn<br />

wenn ich von der Polizei oder ähnlichen Leuten<br />

angehalten werde, rede ich einfach Serbokroatisch<br />

und vermeide so Ärger. Das funktioniert<br />

immer.<br />

Sag mir, was Du über Aliens denkst.<br />

Schreib mir bald.<br />

Adona. Kosovo.«<br />

»Du muß! denken, daß jede einzelne Zeile,<br />

meines Hirns nur noch Horrorßlme oder ähnliches<br />

abspult. Aber Du liegst f<strong>als</strong>ch. Mein Gehirn,<br />

mein ganze* Leben ist allein von der Realität<br />

gezeichnet. Und nur ein geköpßer Leichnam<br />

oder ein dreijähriges massakriertes Kind - was<br />

ich mir ganz bestimmt nicht eingebildet habe -,<br />

oder die Nachrichten auf BBC, auch Du wärest<br />

davon berührt. Wäret Ihr diejenigen, die diesen<br />

bitteren und grausamen Teil der Welt schmecken<br />

müßten, würdet Ihr mich und meine Vorstellungen<br />

verstehen. Ihr würdet auch das Glück verstehen,<br />

das ich empßnde. allein dafür, daß ich lebe.<br />

Adona. Kosovo.«<br />

»Lieber Finney, in diesem Moment, in dem<br />

ich Dir schreibe, auf meinem Balkon sitzend,<br />

kann ich Menschen mit Koffern davonlaufen<br />

sehen und einige Schüsse hören. Ein Dorf, nur<br />

wenige hundert Meter von meinem 7uhause entfernt,<br />

ist komplett eingekesselt. Ich habe meine<br />

Tasche mit den notwendigen Dingen vorbereitet:<br />

Kleidern, Papieren und Geld ...ßir den Ernstfall.<br />

Allein in den letzten paar Tagen sind viele neue<br />

Truppen, Panzer und Soldaten in den Kosovo<br />

gekommen. Gestern war ein Teil meiner Stadt<br />

umstellt und es wurde geschossen ... Ich warte<br />

ungeduldig auf die Nachrichten.<br />

Paß auf Dich auf. Adona«<br />

»Liebster Finney, solange ich noch Strom<br />

habe, werde ich Dir weiterhin schreiben. Gerade<br />

jetzt versuche ich, so ruhig wie möglich zu bleiben.<br />

Meinjüngerer Bruder, der neun ist, schloß jetzt.<br />

Ich hoffe, daß ich ihn nicht aus seinen Träumen<br />

reißen muß. Er ist doch noch ein Kind. Ich muß<br />

jetzt wirklich weg. F.s gibt neue Nachrichten.<br />

Danke für Deine moralische Unterstützung.<br />

Vielen Dank. Ich hoffe, wieder von Dir zu hören.<br />

Adona. Kosovo.«<br />

Finnegan hat seit dieser letzten Mail<br />

mit Adona nur noch einmal telefoniert:<br />

»Als Adona den Hörer abnahm, war ich<br />

einfach nur erleichtert zu wissen, daß sie<br />

noch lebt. Es war irgendwie komisch plötzlich<br />

ihre Stimme zu hören, nach Monaten,<br />

in denen ich sie nur durch Worte auf dem<br />

Bildschirm kannte. Am Anfang war das<br />

Gespräch schlep- pend. Ich denke, wir beide<br />

waren etwas schlich- fern, aber dann ging es.<br />

Ich versuchte ihr zu er/ählen, daß sie hier<br />

viele Freunde hatte, die ihr helfen wollen.<br />

Es scheint so, <strong>als</strong> würden die Telefone im<br />

Kosovo abgehört, deshalb ist Adona sehr<br />

vorsichtig mildem, was sie sagt- Insbesondere<br />

beantwortet sie keine Fragen über den<br />

Krieg und die Bomben.<br />

Wie Montagnacht (29. März 1999) waren<br />

Adona und ihre Familie noch immer in ihrer<br />

Wohnung eingeschlossen. Sie sagte, die Lage<br />

wäre sehr schlecht... sie hätten keinen Strom,<br />

oft kein Wasser und ungefähr nur noch für<br />

eine Woche Nahrungsmittel im Haus. Sie<br />

sagte, sie könne das Telefon nicht mehr länger<br />

benutzen, und ihre Familie hoffe, so bald<br />

wie möglich aufbrechen ?u können - in ihren<br />

Worten >sobald sie einen Korridor sehen oder<br />

einen Pfad raus aus dem Gebiet!< Adona hat<br />

nur wenige oder gar keine Informationen<br />

darüber, was außerhalb dessen passiert, was<br />

sie von ihrem Fenster aus sehen und rundherum<br />

hören kann.<br />

Früher hatte Adona mal den Wunsch geäußert,<br />

mit ihrer Familie bleiben zu wollen,<br />

egal, was es koste. Jetzt sagt sie, die Situation<br />

sei sehr viel schlechter und ihre Familie habe<br />

beschlossen alles zurück/ulassen, wenn es<br />

notwendig sei.<br />

Für mich, der abends die Nachrichten<br />

sieht und morgens die Zeitung liest ist das<br />

was vorher reine Routine war jetzt eine Qual<br />

geworden. Fs ist unerträglich, ?u wissen, daß<br />

meine Freundin durch diese Hölle geht, die<br />

ich in den Nachrichten sehe.«


TITEL<br />

£ *1<br />

j^^^^ul^^ öl<br />

Die Lage war immer extrem<br />

schlecht, aber nie hoffnungslos<br />

in Polen, Nach über 200 Jahren<br />

sind jetzt auch die Polinnen<br />

endlich in Europa angekommen.<br />

Sie haben sich emanzipiert -<br />

auf ihre Art.<br />

Die Geschichte<br />

Bis zum Beginn von Polens Untergang<br />

im Jahre 1772 waren seine Bürger integrativer<br />

Bestandteil des damaligen Europas.<br />

1772 - 1918 begann die Teilung Polens, Polen<br />

verschwand für 123 Jahre von der Landkarte,<br />

aufgeteilt zwischen Österreich-Ungarn,<br />

Preußen und Rußland. Diesen Niedergang<br />

Polens haben eigentlich nur zehn Prozent<br />

der Bevölkerung wirklich wahrgenommen,<br />

vor allem von den ausgebildeten Adligen<br />

bzw. einer kleinen Gruppe des Bürgertums,<br />

meistens auch adliger Abstammung. Von der<br />

Struktur und von den Zielen her würde man<br />

diese Gruppe heute <strong>als</strong> Intellektuelle bezeichnen.<br />

Ihre Mitglieder haben sich auch <strong>als</strong> solche<br />

verstanden, obwohl es im 18. Jahrhundert<br />

noch gar keine abgesonderte Inteligencja<br />

gegeben hat. Der Rolle der Gebildeten,<br />

besonders derer, die in die Emigration gingen,<br />

wurde von Seiten der Polen gehuldigt,<br />

und dir intellektuellen Aufgaben wurden<br />

<strong>als</strong> Hauptfaktor der Bewahrung nationalen<br />

Bewußtseins gesehen. Es war eine Idee dieser<br />

Gruppe, daß die fehlenden staatlichen<br />

Strukturen durch patriotische Tugenden,<br />

Opferbereitschaft und nationale Verbundenheit<br />

in der Not ersetzt wurden.<br />

Foto: Sabine Wenzel, OSTKREUZ<br />

Hauptziel war zunächst, daß die breite<br />

Masse von Polen die Freiheit und Souveränität<br />

ihres Staates zurückerobern muß, sie <strong>als</strong><br />

[ lauptziel ihrer Existenz anerkennt und diesem<br />

Ziel entsprechend agiert. Beide Ziele der<br />

Intellektuellen wurden im Laufe des ig. Jahrhunderts<br />

erreicht und ausgeführt. Immer<br />

wieder erhoben sich die Polen gegen die<br />

Besatzungsmächte und kämpften mit der<br />

Waffe in der Hand um die Freiheit ihres<br />

Vaterlandes. 1795, 1831, 1848, 1863, 1918.<br />

Auch im Ausland, in Frankreich, Ungarn,<br />

Spanien, Italien, Brasilien oder San<br />

Domingo engagierten sich die emigrierten<br />

Polen in die nationalen Kämpfe und Kriege,<br />

deren Ziel, wenn auch sehr entfernt, die<br />

Minderung der einen oder anderen Besatzungsmacht<br />

war. Die patriotischen Ziele<br />

wurden über das persönliche Wohlergehen<br />

gestellt.<br />

So wurden das Nationalbild und Nationalbewußtsein<br />

der Polen in der Unfreiheit von<br />

der romantischen Intelligenz gestaltet. Die<br />

Prägung durch die Intellektuellen hatte positive,<br />

aber auch negalive Seiten. Für die Intellektuellen<br />

harten wirtschaftliche Probleme<br />

kaum eine Bedeutung. Die Verachtung alles<br />

Alltäglichen, Praktischen und Wirtschaftlichen<br />

bekam im Laufe der Zeit eine politische<br />

Erklärung: Die patriotisch Gesinnten wollten<br />

auf keinen Fall für den Wohlstand des Besatzungsstaates<br />

arbeiten. Aber auch eine unvermeidliche<br />

Möglichkeit, daß man infolge der<br />

Repressalien von einem zum anderen Tag<br />

seinen Besitz ver-lieren könnte, trug zu dieser<br />

Gesinnung bei und bewirkte eine Flucht<br />

in die geistigen und künstlerischen Werte.<br />

Nach jedem Aufstand wuchs erzwungenerrnaßen<br />

die Intelligencja: Güter wurden<br />

beschlagnahmt, Teilnehmer des Aufstandes<br />

inhaftiert, verbannt oder ausgcstoßcn. Für<br />

die Ausgestoßenen gab es kaum eine andere<br />

Möglichkeit, <strong>als</strong> in den Städten Fuß zu fassen.<br />

Daher ist der Intellektuelle immer zugleich<br />

auch ein Widerstandskämpfer gewesen, der<br />

in der Nation sehr angesehen war. Am Ende<br />

gab es aber mehr Intellektuelle <strong>als</strong> gut war.<br />

Es entstand im Ausland der abwertende<br />

Begriff von der »polnischen Wirtschaft«, weil<br />

wirtschaftliche- Belange grob vernachlässigt<br />

worden waren. Erst Fnde des 19. Jahrhunderts,<br />

im Zeitalter des Positivismus, erkannten<br />

einige Intellektuelle die Kluft zwischen ihren<br />

romantischen Idealen und dem Volk, dem<br />

sie zu neuer Identität im Staat verhelfen<br />

wollten.<br />

Die romantische Kampfeinstellung hatte<br />

mit Unterstützung und Billigung der katholischen<br />

Kirche stattgefunden. Ein wahrer<br />

Patriot war ein katholischer Patriot! Ein Pole<br />

war immer im Kampf, auch und vor allem<br />

gegen die herrschenden Staatsgesetze, die<br />

gebrochen werden durften, da sie ihm ja aufgezwungen<br />

worden waren. F.s gehört zum<br />

polnischen Selbstverständnis, lieber Verlierer,<br />

Märtyrer und Opfer zu sein, dafür aber<br />

auf der Seite der Gerechten zu stehen.<br />

Nach dem i. Weltkrieg stand die Nation<br />

vor einem Neuanfang, mit der die Umwertung<br />

aller bisherigen Werte einherging. Alles<br />

mußte nachgeholt werden, was ein funktionierendes<br />

Staatsgebilde ausmacht: eine<br />

staatliche Gesetzgebung, wirtschaftliche<br />

Richtlinien, ein ausgewogenes Finanzsystem.<br />

Die Geschichte belohnte Polen für diese Aufgabe<br />

mit zwanzig Jahren politischer Souveränität.<br />

Zu wenig, um über bedeutende Resultate<br />

sprechen zu können. Daher verstärkte da =<br />

Ergebnis leider nur den Eindruck der »polnischen<br />

Wirtschaft«. Das einzige, was sich -<br />

verständlicherweise - wunderbar entwickelte,<br />

war die Kultur: Polnische Filme,<br />

polnische Dichtung, die Bildhauerei, kurz<br />

polnische Kunst war in Europa anerkannt.<br />

Der Pole an sich<br />

Ein Pole ist in seinen eigenen Augen<br />

vor allem ein Europäer, dann ein polnischer<br />

Patriot, ein Katholik und ein Mensch der Kultur.<br />

Desgleichen ist er Romantiker, gern auch<br />

Individualist wenn nicht Anarchist, auf jeden<br />

Fall ist er jemand, der sich nicht mit der<br />

Obrigkeit arrangiert. Hin Mensch der Werle.<br />

Ein Kämpfer. Ein Querulant und Neinsager,<br />

wenn es sein muß. Vielleicht auch ein Künstler.<br />

Vor allern ein Mann. »<br />

2)1999


TITEL<br />

Zum polnisch-patriotischen Denken<br />

gehört ein spezifisches Frauenbild, das - wie<br />

das gesamte Selbstbild Polens im 19. Jahrhundert<br />

- in der Zeit der politischen Unfreiheit<br />

entstanden ist. Eine polnische Frau war<br />

eine Katholikin mit allen Attributen eines<br />

(männlichen!) Patrioten, der das Motto<br />

Goff- Ehre - Vaterland auf seine Fahnen<br />

geschrieben hatte, welches auch das Sterben<br />

einschloß. Der romantisierende Begriff der<br />

Frau setzte voraus, daß es für eine Polin<br />

selbstverständliche Vaterlandspflicht war,<br />

stark zu sein, die häuslichen Arbeiten klaglos<br />

zu erfüllen, den Lebenskreis zu organisieren<br />

und für das Weiterleben der patriotischen<br />

Ideale zu sorgen.<br />

Die Zeit der Teilung war für die Polinnen<br />

die Zeit ihrer ersten Emanzipation. Die<br />

Geschichte hatte verursacht, daß sich die<br />

Polinnen erzwungenermaßen realtiv früh<br />

emanzipierten - sie wurden selbständig,<br />

erlernten Berufe {auch intellektuelle), sorgten<br />

für die Familie. Die Männer waren in verschiedenen<br />

Aufständen gefallen oder in die<br />

Verbannung gegangen, die Frauen gezwungen,<br />

die Wirtschaft zu übernehmen. Gutsbesitzerinnen<br />

mußten lernen, wie die Landwirtschaft<br />

organisiert wird. Dazu waren sie zwar<br />

nicht immer fähig, und der Betrieb mußte<br />

verpachtet oder verkauft werden, aber insgesamt<br />

erwuchsen aus dieser Situation starke<br />

Frauen. Die Emanzipation kam jedoch zu<br />

den Polinnen ohne das entsprechende<br />

Selbstbewußtsein. Sowohl Ausbildung und<br />

Arbeit <strong>als</strong> auch das sogenannte Sagen in der<br />

Familie (die polnische Frau ist die, die das<br />

Geld in der Familie verwaltet) - allesamt<br />

Züge, die im Westen stark emanzipatorisch<br />

besetzt sind - werden in Polen <strong>als</strong> Selbstverständlichkeiten<br />

betrachtet, die eher eine<br />

Belastung <strong>als</strong> ein emanzipatorischer Faktor<br />

sind.<br />

In der Teilungszeit hatte sich aber auch<br />

ein spezifisch-polnisches Frauenideal der<br />

»Mutter-Polin« entwickelt. Dies wird oft im<br />

Westen mit dem russischen Begriff »Mutter<br />

Rußland« verwechselt. Dabei steht sie für<br />

eine ganz andere psychologische Situation.<br />

»Mutter Rußland« verkörpert Heimat und<br />

Heimatliebe, die die Aufopferung vor allem<br />

der Männer, Soldaten, Krieger und Kämpfer<br />

verlangt. Dagegen ist die »Mutter-Polin*<br />

jede einzelne Frau, die es sich zur Aufgabe<br />

gemacht hatte, Söhne zu gebären und nach<br />

strengen patriotischen Vorgaben großzuziehen,<br />

damit sie später - <strong>als</strong> Jugendliche und<br />

Erwachsene - für das in der Sklaverei leidende<br />

Vaterland kämpfen und auf dem<br />

Schlachtfeld fallen wurden. Sie würden sich<br />

nicht zur Verfügung stellen, wenn die Zeit<br />

dafür reif war, sie würden vielmehr diese<br />

Zeit selber hervorrufen und gestalten, da sie<br />

einzig fürs Vaterland geboren wurden und<br />

für dieses sterben sollten. Eine besondere<br />

Eigenschaft der »Mutter-Polin« war es, den<br />

Tod ihrer Söhne ohne Klagen und mit ausgeprägtem<br />

Stolz anzunehmen. Das historische<br />

Muster hierfür lag offensichtlich in Sparta,<br />

Wenige Polinnen haben sich bis heute<br />

von diesem Denken befreit. Vorreiterinnen<br />

sind hier wieder die Intellektuellen. Überspitzt<br />

formuliert war auch für sie bis zur<br />

Wende die Kultur ein Kult, dem das eigene<br />

Glück im Sendungsbewußtsein für Ehre<br />

und Vaterland zu opfern war. Erst nach der<br />

Wende wurde endlich auch das eigene persönliche<br />

Glück wichtig. Man kann sagen,<br />

daß die Polinnen zugleich emanzipiert und<br />

konservativ waren. Sie sollten selbständig<br />

und abhängig, klug und Untertan, erfolgreich<br />

und bildschön, gepflegt und elegant sein.<br />

Die fehlenden Frauenrechte wurden durch<br />

sprichwörtliche polnische Ritterlichkeit kompensiert.<br />

Die Polinnen sind bis heute so -<br />

stark und selbständig, ohne es sich bewußt<br />

zu machen. Sie verstehen sich <strong>als</strong> Bürger<br />

und nicht <strong>als</strong> Bürgerinnen.<br />

Die Polin hat nie um ihre Rechte <strong>als</strong> Frau<br />

gekämpft, historisch bedingt wurden ihr alle<br />

Frauenrechte »von oben« gegeben. Sie lernte<br />

nie, ihre Probleme zu thematisieren. Erste<br />

Frauenrechte - wie zum Beispiel das Recht<br />

auf Studieren - erhielten sie zusammen mit<br />

den Frauen ihrer Besatzer, es waren Russinnen<br />

oder deutsche und österreichische Bürgerinnen,<br />

die dafür gekämpft hatten. Das<br />

nächste Geschenk kam mit der Wiedergewinnung<br />

der staatlichen Souveränität. Polen<br />

wollte ein modernes, demokratisches Land<br />

sein. Das Wahlrecht für Frauen war einerseits<br />

ein Beweis der Zugehörigkeit zum<br />

Europa, anderseits gewann damit die junge<br />

polnische Regierung eine wichtige Gruppe<br />

von Unterstützerinnen. Dann kamen der 2.<br />

Weltkrieg und danach der Kommunismus.<br />

Zum dritten Mal erhielten die Frauen die<br />

Emanzipation und damit das Recht auf<br />

Arbeit, auf Ausbildung, auf Gleichberechtigung.<br />

Die Frauen übernahmen sie jedoch<br />

wenig begeistert. Die unbeliebte Ideologie<br />

des Kommunismus hatte sie ihnen aufgedrängt.<br />

Zudem verbesserte sich ihre persönliche<br />

Lage dadurch nicht. Im Gegenteil:<br />

Die Berufsarbeit erschwerte oft die Lebenssituation,<br />

Die ideologisch groß geschriebene Emanzipation<br />

der Frau im Sozialismus, die <strong>als</strong><br />

Gegenargument im ideologischen Kampf<br />

mit dem Kapitalismus gemeint war, hatte<br />

sich in der polnischen Version des Sozialismus<br />

nicht bewährt. Die Frauen wurden <strong>als</strong><br />

eine ziemlich harmlose soziale Gruppe<br />

betrachtet, die man von oben beliebig manipulieren<br />

und instrumentalisieren konnte. Sie<br />

wurden gleich nach dem Krieg, <strong>als</strong> das Land<br />

in Trümmern lag, arbeiten geschickt, um<br />

schon in den 6oern an den Herd zurückbefohlen<br />

zu werden. Der Höhepunkt ihrer<br />

Instrumentalisierung wurde in der Zeit zwischen<br />

1970 und 1980 erreicht (Gierek-Ära),<br />

<strong>als</strong> man einige Maßnahmen einführte, die -<br />

<strong>als</strong> Frauenprivilegien verkleidet - tatsächlich<br />

die Diskriminierung der Frau und ihr Ausscheiden<br />

aus dem Arbeitsmarkt bedeuteten<br />

(etwa den 3Jährigen Erziehungsurlaub, der<br />

sich mit wiederholten Schwangerschaften<br />

praktisch beliebig verlängern ließ).<br />

Die wirtschaftliche Misere zwang zwar<br />

weiterhin viele Frauen zur Arbeit, die aber<br />

selten - vor allem unter den Intellektuellen -<br />

Zufriedenheit mit dem im Beruf Erreichten<br />

zuließ. In einem System, in dem man schon<br />

sprichwörtlich für alle auch alltäglichen Verbrauchsgüter<br />

Schlange stehen mußte, waren<br />

die berufstätigen Frauen nicht wie anderswo<br />

doppelt, sondern dreifach belastet Beruf,<br />

Haushalt und Einkaufen bildeten die drei<br />

Segmente des Lebens, die soviel Zeit in<br />

Anspruch nahmen, daß gar keine Abwechslung<br />

oder Urlaub möglich war.<br />

Auch gesundheitlich waren die Polinnen<br />

(genauso wie andere Ostblockbürgerinnen)<br />

viel schlechter dran <strong>als</strong> die Frauen in den<br />

kapitalistischen Ländern. Ungesundes und<br />

monotones Essen, fehlende medizinische<br />

Vorbeugung, nicht ausreichende ärztliche<br />

Fürsorge und Übermüdung durch zuviel und<br />

zu schwere Arbeit trugen gemeinsam dazu<br />

bei, daß die Polinnen sehr oft gewünschr hatten,<br />

nicht (und nie) mehr emanzipiert zu<br />

sein und lieber im Schoß der Familie die<br />

Rettung aus der Misere zu suchen. Selbstverständlich<br />

war es den polnischen Männern -<br />

Ideologie hin, Ideologie her - auch recht,<br />

wenn die Frauen lieber nur zu Hause tätig<br />

sein wollten. Polen blieb <strong>als</strong> Land konservativ.<br />

Die wirtschaftliche und soziale Niederlage<br />

des Systems ließ die Polen weiterhin an<br />

K<br />

-ä | KJ99


TlTEI<br />

Foto: Harald Hauswald. OSTKREVZ<br />

ihrem bewährten Modell »Tradition + Patriotismus<br />

+ Familie + Kirche« hängen und<br />

/.wang auch die kommunistische Regierung,<br />

sich mit der Kirche zu arrangieren. Männer-<br />

Partei, Männer-Kirche und traditionelle patriarchalische<br />

Gesellschaft schafften /usammen<br />

eine Klammersituation, in der jedes Frauenrecht<br />

sich <strong>als</strong> Last entpuppte, und <strong>als</strong><br />

Gegensatz dessen, was es versprach. Die<br />

»Frauenemanzipation« hatte der Polin nichts<br />

zu bieten.<br />

Solidamosc<br />

Die Entstehung der Arbeiterbewegung<br />

Solidamosc während des Streiks im August<br />

1980 in Cdansk war zweifelsohne das wichtigste<br />

Ereignis in der Geschichte Polens nach<br />

dem 2. Weltkrieg. Fs ist jedoch 711 betonen,<br />

daß die Bewegung sehr traditionell gesinnt<br />

war, das heißt polnisch-patriotisch, konservativ<br />

und der katholischen Kirche Polens sehr<br />

nahe stehend. Die kommunisilische Partei<br />

mußte sich ungewollterweise mit der Kirche<br />

engagieren. Solidamosc machte es freiwillig,<br />

l'ür die Frauen in Polen ein Fakt mit sehr<br />

schweren Folgen. Die Frauen engagierten<br />

sich massenweise in der Solidamosc, eine<br />

Männerorganisation, in der die Frauen 50<br />

Prozent bildeten. Fast paradox scheint dabei,<br />

daß - obwohl iti dieser zuerst rein gewerkschaftlichen<br />

Bewegung fast alle Unzufriedenen,<br />

Andersdenkenden und Frustierten Asyl.<br />

Zuflucht und l lafcn gefunden hatten, und<br />

obwohl im Laufe der ersten eineinhalb jähre<br />

ihrer Existenz Solidamosc zum Sammelbecken<br />

aller möglichen politischen Richtungen<br />

geworden war- daß sich die Frauen nirgendwo<br />

<strong>als</strong> gesonderte Gruppe geäußert oder ihre<br />

Probleme ausgedrückt hatten. Solidamosc<br />

kämpfte um Bürgerrechte für alle Polen - die<br />

Frauen waren immer nur »mitgemeint«. Wie<br />

in vielen sogenannten 3. Welt Ländern wurden<br />

auch die Frauen in Polen, die sich in dieser<br />

Zeit für Frauenprobleme interessierten,<br />

mit dem Argument: »Dies alles später, jetzt<br />

zahlt vor allem innere Solidarität!«, zurückgewiesen<br />

oder sogar <strong>als</strong> Störenfriede der Bewegung<br />

abgestempelt.<br />

Nach der Wende<br />

Nach der Wende 1989 kämpften in Polen<br />

vier von Männern bestimmte Kräfte miteinander:<br />

die. abdankende Partei, die angehende<br />

kapitalistische Marktwirtschaft, die ultrakonservative<br />

Kirche und die patriotisch-koriscrvativ-traditionell<br />

gesinnte Salidarnosc. Die<br />

Frauen warendie ersten Opfer dieses Kampfes.<br />

Auch durch die Wende und die Wirtschaftsreform<br />

hatte sich die Lebenssituation vieler<br />

Polinnen verschlechtert. Mehr Frauen <strong>als</strong><br />

Männer sind von Arbeitslosigkeit betroffen,<br />

Kindergärten werden - weil zu teuer -<br />

geschlossen. Die Organisation des Haushalts<br />

mit knappern Budget liegt nach w:ie vor in<br />

den Händen der Frau. Katastrophal sank die<br />

Zahl der jungen Frauen, die sich weiterbilden<br />

oder studieren. Die Zahl der Frauen in staatlichen<br />

Institutionen und Gremien ist die<br />

niedrigste in den vergangenen 50 Jahren. »<br />

3I'999


TITEL<br />

Zugleich ist die polnische Gesellschaft<br />

noch konservativer denn je, der Umgang der<br />

Menschen miteinander ist gröber, brutaler<br />

geworden. Die traditionelle geschlechtsspezifische<br />

Rollenverteilung ist in Polen wieder<br />

zur Geltung gekommen. Die Männer genieren<br />

sich nicht mehr, in aller Öffentlichkeit zu<br />

behaupten, der Platz einer Frau sei zuhause.<br />

Auch viele Frauen stimmen dem zu. Die Ritterlichkeit,<br />

die vorher die fehlenden Frauenrechte<br />

zu ersetzen wußte, ist verschwunden.<br />

Die Ellenbogengesellschaft prämiert das<br />

Durchsetzungsvermögen und nicht wie<br />

zuvor die menschliche Solidarität.<br />

Eine Zeitlang war auch die staatliche<br />

Gesetzgebung ausgesprochen konservativ<br />

und frauenfeindlich. 1992 wurde ein Antiabtreibungsgesetz<br />

verabschiedet. In den<br />

goern legte man dem Sejm noch andere<br />

neue Gesetze vor, wie das zur Erschwerung<br />

der Scheidung, und auch das das Wohnen<br />

und Zusammenleben ohne Trauschein sollte<br />

behindert werden. Das Konkordat, der staatliche<br />

Vertrag mit dem Vatikan, wurde schon<br />

von der scheidenden Regierung Hanna<br />

Suchockas unterschrieben und dann 199^<br />

ratifiziert. Laut dem Konkordat muß die polnische<br />

Gesetzgebung an die Buchstaben des<br />

Konkordats angepaßt werden.<br />

Feminismus in Polen<br />

Im Vergleich zu den yoern und Soern<br />

scheint die Situation des Feminismus in<br />

Polen rosig zu sein. Feminismus ist zwar<br />

nach wie vor ein Schimpfwort in Polen und<br />

findet unter den Frauen wenig Verständnis,<br />

aber es sind Frauengruppen und -Organisationen<br />

entstanden, es gibt regelmäßig erscheinende<br />

feministische Zeitschriften und andere<br />

Veröffentlichungen. Vor allem hat sich in<br />

bestimmten Gruppen die Überzeugung verfestigt,<br />

Polen fehle eine grundsätzliche Stellungnahme<br />

zur Frauenproblematik. Es sind<br />

Versuche zu bemerken, die Probleme der<br />

Polinnen nicht nur zu thematisieren, sondern<br />

auch Lösungen zu erarbeiten.<br />

Dennoch ist die Situation weit von der<br />

westlichen » Frauenselbstverständlichkeit«<br />

entfernt. Frauengruppen existieren, sogar<br />

zahlreich, engagieren sich, versuchen nach<br />

dem westlichen Muster ein Frauenselbsdiilfenetz<br />

auf die Beine zu bringen - es engagieren<br />

sich jedoch selten die Frauen, die sich zusätzlich<br />

noch stets mit laufenden Alltagsproblemen<br />

auseinanderzusetzen haben. Feminismus<br />

ist vor allem unter den Studentinnen<br />

und/oder jungen Wissenschaftlerinnen präsent,<br />

in großen Städten, auch unter Lesben.<br />

Er hat aber mit der »normalen« Polin überhaupt<br />

nichts gemein. Daher fehlt es in Polen<br />

an feministischen Überlegungen, die der<br />

komplizierten Situation einer Polin mit<br />

ihrem Selbstbild gerecht würden. Polen kann<br />

keine westlichen feministischen Ideen und<br />

Methoden »pur« aufkaufen - der polnische<br />

Feminismus braucht eigene, spezifisch polnische<br />

Züge, so wie das Bild einer Polin seine<br />

spezifischen Eigenschaften hat.<br />

Am Ende des 2. Jahrtausends, zwanzig<br />

Jahre nach dem Beginn der der Solidaritätsbewegung,<br />

zehn Jahre nach der Wende, kann<br />

man sagen, daß sich sowohl die Lage der polnischen<br />

Gesellschaft, <strong>als</strong> auch die der polnischen<br />

Frau allmählich normalisiert. Die<br />

konservativen Strömungen in der Politik<br />

sind abgeklungen, die politischen Kämpfe<br />

insgesamt weniger wichtig geworden. Man<br />

hat sich an die- durch die Marktwirtschaft<br />

erzwungene wirtschaftliche und gesellschaftliche<br />

Selbständigkeit gewöhnt. Es sind zwar<br />

viele Frauen wieder »nach Hause« gegangen,<br />

man sieht aber, daß das »Zu-Hause-Sein«<br />

nicht unbedingt hemmend wirkt, daß sich<br />

gerade dadurch ganz viele Frauen emanzipiert,<br />

eigene Firmen gegründet, Kameren<br />

gemacht haben. Es sind starke Sparten für<br />

Frauen, die auch wahrgenommen werden,<br />

entstanden - zum Beispiel die Frauenliteratur<br />

mit einer ganzen Reihe hervorragender junger<br />

Schriftstellerinnen. Eine polnische Dichterin<br />

hat den Nobelpreis für Literatur bekommen,<br />

Eine polnische Regisseurin ist mit Erfolg<br />

nach Hollywood gegangen und macht Weltkarriere.<br />

Zu den zehn erfolgreichsten und<br />

reichsten Menschen in Polen zählen bereits<br />

drei Frauen. Das alles stärkt das Bewußtsein<br />

jeder Frau, auch der scheinbar unbedeutenden,<br />

unwichtigen.<br />

Von weitem betrachtet, scheint die polnische<br />

Frau im Vergleich zur Westeuropäerin<br />

relativ konservativ zu sein. In Polen sieht<br />

man aber, daß es nicht so ist. Unser Frauen-<br />

Modell ist vielleicht ein wenig sanfter und<br />

schöner, sicher ein bißchen eleganter <strong>als</strong><br />

anderswo. Also, wie die Polen es zu sagen<br />

pflegen: Unsere Lage ist extrem schlecht,<br />

aber nicht hoffnungslos.<br />

Ewa Maria Slaska ist Chefredakteurin der<br />

deutsch-polnischen Literaturedition »WIR«<br />

Ivonna Mickiewicz<br />

Gleich sind wir an diesem frühen Morgen<br />

Unsere Haut ist überall<br />

die Sonne quillt über<br />

Deine Füße Salome singend und treu<br />

Zwei nackte Einhörner in Kristallh<strong>als</strong>en<br />

von Tulpen<br />

Dann mag ich sehen<br />

Wie zwischen Luft und Atem<br />

eine Brust wächst fett und unbeweglich<br />

Welches Vorfall wandeln zwang uns<br />

Aus dem Infantintraum<br />

eine Nadel zu nehmen<br />

Einen Stern in der Baumwurzel<br />

einzuschläfern<br />

Wir wiederholten das<br />

wie ein eigenes Gedicht<br />

Der Rest vom abgehackten Vogelschnabel<br />

ist ein Stamm vermorscht<br />

Genau hier könnten wir uns treffen<br />

Abends vergesse ich<br />

Bitte die Mutter das Fenster zu putzen<br />

Vielleicht wird jemanden das Blut<br />

im Bauch des Spiegels schmerzen<br />

Unvermeidlichkeit dem Alter<br />

preisgeben<br />

Bevor wir mit Liebe und<br />

Schwefel spucken Salome<br />

Bevor wir sicher sind<br />

Daß uns der Tod zu eigen<br />

hier inmitten blumenlos<br />

enttäusche ich die Wände<br />

beschnuppere nicht mehr<br />

was es zu lieben gibt<br />

was kann man noch<br />

unter das Messer nehmen<br />

gegen den Strich betrachten atemlang<br />

den leeren Sommer teilen wir<br />

das Lamm zu tief<br />

im Mund der Schuh entfernt<br />

um eine Nacht<br />

der Tisch mit rippigem Schatten<br />

reizt nicht unsere Faust<br />

mir gegenüber dein entscheiden<br />

licht aus<br />

der Luft ein Gleichgewicht zu überwunden<br />

zu überaugen wie im Honig<br />

wölbt sich die fette Zunge<br />

es ist so weit daß ich mir<br />

das Ankommen verzeihe<br />

und Abwarten<br />

f.1 2(1999


TITEL<br />

Lidice: Der Name wurde zum Symbol<br />

für die sinnlose Grausamkeit der Nazis, die<br />

die SS in der Nacht vom 9. auf den 10. Juni<br />

7942 Lidice bescherte. Mila Kalibovä war 19<br />

jähre alt, <strong>als</strong> das Terrorkommando in ihrem<br />

Dorf einfiel. Die Frauen von Lidice wurden<br />

in das Konzentrationslager Ravensbrück<br />

deportiert. Erst nach dem Krieg erfuhren sie,<br />

daß die Deutschen alle 173 Männer des Dorfes<br />

erschossen, daß sie 88 Kinder verschleppt<br />

und die meisten von ihnen getötet hatten.<br />

von<br />

» UL t/<br />

i.aice<br />

Bis zum 10. Juni 1942 wohnten in Lidice<br />

493 Einwohner. Die Männer arbeiteten meistens<br />

in den Stahl- und Kohlebergwerken im<br />

sieben Kilometer entfernten Kladno, die<br />

Frauen bestellten die Felder und versorgten<br />

die Haushalte. Die Vernichtung des Dorfes<br />

war ein Racheakt der Nazis auf das Attentat<br />

gegen Reinhard Heydrich, der seit September<br />

1941 Polizeiprotektor in Böhmen und<br />

Mähren gewesen war. Zwei Fallschirmjäger<br />

der in England stationierten tschechoslowakischen<br />

Armee hatten den SS-Gruppenführer<br />

und Polizeigeneral Heydrich Ende Mai<br />

1942 so schwer verletzt, daß er am 4. |uni<br />

1942 starb. Die Gestapo verhängte das<br />

Standrecht und leitete eine umfangreiche<br />

Verfolgung der Attentäter ein. Lidice fiel in<br />

Verdacht, weil zwei junge Männer des Dorfes<br />

<strong>als</strong> Soldaten in der tschechoslowakischen<br />

Armee dienten. Sie waren aber schon seit<br />

Dezember 1939 verschollen. Ohne irgendwelche<br />

Beweise nahm die Gestapo die Verwandten<br />

dieser beiden Soldaten fest, acht<br />

Männer und sieben Frauen, und erschoß<br />

sie kurzerhand. Doch auch das erfuhren<br />

die Frauen von Lidice erst nach dem Krieg.<br />

Und auch wohin ihre unfreiwillige Reise<br />

ging, wußten sie dam<strong>als</strong> noch nicht.<br />

aufgeschrieben und festgehalten von Doris Liebermann<br />

Sie wollte Geigerin werden und begann ihre Amtszeit mit einem<br />

Paukenschlag- Erika Steinbach, Vorsitzende des Bundes der<br />

Vertriebenen. Die Tschechen hätten unter den Nation<strong>als</strong>ozialisten<br />

kaum gelitten, trommelte die CDU-Bundestagsabgeordnete letztes<br />

Jahr zu Pfingsten. Kaum gelitten - was das heißt, zeigt hingegen<br />

das Schicksal des Bergarbeiterdorfes Lidice, 20 Kilometer<br />

Drei |ahre blieben die Frauen von Lidice<br />

im KZ Ravensbrück. Nach ihrer Rückkehr<br />

aus Ravensbrück, Anfang 1945, erfuhren sie<br />

die schreckliche Wahrheit. Daß noch Kinder<br />

überlebt haben können, wie manchmal vermutet<br />

wurde, das hält Mila Kalibovä für<br />

unwahrscheinlich. Einmal im |ahr kommt<br />

sie mit arideren Frauen zu Besuch nach Berlin,<br />

eingeladen von dem SPD-nahen Arbeitskreis<br />

für politische Bildung, der seit Jahren<br />

Kontakte zu dem nach dem Kriege völlig<br />

neu gebauten Dorf Lidice pflegt. In Berliner<br />

Schulen erzählt Mila Kalibovä aus ihrem<br />

Leben und hofft, daß das, was sie erlebt hat,<br />

niemandem passieren möge: »<br />

westlich von Prag.<br />

2IT999


TITEL<br />

»Es waren einige furchtbare Momente, ja.<br />

Das war zum Beispiel diese Nacht, <strong>als</strong> wir<br />

nach Mitlernacht geweckt wurden, in den<br />

Häusern, wir die Häuser verlassen mußten<br />

und uns gesagt wurde: Ihr geht für drei Tage<br />

in die Schule. Nehmt warme Kleidung und<br />

etwas zu Essen mit. Und, an dem Dorfplatz,<br />

wurden wir dann von den Männern getrennt,<br />

und dk1 Frauen und Kinder wurden in die<br />

St huli' geführt. Als wir alle dort waren, mußten<br />

wir in die l astkraftwagen vor der Schule<br />

einsteigen. Wir wurden in eine Schule nach<br />

Kladno gebracht, wo gegenüber die Amtsstelle<br />

der Gestapo war. Da wurde die meiste<br />

Aufmerksamkeit den Kindern gewidmet, ja.<br />

Die wurden eingeschrieben, die Krankheiten,<br />

die sie durchlebt haben, und die Familienund<br />

Su/ialVerhältnisse. Und sie wurden<br />

gefragt, ob jemand von den Vorfahren ein<br />

Deutscher war. Am dritten Tag sind mehrere<br />

Gestapomänner gekommen und sagten: Ihr<br />

wißt, was in Lidice geschehen ist. Ihr geht<br />

für eine Zeit in ein Lager, geht mit dem Zug.<br />

Die Kinder gehen mit dem Bus, damit die<br />

Reise für sie bequemer ist. Gewaltsam wurden<br />

die Kinder von den Müttern getrennt,<br />

die nicht gehen wollten. Natürlich wollten<br />

die nicht gehen. Es weinten beide Seiten.<br />

Und das war das zweite, so schwere Erlebnis,<br />

die Nacht - <strong>als</strong> die Kinder weggenommen<br />

worden waren. Ich war neunzehn.<br />

Wir wurden dann in einen Zug auf dem<br />

Bahnhof gebracht. Das war Freitag abends,<br />

und am Sonntag früh sind wir an einem kleinen<br />

Bahnhof, Ravensbrück, angekommen.<br />

Da standen Frauen in SS-Uniformen mit<br />

Hunden, Wolfshunden am Bein und Revolver<br />

und schrien: Zu fünft aufstellen. Dann<br />

wurden wir durch das Tor 'Arbeit macht frei'<br />

geführt. Da standen wir dann auf dem Lagerplatz,<br />

und in der ersten Baracke ging ein<br />

Fenster ein Stück auf und in Tschechisch<br />

fragte jemand: Wer seid ihr? Unsere Gruppe<br />

wurde in Ravensbrück bereits erwartet. Wir<br />

sagten: Wir sind von Lidice. Sind unsere Kinder<br />

hier? Hier sind keine Kinder, sagten sie.<br />

Und später im Bad haben wir erfahren, daß<br />

wir im Konzentrationslager sind.<br />

Ich sage immer, die drei Jahre waren viel<br />

schlimmer für uns <strong>als</strong> für die anderen Häftlinge,<br />

weil wir drei Generationen waren, ja.<br />

Die Großmutter und die Mutter und die<br />

Töchter. Wir kannten uns, waren Kameradinnen,<br />

Schulkameradinnen und Nachbarinnen.<br />

Und wir haben das Leid dieses Lebens<br />

mitgelebt, mit den anderen. Und in den Briefen<br />

nach Hause - einmal im Monat konnten<br />

wir schreiben, wie überall in den Konzentrationslagern<br />

- haben wir gefragt, was ist mit<br />

unseren Kindern und Männern? Und von zu<br />

Hause, von Verwandten, haben wir die Antwort<br />

bekommen: Den Männern geht es wie<br />

euch, und die Kinder hätten von Polen geschrieben.<br />

Und so haben wir die drei Jahre<br />

durchlebt. Und zu Ende April 45 wurde<br />

Ravensbrück evakuiert, und wir wurden auf<br />

einen Todesmarsch geschickt, zuerst unter<br />

der Wache von den SS-Leuten, und später, <strong>als</strong><br />

die verschwunden waren, waren wir allein.<br />

Und noch einen Monat wanderten wir durch<br />

Deutschland, schrecklich vernichtet war das,<br />

überall Ruinen, und auch die Moral war am<br />

Ende, und dann zu L;nde sind wir in ein<br />

Sammellager für Ausländer in Neubrandenburg<br />

gekommen, und dann wurden wir von<br />

zwei Bussen von Kladno-Betriebe nach<br />

Hause zurückgeführt.<br />

Die Mithäftlinge, die später noch kamen,<br />

die wußten schon die Wahrheit. Aber weil sie<br />

unsere Verzweiflung sahen, wurde es ihnen<br />

von den anderen Häftlingen verboten, uns<br />

etwas zu sagen. Also wußten wir es die ganze<br />

Zeit nicht. Wir hofften, daß unsere Familienmitglieder<br />

noch lebten. Daß das nicht stimmte,<br />

das haben wir erst dann erfahren, <strong>als</strong> wir<br />

Anfang Juni zurückkehrten. Erst da erfuhr<br />

ich, daß mein Vater erschossen worden war.<br />

So mußten wir das Leben, nur wir Frauen,<br />

neu beginnen. Wir mußten erfahren, daß<br />

alle Männer erschossen wurden, und mußten<br />

das annehmen. Aber daß jemand den<br />

Kindern wehtun kann, den unschuldigen<br />

Kindern, das wollten wir nicht glauben. Es<br />

gab eine ausgedehnte Fahndung nach den<br />

Kindern. Erst 1947, <strong>als</strong> 17 Kinder gefunden<br />

wurden, haben wir von einem Zeugen in<br />

Polen erfahren, daß die Kinder nach Lodz in<br />

Lastkraftwagen gebracht worden waren und<br />

später vergast wurden, 82 Kinder.<br />

Sieben Kinder, die unter einem Jahr<br />

waren, die sind in Prag in einem deutschen<br />

Kinderhaus geblieben, und von Lodz wurden<br />

neun Kinder abgezogen und in ein Kinderheim<br />

gegeben, und dann an deutsche Familien<br />

verkauft. Und datin sind am Leben <strong>als</strong>o<br />

die neun und sieben, ein Knabe ist gestorben<br />

in Prag, in diesem Kinderhaus. Und dann<br />

noch sechs sind geboren nach der Tragödie,<br />

aber vier sind in der Matrik <strong>als</strong> Verstorbene<br />

gezeichnet. Und nur zwei davon leben. Insgesamt<br />

nur siebzehn Kinder von 105 sind<br />

am Leben gebliehen.<br />

Das erfuhren wir alles von den Leuten.<br />

Das war ein Lager für die Kinder, meistens<br />

für die jüdischen Kinder, wo die anderen hinkamen.<br />

Also man weifs nicht, was für Kinder<br />

weggenommen wurden. Ks sind auch Dokumente,<br />

daß sie nach Svatobozice, das ist in<br />

Mähren, in ein Lager gebracht wurden. Also<br />

man weiß es nicht. Da sind diese zwei jungen<br />

deutschen Leute, die nach den Kindern suchen.<br />

Aber die Frauen in l.idice haben sich schon<br />

damit abgefunden, dafs sie schon gestorben<br />

sind. Es ist schwer, so nach 50 Jahren. Die<br />

Kinder wußten nichts, auch die, die in den<br />

deutschen Familien, die hallen ganz vergessen,<br />

wo sie eigentlich herkamen. Ihnen wurde<br />

gesagt, ihre Eltern leben nicht mehr, <strong>als</strong>o sie<br />

mußten deutsch sprechen, in deutsche Schule<br />

gehen, und das frühere Leben ganz vergessen.<br />

Da waren Mädchen um 10 Jahre, die<br />

wußten schon etwas, und können sich erinnern,<br />

aber da waren auch kleinere Kinder.<br />

Ich denke, das jetzige Deutschland war<br />

etwas anderes in der Nazi-Zeit. Wir haben das<br />

erlebt, wir hatten auch diese Totali tat-Regime,<br />

da können wir besser begreifen, was das mit<br />

den Leuten machen kann, weil bei uns die<br />

Leute auch viele Jahre verhaftet waren, und<br />

von dem Regime viel gelitten haben. Ich<br />

denke, daß wir trotzdem nicht ganz belehrt<br />

von der Historie sind - doch etwas, dafs wir<br />

ein besseres Leben und Menschen sein<br />

wollen.«<br />

Doris Liebermann, Osteuropaexpertin,<br />

freie Autorin und Hörfunkjournalistin,<br />

lebt in Berlin.<br />

'i 2(1999


TITEL<br />

Brigitte Schulze<br />

w i e<br />

Pan<br />

wagen<br />

Intellektuelle, Mutterkult, Frauenbewegung und Politik in der Ukraine -<br />

persönliche Beobachtungen einer Korrespondentin<br />

Ankunft: Kiew- Flughafen Borispol:<br />

über die Brücke fahren, die die Hauptstadt<br />

der Ukraine in ein rechtes und ein linkes<br />

Ufer teilt: der Mutter l leimat entgegen.<br />

jener riesigen Statue aus der Sowjetzeit,<br />

dem Wahrzeichen der Verteidigung; Heimat<br />

fühlen; Anschluß an ukrainische l;reunde in<br />

der grünen Stadt, wie das mehr <strong>als</strong> anderthalb<br />

Jahrtausend alte Kiew wegen seiner viden<br />

Parks genannt wird. Die nachhaltigsten Eindrücke<br />

der ersten Zeit? Eine Klohürste ist<br />

nicht zu finden, ebensowenig eine Plastikschüssel.<br />

Dafür graues Schreibpapier. Schon<br />

zehn Geschäfte habe ich abgesucht.<br />

»Du willst doch nicht von der Toilette essen«,<br />

hat einer meiner besten Freunde in Kiew einmal<br />

zu mir gesagt. Und dennoch: Ich will das<br />

Klo putzen, die Fenster polieren, mich ein<br />

bißchen deutsch fühlen in diesem für mich<br />

so ungewohnten Land, daß ich allen Unkenrufen<br />

zum Trotz angefangen habe zu lieben,<br />

obwohl hier alles so anders ist, und der sozialistische<br />

Geruch, wie ich ihn nenne, über<br />

allem liegt: eine Mischung aus schlechtem<br />

Benzin. Mottenpulver, starkem Tabak, Menschenausdünstung<br />

und Parfüm.<br />

Ob ich auch schonmal Schiauge gestanden<br />

hätte, hat mich Jura, mein ukrainischer Journalistellkollege<br />

einmal gefragt. Ja - natürlich<br />

- und ich habe auch gespürt, wie die Aggression<br />

in mir hochkroch. Warum in so einer<br />

Schlange stehen? Warum existiert sie überhaupt?<br />

Was sind das für Menschen, die sich<br />

geduldig einreihen und stundenlang auf die<br />

Öffnung irgendeines Amtes, eines Geschäftes<br />

oder sonst etwas warten? Menschen, die das<br />

Warten gelernt haben, die alles geduldig hinnehmen?<br />

Ich habe hier etwas zu lernen: ein<br />

Stück Leben, anders <strong>als</strong> ich es bisher kannte,<br />

Es fällt mir schwer, dies in Worte zu fassen.<br />

Berichte über die Ukraine - Sachinformationen?<br />

Wie kann das gehen, wo doch alles<br />

von persönlichen Geschichten geprägt ist.<br />

Politik - auch da sind Menschen am Werk<br />

mit ihrer ganz persönlichen Geschichte,<br />

deretwegen sie sich oft und leicht in Machtkämpfe<br />

verstricken. Mensch sein - das<br />

bedeutet Leben. Und Leben verändert sich<br />

jeden Tag, wie jeder Mensch in jeder neuen<br />

Situation. Dieser fortwahrende Prozeß in<br />

Bezug auf ein Land läßt sich mit Worten und<br />

Sätzen kaum beschreiben. Ich versuche es<br />

dennoch, <strong>als</strong> Schlaglicht auf die Ukraine aus<br />

persönlicher Sicht. Was ich gestern schrieb,<br />

2)1999 '5


TITEL<br />

ist langst überholt. Heute gibt es Klobürsten,<br />

Faxpapier, eine Menge neuer Restaurants und<br />

Läden. Was aber bleibt ist die Beziehung zu<br />

den Menschen, zu den Frauen, die ich traf.<br />

Manche, zunächst rein berufliche Begegnung,<br />

führte häufig zu persönlicher Betroffenheit<br />

und der meist offenen Frage, wie sie es wohl<br />

schaffen, immer wieder ihre oft mißliche<br />

Lage /u meistern und Wege /um Überleben<br />

zu finden, Es ist ein Paradox, das für Fremde<br />

unlösbar scheint, auch dort in der Schule 270,<br />

einem der Plattenbauten, wie sie für die<br />

Randbezirkc von Kiew typisch sind.<br />

Zufallig Stoffe ich auf die F;rauen, deren<br />

Stimmen grell durch die Küchen t ür dringen.<br />

Die Organisationschefin und die Gastgeber<br />

werfen sich ärgerliche Blicke zu. Fs war nicht<br />

abgemacht, in der Küche derartig lustig zu<br />

sein. Schließlich waren die Frauen zum<br />

Kochen engagiert, dafür, etwas auf den Tisch<br />

zu bringen. Aber während die Gäste essen,<br />

erlauben sich auch die Köchinnen ihre Feier.<br />

Erneut schwillt der Gesang ukrainischer<br />

Volkslieder an. Was geht dort vor? Ich schiebe<br />

vorsichtig die Schwingtüre auf. Acht weibliche<br />

Körper, von denen mit Sicherheit die Hälfte<br />

die Zwei-Zentner-Grenze überschritten hat,<br />

geben in Hausschuhen, mit speckigen Kittelschürzen<br />

und fettigen Haaren unverhohlen<br />

ihrer Lebensfreude Ausdruck. Daß sie von<br />

einer westlichen )ournalistiri angesprochen<br />

werden, empfinden sie fast wie einen politischen<br />

Akt. auf alle Fälle aber <strong>als</strong> ein Zeichen<br />

der Verbundenheit mit ihrem »Land am<br />

Rande«, wie die Ukraine wörtlich übersetzt<br />

heißt. Sie sind dankbar, daß eine deutsche<br />

Zeitung veröffentlichen will, was sie denken:<br />

Daß die Ukraine ein gastfreundliches Land<br />

ist. daß beleibte Menschen immer lustig<br />

sind, und daß Fremde, vor allem die Deutschen<br />

in der ehemaligen Kornkammer Furopas<br />

immer gern gesehen werden.<br />

Nicht alle Frauen leben so unbeschwert<br />

wie die wohlbeleibten Köchinnen in der<br />

Schule 270, wo es bei entsprechenden Anlässen<br />

alles gibt, und wo sie für ihre Arbeit<br />

auch bezahlt werden. Die Masse erhält oft<br />

monatelang keinen Lohn. Auf ihre Männer,<br />

denen es meist genauso geht, können sie<br />

auch nicht /ählcn. Diese Frauen suchen<br />

ihren Ausweg im Geschäft auf der Straße.<br />

Alte Mütterchen verkaufen auf den Basaren<br />

alle möglichen Utensilien, die sie aus dem<br />

Haushall oder von persönlichen Dingen erübrigen<br />

können. Armselig stehen sie da, ein<br />

Sieb in der Hand, das Kunden anlocken soll.<br />

Auf dem Roden liegt eine alte Armatur, daneben<br />

ein gufseisernes Bügeleisen, abgetragene<br />

Kleidung, Aliiminiumgeschirr und vieles<br />

andere, was in Deutschland im Mülleimer<br />

landen würde. Wer keine Ware anbieten kann.<br />

versucht es mit kleinen Dienstleistungen,<br />

wie die Rentnerin im Gidropark neben der<br />

Dnjeprbrücke. Der Park mit seinen weit<br />

verzweigten Wegen und Nebenarmen des<br />

Dnjepr ist ein beliebtes Ausflugsziel für die<br />

Kiewer Bevölkerung. Vor allern sonntags<br />

kann die alte Frau dort mit Einnahmen der<br />

Vorübergeilenden rechnen. Sie hat eine<br />

Waage dabei und für zwanzig Kopeki. das<br />

sind etwa 10 Pfennige.dürfen die Ausflügler<br />

ihr Gewicht prüfen oder für den gleichen<br />

Preis die Kraft im Arm. Die Frau an der Ecke<br />

ist Invalidin zweiten Grades und hatte drei<br />

Schlaganfälle. »Mir reicht die Pension von<br />

80 Hrywna nicht«, klagt sie, umgerechnet<br />

sind das etwa 40 Mark. Deshalb müsse sie<br />

einfach sehen, wie sie zu Geld komme.<br />

Die ständige Anspannung hat Folgen.<br />

Frauen, die gerade erst 40 Jahre alt sind,<br />

sehen häufig aus wie Sechzig. Vor allem auf<br />

dem Land, wo sie überdurchschnittlich hart<br />

arbeiten, sind ihnen die Spuren der Zeit ins<br />

Gesicht gefurcht. Die Perestroika habe ihr<br />

Leben aus dem Gleichgewicht gebracht,<br />

schimpfen einige Alte in Kanew, die am Ufer<br />

des Dnjepr von den Touristen leben. Während<br />

sie ihrem Unmut über die Politik und die<br />

schlechte Wirtschaftslage Luft machen, flattern<br />

ihre bunten Kopftücher lustig im Wind.<br />

Auch sie sehen nicht so aus, <strong>als</strong> würden sie<br />

am Hungertuch nagen. Fs ist das bekannte<br />

Kunststück in der Ukraine. Trotz Wirtschaftskrise<br />

gibt es immer zu Essen, sitzen Gäste<br />

am vollgedeckten Tisch, wobei das Jammern<br />

der Gastgeber über die schwierige Situation<br />

ständige Begleitmusik ist.<br />

Immer wieder habe ich mich den vielfältigen<br />

Erfahrungen in der Ukraine ausgesetzt,<br />

wollte das fremde l .eben hautnah und an der<br />

Basis selbst spüren. Ich arbeite unter primitiven<br />

Bedingungen, lebe in Kiew in einer<br />

düsteren 2-Zimmer-Wohnung, die ich durch<br />

einen übelriechenden, dreckigen Hausflur,<br />

oft von Hunden belästigt, erreiche. An den<br />

Wänden hängen traditionsgemäß Teppiche.<br />

In Küche und Bad sind Ameisen ständige<br />

Gäste. Die dunkelbraunen Schleiflackmöbel<br />

im Stil der 5oer jähre sind abgewetzt. Nur<br />

Fax und Telefon verbinden mich mit der<br />

westlichen Welt, vorausgesetzt ich gewinne<br />

gegen die schlechten Verbindungen. Vielen,<br />

die mit der ganzen Familie auf gleichem<br />

Raum auskommen müssen, erscheint diese<br />

Wohnung, die ich seit fünf fahren gemietet<br />

habe, <strong>als</strong> absoluter Luxus. Denn ich lebe dort<br />

allein.<br />

,6 2I'999


TITEL<br />

Foto: Nelly Rau-Häring<br />

Wie leben die anderen? Wo ist die Frau,<br />

die mich in ihr Leben hineinschauen läßt?<br />

Wie werden Frauen durch die neue Gesellschaftsordnung<br />

geprägt? Wie kommen sie<br />

mit der neuen, planlosen Marktwirtschaft<br />

zurecht, die ihnen der Zerfall der Sowjetunion<br />

und die U nab h ängigkei Verklärung der Ukraine<br />

7991 präsentiert haben? Bei Anja lasse ich<br />

einfach mein Tonband laufen und mich<br />

treiben. Ich brauche Entspannung in dem<br />

anstrengenden Land, in dem jeder Moment,<br />

vom Aufwachen bis zum Schlafengehen,<br />

Arbeit und Aufregung bedeutet.<br />

Anja, die ich schon einige Jahre kenne,<br />

ist Wissenschaftlerin. Seit rund zwei Jahren<br />

arbeitet sie in einem ukrainisch-englischen<br />

Gemeinschaftsprojekt in der rund 500 Kilometer<br />

von Kiew entfernten ostukrainischen<br />

Stadt Sumi. Meist treffen wir uns samstags,<br />

wenn sie mit dem Nachtzug nach Hause gekommen<br />

ist. Wir sitzen in der Küche, dem<br />

immer noch beliebtesten Treffpunkt in allen<br />

Haushalten. Bei Anja gibt es ohnehin keine<br />

andere Variante. Sie lebt nämlich auf engstem<br />

Raum mit ihrem Mann und dem halbwüchsigen<br />

Sohn in einer rund 35 Quadratmeter<br />

großen Einzimmerwohnung. Beim<br />

ersten Besuch war ich schockiert. Mittlerweile<br />

habe ich mich an den ständigen Essensgeruch<br />

gewöhnt, der in jede Ritze kriecht. Sogar<br />

eine Katze findet noch Platz in dem j-Personen-Haushalt,<br />

der bis unter die Decke mit<br />

allen erdenklichen Dingen vollgestopft ist.<br />

Soziale Maßstäbe, wie sie in Deutschland<br />

üblich sind, haben in der Ukraine eine andere<br />

Bedeutung. Die gesellschaftliche Rangordnung<br />

läßt sich kaum durchschauen. Das kommunistische<br />

Gefüge ist seit dem Zusammcnbruch<br />

der Sowjetunion aus den Fugen geraten, was<br />

eine eindeutige Zurodnung der Menschen zu<br />

einer bestimmten Schicht unmöglich macht.<br />

Geistige Arbeit wird gering geschätzt, körperliche<br />

in der Produktion nicht gebraucht.<br />

Viele Fabriken stehen still. Das große Geld<br />

verdienen in der heutigen Urnbruchsituation<br />

die Geschäftemacher und Händlernaturcn.<br />

Anjas Selbstbewußtsein jedenfalls leidet<br />

nicht darunter, primitiv leben zu müssen.<br />

Und der Gastfreundschaft tut es keinen<br />

Abbruch. Der Fmpfang ist immer herzlich.<br />

Sie drückt mich auf einen der drei Hocker in<br />

der Küche, bietet Krautsalat mit Eiern und<br />

Mayonnaise an. Auf dem Gasherd brutzeln<br />

in längliche Stücke geschnittene Kartoffeln.<br />

Manchmal gibt es zum Bier auch getrockneten<br />

Fisch, wenn wir über Gott und die Welt<br />

und die wirtschaftlichen Möglichkeiten<br />

reden. Als Wissenschaftlerin arbeitet Anja<br />

schon lange nicht mehr. Denn das bringt<br />

kein Geld. Und weil Bildung teuer ist und<br />

keinen schnellen Gewinn verspricht wie<br />

kurzfristige Geschäfte, wird die intellektuelle<br />

Elite ins Abseits gedrängt.<br />

Nur wenige sind in der Lage, weiter wissenschaftlicher<br />

Lehre und Forschung nachzugehen,<br />

wie Kira Schachowa, Professorin für<br />

Weltliteratur an der Kiewer Schewtschenko<br />

Universität. Sie wohnt im Stadtzentrum von<br />

Kiew in einem der schönen alten, verzierten<br />

Häuser, in der vierten Etage. In Strumpfhosen<br />

öffnet sie die Tür. So früh hat sie mit der<br />

Besucherin nicht gerechnet. Seelenruhig<br />

zieht sie sich die schwarzen feans an, streift<br />

den dünnen, rot-schwarz gemusterten Pullover<br />

glatt, über dem sie eine schwarze Lederweste<br />

trägt und eine Kette aus dicken, roten<br />

Perlen, dazu den passenden dicken roten,<br />

ovalen Ring und ebensolche Ohrringe. Ihre<br />

langen grauen Haare hat sie elegant im Nacken<br />

zusammengesteckt. Sie bittet in ihr Wohnzimmer,<br />

den mittleren von drei Räumen.<br />

Die Zimmer sind vollgestopft mit Büchern.<br />

In der Küche setzt sie den alten Teekessel<br />

auf und serviert Tee in abgenutzten Bechern.<br />

Der Kühlschrank ist abgewetzt, ein Stuhl<br />

kaputt, die Tapeten sind eingerissen und<br />

vergilbt, darunter bröckelt der Putz. »<br />

2I'999


TITEL<br />

Der Spülslein trägt die Spuren jahrzehntelangen<br />

Gebrauchs. Aber Kira Schachowa ist über<br />

derart Alltäg-liches erhaben. Aufräumen ist<br />

einfach hin und wieder Notwendigkeit, ihr<br />

aber nicht wichtig. Das Leben spielt sich für<br />

sie offenbar in anderen Sphären ab. Ihre<br />

Gedanken scheinen nicht stillzustehen.<br />

Ihre lebendigen Augen lassen einen nicht<br />

los, während sie über den Mutterkult in der<br />

Ukraine erzählt, für mich ein ganz neues<br />

Thema: »In der Ukraine ist der Kultus der<br />

Muller besonders, irgendwie heilig.« Woher<br />

das kommt? Die Psychologen und Ethnologen<br />

würden das mitunter ziemlich komisch<br />

erklären und daraus sogar ableiten, daß das<br />

ukrainische Volk wegen diesem Kultus der<br />

Frau und der Mutter irgendwie schwach<br />

und gutmütig sei.<br />

Duldsam sind alle Ukrainer, Männer<br />

wie Frauen. Aber ob das dem Mutterkult<br />

zuzuschreiben ist, wo doch die Frau immer<br />

noch alle Lasten trägt? Frau Schachowa zieht<br />

es selbst in Zweifel. Aber eines steht fest:<br />

Die Neuzeit ist brutal anders und verlangt<br />

eine völlige Umstellung aller Menschen und<br />

ihrer Werte. Früher war die Ukraine durch<br />

die Sowjetmacht russifiziert und die Blickrichtung<br />

damit klar. Seit dem Zusammenbruch<br />

der Sowjetunion und der Unabhängigkeit<br />

fehlt die Orientierung auf eigene,<br />

ukrainische Werte. Alte Maßstäbe gelten<br />

nicht mehr, neue sind noch nicht gefunden<br />

und es gebe leider noch »sehr viele Bremsen<br />

aus dem früheren Leben«, erklärt Frau Schachowa.<br />

Urplötzlich sehe man »die alten<br />

Ohren sich herausstecken. Aber ich bin<br />

Optimistin. Ich sage immer: Man muß<br />

etwas warten, schnell kommen nur Kaninchen<br />

oder Kätzchen zur Welt. Und wir sind<br />

doch erst so kurze Zeit ein freier Staat.«<br />

Ob sich dieser Staat anders entwickelt<br />

hätte, wenn in der Ukraine Frauen das Sagen<br />

hätten? Hätte es die Tschernobyl-Katastrophe<br />

gegeben? Gäbe es die Bergarbeiterstreiks irn<br />

Donbass-Gebiet der Ostukraine, Korruption,<br />

Wirtschaftskrise und die nationalistischen<br />

Auseinandersetzungen zwischen Ost, Westund<br />

Südukraine, wenn die Frauen die Verantwortung<br />

für die politische und wirtschaftliche<br />

Umgestaltung hätten? Die Hellseherin<br />

I.ilja Efimowna will es wissen. Eine von drei<br />

Frauen mit einem speziellen Karma soll in<br />

der übernächsten Arntsperiodc Präsidentin<br />

der Ukraine werden, ließ sie im »Boulevard«<br />

verlauten. Diese Frau sei klug, gut und in<br />

politischen Kreisen hinreichend bekannt.<br />

Die Ukraine werde schon von 1998 an<br />

wirtschaftlichen Aufschwung und eine nie<br />

geahnte Stabilität erleben. Es werde sich<br />

alles zum Besseren wenden.<br />

Zwei Frauen sind bereits in die Regierung<br />

der Ukraine aufgerückt und nehmen<br />

Ministerposten ein: im Justizministerium<br />

und im Ministerium für Jugend und Familie.<br />

Im Parlament genießt Natalja Witrenko <strong>als</strong><br />

Abgeordnete großes Ansehen. Eine erfolgreiche<br />

Unternehmerin mit politischem Einfluß<br />

ist Julia Timoschenko. Immer mehr Frauen<br />

in der Ukraine wollen ihr Bewußtsein für<br />

politische Fragen schärfen und politische<br />

Positionen sowohl auf lokaler <strong>als</strong> auch überregionaler<br />

Ebene einnehmen. Um diesem<br />

Ziel näher zu kommen, wurde die Frauenpartei<br />

»Liga der Frauen« gegründet. Möglicherweise<br />

unter ihrer ersten Präsidentin,<br />

so die Wahrsagerin I.illja Efimowna, werde<br />

es »in etwa zehn oder fünfzehn fahren in<br />

der Ukraine das Leben geben, das wir uns<br />

schon lange wünschen«.<br />

t K 2)1999


TITEL<br />

1 ,,,<br />

o<br />

Text: Barbara Kerneck<br />

Fotos: Petra Prochäzkovä<br />

»Ganz oder gar nicht« hieß einer<br />

der erfolgreichsten Kinofilme der<br />

Neunziger über eine Männerstripgruppe,<br />

besetzt mit rauhbeinigen<br />

Arbeitslosen aus der nordenglischen<br />

Provinz. Moskau zählt zwar<br />

nicht zum unterentwickelten, russischen<br />

Hinterland, aber Arbeit zu<br />

finden, ist auch dort ein Kunststück.<br />

Ganz oder gar nicht haben<br />

sich daher auch die »Golden Boys«<br />

gedacht: Rußlands erste Stripper<br />

sind hin- und hergerissen zwischen<br />

ihren Zuschauerinnen, Freundinnen<br />

und Müttern.<br />

Vor zwei Minuten hat der gutgebaute<br />

Mann Irina auf die enge Tanzfläche des<br />

Moskauer Nachtklubs Up & Down gezogen,<br />

und schon grapscht seine Hand nach ihrer<br />

Brust - leicht und doch irgendwie demonstrativ.<br />

Irina (38) fühlt sich weder belästigt<br />

noch überrascht. Der Mann ist für sie zwar<br />

ein Fremder, aber sie weiß ihn einzuordnen.<br />

Im Up & Down ist heute der allwöchentliche<br />

»Frauentag«. Und das bedeutet: Auftritt der<br />

mannlichen Strippergruppe »Golden Boys«<br />

und weibliches Publikum in der Überzahl.<br />

Irmas Tanzpartner und seine vier Kollegen<br />

haben sich eben erst - nicht ganz synchron<br />

und etwas tolpatschig - auf einer kleinen<br />

Bühne zu orientalischen Klangen aus Phantasie-Beduinentrachten<br />

geschält. Jetzt trägt<br />

er nur noch einen Slip. Die »Boys« sind<br />

Moskaus neuester Hit. Zwischen ihren Auf-<br />

Iritten sind sie angehalten, ihre Zuschauerinnen<br />

zu animieren - in jeder Hinsicht.<br />

Der blonde Mann, der mit Irina tanzt, ist<br />

zweiundzwanzig. Er wird von seinen Kollegen<br />

»Woltschonok« genannt: »kleiner Wolf«. Irina<br />

klebt an ihm, ihr Knie geht auf Erkundungsfahrt<br />

in seinem Schritt. Nur der Griff dorthin<br />

ist tabu - dies wird der Moderator zu Beginn<br />

jeder Show nicht müde zu betonen, in der<br />

Regel halten sich die Frauen daran. Aber um<br />

Woltschonok an allen anderen Stellen zu betasten,<br />

strecken sich schon ein Dutzend Hände<br />

aus dem Publikum. Irinas Finger fahren in<br />

den Bund seines G-Strings - mit einem<br />

Fünfzigdollarschein.<br />

Die ärmsten Frauen sind es nicht, die<br />

hierher kommen. Der Eintritt kostet 350 Rubel<br />

(24 DM). Nicht mehr bezieht so manche<br />

Babuschka in der Provinz <strong>als</strong> Monatsrente.<br />

Die Golden Boys selbst charakterisieren ihre<br />

weiblichen Fans so: »Das sind entweder die<br />

Ehefrauen von den Neuen Russen, die vor<br />

Langweile zu Hause verrückt werden, während<br />

ihr Mann Geld scheffelt - manche von<br />

ihnen beschwatzen ihren Gatten, ihnen<br />

einen Auftritt von uns auf ihrer Geburtstagsparty<br />

zu schenken. Und dann sind da die<br />

gutverdienenden Geschäftsfrauen, die sich<br />

nach Feierabend in einer sexy Atmosphäre<br />

erholen wollen. Unser Auftritt bildet für sie<br />

eher eine Kulisse«.<br />

Am S. März, dem internationalen »Frauentag«,<br />

hatte die Leitung des Up & Down dieses<br />

Wort buchstäblich genommen und männlichem<br />

Publikum den Zulritt gänzlich verwehrt.<br />

Bei dieser Gelegenheit fanden sich<br />

auch Zuschauerinnen ein, die sich das Spektakel<br />

sonst nicht leisten. Ihre Neugierde ließen<br />

sie an den Boy-Leibern gründlich aus: »Dam<strong>als</strong><br />

hatten wir Angst, aufgefressen '/,u werden«,<br />

erzählen die Stripper. Ob sie ihre An-Hangerinnen<br />

deshalb verachten?<br />

»Keineswegs!«, sagl Sascha Gerassiinow<br />

(24). Er erblickt in seiner Tätigkeit die Mission<br />

eines barmherzigen Bruders: »Manchen Frauen<br />

sehe ich es bereits von der Bühne aus an, daß<br />

sie mich brauchen«, sagt er: »Während ich<br />

zu ihnen gehe, bin ich schon ein bifschen in<br />

sie verliebt. Ich freue mich, wenn ich diesen<br />

Frauen ein wenig Freude spenden kann, denn<br />

davon haben sie in unserem bedrückenden<br />

Alltag nicht allzuviel«.<br />

lieber Stripper <strong>als</strong> Kriegci<br />

Das allzugute Leben kann es nicht gewesen<br />

sein, wovor diese [ungs in den Beruf des<br />

Strippers flohen. Noch vor zehn fahren wäre<br />

diese Tätigkeit für einen Russen undenkbar<br />

gewesen. Für die Boys ist sie heute eine normale<br />

Überlebensstrategie, insgesamt zehn<br />

Männer arbeiten auf den Bühnen verschiedener<br />

Nachtklubs in zwei Schichten, jeweils zu<br />

fünft. Auf mehr <strong>als</strong> die 4000 Rubel (ca. 205<br />

DM|, die jeder von ihnen monatlich erhält,<br />

könnten sie heute kaum rechnen. Aber dazu<br />

kommen an guten Tagen noch die Dollar-<br />

Trinkgelder von den Zuschauerinnen.<br />

Fast all diese Jungs kommen aus der<br />

Provinz, manche frisch vom Militär. Sie entgingen<br />

dem Schicksal, an einer der vielen<br />

Bürgerkriegs fronten des postsowjetischen<br />

Raumes <strong>als</strong> Kanonenfutter verheizt zu werden.<br />

Michajl Anissimow, Manager und Erfinder<br />

der Truppe, erhielt an einem einzigen Tag<br />

über 1200 Anrufe, nachdem er vor einem<br />

fahr die Anzeige in die Zeitung gesetzt hatte,<br />

mit der alles begann: »Suche junge Männer<br />

<strong>als</strong> Tänzer für erotisches Theater«. Dam<strong>als</strong><br />

meldete sich auch Sascha Gerassimow. Er ist<br />

der einzige Moskauer und der Selbstsicherste<br />

unter den Golden Boys. Nach zwei Jahren<br />

Militärakademie trainierte er 1995 Rekruten<br />

für den Einsatz in Tschetschenien. »Sie taten<br />

mir leid«, erinnert er sich: „Die Kommandeure<br />

wollten uns gulausgebildete Soldaten<br />

nicht opfern. Deshalb wurden die Unerfahrensten<br />

dorthin geschickt - und sie wußten<br />

weshalb«. Jetzt studiert Sascha nebenher an<br />

der Moskauer Hochschule für Luftfahrt -<br />

keine leichte Aufgabe angesichts eines Golden<br />

Boy-Arbeitspensums von zwölf Stunden täglich.<br />

Manager Anissimow besteht auf intensiver<br />

Arbeit mit dem Choreographen und<br />

Schauspielunterricht für alle.<br />

Anderntags übt der Schauspiellehrer Juri<br />

Andrannik mit Badur aus Afghanistan, wie<br />

man dem Professor mitten im Universitätsexamcn<br />

ein Schmiergeld zusteckt. Die zuschauenden<br />

Golden Boys lachen. Andrannik<br />

ist für sie mehr <strong>als</strong> ein Pädagoge. Er versucht,<br />

sie spielerisch vorzubereiten. Nicht nur auf<br />

2)1999


TITEL<br />

den Strip - auch auf das Leben danach. Was<br />

Badur betrifft, so hat der dem Bürgekrieg in<br />

seiner Heimat den Rücken gedreht. Manager<br />

Anissimow behauptet, in Badurs Adern fließe<br />

blaues Blut: »Man merkt es daran, daß er selbst<br />

bei engstem I lautkontakt noch Distanz zu<br />

wahren versteht«.<br />

[•'roiwillig in den Bürgerkrieg begab sich<br />

dagegen ein anderer Golden Boy aus der<br />

Ukraine, der ebenfalls Sascha heißt. Sascha II<br />

(22) hatte seinen Wehrdienst fast beendet, <strong>als</strong><br />

ihn Emissionäre der französischen Fremdenlegion<br />

1996 für den NATO-Dienst bei Sarajewo<br />

anwarben. Nicht, daß es ihn besonders<br />

dorthin gezogen hätte, aber dort gab es »so<br />

ein Geld«. Mit 500 Dollar pro Monat waren<br />

die Ukrainer zwar die schlcchtbe/ahltesten<br />

Nalo-Soldaten vor Ort. Dafür verklärt sich<br />

Saschas Gesicht noch heute beim Gedanken<br />

an die französische Verpflegung. Seine Freundin<br />

Natascha, eine echte Moskauerin, war<br />

anfangs mit seinem neuen Beruf nicht einverstanden.<br />

Nun aber meint sie: »Mach, was<br />

du willst, nur in den Krieg lass' ich dich nie<br />

wieder«.<br />

Die Freundinnen<br />

»Jeder Golden Boy hat eine feste Freundin«,<br />

behauptet Manager Michajl. Fr neigt<br />

zu Ubertreibungen, aber auf die Mehrheit<br />

der Jungs trifft seine Feststellung zu. Michajl<br />

betont, für ihn sei es sehr wichtig, die Jungs<br />

privat gebunden zu wissen; »Da bin ich sicher,<br />

daß sie sich nach der Vorstellung daheim<br />

regenerieren und nicht noch weitere Kräfte<br />

verpulvern«. Ihre Verträge verbieten den Golden<br />

Boys Kundinnen-Kontakt nach der Show.<br />

»Und dazu wären wir auch viel zu müde«,<br />

schwören alle. Falls sich die beruflich sanktionierten<br />

Fummeleien einmal bis ins Morgengrauen<br />

hinziehen, haben die »Boys« im<br />

Moskauer Zentrum ein Zimmer in einer<br />

Gemeinschaftswohnung zum Übernachten<br />

gemietet. Und Michajl Anissimow ruft nacheinander<br />

ihre Bräute an.<br />

Seine Natascha stellt uns Sascha II gerne<br />

vor. Er ist stolz auf die blasse junge Frau mit<br />

den Proportionen und den goldblonden Haaren<br />

einer Barbie-Puppe. Nataschas noch nicht<br />

schulpflichtigem Sohn versucht er, ein guter<br />

Stiefvater zu sein. Ob er sich vorstellen könne,<br />

daß der Junge später auch einmal <strong>als</strong> Stripper<br />

arbeite? »Ja«, sagt Sascha ohne mit der Wimper<br />

zu zucken. Natascha zögert. Dazu möchte<br />

sie sich lieber nicht äußern. Natascha weiß,<br />

daß Sascha 11 im Dienst andere Frauen betatscht.<br />

»Auch dagegen habe ich nichts«, sagt<br />

sie: »Ich wünsche mir nur, daß er sie akkurat<br />

anfaßt!« Über die Möglichkeit, dies einmal<br />

selbst nachzuprüfen, verfügt sie nicht. Wie<br />

alle Golden Boys ist auch Sascha strickt gegen<br />

die Anwesenheit seiner Freundin bei der<br />

Show und erklärt: »Da wäre icli total gehemmt!«.<br />

2(1999


TITEL<br />

Und die Freundin? Möchte sie nicht den<br />

Männer-Strip einmal selbst erleben? »Daran<br />

hindert mich vorläufig meine Erziehung«,<br />

sagt sie altklug: »Aber vielleich später einmal<br />

- wenn ich <strong>als</strong> Frau reifer bin.«<br />

Die Mütter<br />

Der [üngste in der Truppe ist 18 Jahre alt.<br />

Da die Frauen in Rußland im Durchschnitt<br />

ihre Kinder mit Anfang zwanzig bekommen,<br />

könnten viele der Zuschauerinnen und Tanzpartnerinnen<br />

der Golden Boys gut und gerne<br />

ihre Mütter sein. Was ihre wirklichen Mütter<br />

betrifft, so versichern die meisten der Stripper,<br />

hätten die nichts gegen ihren neuen Beruf.<br />

»Sie sind froh über alles, was uns hilft, in<br />

Moskau Fuß zu fassen«, meint einer aus der<br />

Truppe. Tatsächlich gibt es weniger erfreuliche<br />

Wege, sich in der verheißungsvollen Hauptstadt<br />

zu etablieren. Viele Altersgenossen der<br />

Boys »fassen Fuß«, indem sie ihre trainierten<br />

Körper in den Dienst von Mafia-Banden stellen.<br />

Die professionelle »Großfamilie«, die die<br />

»Boys« bilden, ist weit harmonischer, <strong>als</strong> die<br />

meisten Kleinfamilien. Ein Lied davon singen<br />

kann der »kleine Wolf«. Als Jugendlicher<br />

erschlug er seinen Vater, weil dieser wieder<br />

einmal drauf und dran war, seine Mutter<br />

bewußtlos zu prügeln. Das Gefängnis blieb<br />

ihm erspart. Aber erst hier, bei den Golden<br />

Boys, fühlt sich Woltschonok <strong>als</strong> wertvolles<br />

Mitglied der Gesellschaft. Nur in einem Punkt<br />

unterscheidet er sich von den anderen: Der<br />

quasi Spätpubertierendc widmet sich dem<br />

Dienst an den Frauen aus dem Publikum mit<br />

noch größerer Hingabe. »Manchmal stehen<br />

die übrigen schon auf der Bühne, wenn wir<br />

ihn noch mit Gewalt von einer Zuschauerin<br />

loseisen müssen«, lacht Manager Anissimow.<br />

Wie alle Mütter, machen sich auch die<br />

der Golden Boys Sorgen um die Zukunft<br />

ihrer Kinder. Wohl kaum verwirklichen läßt<br />

sich der naheliegendste Traum der Jungs:<br />

»aus Golden Boys werden einst Golden Men<br />

und dann Golden Grandfathers«. Deshalb<br />

halten sie es mit Sascha II, der sagt: »Ich<br />

bemühe mich, nicht in eine Richtung zu<br />

starren, in der ich noch nichts erkennen<br />

kann«.<br />

Wenn ihre fernere Zukunft auch im Nebel<br />

bleibt, so hegen die »Boys« doch ganz konkrete<br />

Hoffnungen für die nächsten Monate.<br />

Der »kleine Wolf« bringt sie auf den gemeinsamen<br />

Nenner: »Das Tollste für uns wäre eine<br />

Tournee durch Westeuropa. Dann könnten<br />

wir das Geldverdienen damit verbinden, die<br />

Welt kennenzulernen. Und außerdem könnten<br />

wir den Frauen im Westen mal zeigen,<br />

was an uns russischen Männern so dran ist«.<br />

Barbara Kerneck ist freie Autorin und<br />

Korrespondentinfür die taz in Moskau.<br />

f 2(1999


TITEL<br />

Ein Frauenleben in Rumänien<br />

Erst <strong>als</strong> ich Lilo neun Jahre nach unserer<br />

ersten Zusammenkunft sah, fiel mir auf, wie<br />

jung sie dam<strong>als</strong> gewesen war und daß sie jetzt,<br />

eine Frau von sechsunddreißig jähren, ihre<br />

zarte Schönheit, die in einer sehr weißen Haut<br />

und einem feingliedrigen Körper lag, <strong>als</strong> etwas<br />

Vergangenes zu betrachten gelernt hatte. Es<br />

gab dam<strong>als</strong> gerahmte Portraitaufnahmen von<br />

ihr in ihrer Wohnung, von bekannten Fotografen.<br />

Sie war das gehätschelte Kind der im<br />

Land gebliebenen deutschsprachigen Kulturgemeinschaft,<br />

ein Bündel Energie und Mitgefühl,<br />

das viel wußte, viele kannte und<br />

aufgrund seiner moralischen Integrität für<br />

Literaten wie Journalisten, für Musiker und<br />

Akademiker oftm<strong>als</strong> der einzige Anlaufpunkt<br />

war, um ein Gespräch zu führen. Ohne eine<br />

Intrige befürchten zu müssen oder um eine<br />

Hilfe anzunehmen, die an eine Bedingung<br />

geknüpft war. Ihr Studium an der Universität<br />

in Bukarest an einer Fakultät, die die Rumänen<br />

in der Tradition Frankreichs »Litere«<br />

(lettres) nennen, schloß sie mit einer soziologischen<br />

Arbeit über die deutschen Dörfer im<br />

Banat ab, die zum Zeitpunkt, <strong>als</strong> sie zur Verteidigung<br />

ihres Diploms anhob, zum großen<br />

Teil schon verlassen waren und nunmehr ein<br />

historischer Gegenstand. Durch Siebenbürgen<br />

reisend sah ich später die Ruinen der<br />

Häuser, die Lilo, <strong>als</strong> die Farben auf den Mauern<br />

noch nicht verblaßt waren, für den Anhang<br />

ihrer Arbeit auf Fotografien festgehalten hatte.<br />

Dam<strong>als</strong>, im ersten Jahr nach der Revolution,<br />

lebte ihre Mutter noch, eine würdevolle<br />

Kettenraucherin mit Augen wie Romy Schneider.<br />

Es hieß, daß sie seit einem - Jahrzehnte<br />

zurückliegenden - Tag, an dem sie von einem<br />

Auto angefahren worden war, das Haus nicht<br />

mehr verlassen habe. Als Ehefrau eines hohen<br />

Funktionärs, der die deutsche Minderheit -<br />

die in Rumänien von den sechziger bis zu<br />

den achtziger Jahren eine relativ weitreichende<br />

kulturelle Autonomie besaß - in den Entscheidungsgremien<br />

des Zentralkomrnitees<br />

vertrat, wurden ihr insbesondere in der jungen<br />

sozialistischen Republik Privilegien zuteil,<br />

wie sie großbürgerliche Haushalte gepflegt<br />

haben mögen: I.ebensmittelheferungen am<br />

Dienslboteneingang, der in die Küche der<br />

modernen Wohnung (auf dem Boulevard mit<br />

Innen- und<br />

Außenperspektive<br />

miteinander<br />

verflochten<br />

den Botschaften) mündete. Daß die Mittelschicht<br />

in Rumänien bis dahin in zwar<br />

bescheidenem, aber den Bruderländcrn in<br />

nichts nachstehendem Wohlstand lebte, ist<br />

im Ausland kaum noch bekannt. Den einsetzenden<br />

Zusammenbrach der Ökonomie<br />

Anfang der achtziger fahre - jene bittere<br />

Armut <strong>als</strong>o, die über die Bevölkerung fast<br />

schlagartig und von einer perfiden Arroganz<br />

der gegenteilig lautenden offiziellen Verlautbarungen<br />

begleitet einbrach, hat diese Frau<br />

möglicherweise nicht mehr mit eigenen Augen<br />

gesehen. Sie hätte, wieviele Menschen, die in<br />

der forcierten Industrialisierung Rumäniens<br />

nicht nur ein politisch- ökomisches Dogma,<br />

sondern auch einen Fortschritt erblickten,<br />

allen Grund gehabt, eine andere Sicht von<br />

ihrem Land zu bewahren.<br />

Ich weiß nicht, ob Lilo zu der Zeit, <strong>als</strong><br />

meine Großmutter noch in Rumänien lebte<br />

und kein deutschsprachiges Magazin und<br />

keinen Heinz-Rühmann-Film ausließ, bereits<br />

die Moderation der deutschen Sendung im<br />

staatlichen Rundfunk übernommen hatte.<br />

Ihr Deutsch ist perfekt, ihre Sprach kompetent<br />

erstaunlich: Ausgeprägte Diktion, akzentfreie<br />

Aussprache. Sie schreibt Briefe mit langen,<br />

gewundenen Einleitungen, mit Übergängen,<br />

die den Adressaten in die nächste Erzählung<br />

hineinziehen, mit Darstellungen, die Innenund<br />

Außenperspektiven miteinander verflechten:<br />

Lilo im Abenkleid. aus dem Athenäum<br />

kommend, beim Solisten des Konzertes<br />

untergehakt, während auf den Boulevards<br />

Bukarests noch Autowracks ausglühen nach<br />

verheerender Straßenschlacht. Später, nach<br />

dem Sturz des Regimes, in jener ersten Zeit,<br />

in der die Öffentlichkeit der Hauptstadt in<br />

großem rührendem Taumel die Befreiung<br />

von den rigiden Erlassen der diktatorischen<br />

Führung genoß und die Machtmechanismen<br />

der neuen Regierung noch nicht beachtete,<br />

fing Lilo eine eigene, täglich ausgestrahlte<br />

Kultursendung für die internationale Welle<br />

in deutscher Sprache an. Früher hielt sie ihr<br />

hübsches Gesicht für Verlautbarungen hin,<br />

die vorzutragen ihr weniger ihre Gaben und<br />

Fähigkeiten, sondern ihre untadelige Herkunft<br />

aus politisch eindeutig positionierter<br />

Familie ermöglicht hatte.<br />

von Irina Rudolph<br />

Mitte der Achtziger war sie mit einer<br />

ersten Reportage über »Die Karpaten im<br />

Sommer« redaktionell beauftragt worden,<br />

und sie fuhr für ein Wochenende in die Berge<br />

mit dem dam<strong>als</strong> begehrtesten Kameramann,<br />

der kürzlich erst mit einer prämierten Dokumentation<br />

Aufsehen erregt hatte. Nicht unüblich,<br />

wurde dieser Ausflug später durch eine<br />

Heirat legalisiert. Lucian, der dam<strong>als</strong> mit<br />

einer Ingenieurin verheiratet war, ließ sich<br />

scheiden und zog zu Lilos Familie, die ihn,<br />

einen Rumänen aus einfacheren Kreisen, stets<br />

spüren ließ, daß er ihr an Herkunft und Bildung,<br />

in Kultur und Sitte unterlegen war. Wo<br />

immer im Land, ob in der Moldau oder im<br />

Banat, in den deutschen Hochburgen, auf<br />

dem Land oder in den Städten, gab es schon<br />

immer diesen Hegemonialanspruch der<br />

deutschen Minderheil: Ihre Tugenden werden<br />

hoch geachtet, ihre Namen genießen Ansehen,<br />

werden sie doch mit einer Mentalität in Verbindung<br />

gebracht, die die rumänische Mehrheit<br />

für unerläßlich hält, um Wohlstand zu<br />

erlangen, aber so fernab ihrer eigenen latinischen<br />

Wurzeln liegt, dafs außer Bewunderung<br />

kein anderer Berührungspunkt möglich<br />

erscheint. In Lilos Familie, ursprünglich aus<br />

Temesvar, war dies die erste Mischehe seit<br />

Jahrhunderten.<br />

Lucian hat das Gefühl der Minderwertigkeit<br />

nie abgelegt, und revanchierte sich dafür<br />

mit stetigen Demütigungen seiner Frau. Lilo<br />

selbst hatte sich so viel kindlichen Frohmut.<br />

Respekt gegen sich selbst und andere und eine<br />

naive Direktheit im sozialen Umgang bewahrt,<br />

daß sie für Rollenbilder, wie sie Lucian<br />

für seine Vorwürfe brauchte, verloren war.<br />

Für gewöhnlich stößt die stark patriarchale<br />

Gesellschaftsordnung, die die rumänische<br />

Kultur prägt, auf große Akzeptanz: daher<br />

erklärt sich auch die absolute Unfähigkeit,<br />

I lomosexualität zu tolerieren, geht von ihr<br />

die stärkste Verunsicherung der Geschlechtermuster<br />

aus. Männer sind Männer und Frauen<br />

sind Frauen: Die Beziehungen sind extrem<br />

sexualisiert, der Umgang streng reglementiert,<br />

Freundschaft ohne erotisches Motiv gilt<br />

zwischen den Geschlechtern <strong>als</strong> unmöglich,<br />

<strong>als</strong> öffentliche Berührung dominiert der<br />

2I'999


TITEL<br />

sytemtragenden Regeln und konformen Meinungen.<br />

Mütterlichkeit gilt <strong>als</strong> angeborener<br />

Instinkt, possessive Ansprüche und Eifersucht<br />

<strong>als</strong> Indiz sexueller Leidenschaft. Lilo<br />

war schlicht zu entspannt für dieses Spiel.<br />

und sie war keine gute Hausfrau. Lucian hat<br />

nie gesehen, was für einen starken Arbeitspartner<br />

er in ihr hatte, <strong>als</strong> sie gemeinsam mit<br />

der Kamera auf die Straße gingen, um die<br />

Tage der Revolution zu rekonstruieren, die<br />

die Regierung Iliescus bereits vertuschte und<br />

vereinnahmte. Um den ersten Unmut emzufangen,<br />

den die Bevölkerung in den Städten<br />

über die ausbleibenden Reformen artikulierte.<br />

Um den Protest der Armee über das neue<br />

Regime zu dokumentieren, der eine erste<br />

Fährte dafür legte, daß der Machterhalt über<br />

den Wechsel gesiegt hatte. Mit ungeschnittenen<br />

Videobildern von der Erstürmung des<br />

Polizeipräsidiums, das die Regierung tags<br />

zuvor der studentisch und intellektuell geprägten<br />

Demokratiebewegung unterstellte,<br />

um sie, unterstützt von den Schlagstöcken der<br />

Bergarbeiter, zu zerschlagen, hat Lucian im<br />

Juli 1990 die Abschlußprüfung an der Theater-<br />

und Filmakademie bestanden. Seine Spur<br />

verliert sich in Notunterkünften für Obdachlose<br />

in Deutschland, lir floh, <strong>als</strong> Lilo sich nicht<br />

zu einer Ausreise entschließen konnte und<br />

erhielt hier, <strong>als</strong> einer von vier Dutzend seiner<br />

Landsmanner im Jahr 1991, politisches Asyl.<br />

Seine Verfolgungsängste wurden in Deutschland<br />

zum Wahn, l-'inen Arbeitsauftrag hat er<br />

hier nie erhalten.<br />

l landkuß. Seit Generationen schon hat das<br />

öffentliche Bedürfnis nach Frhaltung der<br />

Moral sich dem persönlichen Bedürfnis nach<br />

relativer sexueller Freizügigkeit angepaßt:<br />

Be/iehungen werden amtlich gemacht und<br />

mit gleicher Selbstverständlichkeit wieder<br />

geschiedeTi, die rumänisch-orthodoxe Kirche<br />

kennt wiederholte Trauungen vor dem Altar,<br />

tune Frau von dreißig Jahren blickt auf ein<br />

Sexualleben 7urück, daß der l rlwnserfahrung<br />

im u estlichen turopa annähernd gleicht, nur<br />

hat sie wahrscheinlich schon /wei geschiedene<br />

Lhen hinter sich und manche Abtreibung,<br />

und vielleicht eine ausgesprochene<br />

Selbstmorddrohung, weil eine Schwangerschaft<br />

nicht, wiegeplant, dam führte,einen<br />

Mann in eine feste Bindung zu l reiben.<br />

Zu diesen Verhalterismustern gehört ein<br />

weibliches Rollenbild, das ich nie widersprochen<br />

gesehen habe: Schönheit gilt und die<br />

Fähigkeit /.ur gewandten Konversalion, ökonomische<br />

und moralische Selbstständigkeit<br />

gilt unter Beibehaltung und Affirmation der<br />

I ilo blieb m Rumänien, beantragte aber<br />

für sicli und ihre Mutter spater Ausreisevisa.<br />

die ihnen <strong>als</strong> Deulschsta'mmigen zustanden.<br />

Ihres bewilligte die deutsche Botschaft, das<br />

ihrer Mutter nichl. l lentc betreu! sie auf dem<br />

Posten einer Büroangestellten Vertreter dei<br />

deutschen Außenhandelswirtschaft, um deien<br />

Investitionen Rumänien wirbt. Ihr Journalistinnengehalt<br />

reichte nicht für den Lebensunterhalt.<br />

Heule isl sie mit einem Deutschstämmigen<br />

verheiralel. der ihr Arbeitskollege<br />

beim Hörfunk war und jetzt ein Programm<br />

leitet. In ihrer Wohnung sieht kein Computer,<br />

aber Lilo kann Wiener Schnitzel aufwärmen.<br />

Um dieses Appartement hat sie - unsicher<br />

über die Figentumsverhältnisse - lange gebangt<br />

und sich schließlich zum Erwerb einer<br />

anderen Wohnung entschieden (Mieten sind<br />

in Bukarest unbezahlbar). Paradoxerweise<br />

ist es jetzt das Ausweichc|uartier, auf das Alteigentümer<br />

Ansprüche geltend machen, l.ilo<br />

strebt einen Prozeß an. Selber über Frauen in<br />

Rumänien zu schreiben, hat sie abgelehnl.<br />

Irina Rudolph isl sc/jjvf Dfit<br />

und h'bt H/.S Filmkritikerm in Berlin.<br />

wfnl-iblici 2|I999 '


TITEL<br />

E i jsc h ert<br />

lfe.nl<br />

Vor knapp 10 Jahren kam<br />

Irina Panasenko mit ihrem<br />

Mann und ihren beiden<br />

Söhnen nach Berlin. Seit drei<br />

Jahren bereitet die Physikerin<br />

und Logopädin Bortsch,<br />

gesalzene Heringe und andere<br />

russische Spezialitäten in<br />

ihrem Laden-Bistro zu<br />

Text: Kerstin Decker<br />

Foto: Annett Ahrends<br />

Die Hufelandstraße ist nicht lang. Da<br />

kann ein russischer Imbiß doch nicht einfach<br />

so verschwinden. Den oberen Teil der<br />

Straße halten zwei sehr deutsche Kneipen.<br />

Rechts der »Lindenbaum«, gegenüber die<br />

»Kiezkneipe Hally-Gally«. Die »Höhne-<br />

Bestattungen« sind gleich daneben, denn<br />

jede Ekstase hat ihren Preis. »Schnell und<br />

sauber« versprich! ein benachbartes Schild,<br />

aber das gehört schon der Texril- Reinigung.<br />

Nur Irina Panasenkos Laden ist weg. Also<br />

noch einmal von unten. Jeder, den man<br />

fragt, kennt Irina Panasenko: Na dort,<br />

gleich gegenüber!<br />

Dort, gleich gegenüber wehen eine amerikanische<br />

und die Berliner Fahne. Schon<br />

seltsam, diese Osteuropäer. Aber dann das<br />

eindeutige Indiz: Gesalzene Heringe aus<br />

Rußland, 100 Gramm 0,27 DM. Hier ist es.<br />

»Karavelle« steht obendrüber. Mit dem Namen<br />

kann man eigentlich alles werden. Vor allem<br />

Hafenkneipe. Wie jede »Karavelle« ist auch<br />

diese innen ganz aus Holz, läuft hinten in<br />

ein Halbrund aus und spezialisierte sich<br />

dann doch lieberauf Süßwaren. In den Sechzigern,<br />

<strong>als</strong> es hier noch keine russischen<br />

Heringe gab. Als man noch von Läden voller<br />

Pralinenschachteln leben konnte. Als es<br />

noch alte Damen gab, mit und ohne Pudel,<br />

die regelmäßig hier einkauften.<br />

Kein Kunde im Laden. Auch nicht Irina<br />

Panasenko. Nur ihr Mann. Mit undurchdringlicher<br />

Miene hört er unsere Bestellung<br />

an und sagt, daß er gerade keine Soljanka<br />

habe, aber Bortsch wäre möglich. Also Bortsch<br />

und Pelmeni. Irina Panasenkos Mann wirkt<br />

seltsam fremd in diesem Laden, zwischen<br />

den Glasregalen, wo jetzt anstelle von Pralinenschachteln<br />

Brot und Milchtüten anmutig<br />

ausgerichtet neben russischem Honig, russischem<br />

Porzellan und einem großen Samowar<br />

stehen. Irina Panasenkos Mann sieht aus wie<br />

ein Repräsentant. Würdevoll. Es ist nicht einfach,<br />

neben gesalzenen Heringen angemessen<br />

zu repräsentieren. Aber morgen wird seine<br />

Frau endlich zurück sein. Einen Monat war<br />

sie zu Hause, in der Ukraine, Zu Hause?<br />

'!<br />

2|'999


TirtL<br />

Wir sitzen an einem der drei kleinen<br />

ßartische. Irina Panasenkos Mann wärmt<br />

Bortsc.li und Peltneni auf. Zwei Braune hätt'<br />

ich gern!, ruft es von der Theke. Der neue<br />

Gast in der farbenprächtigen Windjacke ist<br />

so gutgelaunt, <strong>als</strong> käme er geradewegs aus<br />

dem »l lally-Gally« und wollte den Abend<br />

noch irgendwie, vernünftig zuende bringen:<br />

Zwei Braune. Meisler! Der Aushilfswirt<br />

•idiaut seinen Kunden in der Windjacke hilflos<br />

an: Goldbrand? - Klar, Coldbrand! Und<br />

'ne Cola, 'ne Tute und zwei Eier. - Zwei Eier?<br />

- Logisch. Na, nicht deine. Mann! - Ach.<br />

wenn seine Frau jetzt da wäre. Die kann mit<br />

sowas umgehen. Der Repräsentant lächelt<br />

weit nach innen, voll stiller Verzweiflung,<br />

und geht daran, zwei einzelne Eier aus einer<br />

Packung zu nehmen. Die Windjacke will bersten<br />

vor Lachen: Mann, Überraschungseier<br />

mein' ick! Wo ist eigentlich die schöne Frau?<br />

- Irina Panasenkos Mann erklärt sichtlich<br />

erleichtert, daß seine schöne Frau gleich wieder<br />

da sei. Morgen schon. Künftig wird die<br />

Windjacke die zwei Braunen, die Cola und<br />

zwei Lier <strong>als</strong>o wieder bei ihr kaufen, und<br />

das ist gut so.<br />

Borisch und Pelmeni kommen. Sie schrnekken<br />

nach längst vergangenen Studenten-<br />

Somrnerri in den Sonnenblumenfeldern der<br />

Ukraine. Den Piccolo-Sekt trinken wir aus<br />

stämmigen Vitamalzglasern.<br />

Am nächsten Abend ist sie da. F.inc<br />

sehr schöne Frau, genau wie die Windjacke<br />

angekündigt halte. Schmales Gesicht, große<br />

graue Augen. Und die Wimpern so getuscht,<br />

daß es unmöglich scheint, die Augen mit<br />

solch wehrhaftem Strahlenkranz drumherum<br />

einfach mal zumachen zu können. Russinnen<br />

sind oft so geschminkt. Denn wozu der Aulwand,<br />

wenn es ja doch keiner merkt? Das<br />

kleine Zuviel <strong>als</strong> Maß des Normalen. Aber<br />

Russin ist ganz f<strong>als</strong>ch. Irina Panasenko<br />

kommt eben aus der Ukraine, aus Dnepropetrowsk.<br />

Nein, nein, ich brauche den<br />

Namen nicht aulschreiben, F.s klingt wie:<br />

Diese Stadt kennt hier sowieso keiner. Auf<br />

Dienstreise, wäre sie gewesen. In Dnepropetrowsk.<br />

(iine Dienstreise nach Hause?<br />

Irina Panasenko steht in der Mitte ihres<br />

Laden-Bistros und es scheint, <strong>als</strong> ginge ein<br />

unmerklicher Ruck durch die Reihen der<br />

Ylarmeladengläser und Matriuschkas auf<br />

der Theke: Die Chefin isl wieder da!<br />

Ursprünglich hatte Irina Panasenko gar<br />

nichts zu tun mit Salzheringen, Piroggen<br />

und russischem l lonig. Denn sie isl Physikerin.<br />

Und Logopädin. »Zwei Hochschulausbildungen,<br />

zwei Diplome. Ich mach jelzl mal<br />

Kaffee.« Als Physikerin hätte sie in einem<br />

großen Betrieb gearbeitet. Später erfahre ich,<br />

daß die großen Betriebe in Dnepropetrowsk<br />

fast alle Rüstungsbetriebe waren. Die SS 20<br />

und die SS 24 habe man dort auch gebaut.<br />

Irina Panasenko nennt diese Namen mit<br />

jenem Gleichmut, den man sehr alltäglichen<br />

Dingen gegenüber hat. Und der Alltag von<br />

Dnepropetrowsk waren nun mal die SS 20.<br />

Aber nach dem zweiten Kind wollte Irina<br />

Panasenko einen Beruf mit etwas mehr<br />

Freizeit. Also Lehrerin. Logopädin. Nein,<br />

<strong>als</strong> Logopädin hätte sie in Deutschland keine<br />

Chance, da brauche sie höchstens selber<br />

eine: »Deutsch hat ja nicht mal ein rollendes<br />

R." Das sei schon eine Enttäuschung gewesen,<br />

eine Sprache ohne anständiges R, das soviele<br />

Schüler von ihr gelernt hätten. Und plötzlich<br />

sei das f<strong>als</strong>ch. Genau wie das »ch« in »plölzlich«,<br />

das noch immer von ganz weit hinten<br />

kommt. Bliebe <strong>als</strong>o noch die Physikerin? -<br />

Irina Panasenko senkt den schweren Wimpernvorhang,<br />

um ihn wirkungsvoll wieder<br />

anzuheben: »Bei den vielen arbeitslosen<br />

Physikern in Deutschland?« Fine Frau kommt<br />

herein, hält ein kleines Mädchen an der l land,<br />

dessen Blicke unwiderruflich an einem magischen<br />

Punkt in Irina Panasenkos Vitrine haften.<br />

»Lmrnal Kirsche im Mantel bitte!« Die<br />

Kleine nimmt das Stück russischer Torte.<br />

»Kirsche im Mantel« ginge sehr gut. Und sie<br />

koche alles selber. Aber was hält sie von der<br />

»Russischen Soljanka« beim Imbiß gleich<br />

nebenan? Die großen grauen Augen der<br />

»Karavelleiix-Wirtiri füllen sich mit unaussprechlicher<br />

Verachtung. Siekoche ukrainische<br />

Soljanka, das sei etwas völlig anderes,<br />

Ebenso wie man ihre Piroggen und Pelmeni<br />

nicht nachahmen könne. )a, die Pelmini<br />

gestern wären gut gewesen gestern, bestätige<br />

ich. Hat ihr Mann die gemacht? Irina Panasenkos<br />

Gesicht verschwimmt vor Heiterkeit.<br />

Der könne doch überhaupt nicht kochen.<br />

Aber daß sie jetzt hier sei und ihren eigenen<br />

Laden habe, das wäre schon sein Verdienst.<br />

Denn er wollte dam<strong>als</strong> vor bald zehn<br />

Jahren weg aus Dnepropetrowsk, weg aus<br />

der gerade noch existierenden Sowjetunion.<br />

So bestimmt, wie man nur selten etwas will,<br />

Und je mehr man es will, desto schwerer<br />

läßt es sich begründen. Vor diesem Wollen<br />

hat Irina Panasenko schließlich kapituliert.<br />

Das Argument des Bleibens: Man geht doch<br />

nicht einfach so weg! - es ist immer und<br />

überall dasselbe - war nicht mehr stark<br />

genug: Willst du in ein Land, dessen Sprache<br />

du nicht sprichst? In ein Land ohne rollende<br />

Rs und goldenen Zwiebeln auf den Kirchen?<br />

Ja, er wollte nach Deutschland. Das große<br />

>•[« (für Jude) unter der Rubiik »Nationalität«<br />

öffnete ihnen den Weg. Dam<strong>als</strong> war Anton,<br />

der ältere Sohn, zehn Jahre, Nikolai war fünf,<br />

l ieute, genauer seit einem Monal, sagt Irina<br />

Panasenko, weiß sie, daß ihr Mann recht hatte.<br />

Denn sie kommt gerade aus Dnepropetrowsk.<br />

Ist es denn so schlimm dort? »Wenn ich<br />

sagen würde -schlimm« - ich hätte nichts<br />

gesagt.«<br />

Sie war bei ihren alten Freunden, die fast<br />

ein Jahr lang keinen Lohn mehr bekommen,<br />

Die manchmal seit zwei Jahren schon keine<br />

Miete mehr zahlen und Strom ohnehin nicht<br />

mehr. Das Sei Chaos, Untergang. Manch einer<br />

erhält noch eine Pauschalriotsumme vom<br />

Betrieb anstelle des aussiehenden Lohns -<br />

ihre Freundin hat so 30 Grivna im Monat, das<br />

sind etwas mehr <strong>als</strong> siebzig Mark - andere<br />

haben nicht einmal das.<br />

Eine junge Frau mit Lederjacke und<br />

großem Geldschein in der Hand grüßt Irina<br />

Panasenko wie eine alte Freundin und will<br />

den Schein kleiner haben. Für Zigaretten,<br />

Fs scheint dringend zu sein. Irina Panasenko<br />

schaut sie ein wenig mißbilligend an. Der<br />

Blick kommt zurück: »Du rauchst doch<br />

auch!« - »Natürlich rauche ich!«, antwortet<br />

die Chefin der »Karavelle«. <strong>als</strong> handele es<br />

sich dabei um eine Frage der Ehre. Ein paar<br />

Kontinuitäten im Leben sollte es schon<br />

geben. Alles andere ist manchmal so schnell<br />

vorbei. Heimatzum Beispiel. Und Freunde.<br />

Das Gute ist, daß man immer neue findet.<br />

Ja, sie habe wieder viele Freunde. Berliner<br />

Russen und auch viele Deutsche. Die neuen<br />

Freunde müsse man aber anders trösten <strong>als</strong><br />

die in Dnepropetrowsk. Vor allem die, die<br />

keine Arbeit haben; Irina, ich halt das nicht<br />

mehr aus, dieses Zuhausebleibenniüssen!<br />

Irina Panasenko kennt das Gefühl. Deshalb<br />

ist sie so stolz auf ihren Laden. »Ich habe für<br />

mich einen Arbeitsplatz gebaut!« Begonnen<br />

hat alles damit, daß sie eine Frau kennenlernte,<br />

die hier arbeitete. Dann machte sie<br />

das auch und 1996 hat sie die »Karavelle«<br />

übernommen.<br />

11999 -'l


TITEL<br />

Viele Kunden kommen jelzl am Abend<br />

nicht. Selbst die Windjacke braucht noch<br />

keinen neuen Goldbrand. Kann man von<br />

der »Karavelle« leben? - Überleben, ja. Sein<br />

eigener Kapitalist und Ausbeuter sein! Aber<br />

so denkt Irina Panasenko gar nicht. Ladenbesitzerin<br />

- hört sich das nicht komisch an?<br />

Zumindest für jemand, der in der Sowjetunion<br />

groß geworden ist. »Arbeitsplatz« trifft<br />

es doch viel besser: Arbeiten bis 7um Umfallen,<br />

das sei etwas, was man erst jetzt richtig<br />

genießen könne. Denn im Osten dachten ja<br />

alle, Arbeit gehöre zu den Grundbeständen<br />

(manchmal auch Grundübeln) des Lebens.<br />

Aber daß das mit der deutschen Bürokratie<br />

so schwer sein würde, habe sie nicht gedacht:<br />

»Ich kann gut mit Leuten umgehen, aber mit<br />

der deutschen Bürokratie kann ich nicht<br />

umgehen.« Die deutsche Bürokratie war<br />

auch nicht immer besonders nett zu den<br />

Panasenkos.<br />

An einem Morgen vor zwei Jahren schaute<br />

Irina Panasenko aus dem Fenster. Draußen<br />

sah es genauso aus wie immer, nur völlig<br />

anders. Genau, das Auto fehlte. »Du, Jura,<br />

da ist kein Auto mehr«, sagt Irina Panasenko<br />

zu ihrem Mann. Und verstand nicht, warum<br />

die Polizei so unfreundlich zu ihnen war. Ist<br />

man den unfreundlich zu Menschen, denen<br />

gerade ein solches Unglück widerfahren ist?<br />

Bis Irina Panasenko begriff, daß die deutsche<br />

Polizei glaubte, sie härten das Auto absichtlich<br />

klauen lassen, um die Versicherung abzukassieren.<br />

Aber sie besaßen dam<strong>als</strong> gar keine<br />

Versicherung. Zwei Wochen später war der<br />

Dieb gefunden. Ein i4Jähriger Deutscher.<br />

Und wie ist das nun mit der Russenmafia?,<br />

frage ich, weil man sich nach manchen<br />

Dingen indirekt einfach nicht erkundigen<br />

kann. Woher sie das denn wissen solle, fragt<br />

Irina Panasenko zurück. Sie kenne so ziemlich<br />

alle Russen in Berlin, die eigene Läden<br />

und Restaurants haben. Russen sei natürlich<br />

Quatsch. Bürger der ehemaligen Sowjetunion,<br />

wenigstens in dieser sehr heutigen Vergangenheitsform<br />

existiere die Sowjetunion weiter.<br />

Aber die Mafia kenne sie nicht, sagt sie. Wirklich<br />

nicht. Überhaupt werde sie immerzu<br />

nach der Mafia gefragt, ein wenig kränkend<br />

sei das schon. Man wüßte ohnehin gar nicht<br />

mehr, wer man ist. Alles ein bißchen. Nichts<br />

so richtig. »Jude» stünde zwar in ihrem Ausweis<br />

und dem ihres Mannes. Die Muller war<br />

Jüdin. Aber in der Sowjetunion durfte man<br />

nicht religiös sein und heute, im Kapitalismus,<br />

habe sie einfach keine Zeit mehr dazu.<br />

Im Flüchtlingsheim Nebra bei Halle,<br />

ihrer ersten Station in Deutschland, wurde<br />

sie Mitglied der Jüdischen Gemeinde.<br />

Aber gläubig sei sie dadurch nicht geworden.<br />

Wie wird man eigentlich gläubig?<br />

Irina Panasenko hat beschlossen sich<br />

damit abzufinden, daß sie zum Glauben<br />

einfach kein Talent hat: »Ich kann doch<br />

nicht morgens aufwachen und sagen:<br />

Ab heute bin ich religiös.« Wenn Colt<br />

gewollt halle, daß sie seine Stimme höre,<br />

hätte er bestimmt zu ihr gesprochen.<br />

Hat er aber nicht.<br />

Aber ihre Söhne gingen noch öfter zur<br />

jüdischen Gemeinde. Und außerdem werden<br />

sie wohl richtige Deutsche. In Nikolais<br />

Klasse wußte bis letzte Woche keiner,<br />

daß er kein Deutscher ist. Kam einfach<br />

keiner drauf. Bis man einen Aufsat/ über<br />

Rußland schreiben sollte, und die Lehrerin<br />

sagte, er, Nikolai, müsse davon doch<br />

Ahnung haben. Nikolai und Anton gehen<br />

beide aufs Gymnasium. Anton ist jetzt<br />

zwanzig, spricht fünf Sprachen, liest<br />

Dostojewski und Tolstoi in Origin<strong>als</strong>prache<br />

und will Journalist werden. Bei Nikolai<br />

wisse man das noch nicht so genau.<br />

Vor zwei Jahren wollte Irina Panasenko<br />

es noch einmal wissen. Sie fuhr mit<br />

den Söhnen in die Ukraine. Ob die Kinder<br />

die alte Heimat wohl wiedererkennen,<br />

wieder lieben werden? Nach einer Nacht<br />

im Wagen an der polnisch-ukrainischen<br />

Grenze ging Nikolai in die nächste Tankstelle<br />

zum Duschen. Fr fand den Waschraum<br />

nicht. Gibt's hier nicht, sagle kleinlaut<br />

die Mutter. Komische Heimat, dachte<br />

der Sohn. Aber die Kirchen von Kiew<br />

fanden sie schön. Und sie sahen noch<br />

viele Kirchen, bis nach zwei Wochen Anton<br />

meinte, es sei nun genug, und man wolle<br />

doch lieber wieder nach Hause fahren.<br />

Nach Berlin. Irina Panasenko lacht. Es<br />

klingt ein bißchen traurig. Fin bißchen.<br />

Zwei Piroggen mit Champignons!,<br />

verlangt jetzt ein vor Aktivität vibrierender<br />

Radfahrer. Gesalzene I leringe hat noch<br />

immer keiner gekauft. Die amerikanische<br />

und die Berliner Fahne gehören gar nicht<br />

der »Karavelle«, sondern dem Jeansladen<br />

nebenan.<br />

J<br />

Sicher, nach der politischen Wende hat<br />

es in den osteuropäischen Landern einen<br />

schnellen Wandel gegeben. Die Jungen reisen<br />

durch die Well und sind, <strong>als</strong> Zielmarke den<br />

westeuropäischen Standard vor Augen, auf<br />

wirtschaftlichen Erfolg aus.<br />

Was trotz aller Veränderung geblieben ist.<br />

sind beispielsweise die kleinen Bistros an<br />

den Hauptstraßen der Städte und auf den<br />

Dörfern von Prag über Budapest bis Sofia.<br />

Hier stehen die Frauen hinter der Theke und<br />

brühen den Hastigen einen Kaffee oder reichen<br />

den Schnaps. Es sind Treffpunkte für alte<br />

Menschen, die der Einsamkeit entfliehen.<br />

In ihren abgeschabten Mänteln, mit ausgebeulten<br />

Hosen und schlechten Schuhen an<br />

den Füßen, verrühren sie langsam den<br />

Zucker im Teeglas. Im Ristro ist es für sie<br />

immer noch bezahlbar, auch wenn es darin<br />

zu kalt ist, um die Jacke ausziehen zu können.<br />

Frauen in knappen Businesskostümen nehmen<br />

höchstens einen Kaffee im Stehen, um<br />

danach schnell mit kleinen Sahnetörtchen<br />

aus dem Laden zu verschwinden.<br />

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•' V, /- - -:: ."•<br />

Annette Maennel<br />

Unverändert auch die Gerüche - eine Mischung<br />

aus Ruß und abgestandenen Essensdünsten<br />

in Usti nad Labein, der muffige<br />

Geruch in den kleinen verwinkelten Gassen<br />

und die streunenden Hunde auf den Straßen<br />

von Most bis Prag. Es gibt sie immer<br />

noch, die Hochhaus-Siedlungen am Fnde<br />

der Stadt - für Randständige. Hier leben<br />

die, die am wenigsten haben. Hier läßt sich<br />

kaum einer blicken, der nicht dahin gehört<br />

oder von der Behörde geschickt wurde. Das<br />

sind die Slums - an denen sich kaum ein<br />

Einheimischer stört. Den Gegensatz dazu<br />

bieten die historischen Stadtkerne mit glan/-<br />

voller Architektur und ihrem bunten, auf<br />

Touristen ausgerichteten Treiben.<br />

Wer die Melancholie des stillen Verfalls<br />

sucht, wird genauso fündig wie der, der sich<br />

an Goldkuppeln erfreuen will. Die Bilder<br />

erzählen davon.<br />

rechts: In der tschechichen Stadt Usti nad<br />

l.ahc',m streitet sich die Tschechin Ludmila<br />

Doubkova mit der Roma Gizela Vulenova.<br />

Es geht um das Beachten der Grenzen des jeweiligen<br />

Wohngebietes. Die Tschechen wollen am<br />

liebsten nichts mit den Romas zu tun haben.<br />

2t,


TITEL (•<br />

Fotos: Jens Rötzsch / OSTKREUZ<br />

'< 2)1999


TITEL<br />

Foto: Georg Schönharting/ OSTKRF.U7<br />

wcibblt 2(1999


TITEL<br />

2)1999


TITEL<br />

In einer Markthalle, in Budapest Foto: Nelly Rau-Häring<br />

Schmuckverkäuferin in der Prager Altstadt Foto: Jens Rötzsch / OSTKREUZ<br />

2(1999


TITEL c<br />

fn einem Bistro in Budapest Foto: Neüy Rau-Häring<br />

Neubausiedlung in Choskovo bei Plovdiv (Bulgarien)<br />

Foto: Harald Haustvald / OSTKREUZ


TITEL<br />

geblieben<br />

.t Deutsche, Kommunistin<br />

gewesen und Anfang<br />

i Rußland gegangen,<br />

Am Ende hat sie alle übet l:?i>t,<br />

ihre Männer, ihre Kinder und<br />

den Kommunismus. Gemeinsam<br />

mit dem Autor Michael<br />

Peschke hat Gabriele Stammberger<br />

ihr Leben aufgeschrieben<br />

und in Dokumenten belegt.<br />

Annett Gröschner hat ihr Buch<br />

gelesen, der weibblick dokumentiert<br />

es in Auzügen.<br />

Anfang der neunziger Jahre begann<br />

Michael Peschke, dam<strong>als</strong> noch Dramaturg<br />

an der Volksbühne, über das Leben von Otto<br />

Katz zu recherchieren, besser bekannt unter<br />

dem Namen Andre Simon, eine schillernde<br />

Gestalt der kommunistischen Bewegung, der<br />

1952 zusammen mit Rudolf Slansky in einem<br />

stalinistischen Schauprozeß in Prag zum<br />

Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Die<br />

vielen Identitäten, Decknamen und Orte, an<br />

denen sich Katz aufgehalten hatte, führten<br />

ihn in ein Labyrinth und auf Abwege. Auf<br />

der Suche nach Zeugen traf er irgendwann<br />

durch Zufall auf Gabriele Slammberger, die<br />

zwar nichts mit Katz, aber um so mehr mit<br />

dem Schicksal der Kommunisten in der<br />

Sowjetunion unter Stalin zu tun hatte. Sie ist<br />

eine der letzten überlebenden Zeugen der<br />

Ereignisse der dreißiger bis fünfziger |ahre,<br />

und <strong>als</strong> Michael Peschke auf sie traf, gab es<br />

nur wenige, die von ihrer Geschichte wußten.<br />

In unzähligen Interviews und mit Hilfe von<br />

Briefen. Dokumenten und Tagebuchauszügen<br />

breitet das Buch »Gut angekommen -<br />

Moskau. Das Exil der Gabriele Stammberger<br />

Annett Gröschner<br />

1932-1954. Erinnerungen und Dokumente«<br />

eine Lcbensgeschichte aus, die exemplarisch<br />

und zugleich einmalig ist - die Odyssee der<br />

Gabriele Stammberger, an deren Ende nur<br />

sie allein übrig blieb. »In den Stunden der<br />

Verzweiflung hat mich immer ein Gedanke<br />

aufrecht gehalten: Wenn ich von allen, die<br />

mir am nächsten standen, übriggeblieben<br />

bin, dann darf ich mich nicht fallenlassen«,<br />

sagt sie an einer Stelle des Buches. Der Satz<br />

ist Motto.<br />

Die 1910 in Berlin geborene Architektentochter<br />

Gabriele Bräuning wuchs in behüteten<br />

Verhältnissen auf. Als sie mit 20 die Gründungsmitglieder<br />

des Spartakusbundes und<br />

der KPD, Käthe und Hermann Duncker,<br />

kennenlernt, ist sie noch völlig unpolitisch.<br />

Käthe Duncker hat in ihrem Haus einen<br />

marxistischen Studienzirkel, den Gabriele<br />

Stammbergerbesucht. Über die Dunckers<br />

lernt sie Walter Haenisch kennen, den Sohn<br />

des ehemaligen preußischen Kultusministers<br />

der Weimarer Republik, Konrad I laenisch.<br />

Der Vater ist verstorben und Walter<br />

kann nur wenig zum Lebensunterhalt der<br />

Familie beitragen. Als er 1931 die Einladung<br />

bekommt, in Moskau am Marx-Engels-lnstitut<br />

die Herausgabe der Marx-Engels-Werke<br />

m itzubetreuen, sagt er zu. Das Paar heiratet<br />

und gehl 1932 nach Moskau. »Ich bin <strong>als</strong>o<br />

wirklich da, und alles ist wunderschön«,<br />

schreibt Gabriele Stammberger im Mär/.<br />

1932 an ihre Eltern. Es sollte nicht lange so<br />

unbeschwert bleiben. Die erste »Säuberung«<br />

hat, <strong>als</strong> sie ankommt, das Institut schon<br />

erreicht. Auch Gabriele Stammberger wird<br />

Mitarbeiterin und lernt in ihrer ersten Zeit in<br />

Moskau viele internationale Persönlichkeiten<br />

der kommunistischen Bewegung kennen.<br />

Auch macht sie die Bekanntschaft der »Kornmunalka«,<br />

der unfreiwilligen Wohngemeinschaft,<br />

auch wenn die Moskauer Verhältnisse<br />

dieser Zeit ihr später wie das Paradies vorgekommen<br />

sein müssen. Am 3. Oktober 1932<br />

wird ihr Sohn Alexander geboren, den bald<br />

alle nur noch Pim nennen. Einen Monat<br />

später arbeitet sie schon wieder am Institut,<br />

in der Korrespondenzabteilung.<br />

Im Februar 1933 besucht sie ihre Eltern<br />

und kommt ausgerechnet an dem Tag in Berlin<br />

an, <strong>als</strong> der Reichstag brennt. Einen Monat<br />

später müssen alle Ausreisen von der Polizei<br />

überprüft werden. H<strong>als</strong> über Kopf und auf<br />

abenteuerlichen Wegen reist Gabriele Stammberger<br />

nach Moskau zurück. Erst 20 Jahrespäter<br />

wird sie wieder in Berlin sein. In der<br />

folgenden Zeit kommen viele Freunde und<br />

Bekannte in Moskau an. Der Arbeitsaufen t-<br />

hall ist für die Haenischs zum Exil geworden.<br />

Kurz danach beginnen am Institut erneut die<br />

Parteireinigungen. Walter Haenisch wird trotz<br />

seines Protestes in den Stand eines Parteilosen<br />

zurückversetzt - ein Zustand, der langsam<br />

und schleichend zur Lebensgefahr wird.<br />

Zuerst muß die Familie umziehen, ausgerechnet<br />

in die Moskauer Tolengasse. In diesem<br />

Haus leben viele Emigranten und Mitarbeiter<br />

des Marx-Engels-Lenin-Institutes.<br />

Es beginnt die Zeit der Bittbriefe an einflußreichere<br />

Genossen wie Pieck, Ulbricht oder<br />

Weincrt. Die meisten bleiben unbeantwortet.<br />

Mit der Entschließung des Parteikomitees<br />

vom Mär?. 1935 wird das Todesurteil Walter<br />

Haenischs besiegelt: Lr vertritt angeblich »in<br />

einer Reihe der wichtigsten Fragen des Marxismus-Leninismus<br />

systematisch sozialdemokratische,<br />

antimarxistische, antileninistische<br />

Ansichten«. Einen Monat später wird er entlassen.<br />

Die Ehe fängt an zu kriseln und Walter<br />

erlebt einen Zusammenbruch. Die Familie<br />

erwägt, nach Charkow umzusiedeln, wo der<br />

Mann eine Arbeit in einer Redaktion bekommen<br />

hat. Aber sie bekommen keine Wohnung.<br />

Haenisch bittet um Abkommandierung in<br />

den Spanischen Bürgerkrieg, aber das wird<br />

abgelehnt. Nach und nach werden etliche<br />

Bewohner des Hauses verhaftet, ohne Grund.<br />

Doch immer wieder meinen die Zurückbleibenden,<br />

irgendeine Verfehlung wird der oder<br />

die schon begangen haben. Sie werden gezwungen<br />

zu erklären, in welchem Verhältnis<br />

sie zu den Verhafteten standen. Am 11.3. 1938<br />

wird Walter Haenisch vom NKWD verhaftet.<br />

Gabriele Stammberger läuft in Moskau hemm,<br />

um etwas über den Verbleib ihres Mannes zu<br />

erfahren. »Ich fragte den Beamten, wie ich<br />

leben sollte, ohne Schreiberlaubnis, er lachte<br />

und sagte: »Sie werden sich wieder verheiraten!«<br />

Ich verstand ihn nicht. - Wieso soll ich<br />

mich wieder verheiraten? Ich werde auf ihn<br />

warten. Daraufhin schwieg er. Wahrscheinlich<br />

wußte er, daß man Walter schon längst<br />

erschossen hatte. »10 Jahre ohne Schreiberlaubnis«<br />

war die Umschreibung für »Tod<br />

durch erschießen«.<br />

2(1999


TITEL<br />

Gabriele Stammberger lernt schließlich<br />

Gregor Gog kennen, und er wird ihre große<br />

Liebe. Gog war in Deutschland Begründer<br />

und Vorsitzender der »Internationalen Bruderschaft<br />

der Vagabunden« gewesen und<br />

besaß eine reiche Lebenserfahrung. In der<br />

Sowjetunion hatte er in dem Film "Der<br />

Kämpfer« von Gustav Wangenheini mitgespielt<br />

und kannte Gott und die Well. Als<br />

Gabriele Stammberger ihn kennenlernt, ist<br />

er schon schwer krank. Aber immer wieder<br />

gelingt es ihm, sich zwischenzeitlich zu erholen.<br />

Am Ende hätte die Gabe von Penicillin<br />

gereicht, ihn zu retten, aber es kam anders.<br />

ut<br />

ekonunen<br />

Arn 29. 10. 1940 wird das gemeinsame<br />

Kind Stefan geboren. Ein |ahr später, Deutschland<br />

hat die UdSSR überfallen, wird die Familie<br />

nach Usbekistan evakuiert. Die Fahrt<br />

ist eine Odyssee. In Fergana erwarten sie<br />

Hunger, Kälte, Steine und kein Dach über<br />

dem Kopf. Arn 16. Dezember stirbt der<br />

kleine Sohn. Gregor Gog kommt ins Krankenhaus<br />

und erholt sich unter den klimatischen<br />

Bedingungen, dem Hunger und der<br />

Fntkräftung nicht mehr. Fr kann nicht<br />

mehr arbeiten und Gabriele Stammberger<br />

sorgt unter unvorstellbaren Entbehrungen<br />

für den Lebensunterhalt. Dann stirbtauch<br />

ihr ältester Sohn, Pim, an Meningitis. Gregor<br />

Gog erlebt noch den Tag der Befreiung.<br />

Alles Bemühen, ihn nach Deutschland ausreisen<br />

und dort behandeln zu lassen, bleibt<br />

ohne Erfolg. Sie kommen nicht einmal bis<br />

Moskau. Arn 7. Oktober 1945 stirbt er. Auch<br />

sein Wunsch, in Berlin begraben zu werden,<br />

wird nicht erfüllt. Gabriele Stammberger<br />

bleibt in Mittelasien, bis sie Ende 1954 endlich<br />

nach Berlin zurückkehren kann.<br />

Über die stalinistisch.cn Verbrechen ist<br />

in den letzten Jahren viel geschrieben worden.<br />

Aber diese Geschichte fügt in ihrer<br />

Genauigkeit, die aus der Verbindung von<br />

Dokument und Erzählung herrührt, eine<br />

wichtige Facette hinzu. Gabriele Stammberger<br />

ist bemüht, ihre Gefühle hinter<br />

ihrem Lebensbericht zu verstecken. Aber<br />

genau das führt dazu, daß es Situationen<br />

im Buch gibt, an denen ich einfach heulen<br />

mußte. Denn von dem Buch geht eine<br />

Beklemmung aus. Jedesmal, wenn ein<br />

neuer Bekannter im Leben Gabriele<br />

Stammbergers auftauchte, habe ich in dem<br />

ausführlichen und kenntnisreichen Apparat<br />

am Ende des Buches nachgeblättert,<br />

wann er gestorben ist, immer in der Hoffnung,<br />

er könnte nach dem Krieg wieder<br />

aus diesem unwirtlichen Exil zurückgekehrt<br />

sein. Es waren nicht viele. Und die<br />

wenigsten haben ihre Geschichte erzählt.<br />

Aus allen Himmelsrichtungen strömten<br />

Flüchtlinge nach Fergana. Neben dem Bahnhofstand<br />

eine große Teestube. Sie wurde ^ur<br />

Notunterkunft. Wie Heringe lagen wir nebeneinander,<br />

zu unseren Häuptern verstauten<br />

wir unser Fluchtgepäck. Die Schuhe stellten<br />

wir auf die Erde. Der Tschaichantschik empfahl<br />

uns, auch die Schuhe am Kopf zu verstauen,<br />

denn man wisse nie, wer nachts hier<br />

herumschleicht. Gegen Morgen, ich hatte<br />

geschlafen wie ein Sack, wurden wir vom<br />

Schlachtruf: »Zum Basar! Zum Basar!«<br />

geweckt. Am Kopf spürte ich einen kalten<br />

Luftzug. Ich sah mich um: Meine Schuhe<br />

waren weg! Der Dieb hatte die Scheibe her-<br />

Unser erster Weg war zum Bezirkskomitee<br />

der MOPR. Die Vorsitzende hieß Christowaja.<br />

Wir wiesen uns <strong>als</strong> Politemigranlen aus,<br />

und sie übergab uns fürs erste 100 Rubel<br />

Unterstützung. Weil wir sehr hungrig waren,<br />

steuerten wir umgehend das nächste Restaurant<br />

an. Bald standen Teller mit Gulasch und<br />

Makkaroni vor uns auf dem Tisch. Zu jeder<br />

Portion gehörte ein frischgebackener Eladen.<br />

Nach der entbehrungsreichen Fahrt gab es »<br />

2(1999


TITEL<br />

Gabriele Haenisch mit ihrem Sohn Pim, Berlin, März<br />

nichts Wunderbareres. Neben uns am Tisch<br />

saß ein junges Paar. Gregor und ich überlegten,<br />

aus welchem Fleisch der Gulasch zubereitet<br />

war, irgend jemand rief uns zu: »Pferdefleisch!«<br />

Daraufhin ließ dieses junge Paar<br />

Messer und Gabel fallen, stand auf und ging<br />

hinaus. Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden<br />

ist. Aber sicher haben auch sie gelernt,<br />

Pferdefleisch zu essen.<br />

Am zweiten Tag bin ich zur Jugendfürsorge<br />

gegangen. Vom Bahnhof bis zur Uliza<br />

Kommunistow war es ein weiter Weg. Dort<br />

angekommen, erklärte ich unsere Lage:<br />

»Mein kleiner Junge ist durch die Fahrt<br />

sehr geschwächt, wo soll ich ihn waschen<br />

und windeln? In der Teestube? Die hygienischen<br />

Verhältnisse und die Temperaturen<br />

sind katastrophal für die Gesundheit eines<br />

einjährigen Kindes!«<br />

Man gab mir sofort eine Einweisung für<br />

eine Wochenkinderkrippe, doch vorher mußte<br />

Stefan noch von einer Ärztin untersucht<br />

werden. Fr hatte zwar keinen Durchfall<br />

mehr, aber er war noch sehr geschwächt.<br />

Gleich am nächsten Tag konnte ich ihn in<br />

die Krippe bringen. Das Haus war warm und<br />

sauber, die Kinder bekamen richtige Kindernahrung<br />

und Milch.<br />

Langsam ging uns das Geld aus, aber wir<br />

wagten nicht, gleich wieder zur MOPR zu<br />

gehen. Also beschlossen wir. etwas zu verkaufen.<br />

Von meinen Nachbarn in Moskau<br />

hatte ich schwarzen Wollstoff, aus denen die<br />

Marinemäntel hergestellt wurden, gekauft.<br />

Den trugen wir nun in ein Kornmissionsgeschäft.<br />

Auf dem Basar hätte ich viermal soviel<br />

verlangen können, wie uns im Geschäft ausgezahlt<br />

wurde, aber dazu hätte man handeln<br />

müssen, und das hatten wir noch nicht gelernt.<br />

Wir waren froh, endlich etwas »Selbstverdientes«<br />

in der Tasche zu haben.<br />

liin eigenes Zimmer in Fergana zu bekommen,<br />

war unendlich schwer. Zwar gab<br />

es immer wieder Zimmer, die von einer<br />

Kommission requiriert worden waren, aber<br />

bei der Masse von Flüchtlingen war es immer<br />

nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Hätten<br />

wir genug Geld gehabt, wir hätten sicher<br />

etwas gefunden. Die Christowaja versuchte,<br />

uns soweit wie möglich zu helfen. Sie begleitete<br />

mich zu dem Büro, in dem der Verantwortliche<br />

für die Zimmcr-verteilung safs.<br />

Der Warteraum war von Obdachlosen überfüllt.<br />

Die Christowaja wollte sich mit mir zu<br />

dem Verantwortlichen durchdrängen, denn<br />

immerhin war sie eine Beamtin. Als ich<br />

mich aber an sie klammerte, um mit ihr<br />

durchzukommen, hätte mich die Menschenmenge<br />

fast gelyncht. Als sich die<br />

Bürotür öffnete und Christowaja eingelassen<br />

wurde, schlug man mir die Tür vor<br />

der Nase umgehend zu.


TITEL<br />

Wir bekamen eine Order für den Kolchos<br />

»8. März«, bekanntermaßen der ärmste im<br />

Rayon. Doch davon ahnten wir nichts, <strong>als</strong><br />

uns der Pferdewagen vom Kolchos abholte,<br />

und wir mit unserem kläglichen Hab und<br />

Gut auf dem Wagen saßen und aus der<br />

Stadt in die Steppe rollten.<br />

Von der Kolchosverwaltung wurden<br />

wir schon erwartet. Die Mitglieder saßen in<br />

einem engen Raum im Kreis auf Kissen,<br />

bewirteten uns mit Tee und Urjuk - getrockneten<br />

Pfirsichen - und sahen uns an. Sie<br />

sprachen einige Brocken Russisch, so daß<br />

wir uns notdürftig verständigen konnten.<br />

Die erste Nacht schliefen wir im Nebenraum<br />

auf Watternatralzen, der Fußboden bestand<br />

aus gestampftem Lehm. Wahrscheinlich<br />

wurde er meist <strong>als</strong> Vorratsraum genutzt.<br />

Zwei Tage später wies man uns in ein Gästezimmer<br />

ein. Eine wacklige I lolztrcppe führte<br />

zu ihm hinauf. Die Einrichtung bestand aus<br />

einem \, einer schmalen Bank und<br />

einem Tisch. Großzügigerweise gab man<br />

uns die Wattematratzen mit.<br />

Als Gregor am morgen unseres ersten<br />

Tages im Kolchos aufwachte, sagte er zu mir:<br />

»Mir geht es nicht gut. Ich glaube, ich habe<br />

Lungenentzündung. - Ich hab das schon<br />

einmal gehabt.« Er hatte sich auf dem kalten<br />

Lehmboden erkältet,<br />

Am 13. Dezember war Gregors Zustand<br />

so ernst, daß ich ihn ins Krankenhaus bringen<br />

mußte. Der Arzt, der für unseren Kolchos<br />

zuständig war, sah, in welcher Verfassung er<br />

sich befand, und gab ihm eine Überweisung<br />

ins Krankenhaus von Fergana. Ich ging in<br />

die Verwaltung und sagte, daß Gregor ins<br />

Krankenhaus gebracht werden müsse. Der<br />

Kolchosvorsitzende versprach, am nächsten<br />

Morgen, früh um sieben Uhr, würde ein<br />

Wagen in die Stadt fahren und Gregor könne<br />

mitfahren. Als ich am nächsten Tag früh aufstand,<br />

war der Hof leer. Der Wagen war eher<br />

abgefahren, und Gregor hatten sie vergessen.<br />

Ich ging zum Vorsitzenden, aber der zuckte<br />

nur mit der Schulter. Sie holten aus dem Stall<br />

einen mageren Grauschimmel und erklärten,<br />

auf ihm würde Gregor in die Stadt gebracht.<br />

Die Zügel führte ein alter, dürrer Usbeke,<br />

und Gregor wurde hinter ihm aufs Pferd<br />

gehoben. In der Nacht war nasser Schnee<br />

gefallen. Wir zogen los. Das Pferd trug die<br />

beiden Ma'nner, ich stapfte in meinen Schaftstiefeln<br />

hinterher und hielt mich am Schwanz<br />

des Pferdes fest, denn ich hatte Angst, sie<br />

aus den Augen zu verlieren. Als wir im Krankenhaus<br />

ankamen, war der Aufnahmeraum<br />

überfüllt. Alle guckten uns böse an: Noch<br />

einer, der da rein will! Mitten im Raum, auf<br />

der Erde, lag ein alter frommer Jude mit langem<br />

weißem Bart und Schläfen-locken, sein<br />

Gesicht war gelb und eingefallen, er jammerte<br />

vor Schmerzen.<br />

Ich gab den Einweisungsschein ab. Wir<br />

mußten nicht lange warten, bis Gregors<br />

Name aufgerufen wurde. Empörung und<br />

Entsetzen bei all den anderen. Die Schwester<br />

reagierte kühl: »Dieser Mann hat schon gestern<br />

seinen Einweisungsschein bekommen.<br />

Sie alle haben erst einen von heute, oder Sie<br />

haben keinen. Also wird er aufgenommen!«<br />

Als ich danach Stefan in der Krippe besuchen<br />

wollte, überreichte mir die leitende<br />

Ärztin unser Kind mit den Worten: »Er muß<br />

ins Krankenhaus, er hat vielleicht Lungenentzündung!«<br />

Das Kinderkrankenhaus befand sich in<br />

der Nähe. Die Aufnahmeärztin war gerade<br />

beschäftigt. Vor ihr stand eine Frau mit einem<br />

Jungen auf dem Arm und weinte, die Ärztin<br />

hatte ihr gesagt, daß sie ihr Kind nicht aufnehmen<br />

könne, weil keine Betten mehr frei<br />

seien und außerdem der Einweisungsschein<br />

fehle. Hinter dem Rücken der Frau gab mir<br />

die Ärztin ein Zeichen, den Hintereingang<br />

zu benutzen. Die Frau mit dem Jungen bemerkte<br />

natürlich, daß ich plötzlich wortlos<br />

verschwand, und im Abgehen hörte ich sie<br />

weinen: »Warum darf die, warum ich nicht?«<br />

— »Sie hat von der Krippe eine Einweisung<br />

bekommen, ich muß ihn aufnehmen.«<br />

Nachdem ich Gregor und Stefan ins<br />

Krankenhaus gebracht hatte, ging ich noch<br />

einmal zur Beamtin der Fürsorge: »Ich weiß<br />

nicht, wem ich mich nun zuerst zuwenden<br />

soll, meinem kranken Mann, meinem kranken<br />

Kleinkind oder meinem Sohn, der nun<br />

allein im Kolchos sitzt.« Im Rayon gab es ein<br />

Heim für evakuierte Kinder aus Belorußland.<br />

Man bot mir an. Pirn dort unterzubringen.<br />

Einzige Bedingung war eine Bescheinigung,<br />

daß er keine ansteckende Krankheit hatte.<br />

Anschließend lief ich wieder zum Kinderkrankenhaus.<br />

Die Mütter der kleineren Kinder<br />

durften die Nacht über bleiben. Es war schon<br />

sehr spät, Pim saß allein im Kolchos, ich<br />

sagte, ich müsse gehen, und man warf mir<br />

vor: »Wie können Sie das Kind alleine lassen,<br />

das stirbt Ihnen ja!«<br />

Der Weg zurück in den Kolchos führte<br />

über viele kleine Brücken und ich fürchtete,<br />

in der Dunkelheit auf den mit matschigem<br />

Schnee bedeckten Bohlen auszurutschen<br />

und in einen dieser Aryks zu stürzen.<br />

Am 14. Dezember brachte ich Pim in dieses<br />

Kinderheim. Es war fürchterlich für mich,<br />

ihn dort abzugeben. Es gab nur Betten für<br />

Erwachsene, und so schliefen die Kinder zu<br />

zweit in einem Bett, aber es war ein warmes<br />

Bett. Wegen der Entfernung vom Kolchos<br />

konnte ich ihn leider nicht jeden Tag besuchen,<br />

doch ich wußte, daß er dort wenigstens<br />

regelmäßig zu Essen bekam, und in ihrem<br />

Zimmer stand ein Weihnachtsbaum.<br />

2)1999


TITEL<br />

Am 16. Dezember starb Stefan in meinen<br />

Armen. Als ich ihn auf dem muslimischen<br />

Friedhof von Fergana begraben wollte, stand<br />

in der Nähe ein jüdisches Ehepaar vor einem<br />

offenen Grab, sie hatten ihr kleines Mädchen<br />

verloren. Sie boten mir an, unsere Kinder gemeinsam<br />

in einem Grab zu beerdigen. Als<br />

wir von unseren Kindern Abschied nahmen,<br />

stand lange ein wunderbares Abendrot am<br />

Himmel, <strong>als</strong> sollten wir getröstet werden.<br />

Tagelang ging ich nicht ins Krankenhaus,<br />

ich dachte, das könne ich Gregor nicht<br />

antun. In dieser Zeit wurde die Wehrmacht<br />

vor Moskau gestoppt. Wenigstens das war<br />

ein kleiner Hoffnungsschimmer.<br />

Kurz vor Weihnachten kam Gregor wieder<br />

nach Hause. Er war so schwach, daß er<br />

mehrere Wochen die Treppe vor unserem<br />

Zimmer nicht herunterkam.<br />

Der Ofen in unserem Vorraum funktionierte<br />

nicht richtig. Auch wenn wir gutes<br />

Brennholz hatten, qualmte es so stark, daß<br />

sich das Zimmer allmählich mit Rauch füllte.<br />

Die Fenster konnten wir wegen der Kälte<br />

nicht öffnen. Manchmal, wenn sich der Rauch<br />

von der Zimmerdecke um unsere Köpfe zu<br />

einer bedrohlichen Wolke zusammenballte,<br />

schlichen wir nur noch geduckt durch das<br />

Zimmer.<br />

Gregor und ich waren nicht die einzigen<br />

Flüchtlinge im Kolchos. Im Teehaus war eine<br />

Gruppe Ukrainerinnen mit ihren Kindern<br />

untergebracht. Und so konnten wir trotz<br />

aller Unzulänglichkeiten froh sein, ein Zimmer<br />

für uns ganz allein zu haben. Eines<br />

Tages erkrankte der Sohn einer Ukrainerin.<br />

Sofort gab es böses Blut: »Die Deutschen haben<br />

ein Zimmer für sich allein, und unsere<br />

Kinder werden krank in der Teestube.«<br />

Wir boten der Frau an, mit ihrem Kind<br />

zu uns zu ziehen. Zwei Tage hielt sie aus, in<br />

Kalte und Rauch, dann zog sie wieder mit<br />

dem todkranken Jungen in die luftigere Teestube.<br />

Einige Tage später klopfte es nachts an<br />

unserer Tür. Ich öffnete. Vor mir standen der<br />

einarmige Kolchoswächter mit geschultertem<br />

Gewehr, der Kolchosvorsitzende, der Vorsitzende<br />

des Dorfsowjet und ein Milizionär.<br />

Ich interessierte sie gar nicht. Mit stählernen<br />

Blicken verfolgten sie Gregor. |emand hatte<br />

den Männern eingeredet, in ihrem Kokhos<br />

hätte sich ein »deutscher Faschist« eingenistet.<br />

Sie wollten Gregors Papiere kontrollieren.<br />

Ich versuchte zu vermitteln, doch Gregor<br />

sagte zu mir, wie er es oft getan hatte in entscheidenden<br />

Augenblicken: »Du misch dich<br />

nicht ein! Laß mich mit ihnen reden!« Doch<br />

er war ein Deutscher, der nur einige Brocken<br />

Russisch konnte, und sie waren Usbeken, die<br />

selbst kaum Russisch sprachen. Gregor hantierte<br />

mit seinen Papieren, und erklärte mit<br />

wenigen Worten den Unterschied zwischen<br />

deutschen Kommunisten und deutschen<br />

Faschisten, allmählich wich ihre Reserviertheit.<br />

Zum Schluß gab der Vorsitzende des<br />

Dorfsowjet dem Kolchosvorsitzenden die<br />

Anweisung, uns ebenso wie die Kolchosmitglieder<br />

zu versorgen, dann verabschiedeten<br />

sie sich lächelnd mit Handschlag vom<br />

»Towarisch Goch«. Wenig später wurde der<br />

Verwalter zum Militär eingezogen, er weinte<br />

beim Abschied, mit einer leichten Verwundung<br />

konnie er aber bald zurückkehren.<br />

Wie gesagt, wir lebten im ärmsten<br />

Kolchos der Gegend, und wer nichts hat,<br />

kann nichts geben. Pim blieb im Kinderheim,<br />

dort hatte er wenigstens genug zu<br />

essen. Gregor und ich ernährten uns von<br />

Rettich und Baumwollöl. Der Rettich war<br />

sehr gut. und ich erinnere mich, wie die<br />

Verkäufer riefen: »Rettich! Halb Honig, halb<br />

Zucker!« - Das war natürlich übertrieben,<br />

aber er war viel saftiger und auch nicht so<br />

scharf wie in Deutschland. Hatten wir uns<br />

den Bauch mit Rettich vollgeschlagen, liefen<br />

wir anschließend mit aufgetriebenem Leib<br />

durch die Gegend.<br />

An den Wochenenden stand ich sehr<br />

früh auf, ging über die Felder in die Stadt<br />

zum Markt. An Wochentagen lohnte es sich<br />

nicht. Schon von weitem sah ich die Schlange<br />

stehen. Einfach nur eine Schlange und nichts<br />

weiter. Die Stadtbewohner hatten sich angestellt<br />

in der Hoffnung, daß irgend jemand<br />

käme und etwas Eßbares verkaufen würde.<br />

Einmal kam wirklich ein Mann mit einem<br />

Sack Kartoffeln. Jemand aus der Schlange<br />

lief ihm entgegen, drückte ihm ein paar<br />

Geldscheine in die Hand, der Mann stopfte<br />

das Geld in die Tasche, der andere ergriff<br />

den Sack und weg waren sie.<br />

Eine Zeitlang ernährten wir uns von<br />

Trockenfrüchten. Die Usbeken knackten die<br />

Kerne, wenn sie Rast machten auf Findlingen,<br />

überall am Weg sah man bei größeren<br />

Steinen die Schalen herumliegen. Mir war<br />

das zu umständlich, ich knackte sie im<br />

Mund und ruinierte mir die Zähne.<br />

Allmählich gingen alle meine Schmucksachen<br />

den Weg zum Basar. Um irgendwie<br />

an Geld zu kommen, mußte ich sie auf dem<br />

Markt verkaufen. Selbst meinen Ehering,<br />

den mir meine Schwiegermutter geschenkt<br />

hatte, verkaufte ich. Mit jedem Stück ging<br />

ein Tropfen Herzblut mit, aber das Leben<br />

zehn Tage weiter.<br />

Der Kolchosbuchhalter, der im Gegensatz<br />

zu den anderen Dorfbewohnern in Wohlstand<br />

lebte, war besonders von meinem Ring mit<br />

dem großen blauen Aquamarin angetan. Er<br />

war abergläubisch und versprach sich vom<br />

Stein Glück und Gesundheit. Da er unbedingt<br />

daran glauben wollte, versicherte ich es ihm<br />

hoch und heilig, daraufhin packte er auf die<br />

ausgehandelte Menge Maismehl noch ein<br />

Kilo drauf.<br />

Einmal brachte ich Hafer nach Hause, so<br />

wie er aus den Ähren geschüttelt wurde. Ich<br />

hatte mir gedacht, wenn man ihn lange genug<br />

kocht, wird schon so etwas wie Haferschleim<br />

dabei herauskommen. Der Hafer quoll in den<br />

Hülsen auf, und um an den Schleim zu kommen,<br />

kauten wir die Hülsen durch und spukten<br />

sie wieder aus. Gregor wurde schlecht<br />

davon, und seine Verdauung spielte nicht<br />

mit, aber was half es, wer nicht aß, wurde<br />

schwach und schwächer. Einmal in der Woche<br />

kaufte ich Rindertalg, vermischte ihn mit<br />

Maismehl und briet es auf der Pfanne. Gregor<br />

zählte, wie oft jeder von uns mit seinem Löffel<br />

auf der Pfanne krat?te: »Eins-zwei-drei-du,<br />

eins-zwei-drei-ich...«. aber in der Dunkelheit<br />

bemerkte er nicht, daß ich meine Löffel nur<br />

halb füllte.<br />

Die MOPR versprach uns, ab i. Mai über<br />

die städtische Verteilungsstelle 500 Gramm<br />

Brot pro Person, eine Portion Makkaroni,<br />

Baumwollöl und - eventuell - Zucker<br />

zukommen zu lassen. Kür mich stand fest,<br />

dann holen wir Pim wieder zu uns. Und ich<br />

zählte die Tage.<br />

Gregor hatte sich so weit erholt, daß<br />

er wieder in die Stadt gehen konnte. Eines<br />

Tages kam er mit der Nachricht zurück:<br />

»Sie haben Pim ins Krankenhaus gebracht!«<br />

Das war ein schrecklicher Schlag.


lieber Genösse Durus! jo. 12. 1941<br />

Am 26. Dezember wurde ich aus dem Krankenhaus<br />

entlassen, in dem ich mit Lungenentzündung<br />

tag -- die letzte Hlappe dieses<br />

schweren Krankheitsjahrs. Die nächste und<br />

Schlußetappe wird der Friedhof sein, irgendwo<br />

am Weg ein Sandhügel, der unachtsam<br />

niedergetreten wird. Und ich will doch noch<br />

nicht sterben, will nicht: Ich will unser Deutschland<br />

wiedersehen und will noch über viele<br />

schöne Dinge schreiben. In den schlaflosen<br />

Nächten denke ich daran, hundert Themen<br />

fallen mir ein, hundert Themen weiß ich.<br />

Vor allem möchte ich über > Deutsche Volkskunst<br />

schreiben, mit derselben Begeisterung,<br />

mit der ich über >Ukrainische Volkskunst«<br />

schrieb. Weißt Du noch, einmal in<br />

Moskau, <strong>als</strong> wir uns trafen, träumten wir<br />

gemeinsam von unsrer Arbeit in unserem<br />

Deutschland. Das waren flüchtige, doch<br />

unvergeßliche Glücksminuten.<br />

Gabriele holte mich aus dem Krankenhaus<br />

ab. Ich stolperte über die Schwelle; und<br />

mir wurde finster vor den Augen; da wurde<br />

mir erschreckend klar, daß mir die Lungenentzündung<br />

unmerklich die letzte physische<br />

Widerstandskraft weggenommen hatte.<br />

Gabriele stützte mich; der Weg ins Kolchos,<br />

in dem wir >lebenKibitka< im Kolchos auf einer Bank. Ich<br />

kann nicht gehen, hab physisch keine Kraft.<br />

Die Kräfte sind zerfallen, die Beine tragen<br />

selbst das Gerippe, das übrigblieb, nicht mehr.<br />

»Gog. Sie haben keine Temperatur mehr,<br />

legen Sie sich auf dem Kolchos ins Bett. Die<br />

Hauptsache ist jetzt, gut essen. Eier, Fleisch.<br />

Speck, Hühnersuppen, auch Wein dürfen sie<br />

trinken« - »Genossin Doktor, Sie sind eine<br />

große Zynikerin!« sagte ich mit lauter harter<br />

Stimme. Sie sah mich böse an und trug ihre<br />

zwei Zentner Lebendgewicht in den nächsten<br />

Krankensaa!.<br />

Daß ich die Dinge, die sie aufzählte, notwendig<br />

brauche, wußte die Arztin besser <strong>als</strong><br />

jeder andere im Krankenhaus; denn sie hatte<br />

bei ihren täglichen Untersuchungen den<br />

rapiden Zerfall meiner physischen Kräfte<br />

mehr <strong>als</strong> einmal konstatiert - vielleicht ist<br />

diese Ärztin eine verkappte Feindin der<br />

Sowjetunion, wer kennt sich da aus!<br />

Unser Kolchos ist eins der ärmsten<br />

Baumwollkolchose der Gegend. Wir kriegen<br />

buchstäblich nichts! In der ersten Zeit gab's<br />

wenigstens noch Mehl, aus dem man Lepjoschki,<br />

das Brot der Kolchosbauern, backen<br />

lassen konnte. Auch das gibt's nicht mehr.<br />

Seit vier Tagen hab ich kein Brot gesehen.<br />

Ich weiß nicht, wie den weiteren Verfall<br />

meiner Kräfte aufhalten. Retten würde mich<br />

Fleisch, Fett und nochm<strong>als</strong> Fleisch und Fett.<br />

Gabriele hat alles Entbehrliche verkauft und<br />

rennt herum, um etwas Nahrhaftes, vor allem<br />

Fleisch zu kaufen. Es ist ihr bisher nicht<br />

gelungen; unsere Kolchosbauern haben<br />

außer Zwiebeln nichts, keine Kartoffeln,<br />

kein Fleisch, kein Mehl. Ich muß aber in<br />

den nächsten vier Wochen den weiteren Verfall<br />

meiner Kräfte aufhalten, sonst bin ich<br />

verloren und muß in die Grube, in die ich<br />

nicht will!<br />

Was den Faschisten 1933 nicht gelang,<br />

mich kaputt zu machen, darf jetzt nicht geschehen,<br />

nämlich kaputtzugehen; denn es<br />

würde bedeuten, daß ich buchstäblich an<br />

Fntkräftung, an Untrrernährung zugrunde<br />

ginge. Das wäre ein Verbrechen und eine<br />

Schande. Hs wäre auch ein Unsinn 'zu sagen,<br />

ich hätte besonderes Pech. Es ist gar nicht so:<br />

daß es mit mir soweit gekommen ist, daß ich<br />

vor dem Entkräftungstod angelangt bin, ist<br />

die l'olge bestimmter Vernachlässigungen,<br />

um nicht ein härteres Wort zu gebrauchen.<br />

die von Anfang an begangen worden sind.<br />

Ich bin ein Schwerverwundeter der Kämpfe<br />

des Jahres 1953. Meine Verwundung heißt<br />

chronische Rückenwirbelentzündung. Das<br />

Fundament meines Körpers ist krank. Um<br />

Heilung zu finden, kam ich in die Sowjetunion.<br />

Der MOPR-Arzt gab mir eine f<strong>als</strong>che<br />

Kur (trotz meines Protestes). Damit begann<br />

die Misere. Was >verdanke< ich seitdem nicht<br />

alles der MOPR. Vielleicht nimmt sich später<br />

einmal ein proletarisches Gericht die Akten,<br />

auch meine Akten, bei der MOPR vor, um<br />

Sfi»££f<br />

dahinter zu kommen, was da geschehen ist.<br />

^^^Hi<br />

Bei normalem Leben, wie in den sc<br />

Jahren 1937-1940 > Schlummer te< die Krankheit<br />

in mir. Es ging alles gut. Ich lebte in einem<br />

Gesundheitszustand, der dieser verfluchten<br />

Krankheit angepaßt war. Darum sagte ich ja<br />

in diesen Jahren immer wieder, daß ich nur<br />

Rücksicht auf die Krankheit nehmen mußte,<br />

um akuten Erkrankungen zu entgehen und<br />

arbeitsfähig zu bleiben.<br />

1941 wurde ich durch physische Überanstrengung<br />

aus diesem gesunden Zustand<br />

hinausgeworfen. >Man< hätte mir dam<strong>als</strong><br />

helfen müssen, <strong>als</strong> ich selbst, aus eigenen<br />

Kräften, aus der schweren Erkrankung nicht<br />

herauskonnte. Ich habe keine Hilfe, sondern<br />

nur Beschimpfung erfahren. Ich sage das<br />

ganz ruhig; denn weder das noch je etwas<br />

beirrt mich in meiner kommunistischen<br />

Weltanschauung.<br />

- i '<br />

Doch jetzt bin ich, infolge vieler Vernachlässigungen,<br />

an einem kritischen Punkt<br />

angelangt. Die deutsche Vertretung bei der<br />

Komintern muß eingreifen! Genösse Wilhelm<br />

muß ein Machtwort sprechen, das<br />

mich einem schändlichen Untergang, den<br />

ich wirklich nicht verdient hätte, entreißt.<br />

...Handschlag! Dein Gregor Gog.<br />

Weißt Du was von unsrem Heinrich Vogeler?<br />

Grüße ihn herzlich.<br />

aus; »Gut angekommen - Moskau.<br />

Das Exil der Gabriele Stammberger<br />

Erinnerungen und Dokumente«<br />

Aufgeschrieben von Gabriele Stammberger<br />

und Michael Peschke, BasisDruck, Berlin 1999


TITEL<br />

»Die einzigen, die wirklich<br />

etwas von männlicher<br />

Sexualität verstehen,<br />

.<br />

erläaclie<br />

Text:<br />

Helmul Höge<br />

Fotos; Rolf Zöllner<br />

sind die Prostituierten,<br />

aber sie schweigen.<br />

Es fragt sie jedoch<br />

auch niemand«.<br />

Michel Foucoult<br />

»Ich frage hinterher<br />

immer die Freier:<br />

Hat es dir gefallen?«<br />

Sylvia Kosta<br />

Aus der Frauenperspektive gesehen<br />

scheint mir die Prostitution die einzige noch<br />

existierende linke Bewegung zu sein. Zürn<br />

einen real - grenzüberschreitend und zum<br />

anderen sozial, weil die Prostituierten trotz<br />

entsolidarisierender »Schönheit« und zunehmender<br />

Konkurrenz noch am ehesten<br />

zusammenfinden und -halten. Zudem gibt<br />

es hierbei auch noch eine quasi natürliche<br />

Bewegung, die sich mit den vielen überqualifizicrten<br />

osteuropäischen Frauen noch laufend<br />

beschleunig!, insofern diese nicht aus<br />

Hilflosigkeit, Neigung, Blödheit oder Gleichgültigkeit<br />

(»Wenn die Männer schon alle mit<br />

mir ticken wollen, dann sollen sie wenigstens<br />

anständig dafür zahlen«) Anschaffen<br />

gehen, und erst recht nicht, um einen Mann<br />

zu versorgen.<br />

Für die Osteuropäerinnen bedeutet dieser<br />

demiritorische »Job« meist die einzige Möglichkeit,<br />

um hier Geld zu verdienen - und<br />

um Frauen, Kolleginnen kennenzulernen, die<br />

ihnen weiterhelfen. Das heißt, daß die meisten<br />

sich dort mehr oder weniger widerwillig<br />

reinbewegen - aber dann auch so schnell wie<br />

möglich wieder rausbewegen. Auch Männer,<br />

Freier, sind ihnen dabei recht - indem diese<br />

ihnen gegebenenfalls helfen: Bei einem rechtlichen<br />

Problem, der »richtigen« Versicherung,<br />

Arbeitsamt, Sprachkurs, Wohnung etc. Spe-<br />

/.iell die Frauen mit Touristenvisa müssen<br />

auch immer noch schnell jemanden zum<br />

Heiraten finden. Und dann überlegen sich<br />

viele auch sofort Alternativ-Einnahmequellen.<br />

In einem Sexkino in Berlin-Mitte arbeitet<br />

z.B. eine Petersburgerin, die Klamotten entwirft,<br />

die sie mit tschechischen Stoffen in<br />

Moldawien produzieren läßt. In einem Weddinger<br />

Sexkino arbeitet eine Moskauerin, die<br />

Roh-CDs aus Singapur importiert, die sie<br />

hier vertreibt. In einem Kreuzberger Bordell<br />

»jobt« eine Tomskerin, um damit ihr Germanistik-Studium<br />

hier zu finanzieren. Viele<br />

lernen systematisch Deutsch, während sie<br />

21'999


TITEL ©»<br />

herum-sitzen und auf »Patienten« warten.<br />

Dazu gibt es eine Unmenge von Krankenschwestern,<br />

Kindergärtnerinnen, Psychologinnen<br />

und Lehrerinnen, die in einem Bordell<br />

arbeiten und daneben versuchen, ihre Ausbildung<br />

hier - bzw. europaweit - anerkannt zu<br />

bekommen: Das hilft ihnen dann absurderweise<br />

sogar daheim weiter.<br />

Vor kurzem berichtete die taz-Redakteurin<br />

Barbara Bollwahn de Paez Casanova über einen<br />

»Prostituierten-Prozeß«. Es ging dabei<br />

um bulgarische Schlepper, die mehrere<br />

Frauen aus ihrem Heimatland hierherverschleppt<br />

und u.a. an die Wirtin des Bordells<br />

»Palais Madame« vermittelt haben sollten.<br />

Die ansonsten von mir verehrte Kollegin war<br />

nie in dem Bordell gewesen und konnte auch<br />

nicht mit den »Opfern« sprechen. Einige der<br />

im »Madame« arbeitenden Frauen beschwerlen<br />

sich anschließend heftig über ihren Bericht.<br />

Auch ich war empört, nach meinem Kenntnisstand<br />

gibt es gar keinen Handel mit osteuropäischen<br />

Frauen, auch keine grenzüberschreitende<br />

»Verschleppung«. Aus dem einfachen<br />

Grund, weil viel mehr Frauen von<br />

dort hierher wollen, <strong>als</strong> sämtliche Schlepper<br />

jem<strong>als</strong> ranschaffen könnten. Dafür gibt es<br />

aber immer wieder Polizisten, die die von<br />

ihnen in den Knast verschleppten Prostituierten<br />

so lange erpressen, bis diese »Namen«<br />

nennen, d.h. Männer, die ihnen - gegen Bezahlung<br />

- dazu verhalfen, in einem Berliner<br />

Bordell zu arbeiten. Zwar führt für die Frauen<br />

fast kein Weg an dieser »Mafia« mehr vorbei,<br />

aber ohne solche »Dienstleister« ginge es<br />

auch nicht.<br />

Ich sprach mit Ljuba, einer 29jährigen<br />

Ukrainerin aus jenem Bordell, die mir die<br />

»Sachlage« so darstellte: »Wir haben fast alle<br />

mit dieser Mafia einen Vertrag. Und wenn<br />

wir auch manchmal mit den Zahlungen in<br />

Rückstand geraten, so versuchen wir doch,<br />

den einigermaßen sauber zu erfüllen. Es<br />

bleibt uns auch gar nichts anderes übrig.<br />

Aber damit hat es sich darin. Das gilt auch<br />

für die andere Seite, die z.B. darauf achtet,<br />

daß der Scheinehemann, meiner lebt in<br />

Fberswalde, nicht vorfristig abspringt. Leider<br />

kommt es hier immer öfter zu Verfolgungen<br />

ausländischer Frauen durch Polizei und Justiz<br />

- bis hin zu den deutschen Botschaften, die<br />

z.B. in der Ukraine überhaupt keiner Frau<br />

zwischen 17 und 37 mehr ein Touristenvisum<br />

geben, weil sie davon ausgehen, die wollen<br />

sich hier nur jemanden zum Heiraten suchen,<br />

und für immer bleiben. Wenn die Polizei zusammen<br />

mit dem LKA eine Gruppe Mädchen<br />

aus einem Bordell in die Mangel nimmt,<br />

nachdem sie sie festgenommen haben, dann<br />

ist das Problem das schwächste Glied. Es<br />

nützt nichts, wenn fünf den Mund halten,<br />

aber eine redet. Dann nimmt die Polizei<br />

einige Männer hoch - und alle sechs sind<br />

anschließend die Dummen, das heißt, wir<br />

Mädchen müssen anschließend die restlichen<br />

frei herumlaufenden Mafiosi fürchten. Das<br />

ist eine reguläre Terrorspirale: Die Russen<br />

müssen immer brutaler werden, damit die<br />

Mädchen - derart eingeschüchtert — auch<br />

wirklich das Maul halten, und die deutsche<br />

Polizei, die Erfolge im Kampf gegen das<br />

organisierte Verbrechen vorweisen will, wird<br />

auch immer brutaler, um das Schweigen der<br />

Mädchen zu brechen«.<br />

Vicky, eine ehemalige Kollegin von Ljuba,<br />

die jetzt in einem Neukölner Bordell arbeitet,<br />

erzählt: »Obwohl ich im Gegensatz zu Ljuba<br />

keine Akademikerin, sondern eine Verkäuferin<br />

war, habe ich es ganz alleine hierher<br />

geschafft. Mit großem Glück bei der Visaerteilung.<br />

Aber ich habe es auch nicht leicht.<br />

Ich habe eine Tochter - in Kiew. Sie lebt bei<br />

meiner Freundin, und ich muß ihr regelmäßig<br />

Geld und Spielzeug und vor allem Anziehsachen<br />

schicken. Dafür gebe ich im Monat<br />

manchmal mehr aus <strong>als</strong> Ljuba für ihre »Vermittlung«<br />

zahlt: Meine Mafia ist mein Kind!<br />

Außerdem habe ich noch an mehrere Freundinnen<br />

sehr viel Geld verliehen, damit die<br />

eine Scheinheirat bezahlen konnten. Und es<br />

ist nicht so leicht, das Geld wieder zurückzubekommen.<br />

Viele haben ebenfalls Kinder.«<br />

Unter den »Mafiosis« gibt es auch Frauen,<br />

eine - aus Thailand — ist schon seit 17 Jahren<br />

im Geschäft: Noy. Sie geht selbst Anschaffen,<br />

daneben eröffnet sie aber auch immer wieder<br />

eigene kleine Bordelle, die sie dann mil Gewinn<br />

verkauft. Und jedesmal wenn sie zu<br />

ihrer Mutter nach Bangkok fährt, kommt sie<br />

mit »Aufträgen« zurück: Das heifst sie sucht<br />

für ein oder zwei Frauen einen Scheinehemarin<br />

hier, und dann erledigt sie auch noch<br />

die ganze dazugehörige Papiermagie. Anschließend<br />

arbeiten die Frauen Noys »Unkosten«<br />

(plus Provision und Risikozuschlaginsgesamt<br />

etwa 20.000 DM) in einem der<br />

hiesigen Thai- Bordelle ab. Meistens an<br />

Orten, wo noch etwas mehr Geld <strong>als</strong> in Berlin<br />

nocturno zirkuliert - in Bad Pyrmont,<br />

Baden-Baden oder Stuttgart zum Beispiel.<br />

Neulich erfuhr ich von einer bevorstehenden<br />

Razzia in einem Billigpuff in der Neukölner<br />

Hermannstraße. Als ich reinkam, saßen<br />

etwa 10 Frauen im ersten Raum und im zweiten<br />

vor einem Porno-Video rund TO Männer<br />

- ein paar dünne türkische Arbeiter und<br />

ebensoviel dicke deutsche von der Müllabfuhr.<br />

Alle warteten geduldig. Dann kamen<br />

aber zwei unruhige junge Männer rein, die<br />

sofort die Frauen anpöbelten: »Wann geht es<br />

endlich los? Macht hin, wir wollen ficken!«<br />

Nichts passierte. Schließlich stürmten 30<br />

Polizisten den Puff. Fünf Russinnen wurden<br />

festgenommen. Von drei deutschen Frauen<br />

erfuhr ich später, daß sie die Abendschule<br />

besuchten, um Abitur zu machen. Den zwei<br />

jungen Männern dauerte die Razzia zu lange,<br />

sie pöbelten die Polizisten an: »Eh du, der so<br />

aussieht wie ein Türke, du bist doch bestimmt<br />

der Einsatzleiter. Wann kriegen wir endlich<br />

unsere Ausweise wieder?« Später sah ich die<br />

beiden am Einsatzwagen - mit Uniformteilen<br />

angetan: Es waren Polizisten, und sie waren<br />

sehr stolz auf ihr Provokations-Schauspiel,<br />

wie ich dann von ihnen selbst erfuhr.<br />

Einmal interviewte ich auch den Leiter<br />

der polizeilichen »Ermittlungsgruppe Menschenhandel«<br />

(früher «Sitte« genannt}: Andreas<br />

Reinhardt. Auf seinem Schreibtisch<br />

steht ein Schild mit der Aufschrift »Chef«.<br />

Das Gespräch war völlig unergiebig. Er kam<br />

mir faul, desintcressiert und - wegen seines<br />

Beamtenstatus - völlig unfähig vor, in diesem<br />

subtilen mit dem Zerfall der Sowjetunion<br />

entstandenen Problemfeld auch nur gedanklich<br />

»Ordnung« zu schaffen. Später besuchte<br />

ich einige Veranstaltungen, auf denen der<br />

fustizexperte für organisierte Kriminalität,<br />

Staatsanwalt Fätkinheuer, auftrat. Er schien mir<br />

ein Wichtigtuer zu sein, der nur die rassistischen<br />

Bild-Schlagzeilen mit ebenso haltlosen<br />

wie eitlen Behauptungen untermauert.<br />

Mehrm<strong>als</strong> traf ich mich danach mit feministischen<br />

Frauenhandels-Forscherinnen,<br />

u.a. aus dem Wissenschaftszentrum. Während<br />

die Männer meist so taten <strong>als</strong> würden sie<br />

weniger erzählen, <strong>als</strong> sie wüßten, war es bei<br />

den Frauen eher umgekehrt. Dennoch war<br />

der »Sachstand« bei ihnen ähnlich mager wie<br />

bei den Journalistinnen: Eine schrieb von der<br />

anderen ab und keine hatte jem<strong>als</strong> längeren<br />

»Kontakt« zu einer Prostituierten gehabt.<br />

Beslenfalls ließen sie sich gelegentlich - von<br />

»Hydra« oder der asiatischen Frauenhilfsorganisation<br />

»Ban Ying« vermittelt - mit einer<br />

verschleppten Prostituierten »verbinden«,<br />

die ihnen für Geld ein kurzes Interview über<br />

ihren Leidensweg gewährte. Ein in der BZ <strong>als</strong><br />

»Top-Russin« annoncierendes Callgirl (das<br />

»Haus und Hotel«-Besuche macht) erzählte<br />

mir, daß sie anfänglich, 1992, mehr Journalisten<br />

<strong>als</strong> Freier gehabt hätte, wogegen sie jedoch<br />

nichts einzuwenden hatte: »Die haben<br />

mir alle dasselbe bezahlt - 200 DM pro<br />

Stunde«.<br />

weibbkci 1999 i 9


TITEL<br />

Nachdem der feministische Braintrust<br />

der letzten Berliner Arbeitssenatorin Christine<br />

Bergmann - sie war einmal die schönste<br />

Sängerin im Jenaer Kirchenchor - eine Pressekonferenz<br />

über den Stand der Bekämpfung<br />

des »Mädchenhandels auf der Ost-West-Drehscheibe«<br />

abgehallen hatte, wobei sie erneut<br />

den »Handlungsbedarf« bei der Polizei ansiedelte,<br />

hagelte es Presse- und TV-Berichte<br />

über das - gerade in Berlin - nun völlig entmenschte<br />

»Milieu«. Wobei es den männlichen<br />

Journalisten inbesondere das »Zureiten« der<br />

frischen Frauenware aus dem Osten (durch<br />

ihre Zuhälter) angetan hatte, es tauchte in<br />

jedem Text auf.<br />

Neben den Selbstorganisationen der Prostituierten<br />

gibt es auch noch die sehr engagierten<br />

Sozialarbeiterinnen und Ärztinnen -<br />

in den Gesundheitsämtern, die speziell zur<br />

Kontrolle der Prostituierten eingerichtet wurden.<br />

Sie führen - leider zusammen mit der<br />

Polizei - auch »Bordell-Begehungen« durch.<br />

Einige dieser Ämter sind so liebevoll eingerichtet,<br />

daß etliche Thaifrauen die für Kreuzberg,<br />

Neukölln und Ternpelhof zuständige<br />

Einrichtung sogar <strong>als</strong> Treffpunkt nutzen. Die<br />

Beschäftigten kümmern sich um weit mehr<br />

<strong>als</strong> nur um Geschlechtskrankheiten. Probleme<br />

hatten sie ab 1994 mit den bulgarischen Prostituierten,<br />

die alle dort hinkamen, <strong>als</strong> hätte<br />

man sie geprügelt: »Wir haben sie erst mal<br />

alle wieder weggeschickt. Wir können euch<br />

nur helfen, wenn ihr freiwillig kommt, haben<br />

wir ihnen gesagt. Die waren von zu Hause<br />

anscheinend eine andere Art Gesundheitsdienst<br />

gewöhnt«.<br />

Noch kompetenter ist wohl nur die ehemalige<br />

Nollendorfplatz-Ärztin Dorothea<br />

Ridder: Sie arbeitete etliche fahre selbst <strong>als</strong><br />

Prostituierte - und dann <strong>als</strong> Terroristin, bevor<br />

sie später <strong>als</strong> Ärztin u.a, drogenabhängigen<br />

Prostituierten half. Es war nebenbeibemerkt<br />

kein geringerer <strong>als</strong> Rudi Dutschke,<br />

mit dem sie seinerzeit im SDS-Zentrum am<br />

Kurfürstendamrn wohnte, und der ihr - <strong>als</strong><br />

»Beschützer« - morgens half, die alleraufdringlichsten<br />

Freier, die ihr von der Lietzenburgerstraße<br />

nach Hause gefolgt waren, los<br />

zu werden. Anschließend frühstückten sie<br />

gemeinsam.<br />

Eine Journalistin, die früher politisch<br />

aktiv war, meinte - nachdenklich: »Wenn<br />

man einmal damit angefangen hat, kann man<br />

nicht mehr aufhören! Mir macht das Anschaffen<br />

Spaß, jedenfalls meistens. Ich arbeite<br />

allerdings auch nicht so oft«.<br />

»Was interessiert dich eigentlich an den<br />

Sexarbeitern so?« fragten mich Lena und<br />

ihre Freundin Diana - in einem Kreuzberger<br />

Bordell. Ich antwortete mit einem Franzosen-<br />

Spruch: »Wenn Denken bedeutet, etwas zu<br />

Geld zu machen, dann bedeutet Denken auf<br />

dem Gebiet der Leidenschaft Prostitution«.<br />

»Okay, aber das ist kein Grund, die Kopfund<br />

Handarbeiter links liegen zu lassen!«<br />

»Tu ich ja auch nicht, aber da ist logischerweise<br />

noch viel mehr Prostitution drin <strong>als</strong> in<br />

der Prostitution«. »Was ist daran so logisch?«<br />

Statt eine Antwort zu geben, fragte ich Diana:<br />

»Wenn ein Behinderter in die Bar kommt,<br />

gehst immer du mit ihm aufs Zimmer -<br />

warum?« »Einer muß es ja machen, die können<br />

wir doch nicht einfach wegschicken, das<br />

wäre unhuman!« Lena holte zu einer längeren<br />

Erklärung aus: »Unsere beiden Väter<br />

waren in der Armee und wir studieren jetzt<br />

auch zusammen - in Moskau, außerdem<br />

wollen wir beide nach Japan, Diana ist meine<br />

beste Freundin. Im Gegensatz zu mir hat sie<br />

aber schon richtig gearbeitet und jetzt verdienen<br />

wir in den Ferien immer hier in Berlin<br />

unser Geld...«<br />

»Laß mich erzählen,» unterbrach Diana<br />

sie, »ich habe bei einer Fernsehstation in<br />

Swerdlowsk gearbeitet, alle Chefs dort waren<br />

unfähige Funktionäre, die nur ihre Datschen,<br />

neuen Autos usw. im Kopf hatten. Sie wußten<br />

nicht, was in der Stadt und im Oblast überhaupt<br />

los war, es interessierte sie auch nicht,<br />

aber sie entschieden Tag für Tag, was gesendet<br />

wurde. Ich war da nur eine Art Sekretärin,<br />

aber die arideren Frauen, die Reporterinnen,<br />

die ständig irgendwas oder irgendwem auf<br />

der Spur waren, die hat das schier verrückt<br />

gemacht: diese Dummheit der Natschalniks.<br />

Daraus hat sich ein Sprichwort entwickelt -<br />

wenn die wieder mal wegen eines Themas<br />

bei denen vorsprechen mußten, das ihnen<br />

dann völlig verbogen wurde: »Mit den Krüppeln<br />

ticken!« Das war nicht sexuell gemeint,<br />

im Gegenteil. Wenn es doch mal sexuell ausartete,<br />

hieß es »Subbotnik« - so heißt heute<br />

noch das Urnsonst-Ficken-Müssen mit Zuhältern<br />

und Polizisten. »Mit Krüppeln ficken«<br />

meinte aber jede Situation, in der man sich<br />

aus einer gewissen Abhängigkeit heraus mit<br />

Freaks einlassen muß. Als hier nun das erste<br />

Mal ein Zwerg hereinkam, mit einem Buckel<br />

auch noch und schlechter I laut, da haben<br />

sich die Mädchen alle angekuckt: »Wer haut<br />

ihn <strong>als</strong> erste an?« Die Thailänderin hat sofort<br />

gesagt: »Das kann ich nicht«. Lena hat sich<br />

verdrückt und die Drogensüchtige, die sonst<br />

ziemlich hart drauf ist, war noch nicht zur<br />

Arbeit erschienen. Daraufhin habe ich gesagt<br />

- eigentlich nur so vor mich hin: »Ich kenn<br />

das, mit Krüppeln ficken!« Und schon haben<br />

mich die anderen erleichtert aus dem Frauenruheraum<br />

- geradezu gedrängt. Wenn jetzt<br />

wieder mal so einer kommt, heißt es immer<br />

gleich: »Die Diana kann das, mit Krüppeln<br />

ficken«. Ich kann es mittlerweile tatsächlich.<br />

Es ist sogar interessant... manchmal.«<br />

Während und nach der Studentenbewegung<br />

jobbten viele der Aktivistinnen in<br />

Nachtbars und Peep-Shows oder spielten -<br />

wie Gudrun Enslin - in Pornofilmen mit.<br />

Das hatte u.a. etwas mit Erotik und Proletarität<br />

zu tun. Der heutige Feminismus<br />

begreift die Prostituierten nur noch distanziert<br />

und einseitig <strong>als</strong> »Opfer«. Gerade in<br />

Berlin, wo es über 900 Bordelle gibt, wie die<br />

Puff-Providerin Maria Tiedemann schätzt,<br />

die nächtens den Berliner Prostituierten u.a.<br />

»Textil-Einzelstücke« verkauft, ist man gut<br />

beraten, erst einmal genau zuzuhören und<br />

genau hinzuschauen. Das Gunstgewerbe ist<br />

hier wie nirgendwo sonst in Deutschland im<br />

normalen Kiez-»Mix« - Wohnen und Arbeiten<br />

- integriert, ohne Sperrbezirke, Großbordelle<br />

von Bauludcn und Rotlichtstraßen<br />

bzw. -viertel. Außerdem gibt es hier die<br />

wahrscheinlich weltweit meisten, von Frauen<br />

selbstorganisierten Bordelle und Callgirl-<br />

Center. Und daneben inzwischen eine Menge<br />

Bordell besitzen die halbwegs in Ordnung<br />

sind.<br />

Kurzum: Nirgendwo sonst trifft man so<br />

viele warmherzige und tolle, kämpferische<br />

Frauen wie gerade in Bordellen - versuchte<br />

ich einmal der SFB-Journalistin Anja Baum<br />

klar zu machen. Sie wollte daraufhin mit mir<br />

ein Weddinger Thai-Bordell besuchen. Die<br />

Frauen dort freuten sich dann derart, daß da<br />

mal eine Deutsche und nicht wie sonst immer<br />

nur ein (deutscher) Freier hereinkam, daß<br />

sie sich sofort alle um die Journalistin scharten<br />

und mit ihr unterhielten. Mich sprachen<br />

sie nur an, wenn ich ihnen was zu trinken<br />

spendieren sollte oder um ihnen zu bestätigen,<br />

daß Anja eine tolle große Nase habe.<br />

In Berlin gilt schon lange nicht mehr,<br />

daß der Frauenforschung dieses Überraschungs-Feld<br />

verwehrt ist. Bisher wurden<br />

jedoch meist nur ideologisch-deduktiv und<br />

unüberprüft die Frauenhändler-Geschichten<br />

der Polizei vertieft: »Bullenfakes« allesamt!<br />

Wenn dabei mit O-Tönen von »Opfern«<br />

operiert wurde, waren es auch meist nur<br />

»Geständnisse«, die zuvor die Polizei den<br />

Prostituierten abgepreßt hatte. Ks gab einmal<br />

- in der historisch-feministischen »Hexen«-<br />

Forschung - durchaus einen anderen<br />

Umgang mit solchen »Geständnissen«!<br />

-J'-'


TITEL<br />

Vor einiger Zeit inhaftierte man eine<br />

Asiatin im Frauenknast Kruppstraße, sie<br />

hatte lange fast bis zur Hüfte reichende<br />

pechschwarze Haare. Da ihre Nationalität<br />

unbekannt war, konnte sie monatelang nicht<br />

ohne weiteres abgeschoben werden - und<br />

wurde immer wieder verhört. Nach einer<br />

besonders langen Einvernahme durch die<br />

Bullen und ihre Dolmetscher kam sie mit<br />

vollständig ergrauten Haaren wieder in die<br />

Zelle zurück. Was die Beamte mit ihr angestellt<br />

hatten, konnten nicht einmal die mit<br />

ihr inhaftierten und freundschaftlich verbundenen<br />

Thai-Frauen herausbekommen. Aber<br />

der ganze Knast war entsetzt. Auch hier gilt<br />

jedoch: Von Tätern und Opfern zu reden -<br />

das ist dümmster Amerikanismus und einer<br />

Linken unwürdig, nur korrupte Staatsfeministinnen<br />

und Juristinnen, die ihre Karriere<br />

forcieren wollen - klinken sich in einen solchen<br />

»Diskurs« ein. Den Vogel schoß einmal<br />

»Emma« - in einem Prostituierten-Artikel -<br />

ab, den eine Polin krönte, die ihr Zuhälter<br />

mit einem großen Schild »Ich koste 30 DM«<br />

um den H<strong>als</strong> an die Straße des ly.Juni<br />

gestellt hatte. Das möchte ich bestreiten!<br />

Eine verheiratete ehemalige Westberliner<br />

Sekretärin erzählt: »Ich vögel gerne und habe<br />

nur Universitätsleute <strong>als</strong> Kunden, die alle sehr<br />

sehr anständig sind«. Sie kann sich nicht einmal<br />

vorstellen, wie man eine Frau überhaupt<br />

zur Prostitution zwingen kann: »Derartig<br />

verstellen kann sich doch auf Dauer keine,<br />

daß sie gegen ihren Willen mit zehn Männern<br />

oder mehr täglich vögelt. Das geht doch gar<br />

nicht, außerdem muß sie dabei noch fröhlich<br />

sein, gesprächig, keck und einfallsreich<br />

und die Männer richtig zu nehmen wissen,<br />

damit die auch wiederkommen - gezwungenermaßen<br />

geht das doch gar nicht. Das ist<br />

doch Quatsch! Andersherum würde ich aber<br />

natürlich auch sofort behaupten, man habe<br />

mich brutal verschleppt, wenn die Polizei<br />

mich in einem Bordell verhaftete. Eine Frau<br />

wäre ja bescheuert, wenn sie das nicht sagen<br />

würde«.<br />

Ein wegen Beihilfe zum Frauenhandel zu<br />

drei Jahren verurteilter polnischer Chauffeur<br />

kam neulich zu einer ähnlichen Einschätzung:<br />

»Das ist doch ein Witz, daß die Frauen zur<br />

Prostitution gezwungen wurden. Wenn ich<br />

mich hier in der Kleinstadt hinstellen und<br />

laut rufen würde: Ich fahre nach Deutschland<br />

in ein Bordell, wer kommt mit? Dann<br />

würde die Hälfte aller Frauen hier sofort einsteigen.<br />

Schuld daran sind nicht die Frauen<br />

oder die Schlepper, sondern die Politik, die<br />

nichts gegen die Arbeitslosigkeit hier tut.<br />

Es gibt einfach keine Arbeit mehr!«<br />

Helmut Möge, freier Autorin Berlin,<br />

recherchiert und veröffentlicht<br />

<strong>als</strong> kenntnisreicher Insider des Milieus<br />

immer wieder zu diesem Thema.


TITEL<br />

Was für ihre Mütter undenkbar war, wagen die Töchter: Immer mehr junge<br />

zulernen, ihre Sprachkenntnisse zu verbessern oder auf der unbestimmten<br />

•..<br />

M)me<br />

-••<br />

n-o ist es hie<br />

T\T • *<br />

Tea aus Georgien<br />

Monika aus Warschau hat nicht nurgute<br />

F.rjahrungen mit Au-pair gemacht<br />

Elena (Nr.2) aus Sibirien<br />

»Au-pair-Club, Zimmer 1131,« stehl auf<br />

dem Wegweiser am Seitenaufgang des Wilmersdorfer<br />

Rathauses. Dort verbreiten die<br />

hellen Neonröhren an der Decke zwar nicht<br />

gerade Clubathmosphäre, doch die anwesenden<br />

Au-pairs stört das wenig: Viele sind neu<br />

in der Stadt und nutzen den allwöchentlichen<br />

Treff, um andere Au-pairs kennenzulernen,<br />

bei Tee und Keksen Eindrücke zu vergleichen<br />

und Erfahrungen auszutauschen. Neben<br />

Deutsch hört man vor allem Polnisch und<br />

Russisch - fast zwei Drittel der Mädchen<br />

hier kommen aus Osteuropa.<br />

Auch Elena. Erst seit ein paar Wochen<br />

ist sie in Deutschland und kommt seitdem<br />

regelmäßig hierher. Zu Hause in Kiew hat<br />

sie schon einige Semester Deutsch, Englisch<br />

und Weltliteratur studiert und wollte vor<br />

allem der Sprache wegen ins Ausland. Es<br />

ist nicht ihr erster Deutschland-Aufenthalt:<br />

Vor vier Jahren war die dam<strong>als</strong> lyjährigc <strong>als</strong><br />

Betreuerin mit einer Kindergruppe aus<br />

Tschernobyl in Salzwedel. Diesmal hat sie<br />

sich ganz bewußt für Berlin entschieden,<br />

»weil das die Hauptstadt ist und sich hier<br />

Ost und West vereinen«. Daß sie nun jenseits<br />

der Stadtgrenze wohnt und der letzte<br />

Bus abends um halb Neun Fahrt, findet sie<br />

nicht weiter schlimm: Vom Au-pair-Club<br />

holen sie ihre Gasteltern mit dem Auto ab,<br />

die übrigen Abende der Woche verbringt sie<br />

mit Lesen und Lernen.<br />

Ihrer Freundin Iwona wäre das zu langweilig:<br />

Sie ist froh, der Enge ihres polnischen<br />

Heimatdorfes endlich entkommen zu sein<br />

und nutzt ihre Freizeit zu ausgiebigen<br />

Museumsbesuchen. Nach ihrem Au-pair-<br />

Aufenthalt möchte sie Germanistik und<br />

Kunst studieren, am liebsten in Berlin.<br />

Was ihr hier gefällt? »Der ganze Lebensstil<br />

ist viel lockerer. Die jungen Leute denken erst<br />

daran, das Leben zu genießen, und kriegen<br />

dann Kinder. In Polen ist es genau andersherum.«<br />

Auch Elena Nummer zwei, ebenfalls erst<br />

seit sechs Wochen in Berlin, möchte sich mit<br />

dem Kinderkriegen noch etwas Zeit lassen:<br />

»Eine gute Ausbildung ist wichtiger,« sagt sie<br />

schüchtern. Dazu zählt auch der einjährige<br />

Au-pair-Aufenthalt, zu dem ihr ihre Eltern<br />

geraten haben. Schließlich soll Elena nach<br />

dem Studium das väterliche Reisebüro übernehmen,<br />

und da sind gute Deutschkenntnisse<br />

wichtig - auch wenn sich bislang nur<br />

wenige deutsche Touristen ins viereinhalb<br />

Flugstunden südöstlich von Moskau gelegene<br />

Abakan verirren. Viel zu wenige, bedauert<br />

die Neunzehnjährige und zeigt mir ein<br />

dünnes Faltblatt: »Chakassien ist reich an<br />

Geschichte und Kultur, mit liebenswerten<br />

Menschen,« lese ich da, »wenn auch vieles,<br />

was in Deutschland Lebensstandard heißt, in<br />

Sibirien noch Mangelware ist.« Ob sie Heimweh<br />

hat nach Abakan? »)a, großes Heimweh.«<br />

Für viele Mädchen sei das das größte Problem,<br />

bestätigt Frau Dückers, ehrenamtliche<br />

Vorsitzende des Vereins für internationale<br />

[ugendkontakte, der jährlich rund zweihundert<br />

Au-pairs in Gastfamilien nach Berlin<br />

und Brandenburg vermittelt. Dort leben sie<br />

<strong>als</strong> »Familienmitglied auf Zeit«, helfen bis<br />

zu dreißig Stunden wöchentlich im Haushalt<br />

und bei der Kinderbetreuung und haben<br />

dafür Anspruch auf 200 Mark monatliches<br />

Taschengeld, Krankenversicherung, die<br />

Monatskarte und einen täglichen Sprachkurs.<br />

Die Kosten dafür sowie die Vermittlungsgebühr<br />

tragen die Gasteltern, lediglich<br />

ihre Hin-und Rückreise müssen die Mädchen<br />

selbst bezahlen. »Au-pair ist für viele eine<br />

gute Gelegenheit, ohne großen finanziellen<br />

Aufwand und im gesicherten Umfeld einer<br />

Gastfamilie ein Jahr im Ausland zu verbringen,«<br />

lobt Frau Dückers ihr Modell, »und<br />

umgekehrt weiten auch deutsche Familien<br />

ihren Horizont und bekommen eine bessere<br />

Beziehung zu den Herkunftsländern ihrer<br />

Au-pairs.« Daß viele der meist Westberliner<br />

Familien zunächst Vorbehalte gegenüber<br />

Osteuropäerinnen haben, gibt sie offen zu,<br />

»aber die machen dann erst recht positive<br />

Erfahrungen.«<br />

2I'999


Osteuropäerinnen kommen <strong>als</strong> Au-pair nach Berlin - um die Stadt kennen-<br />

Suche nach einer besseren Zukunft, Einige von ihnen traf Karin Nungeßer.<br />

"besser<br />

Die haben mit ihrem ersten Au-pair auch<br />

Familie Heiden aus Treptow gemacht. Aber<br />

Vorbehalte gegenüber Osteuropa sind ihnen<br />

ohnehin fremd: »Wir <strong>als</strong> ehemalige DDR-<br />

Bürger haben da ein ganz anderes Verhältnis<br />

zu,« stellt Herr Heiden klar, und auch Frau<br />

Heiden war die Nationalität ihres Au-pairs<br />

ganz egal, bis sie von mehreren Seiten gehört<br />

hatte, die Osteuropäerinnen seien zuverlässiger.<br />

»Denen bleibt ja auch gar nichts anderes<br />

übrig,« setzt sie schnell hinzu, »die wollen ja<br />

nicht zurück.«<br />

Für Gasttochter Dina gilt das ohne Zweifel:<br />

»Ich habe zwar Heimweh nach zu Hause,«<br />

sagt sie leise, »aber in diesem Moment ist es<br />

hier besser.« »Zu Hause«, das ist für Dina<br />

die Schwarzmeerhalbinsel Krim, wo es<br />

weder Arbeit, noch einen Ausbildungsplatz<br />

für sie gibt. Ihre Großmutter rät ihr deswegen<br />

bei jedem Telefonat doch in Deutschland zu<br />

bleiben, aber wie soll sie das machen? Dinas<br />

Aufenthaltsgenehmigung läuft im August ab,<br />

und dann muß sie zurück nach Hause. Davor<br />

graut ihr, nicht nur, weil sie dann wieder<br />

dreienhalb Tage unterwegs ist im Zug nach<br />

Djankoi. Dina fühlt sich wohl bei Familie<br />

Heiden, die demnächst einen russischen<br />

Abend mit ihr veranstalten wollen, und auch<br />

die würden ihr erstes Au-pair gerne behalten.<br />

Schon, weil sich alles so gut eingespielt hat:<br />

Wenn beide Zwischenschicht haben, sie im<br />

Krankenhaus, er bei der Polizei, kümmert<br />

sich Dina liebevoll um Steven, Tom und<br />

Lilly, macht ihnen Abendbrot und bringt<br />

sie ins Bett. »Sie ist für uns wie ein Familienmitglied,«<br />

beteuert Frau Heiden, »auch die<br />

Kinder mögen sie sehr.« Vielleicht haben<br />

alle Glück, und Dina bekommt von der Ausländerbe-hörde<br />

eine Verlängerung für ein<br />

halbes Jahr.<br />

Vor demselben Problem steht alljährlich<br />

auch Familie Krummhauer im Westberliner<br />

Stadtteil Charlottenburg. Seit dreizehn Jahren<br />

haben sie Au-pairs, und jedes Jahr aufs Neue<br />

müssen sie den wechelnden Sachbearbeiterinnen<br />

klarmachen, wie lange es dauert, bis<br />

der gehörlose, fast blinde und geistig behinderte<br />

Martin sich auf eine neue Bezugsperson<br />

eingestellt hat. Warum sie sich trotzdem<br />

immer wieder für ein Au-pair entscheiden?<br />

»Es ist schön jemanden im Haus zu haben,<br />

und ein bißchen sind sie auch ein Ersatz für<br />

die Tochter, die wir gerne gehabt hätten,«<br />

antwortet Herr Krummhauer mit einem<br />

Schmunzeln.<br />

Entsprechend eng ist die Bindung der<br />

Krummhauers zu ihren ehemaligen Au-pairs:<br />

Obwohl die meisten von ihnen längst wieder<br />

in ihre Herkunftsländer nach Norwegen,<br />

Frankreich, die Schweiz, Polen und Peru<br />

zurückgekehrt sind, halten sie über Jahre<br />

hinweg den Kontakt und nehmen an ihrem<br />

weiteren Lebensweg Anteil. Auch für die<br />

Zukunft von Marlena, die seit Januar bei<br />

ihnen ist, fühlen sie sich schon jetzt ein<br />

verantwortlich: Sobald sie besser Deutsch<br />

spricht, soll Marlena zusätzlich einen Englischkurs<br />

besuchen, um ihre Berufsaussichten<br />

in Polen zu verbessern.Einstweilen lernt<br />

sie, mit Martin zu kommunizieren. Seine<br />

Zeichensprache versteht sie schon recht gut,<br />

und wenn er beim Puzzeln aufgeregt hinund<br />

herzuwippen beginnt, legt sie ihm sachte<br />

die Hand auf den Arm, bis er sich wieder entspannt<br />

und das nächste Teil ertasten kann.<br />

Ob sie in Polen schon mit Behinderten gearbeitet<br />

hat? Nein, da sei sie fünf Jahre im<br />

Büro gewesen. Was nach diesem Jahr werden<br />

soll, weiß sie noch nicht. Marlena ist<br />

erst einmal froh, hier bei Familie Krummhauer<br />

zu sein.<br />

»Meine ersten Gasteltern mußte ich<br />

siezen,« erzählt Monika aus Warschau von<br />

ihren Erfahrungen <strong>als</strong> »Familienmitglied auf<br />

Zeit«. Ohne Empörung, eher so, <strong>als</strong> versuche<br />

sie immer noch zu verstehen, warum sie so<br />

schlecht behandelt wurde. Dabei klingt das,<br />

was sie berichtet, wie ein böser Alptraum:<br />

Sieben oder acht Stunden habe sie arbeiten<br />

müssen, jeden Tag, auch am Wochenende.<br />

Und jedes Mal, wenn sie aus Lübars nach<br />

Berlin zu ihren Freundinnen fahren wollte,<br />

sei ihr gesagt worden, sie müsse spätestens<br />

in drei Stunden wieder zu Hause sein, um<br />

das Abendessen vorzubereiten. Auch in den<br />

Au-pair-Club habe sie in der ganzen Zeit nur<br />

zwei- oder dreimal gehen können, weil die<br />

Frau immer mittwochs so spät nach Hause<br />

gekommen sei. »Einmal kam sie früher«,<br />

erzählt Monika, »da hat sie mir zwei Kilo<br />

Weintrauben hingestellt, die mußte ich<br />

dann entkernen.«<br />

Drei Monate hat sie es ausgehalten, dann<br />

ist Monika davongelaufen: »Ich habe gesagt,<br />

ich fahre übers Wochenende nach Polen. Ich<br />

habe heimlich alle meine Sachen mitgenommen<br />

und nur einen Brief dagelassen, daß ich<br />

mich nicht wohlgefühlt und nichts geklappt<br />

habe.« Warum sie nicht offen gekündigt hat?<br />

»Ich hatte Angst vor dieser Frau und daß ich<br />

zurück nach Polen muß.« Eine begründete<br />

Angst, denn sobald das Arbeitsverhältnis<br />

endet, erlischt auch die Aufenthaltsgenehmigung.<br />

Wird die Ausländerbehörde davon informiert,<br />

bevor das Au-pair eine neue Familie<br />

gefunden hat, droht die Ausweisung.<br />

Monika hat Glück gehabt: Zu Hause in<br />

Warschau fand sie die Anschrift einer Kölner<br />

Agentur, die ihr eine neue Familie in Berlin<br />

vermittelt hat: »Sie behandeln mich wie eine<br />

Freundin,« freut sich Monika, »sie haben<br />

mir sogar angeboten, im nachten Jahr bei<br />

ihnen zu wohnen und mich um ihr Kind<br />

zu kümmern, wenn ich hier in Berlin studiere.«<br />

Auch ihre Freundin Tea hat bereits ganz<br />

konkrete Pläne für die Zukunft: Sie möchte<br />

zu Hause in Georgien <strong>als</strong> Ärztin arbeiten.<br />

Sobald sie ihr Au-pair-Jahr im Sommer<br />

beendet hat, will sie ihr Medizinstudium<br />

fortsetzen, am liebsten in Deutschland:<br />

»Die technische Ausstattung und überhaupt<br />

die ganze Ausbildung sind hier viel besser,<br />

da kann ich viel lernen,« hofft sie. »Es gibt<br />

zwar auch bei uns viele arbeitslose Mediziner,<br />

aber mit einem Studium in Deutschland<br />

habe ich gute Chancen, dort eine Stelle zu<br />

bekommen.«<br />

Auf Dauer in Deutschland zu bleiben,<br />

kann sie sich überhaupt nicht vorstellen: Zu<br />

sehr vermißt sie ihre Eltern und ihre Schwester,<br />

mit denen sie wöchentlich telefoniert,<br />

auch wenn sie das die Hälfte ihres Taschengeldes<br />

kostet. Entsprechend betroffen macht<br />

Tea der geringe Familienzusammenhalt in<br />

Deutschland: Neulich habe sie ein Mädchen<br />

kennengelernt, das mit achtzehn von zu


TITEL<br />

Hause ausgezogen sei und seitdem keinerlei<br />

Kontakt mehr zu ihrer Familie habe, erzählt<br />

sie schockiert. »Nicht mehr miteinander zu<br />

sprechen, obwohl man zur selben Familie<br />

gehört, das wäre bei uns in Georgien nicht<br />

möglich.« Was noch anders ist? »Hier in<br />

Deutschland ist die Frau in der Familie die<br />

wichtigste Person, in Georgien entscheide!<br />

oft der Mann.« Ob sie das richtig findet? »Ich<br />

möchte nicht so leben und für alles sorgen.<br />

Ich finde, der Mann muß sich mehr durchsetzen.<br />

Er ist stärker und soll die Probleme<br />

lösen.« Doch nicht samtliche Veränderungen<br />

im Umgang der Geschlechter lehnt Tea ab:<br />

»Was ich hier gut finde, ist, daß auch die<br />

Männer in der Küche stehen. Das werde ich<br />

später genauso machen.«<br />

Elena und Iwona sehen sich regelmäßig im Au-pair-Club<br />

Doch nicht nur aus ihren deutschen<br />

Gastfamilien beziehen die jungen Frauen<br />

neue Impulse, ebenso profitieren sie vom<br />

Kontakt untereinander: »Im Au-pair-Club<br />

und in der Sprachenschule treffen wir Menschen<br />

aller Nationalitäten und kommen gut<br />

miteinander aus,« findet nicht nur Elena aus<br />

Sibirien. »Wie schön wäre die Welt, wenn<br />

das überall möglich wäre!«<br />

Familie Krummhauer: Marlena kümmert sich um den gehörlosen Martin<br />

»Au-pair«, übersetzt »Wohnung gegen<br />

Arbeit im Haushalt«, gibt es in Westeuropa<br />

seit Ende des zweiten Weltkriegs.<br />

Doch das zugrundeliegende System ist<br />

weit älter: Schon im 19. Jahrhundert<br />

strömten überall in Europa junge Frauen<br />

vom Land in die Städte, um sich dort <strong>als</strong><br />

Dienst- oder Kindermädchen zu verdingen.<br />

Als sich während der Wirtschaftskrise<br />

der Zwanziger Jahre immer weniger<br />

Famitien in Deutschland Dienstpersonal<br />

leisten konnten und in den Städten Massenarbeitslosigkeit<br />

herrschte, wurden<br />

viele Frauen ins Ausland, insbesondere<br />

in die Schweiz, Frankreich und England<br />

vermittelt. Während sie früher jedoch in<br />

der Regel über mehrere Jahre und<br />

manchmal sogar ein Leben lang bei<br />

ihren »Herrschaften« blieben, gelten<br />

für Au-pairs strenge Begrenzungen: Sie<br />

müssen bei ihrer Einreise zwischen 18<br />

und 24 sein, über Grundkenntnisse der<br />

jeweiligen Landessprache verfügen und<br />

dürfen maximal ein Jahr <strong>als</strong> Au-pair<br />

arbeiten.<br />

-H


iiltt e r<br />

Wenn Kinder Kinder kriegen<br />

Text: Annette Mielitz<br />

Fotos:. Birgitta Kowsky


REPORTAGE<br />

Das Agneshaus in Leipzig - Zufluchtsstätte<br />

für minder fahrige Mutter und ihre Kinder<br />

Conny hat für ihre Tochter Cindy eine<br />

Puppe gekauft. Eine, die aus der Flasche trinkt<br />

und gewindelt werden muß. Cindy feiert bald<br />

ihren zweiten Geburtstag und mit der Puppe<br />

kann sie dann das machen, was ihre Mama<br />

jetzt immer mit Dominik tut. Dominik ist seit<br />

Februar Cindys Bruder.<br />

Conny ist 17 und lebt seit drei Jahren im<br />

Agneshaus, dem Wohnheim für Mütter und<br />

Kinder des Leipziger Cari las-Verbandes. Offiziell<br />

heißt es »Wohngruppe für Mutter, Kind<br />

und weibliche Jugendliche im Agneshaus«,<br />

das Wort »Heim« möchten die Frauen<br />

ve n neiden.<br />

Äußerlich hat der langgestreckte, nüchterne<br />

Bau unweit der Leipziger City wenig<br />

Anheimelndes. Dieser Eindruck ändert sich<br />

auch nicht auf dem Weg in die zweite Etage,<br />

auf einer steilen Treppe, vorbei an einem<br />

[•'ahrstuhl. von dessen Benutzung abgeraten<br />

wird. Oben stehen oder sitzen sie auf der<br />

Treppe und rauchen: junge Mädchen - oder<br />

sind sie schon Frauen? - neben ein paar jungen<br />

Männern, die Freunde, und Cindy. Sie<br />

genießt die Runde, springt umher und läßt<br />

sich auch von mir an die Hand nehmen.<br />

Wir betreten einen langen Flur, links und<br />

rechts gehen jede Menge Türen ab. Küche,<br />

Eßzimmer, Spielzimmer, Wohnzimmer,<br />

Büro, eine Ftage höher die Zimmer der<br />

Mütter und ihrer Kinder. In ein oder zwei<br />

Jahren soll das Haus saniert werden. Wohneinheiten<br />

sollen die behördenhafte Links-<br />

Rechts-Aufteilung ablösen. Einzelheiten<br />

werden gerade geplant, die Mittel für die<br />

Sanierung kommen vom Dresdner Diözesanverband.<br />

Zum Reden führt mich Conny ins Wohnzimmer.<br />

Der Raum mit dunkler Schrankwand,<br />

weißem Nippes, schweren Sesseln und<br />

großem Ecksofa hat etwas Offizielles. Ja, hier<br />

sei sie zu Hause, sagt Conny. Und trotz ihrer<br />

/urückhaltenden Art strahlt sie Selbstsicherheit<br />

aus. Ohne sichtbare Bewegung erzählt<br />

sie, daß sie mit sechs Jahren das erste Mal in<br />

ein Kinderheim gekommen sei. Vier Jahre<br />

später habe ihre Mutter sie wieder zu sich<br />

genommen. Doch deren neuer Lebensgefährte<br />

habe Conny und die altere Schwester<br />

mißbraucht. Er streitete alles ab. Die Mutter<br />

glaubte nicht ihren Töchtern, sondern ihrem<br />

Freund, auch <strong>als</strong> der rechtskräftig verurteilt<br />

wurde. Von ihren Kindern sagte sie sich los.<br />

Mit 12 lernte Conny ihren Vater kennen. Der<br />

lebte in Berlin mit neuer Frau und neuen<br />

Kindern. Conny durfte zu ihm ziehen. Knapp<br />

ein Jahr später ist sie wieder in Leipzig. »Es<br />

lief nicht richtig«, sagte sie. Zurückhaltend<br />

äußerte sie sich auch über die Zeit danach;<br />

darüber wie sie 13-jährig, jetzt in einer WC<br />

untergebracht, »Mist« machte. Mist? Naja,<br />

mit einer Freundin hat sie sich geprügelt<br />

zum Beispiel. Da war sie schon schwanger.<br />

Die Blessuren der anderen haben sie vor<br />

Gericht gebracht. Als Cindy geboren war, hat<br />

sie ihre Strafe in einem Altenhcim abgearbeitet.<br />

Seit sie im Agneshaus lebt, verläuft Connys<br />

Leben geordneter.<br />

Ich frage sie, wie es ihr ging, <strong>als</strong> sie mit<br />

14 erfuhr, daß sie ein Kind bekommen werde.<br />

Erst habe sie abtreiben wollen, sagt sie, hat<br />

es dann aber nicht getan, weil »ich meinem<br />

Kind die Liebe und Geborgenheit geben wollte,<br />

die ich von meiner Mutter nie erhalten habe.«<br />

Sie sagt »mein Fleisch und Blut«. Und daß<br />

Cindy weint, wenn sie weggeht, mache sie<br />

irgendwie froh.<br />

Als Conny die 8. Klasse beendete - mit<br />

einem Durchschnitt von 2,3 - ist sie wieder<br />

schwanger, trotz Pille. Sie machte sich an die<br />

y. Klasse, im Februar brachte sie Dominik<br />

auf die Welt. Der Unterrichtsstoff wurde ihr<br />

gebracht, seil April geht sie wieder zu Schule.<br />

Mit dem 9. Klasse-Abschluß will sie die<br />

Schule im Sommer beenden.<br />

Conny hol Glück. Sie wird von vielen Seiten<br />

unterstützt: den Betreuerinnen im Heim,<br />

ihrem Freund, dem Vater von Dominik, 20<br />

und I lochbau-Azubi, der sie nicht verlassen<br />

hat. Von ihrer Klassenlehrerin und den<br />

Mädchen und jungen in ihrer Klasse. »Die<br />

haben gesagt, sie ziehen vor mir den Hut«.<br />

Auf die Frage, was sie denn jetzt weiter<br />

machen will, zuckt die junge Mutter die<br />

Schultern: keine Ahnung. Am liebsten würde<br />

sie Sozial pädagogin werden, »sowas wie die<br />

hier machen«. Oder Erzieherin, aber das<br />

geht bestimmt nicht, Krankenschwester auch<br />

nicht. Da braucht man Re<strong>als</strong>chulabschluß.<br />

Vielleicht ein »Berufsvorbercitendes Jahr«?<br />

Da denkt sie lieber erst mal an ihren Auszug.<br />

Fnde Dezember wird sie 18, und dann will<br />

sie mit dem Freund zusammenziehen.<br />

Mit ihrem Selbstbewußtsein ist Conny<br />

eine Ausnahme. Die meisten der Madchen,<br />

die ins Agneshaus kommen, haben wenig<br />

Selbstwertgefuhl, sind labil und unsicher in<br />

Bezug auf sich und die Menschen, die ihnen<br />

nahestehen. Nicht alle bekommen deshalb<br />

ein Baby, doch Susanne Richter, die Leiterin<br />

des Heims, weiß, daß da Zusammenhänge<br />

bestehen. Oftm<strong>als</strong> sind Schwangerschaften<br />

bei so jungen Mädchen der Versuch, sich zu<br />

vergewissern, ihrer selbst, des Freundes oder<br />

auch der Eltern. Im Grunde sind es Hilfeschreie.<br />

Die Fachliteratur nennt es unrealistische<br />

Lösungsversuche.<br />

14 Plätze hat das Agneshaus, nicht nur<br />

fiir Mütter und Kinder. Auch junge Mädchen,<br />

die mit ihren Eltern nicht auskommen und<br />

solche, die nicht mit Mannern und Jungen<br />

unter einem Dach wohnen wollen. Die meisten<br />

bleiben zwei bis drei Jahre. Dann haben<br />

sie die Schule abgeschlossen, werden 18 und<br />

heimmüde. »In diesem Zeitraum kann man<br />

viel erreichen«, sagt die Leiterin. Das betrifft<br />

vor allem das, was die Mädchen <strong>als</strong> Mütter<br />

können müssen; angefangen beim Kochen<br />

und Waschen, mit Geld umgehen bis hin<br />

zum Planen und Organisieren. Die lebenspraktischen<br />

Fertigkeiten erwerben die<br />

Mädchen-Mütter während sie die Geborgenheit<br />

der Gemeinschaft erleben - das Betreuungskonzept<br />

in Kurzform. Das Zusammenleben<br />

sei wie in einer großen WG, sagt<br />

Susanne Richter, »mit dem Pech, daß wir<br />

abends nach Hause gehen.« Sie hat es auch<br />

anders erlebt. Noch zu DDR-Zeiten wohnten<br />

die Betreuerinnen mit ihren Schützlingen<br />

unter einem Dach. Das machte den Alltag<br />

einfacher: Vieles ergab sich nebenher, was<br />

heute aufwendiger Organisation bedarf. Und<br />

die Mädchen halten immer eine Ansprechpartnerin.<br />

Andererseits hatten die Pädagoginnen<br />

kaum ein eigenes Leben. Susanne<br />

Richter erinnert sich an die Frage eines<br />

Mädchens: Wann geht ihr denn eigentlich<br />

arbeiten?! Heute wäre sie dazu nicht mehr<br />

bereit, sagt die 35Jährige Sozialpädagogin.<br />

Außer ihr arbeiten fünf, manchmal sechs<br />

Pädagoginnen und Praktikantinnen im<br />

Agneshaus. 40 Stunden in der Woche.<br />

Auch nachts ist immer jemand da.<br />

Die Mädels (wie die Betreuerinnen meistens<br />

sagen) erledigen einen Teil der anfallenden<br />

Arbeiten selbst: Wäschewaschen,<br />

Zimmer saubermachen, Abendessen vorbereiten.<br />

Welche ihr Kind betreut haben will,<br />

muß erklären, warum. All das wird schriftlich<br />

fixiert in einer Art Vertrag, dem Hilfeplan.<br />

Er wird schon bald nach der Ankunft<br />

eines Mädchens erarbeitet, zusammen mit<br />

Eltern und Schule. Da steht dann auch, wie<br />

die Ausbildung weiterverlaufen soll. Alle<br />

halbe Jahre wird der Plan aktualisiert.<br />

Natürlich erhalten alle Mädchen die Hilfe,<br />

die siebenötigen. Ihre Kinder werden betreut,<br />

solange sie in der Schule sind oder wenn sie<br />

ubends mal weggehen wollen. Hilfestellungen<br />

gibt es weiterhin beim Umgang mit diversen


REPORTAGE<br />

Ämtern. Wenn eine auszieht, wird nach<br />

Wohnung und Möbeln Ausschau gehatten.<br />

Da springt auch Susanne Richter ins Auto,<br />

um im Baumarkt ein Regal zu kaufen. An<br />

viele Einrichtungsgegenstände kommen die<br />

Agneshäuslerinnen kostenlos, dank der Vernetzung<br />

mit anderen Carilas-Einrichtungen.<br />

Auch nach dem Auszug bietet das Agneshaus<br />

Hilfe an. Ungefähr ein halbes Jahr lang<br />

kommen die jeweiligen Betreuerinnen zu den<br />

Mädchen nach Hause und helfen.<br />

In ihrer sozialen Arbeit mit den jungen<br />

Frauen sind die Betreuerinnen auf das angewiesen,<br />

was die Mädchen erzählen. Meist<br />

öffnen sie sich abends, wenn die Kinder<br />

schlafen und Ruhe einkehrt, erzählt Katrin<br />

Kammlot. Sie arbeitet seit sechs Jahren <strong>als</strong><br />

Erzieherin im Agneshaus. Gespräche und<br />

individuelle Zuwendung hält sie für sehr<br />

wichtig, denn »die Mädels haben viel aufzuarbeiten«.<br />

Bei den meisten wäre zusätzlich<br />

psychologische Hilfe angebracht, eine Therapie.<br />

Die Bereitschaft dazu sei bei so jungen<br />

Leuten jedoch gleich Null, weiß Katrin<br />

Kammlot, es fehle der Leidensdruck und<br />

schließlich seien die Mädchen noch im Werden,<br />

eben noch keine Frauen, auch wenn sie<br />

schon Kinder haben.<br />

Pädagoginnen in einem Mutter-Kind-<br />

Heim haben viel zu leisten: Sie müssen den<br />

jungen Müttern beistehen bei deren Reifung<br />

und sie begleiten im Hinblick auf Einstellung<br />

und Umgang mit ihrem Kind. Denn das<br />

Dilemma der jungen Mütter besteht darin,<br />

daß sie selbst noch viel brauchen, und daß<br />

ihre Bedürfnisse nach Kontakten und Abenteuern<br />

auf die ihres Kindes nach Ruhe und<br />

Geborgenheit stoßen. Meist zahlen dafür die<br />

Kinder, sagt Susanne Richter. Ein alltägliches<br />

Beispiet ist das morgendliche Aufstehen. Die<br />

Kinder erwachen - wie überall - meist vor<br />

ihren Müttern. Die schlafen gern lange und<br />

werden oft nicht mal munter, wenn ihr Kind<br />

weint. Doch die Betreuerinnen sind davon<br />

überzeugt, daß sie beiden, Kindern und Müttern,<br />

nicht wirklich helfen, wenn s i e die<br />

Kleinen aus dem Bett holen.<br />

Alles in allem ist das Leben, so wie es<br />

sich Tag für Tag abspielt, dem in einer<br />

großen Familie nicht unähnlich. Es gibt verbindliche<br />

Regeln und es passieren Überraschungen.<br />

Vielleicht ein paar mehr <strong>als</strong> in<br />

einer Familie, vielleicht auch schlimmere.<br />

Grausam war die Entdeckung, daß der einjährige<br />

Erik unter den Augen der Betreuerinnen<br />

mißhandelt wurde, ohne daß es jemand<br />

gemerkt hatte. Der Täter war der Freund<br />

der Mutter. Natürlich wurde man stutzig, <strong>als</strong><br />

der Kleine eines Tages nicht mehr krabbelte,<br />

man mit ihm in der Kinderklinik war. Doch<br />

die Ärzte fanden nichts. Erst <strong>als</strong> Erik eines<br />

Tages bewußtlos wurde und der Notarzt kam,<br />

stellte man fest, daß sein Schädel gebrochen<br />

war, ebenso wie die Arme, und daß innere<br />

Organe verletzt waren, Der Täter sitzt mittlerweile<br />

im Gefängnis, dem Richter hatte er<br />

erzählt, es seien »pädagogische Maßnahmen«<br />

gewesen. Auch die Mutter des kleinen Erik<br />

hat aufgrund ihrer früheren Erfahrungen<br />

ein besonderes Verhältnis zu Gewalt. Sie<br />

schwieg und das Beispiel zeigt, daß es nirgendwo<br />

Schutz gibt, wenn einmal die<br />

Seele beschädigt ist.<br />

Die Energie für ihre Arbeit beziehen<br />

die Pädagoginncn zum großen Teil aus<br />

ihrem Glauben. Die meisten sind katholisch.<br />

Der Glaube bedeute für sie wahre Menschlichkeit,<br />

sagt Susanne Richter. Diese Haltung<br />

werden auch die katholischen Fürsorgerinnen<br />

gehabt haben; die hier wirkten im Laufe der<br />

80 Jahre, die das Heim besteht. Das Agneshaus<br />

ist die älteste Mutter-Kind-Einrichtung<br />

im Osten Deutschlands.<br />

Seine Entstehung verdankt es in starkem<br />

Maße den Sorgen und Nöten zugewanderter<br />

junger Mädchen aus dem Rheinland, Westfalen,<br />

Böhmen und Bayern. Sie alle suchten<br />

Arbeit und Glück in der Messestadt. Die<br />

Mädchen aus Bayern zumeist <strong>als</strong> Kellnerinnen.<br />

Daß es zu dieser Zeit zu den besonderen<br />

»Berufsnöten« einer Kellnerin gehörte,<br />

geschlechtskrank oder straffällig zu werden,<br />

wurde erst sehr spät bemerkt.<br />

1900 schuf Agnes Neuhaus in Dortmund<br />

den Katholischen Fürsorgeverein für Frauen<br />

und Mädchen. Elf Jahre später entstand die<br />

Leipziger Ortsgruppe, 1919 wurde die erste<br />

Zufluchtsstätte mit fünf Betten eingeweiht.<br />

Zehn Jahre später zog die Gruppe an die<br />

heutige Adresse und bekam in Gedenken<br />

an Agnes Neuhaus deren Namen.<br />

Natürlich hat sich des Betreuungskonzept<br />

im Laufe der Jahrzehnte stark gewandelt. In<br />

den ersten Jahren und Jahrzehnten nahmen<br />

die Fürsorgerinnen noch eine Art Mutterrotle<br />

an. Sie waren bestrebt, ihre Schützlinge auf<br />

den rechten Pfad zu führen. Wenn schon<br />

nicht den Pfad der Tugend, so doch den des<br />

Fleißes. Was sie für ihre Mädels sei, frage ich<br />

Katrin Kammlot - Mutter, Freundin, Erzieherin?<br />

Als sie im Agneshaus angefangen hatte,<br />

antwortet sie, da wollte sie den Mädchen<br />

alles aus der Hand nehmen. Bis sie merkte,<br />

- 2)1999


•-•"• REPORTAGE "••<br />

daß sie ihnen damit nicht half. Und erziehen?<br />

Das sei gelaufen, dazu sei es<br />

zu spät.<br />

Nicht nur das Betreuungskonzept,<br />

auch der Stellenwert der Religion hat sich<br />

stark verändert. Lediglich ein Holzkreuz<br />

und ein Plakat mit einem Bibetzitat im<br />

Eßzimmer weisen heute sichtbar auf die<br />

Konfessionalität des Mutter-Kind-Heims<br />

hin. Und längst nicht alle Bewohnerinnen<br />

können etwas damit anfangen, wenn sie<br />

kommen. (Das war zu DDR-Zeiten anders.<br />

Da die Behörden kirchliche Heime ignorierten,<br />

kam der größte Teil der Zufluchtsuchenden<br />

aus Kirchenkreisen.) Einmal am Tag<br />

wird ein Gebet gesprochen. Vor dem Abendbrot,<br />

wenn alle um den großen Eßtisch sitzen.<br />

Andere Gelegenheiten, den Glauben in den<br />

Vordergrund zu holen, sind Feste wie Weihnachten<br />

und Ostern und die Hauseinsegnung<br />

jedes Neujahr. Dann kommen Fragen,<br />

dann ergeben sich Gelegenheiten, über Religion<br />

zu sprechen. Niemand soll bekehrt werden,<br />

sagt die Leiterin: »Ein geistlicher Abend<br />

wäre Quatsch, aufgesetzt und Blödsinn.<br />

Das Agneshaus finanziert sich über<br />

Pflegesätze aus städtischen Mitteln. Für<br />

jeden der 14 Plätze bekommt man eine zuvor<br />

ausgehandelte Summe. Darin enthalten<br />

sind sämtliche Kosten vom Essen bis zu den<br />

Gehältern der Mitarbeiterinnen. Der Haken:<br />

Das Geld fließt nur für Plätze, die tatsächlich<br />

belegt sind. Darüber wird im Rathaus entschieden,<br />

denn einweisungsberechtigt ist<br />

allein das Jugendamt.<br />

Fünf Plätze sind frei zur Zeit im Agneshaus.<br />

»Das habe es schon lange nicht mehr<br />

gegeben«, sagt eine Betreuerin. Eine Weile<br />

kämen sie so über die Runden, sagt Frau<br />

Richter. Wenn das Geld knapp wird, müsse<br />

eine Kollegin ihren Arbeitsplatz räumen.<br />

Doch nur solange, bis die Nachfrage wieder<br />

steigt. Bis dahin kann sie in einer anderen<br />

Einrichtung der Caritas arbeiten und muß<br />

nicht entlassen werden. Das ist der Vorteil<br />

des freien Trägers.<br />

Auch die Mädchen-Mütter haben Probleme<br />

mit dem Geld. Im Monat können sie<br />

über ca. 100 Mark verfügen, doch die meisten<br />

lassen sich dazu noch einen Teil des Erziehungsgeldes<br />

auszahlen, das eigentlich gespart<br />

werden soll. Den Verlockungen der<br />

Schaufenster zu widerstehen, seien darin<br />

nun lolle Klamollen, witziges Spielzeug oder<br />

Leckereien, fällt besonders mit 17 nicht leicht.<br />

»Egal«, beharrt Leiterin Susanne Richter,<br />

»sie müssen es lernen.«<br />

»Latzrock-Muttis« nennt man in England Mädchen, die selbst noch Kinder, aber schon<br />

Mutter sind. Seit im vorletzten Jahr der Fall einer 15jährigen, die von einem njährigen<br />

Jungen geschwängert wurde, auf der Insel für Aufsehen regte, zumal die beiden Kids ihr<br />

gemeinsames Kind unbedingt bekommen wollten, stehen die Zeichen der Regierung Blair<br />

wieder auf Alarm. Schließlich machen alleinerziehende Mütter einen großen Prozentsatz<br />

der Sozialhilfeempfänger im Land der Queensmum aus. 200 Millionen Pfund jährlich zahlt<br />

die britische Regierung an Alleinerziehende unter 20 Jahren, von denen allein 75 Millionen<br />

Pfund den unter löjährigen zukommen. Oft haben die sehr jungen Mütter keine Ausbildung<br />

und sind deshalb kaum auf dem Arbeitsmarkt unterzubringen. Auch dann nicht,<br />

wenn ihre Kinder keiner Rundumdieuhrbetreuung mehr bedürfen.<br />

Vor allem aber handelt es sich nicht um ein marginales Problem. England hat bis heute in<br />

Europa die höchste Rate schwangerer Teenager, in der sogenannten ersten Welt folgt die<br />

Insel gleich hinter den USA- Für das Jahr 1993 wurden folgende Zahlen ermittelt: Unter<br />

tausend Mädchen im Alter zwischen 15 und 19 Jahren waren in Frankreich 8,1 Prozent<br />

schwanger und wurden Mutter, in Deutschland 8,7 Prozent, in Spanien 9,2 Prozent und in<br />

den Niederlanden 5,4 Prozent. In England waren es 30,9 Prozent. Weltweit wurden 1996 in<br />

Derselben Altersgruppe rund 15 Millionen Kindfrauen selbst Mutter, oder anders formuliert,<br />

jedes zehnte Kind auf der Erde wird nach Angaben des UN-Kinderhilfswerks (Unicef) von<br />

einem Teenager geboren.<br />

In England und Wales war die Zahl der Schwangerschaften bei den unter iGjährigen schon<br />

einmal von 9,3 Prozent auf 8,3 Prozent gesunken, seit 1995 ist sie die Geburtenrate bei den<br />

minderjährigen Mädchen allerdings wieder auf 9,5 Prozent geklettert, Tendenz steigend.<br />

Dabei hängt ein solcher Anstieg der Geburten immer mit dem zunehmenden Verzicht auf<br />

Verhütungsmitteln zusammen. Die Zahl der Mütter unter 16 Jahren ist besonders hoch im<br />

Nordosten Englands. Im Vergleich zu den westlichen Midtands, wo 1994 unter den 13- bis<br />

iSjährigen 1,3 Prozent schwanger wurden, und 0,7 Prozent im Südosten, waren es im<br />

Nordosten 1,5 Prozent. Trotz alledem werden die gymslips mums in England weniger.<br />

Brachten sie 1971 noch 83.000 Kinder zur Welt, waren es 1995 nur noch 42.000 Babys.<br />

Das krasseste Beispiel Englands gibt seit Generationen Grimsby, ein gottverlassener Ort<br />

am Ende der Insel, dort wo der Humber in die Nordsee fließt. Eine lokale Studie hatte für<br />

1994 eine Schwangerschaftsrate von 17,4 Prozent bei den unter i6jährigen. Daran hat sich<br />

bis heute nicht viel geändert. Verantwortlich machen die Lokalpolitiker und Sozialarbeiter<br />

vorort die relativ geschlossene Gesellschaft von Grimsby. Wer dort geboren wird, bleibt<br />

auch meist dort hängen. Die nächste größere Stadt ist kilometerweit entfernt, und niemand<br />

muß Grimsby passieren, um woanders hin zu gelangen. Wenig Bewegung heißt aber auch<br />

immer nur wenig Veränderung. Junge Mädchen, die heute in Grimsby mit 13 bis 15 Jahren<br />

Mutter werden, haben meistens eine Mutter und eine Großmutter, die genauso alt waren,<br />

<strong>als</strong> sie das erste Mal schwanger wurden. Und bis heute gilt in Grimsby das Gesetz:<br />

Eine Frau ist immer nur die Frau eines Mannes und nie sie selbst. (P.W.)<br />

Auch Claudia will im Sommer ausziehen,<br />

und eine eigene Wohnung haben. Dann ist<br />

sie 18, und kann tun was sie will. Im Sommer<br />

wird Claudia hochschwanger sein und<br />

ihr Sohn Timmy zwei Jahre alt. Sie zuckt<br />

die Achseln.<br />

Als Antwort auf die Frage, ob sie sich<br />

nicht sorgt um die Zukunft ihrer Mädels,<br />

lacht Susanne Richter erst mal. Dann wird<br />

sie ernst. »Es ist nicht böse gemeint, aber<br />

man ist mit vielen Sachen schon wirklich<br />

abgestumpft. Es gibt Tage, da kann man es<br />

gut sortieren, aber wenn man selber nicht<br />

gut drauf ist, haut es einen um und man<br />

sagt sich, eigentlich müßtest du aufhören,<br />

das schaffst du nie. - Je länger man diese<br />

Arbeit macht, desto realistischer setzt man<br />

Ziele. Unsere Mädchen werden keine<br />

Professorinnen!«.<br />

Claudias größter Wunsch ist es, zu<br />

ihrem 18. Geburtstag nach New York zu<br />

fliegen, dorthin, wo der Bär tanzt und die<br />

Kuh fliegt. Doch an ihrem 18. Geburtstag<br />

ist Claudia im 8. Monat, und Geld hat sie<br />

auch keins.<br />

211999 49


•~r


-'<br />

UNTERWEGS


UNTERWEGS<br />

Raymond überzeugt mich aber durch<br />

eine ganz andere Behauptung. Wegen seiner<br />

außerordentlich günstigen Lage seien in<br />

Hongkong vor allem auch Frauen sehr erfolgreich,<br />

geschäftlich wie politisch. Dies zumal<br />

wir seit 1984 auf der Energiestufe 7 leben<br />

würden, die unter anderem alles, was mit<br />

dem Mund und dem Weiblichen zu tun hat,<br />

bereichert. Man muß sich das so erklären,<br />

daß das Feng Shui einen Kreislauf von 180<br />

Jahren mit neun Energiestufen hat, <strong>als</strong>o alle<br />

20 Jahre die Stufe wechselt. Bis 2004 befinden<br />

wir uns <strong>als</strong>o jetzt noch auf der mündlichen<br />

und weiblichen siebten Stufe. Raymond<br />

macht das im übrigen daran fest, daß erst<br />

seit 1984 die Handys ihre Blüte erleben und<br />

Frauen wie Margret Thatcher, die ehemalige<br />

englische Premierministerin, und Madeleine<br />

Albright, die amerikanische Außenministerin,<br />

mit großem Erfolg das Parkett der hohen<br />

Politik betreten hätten. Bleiben mir <strong>als</strong>o noch<br />

fünf Jahre für den eigenen Durchbruch und<br />

die Milliardäre erstmal gestohlen, die ja<br />

doch nur mit dem ganzen Familienclan hinter<br />

einem Fenster in einer himmelhohen Wohnbüchse<br />

zu hausen scheinen und deshalb auch<br />

die Wäsche zum Fenster raushängen müssen.<br />

Ihre »internationale Flagge« nennen die<br />

Hongkonger ihre Wäsche, um zu kaschieren,<br />

daß hier eigentlich zu viele Menschen auf zu<br />

wenig Raum leben. Jahrelang zum Beispiel<br />

landete der Müll der Stadt im Viktoriahafen,<br />

jetzt spuckt der ihn wieder aus: Die Wasserverschmutzung<br />

ist Hongkongs größtes Problem,<br />

Bakterienalarm wie auch dieser Tage<br />

nicht selten. Auf dem Wasser ist davon nicht<br />

viel zu sehen, <strong>als</strong> ich mit der Fähre von Kowloon<br />

nach Hongkong-Island rüberschipper.<br />

Ein oranger Sonnenball sinkt langsam hinter<br />

der Skyline in die Dämmerung, das Meer<br />

glänzt und glitzert, <strong>als</strong> fielen ständig Gold-<br />

"-'— Hinein, und auch ich möchte jetzt nichts<br />

.vie der weiße Mann von der Barkasse.<br />

Auf der anderen Seite sind wir im Goethe-<br />

Institut, das im Arts Centre residier verabredet.<br />

In einem der 17 Stockv>.<br />

rade Kinder und Jugendliche aus. Zum Beispiel<br />

ein Bett mit einer bunten Patchworkdecke,<br />

auf der mit Filzstift Gedanken zu Leben und<br />

Tod fixiert sind: »Ich hatte einen komischen<br />

Traum«, steht da, oder: »Ich lie1-- Oich mein<br />

Stinke.' • chlaferli - Schnapperli«, aber<br />

auch: »Das Leben ist nur ein Traum!! und<br />

der Tod ist das Erwachen vom Leben! Laßt<br />

uns sterben!! alle!« Die »Farben der Poesie«<br />

nennt sich diese Arbeit, und ich frage mich,<br />

ob dieses Kind auch noch Kunst wird machen<br />

können, wenn es erstmal erwachsen ist, und<br />

wie es sich in Hongkong dann, etwa 15 Jahre<br />

nach der Übernahme durch China leben wird.<br />

Knapp zwei sind erst herum, und Kunst fast<br />

nur in Nischen wie dieser möglich.<br />

Unten im Kino läuft gerade eine vom<br />

Goethe-Institut veranstaltete Reihe mit deutschen<br />

Filmen. Ich gehe hin und lande in »Kurz<br />

und schmerzlos« von Fatih Akan. Verrückt!<br />

Da bin ich in Hongkong und sehe mir einen<br />

deutschen Film von einem Türken mit englischen<br />

Untertiteln an, <strong>als</strong> wäre es das Norm<strong>als</strong>te<br />

auf der Welt. Als ich rauskomme,<br />

regnet es, und die Straßen sind abgesehen<br />

von Autos und Bussen wie leergefegt. Erst<br />

in der U-Bahn sind die Menschenmassen<br />

plötzlich wieder da: Die Waggons saugen sie<br />

in Tausenden auf wie ein Badewannenabfluß<br />

das Wasser. Und alle telefonieren mit ihrem<br />

Handy: Strahlungsenergiestufe wohl 7!<br />

Am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe<br />

sehe ich zum ersten Mal Fahrradfahrer,<br />

zwei alte Männer auf klapprigen Drahteseln.<br />

Auf den Straßen ist noch nicht viel los, und<br />

die Busse sind fast leer. Die wenigen Passagiere<br />

schlafen noch. Auch die andere Journalistin<br />

hat heute früh in der Hotellobby noch<br />

gepennt und sich ihre Tasche klauen lassen.<br />

Die beiden Galeristen haben verpennt, und<br />

so fahre ich nur mit dem Fotografen und<br />

unserer Führerin auf eine »Gesundheitstour«<br />

in Hongkong-Island: Morgengymnastik,<br />

die hier Sheiko heißt, im Viktoriapark,<br />

dann Teezeremonie in einem alten, traditionellen<br />

Teeladen und Besuch einer chinesischen<br />

Apotheke stehen auf dem Plan, was man bei<br />

soviel B<strong>als</strong>am für Leib und Seele nur mit<br />

einem vegetarischen Essen abschließen kann.<br />

Kunst sehe ich natürlich auch wieder,<br />

steht ja jeden Tag auf dem Programm: Treffen<br />

mit Künstlern, Atelierbesuche. Der Blick ins<br />

Museum ist kein Muß. Besonders gut gefallen<br />

mir Bilder eines ehemaligen Krankenpflegers<br />

einer psychiatrischen Klinik. Chu Hong Wah<br />

ist einer von etwa 1000 Künstlern in der Stadt,<br />

der die Kunst erst während einer Fortbildung<br />

in London entdeckte und sich bis zu seiner<br />

Pensionierung <strong>als</strong> Sonntagsmaler bezeichnete.<br />

Heute vertritt den 6ojährigen Hongkongs<br />

weltweit renommierteste Galerie, Hanart T Z,<br />

und eines seiner so schlichten wie treffenden<br />

Bilder hängt drüben in Kowloon im Museum<br />

of Art. Flächendeckende Karomuster <strong>als</strong><br />

Sinnbilder für Hochhausfronten und davor<br />

hockende Menschen, oft alt und gebückt,<br />

bringen die unterschiedlichen Welten der<br />

alten chinesischen Traditionen und der Isolation<br />

durch die Ghettoisierung in anonymen<br />

Wohnblöcken auf den Punkt in seinen teilweise<br />

pointilistischen Bildern.<br />

Eher ein Zufall führt uns in den China<br />

Club, in der alten Bank of Hongkong, einem<br />

abgebrochenen Empire State Building - so<br />

siehts jedenfalls aus. Hier im 14. Stockwerk<br />

pflegen wirklich nur die oberen Zehntausend<br />

der Stadt zu speisen, in einem Jugendstilsaal<br />

mit chinesischen Glaslampions und Gemälden,<br />

die die Wände oberhalb der Holzvertäfelungen<br />

tapezieren, wahrend ich mit silbernen<br />

Stäbchen in meinem Essen stochere, fällt<br />

mein Blick ständig auf das schwanenh<strong>als</strong>ige<br />

Brustbild einer Chinesin von Modigliani. Um<br />

mich herum sitzen jetzt <strong>als</strong>o die Milliardäre.<br />

Unten im Schatten der neuen Bank of Hongkong<br />

rasten an diesem Sonnabend ihre philippinischen<br />

Hausmädchen an ihrem freien<br />

Tag und verzehren mit den Händen ihr mitgebrachtes<br />

Mittag. Es könnte ein Bild von<br />

diesem Krankenpfleger sein. Genauso wie<br />

der blinde Straßenmusiker, dem ich auf dem<br />

Weg zurück zum Hotel begegne, der ohne es<br />

sehen zu können, neben einem Schild sitzt,<br />

auf dem steht: »Das Verteilen von Flugblättern<br />

ist verboten«. Das Demonstrieren mittlerweile<br />

im Prinzip auch, seit Bejing die<br />

Politik der Stadt dirigiert. Und das zehn Jahre<br />

nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen<br />

Frieden in Bejing, wo sich Tausende<br />

von Studenten für die Demokratie versammelten<br />

und das mit ihrem Blut bezahlten.<br />

Ich habe jetzt mein eigenes Bild von<br />

Hongkong. Zu dem gehören auch die Menschen,<br />

die tatsächlich wie der weiße Mann<br />

auf alten Booten leben. Es sind die sogenannten<br />

Tankas, die Ureinwohner dieses<br />

Meeres- und Landeszipfels und die schon<br />

immer mehr zu Wasser <strong>als</strong> auf dem Land<br />

lebten. Umschlossen von den Sozialwohnungsblocks<br />

des Stadtteils Aberdeen hausen<br />

sie auf abgewetzten Holzkähnen, ziehen<br />

Pflanzen, halten sich erbärmlich stinkende<br />

Tauben und trocknen in der Sonne Fische,<br />

was auch nicht besonders gut riecht. Die<br />

Häuser sind oft bis an die Kaimauern heran<br />

gebaut, dazwischen haben gerade noch ein<br />

Friedhof und ein Schrottplatz Raum. Struppige<br />

Hunde wühlen sich durch die Abfälle,<br />

während nur einige Meter weiter teure »Floating<br />

Restaurants« im Hafen von Aberdeen<br />

auf die Milliardäre warten. Das muß auch<br />

so ein Punkt geballter Energien sein.<br />

Informationen zur Reisetour u. Terminen:<br />

Asian Fine Arts Factory,<br />

Sophienstr. 18,10178 Berlin,<br />

Tel.: (030) 28 39 13 87<br />

i i


• • •» KOMMENTAR '•• ••<br />

Die Haltung der US-Amerikanerinnen<br />

zum NATO-Einsatz beschreibt<br />

aus New York Katia Davis<br />

Die Amerikaner unterstützen in überwältigender<br />

Mehrheit den Einsatz der Nato in<br />

Jugoslawien. Von Linken über Liberale bis<br />

hin zu Konservativen herrscht ausnahmsweise<br />

absolute Einigkeit.<br />

Als Grund für die Zustimmung führt<br />

man die von den Serben durchgeführten<br />

ethnischen Säuberungen gegen die Kosovo-<br />

Albaner an. Die Verantwortung an der Katastrophe<br />

in der Region wird dem <strong>als</strong> Diktator<br />

und Völkermörder bezeichneten Slobodan<br />

Milosevic gegeben. Es wird darauf hingewiesen,<br />

daß sein bisher sowieso schon autoritäres<br />

System sich nun vollends in ein totalitäres<br />

System verwandelt hat, welches die Medien<br />

kontrolliert und mit deren Hilfe eine unvergleichliche<br />

demagogische Kampagnie führt.<br />

In den USA forderte man gerade von Seiten<br />

der linken und Linksliberalen seit Jahren<br />

i'irie eindeutige Haltung der Regierung<br />

gegen Milosevic und ein Eingreifen der Nato.<br />

Amerikanische Beobachter von humanitären<br />

Organisationen und progressive politische<br />

Analytiker sind seit dem Krieg in Bosnien<br />

ununterbrochen in den Krisengebieten und<br />

informieren die Öffentlichkeit, den Congress<br />

und die Clinton-Regierung regelmäßig über<br />

die Situation und die Gefahren einer Ausweitung<br />

der Krise. Der größte Vorwurf war bisher<br />

stets gegen das Prinzip des Wegsehens und<br />

die dadurch laue Aufsenpolitik gerichtet.<br />

Vor allem aber kritisierte man die unbeteiligte<br />

und abwartende Einstellung der europäischen<br />

Staaten.<br />

Nach dem Desaster des Vietnamkrieges<br />

machen es sich die Amerikaner und unter<br />

ihnen besonders politisch Progressive nicht<br />

leicht mit Entscheidungen über eine Einmischung<br />

in die Belange anderer Lander. Doch<br />

in diesem Falle fühlt das gesamte Spektrum<br />

politischer Richtungen die moralische Verpflichtung,<br />

das Blutbad inmitten Europas mit<br />

Gewalt zu beenden. Die einzig Zögernden<br />

oder sogar Gegner einer amerikanischen<br />

Beteiligung am Nato-Einsatz waren in den<br />

USA nur die Rechtskonservativen und<br />

extrem Rechten. Ihnen ist der Balkan keine<br />

amerikanischen Menschenopfer wert.<br />

Ül>er das Für und Wider einer Einmischung,<br />

über historische Lehren aus dem<br />

Holocaust und dem von den Deutschen<br />

angezettelten 2. Weltkrieg sowie dem viel zu<br />

späten Fintritt der USA in den Krieg, über<br />

fehlende Aktionen in Kambodscha und<br />

Ruanda und die schwachen Proteste bisheriger<br />

amerikanischer Regierungen gegen Menschenrechts-<br />

und Völkerrechtsverletzungen<br />

gab es in den vergangenen ]ahren mehr und<br />

mehr Diskussionen in der Öffentlichkeit.<br />

Nicht nur sind große Schichten der Bevölkerung<br />

an politischen und sozialen Problemen<br />

im In- und Ausland interessiert, sie engagieren<br />

sich auch in unzähligen Grass-roots-Organisationen.<br />

Besondere Aufmerksamkeit verdienen die<br />

qualitativ guten Informationsmöglichkeiten,<br />

Die durch den nicht zu unterschätzenden<br />

Einfluß von unabhängigen Medien ermöglicht<br />

werden. Dazu gehören die ausgezeichneten<br />

Programme der landesweit 520 Sender<br />

des liberalen National Public Radio (Öffentliches<br />

Radio) mit über 16 Millionen Hörern,<br />

der ehem<strong>als</strong> trotzkistische und jetzt immer<br />

noch linksradikale Sender Radio Pacifika mit<br />

ebenfalls ein paar Millionen Zuhörern im<br />

ganzen Lande, öffentliche Fernsehsender<br />

(wie auch die Rundfunkanstalten allein von<br />

den Bürgern finanziert) sowie eine große<br />

Anzahl linker und progressiver Zeitschriften<br />

mit hohem intellektuellen Anspruch. Die<br />

auch auf dem Internet erscheinende linke<br />

Zeitschrift »Mother ]ones« veröffentlicht<br />

gegenwärtig Meinungen und Analysen der<br />

gegensätzlichsten Art zu der Katastrophe<br />

in Kosovo. Doch sie alle kommen zu der<br />

Schlußfolgerung, man müsse den Nato-Finsatz<br />

unterstützen. Die Herausgeber schreiben<br />

in einer Stellungnahme, daß sie alle es sich<br />

sehr schwer gemacht haben, einen Krieg im<br />

Kampf gegen Inhumanität zu unterstützen.<br />

Doch die Fakten führten unumgänglich zur<br />

Notwendigkeit solch einer intellektuellen<br />

und praktischen Entscheidung. Das Argument,<br />

warum jetzt ein Eingreifen, wenn man<br />

in früheren Krisenherden an anderen Plätzen<br />

der Welt nichts getan habe, wird verworfen.<br />

Wenn man so denke, könne man nie eine<br />

neue Menschenrechts-Potitik beginnen. Und<br />

selbst Fehler wären besser <strong>als</strong> Tatenlosigkeit.<br />

Internationale Solidarität wird angestrebt<br />

und man hofft auf eine neue, die Menschenrechte<br />

berücksichtigende Sicherheitspolitik<br />

der USA und anderer Nato-Staaten.<br />

Die einzige grundsätzliche Kritik aus<br />

breiten Kreisen aller politischen Schattierungen<br />

betrifft die vermutete Strategielosigkeit<br />

der führenden Politiker der Mitgliedsstaaten<br />

der Nato. Zu spät habe man eingegriffen und<br />

dann die Schwierigkeiten eines solchen Einsatzes<br />

unterschätzt, heißt es. Ebenso wären<br />

sich die Politiker nicht über die Zukunft des<br />

Krisengebietes klar. Während man bei vielen<br />

Menschen Hilflosigkeit und innere Zerrissenheit<br />

gegenüber der Situation im ehemaligen<br />

Jugoslawien antrifft, bleibt jedoch niemand<br />

von den tagtäglich im Fernsehen gezeigten<br />

Bildern der albanischen Flüchtlinge und den<br />

Berichten von Massengräbern in Kosovo<br />

unberührt. Es besteht Übereinstimmung,<br />

den Opfern zu helfen und sich dafür einzusetzen,<br />

Milosevic für seine Kriegsverbrechen<br />

zur Rechenschaft zu ziehen. Allerdings fürchtet<br />

man zunehmend, daß die amerikanische<br />

Regierung und die Nato sich auf einen faulen<br />

Kompromiß einlassen könnten.<br />

Katia Davis, 51 Jahre alt.ßüchtete 1977 aus<br />

politischen Gründen aus der DDR und lebt<br />

seit 1983 in New York. Sie stammt aus einer<br />

alten und berühmten kommunistischen {•'amilic<br />

väterlicherseits. In derDDR wollte sie unter den<br />

Bedingungen der Manipulation nicht <strong>als</strong> Journalistin<br />

arbeiten und schlug so eine erfolgreiche<br />

Karriere <strong>als</strong> Rocksängerin, Texterin und Komponistin<br />

ein, die sie in der Bundesrepublik<br />

fortsetzte. Seit sieben Jahren arbeitet sie ausschließlich<br />

<strong>als</strong> Journalistin und Schrißstellerin<br />

in den USA.


POLITIK<br />

PoliL'i/ i.<br />

Eine Bewegung<br />

gewöhnlicher Leute<br />

Junge Historiker aus Wuppertal untersuchen<br />

die Geschichte des Widerstandes, der Verfolgung<br />

und des Exils in ihrer Stadt und<br />

bemühen sich, gewonnenes Wissen und<br />

Informationen durch Publikationen und Vorträge<br />

zu verbreiten. Die Resultate sind keine<br />

trocken wissenschaftlichen Abhandlungen,<br />

sondern anschaulich und faktenreich erzählte<br />

Geschichten.<br />

Die neueste Veröffentlichung der Forschungsgruppe<br />

Wuppertaler Widerstand<br />

ist eine bewegende Erzählung von Stephan<br />

Stracke über den Kommunistischen Jugendverband.<br />

Stracke schreibt: »Kaum beachtet wurde<br />

in der bisherigen Forschung, daß gerade die<br />

deutsche kommunistische Bewegung vor<br />

allem in ihren Hochburgen eine soziale<br />

Massenbewegung, eine Bewegung von<br />

»gewöhnlichem Leuten, war und daß in Zeiten<br />

der Niederlage und Stagnation die Partei<br />

aus generationsübergreifenden Familienkernen<br />

bestand.« Die Geschichte des Wuppertaler<br />

Kommunismus kann nach seiner Ansicht<br />

nicht <strong>als</strong> Funktionärsgeschichte beschrieben<br />

werden.<br />

Man erhält einen Überblick über die Entstehung<br />

der progressiven Jugendbewegung<br />

bis hin zu kommunistischen Kindergruppen,<br />

dem kommunistischen Jugendverband und<br />

die durch die Arbeiterbewegung geschaffenen<br />

»Freien Schulen«. Obgleich die Spaltung<br />

der Arbeiterbewegung bereits präsent war,<br />

gab es gemeinsame Schulgärten und Jugendheime<br />

für die Freizeit und das gemeinsame<br />

Bekochen der Kinder durch sozialdemokratische<br />

und kommunistische Frauen. Sehr viel<br />

Raum widmet der Historiker den proletarischen<br />

Mädchen und jungen Frauen und<br />

ihrer Rolle im organisierten politischen Leben.<br />

Bu.oh.6j<br />

Dovis<br />

Stracke zeigt, daß es nach der Machtübernahme<br />

der Nazis besonders die Jungkommunisten<br />

waren, die zum bewaffneten Widerstand<br />

bereit waren und sogar Waffenlager besaßen.<br />

Und noch nach dem Reichstagsbrand erschien<br />

am 14. März zum 5o.Todestag von Karl Marx<br />

eine siebenseitige Sonderausgabe der illegalen<br />

»Jungen Garde« in Wuppertal. Doch<br />

dann wurden Jungkommunisten auf offener<br />

Straße ermordet und schließlich die ersten<br />

Todesurteile gegen Mitglieder des KJVD<br />

gefällt. Währenddessen war eine völlige Verkennung<br />

der politischen Lage ihrerseits zu<br />

bemerken, die Stracke anhand von Zitaten<br />

aus der »Jungen Garde« belegt. Gleichzeitig<br />

propagierte man mit Hilfe der Sozial faschismustheorie<br />

den Kampf gegen die Sozialdemokratie,<br />

gegen die vermeintlichen<br />

Trotzkisten und Brandleristen und versperrte<br />

sich so jede solidarische Zusammenarbeit<br />

unter den Gegnern der Nazis.<br />

Einige illegale Ortsgruppen ließen sich<br />

jedoch ihre Eigenständigkeit nicht nehmen<br />

und bauten aktive Verbindungen mit sozialdemokratischen<br />

und christlichen Jugendgruppen<br />

auf. Insbesondere zu erwähnen ist<br />

der Kontakt zwischen Kaplan Josef Rossaint,<br />

Diözesanpräses der Katholischen Jugend,<br />

und dem KJVD. Er verbarg kommunistische<br />

Funktionäre im Pfarrhaus und organisierte<br />

Diskussionsabende und Wochenendschulungen<br />

verschiedener katholischer Jugendorganisationen,<br />

auf denen Jungkommunisten<br />

über Probleme des Kampfes gegen Hitler<br />

sprechen konnten. Papier für kommunistische<br />

Druckschriften wurde aus katholischen<br />

Quellen besorgt, der Vertrieb der »Jungen<br />

Garde« lief teilweise über katholische Netze<br />

und Kuriere des KJVD kamen regelmäßig in<br />

Klostern unter. Diese Art Allianz geschah<br />

zumeist ohne Wissen oder gegen den ausdrücklichen<br />

Willen des ZK des KJVD.<br />

Nach den Massenverhaftungen im Jahre<br />

1935 war die kommunistische Bewegung<br />

weitgehend zerschlagen. Es wird von etwa<br />

12.000 der Vorbereitung zum Hochverrat<br />

angeklagten Verhafteten in den Jahren 1933<br />

bis 1936 im Rhein-Ruhr-Gebiet berichtet.<br />

Stracke bezeichnet die deutschen Kommunisten<br />

nach dem Ende des NS-Staates <strong>als</strong><br />

geschlagene Sieger. Denn sie standen vor<br />

dem Nichts, was ihre Utopien und ihre Verankerung<br />

im deutschen Proletariat anging.<br />

Dann aber zitiert er Wilhelm Pieck: »Unser<br />

Volk ist in tiefster Seele krank, vergiftet von<br />

der Nazipest. Und doch dürfen wir den Glauben<br />

an unser Volk nicht verlieren, weil wir<br />

sonst unsere Arbeit <strong>als</strong> Kommunisten einstellen<br />

können.« Ein zeitloses Signal?<br />

Stephan Stracke:<br />

»Mit rabenschwarzer Zuversicht«<br />

Achterland Verlagscompagnie 1998,<br />

146 Seiten, 32,- DM.<br />

Niem<strong>als</strong> werde ich mein<br />

Versprechen einlösen können<br />

»Wir reisen mit fast der ganzen Wuppertaler<br />

Gemeinde. Liebe Kinder, es ist eben<br />

unser Schicksal! Ich bitte Euch, seid auch<br />

Ihr stark.« November 1941 - Worte aus<br />

einem der letzten Briefe der sechzigjährigen<br />

Marta Glaser vor ihrer Deportation an ihre in<br />

die Niederlande geflüchteten Kinder. Die aus<br />

Wuppertal stammende Familie wurde fast<br />

vollständig von den Nazis ausgerottet.<br />

Ihre Tochter Herta Sonnenfeld und deren<br />

Sohn Günter überlebten das Grauen in holländischen<br />

Verstecken. Achtzehn Jahre nach<br />

Kriegsende schrieb Herta Sonnenfeld schließlich<br />

für den Sohn ihre Erinnerungen auf. Sie<br />

waren <strong>als</strong> Denkmal gedacht für die ermordete<br />

Familie und die vielen mutigen Retter in den<br />

Niederlanden.<br />

Der in den USA lebende Günter Sonnenfeld<br />

kam 1992 auf Einladung der Stadt nach<br />

Wuppertal und sprach dort in einem Gymnasium<br />

das erste Mal vor Deutschen über seine<br />

Kindheitserlebnisse. Er hinterließ mit seiner<br />

Lebensgeschichte nicht nur bei den Schülern<br />

einen nachhaltigen Eindruck. Der junge Lehrer<br />

Christoph Knüppel blieb mit ihm in Kontakt<br />

und Günter Sonnenfeld übersandte nach<br />

kurzer Zeit die Erinnerungen seiner 1987 in<br />

New York verstorbenen Mutter. »<br />

2(1999 55


'<br />

POLITIK<br />

Christoph Knüppel entschloß sich zu<br />

einer Veröffentlichung, die von den jungen<br />

Historikern der »Forschungsgruppe<br />

Wuppertaler Widerstand« in einem liebevoll<br />

hergestellten Bändchen herausgegeben<br />

wurde. Neben Herta Sonncnfelds<br />

Aufzeichnungen und Fotos der Familie<br />

sind insbesondere die im Anhang des<br />

Buches gedruckten Briefe ihrer Mutter<br />

und Schwiegereltern kurz vor ihrem<br />

Abtransport in den Tod Dokumente des<br />

Grauens.<br />

Erst <strong>als</strong> Werner Sonnenfeld linde<br />

die Firma weggenommen wurde, flüchtete<br />

er nach Amsterdam und Herta und der<br />

kleine Sohn Günter folgten ihm in einer<br />

gefährlichen Flucht über Luxemburg und<br />

Belgien. Nach der Besetzung der Niederlande<br />

durch die Deutschen tauchte die<br />

Familie mit Hilfe der holländischen Widerstandsbewegung<br />

unter. Man brachte sie<br />

in verschiedenen Verstecken unter.<br />

Werner Sonnenfeld wurde gefunden<br />

und in Auscliwitz ermordet.<br />

Christoph Knüppel erwähnt im Vorwort,<br />

daß in den Niederlanden nach 1940<br />

etwa 25.000 Juden zeitweise in Verstecken<br />

lebten und davon etwa 4500 Kinder waren.<br />

Die meisten der Kinder konnten gerettet<br />

werden. Von den 3000 ehem<strong>als</strong> in Wuppertal<br />

lebenden jüdischen Menschen<br />

haben nur wenige überlebt. Im vorletzten<br />

Brief von l,eo Sonnenfeld an seinen Enkel<br />

Günter schrieb er über einen Wunsch des<br />

Jungen: »Eigentlich soll man solchen kleinen<br />

Jungen nichts mehr versprechen,<br />

denn fast sieht es so aus, <strong>als</strong> ob ich niem<strong>als</strong><br />

werde mein Versprechen einlösen<br />

können.« Das durch die Initiative des<br />

Lehrers geschaffene Zeitdokument ist<br />

ein Versprechen, die jüdische Vergangenheit<br />

der Stadt nicht dem Vergessen zu<br />

überlassen.<br />

Herta Sonnenfeld:<br />

»Stufen zur Freiheit.<br />

Die Geschichte meines Lebens.«<br />

Übersetzt, eingeleitet und<br />

kommentiert von Christoph Knüppel.<br />

Achterland Verlagscompügnie 199^.<br />

18,- DM.<br />

Bildungswerk Berlin<br />

'er Heinrich-Böll-Stiftung<br />

lughofstr. 20, 10997 Berlin, Tel: 612 60 74.<br />

e-mail: büdungswerk.boell^bcrlin.snafu.de<br />

Berliner Frauen-Parlament<br />

Einladung zum Mitbestimmen<br />

Samstag 19. Juni 1999 (10.00 - 17.00)<br />

im Rathaus Schöneberg<br />

unter der Schirmfrauschaft der<br />

Bezirksbürgermeisterin Dr. Elisabeth Ziemer<br />

mit Parlamentarierinnen aus dem Abgeordnetenhaus<br />

Wie - feministische Politik hat keine Kraft und keine Ideen<br />

mehr? Das sehen wir anders!<br />

Was wäre wenn ...<br />

• die Hälfte der Sitze im Abgeordnetenhaus von Frauen besetzt<br />

würden?<br />

• die Vergabe öffentlicher Aufträge an eine effektive<br />

Frauenförderung gekoppelt wäre und damit die §§ 13/14 des<br />

Landesgleichstellungsgesetzes endlich umgesetzt würden?<br />

• Mädchen tolle Ausbildungsplätze bekämen, nicht nur die in<br />

schlecht bezahlten Berufen mit geringen Aufstiegschancen?<br />

• Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte idealefinanzielleund<br />

organisatorische Arbeitsbedingungen vorfanden und durch die<br />

Bezirksreform gestärkt würden?<br />

• Die Universitäten Geld entsprechend der Güte ihrer<br />

Frauenförderung bekämen?<br />

i 6 .-.• M'li '. 2)1999


Bestseller<br />

Frontbericht<br />

von Christiane Kloweit<br />

Bomben auf Belgrad - das ist noch kein<br />

Buchtitel. Erstaunlich übrigens, wo sie doch<br />

schon seit drei Wochen fallen. Bomben auf<br />

Belgrad sind trotzdem Bestseller. Sie gehen<br />

wie warme Semmeln. Bestseller müssen<br />

sowieso nicht immer Bücher sein. Gern<br />

genommen, weil preiswert, werden auch<br />

marode Industrien wie die ostdeutsche oder<br />

Frauen und Kinder wie die aus dem maroden<br />

Ex-Ostblock, die überraschend schnell<br />

gelernt haben, sich auf dem Markt anzubieten,<br />

mit dem, was ihnen kein rotes Regime<br />

rauben konnte: mit ihrem Körper. Das heißt<br />

natürlich noch nicht, daß wir auch alle welche<br />

nehmen müßten. Aber sie sind doch<br />

zumindest im unteren Preissegment auf<br />

dem Weg von Restsellern zu Bestsellern.<br />

Aber zur Sache: Echte Bestseller, <strong>als</strong>o gut,<br />

teuer und gefragt, sind diese eleganten Raketen<br />

und Bomben, die mit poetischen Namen<br />

wie Tomahawk, Cruise Missiles, Tarnkappe<br />

die christliche Friedensbotschaft tief in das<br />

Hinterland des mörderischen Serben tragen.<br />

So wie sie übrigens schon seit dem Advent<br />

98 - Advent heißt schließlich Ankunft - im<br />

Hinterland des mörderischen Islam im Irak<br />

ankommen. Nun mögen »Pazifistinnen« -<br />

hoppla, die politischen Gänsefüßchen, seit<br />

dem Tod der »DDR« tot geglaubt, sind auferstanden<br />

aus Ruinen! - mögen <strong>als</strong>o „Pazifistinnen"<br />

sagen, Krieg sei kein Mittel zur<br />

Konfliktlösung, und zu leiden hätte immer<br />

die Zivilbevölkerung. Keine Sorge. Die Bestseller-Bomben<br />

made in USA und Großbritannien<br />

treffen auf den Meter genau, wußten<br />

dam<strong>als</strong> die Irak-Frontberichterstatter. Warum<br />

sollte es an der Serbien-Front anders sein?<br />

Da muß die Zivilbevölkerung, die selbstverständlich<br />

mit den Luftangriffen nicht<br />

gemeint ist, eben einfach einen Meter<br />

beiseite treten.<br />

Im übrigen frage ich die »Pazifistinnen«:<br />

Wer hält sich denn in der Nähe militärischer<br />

Anlagen auf, denen die Bomben gewidmet<br />

sind? Frauen, Kinder und Greise? Ach? Seit<br />

wann sonnenbaden Frauen auf dem Hof von<br />

Chemiewaffenfabriken? Seit wann spielen<br />

Kinder Räuber und Gendarm in unterirdischen<br />

AtomwaffenStützpunkten? Seit wann<br />

schnappen Greise frische Luft am Fuße von<br />

Raketenabschußrampen? Nein! Hier haben<br />

wir hochaggressive, paramilitärische und<br />

militärische Verbände vor uns, die jederzeit<br />

ihr Leben für den Teufel Saddam Hussein<br />

bzw. ein Großserbien unter Milosevic geben<br />

würden. Genau dazu gibt ihnen die internationale<br />

Völkergemeinschaft jetzt die Gelegenheit.<br />

Schon im Advent 98 hatte unser Volk,<br />

das sich, wie die Massenmedien nachwiesen,<br />

mit rot-grün verwählt hatte und die neue<br />

Regierung sofort haßte, doch nicht ohne<br />

Rührung gesehen, wie die Ungeliebten dank<br />

ihrem uneingeschränkte Ja zu Bomben auf<br />

Belgrad endlich ankommen durften in der<br />

christlichen Umarmung der Herren Schäuble<br />

und Ruhe. Die Umarmung hält an, so lange<br />

das Ja zu den Bomben anhält.<br />

Schon zum zweiten Mal binnen kurzem<br />

stehen wir Deutschen, endlich! nach 60 Jahren!<br />

wieder zusammen gegen den Feind. Vor<br />

sieben Jahren, <strong>als</strong> sich Teil I von »Bomben<br />

auf Bagdad« abspielte, da waren die Grünen<br />

noch dagegen, während sie jetzt, in der<br />

Regierungsverantwortung, wie ein Mann,<br />

oder wenn wir von Frau Beer, der ewigen<br />

Nörglerin, einmal absehen, wie o, 99 Mann<br />

hinter jedem Friedensbombardement stehen,<br />

das die USA der NATO befehlen, die natürlich<br />

nicht ewig auf ein UNO-Mandat warten<br />

kann, zumal, wenn das gar nicht in Aussicht<br />

ist. Und was die Schuldfrage angeht - natürlich<br />

sind immer die Bombardierten schuld.<br />

Sonst würde sie ja wohl nicht bombardiert.<br />

Das ist doch logisch, oder?<br />

Was bringen die Bombardements noch?<br />

Eine ausländische Zeitung schrieb kürzlich,<br />

Schröder habe mit dem Krieg, pardon, mit<br />

den Luftangriffen für Freiheit und Humanität<br />

staatsmännisches Format gewonnen.<br />

Na, bitte, es geht doch. Und wessen staatsmännisches<br />

Format in Stahlgewittern<br />

gestählt wurde, der wird zu Hause dann<br />

wohl endlich aufhören, dem Druck der<br />

Straße nachzugeben und dieses alberne<br />

Bündnis für Arbeit in der Sozi-Hobbykiste<br />

liegen lassen. Wer hat in diesen hehren<br />

Tagen Zeit für Hobbies? doch höchstens ein<br />

Aussteiger wie Lafontaine.<br />

Was bringen die Bomben noch? Zum<br />

einen: Aus Massenmedien wurden Heer-<br />

Scharen. Flotte Schnitte, gerechter Zorn,<br />

subtile Betroffenheit, todsicherer Definitionen<br />

von Gut und Böse in Nachrichten, speci<strong>als</strong>,<br />

brennpunkten, talkshows. Und das<br />

Wunder Sie reden alle mit einer Zunge,<br />

wenn man von gewissen Organen mal<br />

absieht, denen man die SED-Nachfolge<br />

ansieht.<br />

Zum anderen: Der Aufschwung Ost, dessen<br />

wir vom langen Warten schon ein wenig<br />

müde geworden waren, differenziert sich<br />

nun in Aufschwung Nah-Ost und Aufschwung<br />

Süd-Ost. Denn: Der Markt für Bomben<br />

macht immer auch den Markt für Wiederaufbaugüter<br />

hungrig. Man könnte sagen, je<br />

bombiger das Wetter, desto größer der Aufschwung...<br />

irgendwann. Wie gut, wie klug<br />

und haushälterisch, daß auch deutsche Konzerne<br />

seit jeher die Abfälle ihrer RüstungsprodiikHon<br />

für die allerlei Ziviles zu nutzen<br />

wisse::. S^ Donnen sie mindestens dreimal<br />

verdienen. Erstens an den Bomben und Chemiewaffenteilen<br />

für Bagdad, zweitens an den<br />

Bomben auf Bagdad, drittens an denen auf<br />

Belgrad. Über viertens, fünftens und so weiter<br />

werden wir dann hoffentlich vom Spiegel<br />

so detailgetreu informiert wie über den<br />

Hausbau von Herrn Hombach.<br />

Vom gerechten Krieg nun rasch zu den<br />

Bestsellern von der Literaturfront. Vielleicht<br />

stellt ja schön das nächste Literarische Quartett<br />

im Luftschutzbunker unterm Reichstag<br />

Triimmerliteratür vor. Sollte bis dahin widererwarten<br />

noch kein aktuelles Werk auf dem<br />

Markt sein, können zur Not die Literaturtrümmer<br />

aus den Endvierziger und Anfangfünfziger<br />

Jahren herhalten. Außerdem böten<br />

sich an »In Stahlgewittern« von Ernst jünger,<br />

Originalfassung und »Faust« von Joh. W.<br />

Goethe, zu Ehren von dessen 250. Geburtstag<br />

unter dem Titel »Die eiserne Faust« neu<br />

eingerichtet <strong>als</strong> Taschenbuchausgabe für<br />

unsere feldgrauen Jungs ah der Serbienfront.<br />

Krönender Abschluß wäre nun mein Name.<br />

Das kann ich jetzt natürlich nicht riskieren.<br />

Sie wissen ja: Feind liest mit.<br />

2(1999


•• •• FEUILLETON •• ••<br />

.<br />

i 11 .3<br />

Jede Geschichte läßt sich immer<br />

auch anders erzählen, und<br />

mit dem Schicksal der armen<br />

Efifi Briest haben viele Leserinnen<br />

gehadert. So auch ich. In<br />

meiner Version werden zwar<br />

auch fatale Briefe gefunden, aber<br />

sie enthüllen etwas anderes <strong>als</strong><br />

einen Ehebruch. Und sie veranlassen<br />

nicht Baron von Innstetten,<br />

sondern Effi zur Trennung.<br />

Bei Fontäne begibt sich Effi in<br />

eine Berliner Pension, die sich<br />

durch schlechte Luft auszeichnet.<br />

Fontäne erwähnt auch ein<br />

abenteuerlich zusammengewürfeltes<br />

Damenkränzchen,<br />

,aber sollten diese Pensionsgästinnen<br />

tatsächlich nichts<br />

anderes bewirken <strong>als</strong> eine unerquickliche<br />

Atmosphäre, wie<br />

Herr Fontäne meint, der im<br />

übrigen immer wieder andeutet,<br />

daß Effi an Frauen Gefallen<br />

findet?<br />

Fräulein Thea trat auf die Terrasse. Die<br />

Dame, bei der sie sich untergehakt hatte,<br />

mochte um die Vierzig sein, war groß, stattlich<br />

und strahlte vor Vitalität. Ihre üppigen<br />

dunklen Locken harte sie nachlässig unter<br />

ein herrc n hutähnliches Gebilde gesteckt.<br />

Auch ihr übriges Kostüm war wenig damenhaft,<br />

dennoch stand es ihr gut: ein schlichter<br />

Rock mit hüftlanger Jacke, eine weifte Bluse<br />

und eine Krawatte. Ihr gutgeschnittenes<br />

Gesicht bekam durch einen Flaum über der<br />

Oberlippe einen Zug ins Pikante. »Meine<br />

Damen«, sagte Fräulein Thea mit Emphase,<br />

»darf ich bekannt machen, falls Sie unsere<br />

liebwerte Besucherin nicht schon von der<br />

Oper her kennen: Kammersängerin<br />

Marietta Trippelli.«<br />

»Machen Sie's doch nicht so feierlich,<br />

liebes Fräulein Thea, Sie wissen doch:<br />

ich habe keinen Sinn fürs Dramatische«,<br />

sagte Marietta lächelnd.<br />

Wenn die Dame.n wüfsten, daß sich unter<br />

Fräulein Theas wohlkorsettierter Figur im<br />

taubenblauen Seidenkleid samt perfekt geplätteter<br />

Spitzenschürze ein Mann verbarg!<br />

Das Fräulein Thea war ein Herr Theodor -<br />

nicht die Schwester, sondern der Bruder von<br />

Fräulein Martha, eine Frauenseele im Männerkörper<br />

gefangen, wie Fräulein Thea sich<br />

ausdrückte. Marietta hatte ihn (oder vielmehr:<br />

sie) vor Jahren im »Mikado* kennengelernt,<br />

wo viele Herren verkehrten, die sich <strong>als</strong> Damen<br />

kleideten und fühlten. Fräulein Thea hatte<br />

am Flügel gestanden und voller Inbrunst<br />

eines der unsäglich schwülstigen Lieder des<br />

Fürsten Fulenburg zum Besten gegeben.<br />

Bald hatte Marietta die charmante Dame<br />

Thea freundschaftlich in ihr Merz geschlossen<br />

und diese Freundschaft mit der Zeit auch<br />

auf die Schwester ausgedehnt. Fräulein Martha<br />

ihrerseits sah es gerne, wenn die berühmte<br />

Kammersängerin so vollkommen ohne Allüren<br />

und ganz ohne die Herablassung<br />

der GroKen und Gefeierten in ihrer Pension<br />

Besuch machte. Manchmal lieK die Trippelli<br />

sich sogar überreden, einige Lieder vorzutragen.<br />

Fine solche Gelegenheit verfehlte ihren<br />

Eindruck auf die Gäste nie. Das waren, vermutete<br />

Marietta, die Augenblicke, in denen<br />

Fräulein Martha sich mit der Neigung ihres<br />

Bruders fast versöhnte. Denn vor nichts hatte<br />

Fräulein Martha solche Angst wie vor Entdeckung.<br />

»Ich weiß nicht, weshalb du dich<br />

alterierst, meine Liebe«, pflegte Fräulein Thea<br />

zu sagen. »Ich verfüge über eine hochoffizielle<br />

Genehmigung unseres Herrn Regierungspräsidenten,<br />

weibliche Kleidung tragen<br />

zu dürfen. Und da bin ich nicht die einzige.<br />

Ich könnte dir einige Schwestern aus den<br />

ersten Kreisen nennen.«<br />

»Aber wenn es aufkommt, Thea, der<br />

Skandal!«<br />

Nun, dachte Marietta, es kommt nicht<br />

heraus, dazu spielte Fräulein Thea ihre<br />

Rolle, wenn es denn eine war, viel 'iu gut.<br />

In kürzester Zeit hatten sich fast alle Pensionsgäste<br />

auf der Terrasse versammelt. Eine<br />

musikbegeisterte junge Engländerin nahm<br />

Marietta sogleich in Beschlag, eigentlich eine<br />

Unhöflichkeit, aber die übrigen Damen schienen<br />

es dem Enthusiasmus der jungen Frau<br />

zugute zu halten. Marietta stand der Sinn<br />

nicht nach musikalischen Erörterungen.<br />

Sie hatte einen anstrengenden Tag im Aufnahmestudio<br />

der Grammophongesellschaft<br />

verbracht. Mal mußte der Gesang, mal die<br />

Klavierbegleitung wiederholt werden. Fs<br />

war eine rechte Ochsentour gewesen, eine<br />

zu lukrative freilich, <strong>als</strong> daß sie das Angebot<br />

hätte aussschlagen mögen. Nun empfand<br />

sie das dringende Bedürfnis nach ganz alltäglichem<br />

Geplauder.<br />

Der Tee wurde serviert. Das Gesicht einer<br />

soignierten etwa fünzigjährigen Dame aus<br />

London, einer Mrs. Douglas, kam Marietta<br />

vage bekannt vor. Sie hatte es allerdings lange<br />

aufgegeben, solchen Eindrücken nachzugehen,<br />

Ihre Gastspiel- und Konzertreisen brachten<br />

sie über die fahre mit so vielen Menschen<br />

zusammen, daß es Sisyphusarbeit gewesen<br />

wäre, sich deren Gesichter alle einprägen ?u<br />

wollen. Eine junge F'rau dagegen, mit Schatten<br />

unter den Augen, weckte sofort Erinnerungen:<br />

Gieshüblers Salon in Kessln, ein<br />

gestriegelter Landrat und seine mädchenliaft<br />

>*


FEUILLETON<br />

rt "l TO<br />

liebliche Neuvermählte, ein Liederabend und<br />

eine Unterhaltung über Gespenster. Marietta<br />

erinnerte sich sogar des Namens: Baronin<br />

Innstetten. Gieshübler hatte ihr vor |ahren<br />

geschrieben, daß der Landrat mit Familie -<br />

eine Tochter war geboren worden - nach<br />

Berlin berufen worden sei. Ob die Baronin<br />

wußte, daß Gieshübler gestorben war? Ob es<br />

ihr überhaupt genehm war. sich der Bekanntschaft<br />

zu erinnern oder sie zu erneuern?<br />

Die grauhaarige Dame mit dem herouchen<br />

Namen sprach wenig, aber wenn,<br />

dann war es Deutsch mi necklenburgischer<br />

Färbung. »Sie führen einen sehr geschichtsträchtigen<br />

Namen, gnädige Frau«,<br />

konstatierte Marietta. »War's unter Maria<br />

Stuart oder später, daß er zu Ehren kam?<br />

Ich weiß es nicht mehr. Er kommt in meiner<br />

Lieblingsballade vor, müssen Sie wissen.«<br />

»Ich hab es getragen sieben Jahr', ich<br />

kann es nicht tragen mehr, wo immer die<br />

Welt am schönsten war, da war sie öd und<br />

leer«, deklamierte Baronin Innstetten, und<br />

das Lächeln, das eben noch um ihre Lippen<br />

gespielt hatte, verschwand ganz plötzlich.<br />

»Liebste gnädige Frau«, flehte Fräulein<br />

Thea mit ihrer samtigsten Stimme, ȟberlassen<br />

wir doch die Herren Männer ihren Heldentaten<br />

und seien wir froh, daß wir friedlich<br />

überm Stickrahmen sitzen dürfen. Diese<br />

schicks<strong>als</strong>chwangeren Balladen müssen von<br />

Dichtern stammen, die zu schwer gegessen<br />

haben. Darf ich Ihnen noch einen Baiser<br />

reichen?« Alles lachte.<br />

Geschickt lenkte Marietta die Konversation,<br />

in der sie den Mittelpunkt bildete, über<br />

Genüsse, Kunstgenüsse. Gastspiele, Gastspiele<br />

an Provinzbühnen und schließlich<br />

Provinz schlechthin an den Punkt, an dem<br />

sie ihre Heimatstadt ins Spiel bringen<br />

konnte:<br />

»Sagen Sie mir nichts gegen die Provinz,<br />

Baronin. Ich selbst bin in einem rechten Provinznest<br />

aufgewachsen. Kessin in Pommern.«<br />

Bei der Erwähnung Kessins beugte sich<br />

Mrs. Douglas tiefer über ihre Stickerei.<br />

Nun ja, dachte Marietta, wer aus London<br />

kam, dem mochte eine kleine Hafenstadt<br />

an der Ostsee langweilig erscheinen.<br />

»Das Leben in der Provinz«, fuhr sie fort,<br />

»besitzt doch einen entschiedenen Vorzug.<br />

Die Originale leuchten um so deutlicher aus<br />

der Masse der Alltagsmenschen hervor. In<br />

Kessin hatten wir einen Apotheker, übrigens<br />

war er der einzige, der sich für mich und<br />

mein Ges^"osstudium einsetzte, und wer<br />

weiß, wo ich heute stünde ohne ihn! Schon<br />

sein Name war apart: Alonzo Gieshübler.<br />

Leider weilt er nicht mehr unter den Lebenden.«<br />

Marietta tat ihrem verstorbenen Freund<br />

im stillen Abbitte, daß sie ihn mißbrauchte,<br />

um die Baronin aus ihrer Reserve zu locken,<br />

doch die Taktik erreichte ihren Zweck. Frau<br />

von Innstetten erzählte nun, sie habe selbst<br />

einige Jahre in ebendiesem Kessin zugebracht,<br />

wobei sie geflissentlich vermied, den<br />

Gatten zu erwähnen. Und nun kam sie auch<br />

auf die Begegnung mit der Kammersängerin<br />

im Hause Gieshübler zu sprechen.<br />

»Das IM jetzt wohl neun Jahr her, mein<br />

gnädiges Fräulein. Ach, es war ein schöner<br />

Abend, gewiß einer der schönsten, den ich<br />

dort verbrachte«, erklärte Frau von Innstetten.<br />

»Wir sprachen über Kunst, gnädige<br />

Frau«, fiel Marietta ein, »was natürlich immer<br />

obligatorisch ist, und über Gespenster.<br />

Sie lebten, wenn ich mich recht entsinne,<br />

in einem Hause, das <strong>als</strong> Spukhaus galt?«<br />

»Ja, und mir ist, <strong>als</strong> ob ich mich dam<strong>als</strong><br />

gefürchtet hätte«, lächelte Frau von Innstetten,<br />

»völlig unnötigerweise. Denn was hätte<br />

mir der Chinese - es ging nämlich um einen<br />

Chinesen, wie ich Mrs. Douglas schon berichtete<br />

- auch antun können? Mit Chinesen war<br />

ich immer gut freund. Als Kind dachte ich<br />

mir Geschichten aus«, und hier nahm das<br />

Gesicht der Baronin einen fast kindlich-weichen<br />

Zug an, »<strong>als</strong> Kind dachte ich mir immer<br />

Geschichten aus, in denen ein Chinese die<br />

Hauptrolle spielte.«<br />

Plötzlich fiel die Terrassentür geräuschvoll<br />

ins Schloß. »Ich bitte sehr um Entschuldigung!<br />

Für meine Verspätung und den Lärm«,<br />

sagte die Störenfriedin mit englischem<br />

Akzent und schalkhaftem Lächeln. Sie<br />

mochte in Mariettas Alter sein, hatte fuchsrotes<br />

Haar, das sie ungewöhnlich kurz trug,<br />

und braune Augen. »Sie müssen die berühmte<br />

Miss Trippelli sein. Sehr erfreut, Sie kennenzulernen.<br />

Meine junge Cousine schwärmt<br />

für Sie, wie Sie sicher schon bemerkt haben.<br />

Ich bin Miss Sharp, die Majestätsbeleidigerin.<br />

Habe mich hier durch eine Bemerkung über<br />

den Kunstverstand Ihres Kaisers unpopulär<br />

gemacht.«<br />

Marietta lachte. Stühle wurden gerückt,<br />

ein weiteres Gedeck gebracht, Tee eingeschenkt,<br />

Zuckerdose und Gebäck herumgereicht.<br />

»Darf ich rauchen?« fragte Miss<br />

Sharp, was ihr gnädigst gestattet wurde.<br />

Doch nur die Cousine nahm von dem angebotenen<br />

Etui und gab es an Marietta<br />

weiter.<br />

»Mögen Sie auch ein paar Züge vom<br />

Hauch des Paradieses, Madam?« fragte sie<br />

mit einem tiefen Blick in Mariettas Augen.<br />

»Wo denken Sie hin, meine Liebe! Ich brauche<br />

meine Stimme um mir die Brötchen zu<br />

verdienen, und von Zeit zu Zeit etwas Kaviar<br />

drauf.«<br />

Die Majestätsbeleidigerin lachte: »Jedem<br />

Tierchen sein Pläsierchen, so sagt ihr Deutschen<br />

doch, nicht wahr? An Kaviar wird es<br />

Ihnen gewiß nicht mangeln.«<br />

Bald darauf verabschiedete sich die Trippelli.<br />

Frau von Innstetten zog sich mit Kopfschmerzen<br />

in ihr Zimmer zurück. Also von<br />

den Zigaretten der beiden Engländerinnen<br />

kam der sonderbare Weihrauchgeruch!<br />

Die Sängerin ging ihr die ganze Zeit über<br />

nicht mehr aus dem Sinn. An diesem<br />

Abend stickte sie nicht weiter.<br />

aus; Dorothee Keuler:<br />

»Das wahre Leben der Ejß B.«<br />

© 1998 by Haffmanns Verlag AG, Zürich<br />

211999


FKUILLLTON<br />

Jeden Freitag spielten wir Karten. Der<br />

schöne Erich, ein unentwegter Psychologie-<br />

Student, immer in schwierigen Liebesgeschkhten<br />

steckend, Monika, Chefsekretärin<br />

in einer großen Rundfunkanstalt, eine<br />

stattliche Frau mit Vorliebe fiir weite und<br />

ausgefallene Kleider - und ich, dam<strong>als</strong><br />

eine Ausländerin mit Ungewisser Zukunft.<br />

Eine Erzählung von Maria Kolenda<br />

Wir wohnten in einem Haus in der l lauptstraKe.<br />

einem in den li'inf/iger Jahren gebauten,<br />

häßlichen, grauen Kasten. Unsere drei<br />

kleinen Wohnungen lagen nebeneinander im<br />

vierten Stock; ein überdachter Außengang mit<br />

Blick '/.um Hof führte /u den Eingangslüren.<br />

Das erste Mal begegneten wir uns /ufällig<br />

im Hof und Hrich verwickelte uns in<br />

ein Gespräch über Mülltrennung. Eigentlich<br />

ititeressierte mich das Thema nicht, aber<br />

weil ich noch nicht lange in Berlin war und<br />

niemanden kannte, blieb ich bei ihnen stehen<br />

und stimmte /.u. Von dem Tag an traten<br />

wir uns regelmäßig zum Kartenspielen.<br />

Und heute war Freitag. Wie üblich saßen<br />

wir bei Monika. Sie war die ein/ige, die<br />

einen großen 'Fisch hatte, der zum Spiel gut<br />

geeignet war. Und noch wichtiger war, daf<<br />

sie in der Küche, gleich links hinter der Tür,<br />

vor/üglichen Wein in ansehnlichen Mengen<br />

lagerte. Wir plauderten über dies und das,<br />

spielten Kartell, tranken genüßlich den Wein<br />

und freuten uns des Lebens. Wie immer<br />

gewann Monika. Und <strong>als</strong> ob sie sich dessen<br />

schämte, schlug sie eine neue Partie vor.<br />

Wir waren sehr einverstanden, denn in so<br />

einem Moment erhob sich Monika vom<br />

Sessel, mit ihrem afrikanischen Kleid<br />

raschelnd und flog in die Küche, um eine<br />

neue Flasche /u holen. Für sie, für die nächste<br />

h'lasche. ertrugen wir würdevoll die<br />

unvermeidlich folgende Niederlage.<br />

Aber heute passierte etwas Unerwartetes.<br />

Frich fragte leicht angriffslustig, ob sie uns<br />

vielleicht beim Spiel betrüge. Das würde<br />

ihm nicht viel ausmachen, aber sie sollte<br />

es wenigstens zugeben. Sofort unterbrach<br />

Monika das Spiel, richtete sich starr auf,<br />

band ihre herunterhängenden, graugoldenen<br />

Haare zu einem festen Knoten und durchdrang<br />

uns mit einem strafenden Chefsekretärinnenblick.<br />

»Wenn ihr mich des<br />

Betruges beschuldigen wollt, dann könnt<br />

ihr euch ganz schnell eine andere Spielpartnerin<br />

suchen.«<br />

Erich erschrak. Seit langem schrieb er an<br />

seiner Doktorarbeit, einem unverständlichen<br />

und verwirrenden Werk ohne Ende, und war<br />

-'•l ">')'!


FEUILLETON<br />

auf Monikas diskrete Hufe angewiesen. Ich<br />

fühlte mich auch unbehaglich. »Moni,<br />

bitte, nimm es nicht so ernst, es war nur<br />

ein Scherz.«<br />

Erich versuchte sich bei ihr einzuschmeicheln.<br />

»Wir wissen doch: Du bist die ehrlichste<br />

Spielerin. Und ich hab dir doch<br />

gesagt, daß ich jetzt Probleme mit Klaus<br />

habe«, fügte er weinerlich hinzu.<br />

Monika schwankte. Sie hob die Hand<br />

zum Haar, nahm sie zurück, studierte aufmerksam<br />

unsere Gesichter und riß mit<br />

entschlossener Bewegung die Haarspange<br />

wieder heraus. Fettige Strähnen fielen auf<br />

ihr mit roten Flecken bedecktes Gesicht.<br />

Uns wurde es leichter ums Herz, und das<br />

Spiel begann von neuem.<br />

Monika gewann ihre gute Laune zurück,<br />

und wie immer in solchen Momenten griff<br />

sie unter ihren Sessel und zerrte eine vor<br />

Angst zitternde Katze namens Lucy vom<br />

Teppich. Sie setzte Lucy auf ihren Schoß,<br />

drückte sie kräftig herunter und sprach liebevoll:<br />

»Schau mal, Lucy, das sind meine Nachbarn.<br />

Aber sei nicht eifersüchtig, du bist<br />

ja meine Liebste.« Lucy erstarrte einen<br />

Sekunde lang, für Monika der Beweis wahren<br />

Interesses, sie lockerte den Handgriff<br />

was Lucy sofort nutzte, um sich mit einem<br />

Sprung unter dem Schrank zu verstecken.<br />

»Was für eine wunderschöne Katze«,<br />

sagte Erich, der panische Angst vor ihren<br />

Krallen hatte. »Und so bezaubernd wild« -<br />

er erschauderte bei seinen eigenen Worten.<br />

Er wirkte nervös an diesem Abend. Oft hatte<br />

er auf die Uhr geschaut; plötzlich sagte er<br />

verlegen: »Ich muß heute noch weg. Ich<br />

habe eine Verabredung.« Wir waren sprachlos.<br />

Er brach ein ungeschriebenes Gesetz:<br />

Die Nacht von Freitag auf Samstag gehörte<br />

uns. Erich fragte schuldbewußt, ob er vielleicht<br />

meine Ausgehtasche leihen könnte,<br />

ein kleines, mit originellem Pe-rlenmuster<br />

verziertes Täschchen. Ich willigte stumm<br />

ein, er hängte sie sich über die Schulter,<br />

sagte: »Kann sein, daß ich später nochmal<br />

vorbeikomme« und verschwand in der<br />

Dunkelheit der Nacht.<br />

Wir blieben im Zimmer zurück. Schweigend<br />

spielten wir weiter. Nach langer Zeit<br />

bemerkte Monika unerwartet: »Die Karten<br />

sind manchmal f<strong>als</strong>ch gemischt.« Da ich an<br />

ihre Sprüche gewöhnt war, nahm ich auch<br />

diesen ohne Wimpernzucken hin. Das Spiel<br />

langweilte uns, das Gespräch stockte. Unbewußt<br />

lauschten wir auf Geräusche des<br />

Außengangs. Kurz nach fünf Uhr morgens<br />

hörten wir Poltern, dann schrillte die Klingel.<br />

Monika sprang auf und öffnete die Tür, Erich<br />

torkelte in die Wohnung, prallte von der Wand<br />

ab und landete mit einem Schwung im Sessel.<br />

Er trug einen schicken Pelzmantel und elegante<br />

Lackschuhe an seinen Füßen.<br />

»Leg ab«. Monika war leicht verwirrt,<br />

aber auch sichtbar glücklich. Erich betrachtete<br />

uns, eine nach der anderen, lange unter<br />

seinen silberblau geschminkten Augenliedern<br />

und entledigte sich mit einer koketten<br />

Schulterbewegung des Pelzes.<br />

Unsere Blicke, etwas getrübt durch den<br />

Müller-Thurgau, erfreuten sich einer wundervollen<br />

Erscheinung. Erich: glatt, braungebrannt,<br />

bekleidet mit einem raffiniert<br />

rot-glänzenden Höschen und Hosenträgern<br />

in der gleichen Farbe.<br />

»Zieh dich besser wieder an«, schlug<br />

Monika vor.<br />

»Aber wozu?« protestierte ich spontan.<br />

»Es ist doch .„«<br />

Ohne ein weiteres Wort warf ihm Monika<br />

eins ihrer afrikanischen Kleider zu. Erich<br />

verschwand im Gewühl aus bunten Blumen,<br />

befreite nach kurzen Kampf seinen Kopf und<br />

nahm die Pose eines tief verzweifelten Menschen<br />

an. »Klaus hat Schluß mit mir gemacht!«<br />

schluchzte er. »Das ist das Ende.<br />

Ich halte diesen Schmerz nicht aus.« Monika<br />

schob ihm ein volles Glas Wein hin. Er trank<br />

es hastig leer.<br />

»Vielleicht ist alles nicht so schlimm, wie<br />

du denkst.« Ich versuchte, ihm die weiteren<br />

Einzelheiten zu entlocken. »Nein, nein, es ist<br />

aus, ein für alle Mal! Klaus hat mich rausgeworfen,<br />

einfach rausgeworfen!« »Warum<br />

gleich rausgeworfen, du siehst das bestimmt<br />

f<strong>als</strong>ch.« Erich vergrub sein Gesicht in den<br />

Händen. »Nein, er hat mich wirklich rausgeschmissen,<br />

mit einem Hißtritt hat er mich<br />

wirklich rausgeschmissen, mit einem Fußtritt<br />

hat er mich aus dem Auto befördert!«<br />

»So ein Grobian!« rief Monika entrüstet.<br />

»Und warum?«<br />

Erich begann jetzt erst recht zu klagen:<br />

»Wir waren schon auf dem Weg nach Hause,<br />

nach der Fete bei Michi... Oh, das ist grausam<br />

...'< Er tupfte sich die Tränen mit dem<br />

Zipfel des Kleides ab. »Wir waren schon fast<br />

da, Klaus saß am Steuer, wie immer fuhr er<br />

sicher, so männlich, stark. In der Nähe der<br />

kleinen Parkanlage habe ich plötzlich diesen<br />

jungen Polizisten gesehen. Ach, was für<br />

ein süßer funge, sag ich euch, was für ein<br />

Schnuckelboy; dunkle Augen, Grübchen irn<br />

Gesicht. Da sage ich zu Klaus: Bitte, halte<br />

kurz an ...«<br />

Erich unterbrach die Erzählung und verharrte<br />

längere Zeit mit tragischem Gesichtsausdruck.<br />

»Warum habe ich ihn nur darum<br />

gebeten, warum? Hat mein Schutzengel<br />

geschlafen? Klaus hat angehalten. Ich bin<br />

ausgestiegen, bin zu meinem Polizisten<br />

rübergegangen. Ich wollte nur in sein süßes,<br />

kleines Ohr hauchen: »Guten Morgen, du<br />

Schönster!« Aber was passiert?! Plötzlich<br />

erscheint hinter ihm sein Kollege, eine<br />

pflichtbewußte Fratze! Ein Schock! Der<br />

widerliche, behaarte Affe ist gleich zu unserem<br />

Auto gegangen. Und Klaus betrunken<br />

am Steuer. Autopapiere, Pusten. Aussteigen,<br />

Führerschein weg. Als alles vorüber war,<br />

bestellten wir ein Taxi. Klaus ist eingestiegen,<br />

ich wollte hinterher. Da dreht er sich zu mir<br />

und versetzt mir mit voller Wucht einen Tritt<br />

und schreit: Hau ab, du käufliche Schwuchtel<br />

mit Hängearsch und geh zu deiner Uniformtunte!«<br />

Die letzten Worte sprach Erich kaum<br />

hörbar und tief beschämt.<br />

Wir saßen ziemlich ratlos da. »Ich rufe<br />

ihn morgen an, deinen Klaus und rede mit<br />

ihm ein paar Takte« drohte Monika. »Nichts<br />

ist mehr möglich«, kreischte Erich. »Keiner<br />

hat ein Recht, zu mir zu sagen: Du käufliche<br />

Schwuchtel mit Hängearsch! Käuflich: ]a.<br />

Dagegen habe ich nichts, das Geld nehme<br />

ich. Aber nicht »Hängearsch«! Denn das«,<br />

er schaute uns zaghaft an, »hat die Erfolge<br />

meiner jahrelangen Therapie zunichte<br />

gemacht. Ich bin wieder häßlich und<br />

keiner liebt mich.«<br />

Er weinte leise und herzzerreißend.<br />

Monika sah mich bedeutungsvoll an. Ich<br />

verstand ihren Blick. Worte genügten nicht<br />

mehr, gefragt waren jetzt Taten. Sie streifte<br />

ihr Kleid ab und zeigte mit der Hand auf<br />

ihren Bauch. »Schau hin, Erich. Das ist<br />

mein Bauch. Ein typischer, faltiger Hängebauch.«<br />

»Tatsächlich. Du auch«, sagte Erich.<br />

Jetzt blickten sie erwartungsvoll zu mir.<br />

Ich zögerte und zog mich dann aus. »Auch<br />

keine Venus« stellte Monika befriedigt fest,<br />

Erichs Augen leuchteten ein wenig hoffnungsvoller.<br />

Den ganzen Morgen spielten wir noch<br />

Karten, splitternackt. Das war der Anfang<br />

einer wunderbaren Freundschaft. Und Lucy,<br />

von Kopf bis Fuß in Pelz gekleidet, steckte<br />

ihren Kopf unter dem Schrank hervor und<br />

beobachtete uns mit großen Augen.


D FEUILLETON<br />

G<br />

n<br />

Amäl liegt in Schweden und ist ziemlich<br />

klein, aber es ist auch der Ort einer<br />

großartigen lesbischen Liebesgeschichte,<br />

Elin langweilt sich. »Ich höre einfach auf<br />

zu atmen-., sagt sie t'inrna!, dann wieder: »Ich<br />

werde Miss Schweden». Schauspielerin will<br />

sie auch werden, und high sein. Man muß<br />

dazu wissen, daß Hin im schwedischen Arnal<br />

lebt, und das liegt, behauptet sie, »am Arsch<br />

der Welt". Deshalb redet sie auch immer von<br />

»Fucking Amal«, was ungefähr dasselbe heißt,<br />

würde ein r 4 jähriger deutscher Teenager von<br />

»Scheiß Castorp-Rauxel» sprechen.<br />

Agnes will sterben. Agnes lebt nämlich<br />

auch in Amäl. Allerdings ist ihr Problem<br />

weniger die Stadt am Ende von Schweden,<br />

sondern vielmehr, daß sie dort mittlerweile<br />

eineinhalb Jahre wohnt, aber keine Freunde<br />

hat. »Keiner mag mich«, brüllt sie ihrem verzweifelten<br />

Vater an ihrem 16. Geburtstag<br />

entgegen, <strong>als</strong> sie ihm erklärt, sie könne niemanden<br />

7ii einer Geburtstagsparty einladen.<br />

Manchmal weiß sich Agnes nämlich nicht<br />

mehr zu beherrschen und ihren Litern zuliebe<br />

das Susi-Sorglos-Gesicht aufzusetzen.<br />

Und nur ihrem Compntertagebuch vertraut<br />

sie wirklich alles an, auch ihr größtes Geheimnis:<br />

Sie liebt Elin.<br />

Nun ist aber das Problem, daß Elin so<br />

ziemlich der Schwärm eines jeden pubertierenden<br />

Jungen in Amal ist und sie selbst<br />

total spitz darauf, sich ihr Jungfernhäutchen<br />

entfernen zu lassen. Fs erzählen sich ja ohnehin<br />

schon alle, daß sie es mit fast jedem getrieben<br />

hätte. In der Schule gellt aber auch<br />

das Gerücht rum, Agnes stehe nur auf Frauen<br />

und besonders auf Elin. Und dabei weiß Agnes<br />

selbst noch nicht einmal, was es heißt, Frauen<br />

/u lieben. Fs ist ja nur so ein Gefühl, und<br />

geküßt hat sie bisher weder eine Frau noch<br />

einen Mann.<br />

Daß Amal. wo jeder jeden kennt, nicht<br />

gerade der ideale Ort lür Blümchensex und<br />

ein lesbisches Corning Out ist, daraus macht<br />

der Erstlingsfilm »Fncking Amal" des jungen<br />

schwedischen Regisseurs Lukas Moodysson<br />

keinen l lehl, ganz im Gegenteil: Das Milieu<br />

der Kleinstadt, ihr meist langer ruhiger FluK<br />

des Lebens, aus dem sich die Kids mit Besäufnissen,<br />

gelegentlichen Partys und Videonachmittagen<br />

am Wochenende stehlen, sind die<br />

Bedingungen seiner ebenso subtil wie real<br />

gestrickten ersten Beziehungsgehversuche<br />

eines jungen lesbischen Paares.<br />

Und da sind auf der einen Seite die<br />

rührenden Eltern von Agnes, irgendwie<br />

68er-mäßig sozialisiert und daher unheimlich<br />

offen und betroffen, die aber nicht die<br />

leiseste Ahnung davon haben, was mit ihrer<br />

Tochter wirklich los ist. Das ahnt die Mutter<br />

erst, <strong>als</strong> sie heimlich in Agnes' elektronischen<br />

Seiten blättert. Auf der anderen Seite ist da<br />

die alleinerziehende Mutter von Flin und<br />

ihrer älteren Schwester, die kaum Kontrolle<br />

über den Lebenswandel ihrer Töchter hat,<br />

weil sie sich meistens zuhause nur die Türklinke<br />

in die Hand geben. Die einen kommen<br />

aus der Schule, sie geht zur Arbeit. Als<br />

Elin irgendwann kapiert, daß sie eigentlich<br />

auch auf Agnes steht, nimmt sie einen Anlauf,<br />

mit ihrer Mutter darüber zu reden, doch die<br />

leiht ihr nur ein Ohr zum Zuhören, und Flin<br />

macht einen Rückzieher. Und auch ihrer<br />

Schwester vertraut sie sich nicht an. weil die<br />

letztendlich auch /u denen zählt, die Mädchen,<br />

die Mädchen küssen, für abartig hält.<br />

Alles <strong>als</strong>o nicht so einfach und im Prinzip<br />

der Stoff für einen psychologischen Kokon,<br />

in den sich die Hauptdarstellerinnen bis /u<br />

ihrer Schmetterlingswerdung einigeln könnten.<br />

»Fucking Amal" ist aber trotz aufgeschnittener<br />

Pulsadern alles andere <strong>als</strong> ein<br />

Kammerspiel um Liebe und Tod. sondern<br />

ein erfrischend normaler Kilm über ein normales<br />

Ereignis. Die erste große Liebe, Es ist<br />

ein Film über dir Zwischenzeit: Nicht mehr<br />

Kind, aber auch noch nicht erwachsen. Was<br />

es heißt, zu lieben, erfahren Elin und Agnes<br />

zum ersten Mal miteinander, selbst wenn<br />

sich Elin vorher noch von Johann entjungfern<br />

läßt. Aber sie merkt auch bald, daß sie<br />

ihin nichts zu sagen hat, und er ihr scheinbar<br />

auch nur bestätigen kann, daß Frauen<br />

nichts von I landys verstünden, wie der<br />

Freund ihrer Schwester feststellt. Elin versteht<br />

immerhin soviel davon, daß sie Johann<br />

schließlich übers Mobiltelefon in den Orkus<br />

schickt.<br />

Ganz zurecht gewann »Eucking Amäl«<br />

den diesjährigen Teddy Award, den schwullesbischen<br />

Filmpreis der Berlinale. Als der<br />

Regisseur und seine beiden Hauptdarstellerinnen<br />

zur Premiere ihres F'ilms zuvor auf<br />

die Bühne des Royal Palastes traten, konnte<br />

er nur sagen: »Ich bin nervös». Die Mädchen<br />

fragten beeindruckt: »Wieviel Leute sind hier<br />

drin, es ist so groß?« Amäl ist eben fncking<br />

sniall, auch die Kinos, aber man dreht dort<br />

Filme, in denen Mädchen auf dem Weg zur<br />

Frau Schokomilch trinken und darüber reden,<br />

<strong>als</strong> wäre es ein Cuba libre. Und man glaubt<br />

es ihnen.<br />


FEUILI ETON<br />

Angelina Maccarone<br />

Foto: Manju/PicturePress<br />

Toronto. Und ein Angebot von Samuel Goldwyn.<br />

Ihr jüngster Kilin »Ein Engel schlägt<br />

zurück« wurde mit dem Regiepreis der Kölner<br />

Fernsehmesse ausgezeichnet.<br />

Die 33-jährige Drehbuchautorin und<br />

Regisseurin wurde in einem Provinzkaff<br />

namens Pulheim bei Köln geboren, ist halb<br />

Italienerin und halb Deutsche. Sie hat nie<br />

eine Filmhochschule besucht, wird aber ab<br />

nächstem Jahr an einer unterrichten. Sie<br />

trägt den akademischen Titel »Magister der<br />

schönen Künste«. Ihre Magisterarbeit in<br />

Germanistik schrieb sie über ihren ersten<br />

eigenen Film. Titel: »Eine Mainstream-<br />

Lesbenkomödie und ihre kultur- und filmhistorischen<br />

Voraussetzungen.«<br />

nacr<br />


FEUILLETON<br />

Gibt es ein nationales oder internationales<br />

Netzwerk von Frauenfihnern oder Schauspielerinnen,<br />

die an solchen Filmen über<br />

Frauen interessiert sind?<br />

Ja, es gibl eine Organisation in Los Angeles,<br />

die VtVnm'H Makf Moi'iVi heißt und in<br />

München eine Vertretung hat Die haben mir<br />

Adressen geschickt, '['rot/dem wird es einem<br />

nicht so leicht gemacht, daß jel/t a l k- Produktionsfirmen<br />

begeistert aufschreien: Ja, das<br />

machen wir. Die Stars müßte ich trotzdem<br />

alleine finden. Und damit ginge das Budget,<br />

das ich in Deutschland mühsam aufgetricben<br />

habe, für die Flugticket s drauf. Ich habe mit<br />

zwei Produzenten darüber gesprochen und<br />

die Reaktion war wie erwartet: ein müdes<br />

l ächeln, alles sehr schön, aber ... Ich würde<br />

gern in Deutschland einen Kinofilm machen.<br />

Das ist, denke ich, ein realistischeres Ziel<br />

und st hon schwierig genug.<br />

Der Film der Sichel Sisters «All over nie«,<br />

gut gelaufen. In dem Film geht es um jungt-<br />

Trauen, die sich ineinander verlieben. Bisher<br />

wurde dieses Thema in Filmen und Büchern<br />

immer ein bißchen melodramatisch dargestellt:<br />

Liebeskummer, Tod, Krankheit,<br />

Depres-sionen. Welche ist denn Ihre bevorzugte<br />

Art, das Thema zu behandeln?<br />

Meine Art damit umzugehen? Ich stelle<br />

mir das genauso bunt \vie in dei i letero-Welt<br />

vor. Zum Beispiel in einem Psycliothriller, in<br />

dem dann eben kein l leid, sondern eine Heldin<br />

eine Antagonistin liebt. Ich habe diese<br />

Coniing-Out-Themalik einmal bei »Kommt<br />

Mausi raus» behandelt, das wareine Komödie.<br />

••Alles wird gut« ist eine Screw-ball-Komödie.<br />

<strong>als</strong>o ein sehr spezifisches Koniödiengenre.<br />

Dagegen ist »Kin Engel schlagt /uriick« nicht<br />

explizit lesbisch, aber es gehtauch hierum<br />

zwei Frauen, die sich lieben. Hier ging es<br />

mir nicht darum, Liebesszenen /u drehen<br />

wie bei »Alles wird gut«, sondern einen Kontrast<br />

zu den ganzen tragischen Geschichten<br />

zu bieten, die Sie eben angesprochen haben.<br />

Sind solche riimhguren riskant.<br />

Naja, wie gesagt, es ist eine Screwball-<br />

Cotnedy und da gibl es immer Hindernisse<br />

zu überwinden bis es zum Happy-End kommt,<br />

zur Vereinigung der beiden Menschen, die<br />

sich am Anfang nicht ausstehen können.<br />

Und da haben wir überlegt, wie \\irdie<br />

»kontrastär« gestalten können. Die eine ist<br />

eine workoholic, die sich von Dosenravioli<br />

ernährt, und die andere ist so ein slacker typ.<br />

wie man in Amerika sagen würde. Sie hat<br />

den (ob geschmissen, weil ihr die politische<br />

Konfrontation mit einer Kundin gestunken<br />

hat (die Frau beharrte auf dem Wort Negerkuß).<br />

Sie ist eine Frau, die sehr konsequent<br />

ihr Leben lebt und manchmal bedeutet diese<br />

Konsequenz eben, daß du unglücklich,<br />

arbeitslos und ohne Freundin dastehst. Sie<br />

ist jemand, der diese Konsequenz auch trägt.<br />

Ist es Urnen wichtig, daß Sie Quote machen<br />

mit Ihren Filmen?<br />

Ja, das wünschen sich, glaube ich, alle.<br />

Es ist jetzt nicht so. daß ich Filme mache, in<br />

denen schwarze l esben vorkommen, damit<br />

sich das nur schwarze Lesben angucken. Ich<br />

wünsche mir, daß mein Onkel Karlheinz,<br />

sich daran genauso erfreut wie viele andere<br />

Leute. Es geht um emotionale Erfahrungen<br />

und nicht so sehr um eine oberflächliche<br />

Identifikation. Ich wünsche mir hohe Quoten,<br />

was bei meinen Filmen bisher nicht der Fall<br />

war. Ich fände es allerdings schade, wenn die<br />

Gründe jetzt da gesucht würden, wo natürlii h<br />

alle ansel/en: Ist doch klar, es ist ein Minderheitenthema.<br />

Diese Art von Quotenzählerei<br />

finde ich sehr dubios.<br />

Was sagt denn Onkel Karlheinz und der<br />

Rest der Familie zur Karriere der Angelina<br />

Matrarone?<br />

Meine Mutter quält alle, indem sie diverse<br />

Videokassetten mit Interviews vorspielt. Die<br />

ganze l-amilie ist tolal süß- Alle rufen an, wenn<br />

Filme von mir gelaufen sind. Die finden sie<br />

immer toll, aber das erwarte ich auch von<br />

meiner Familie. Besonders lustig fand ich,<br />

daß meine Nichte überall in der Schule<br />

erzählt hat, daß alle meine Filme gucken<br />

müssen, damit die Quote höher wird.<br />

Ja, ich habe ein fertiges Drehbuch, Das<br />

ist eine Weihnachtsgeschichte - für die ganze<br />

Familie sozusagen - mit dem Titel »Weilinachtszombies«.<br />

Es geht um eine Frau, die<br />

einen l lundesalon besitzt und sehr unglücklich<br />

mit ihrem Leben ist. Es is! schon symptomatisch,<br />

daß sie eigentlich lieber Kat/en<br />

mag. Sie hat ein Verhältnis mit einem verheirateten<br />

Mann, der sie zum l [eiligen Abend<br />

das soundsovielte Mal versetzt. Das Leben<br />

verläuft nicht ganz nach ihren Vorstellungen<br />

und sie entschliefst sich, nach Amsterdam zu<br />

gehen. Dort will sie sich das Leben nehmen.<br />

Unterwegs trifft sie Francesra, die aus dem<br />

gegenteiligen Grund hier ist, sie will nämlich<br />

ihre kleine Schwester vor dem hmkiedasein<br />

retten. Die beiden kommen sich auf der Fahrt<br />

naher, trennen sich und in Amsterdam isl<br />

dann alles ganz anders, <strong>als</strong> sie gedacht haben.<br />

Musik spielt in Ihren Filmen ja eine große<br />

Rolle. In dem Zusammenhang ist interessant,<br />

dbS Sie vor 13 Jahren eigentlich mit dem Ziel<br />

nach Hamburg gekommen sind, um Popstar<br />

zu werden. Nach einem Auftritt war dann<br />

allerdings Schluß. Wollen Sie immer noch<br />

Sängerin werden?<br />

Ich singe und nehme auch Gesangsunterricht.<br />

Ich habe neulich gerade im Jesus<br />

Müller Club ausprobiert, was ich dazugelernt<br />

habe. Ls war für mich eine Art Mutprobe,<br />

und ich würde das sehr gerne öfter machen.<br />

Ich muß damit a IXT keinen Erfolg haben,<br />

um Geld damit zu verdienen. Es macht<br />

einfach nur Spaß,<br />

zwei »eitere Filme produziert. Bedauern Sie,<br />

daß Sie nie eine Filmhochschule besuch!<br />

haben?<br />

Ja, denn ich denke, daß so eine Filmhochschule<br />

eine große Chance ist, Dinge<br />

auszuprobieren. Ich habe die Filmerei so/usagen<br />

gleich im wahren Leben ausprobiert.<br />

Wenn das in die Hose geht, dann geht es<br />

gleich richtig in die Hose, weil es ein öffentliches<br />

Versagen ist. Umgekehrt natürlich,<br />

wenn es gut wird, ist es dann umso besser,<br />

weil man dadurch mehr Aufmerksamkeit<br />

bekommt. Andererseits hätte ich mir diese<br />

Filmliochschulen nicht leisten können. Die<br />

sind sehr teuer, und ich hätte nicht nebenher<br />

arbeiten können. Witzigerweise bin ich nächstes<br />

Jahr <strong>als</strong> Dozentin am DFFB (Deutsche<br />

Film-und Fernsehakademie Berlin) tätig. Ob<br />

die mich <strong>als</strong> Studentin genommen hätten, ist<br />

fraglich.<br />

"• :K 2)1999


FEUILLETON<br />

Text: Christoph Schultheiß<br />

Fotos: Annett Ahrcnds<br />

-n-- - -.-!•<br />

^^•w: *Jh*K<br />

. .>M^» uMiloU<br />

»Dafs man dich überhaupt reingelassen<br />

hat...« unkte die freundliche ßarfrau hinter<br />

der Getränketheke. Dabei war auch ihrem<br />

Gegenüber nicht entgangen, daß die annoncierte<br />

Podiumsdiskussion in der Berliner<br />

Kulturbrauerei ein Publikum halte herbeieilen<br />

lassen, das offensichtlich alles andere <strong>als</strong><br />

ausgerechnet heterosexuell oder gar männlich<br />

sein wollte. Jenseits jedweder demoskopischen<br />

Repräsentanz, stellte der Beobachter<br />

fest, war die Schar der Interessierten erstaunlich<br />

homogen und mehrheitlich Minderheil.<br />

Was einem zu denken geben könnte. »Damit<br />

fängt's schon an« zum Beispiel.<br />

Aber eine Beobachtung ist noch lange<br />

kein Thema. Es sei denn, man macht eins<br />

draus wie eben der »Bund lesbischer &<br />

schwuler Journalistinnen«, <strong>als</strong> er Ende März<br />

gemeinsam mit dem Journalistinnenbund<br />

zur öffentlichen Gesprächsrunde in Sachen<br />

»Lesben in Serie« lud.<br />

Nun ist Homosexualität an sich im deutschen<br />

Fernsehen ja schon lange kein (Tabu-)<br />

Thema mehr. Man mag vielleichl mit Schrekken<br />

zurückdenken an das nölige Weichei<br />

Steven Carrington, mit dem sich der Homosexuelle<br />

im US-Import »Denver Clan«<br />

erstm<strong>als</strong> ins deutsche Serienfernsehen<br />

geschlichen halle. Aber das ist schließlich<br />

schon etliche Jahre her. Bald darauf jedenfalls<br />

schien die Republik auch reif für ihre<br />

erste eigene Sei-fenoper (»Lindenstraße«)<br />

und hatte wenig später sogar ihren ersten<br />

eigenen Serienschwulen (»Garsten Flöter«).<br />

Und <strong>als</strong> RTL am n. Mai 1992, pünktlich<br />

um 19.40 Uhr dann endlich die guten Zeiten,<br />

schlechten Zeiten der Daily Soap einläutrtr<br />

und sich hernach auch ganz andere TV-Sender<br />

an den vorabendlichen Banalitäten versuchten,<br />

fanden <strong>als</strong>bald auch die werktäglichen<br />

Geschichtenerzähler Gefallen an der Homosexualität.<br />

Schließlich ist die »Verbotene Liebe«<br />

nicht nur für die gleichnamige ARD-Soap<br />

Programm. Weswegen das Genre schon bald<br />

seine eigenen Garsten Flöter im Repertoire<br />

hatte und (nachdem die einschlägigen Schwulitäten<br />

allmählich allerorten durchgenudelt,<br />

konsensfähig und ergo fad wurden) quasi in<br />

einem zweiten Coming-Out auch die lesbische<br />

Liebe für ihre Zwecke entdeckte. Zumal<br />

ja all die anderen Minoritäten (die Kranken<br />

und Ausländer, die Vergewaltigerund Vergewaltigten,<br />

die Reichen und Schönen usw.)<br />

ohnehin zum Inventar hiesiger Husch-husch-<br />

Serien gehören, die wissen, daß sich mit quotierten<br />

Minderheiten prima Quote machen<br />

läßt. Denn zu einem <strong>als</strong> »aufklärerisch« subsumierten<br />

Voyeurismus für alle, die's nicht<br />

anders kennen, gibt's den Identifikations-<br />

Trash, für jene, die es besser wissen, gratis.<br />

Die Diskussionsveranstaltung hingegen<br />

kostete 10 Mark. Dafür aber saßen auf dem<br />

Podium eine TV-Kritikerin (Barbara Sichtermann,<br />

Die Zeit), eine RTL-Lesbendarstellerin<br />

(Katy Karrenbauer, »Hinter Gittern«), eine<br />

Soap-Aulorin (Gabriele Kosack vom TV-Serien-<br />

Magnaten Crundy UFA), zwei Gesprächsleiterinnen<br />

(Sabine Zurmühl vom Journalistinnenbund;<br />

Susanne Kaiser vom »Bund lesbischer<br />

und schwuler Journalistinnen«) und<br />

mittendrin ein Hans W. Geißendörfer. Und<br />

während die Kritikerin das Lesbäschsein »in<br />

besonderer Weise beunruhigend« finden<br />

durfte und Moderalorin Zurmühl ihr mit »<br />

2)1999


3 FEUILLETON


FEUILLETON<br />

lunc-RvncI-Party<br />

(„S


FEUILLETON<br />

Im schwulen Museum können auch Männer<br />

immer wieder lesbische Künstlerinnen<br />

inspizieren, zur Zeit sind die i lollywood-<br />

Idole dran. Filmfrau Maria Schmitt hat gerade<br />

wieder eine ihrer berühmten Collagen<br />

da/u fertiggestellt. Das Verborgene Museum<br />

dagegen will oftm<strong>als</strong> schon vergessene<br />

Frauen des letzten Jahrhunderts zur Öffentlichkeit<br />

verhelfen und verbirgt darunter auch<br />

lesbische. Einmal jährlich sind die Werke der<br />

von der Frauenstiftung Goldrausch geförderten<br />

Künstlerinnen zu sehen, ansonsten muß frau<br />

die lesbischen Damen in den Cafes an der<br />

Wand hängen sehen. Ein Künstlerinnen-<br />

Salon, der Musik, Literatur, Malerei und<br />

Lebens- und Todeskünste verbindet, findet<br />

4 x jährlich bei Anita Meier in halbprivater<br />

Öffentlichkeit statt (Tel. O3O/ 261 55 90).<br />

Wer sich gerne Lichtspiele anschaut,<br />

kann in das auf schwullesbische Filme<br />

spezialisierte Kleinkino Xenon gehen oder<br />

montags im International die Mongay-Reihe<br />

im großen Saal genießen. Das Acud zeigt<br />

immer wieder stark besuchte Lesbenknaller<br />

wie letztens die weiblichen Ejakulationen.<br />

Frauen- und Lesbenfilme sind im Arsenal<br />

hervorgehoben, die Cine Sisters sowie die<br />

Blickpilotin bemühen sich seit Jahren,<br />

Frauen auf dieTeinwand zu holen.<br />

Haben Sie heute schon einen Film<br />

von einer Frau gesehen? Diese Frage kann<br />

während des jährlich im Herbst stattfindenden<br />

Lesbenfilmfestiv<strong>als</strong> garantiert positiv<br />

beantwortet werden. Das schwullesbische<br />

internationale Filmfestival Verzaubert zeigt<br />

ebenfalls Filme aus aller Welt.<br />

Um die Jahrtausendwende läßt sich ein<br />

trotziger Trend zum Zweitbuch verzeichnen,<br />

l.iteraturveranstaltungen genießen fullhousc<br />

wie das seit diesem Jahr in einer Kirche sich<br />

abspielende Lesbische Quartett beweist. Nach<br />

offiziellem viel trögeren Fernsehvorbild streiten<br />

drei Prominenzen und eine Gästin monatlich<br />

über fünf Bücher und sorgen für<br />

abendfüllende informative Unterhaltung.<br />

Die Idee geht auf die zwei lesbischslen Jungs<br />

dieser Stadt zurück, die den Buchladen<br />

Xronika führen und ihre Kundinnen aufs<br />

charmöseste betreuen. Die Buchhandlung<br />

AnaKoluth organisiert mit dem Lesbenarchiv<br />

Spinnboden zusammen Lesungen. Neuerscheinungen<br />

werden von Cornelia Saxe in<br />

ihrer Reihe Amazonen im EWA vorgestellt,<br />

und neuerdings hält sie im Sonntagsclub<br />

ihren Freitax-Salon mit diversen geladenen<br />

Gästinnen dieser Stadt ab. Etwas weniger<br />

deutschsprachig kommt Tindys Literatursalon<br />

Blue Velvet in der Schokofabrik daher<br />

und lehrt uns andere Sicht- und Hörweisen.<br />

Zum Drink bleibt frau in Kreuzberg gleich<br />

in der Schoko oder geht gern in die Cocktailbar<br />

im Bierhimmel, wo unter anderm Mittwochs<br />

charming Jonny mixt. Gleich nebenan im plüschigen<br />

Roses finden sich Anette Berrund<br />

andere Tunten hinter und vor der Bar. Montags<br />

geht lesbe ins Shambala in den Prenzlauer<br />

Berg, wo in dschungelartigen Räumen<br />

preiswerte exotische Drinks zu Hipper und<br />

Billiard geliefert werden.<br />

In Schöneberg ist das legendäre PE:<br />

Pour Elle periodisches Muß auch für Altberlinerirmen,<br />

wenn sie nicht in der Begine<br />

ihr Hetz- und Lachbedürfnis abdecken kann.<br />

In der Burg Charlottes geht frau nach der<br />

Arbeit zu Karin in dir klitzekleine Bar, um<br />

den Apcritiv zu schlürfen und kehrt oftm<strong>als</strong><br />

auch hierhin zurück, um sich die letzte<br />

Absackerin zu genehmigen. Letztes Jahr<br />

konnte frau noch gegenüber schnell ein<br />

Buch bei Lilith erstehen, die leider nach<br />

20 Jahren schließen mußten. Die Schatulle<br />

ist ein neues Do-So Angebot mit Tiger-Tapeten<br />

und das Stonewall tut im eher bürgerlich<br />

kargen Ambiente alles für das flüssige Wohl.<br />

Die beste Barschlampe Berlins bleibt allerdings<br />

die rote Dagmar vom Wassorturm.<br />

Im ehemaligen Die 2 kann frau beim Billiardspielen<br />

schon fast ausgestorbene Lesben-<br />

Spezies bestaunen und im Sommer inmitten<br />

der Schrebergärten im Grünen sitzen.<br />

Das Tanzbein schwingt frau gern auch<br />

im Standard, zu dem es diverse Abende in<br />

Btigine und Schoko gibt, aber auch in den<br />

Tanzschulen z.B. Walzerlinksgestrickt, die<br />

auch rauschende Damenbälle und Tangonächte<br />

veranstalten. Das auch bei Heteras<br />

se, ...' j Cafe Fatal im SOj6 lädt sonntags<br />

alle Geschlechter zum traditionellen Tanz<br />

ein und sorgt mit einem kleinen Variete für<br />

Unterhaltung. Das SOjß steht mittlerweile<br />

schon für sich selbst mit seinem queeren Programm<br />

und professionellen Gogo-Shows.<br />

Hier finden immer wieder die Jane-Bond-<br />

Parties statt und mittwochs sind Hungrige<br />

Herzen auch bei den schwulen Jungs am<br />

schlagen. Neu sind die ßingo-Nächte dienstags,<br />

die für großes Amüsement mit anschließender<br />

Disco sorgen. Die wirklichen<br />

MegalesbenParties finden aber an unterschiedlichen<br />

Orten statt, haben oftm<strong>als</strong> ein<br />

Motto wie z.B. Emma-Peel- und [ohn-Steed-<br />

Lookalikes. Lesben lassen sich hier gern<br />

begutachten und mit allen Augen ausziehen.<br />

Das Schiff der Frauen aus allen sexuellen<br />

Welten, MS Sanssouci schwimmt auf dem<br />

Wasser und ist im Sommer heißbegehrter<br />

dancefloor für alles, was sich weiblich gibt.<br />

Der ChitChat oder die Party MS Titanica finden<br />

hier statt und heißen Lesben und ihre<br />

ganze Familie willkommen, d.h. gentlemen<br />

welcome with ladies. Auch schön, mit diversen<br />

Musikrichtungen (Standard, Tango,<br />

I lousc Groove, Disco) zu verschiedenen<br />

Uhrzeiten.<br />

Die ausnehmlich auf Techno abfährt,<br />

begibt sich zur Zeit ins Schlegel und mischt<br />

sich unters gemischte Volk. Flotte Disco<br />

machen samstags auch das £WA und am<br />

Wochenende Die 2 am Wasserturn und vereinen<br />

in einzigartiger Weise jung und alt,<br />

ost und west, und sonstige scheinbare Geggensätze.<br />

Diven Attacks muß lesbe unregelmäßig<br />

über sich ergehen lassen, die sich bei<br />

guter Musik und Liveacls in der Kalkscheune<br />

abspielen, wo Chantöse Tanja Ries auch zu<br />

ihren speziellen Abenden lädt.<br />

Wenn Body Culture auf dem Muskel<br />

spielt und die gemeinhin schön schlanke<br />

Lesbe ihren Körper attraktiv geshapt und<br />

gestylt haben will, begibt sie sich in einen<br />

der Sportvereine, um jegliche Sportart unter<br />

sich zu betreiben. Seitenwechsel ist ausschließlich<br />

für Lesben, beim Vorspiel trifft frau<br />

sich mit den Jungs. Der Schokosport bietet<br />

auch für jede fast alles und frau kann danach<br />

im türkischen Bad Hamam entspännen.<br />

Selbstverteidigung trainiert frau in der<br />

Hauptstraße, trifft sich hinterher im Cafe<br />

Atemlos. Im Sommer gibt's Fahrradausflüge<br />

von der Cruising-Aera im Tiergarten aus.<br />

der Amazone. Ganzjährig montags gill in<br />

der Eso-Lutzow-Sauna der Partnerinnen-Tarif<br />

Die wirklich auch relaxen will, findet in der<br />

liebevoll gestalteten Sauna auch ein Schwimmbad<br />

zum Reintauchen und sich wohlfühen.<br />

Während die Regenbogenforellen zum Bahnen<br />

abreißen ihre Puste brauchen, läßt der Heart-<br />

Chor die Luft 3- bis 7-stimmig raus. Der Lesbenchor<br />

singt a capella und wird im Herbst<br />

neben dem Neuen Berliner Damenchor und<br />

anderen beim LO. bundesweiten Treffen der<br />

Frauen- und Lesbenchöre zu hören sein. »


FEUILLETON<br />

^1999


Fl-'UII.I F1ON<br />

Emma l'fd rechte Scitr: lauru Mtritt in ihrem Sexpertinnrnsulw<br />

'<br />

K


FEUILLETON<br />

2lr999 7.i


FEUILLETON 6<br />

Rund um den Körper, Stimmungen und<br />

Gefühle geht's auch bei Sexdusivitäten. Im<br />

ITC i tags-Dame n-Salon von Laura Meritt<br />

gesellt frau sich bei Cafe und Likörchen<br />

zum Tratsch über die letzten Affairen, den<br />

otnirnösen G-Punkt, die Funktionalität von<br />

Sextoys, Pornos oder das l.iebcslcben von<br />

Hillary. |e nach Begehren kann frau sich hier<br />

nicht nur einen Dildo besorgen, sondern<br />

auch noch die passende Frau dazu, zum<br />

Unkosten preis von 150 DM). »Sehnsucht<br />

nach Berührung« haben viele Frauen und<br />

im Darkroom des Sonntug... und danach in die Btgine«, wirbt diese<br />

ihre weiblichen Gästinnen, l her kann frau<br />

seit der Neubewirtschaft auch lecker essen<br />

und seit neuestem eine Romanze bei einem<br />

»Candlelight-Dinner« verführen. Im ersten<br />

vegetarischen und ehem<strong>als</strong> auch von Lesben<br />

betriebenen Restaurant Caß V. ist das etwas<br />

preiswerterrnöglich. Der Laden ist jetzt in<br />

türkischer I;amilienhand, die sich ihrer lesbischen<br />

Kundschaft auf das reizendste mit<br />

grüßen Portionen annehmen. Im Lotus ißt<br />

frau mexikanisch und kann sich schon im<br />

l rühjahr ein windstilles Sonnenplätzchen<br />

auf dem Marheinekeplatz für den i. Outdoor-<br />

Milchkaffe sichern. Fein dinnieren mit der<br />

Geliebten oder auch den Fltern ist irn Bluf<br />

Cönt in der Weiberwirtschafl angesagt. In<br />

einer lockeren Atmosphäre tragen die beiden<br />

Chefinnen und ihre ansprechenden Mitarbeiterinnen<br />

ganz ohne Schurzchen ihre<br />

delikaten Speisen, vegetarisch und Fisch<br />

sowie Neulandfleisch auf. Frühstücken läfst<br />

sich freitags im Frieda, am Wochenende im<br />

l-'nmtnhotfl Artftnisia und immer am letzten<br />

Sonntag ab 12 in der AHA, aber auch im Rat<br />

und Tal (RuT), wo sich die sogenannten ältelen<br />

Damen ein Stelldichein geben.<br />

Ausgezeichnetes Essen mit Rahmenprogramm<br />

bietet auch Mahides KKVVan.<br />

Sie kann nicht nur selbst ökologisch, auf<br />

Wunsch auch sehr preiswert Menüs zusammenstellen<br />

und Verpflegung für Veranslallungen<br />

organisieren. Ist beispielsweise eine<br />

afrikanische Küche gewünscht, managt sie<br />

gleich die afrikanischen Köchinnen und<br />

sonstige Personen dazu.<br />

Erholung in der Nacht findet frau im<br />

Frauenhotel Artemisia und im neu eröffneten<br />

Intermezzo. Im erateren sind die Zimmer<br />

nach berühmten Frauen gestaltet,<br />

immer wieder Ausstellungen zu beäugen<br />

und im Sonrner auf einer wunderschönen<br />

Dachterrasse ein Drink und die Aussicht<br />

zu genießen.<br />

KULTUR<br />

Bar jeder Vernunft, Schaperstr. 24, Tel. 248 83 15 82<br />

Grüner Salon, Rosa-Luxemburg Platz, Tel. 472 36 87<br />

BKA, Mehringdamm 34<br />

Begine, Potsdamer Str. 139, Tel. 215 43 25<br />

Schoko. Marianrtenstr. 6, Tel. 615 15 61<br />

Verborgenes Museum, Schlüterstr. yo.Tel. 313 36 56<br />

Schwules Museum, Mehringdamm 61, Tel. 693 11 72<br />

Kino Xenon, Kolonnenstr. 5-6, Tel. 782 88 50<br />

Blickpilotin, Ritterstr. n, Tel. 615 92 71<br />

Buchh. Chronika, Bergmannstr. 26, Tel. 693 42 69<br />

AnaKoluth, K.-Liebknechts Str. 13, Tel. 247 269 03<br />

Spinnboden, Anktamer Str. 38, Tel. 448 58 48<br />

EWA, Prenzlauer Allee 6, Tel. 442 55 42<br />

Sonntagsclub, Greifenhagener Str. 28, Tel. 449 7590<br />

ESSEN UNDTRINKEN<br />

AHA, Mehringdamm 57, Tel. 692 36 oo<br />

RuT, Schillerpromenade i, Tel. 621 47<br />

Shambala, Greifenhagener Str. 12, Tel. 447 62 26<br />

Roses, Oranienstr. 187, Tel. 615 65 79<br />

Pour Elle, Kalckreuthstr. 10, Tel. 218 75 33<br />

Cafe V, Lausitzer Platz 12, Tel. 612 45 05<br />

Locus, Marheinekeplatz 4, Tel. 691 56 37<br />

Blue Göut, Anklamer Str. 38, Tel. 448 58 40<br />

Frieda,Proskauer Str. 7, Tel. 422 42 76<br />

Schatulle, Fasanenstr. 40<br />

Die 2, Spandauer Damm 168, Tel. 302 52 60<br />

TANZEN<br />

Begine, Schokofabrik<br />

Cafe Fatal im SO 36, Oranienstr. 190<br />

MS Sanssouci, Göbenufer, T 611 12 55<br />

Walzerlinksgestrickt, Am Tempelhfer Berg 7,<br />

EWA, Die 2<br />

BODYCULTURE<br />

Seitenwechsel, Kulmer Str. 203, Tel. 215 90 oo<br />

Bad Hamam. Mariannenstr., Tel. 615 14 64<br />

Eso-Lützow-Sauna, Lützowstraße<br />

Sexclusivitäten, Fürbringerstr. 2, Tel. 693 66 66<br />

SCHLAFEN<br />

Hotel Artemesia, Brandenburgische Str. 18, Tel. 873 89 05<br />

Hotel Intermezzo, An der Kolonnade 14, Tel. 22 48 90 96<br />

Wer jetzt noth darüber klagt, dafs sie zu<br />

wenig jungen Mannsweiber, alten Lesben,<br />

behinderten Mädels, schwarzern Frauentheater,<br />

Komikcrinnen, Asiatinnen und<br />

linkshändige Türkinnen begegnet, der sei<br />

getrost versichert: sie existieren. Es ist nur<br />

eine Frage von gewußt wo! It's a wonderfull<br />

queer world. Und Berlin hat da so einiges<br />

zu bieten!<br />

und andere örtfichkeiten<br />

können jeden Freitagabend<br />

mit Compania<br />

aufgesucht werden<br />

Tel. 443 587 04<br />

1


Ana<br />

KOLUTH<br />

Buchhandlung<br />

BÜCHERTIPS<br />

Karl-Liebfcnecht-Str. 13,<br />

10178 Berlin<br />

Fön: 050 / 247 269 03<br />

Fax. 030 7 Z47 269 04<br />

Hauptsache<br />

weit weg<br />

»Hauptsache weit weg<br />

Die Faszination exotischer Länder, der<br />

Reiz des Abenteuers, die Möglichkeit, aus<br />

Zwängen des gesellschaftlichen und häuslichen<br />

Lebens aufzubrechen waren und<br />

sind Gründe für Frauen zum Aufbruch in<br />

die Ferne zu anderen Kulturen. Susanne<br />

Aeckerle stellt n Frauen aus drei Jahrhunderten<br />

vor, die über längere Zeiträume in<br />

der Wüste, am Polarkreis, im Dschungel<br />

lebten, liebten, arbeiteten, forschten: Daisy<br />

Bates bei den Aborigines, Diane Fossey bei<br />

den Gorillas in Ruanda, Sophie Caratini<br />

bei den Nomaden in Mauretanien, Carmen<br />

Rohrbach bei den Indios in Ecuador, Christiane<br />

Ritter auf Spitzbergen.<br />

Go and fly away!<br />

Piper Verlag 16.90 DM<br />

»Women's Links<br />

Das kommentierte Internet-<br />

Adressbuch 2000«<br />

Wie findet frau im Internetdschungcl die<br />

frauenspezifischen Homepages? Welche<br />

Datenbanken sind für sie interessant? Wo<br />

kann sie Frauenbücher bestellen? Wie funktioniert<br />

die Chat-Kommunikation? Women's<br />

Links gibt Benutzerinnen das Basiswissen<br />

zum Umgang mit dem Internet: Informationen<br />

zu Server, eMail, Webseiten, Suchmaschinen,<br />

Internet Relay Chat. Im thematisch<br />

zusammengefaßten Adressteil mit<br />

über 1000 internationale Sites kann sich<br />

frau auf die für sie relevanten Webadressen<br />

zurückgreifen: Kunst, Kultur, Gesundheit.<br />

Frauenforschung, Lesben, Reisen, Bibliotheken,<br />

Job-Datenbanken, Zeitschriften ...<br />

Annemarie Schwarzenbach:<br />

»Das Leben zerfetzt sich mir<br />

in tausend Stücke«<br />

Areli Georgadou erzählt die Lebensgeschichte<br />

dieser ungewöhnlichen, intelligenten,<br />

hochbegabten und attraktiven<br />

Schweizerin, einer rastlosen Frau, die<br />

gerne unterwegs und auf Reisen war.<br />

Die enge Freundin von Erika und Klaus<br />

Mann, die in das wilde Berliner Nachtleben<br />

der Zwanziger Jahre eintauchte,<br />

immer auf der Flucht vor der dominanten<br />

Mutter, kannte die verführerischen<br />

Momente des Morphiums ebenso wie<br />

die Qualen des Entzuges. Bereits im<br />

Alter von 34 Jahren stirbt sie an den<br />

Folgen eines tragischen Unfalls.<br />

Wiederentdeckt und neuaufgelegt<br />

wurde die Autorin von dem Schweizer<br />

Lenos-Verlag:<br />

Annemarie Schwarzenbach:<br />

»Wie lange hause ich schon<br />

an den äußeren Flüssen des Paradieses?«<br />

Limitierte Auflage! Lenos Verlag 29.00 DM<br />

Susanne Meyer, Orlanda Frauenverlag<br />

ohne CD-Rom 24.80 DM<br />

mit CD-Rom 44.00 DM<br />

2)1999 75


GtSUNDHEIT<br />

Urin<br />

ir aju_er<br />

Murfae<br />

von Manfred Kriener<br />

Ein Schlückchen Natursekt gefällig?<br />

300 Heifbehandler in Deutschland<br />

verordnen ihren Patienten regelmäßig<br />

Urintherapient die Journalistin<br />

Carmen Thomas brach ein<br />

Tabu und schrieb über die Kraft<br />

im eigenen Saft. Ihre Gebrauchsanweisung<br />

wurde ein Renner,<br />

27 Bücher sind seitdem in sechs<br />

Jahren zum Thema erschienen -<br />

mit Millionenauflage. Und im Mai<br />

tagte der 2. Welt-Urin- Kongreß in<br />

Deutschland. Hohe Zeit* sich den<br />

»himmlischen Nektar« aus der<br />

körpereigenen Apotheke genauer<br />

anzusehen.<br />

lilli K. aus Feusdorf-[ünkerath tut es,<br />

Quique Palladino aus New York tut es, und<br />

Volker Moritz aus Bielefeld tut es. Auch der<br />

frühere indische Ministerpräsident Morarji<br />

Dcsai und die Schauspielerin Sarall Miles<br />

tun es. Sie alle fangen nach dem Aufstehen<br />

den Mittelstrahl ihres ersten Urins auf und<br />

trinken, »guten Morgen!«, furchtlos ein Tässchen<br />

auf nüchternen Magen. Oder sie nehmen<br />

es <strong>als</strong> Gesichtswasser, träufeln es in<br />

entzündete Augen und Ohren, ziehen es<br />

durch die Nase, sie gurgeln und massieren,<br />

klistieren, tupfen und legen vom goldenen<br />

Strahl getränkte Kompressen auf. Urintherapie:<br />

Das Pipi <strong>als</strong> Medizin.<br />

Wer seine emotionale1 Abwehr gegen ein<br />

Ausscheidungsprodukt noch nicht überwunden<br />

hat, fängt mit äußeren Anwendungen an<br />

und trinkt zur Unterstützung nur ein paar<br />

Tröpfchen, in Fruchtsaft aufgelöst oder mit<br />

Honig gemildert. Allmählich steigt dann die<br />

Dosis und irgendwann passiert es: Der erste<br />

Schluck aus der »körpereigenen Apotheke«<br />

rinnt den H<strong>als</strong> hinunter.<br />

Wie sich das berühmte erste Mal anfühlt,<br />

hat uns Frauke Liebermann {--"} eindrücklich<br />

geschildert. Die Patientin eines Berliner<br />

Heilpraktikers leidet seit Jahren an chronischen<br />

Verdauungsbeschwerden und wollte<br />

es mal probieren. »Ich habe das Glas immer<br />

wieder in die Hand genommen und überlegt.<br />

Dann habe ich den Urin gegen meine Lippen<br />

laufen lassen, ohne zu trinken, bis ich mit<br />

geschlossenen Augen einen kleinen Schluck<br />

genommen habe.« »Salzig« habe es geschmeckt<br />

und »sehr warm«. Andere Trinker<br />

fühlten sich an Meerwasser oder eine kräftige<br />

Bouillon erinnert.<br />

»Hustensäfte schmecken erheblich<br />

scheußlicher«, sagt der Arzt und Harnspezialist<br />

Johann Abele. Er empfiehlt eine<br />

andere Methode zur Annäherung: Zuerst<br />

den Urin über die Fingerspitzen laufen lassen,<br />

ein bißchen einmassieren, ein wenig<br />

dran rumlecken, dann mit einem kleinen<br />

Schluck den Mund ausspülen, wieder ausspucken<br />

und später »einen Fingerhut voll«,<br />

mit einigen Tropfen Zitronensaft aromatisiert,<br />

hinunterschlucken. Irgendwann, glaubt<br />

Abele, schafft man einen ganzen »Whisky«,<br />

vielleicht sogar einen doppelten.<br />

Die Gebrauchsanweisung findet sich in<br />

Abeles Buch »Eigenharnbehandlung«, einer<br />

von vielen einschlägigen Ratgebern, die seit<br />

dem Schicks<strong>als</strong>jahr 1993 erschienen sind. In<br />

jenem Jahr schrill die Kölner Journalistin<br />

Carmen Thomas tabubrechend voran und<br />

veröffentlichte ihr erstes Urinbuch: »Ein<br />

ganz besonderer Saft«. Mehrere Verlage hatten<br />

das Manuskript dankend abgelehnt, bis<br />

die Kölner Verlagsgesellschaft VGS das richtige<br />

Naschen hatte. Ergebnis: Das Buch wurde<br />

bis heute in 38 Auflagen mehr <strong>als</strong> eine Million<br />

mal verkauft. Es ist das erfolgreichste<br />

Sachbuch der Bundesrepublik Deutschland<br />

nach dem 2. Weltkrieg. Nur Telefon- und<br />

Postlcitzahlbücher gehen besser. Carmen<br />

Thomas hat die Deutschen aufs Töpfchen<br />

geschickt und damit alle Rekorde gebrochen.<br />

Und dies, obwohl die meisten großen<br />

Zeitungen jede Besprechung des Pinkel-<br />

Bandes ablehnten.<br />

Die Autorin löste ein Beben aus, das mit<br />

keuchenden Postboten und einer Flut von<br />

mehr <strong>als</strong> zehntausend Leserzuschriften von<br />

den Philippinen bis Castrop-Rauxel begann.<br />

Inzwischen sind 27 Bücher zum Thema im<br />

deutschsprachigen Raum erschienen, in<br />

Indien fand eine erste Welt-Urin-Konferenz<br />

statt, und in Deutschland wirbt das 1996<br />

gegründete »Institut für Eigenharnbehandlung«<br />

(IfE) zeitgemäß im Internet für den<br />

»göttlichen Nektar«. Vorläufiger Höhepunkt:<br />

Im Mai dieses Jahres werden sich Urtntherapeuten<br />

aus aller Welt im hessischen Gersfeld<br />

zur zweiten Weltkonferenz treffen.<br />

Auf mehr <strong>als</strong> 300 ist nach Auskunft des IfE<br />

das Kontingent der Naturheilkundler angewachsen,<br />

die in der Bundesrepublik ihren<br />

Patienten regelmäßig Urinkuren verordnen.<br />

Andreas Krüger, Leiter einer großen Heilpraktikerschule<br />

in Berlin, empfiehlt allen<br />

Rt'handlern »das, was unten rauskommt« <strong>als</strong><br />

sanfte, preiswerte und uralte Therapiemethode<br />

gezielt einzusetzen. Und weil Krügt-r<br />

von Patienten und Schülern nicht mehr verlangen<br />

will, <strong>als</strong> er selbst zu leisten vermag,<br />

hat er den Kelch nicht ungeleert vorübergehen<br />

lassen und sich angelegentlich schon<br />

mal ein halbes Gläschen gegönnt. Das Problem<br />

ist für ihn nicht die Wirksamkeit der<br />

Methode, sondern der Ekel seiner kranken<br />

Kundschaft. Nur »robuste Patienten«, sagt<br />

Krüger, akzeptieren die Urinverordnung<br />

ohne zu meckern. Der normale Charlottenburger<br />

Bildungsbürger, der in seine Praxis<br />

komme, sei dagegen in der Regel »ein<br />

bißchen pikiert«.<br />

2JI999


GESUNDHEIT<br />

Doch entscheidend sind für Krüger die<br />

therapeutischen Ergebnisse. Vor allem bei<br />

Pilzerkrankungen und Allergien habe er gute<br />

Erfolge. Nicht immer müssen die Kranken<br />

ihre Ausscheidung trinken. Bei Asthma und<br />

Heuschnupfen spritzt Krüger intramuskulär<br />

eine Ideine Dosis sterilen Eigenurin und<br />

erzielt damit »erstaunliche Besserungen«.<br />

Gute Erfahrungen habe er auch bei Ekzemen<br />

und H<strong>als</strong>entzündungen gemacht, die er mit<br />

Urin betupfen oder ausspülen läßt.<br />

Während Krüger das Einsatzfeld des<br />

Goldwassers deutlich absteckt, kennen die<br />

einschlägige.'!! Buchautoren keine Grenzen.<br />

Ob Husten oder Haarausfall, Ischias oder<br />

Impoten/, Typhus oder Tinnitus, der Urin<br />

soll alle Gebrechen lindern. 161 Krankheiten<br />

listet der VGS-Ratgeber »Urin-Therapie von<br />

A bis Z« auf, gegen die der Nektar Genesung<br />

bieten soll. Selbst bei Geisteskrankheiten,<br />

Aids und Krebs werden Urinanwendungen<br />

empfohlen. Mehr noch: Die Anwender<br />

berichten von spektakulären Heilungen.<br />

Aids-Patient Palladmo schildert in dem Buch<br />

»Die goldene Fontäne« des Niederländers<br />

Coen van der Kroon wie seine nekrotischcn<br />

Hautpartien, seine Geschwüre und Erkältungen<br />

verschwanden. Die krebskranke Martha<br />

Christy hat ihre Geschichte ins Internet<br />

gestellt. Mit dem Einsatz der Urintherapie<br />

sei sie nach 30 Jahren ununterbrochener<br />

Krankheit von Tumoren und Menstruationskrämpfen<br />

geheilt worden. Ihr Credo: »Unser<br />

eigener Körper produziert eines der wirksamsten<br />

Naturheilmittel der Menschheit«.<br />

Solche Wunder sind mit großer Skepsis<br />

zu betrachten. »Anekdotisch« nennt die Wissenschalt<br />

Berichte unerklärlicher Genesungen,<br />

die sich um viele Heilverfahren ranken.<br />

Egal ob Geistheiler, Krankheitsbesprecher,<br />

Pendler oder Bach bluten therapeuten: Sie<br />

alle reklamieren für sich, daß sie Menschen<br />

zurückgeholt haben, bei denen Bruder Huin<br />

schon auf der Bettkante saß und fidelte.<br />

Doch seriöse wissenschaftliche Belege fehlen.<br />

Das heißt nicht, daß die Krankengeschichten<br />

frei erfunden wären. In der Regel<br />

sind die Patienlen tatsächlich gesund geworden.<br />

Nur: Niemand weiß warum. Gerade bei<br />

Krebs ist das Phänomen der »Spontanremission«,<br />

der plötzlichen Rückbildung der<br />

Symptome, in Einzelfällen immer wieder<br />

beobachtet worden. Bei einem von 60.000<br />

Fällen verschwinden plötzlich die Tumore,<br />

manchmal in wenigen Tagen. Erst seit den<br />

letzten |ahren wird dieses Phänomen genaueruntersucht.<br />

Viele Patienten glauben,<br />

den Schlüssel für die Krebsbekämpfung<br />

gefunden zu haben, weil sie vor der Remission<br />

sehr viel Joghurt aßen, regelmäßig im<br />

Wald spazieren gingen oder eine Musiktherapie<br />

begannen. Oder eben ihren Urin tranken.<br />

Doch die tatsächliche Ursache der Heilung<br />

bleibt im Dunkeln. Solch unerklärliche Spontanheilungen<br />

werden von vielen Krankheiten<br />

immer wieder berichtet.<br />

Daß Urin eine medizinisch wirksame<br />

Substanz ist, muß allerdings nicht mehr<br />

bewiesen werden. Dafür sprechen ungezählte<br />

Patientenberichte und historische<br />

Belege in den Gesundheitsfibeln aus vielen<br />

Jahrhunderten. Die in spirituellen Kontexten<br />

gerne <strong>als</strong> »Brunnen der Gnade« bezeichnete<br />

Ausscheidung enthält eine Fülle pharmakologisch<br />

interessanter Stoffe wie Mineralien,<br />

Vitamine, Salze, Hormone und Enzyme, aber<br />

auch Antikörper. Nicht nur Naturheilkundler<br />

und ihre Patienten, auch die Pharmaindustrie<br />

sammelt Urin, um daraus Arzneien zu gewinnen.<br />

Der bekannteste und arn besten erforschte<br />

Bestandteil ist Harnstoff (Urea), das<br />

Endpodukl unseres EiweiKsloflwechsels. Seit<br />

mehr <strong>als</strong> 30 Jahren werden Harnstoffzubereitungen<br />

von Hautärzten und Kosmetikern<br />

eingesetzt. Harnstoff gilt <strong>als</strong> Weichmacher,<br />

er erhöht die Wasserbindungsfähigkeit der<br />

Hautzellen, die geschmeidiger und belastbarer<br />

werden. Er lockert die Hornschicht der<br />

Haut und »entschuppt« sie. Harnstoff<br />

verlängert zudem die Lebensdauer der<br />

fipidermiszellen, bremst im Laborversuch<br />

gleichzeitig das Teilungsvermögen von Zellkulturen.<br />

Er stillt den Juckreiz und ist dabei,<br />

wie Doppelblindversuche ergaben, sogar<br />

wirksamer <strong>als</strong> eine 0,5 prozentig dosierte<br />

Kortisonlösung. Besonders wichtig ist seine<br />

»penetrationsfördernde« Eigenschaft: Harnstoffschwächt<br />

die Hornschichtbarriere der<br />

Haut und sorgt dafür, daß andere Arzneimittel<br />

besser durchkommen. Damit hat er <strong>als</strong><br />

Verstärker eine wichtige Funktion in medizinischen<br />

Kombinationspräparaten. Als körpereigene<br />

Substanz wird Harnstoff auch von<br />

Allergikern gut vertragen.<br />

HarnstoiThaltige Cremes und Salben<br />

gehören zum Standardrepertoire der Hautpflege.<br />

Sie glätten die menschliche Hülle,<br />

verbessern Hautfeuchte und Hautrelief, sie<br />

entfernen Warzen und heilen Exzeme. Sie<br />

helfen bei juckenden Entzündungen und<br />

Allergien, bei Schuppenflech.tr, Akne und<br />

Filzbefall. Bei diesen Erkrankungen können<br />

Massagen und Wickel mit Urin, der etwa vier<br />

Prozent Harnstoff enthält, <strong>als</strong>o durchaus<br />

wirksam sein. Aber: »Wir haben doch wunderbar<br />

preiswerte Medikamente mit Harnstoff«,<br />

sagt der Berliner Urologe Prof. Lothar<br />

Weifsbach, der deshalb das Einreihen oder<br />

gar Trinken einer »mit Schlacken und<br />

Abbauprodukten beladenen Körperausscheidung«<br />

einfach nur »fürchterlich« findet.<br />

Für Weißbach ist die Urintherapie ein<br />

Mythos und Aberglaube, der vor allem in<br />

Deutschland, dem »Land der Sagen und<br />

Mythen« auf fruchtbares Terrain stoße. Dieser<br />

Mythos sei nicht einmal ungefährlich.<br />

Bei Harnwegsinfektionen und Niercnbeckenentzündungen<br />

enthalte der Urin<br />

»Keime in hoher Zahl«. Immer wieder hätten<br />

seine Patienten trübe und stinkende Ausscheidungen.<br />

Warum, so fragen sich der<br />

Urologe und viele seiner Kollegen, trinken<br />

gebildete Mitteleuropäer, die sich jahrelang<br />

nach dem Gang aufs Klo stundenlang die<br />

Hände wuschen, plötzlich ihr eigenes Pipi?<br />

Die Verfechter der Urintherapie lassen<br />

die Hinweise auf ästhetisch und hygienisch<br />

unbedenklichere harnstoffhaltige Medikamente<br />

an ihrer ganzheillichen Sichtweise<br />

abprallen. Für sie ist Urin mehr <strong>als</strong> die<br />

Summe einzelner Bestandteile. F,rst Gesamtheit<br />

und Zusammenspiel aller Inhaltsstoffe<br />

mache ihn zur einmaligen Arznei. Sein<br />

Wirkprinzip wird indes von Anwendern und<br />

Autoren höchst unterschiedlich beschrieben.<br />

Am plausibelsten erscheint die Impfstoff-<br />

Theorie: Die im Kranlcheitsprozeß ausgeschiedenen<br />

Substanzen würden dem Körper<br />

durch Trinken oder Einreiben in kleinen<br />

Mengen zurückgegeben. Dadurch werde das<br />

Abwehrsystem des Körpers angeregt. Ryoichi<br />

Nakao, Chairman der i. Weltkonferenz,<br />

vertritt die »Informationshypothese«: Urin<br />

sei eine exakte Informationsquelle und<br />

dokumentiere den jeweiligen Zustand des<br />

Körpers. Die Inhaltsstoffe übermittelten dem<br />

Körper Signale, welche die Selbstheilungskräfle<br />

aktivieren.<br />

Häufig wird die Urinwirkung aber auch<br />

ideologisch umwölkt, es werden vegetarische<br />

Ernährung und Fastenwochen, homöopathische<br />

Kuren und Meditationssitzungen gleich<br />

mit empfohlen. Auch die Ausrichtung nach<br />

Osten bei der morgendlichen Gewinnung<br />

der Arznei gehört in manchen Anleitungen<br />

zum verquasten Theorieinventar. In Veröffentlichungen<br />

des IfE wird die Niere <strong>als</strong> Sitz<br />

der menschlichen »Urenergie« verortet, die<br />

ein entsprechend energiegeladenes Rinnsal<br />

absondere. Zu den Absurditäten gehört auch<br />

ein vom englischen Autor John W. Armstrong<br />

geschilderter Bauer, der seine Gesundheit bis<br />

ins hohe Alter dem täglichen Trunk von zwei<br />

Litern (!) Rinderharn zu verdanken habe.<br />

2I


M o n i-<br />

Solcherart Hokuspokus ist dem Wissenschaftler<br />

Uwe l lohohm ein Graus. Der Zellbiologe<br />

und ßioinformatiker versucht, die<br />

Wirkung des Urins auf der immunologischen<br />

Ebene rein rational zu erklären, denn<br />

»es geht hier nicht um eine Zauberflüssigkeit«.<br />

Durch das Trinken der Ausscheidung<br />

würden »dem Körper vorhandene Antigene<br />

über den Magen ein zweites Mal präsentiert,<br />

und das kann eine lmmunstimulation auslösen«.<br />

Beeindruckt von den Fallberichten in<br />

Carmen Thomas' Buch begann er vor drei<br />

Jahren Fragebögen an Patienten und Rehandler<br />

zu schicken und Erfahrungsberichte zu<br />

sammeln. Obwohl er viele Zusendungen <strong>als</strong><br />

»nicht glaubhaft« aussortieren mußte, ist er<br />

von den Behandlungserfolgen verblüfft. »Die<br />

Leute wenden Urin bei allen möglichen Infekten<br />

und Leiden an, und es gibt tatsächlich<br />

einige erstaunliche Erfolge." Nach seiner vorläufigen<br />

Auswertung wirkt Eigenurin sehr gut<br />

bei Darinpilzen, Neuroderrnitits, Heuschnupfen<br />

und anderen Allergien, l lobohrn ist sicher,<br />

daß sich das möglicherweise vorhandene Heilpotential<br />

im Tierversuch leicht untersuchen<br />

ließe. Doch welcher seriöse Wissenschaftler<br />

will schon mit »Natursekt« experimentieren?<br />

l lobohm: »Da will sich keiner den Ruf ruinieren«.<br />

Sollte sich das Heilpotential bestätigen.<br />

dann, so glaubt der Biologe, könnte man den<br />

Urin zeitgemäß und hygienisch aufbereiten,<br />

von Ammoniak und gelbem Farbstoff befreien<br />

und so die Ekelsclmelle senken.<br />

31-53<br />

4JL»<br />

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Pftra<br />

Wdze.l<br />

Nicht wenige Urinanhänger würden dies<br />

vermutlich <strong>als</strong> Verfremdung und Zerstörung<br />

begreifen. Für sie ist die Urintherapie auch<br />

ein Stück Entdeckung des eigenen Körpers,<br />

die Rückkehr zum Einfachen, Natürlichen<br />

und Unverfälschten. Gegenüber der Hochleistungs-<br />

und Apparatemedizin, gegenüber<br />

Betablockern und monoklonalen Antikörpern<br />

erscheint das eigene güldene Rinnsal<br />

vertraut und milde und individuell /ugeschnitten<br />

wie kein anderes Medikament. So<br />

findet die Irritation über die ungeheuer erfolgreiche,<br />

aber auch <strong>als</strong> bedrohlich und anonym<br />

empfundene moderne technologische Medizin<br />

ihren Ausdruck in der Begeisterung<br />

für den Schluck aus der körpereigenen<br />

Apotheke. Mag der Ekel noch so groß sein.<br />

* Name von der Redaktion geändert, alle andeirn<br />

Nattit-n sind autktntii>th.<br />

Ungefähr die Hälfte des Hintergrundes<br />

belegt ein schneeweißes Tuch, die andere<br />

Hälfte ein saftiger Rasen mit vereinzelten<br />

Sonnensprenkseln. Das Tischtuch ist gedeckt.<br />

Mit Äpfeln und violetten und grünen Weintrauben<br />

auf weißen Tellern, drei bernsteinmarmorierten<br />

Plastikkaffeetassen, Besteck,<br />

einem Edelstahlflachmann im gelben Lederetui,<br />

einer silbernen, aufgeschlagenen und<br />

spiegelnden Dose mit einem Baguette darauf<br />

und einem kleinen Strauß gerade gepflückter<br />

Kleeblümchen. Wo nichts steht, bauscht das<br />

kräftige Gras das Tuch. Stimmung überall,<br />

die Musik aus dem alten Grammophon am<br />

rechten oberen Bildrand glaubt man beinahe,<br />

hören zu können.<br />

Auf diesem Bild gibt es aber auch noch<br />

zwei Frauen, lasziv gelagert zum Teil auf dem<br />

weißen Tuch und zum Teil auf der grünen<br />

Wiese. Aufgestützt auf ihrem Ellenbogen,<br />

beschäftigt sich die mit den in den Spitzen<br />

gelockten kurzen, blonden Haaren, dem<br />

weißen Spitzentop und der schwarzen Seidenhose<br />

mit der Frau mit den brünetten Haaren<br />

im goldenen, mit großen Blumen applizierten<br />

Maxitträgerkleid, die rücklings liegend<br />

den Kopfdirekl im Schofs der anderen gebettet<br />

hat. »Picknick, Long Island« nennt Ellen<br />

von Unwerth ihre Fotografie, tatsächlich ist<br />

es aber eine weitere Variante auf F.duard<br />

Manets »Frühstück im Grünen«, das seit<br />

seiner öffentlichen Präsentation im 19. Jahrhundert<br />

Generationen von Malern und Fotografen<br />

zu den unterschiedlichsten Interpretationen<br />

herausgefordert hat. Bis heute.<br />

Ellen von Unwerth, seit Mitte der 8oer<br />

Jahre so etwas wie ein Shootingstar der Modefotografie,<br />

nachdem sie nach 10 Jahren erfolgreicher<br />

Modelkarriere die Seite der Kameralinse<br />

gewechselt hatte, wird gerne <strong>als</strong> die Fotografin<br />

mit dem »weiblichen Blick« gehandelt.<br />

Selbst der Spifgrl, dem man in Sachen Mode.<br />

Fotografie und einem Blick für diese Dinge<br />

nicht gerade viel zutraut, /eigte anhing letzten<br />

Jahres ein Bild von Ellen von Unwerth mit der<br />

Unterzeile »Frauen-Blick«. Als Pendant mußte<br />

mit dem »Männer-Blick« Helmut Newton herhalten.<br />

Betrachtet man noch einmal Ellen von<br />

Unwerths »Picknick«, müßte man allerdings<br />

konsequenterweise vom »feministischen<br />

Blick« sprechen. Denn sind beim Impressionisten<br />

Manet die Rollen noch auf zwei an-<br />

/|1999


MODH<br />

gezogene Männer und eine nackte Frau im<br />

Vordergrund verleih, sind sie es bei der Fotografin<br />

auf zwei elegant gekleidete Frauen,<br />

deren männliches Objekt der Begierde auf<br />

ein steifes, langes Weißbrot reduziert ist,<br />

das die Blonde der Brünetten genüßlich zwischen<br />

die bordeauxroten Lippen schiebt.<br />

Dem neuen Fotoband von Ellen von<br />

Unwerlh mit dem Titel »Couples« (Paare),<br />

in dem sich auch das »Picknick« befindet,<br />

ist nicht zu entnehmen, ob es sich dabei<br />

um eine Auftrags arbeit fiir eines der großen<br />

Mode-magazine wie Vogue, für die die Fotografin<br />

arbeitet, handelt. Das Buch ist 352 Seiten<br />

dick, kameraschwer und glänzt abgesehen<br />

von einem kurzen Vorwort und einer noch<br />

kürzeren Danksagung mit nichts <strong>als</strong> Bildern<br />

von Paaren. Die könnten unterschiedlich aber<br />

kaum sein. Die einen sind schwarzweiß, wirken<br />

fast wie Filtnstills aus Stummfilmzeiten,<br />

die anderen sind farbig, schrill und grell. Da<br />

ist die junge Frau im Rüschenrock, die wie<br />

auf einem Rokokogemälde von Antoine Watteau<br />

ins Objektiv schaukelt. Oder das kopflose<br />

Götterpaar von Delos, zwei Säulenheilige der<br />

griechischen Klassik. Aber da ist auch die<br />

Frau aus Jaisalmer, deren Kind an ihrer entblößten<br />

Brust nuckelt, sind die beiden kleinen<br />

Mädchen mit eisblauen Zungen, der<br />

Liliputaner und der Junge am Strand mit<br />

Stock, Charme und Melonen, <strong>als</strong> kämen sie<br />

aus einer anderen Zeit Manchmal sieht man<br />

nur zwei Hunde, einmal einen alten Mann<br />

und seinen mickrigen Fisch: Paare eben.<br />

Als Waisenkind in Bayern aufgewachsen,<br />

lebt Ellen von Unwerth heute mit ihrer Tochter<br />

und ihrem Freund in New York. Antisemitismus<br />

harte man ihr 1993 vorgeworfen,<br />

<strong>als</strong> sie für die Vogue die neue Kollektion von<br />

Jean-Paul Gaultier im jüdischen Vierlel von<br />

Brooklyn fotografierte. Ihren Modellen setzte<br />

sie dam<strong>als</strong> die traditionellen männlichen<br />

Kopfbedeckungen der [uden, die Kipa und<br />

die Fellmütze, auf. Auch Schläfenlocken trugen<br />

sie und manche rauchten Zigarren. Peinlich<br />

berührt und erregt waren die gläubigen<br />

Chassidim des Quartiers, vom Antisemitismus<br />

unter dem Deckmantel der Mode war<br />

die Rede. Ellen von Unwerth reagierte mit<br />

Unverständnis: »Das sind doch keine chassidischen<br />

Frauen, sondern reine Phantasieprodukte«,<br />

entgegnctc sie der Kritik.<br />

So schnell landel man <strong>als</strong> Fx-yoer-Kommunardin,<br />

die sie einmal war, in der rechten<br />

Ecke. Doch recht besehen, sind Ellen von<br />

Unwerths Fotografien Produkte des Zufalls,<br />

der Phantasie und einer Bilderwelt, die in<br />

ihrem Kopf lebt. Als im vergangenen Jahr<br />

der Verleger Lothar Schirmer seinen sogenannten<br />

Showroom für seine Fotobildbände<br />

in München mit Fotografien aus einem<br />

anderen Buch von Ellen von Unwerth eröffnete,<br />

sagte er: »Die Affinität von Buchbranche<br />

und Bekleidungsindustrie liegt doch auf der<br />

Hand: Das Buchregalais K leiderschrank der<br />

Seele ist doch ein hübsches Bild.« Eine<br />

schöne Metapher auch für die »Couples«.<br />

Und Schirmer sagte noch etwas: »Mancher<br />

streicht über Rilkes Lyrik, bevor er einschläft,<br />

und denkt, die Zuneigung gelte dem Meister.<br />

Die Haptik gehört untrennbar dazu, wenn<br />

man begreifen will, was einen ergreift.«<br />

Über die »Couples« streift man und die<br />

Zuneigung gilt ihnen und ihrer Meisterin.<br />

Ellen von Unwerth - »Couples«<br />

Schinner/Mosel Verlag, 1999,<br />

^52 Seiten, 193 Abbildungen, 58,- DM.<br />

2)1999


MEDIEN<br />

Margret Lünenborg<br />

Seid wild und unersättlich<br />

Die Zeitpunkte, Berlins einziges frauenkulturpolitisches Radioprogramm wurde 20 Jahre alt. Oft totgesagt, müssen<br />

sich die Macherinnen der Sendung jetzt wieder auf einen heißen Sommer im Kampf um Sendeplätze machen.<br />

»So wünscht es sich insgeheim fast jeder<br />

Journalist: Daß, wenn er eines Tages nicht<br />

mehr schreiben darf, die Leser sich zu Protestzügen<br />

vor dem Redaktionsgebäude formieren,<br />

daß sie Unterschriften sammeln<br />

zugunsten des Verstummten.« So beschrieb<br />

im Mai / 1990 der Tagesspiegel beeindruckt<br />

und zugleich fassungslos den Protest, den<br />

die drohende Einstellung der Sendung<br />

Zeitpunkte in Berlin ausgelöst hatte. Beeindruckt,<br />

weil 6.000 Unterschriften, die von<br />

Frauen und Männern gesammelt und dem<br />

Intendanten überreicht wurden, tatsächlich<br />

jedes normale Maß an Hörer(innen)bindun^<br />

weit übersteigen. Fassungslos, weil dieses<br />

Maß an »Kundinnenbindung« die Chefs des<br />

SFB nur mühsam und äußerst zögerlich hat<br />

dazu bewegen können, den Zeitpunkten weiterhin<br />

einen Platz im Äther einzuräumen.<br />

»Vielleicht«, so resümierte der Tagesspiegel,<br />

»ist nicht nur die Hörfunkstruktur reformbedürftig,<br />

sondern auch die Denkstruktur<br />

mancher Führungspersönlichkeiten.«<br />

Am 6. April feiern die Zeitpunkte ihren<br />

20. Geburtstag. Während dieser Zeit haben<br />

sie diverse Hörfunkreformen des SFß überlebt<br />

- wenn auch mit kontinuierlichen Beeinträchtigungen<br />

durch den Wechsel auf andere<br />

Wellen, Reduzierung des Etats, Verkürzung<br />

und Verschiebung der Sendezeit. Durch all<br />

diese Veränderungen hat eine hartnäckige<br />

Hörerinnengemeinde das frauenpolitische<br />

Magazin begleitet. Deshalb zögert Redakteurin<br />

Birgit Ludwig nicht eine Sekunde mit der<br />

Antwort auf die Frage, was für sie der größte<br />

Erfolg der Sendung in den letzten 20 Jahren<br />

war: »Das außergewöhnlichste Erlebnis waren<br />

die Hörerinnen. Als es uns mal wieder an<br />

den Kragen ging, sind sie in die Sitzung des<br />

Rundfunkrats gezogen und haben dem Intendaten<br />

erklärt: >Die Zeitpunkte sind unser<br />

Radio. Wir lassen uns das nicht wegnehmen.<<br />

Dieses Feedback an uns Macherinnen bedeutete<br />

für die Hörerinnen eine Menge Arbeit.<br />

Und es gehörte auch Mut dazu, das ist schließlich<br />

nicht der einfachste Weg.« Tatsächlich<br />

dürfte es nur wenige Beispiele dafür geben,<br />

daß ein aufklärerisches, emanzipatorisches<br />

Programm so unmittelbar zur Emanzipation<br />

der Hörerinnen beigetragen hat.<br />

S u 2)1999


FRAUEN&ARBHIT<br />

T- -1'wAibÄi*<br />

, *?-<br />

mogiicn<br />

Manchmal fand diese Aufklärung auf<br />

Wegen statt, die erst viel später sichtbar wurden.<br />

Magdalena Kemper, Redakteurin der<br />

ersten Stunde, erzählt, wie sich bis heute<br />

Türen bei Recherchen in Potsdam oder auf<br />

dem brandenburgischen Land offen, wenn<br />

der Name Zeitpunkte fällt. Erst 1989/1990<br />

haben die Redakteurinnen erfahren, wie<br />

intensiv die Sendung im Osten gehört wurde.<br />

Entsprechend engagiert stritten auch Ostberliner<br />

Hörerinnen für den Fortbestand der<br />

Sendung,<br />

Die Zeitpunkte sind in der gesamten<br />

ARD das einzige frauenpolitische Magazin,<br />

das tagesaktuell Politik und Alltag, Kultur<br />

und Wirtschaft, Wissenschaft und Sport aus<br />

der Sicht von Frauen hörbar machen. Dazu<br />

gehören der aktuelle Bericht zur Situation<br />

von Frauen in Afghanistan, das Gespräch mit<br />

Mädchen über die Angst vor dem ersten Mal,<br />

die Betrachtung über die Form des eigenen<br />

Busens, die Glosse zum Khefrauenverschleiß<br />

regierender Politiker und natürlich auch der<br />

unvermeidliche Kommentar zum | 218.<br />

Die Qualität der Sendung mußte in den vergangenen<br />

|ahren leiden, wenn der Redaktionsetat<br />

beharrlich zusammengekürzt wurde.<br />

Themenwochen mit aufwendigen Recherchen<br />

und kunstvoll gebauten Mini-Features<br />

sind heule kaum noch bezahlbar. War in den<br />

Anfangsjahren eine Sendung über Menstruation<br />

ein solch tabubrechender Schock, daß<br />

aufgeregt in der Ge.schäftsleitung darüber<br />

debattiert werden mußte, so werden wir heute<br />

allnachmittäglich mit Talks über Sexualpraktiken<br />

aller Art via Bildschirm konfrontiert.<br />

Die Themen der Zeitpunkte sind heute nicht<br />

mehr exklusiv in dieser Sendung zu finden.<br />

Außergewöhnlich bleibt aber die Machart.<br />

Magdalena Kemper erklärt sich die besondere<br />

Identifikation der Hörerinnen mit<br />

diesem Programm durch die journalistische<br />

Haltung; »Es ist die Art der Ansprache:<br />

Nicht alles besser zu wissen, sich nicht zu<br />

erheben über diejenigen, die man belehren<br />

will, sondern sie ernst nehmen und sich mit<br />

der journalistischen Eitelkeit halbwegs<br />

zurückhalten.«<br />

Fünf Redakteurinnen, zwei Redaktionsassistentinnen<br />

und mehrere dutzend<br />

freie Mitarbeiterinnen gestalten<br />

die Sendung. Mit dem steigenden Alter<br />

der Redakteurinnen haben sich die<br />

Themenschwerpunkte teils verändert:<br />

Spielen heute Lebensmöglichkeiten alter<br />

Menschen im Programm eine größere<br />

Rolle, so hat das auch mit pflegebedüftigen<br />

Eltern von Redakteurinnen und Mitarbeiterinnen<br />

zu tun. Teenager-Themen<br />

rücken durch die Töchter der Macherinnen<br />

ins Programm. Wenn im SFB der<br />

Grundsatz herrscht, freiwerdende Stellen<br />

ersatzlos zu streichen, dann wird<br />

ein personeller Wechsel in der Redaktion<br />

damit unmöglich gemacht.<br />

Und so rüsteten sich die Redakteurinnen<br />

mit dem Fest zum 20. Geburtstag<br />

zugleich für die nächste Runde im<br />

Kampf um die Abschaffung der Sendung.<br />

Erst im September 1997 wurden<br />

gegen den Willen der SFB-Mitarbeiterlnnen<br />

zwei Kulturwellen (radio kultur<br />

und Radio 3) etabliert. Jetzt soll das Rad<br />

wieder zurückgedreht werden. Eine Zusammenlegung<br />

der beiden Wellen ist<br />

geplant. In den intern diskutierten Programmplänen<br />

für die neue Welle tauchen<br />

die Zeitpunkte nicht oder nur <strong>als</strong><br />

Marginalie auf. Der Hörfunkdirektor<br />

Jens Wendland mag sich zu diesen Plänen<br />

zur Zeit gar nicht äußern: »Kein<br />

Kommentar«, bügelt er Anfragen rigoros<br />

ab. Selbst in der Pressestelle des<br />

Senders ist man über diese Verschwiegenheit<br />

irritiert. Volker Schreck bemüht<br />

sich nicht, das Gerücht zu dementieren,<br />

bereits im Sommer 1999 werde auf nur<br />

noch einer Kulturwelle gesendet. Mehr<br />

könne er jedoch nicht sagen. »Seid wild<br />

und unersättlich! fetzt!« Unter diesem<br />

Motlo feiern die Zeitpunkte ihren<br />

Geburtstag - und hoffentlich ihre<br />

Zukunft,<br />

Ihrer» beruflichen Neu- oder Wiedereinstieg<br />

zu organisieren, fällt vielen Frauen schwer.<br />

Selbst qualifizierte Frauen finden sich in<br />

den Anforderungsprofilen der Stelleninserate<br />

häufig nicht wieder, unterschätzen ihre<br />

eigenen Kompetenzen oder sind sich nicht<br />

klar über ihre beruflichen Ziele. Speziell für<br />

erwerbslose Akademikerinnen sowie für<br />

Frauen, die ihr Studium nicht abgeschlossen<br />

haben, bietet der Berliner Verein FRAU<br />

und BERUF deshalb zweimal jährlich einen<br />

zehnwöchigen Informations- und Orientierungskurs<br />

an, Karin Nungeßer sprach mit<br />

vier ehemaligen Kursteilnehmerinnen über<br />

ihre Erfahrungen.<br />

/_-. weibblick: Mit welchen Gefühlen und<br />

V Erwartungen seid Dir in den Orientie-<br />

'£; rungskurs gegangen? Wie war Eure<br />

•"•,'. Ausgangssituation?<br />

(lacht) Völlige Orientierungslosigkeit.<br />

Ich habe immer ganz viele Ideen und es gibt<br />

auch viele Sachen, die ich gerne machen<br />

würde: Schreiben, zum Beispiel, das wäre<br />

mein Traumberuf. Gleichzeitig habe ich<br />

aber genauso viele Ängste, das umzusetzen.<br />

Ich wollte deshalb endlich etwas finden,<br />

was sich tatsächlich realisieren läßt und<br />

wo ich nicht mehr unter meinen Qualifikationen<br />

arbeiten muß in irgendwelchen Jobs,<br />

in denen ich mich zwar sicher fühle, aber<br />

auch schnell frustriert bin.<br />

Ich bin in dem Kurs angekommen<br />

mit einem Gefühl von Bewegungslosigkeit,<br />

weil ich überhaupt nicht wußte, was ich<br />

beruflich machen soll. Das Thema »zu<br />

spät« stand für mich an allererster Stelle:<br />

Ich dachte, ich bin zu alt und habe keine<br />

Chance mehr auf dem Arbeitsmarkt. Mein<br />

Studium hatte ich abgebrochen, und die<br />

Jobs im sozialen Bereich, die ich vor der<br />

Geburt meines Sohnes gemacht hatte,<br />

haben mir zwar halbwegs Spaß gemacht,<br />

aber letztlich bin ich da immer unter meinen<br />

eigenen Möglichkeiten geblieben. »


FRAUENfi-AkHFl l<br />

Meine Hoffnung war schon, mit einem<br />

ganz präzisen Berufsziel vor Augen aus<br />

diesem Kurs rauszukommen.<br />

Ich bin mit nicht allzu hohen<br />

Erwartungen in den Kurs gekommen. Ich<br />

wollte zunächst einmal einen neuen Blick<br />

auf mich selbst bekommen und klären, welchen<br />

Stellenwert Berufstätigkeit überhaupt<br />

für mich hat. Denn Arbeit und Berufstätigkeit<br />

hatten für mich immer einen enorm<br />

hohen Stellenwert, und gleichzeitig hatte ich<br />

das Gefühl, selbst nur irgendwelche Jobs zu<br />

machen, und das hat mein Selbstwertgefühl<br />

ziemlich angekratzt. Von daher war der Kurs<br />

so etwas wie ein erster Schritt, um eine langfristige<br />

Perspektive zu entwickeln.<br />

Ich hatte Sozialarbeit studiert und<br />

danach jahrelang in diesem Bereich gearbeitet,<br />

obwohl mir eigentlich schon zu Beginn<br />

des Studiums klar war, daß das nicht das<br />

Richtige für mich ist. Ich habe öfter die Stellen<br />

gewechselt und in den handwerklichen<br />

Bereich geguckt, aber trotzdem immer weiter<br />

in der Sozialarbeit gearbeitet. Das war eine<br />

ganze Zeit lang einigermaßen okay, aber<br />

nachdem ich meine letzte Stelle gekündigt<br />

hatte und von diesem Kurs erfahren habe,<br />

hatte ich das Bedürfnis, noch mal genauer<br />

hinzuschauen, was ich jetzt machen will. Ich<br />

wollte etwas finden, was für mich sinnvoll<br />

ist, was ich mit mir vereinbaren kann.<br />

Am dem, was Ihr gesagt habt, klingt durch,<br />

wie eng berufliche Orientierung und persönliche<br />

Entwicklung miteinander verknüpft<br />

sind. Welche Rolle spielte das im Kuts?<br />

• i Ich glaube, das war der zentrale Punkt,<br />

daß dieser Kurs sich zunächst sehr weit von<br />

den Ideologien der Arbeitsgesellschaft entfernt<br />

hat. Es ist entspannend, wenn du da<br />

reingehst und erst einmal gefragt wird: Was<br />

wolltest du <strong>als</strong> Kind werden? Welche Vorbilder<br />

hattest du? Welche Träume? Welche<br />

Begabungen? Wo hast du dich sicher<br />

gefühlt? Und das nachdem ich die letzten<br />

zehn |ahre meines Berufslebens das Gefühl<br />

hatte, der Zug ist abgefahren. Meine ganze<br />

Panik war plötzlich weg und statt dessen die<br />

Chance, in aller Ruhe noch einmal auf mich<br />

selber gucken zu können.<br />

Das habe ich ähnlich empfunden.<br />

Denn nach meinen eigenen Wünschen hatte<br />

ich mich gar nicht mehr gefragt, das war<br />

völlig weg. Aber dann kamen liier Sachen<br />

raus, die für mich ganz wichtig sind: Welche<br />

Bedeutung der handwerklich-kreative Bereich<br />

für mich hat, das hatte ich einfach vergessen.<br />

Auf die eigenen Wünsche zu<br />

gucken, fand ich auch wichtig. Sich einmal<br />

diese ganzen Fragen zu stellen: Was ist mir<br />

wichtig im Beruf, was brauche ich zum Beispiel<br />

an Anerkennung? Gleichzeitig habt<br />

ich aber im Kurs gemerkt, daß ich an diesem<br />

Punkt »was will ich wirklich« noch nicht so<br />

recht weiterkomme. Deshalb fand ich es<br />

nachträglich richtig, in der zweiter Phase<br />

davon wegzugehen und statt dessen Handwerkszeug<br />

zu bekommen: Wie schreibe ich<br />

eine Bewerbung, wie gestalte ich meinen<br />

Lebenslauf, was gibt es für Weiterbildungsmöglichketten,<br />

wer sind die Ansprechpartner<br />

dafür - die ganze Palette.<br />

Für mich war das eher ein Schock, ich<br />

hätte da gut eine Woche Pause zwischen den<br />

Blöcken vertragen können. Hilfreich fand ich<br />

in dieser zweiten Phase vor allem die konkreten<br />

Handlungsstrategien, die wir gelernt<br />

haben: Methoden zur Zielplanung, wie das<br />

Mind-Mapping zum Beispiel, oder auch die<br />

Verträge die wir geschlossen haben, um die<br />

»Aufschieberitis« in den Griff zu bekommen,<br />

überhaupt diese ganze »Politik der kleinen<br />

Schritte«. Das sind für mich Sachen, die ich<br />

gut in meinen Alltag integrieren kann und<br />

die ich unbedingt weitermachen möchte.<br />

Ihr habt ja im Kurs auch Euer eigenes »Kompetenzkonto*<br />

erstellt Wie seid Ihr da vorgegangen?<br />

Genau wie zu den anderen Themen<br />

»Kindheitswünsche«, »Vorbilder«, »Zielwegeplanung«<br />

hatten wir Arbeitsblätter, die<br />

jede erstmal für sich bearbeitet hal. Und<br />

dann haben wir uns in Kleingruppen zu dritt<br />

oder viert darüber ausgetauscht. Das war für<br />

mich ungeheuer wichtig: Ich konnte mich<br />

dadurch auf eine Weise betrachten, die ich<br />

alleine nie erreicht hätte.<br />

judit, 42. Ex-Eremdsprachenkorrespondentin,<br />

F.x-Politologie'itudfntin. Idttmfabrikuntin,<br />

nächstes Ziel: Landung im Hier und Jetzt<br />

,:.-.' Das Kompetenzkonto war für mich<br />

wirklich so etwas wie eine Offenbarung.<br />

Statt sich diesem typisch weiblichen Understatement<br />

»Ich bin nichts, ich hab nichts,<br />

ich kann nichts« hinzugeben, mal hinzugehen<br />

und sich zu fragen: Welche Probleme<br />

habe ich in meinem Leben schon gelöst,<br />

wie gehe ich da ran, welche Fähigkeiten<br />

habe ich schon entwickelt, wo stecken<br />

meine Kompetenzen, wo hab ich sie verborgen?<br />

Das ist mir im ersten Moment<br />

gar nicht so gelungen, aber es hat bei mir<br />

eine Langzeitwirkimg enlwickelt.<br />

Wie wichtig war es da Tür Euch, ausschließlich<br />

unter Frauen zu sein?<br />

l Ike: Das war ein entscheidender Punkt.<br />

Schon bei der Vorstellungsrunde am ersten<br />

Tag war es schön zu sehen, daß ich mit meinen<br />

Selbstzweifeln nicht alleine dastehe. Daß<br />

hat mich erstmal überrascht, wie frauenspezifisch<br />

dieses Problem ist. Und dann waren<br />

die vielen Gemeinsamkeiten auch eine ganz<br />

wichtige Basis für die Offenheit und den<br />

Respekt, den wir uns gegenseitig entgegengebracht<br />

haben.<br />

!'•• Das habe ich auch so erlebt: Für<br />

mich war diese Gruppe seit langer Zeit, die<br />

erste schöne Gruppe, und das lag auch an<br />

dieser Offenheit und diesem Vertrauen<br />

untereinander. Aber einen ganz wichtigen<br />

Anteil an dem, was da in Gang gekommen<br />

ist, hatten für mich auch die beiden Dozentinnen.<br />

Sie sind nicht nur fachlich kompetent,<br />

sie haben auch eine Begabung, jede<br />

Frau an ihre persönlichen Knackpunkte zu<br />

bringen.<br />

Annette, 32, Ex-Verwaltungsbeamtin, abgebrochenes<br />

Biologiestudium, schlägt sich mit<br />

diversen Jobs durch, nächstes Ziel: Urlaub<br />

2I'999


FRAUI-NnAKBriT<br />

Ich seh das genauso: Die Beiden sind<br />

klasse und haben ein tolles Konzept für ihre<br />

/ielgruppe. Aber daß sich die ganze Gruppe<br />

auf so einen Prozeß einläßt, ohne daß es<br />

dabei Widerstände gegen den intensiven<br />

Umgang mit den eigenen Wünschen, Hoffnungen<br />

und Ängsten gibt, das kkippi,<br />

glaube ich, so nur unter Frauen.<br />

U'h finde das auch aus dem Grunde<br />

wichtig, weil Frauenberufstätigkeit noch<br />

keine lange Geschichte hat und viele Frauen<br />

auch aus diesem Grund bestimmte Schwierigkeiten<br />

haben, beruflich ihren eigenen Weg<br />

zu finden. In meiner Familie haben zwar alle<br />

Frauen gearbeitet, aber sie sind dazu nicht<br />

aus dem Haus gegangen und waren nicht in<br />

diesem Sinne berufstätig. Da gibt es <strong>als</strong>o<br />

keine Vorbilder, an denen ich mich orientieren<br />

könnte, ich muß mir da selber was schaffen.<br />

Wenn Ihr Eure Situation, <strong>als</strong> Ihr in den Kurs<br />

gekommen seid, mit dem verglicht, wo Ihr<br />

heute steht, was hat sich da für Euch verändert?<br />

Ich weiß jetzt, was ich nicht<br />

machen werde. Ich halte mich jetzt nicht<br />

mehr an Stellen auf, die nicht mehr für mich<br />

in Frage kommen. Das ist mir eigentlich erst<br />

bei der Bilanz am Ende des Kurses deutlich<br />

geworden, daß ich mich von ganz bestimmten<br />

Dingen verabschiedet habe: Ich möchte<br />

zum Beispiel nicht mehr Berufsanfängerin<br />

im handwerklichen Bereich sein, ich möchte<br />

eine bestimmte Summe Geld verdienen<br />

und mich nicht auf Dauer körperlich überanstrengen.<br />

Und mir ist auch klargeworden,<br />

daß ich einen beruflichen Werdegang habe,<br />

mit dem ich recht gut dastehe und den ich<br />

gerne mit rübernehmen möchte in diese<br />

neue Berufstätigkeit, den ich aber auch ein<br />

Stück weit hinter mir lassen möchte.<br />

Ich bin an meine Knackpunkte herangeführt<br />

worden: Ich weiß jetzt, wo bei mir<br />

der Hase im Pfeffer liegt, daß ich mit meiner<br />

Berufswahl nicht weiterkomme und warum<br />

ich mich in Bewerbungen nicht so darstellen<br />

kann, wie ich das gerne möchte. Gleichzeitig<br />

hat mich dieser Kurs erstm<strong>als</strong> total entlastet<br />

von dem Druck, jetzt unbedingt und sofort<br />

eine berufliche Perspektive entwickeln zu<br />

müssen. Ich hatte zum Beispiel ewig keinen<br />

Urlaub gemacht, weil ich immer das Gefühl<br />

hatte, ich habe das gar nicht verdient. Jetzt ist<br />

mir klargeworden, wieviel ich in den letzten<br />

sechs Jahren gearbeitet habe und daß ich es<br />

Henrike, 41, Ex-Sozialarbeiterin,<br />

lebt mit Hund Paul, 13, gestattet sich<br />

eine Schaffenspause.<br />

mir sehr wohl erlauben kann, in Urlaub<br />

zu fahren und richtig zu entspannen.<br />

Und dann sehe ich weiter,<br />

Wichtig für mich war, meinen eigenen<br />

negativen Gedanken üufdie Schliche<br />

zu kommen: Wo boykottiere ich mich, wie<br />

mache ich mir selbst das Leben schwer und<br />

auch die Berufswahl? Beruflich kann ich,<br />

ähnlich wie Henrike, jetzt sehr viel konkreter<br />

sagen, was ich nicht will: Ich habe keine<br />

grolse Karriere vor, ich habe meine Grenzen,<br />

mehr <strong>als</strong> fünfundzwanzig Stunden wöchentlich<br />

kann ich zur Zeit nicht arbeiten, weil<br />

ich ein kleines Kind habe. Aber es gibt auch<br />

noch ein paar Wünsche: Ich hätte gerne ein<br />

abgeschlossenes Studium, da merke ich einfach,<br />

das muß ich klären: Ist das so wichtig<br />

für mich und weshalb ist das so wichtig?<br />

Krieg ich das noch hin? Gleichzeitig gibt es<br />

bei mir diesen künstlerisch-handwerklichen<br />

Bereich, den ich in irgendeiner Form umsetzen<br />

möchte. Ob beruflich oder privat, das<br />

weiß ich noch nicht, aber der Wunsch ist<br />

da, und ich weiß jetzt, wenn ich den einfach<br />

zur Seite schiebe, geht es mir schlecht.<br />

Elke, 39, lebt mit Sohn, i */2, und Freund,<br />

29, zusammen, Ex-Raumausstatterin<br />

Ex-Angestellte im Erziehungsdienst<br />

(j jähre »lit'hindfrte.n«-Arbeit). Abitur<br />

auf dem 2. Bildungsweg, unvollendetes<br />

Studium der Landschaßsplanung<br />

Mir war wichtig, diese Unterscheidung<br />

klarzukriegen, zwischen meinen Vorstellungen<br />

bigger than liß und einem Beruf,<br />

der mich im Hier und Jetzt hält. Beruf ist<br />

für mich jetzt etwas, womit ich mein Geld<br />

verdienen will, und es soll auch ein bißchen<br />

Spaß machen, aber ich definiere mich nicht<br />

mehr darüber. Und deshalb hab ich mir jetzt<br />

einen Umschulungsplatz gesucht im Veranstaltungs-<br />

und Organisationsbereich, auch<br />

weit ich im Kurs gemerkt hab, ich organisiere<br />

gern: Da sind meine Ängste nicht da,<br />

aber jede Menge Kompetenzen.<br />

Der nächste Orientierungskurs beginnt<br />

am 2j. 9. 1999.<br />

Infos und Anmeldung bei:<br />

FRAU und BERUF e.V.<br />

Glogauer Straße 22, 10999<br />

Tel.: (030) 612 ji 35


FINANZEN<br />

St eu.e.xre..£.Q.rm<br />

von<br />

»Finanzminister sind schlaue Füchse,<br />

weil sie ihren Steuern so angenehme Namen<br />

geben wie Solidaritätszuschlag, Krankenhaus-Notopfer<br />

oder Ökosteuer,« so antwortete<br />

eine i3Jährige Schülerin auf eine Umfrage<br />

der Zeitschrift Eltern zum Thema Steuergerechtigkeit<br />

(Eltern-Heft 3/99). Und die neue<br />

Bundesregierung hat sich ohne zu zögern<br />

bemüht, das Urteil zu bestätigen. Am i. April<br />

wurde sie Wirklichkeit, die Ökosteuer.<br />

Damit ist ein großer Schritt in Sachen<br />

Umweltpulilik getan worden. Ökomöbel.<br />

Ökokleidunt;. Ökolebensmitlel, Ökohäuser.<br />

Die Politik liegt voll im Trend. Je mehr Steuern<br />

wir zahlen, desto mehr öko? Nein, Vater<br />

Staat will uns zum richtigen Verhalten leiten,<br />

indem er uns den Anreiz, sozusagen das<br />

Bonbon gibt, Energie einzusparen. Angenommen,<br />

wir würden alle vom Auto aufs<br />

Fahrrad umsteigen, dann wäre zwar das<br />

pädagogische Ziel erreicht, allein der Finanzminister<br />

hatte mit schwindenden Einnahmen<br />

das Nachsehen. Aus dem Dilemma<br />

führt eine Doppelstrategie: Man greife bei<br />

der Namensgebung Bedürfnisse der Bevölkerung<br />

z.B. nach Umweltschutz oder Arbeitsplatzsicherheit<br />

auf, schmücke das Ganze zu<br />

wohlklingenden Bezeichnungen und verbaue<br />

gleichzeitig weitgehend die Möglichkeit,<br />

Steuerzahlungen zu vermeiden (Stichworte:<br />

Arbeitsplatzmobilität und fehlender öffentlicher<br />

Personen nah verkehr außerhalb der<br />

Zentren). Selbstverständlich erinnert niemand<br />

mehr an so veraltete Vorhaben wie<br />

den Abbau der Steuervergünstigung für den<br />

Flugverkehr oder die Verlagerung des Güterverkehrs<br />

aufschiene und Schiff oder die<br />

Förderung erneuerbarer Energiequellen.<br />

Alles Vorhaben, die neben anderen zum<br />

ursprünglichen Konzept der Ökosteuer<br />

gehörten.<br />

—"% ^d*l*fc,<br />

JA<br />

Jf<br />

Uud so können wir dem neuen Finanzminister<br />

einen weiteren Tip mit auf den Weg<br />

geben: Man lasse sich umfangreiche Steuerreformvorschläge<br />

erarbeiten, löse daraus<br />

nach Jahren und Jahrzehnten der öffentlichen<br />

Diskussion einen winzigen Bruchteil,<br />

hänge ihm den ursprünglichen Namen um,<br />

fertig ist der Wolf im Schafspelz.<br />

Die jetzt eingeführte Energiesteuererhöhung<br />

wurde uns damit schmackh;ift<br />

gemacht, daß dadurch Arbeitsplätze gesichert<br />

werden könnten: »Die Energie teurer<br />

und Arbeit billiger machen«, lautete das<br />

Motto. Nun sind Steuern grundsätzlich nicht<br />

zweckgebunden, sondern wandern mit anderen<br />

Steuerarten in einen Topf. Und von ihrer<br />

Definition her sind es Zahlungen ohne<br />

Gegenleistung. Das heißt, würden wir ein<br />

Recht, einen Anspruch oder eine andere<br />

Gegenleistung erhalten, kann es sich dabei<br />

nicht um Steuern handeln. Das Versprechen,<br />

für eine Steuererhöhung beispielsweise die<br />

Rentenversicherungsbeiträge herabzusetzen,<br />

ist paradox. Denn ist die Zusicherung wahr,<br />

können es keine Steuern sein, sind es aber<br />

Steuern, kann das Versprechen nicht von<br />

Dauer sein.<br />

Auch die Neuregelung der geringfügigen<br />

Beschäftigungsverhältnisse, der 63O-Mark-<br />

Jobs, verlangte schlaue Köpfe. Denn einfach<br />

dürfte es nicht gewesen sein, einerseits Sozialversicherungsbeiträge<br />

abzuverlangen,<br />

andererseits keine richtigen Rentenansprüche<br />

entstehen zu lassen. Tapfer wurde<br />

die Hürde genommen. Wir erinnern uns:<br />

Langjährige Forderung der Frauenbewegung<br />

war und ist es, die staatliche Normsetzung<br />

auf den männlichen Familienernährer und<br />

der im Hause waltenden Ehefrau, die geringfügig<br />

dazuverdient, zu beenden. Das Ehegattensplitting<br />

im Einkommensteuerrecht zu<br />

streichen und die gewonnenen Finanzmittel<br />

Familien mit Kindern zugute kommen zu<br />

lassen, waren ebenfalls vorgesehen. Damit<br />

würde die Lohnsteuerklasse V wegfallen. Zu<br />

diesem Konzept zählte auch die Einführung<br />

Kritische Anmerkungen zur<br />

rot-grünen Steuer-politik<br />

/*v?,'*,..... .'...::.. :;; «*.. .: r-i<br />

Marianne Schwan<br />

T 11 T* ci C* ^ l r9 11 (P<br />

*~*" ^*^i<br />

«••-^ B*«***<br />

O O<br />

der Sozialversicherungspflicht für geringfügig<br />

entlohnt Beschäftigte, damit Frauen<br />

nach einem arbeitsreichen Leben einen ausreichenden<br />

Rentenanspruch haben. Mit der<br />

jetzt umgesetzten Neuregelung hat die rotgrüne<br />

Koalition ihre Befähigung zur Regierung<br />

und Verantwortung unter Beweis<br />

gestellt. Es wurde eine Reform geschaffen,<br />

mit der die Nachteile für Millionen Frauen<br />

im wesentlichen beibehalten, und das<br />

Ganze noch aufwendiger, noch bürokratischer<br />

geregelt wurde.<br />

Heute sollen 80 Prozent der Steuerfachliteratur<br />

der Welt in deutscher Sprache verfaßt<br />

sein. Daraufsind unsere Repräsentanten<br />

zu Recht Stolz, denn in keinem anderen<br />

Land der Welt beschafft der Staat dem Volke<br />

soviel Arbeit. Damit Bürgerinnen und Burger<br />

auch in Zukunft kraftvoll Steuern sparen<br />

können, widmet sich die Politik ohne zu<br />

ruhen der nächsten Herausforderung - der<br />

ganz großen Steuerreform. Inzwischen ist<br />

das Steuerrecht so umfangreich, verworren,<br />

widersprüchlich und genial ungerecht, daß<br />

selbst Fachleute den Durchblick verlieren.<br />

Niemand kann mehr behaupten, sich im<br />

Steuerrecht auszukennen. Und so können<br />

wir der Politik nur raten, ohne Unterlaß am<br />

Weiter-so festzuhalten, so daß wir künftig<br />

nicht mehr ohne die Hilfe gleich mehrerer<br />

Steuer-Spezialis t Innen auskommen können.<br />

Eine Beraterin für den Paragrafen 4 Absatz 2<br />

Nr. 3 des Umsatzsteuergesetzes und einen<br />

Spezialisten für den Paragrafen 26 b des Einkommensteuergesetzes.<br />

Mit solchen sinnvollen<br />

Arbeitsbescharfungsniaßnahmen wird<br />

Deutschland seine europa-, ja weltweite Vorbild<br />

f'i m ktion ausbauen, und den Standort<br />

Deutschland richtungsweisend stabilisieren.<br />

2)1999


FINANZEN<br />

DD5344727S5<br />

Claudia von Zglinicki<br />

-t *» ^M


FINANZEN<br />

Einer der beiden Berliner Ur-Clubs trifft<br />

sich montags, der andere dienstags, immer<br />

einmal im Monat. Acht weitere Clubs sind<br />

inzwischen entstanden. In allen treffen sich<br />

Frauen unterschiedlicher Generationen. In<br />

Berlin ist die zur Zeit älteste Aktienlady Jahrgang<br />

1919, die jüngste knapp über Zwanzig.<br />

Verschiedene Motive treiben die Frauen in<br />

die Gruppe, nur im Grundsatz wollen sie alle<br />

das Gleiche: ihr Geld gut anlegen und Gewinn<br />

machen, ganz ernsthaft. Es ist kein Spiel,<br />

und dies sind nicht die Damen, die das vom<br />

Gatten herübergereichte Taschengeld vertändeln.<br />

Hier wird gelernt, der Markt beobachtet,<br />

diskutiert und schließlich mit Geld operiert.<br />

Mit eigenem Geld. Es sei immer wieder so,<br />

erzählt Anne Wulf, daß zu Beginn ein Drittel<br />

der Neugründerinnen ziemlich ahnungslos<br />

ist, neugierige Anfängerinnen. Ein Drittel<br />

befaßt sich längst mit Aktien und allem, was<br />

dahintersteht. Das letzte Drittel denkt seit<br />

einiger Zeit über die Börse und ihre Geheimnisse<br />

nach, erschließt sich die Wirtschaftsteile<br />

der Tageszeitungen, hat aber bisher noch nicht<br />

gehandelt. Und dann kommen die Frauen<br />

zusammen und beraten einander. Manchmal<br />

laden sie sich eine Expertin der gastgebenden<br />

Banken zu einem Vortrag ein.<br />

Aber das verpflichtet keine, Geld in Produkte<br />

dieser Bank zu investieren. Die Kooperation<br />

mit einer Bank ist zu empfehlen, wegen<br />

der auf diese Weise einzusparenden Raummiete<br />

und den zur Verfügung stehenden<br />

Referentinnen. Aber die Gruppe, juristisch<br />

betrachtet eine Gesellschaft bürgerlichen<br />

Rechts, handelt in eigener Verantwortung,<br />

nach gemeinsamer Beratung in der Runde<br />

und gemeinsam gefällter Entscheidung.<br />

Immer wird anfangs ein Einstiegsbeitrag<br />

festgelegt, 300 oder 500 Mark zum Beispiel,<br />

und die monatliche anzulegende Summe.<br />

Bei 50 Mark kann es schon losgehen. Das<br />

Risiko, so Anne Wulf, ist nicht groß. Reich<br />

muß keine sein, um mitzubankern, aber den<br />

Notgroschen sollte auch keine im Club investieren.<br />

Auf die Frage, was Geld für sie ist, hat die<br />

Finanzfrau sofort eine Antwort parat: »Eine<br />

gewisse Freiheit. Das kommt aus meiner<br />

Geschichte. Bei meinem Vater galt der Spruch<br />

»So lange du die Fuße unter diesen Tisch<br />

steckst, tust du, was ich sage«. Da mußte ich<br />

raus. Unabhängig wollte ich werden, und das<br />

ist mir gelungen. Natürlich: Geld ist Macht,<br />

aber da der Begriff Macht negativ besetzt ist,<br />

fällt es uns Frauen schwer zu sagen: »Ich will<br />

Geld. Ich will reich werden. Ich will eine Million.«<br />

Das gilt unter Frauen <strong>als</strong> anstößig.<br />

Dabei ist das gar nicht so vermessen. Gelingt<br />

es mir, Vermögen anzuhäufen, könnte ich<br />

das Geld, das ich übrig habe, dann ja in ein<br />

Projekt stecken, das ich fordern will, zum<br />

Beispiel, wie es in den USA nicht selten<br />

geschieht, in ein Frauencollege.«<br />

Und was bedeutet für Anne Wulf die<br />

Börse? »Das Irre an der Börse ist, daß eigentlich<br />

die Zukunft gehandelt wird.« In direkter<br />

Reaktion auf die Gegenwart allerdings. Tritt<br />

Lafontaine zurück, reagieren die Kurse sofort.<br />

Dann gewinnen auch die Aktienladies,<br />

Gewinn aus einem möglichen politischen<br />

Rückschritt, aus einer unsozialen Politik, aus<br />

Waffengeschäften und Kriegen? Und aus<br />

Massenentlassungen? Schon, räumt Anne<br />

Wulf ein, aber andererseits sieht sie in<br />

Aktien »die einzige Möglichkeit für Arbeitnehmerinnen,<br />

sich positiv am Stellenabbau<br />

zu beteiligen«. Darüber könnte man nun<br />

lange streiten. Es wäre naiv, anzunehmen,<br />

man würde mit zehn VW-Aktien die Politik<br />

des Unternehmens mitbestimmen. Aber die<br />

Abläufe können die Frauen besser verstehen<br />

und nach ihren Einsichten anders handeln.<br />

Denkbar wäre zum Beispiel, ein Produkt zu<br />

boykottieren. Oder sich gegen die Aktien<br />

bestimmter Unternehmen zu entscheiden.<br />

Die Erfahrungen in den Frauen-Aktienclubs<br />

zeigen, daß Frauen vorsichtiger mit<br />

Geld umgehen <strong>als</strong> Männer. Sie wollen genauer<br />

wissen, wo ihr Vermögen investiert ist - und<br />

sei es auch ein sehr kleines, der Begriff ist<br />

relativ. Das weibliche Sicherheitsbedürfnis ist<br />

stärker ausgeprägt, auch der Wunsch, immer<br />

kurzfristig über eine bestimmte Summe verfügen<br />

zu können. Darin spiegelt sich die Alltagserfahrung<br />

wider, aber, so meint Anne<br />

Wulf, auch die Geschichte. Eigene Mittel<br />

haben Frauen eben erst seit kurzem, seit diesem<br />

fahrhundert nämlich, zur Verfügung.<br />

Und noch bis zum Anfang der 8oer Jahre<br />

galt in der Bundesrepublik der sogenannte<br />

Hausfrauenparagraph, nach dem Frauen<br />

allein nur über so viel Geld vom Familienkonto<br />

verfügen konnten, wie für den täglichen<br />

Bedarf nötig war. Eine unglaubliche<br />

Geschichte, und noch gar nicht lange her.<br />

»Verkäuferin aus Leidenschaft« nennt<br />

sich Anne Wulf. Anfangs handelte sie mit<br />

Möbeln, jetzt eben mit Geld, warum nicht?<br />

Sie ist selbst in einem der weiblichen Aktienclubs<br />

engagiert. Dem neuen Club in Dresden<br />

steht sie <strong>als</strong> Beraterin zur Seite.<br />

211999


BILDUNG<br />

Wenn Frauen lesen:<br />

Wiederbegegnyngen und<br />

Rollenangebote<br />

Vor fünfzehn Jahren hielt ich Irmtraud<br />

Morgners »Hexenroman« erstm<strong>als</strong> in den<br />

Händen. Dabei erlebte ich etwas, was die<br />

Morgner detailliert beschrieben hat: Ich<br />

»fragte mich, wie gestorbene Dichter in<br />

einen jetzigen Kopflängen können und aus<br />

der Unordnung herausholen, was der Kopfbesitzer<br />

selbst nicht findet«. Nur daß Irmtraud<br />

Morgner dam<strong>als</strong> noch lebte, und daß<br />

sie kein Dichter war, sondern Dichterin,<br />

Erfinderin von Laura Salman. Die Erfahrung,<br />

mich in der klassischen deutschen Literatur<br />

nur mit männlichen Helden identifizieren<br />

zu können, hatte ich, wie Laura Salman,<br />

gerade gemacht. Allerdings besetzte meine<br />

Deutschlehrerin die Rollen Mephistos und<br />

Fausts bedenkenlos mit den literaturinteressierten<br />

Schülerinnen, obwohl in meiner Abiturklasse<br />

ausreichend junge Männer zur<br />

Verfügung standen, für die Rolle Gretchens<br />

bot sich keine Freiwillige an. Keine von uns<br />

wollte gern die Verführte, ungewollt Schwangere<br />

und im Gefängnis Findende sein, denn<br />

wir pfiffen auf die Aussicht, die Goethe uns<br />

bot: nur im Himmel »gerettet« zu werden.<br />

Die weitaus meisten attraktiven Rollen nicht<br />

einmal nur der klassischen Literatur waren<br />

männlich, jedenfalls die, die ich in der<br />

Schule der siebziger Jahre kennenlernte. Die<br />

Identität der Leserin in diesen Texten blieb<br />

brüchig, denn auf Dauer konnte keine davon<br />

absehen, daß männliche Figuren eben nicht<br />

<strong>als</strong> Menschen, sondern <strong>als</strong> Männer gemeint<br />

waren. Wie sollte es auch anders sein. Den<br />

Einwand, es sei naiv und Schülerinnenhaft,<br />

sich beim Lesen identifizieren zu<br />

wollen, lasse ich dam<strong>als</strong> wie heute nicht<br />

gelten. Zu viele Frauen sind mir begegnet,<br />

die Figuren aus der Literatur nennen,<br />

wenn sie beschreiben, wie sie erwachsen<br />

wurden und politisch zu denken begannen:<br />

Christa T., Laura Salman, Paula,<br />

Franziska Linkerhand, die Frauen aus<br />

Maxie Wanders »Guten Morgen, du<br />

Schöne«... Vorbilder-1 Nein, Personen,<br />

in denen wir uns - menschlich und<br />

politisch - wiederfanden und die deshalb<br />

mehr sind <strong>als</strong> gut erfunden. »<br />

2I'999


BILDUNG<br />

Die Spatzen pfeifen es von den Dächern:<br />

Der >«Leser« ist eif*e Les&rin.<br />

Als 1985 Kinder zwischen 8 und 12 Jahren<br />

befragt wurden, zeigte sich, daß 80 Prozent<br />

der Mädchen, aber nur 61 Prozent der Jungen<br />

täglich oder mehrm<strong>als</strong> pro Woche in ihrer<br />

Freizeit lasen. In einer neueren Studie über<br />

das Leseverhalten von Kindern und Jugendlichen<br />

war das Verhältnis noch deutlicher: 70<br />

Prozent der Jungen, aber nur 30 Prozent der<br />

Mädchen waren »leseabstinent«. 1993 waren<br />

78 Prozent der Frauen, aber nur 67 Prozent<br />

der Männer im weitesten Sinne »Leser«,<br />

Intensiv, <strong>als</strong>o mehrm<strong>als</strong> pro Woche, lasen 42<br />

Prozent der Frauen, gegenüber 31 Prozent<br />

Männern. Und Frauen lesen nicht nur mehr,<br />

sondern auch anders: Etwa ein Drittel aller<br />

lesenden Frauen und Männer lesen nach<br />

einer Studie von Renate Köcher sowohl zur<br />

Unterhaltung <strong>als</strong> auch zur Information.<br />

Doch mit 52 Prozent der Leserinnen<br />

(gegenüber 32 Prozent der Leser) ist die<br />

»Unterhaltung« bei lesenden Frauen deutlich<br />

stärker repräsentiert, während nur n Prozent<br />

der lesenden Frauen (31 Prozent der Männer)<br />

vorwiegend zur Information lesen. Der bewertende<br />

Beigeschmack der Begriffe »Unterhaltung«<br />

und »Information« verkehrt sich leicht,<br />

wenn man sich klarmacht, daß »Informationen«<br />

auch ein Ratgeber über das Reparieren<br />

von Autos bietet, während selbst hochkomplizierte<br />

Lyrik zur »Unterhaltung« gelesen<br />

wird. Aber ich will nicht das Lesen von<br />

Fachliteratur denunzieren, sondern darauf<br />

hinweisen, daß nach allem, was die Studien<br />

des letzten Jahrzehnts ergeben haben, Frauen<br />

schlicht lustvoller lesen. Sich zu bilden oder<br />

durch das Lesen Überlegenheit über andere<br />

zu erreichen, gaben dagegen Männer häutiger<br />

an. Entspannung, das Abtauchen in Phanlasiewelten<br />

und das Miterleben von Gefühlen<br />

ist für Frauen ein wesentliches Motiv beim<br />

Lesen. »Abtauchen in Phantasiewelten« steht<br />

dabei nicht - und schon gar nicht ausschließlich<br />

- für die Flucht aus den Widersprüchen<br />

des alltäglichen Lebens, sondern für die<br />

intensive Auseinandersetzung mit literarischen<br />

Figuren, Identifikation oder Abgren-<br />

7ung. So sind in den letzten beiden<br />

Jahrzehnten gerade im Bereich der klassischen<br />

Unterhaltung mit den sogenannten<br />

Frauenkrimis und mit von Frauen geschriebener<br />

Science Fiction zwei Genres entstanden,<br />

die die soziale und politische Situation von<br />

Frauen differenziert widerspiegeln.<br />

Auch von Männern verfaßte belletristische<br />

Bücher werden - folgt man der Logik<br />

der Statistik - von mehr Frauen <strong>als</strong> Männern<br />

gelesen. Aber ziehen Männer die Frauen <strong>als</strong><br />

Publikum auch in Betracht? Dazu ein Beispiel<br />

und ein Gegenbeispiel:<br />

Als 1982 die Novelle »Der fremde Freund«<br />

von Christoph Mein erschien, wurden Rezensenten<br />

und Leser nicht müde, zu betonen, wie<br />

unglaublich gut Hein sich in die Rolle der<br />

Ich-Erzählerin, einer Ärztin, eingefühlt habe.<br />

Aber auch der »fremde Freund« ist sehr<br />

glaubhaft geschildert, ebenso wie die Verhältnisse<br />

des real existierenden Sozialismus. Ist<br />

es denn nicht selbstverständlich, daß der<br />

Autor sich in die Erzählfigur hineinversetzt,<br />

die er doch selbst gewählt hat? Ist vielleicht<br />

das eigentlich Bemerkenswerte, daß Hein<br />

eine Erzählerin und keinen Erzähler wählte?<br />

Viele Leser und manche Leserinnen stellten<br />

fest, diese Erzählerin sei kühl, beziehungsarm.<br />

Diese Erzählerin beschreibt mehrfach<br />

präzise die Gewalttätigkeit ihres Freundes<br />

gegen sie, bis zur Vergewaltigung. Einmal<br />

schlägt er sie, und sie kommentiert: »... aber<br />

ich weiß auch, daß irgendwann, in irgendeiner<br />

besonders komplizierten und nervösen<br />

Situation jeder Mann schlagen wird. Sie<br />

werden sich gegenüber anderen Männern<br />

zurückhalten können, aber nicht gegen<br />

Frauen und Kinder. (...) Nach der Frau<br />

schlägt man wie nach dem Hund, nebenher.<br />

Notwendige Erziehungsmaßnahme zum<br />

Nutzen des Geschlagenen. Die Umarmung<br />

kann dem Schlag unmittelbar folgen.<br />

Schließlich, man haßt nicht, man rückt nur<br />

etwas gerade.« Leicht vorstellbar, daß ein<br />

männlicher Leser lieber die Kühle der Erzählerin<br />

hervorhebt <strong>als</strong> ihren Realismus. Mehrere<br />

Frauen haben mich auf diese Textstelle<br />

aufmerksam gemacht. Heins Erzählerin ist<br />

deswegen nicht zu ihrem »Vorbild« geworden.<br />

Das Angebot der von ihr mitgeteilten<br />

Erfahrung wurde von den Leserinnen jedoch<br />

wahrgenommen, es war ihnen möglich, in<br />

der Rolle dieser Figur einen - den entscheidenden<br />

- Augenblick lang sich selbst zu<br />

sehen. Hein hat es verstanden, Erfahrungen<br />

von Frauen <strong>als</strong> menschlich, notwendig und<br />

literaturwürdig mitzuteilen und sie in einen<br />

politischen Zusammenhang zu stellen,<br />

Das Gegenbeispiel: Vor einiger Zeit empfahl<br />

mir ein Bekannter den berühmten<br />

»Lolita«-Roman von Nabokov <strong>als</strong> »erotisches<br />

Buch«. »Lolita« wird aus der Sicht von Humbert<br />

erzählt, eines Mannes, der eine »sexuelle<br />

Vorliebe« für Minderjährige hat. Er heiratet<br />

die Mutter einer Zwölfjährigen, ermordet die<br />

Erwachsene und beginnt, das Mädchen jahrelang<br />

zu vergewaltigen, unter dem zynischen<br />

Vorwand einer angeblich »unglücklichen Leidenschaft«.<br />

Dabei ist sich der Täter-Erzähler<br />

die ganze Zeit bewußt, daß er ein Verbrechen<br />

begeht. Bei der Rückgabe des Buches<br />

wies ich darauf hin, wie erstaunlich offen der<br />

Autor Nabokov mit dieser Tatsache verfährt.<br />

Der Mann, der mir das Buch geliehen hatte,<br />

fragte verblüfft, wo das denn stünde? Er habe<br />

,vs 2(1999


BILDUNG<br />

nichts davon gelesen. Auch der Kritiker<br />

Reich-Ranicki schreibt über Nabokov, die<br />

»Beziehung eines reifen Mannes zu einem<br />

zwölfjährigen Mädchen« gebe das »extreme<br />

Beispiel des Glücks und des Unglücks einer<br />

Liebe, die so glücklich und so unglücklich<br />

ist, weil sie sich nicht erfüllen kann«. So<br />

redet, wer sich nicht im Ansatz in die Rolle<br />

des mißhandelten Kindes hineinversetzen<br />

kann oder will. Denn diese Rolle ist für Männer<br />

nicht vorgesehen. Aber müßte sich nicht<br />

auch derjenige distanzieren, der sich in die<br />

Rolle des männlichen Täters versetzt? Die<br />

Leser sprechen von Liebe oder Erotik. Die<br />

Sicht des angeblich Liebenden ist die Sicht<br />

eines Täters, doch sie konnten dies oftcnbar<br />

verdrängen. Frauen aber werden sich dieser<br />

Sichtweise höchstens im Ausnahmefall<br />

anschließen können. Das läßt sich nur unzureichend<br />

damit erklären, daß sie die<br />

Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit<br />

verwischen, sehr gut aber damit, daß der<br />

Inhalt des Romans sie mit Unruhe und<br />

Angst erfüllen muß.<br />

Verwechsle ich nicht dauernd die Texte<br />

mit ihren Inhalten, vielleicht verführt vom<br />

Roman und anderen erzählenden Formen?<br />

Doch auch Gedichte schreiben und lesen<br />

l'raucn anders:<br />

Die Mutter holt Kartoffeln<br />

Die Mutter holt Kartoffeln,<br />

sie schält und schneidet sie.<br />

Die Mutter hat Blumenkohl gekauft,<br />

sie reinigt ihn.<br />

Die Mutter hat Petersilie geholt,<br />

Die Mutter kocht die Kartoffeln und den Kohl<br />

in gesalzenem Wasser.<br />

Die Mutter gibt acht, daß das Wasser<br />

nicht verkocht, das Essen nicht anbrennt.<br />

Die Mutter wartet, bis das Essen gar ist.<br />

Sie zerdrückt das Essen mit Milch und Butter<br />

zu einem Brei.<br />

Sie tut den Brei auf den Teller und streut<br />

feingewiegte Petersilie darüber.<br />

Sie ruft das Kind herein zum Essen.<br />

Sie setzt das Kind an den Tisch<br />

und will es füttern.<br />

Das Kind sagt »nein«, schüttelt den Kopf<br />

und will nicht essen.<br />

Das Kind will nicht essen.<br />

Das ist ein irrer Augenblick im Leben<br />

der Mutter, der sie verwirrt.<br />

(Elke Erb, 1973)<br />

Das Gedicht kommentiert sich selbst, nur<br />

der Hinweis vielleicht, daß die Frau in diesem<br />

Gedicht tut, was erwartet wird, und dann<br />

geschieht das Unerwartete, das aufmerksam<br />

gezeichnete Bild bekommt einen Bruch. Das<br />

Gedicht ist von einer Frau verfaßt, ich kann<br />

das lesen, nicht weil etwas aus der Küche<br />

erzählt wird, sondern weil das glatte Bilder<br />

weiblichen Rolle bricht.<br />

Die Literaturwissen seh aftleri n Andrea<br />

Günter schreibt; »In Texten von Frauen<br />

etwas anderes zu finden <strong>als</strong> in Texten von<br />

Männern, bleibt eine Möglichkeit, die aus<br />

dem Zusammenspiel von Körper, individuellen<br />

Erfahrungen und gesellschaftlichen<br />

Einflüssen erwachsen kann. Dabei sind<br />

Erfahrungen und gesellschatlliche Einflüsse<br />

zwar stets an einen Körper gebunden, aber<br />

sie sind weder sein unmittelbarer Ausdruck<br />

noch fließen sie unmittelbar in den Text ein.<br />

Diese Unterscheidung ist auch deshalb von<br />

besonderer Wichtigkeit, weil sie die gradlinige<br />

Rückübertragung eines Textes auf die<br />

Lebensgeschichte der Autorin unmöglich<br />

macht, ohne daß geleugnet werden soll, daß<br />

es eine Verbindung zwischen Schreiben und<br />

Leben gibt.« Um eine geradlinige Übertragung<br />

von Texten auf »das Leben« kann es<br />

nicht gehen. Trotzdem ist es kein Zufall, daß<br />

vor allem die dokumentarische und halbdokumentarischer<br />

Literatur der letzten Jahrzehnte<br />

wesentlich von Frauen geschaffen<br />

wurde, angefangen mit Maxie Wanders<br />

»Guten Morgen, du Schöne«. Die außerordentlich<br />

heftige Diskussion, die die »Tonbandprotokolle«<br />

auslösten, war eben nicht<br />

allein der augenblicklichen politischen Brisanz<br />

der Texte geschuldet, sondern auch der<br />

Tatsache, daß die Leserinnen in jedem Ich<br />

der Texte eine »wirkliche Frau«, ein reales<br />

Gegenüber sehen konnten, zu dem sie sich<br />

kritisch in Beziehung setzten. Die Vielzahl<br />

und Eigenart der Frauenleben machte die<br />

Glaubwürdigkeit der Texte aus. Maxie Wander<br />

hat mit den - natürlich stark bearbeiteten -<br />

Protokollen eine direkte Kommunikation<br />

zwischen den interviewten Frauen und den<br />

Leserinnen hervorgebracht, die Ansatzpunkte<br />

für ein weiteres, kaum mehr literaturbezogenes<br />

Gespräch zwischen Frauen<br />

(unter Beteiligung von Männern) gab. Für<br />

viele Frauen ist »Guten Morgen, du Schöne«<br />

die erste literarische Selbstfeier gewesen.<br />

Auch deshalb fand das Buch so viele Leserinnen,<br />

nicht nur innerhalb der politischen<br />

Grenzen der DDR.<br />

Weibliche Lust beim Lesen entsteht in der<br />

Spannung zwischen Bekanntem und Überraschendem.<br />

Leserinnen wollen sich finden -<br />

nicht in einem getreuen Abbild, sondern in<br />

der Summe wirklicher und gedachter Möglichkeiten.<br />

Ich schlage das Buch auf und beginne<br />

zu lesen.<br />

Statistisches Material aus:<br />

»Frauen lesen. Literatur ai Erfahrung« 26/27<br />

Berlin und Paderbom 1993, darin zahlreiche<br />

Verweise auf Einzeluntersuchungen.<br />

Lesesozialisation, Bd. i hg. von Bettina Hurrelmann/Michael<br />

Hammer/Ferdinand Nieß,<br />

Bd. 2 hg. von Heinz Bonfadelli/Angela<br />

Fritz/Renate Köcher. Gütersloh 1993.<br />

Zum Weiterlesen:<br />

Ruth Klüger, »Frauen lesen anders.» Essays.<br />

München 1996<br />

Dorothee Marlcert, »Momo, Pippi...<br />

was kommt dann? Leseerziehung, weibliche<br />

Autorität und Geschlechterdemokratie.«<br />

Königstein/Taunus 1998.<br />

Andrea Günter, Veronika Mariaux fHgg.),<br />

»Papieme Mädchen - dichtende Mütter.<br />

Lesen in der weiblichen Genealogie.«<br />

Frankßtrt am Main 1994


Mix<br />

E.r Lei t & Aui g e s<br />

Marina, transsexuell, lesbisch<br />

Marina stöckelt in die Hotelhalle. Sie ist<br />

groß, ihre Schultern breit, sie trägt einen<br />

engen Rock und schwarze Strümpfe. Ihre<br />

Haare sind dünn, aber lang, etwas Wimperntusche<br />

um die klaren, großen, blauen Augen,<br />

hellrosa Lippenstift. Ihre Stimme ist tiefer,<br />

<strong>als</strong> man einer Frau zutrauen mag und einzig<br />

daran verrät sich, daß sie eben keine Frau ist,<br />

sondern auf dem Weg. eine zu werden, oder<br />

besser: Eine Imitation, wie sie selbst sagt.<br />

Vor vier Jahren war Marina noch wissenschaftlicher<br />

Mitarbeiter an der TU, sie stand<br />

kurz vor der Hochzeit mit einer Frau, die<br />

jede sexuelle Andersartigkeit heftig ablehnte.<br />

Marina war ein gutaussehender Mann,<br />

hatte Erfolg bei den Frauen, hatte nie auch<br />

nur daran gedacht, selbst weiblich zu sein<br />

oder weibliche Anteile zu haben. Als sie 28<br />

Jahre war, krallte sich diese Idee in ihrem<br />

Kopf fest und ließ nicht mehr los. Marina<br />

löste die Verbindung zu ihrer Freundin, kündigte<br />

ihren Job und hatte fortan nur noch ein<br />

Ziel: So gründlich und so perfekt wie möglich<br />

eine Frau zu werden, ungeachtet der<br />

Schwierigkeiten, die auf sie zukamen.<br />

Marina ist kein unkritischer Mensch,<br />

sie befragte sich selbst, wühlte in ihren<br />

Untergründen, ging zum Psychiater, suchte<br />

Kontakt zu Selbsthilfegruppen. Lächelnd<br />

spricht sie darüber, daß die meisten Transsexuellen,<br />

die sich vom Mann in eine Frau<br />

verwandeln wollen, einen sozialen Abstieg<br />

durchmachen, und es handelt sich hier nicht<br />

um eine Stufe, sondern um mehrere Etagen:<br />

Die meisten gehen auf den Strich. »Das ist<br />

das Geld«, sagt Marina. »Sie glauben gar<br />

nicht, was das kostet. Bis jetzt habe ich<br />

43.000 Mark ausgegeben, zwei Drittel allein<br />

für Epilationen. Der Haarwuchs auf Brust<br />

und Kinn und Beinen verschwindet nicht<br />

einfach von selbst.«<br />

Bis zu zweihundert Sitzungen bei<br />

Hautärzten oder Kosmetikern sind nötig,<br />

schmerzhaft wird jede Haarwurzel einzeln<br />

ausgezogen. Dazu kommt die Hormonbehandlung.<br />

Man kann sie unter ärztlicher<br />

Aufsicht durchführen lassen, doch die<br />

meisten Transsexuellen besorgen sich die<br />

Pillen schwarz. Irgendwann stehen dann die<br />

Foto: Christina Damasceno<br />

Operationen auf dem Plan, eine große und<br />

mehrere kleine. »Ich hoffe, daß das die<br />

Krankenkasse zahlt, aber sicher ist das<br />

nicht«, sagt Marina. »Ich muß Gutachten<br />

beibringen, daß ich den sogenannten Alltagstest<br />

durchgeführt habe, das heißt, daß<br />

ich seit etwa drei Jahren wie eine Frau lebe.<br />

Dann kann ich meinen Namen ändern lassen,<br />

sogar schon ohne Operation.« Denn<br />

Transsexualität wird <strong>als</strong> Krankheit anerkannt.<br />

Es ist nicht der Sex, um den es Marina<br />

geht. Männer machen sie nicht an: »Ich habe<br />

eher einen Hang zu Frauen, aber ich gehe<br />

auf den Strich, wie fast alle, und wie fast alle<br />

hoffe ich, daß man mir nach Abschluß der<br />

Operationen nicht mehr ansehen wird, daß<br />

ich einmal ein Mann war. Ich will es so perfekt<br />

wie möglich. Ich werde mir sogar die<br />

Stimmbänder operieren lassen, auch wenn<br />

davon abgeraten wird.« Ihr ginge es noch<br />

gut, sagt Marina. Es gäbe andere, denen fallen<br />

die Haare aus, nicht bei allen schlügen<br />

die Hormone so an wie sie sollen. Hinzu<br />

kommen feststehende natürliche Maße. An<br />

den großen Füßen, der Körpergröße könne<br />

man eben nichts ändern, und der Adamsapfel<br />

soll auch noch weg.<br />

»Je jünger jemand ist, desto leichter wird<br />

die Umwandlung, er ist noch nicht so eingerichtet<br />

in seinen männlichen Körper. Nach<br />

der Umwandlung ist es sehr schwer, wieder<br />

Fuß zu fassen im Berufsleben. Viele bleiben<br />

Prostituierte. Es gibt mehr Männer, die das<br />

anmacht, mit einer Transsexuellen zusammenzusein,<br />

<strong>als</strong> man glaubt, aber sie heiraten<br />

sie nicht.«<br />

Ist das der Traum vieler umgewandelter<br />

Frauen: Die Ehe, ein Mann, der sich um sie<br />

kümmert? Hat der Prozeß nicht stark masochistische<br />

Züge, die Schmerzen bei den Epilationen,<br />

die Operationen, die Veränderung<br />

des gesamten sozialen Umfeldes, und später<br />

der Sex gegen Geld? Genommen werden,<br />

erdulden, hinnehmen, eine Perfektion<br />

erstreben?<br />

»Viele, vor allem junge Transsexuelle<br />

träumen davon, ein Modell zu sein. Sie brauchen<br />

die Bestätigung: Ja, Du bist eine Frau.<br />

Andere Interessen treten fast vollständig in<br />

den Hintergrund, ihr Hobby ist die Beschäftigung<br />

mit sich selbst, dem Körper, der Reaktion<br />

der Umwelt.« Marina weiß das alles.<br />

Und trotzdem soll das Ding zwischen ihren<br />

Beinen weg, sie will es nicht mehr haben.<br />

Alles wird künstlich sein. Sie wird keine<br />

Regel haben, immer Hormone nehmen<br />

müssen. »Ich strebe nach dem antiquierten<br />

Klischee einer Frau. Wirkliche Frauen müssen<br />

heute ihren Mann stehen, das will eine<br />

Transsexuelle nicht. Ich habe mehr Glück <strong>als</strong><br />

die meisten: Ich habe Eltern, die versuchen,<br />

mich zu verstehen, wenn es ihnen auch<br />

schwerfällt.« Die Freundin, die sie einmal<br />

fast geheiratet hätte, die hat auch eine Verwandlung<br />

durchgemacht: »Ich habe sie wiedergetroffen.<br />

Heute ist sie Lesbierin und wir<br />

kommen uns wieder nah. Ist doch komisch,<br />

oder?"<br />

Während unserer Unterhaltung ist zwei<br />

Tische weiter ein mittelalter Herr in einem<br />

grauen Anzug aufgestanden. Er hatte uns<br />

schon eine Weile beobachtet, nun kommt er<br />

herüber, legt eine mit Zimmer- und Telefonnummer<br />

beschriebene Papierserviette auf<br />

den Tisch, lächelt, geht. Marina steckt die<br />

Serviette ein.


Mix<br />

Frau statt Rau<br />

hat kaum<br />

Am 23. Mai werden 66g Bundeslagsabgeordnete<br />

und ebenso viele Delegierte der<br />

16 Landtage den oder die Nachfolgerin von<br />

Bundrspräsidcnt Roman Herzog wählen.<br />

Aller Wahrscheinlichkeit macht erneut ein<br />

Mann das Rennen ums höchste Staatsamt.<br />

Johannes Rau, mit 68 Jahren noch drei Jahre<br />

älter <strong>als</strong> der bisherige Amtsinhaber, krebskrank<br />

und Vater von drei minderjährigen<br />

Kindern, will sich seinen Lebenstraum erfüllen.<br />

Als nordrhein-westfälischer Ministerpräsident<br />

hatte er den Stab an den jüngeren<br />

Wolfgang Clement nur unter der Bedingung<br />

weitergereicht, daß ihm die SPD-Spitze das<br />

ßundespräsidentenamt versprach.<br />

no<br />

Glianc<br />

von Jutta Re,dmann<br />

e n<br />

Berufstätigkeit der Mütter ein und stellt<br />

sich hinter die Reform des Abtreibungsparagraphen<br />

218. Seit ihrer Nominierung im<br />

Januar gab sich die Kandidalin eigenwilliger,<br />

<strong>als</strong> es CDU und CSU lieb ist: Zuerst ließ sie<br />

Distanz zur Unionskampagne gegen die doppelte<br />

Staatsangehörigkeit erkennen. Dann<br />

sorgte sie in der Union für helle Empörung<br />

mit ihrer Äußerung, sie könne nicht ausschließen,<br />

auch mit PDS-Stimmen zur ßundespräsidentin<br />

gewählt zu werden: »Das gehört<br />

zur Normalität in dieser Demokratie«.<br />

Sozialdemokratische und grüne Frauen,<br />

die seit der Bundestagswahl eher halbherzig<br />

und verspätet auf eine Frau ins höchste<br />

Staatsamt gedrangt hatten, reagierten frustriert<br />

- und folgenlos. Den Bündnisgrünen<br />

war die freiwerdende Stelle einer EU-Kommissarin<br />

zugesagt worden, wenn sie Rau<br />

mitwählten. Jetzt sieht zwar alles danach aus,<br />

daß die grünen Politikerinnen erneut leer<br />

ausgehen und der attraktive Brüsseler Posten<br />

an den CDU-Mann Matthias Wissmann geht<br />

- höchstwahrscheinlich werden sie aus<br />

Koalitionsräson aber doch für den SPD-Kandidaten<br />

stimmen. Ebenso die Sozialdemokratinnen,<br />

die ihre Niederlage längst antizipiert<br />

haben und den Genossen jetzt über den<br />

grünen Klee loben.. Damit hat auch der kluge<br />

Appell der überparteilichen Initiative »Die<br />

Bundespräsidentin!« an Johannes Rau wohl<br />

keine Chancen mehr, er solle einen »mutigen<br />

Schritt« machen und auf das Staatsamt<br />

zugunsten einer Frau verzichten.<br />

Auch die Kandidatur der 55Jährigen<br />

parteilosen Unionskandidatin Dagmar<br />

Schipanski brachte nur vorübergehend<br />

Bewegung in diese Gemengelage. Zwar<br />

zollten auch sozialdemokratische und grüne<br />

Frauen der Thüringer Professorin für Festkörperelektronik<br />

ausdrücklich ihren Respekt<br />

- wählen wollen sie trotzdem Rau. Ausgesprochen<br />

empört reagierten die Sozialdemokratinnen,<br />

<strong>als</strong> der Deutsche Frauenrat sich<br />

eindeutig hinter die ostdeutsche Frau stellte.<br />

»Auf den Leim gegangen« sei der Frauenrat<br />

der Union mit deren Kampagne »Frau statt<br />

Rau«. Sie verschwiegen dabei, daß die Union<br />

ihre Kampagne nur fahren konnte, weil die<br />

S PI) keine Frau nominiert hatte.<br />

Der Frauenrat, der 50 Frauenverbände<br />

und elf Millionen Mitglieder vertritt, ließ sich<br />

durch solche Kritik nicht beirren. »Wir wollen<br />

doch ins nächste Jahrtausend«, erklärte die<br />

Vorsitzende Helga Schulz in schonungsloser<br />

Offenheit: »Das können wir unmöglich mit<br />

einem alten Mann. Dafür brauchen wir eine<br />

gestandene Frau«. Daß Dagmar Schipanski<br />

eine gestandene Frau ist, das geben auch<br />

ihre politischen Gegnerinnen zu. Mit 27 Jahren<br />

promovierte sie, mit 36 habilitierte sie in<br />

der Männerdomäne Physik. Nebenher zogen<br />

sie ihr und Mann drei Kinder groß - Rau hat<br />

auch drei Kinder, die aber fast ausschließlich<br />

von seiner viel jüngeren Ehefrau Christina<br />

erzogen wurden. Unbequem ist Schipanski<br />

auch: Weil sie sich weigerte, in die SED einzutreten,<br />

konnte sie erst 1990 nach der<br />

deutschen Einheit Professorin werden. Dann<br />

verlief ihre wissenschaftliche Karriere aber<br />

um so rasanter: Im thüringischen Ilmenau<br />

wurde sie erste Rektorin einer bundesdeutschen<br />

technischen Universität. Und sie leitete<br />

<strong>als</strong> erste Frau kompetent den angesehenen<br />

Wissenschaftsrat. Auch frauenpolitisch hat<br />

sie im Gegensatz zu Rau einiges zu bieten:<br />

Sie bringt die So^ialisation der DDR-Frauen<br />

ein, tritt ganz selbstverständlich für die<br />

Kein Wunder, daß die parteilose CDU-<br />

Kandidatin auf viel weibliche Unterstützung<br />

zählen darf- allerdings hauptsächlich außerhalb<br />

der Parteien. Zur »Aktion Pro Schipanski«<br />

bekannte sich ein breites Spektrum,<br />

angefangen von der Verfassungsrichterin<br />

Karin Graßhof bis hin zur Schauspielerin<br />

Uschi Glas. Vom Hausfrauenbund kam Lob<br />

für die »sehr geeignete Kandidatin«. Und<br />

auch »Emma«-Herausgeberin Alice Schwarzer<br />

rührte emsig die Werbetrommel für die<br />

Wissenschaftlerin: »Frauen, die wollen, daß<br />

man ihnen den Einsatz für Fraueninteressen<br />

ernsthafl abnimmt, müssen am 23. Mai für<br />

Dagmar Schipanski stimmen«.<br />

Doch sieht alles danach aus, <strong>als</strong> ob sich<br />

die meisten der insgesamt 1.338 Wahlfrauen<br />

und -männer doch für den Mann Rau entscheiden<br />

werden. Als feste Truppen kann<br />

Schipanski nur die CDU- und CSU-Mitglieder<br />

in der Bundesversammlung verbuchen - bei<br />

einer Probeabstimmung votierten die Unionsabgeordneten<br />

einstimmig für sie. Trotz<br />

massiven Drucks von FDP-Chef Wollgang<br />

Gerhardt werden wohl nur 25 Liberale für<br />

Schipanski stimmen - 15 Freidemokratlnnen<br />

um den Nordrhein-Westfalen Jürgen Mollemann<br />

wollen Rau quasi <strong>als</strong> Einstiegsticket<br />

in eine spätere sozialliberale Koalition<br />

wählen.<br />

211999


INFOS<br />

Auch die PDS. die sich lange nicht<br />

zwischen der ostdeutschen Frau - die sie<br />

gemäß eigenem Selbstverständnis <strong>als</strong> ostdeutsche<br />

Interessenpartei nicht übergehen<br />

konnte - und dem westdeutschen<br />

Mann - von dessen Unterstützung sie<br />

sich mehr Aufgeschlossenheit der SPD<br />

für rot-rote Koalitionen versprach - entscheiden<br />

kotinte, fälll nun <strong>als</strong> Stirnmenlieferantin<br />

lür die parteilose CDU-Kandidatin<br />

weg. Der Kosovokrieg bot der Partei<br />

einen Ausweg aus dem Entscheidungsdilernnia.<br />

Weder Ran noch Schipanski<br />

seien wegen ihrer Zustimmung zu den<br />

NATO-Angriffen auf Jugoslawien »wählbar«,<br />

betonte PDS-Chef Lothar Bisky.<br />

Und präsentierte flugs die katholische<br />

Theologin Uta Ranke-Heinemann, Tochter<br />

des früheren Bundespräsidenten<br />

Gustav l leincrnann. <strong>als</strong> eigene friedensbewegte<br />

Kandidatin. Doch der 7ijährige<br />

Fricdensaklivistin, die sich seit Jahren mit<br />

der katholischen »Männerkirche« streitet,<br />

geht es nach eigener Aussage ȟberhaupt<br />

nicht um das Amt des Bundespräsidenten<br />

oder der Bundespräsidentin«. Sie<br />

will die Kandidatur nur nutzen, »um<br />

meine Stimme gegen den Kriegswahnsinn<br />

/.n erheben". »Die Gefahr, daß ich<br />

Bundespräsidentin werde, ist gleich null«.<br />

Ohne POS-Stimmen hat Schipanski<br />

aber kaum Chancen. Rau dagegen sind<br />

die Stimmen von SPD und Grünen und<br />

von einem guten Dutzend Freidemokraten<br />

ziemlich sicher. Wird er am 23. Mai<br />

zum neuen Bundespräsidenten gewählt,<br />

dann sind wieder einmal alle drei höchsten<br />

Staatsämter an Männer gegangen -<br />

obwohl die neue rot-grüne Bundesregierung<br />

einen frauenpolitischen Aufbruch<br />

versprochen hatte. Dann bleibt nur der<br />

Blick auf das Jahr 2004 - und die Hoffnung,<br />

daß sich dann auch sozialdemokratische<br />

und grüne Frauen früher und<br />

eindeutiger für eine Bundespräsidentin<br />

stark machen.<br />

Frauen an der Spree<br />

Unter diesem Titel geleitet uns ein gerade im<br />

Berliner be.bra.Verlag erschienenes Büchlein<br />

auf historischen Frauenpfaden in 47 Kurzgeschichten<br />

die Spree abwärts vorn Osthafen<br />

bis nach Tiergarten. Es wurde von der Berliner<br />

Geschichtswerkstatt herausgegeben und enthält<br />

Materialien und Geschichten, die diese für<br />

ihre historischen Dampferfahrten zur Frauengeschichte<br />

recherchierte und sammelte. Die<br />

Zusammenstellung präsentiert auf 128 Seiten<br />

historische Frauenorte, -biografien sowie -bewegungen<br />

und wurde von den 16 Autorinnen<br />

<strong>als</strong> Spazicrgang konzipiert.<br />

l » Das ist das letzte«<br />

ist nicht nur der Titel des Frauenpolitischen<br />

Rundbriefes No. 1-1999 ^es Berliner Landesverbandes<br />

von Bündnis tjo/DIL GRÜNFN<br />

zum Internationalen Frauentag, sondern es<br />

sind die peinlichen sachlichen Fehler im Inhalt.<br />

Im Artikel »80 |ahre Frauenwahlrechl«<br />

wurde die Einführung des Wahlrechtes auf<br />

1910 und der Artikel 3 Abs. 2 des Grundgesetzes<br />

der Bundesrepublik Deutschland auf 1940<br />

datiert. Aber das sind momentan vermutlich<br />

nicht die einzigen Irrtümer der Grünen.<br />

; Urlaubsnetzwerk<br />

Dem 1984 gegründeten Urlaubsnetzwerk<br />

»Women welcome women« gehören gegenwärtig<br />

2.500 Frauen aus 67 Landern - in<br />

Deutschland etwa 300 Frauen - an. Sie bieten<br />

sich auf Reisen gegenseitig Unterkunft, zum<br />

Teil kostenlos. Koordinatorin ist Ursula Hufler.<br />

Infos: 068^8/6800 oder<br />

www.womenwelcomcwomen/org.uk<br />

Gewalt gegen Frauen; Aufklärung tut not<br />

Die Europäische Kommission fördert im<br />

laufenden Haushalt mit insgesamt 1,9 Mio<br />

Euro Informations- und Aufklärungsmaßnahmen<br />

mit europäischen Bezug, um die<br />

Öffentlichkeit auf diese Form von Gewalt<br />

! aufmerksam zu machen. Gemeinnützige<br />

; Einrichtungen können eine Projektunterstützung<br />

erhoffen, wenn sie möglichst viele<br />

gesellschaftliche Gruppen und öffentliche<br />

Stellen in ihre Planung einbeziehen. Außer-<br />

. dem sollten sich die Vorhaben örtlichen Gegebenheiten<br />

anpassen und auf die Verhütung<br />

i häuslicher Gewalt ausgerichtet sein. Die Projekte<br />

sollten positive Botschaften vermitteln<br />

und Frauen über ihre Rechte und Verteidi-<br />

; gungsmöglichkeiten unterrichten. Die Anträge<br />

müssen bis zum 21. Mai 1999 eingehen.<br />

Antragsunterlagen: Europäische Kommission,<br />

GDX/A/5, Zielgruppe Frauen,<br />

Büro Ti20 7/50, Rue de la Loi 200.<br />

6-1049 Brüssel, Fax: ooj 22/299 3^ 91-<br />

E-mail: infqfemmes@dgio.cec.be.<br />

Zweite Ausschitibungsrundt<br />

ftir»DAPHNE« 1999<br />

Tggg stehen insgesamt 5 Mio Euro für die<br />

DAPHNE-Initialive zur Bekämpfung von<br />

Gewalt gegen Kinder, Jugendliche und<br />

Frauen bereit. Fördermittel können entsprechend<br />

qualifizierte nichtsstaatliche bzw.<br />

gemeinnützige Organisationen für folgende<br />

Projekte bis ;airn 18. Juni 1999 beantragen:<br />

Ausbildung und Austausch; Pilotprojekte;<br />

Auf- und Ausbau europäischer Netze; Studien<br />

und Forschung; Informationsverbreitung<br />

sowie Zusammenarbeit zwischen<br />

Nichtregierungsorganisationen und Behörden.<br />

Projekte, an denen sich Einrichtungen<br />

aus mindestens zwei Mitgliedsstaaten beteiligen,<br />

werden vorrangig berücksichtigt.<br />

Lt.'i!juiitfn und Antragsunte.rlagen:<br />

Europäische Kommission, Gener<strong>als</strong>ekretariat,<br />

Task Force Justiz und Inneres,<br />

z. Hd. Anthony Simpson<br />

Avtnue des Nerviens 9 - 6/25.<br />

Rue de la Loi 200, 8-1049 Brüssel,<br />

Fax: 003 22/295 °' 74'<br />

Kuropa.eu.int/comm/sg/daphne/en/<br />

index.htm<br />

Fachtagung<br />

»Sexuelle Gewalt gegen Mädchen<br />

und Frauen - Die Opfer schützen*<br />

Das Ministerium für Frauen, Arbeit, Gesundheit<br />

und Soziales des Saarlandes richtete im<br />

September 1997 zum genannten Thema eine<br />

Fachtagung mit dem Ziel aus, das Spannungsfeld<br />

zwischen Opferschutz, parteilicher<br />

Beratungstätigkeit und Erfordernissen eines<br />

Strafrechtsverfahrens bei sexuellen Gewaltdelikten<br />

zu beleuchten. Die Ergebnisse liegen<br />

nun <strong>als</strong> Dokumentation vor und sind gegen<br />

eine Gebühr von 10 DM erhältlich.<br />

Ministeriumßir Frauen, Arbeit, Gesundheit<br />

und Soziales, Abteilung Frauen,<br />

Franz-Josef-Röder-Str. 23, (16115; Saarbrücken,<br />

Tel.: 06 81/50132 02, Fax: 06 81/50133 35<br />

Frauen <strong>als</strong> Ziel von Gewalt - Neues Archiv<br />

Die Gender Studies-Bibliothek in Prag hat<br />

dieses Archiv gegründet. Das Archiv soll<br />

Material von Organisationen sammeln, die<br />

geschiedene und verwitwete Frauen sowie<br />

weibliche Opfer von Gewalt beraten, Präventionsarbeit<br />

für diese Frauen leisten, psychosoziale<br />

Hilfe für sexuell mißbrauchte Frauen<br />

anbieten, dem Frauenhandel entgegentreten,<br />

Anti-Gewalt-Projekte beraten und bereits<br />

Material zum Thema Gewalt gegen Frauen<br />

archivieren. Diese Archiv soll <strong>als</strong> Informationsquelle<br />

für alle am Thema Gewalt gegen<br />

Frauen Interessierte dienen. Um Artikel<br />

zum Thema wird gebeten.<br />

E-Mail: gender@ecn.cz<br />

1(1999


Der Sammelband »Frauen in ver-rückten<br />

Lebens weiten«, herausgegeben von Claudia<br />

Brügge/Wildwasser Bielefeld, stellt die breite<br />

aktuelle feministische Diskussion zu Psychiatrie<br />

und Ver-rücktheit von Frauen vor.<br />

Namhafte Autorinnen setzen sich mit dem<br />

weiblichen Wahnsinn auseinander - historisch,<br />

politisch, feministisch, persönlich.<br />

Psychiatriebetroffene berichten von ihren<br />

persönlichen Erfahrungen, feministische<br />

Psychotherapeut innen geben Einblick in ihre<br />

therapeutische Arbeit, Frauen beschreiben,<br />

wie sie schwere Krisen von Freundinnen<br />

erlebt haben. Wissenschaftlerinnen erzählen<br />

von der Kulturhistorie des Wahnsinns und<br />

vom Leben der »Wahnsinnsfrauen« dam<strong>als</strong><br />

und heute. Die Autorinnen rechnen mit dem<br />

Vorurteil ab, daß Wahnsinn immer nur bei<br />

den anderen zu finden ist. Sie denken darüber<br />

nach, welche Wege es außer psychiatrischer<br />

Gewalt und diagnostischen Etikettierungen<br />

noch geben kann, und stellen<br />

konkrete Alternativen zur Psychiatrie vor.<br />

Bezug zum Preis von 39,80 DM:<br />

Wildwuswr Bielefeld t. V., ]öllenbecker Str. 57,<br />

3j6ij Bielefeld, Fax: 05 21/17 ^4 7^<br />

Männer lassen waschen<br />

Über die klassische Frauenarbeit, nämlich<br />

unbezahlte Arbeit, schreibt Christina Klenner<br />

im Magazin der Hans-Böckler Stiftung<br />

»Die Mitbestimmung« Nr. 3/99. Trotz der<br />

zunehmenden Teilnahme von Frauen am<br />

Erwerbsleben, ist die klassische Rollenverteilung<br />

nach wie vor ungebrochen. Internationale<br />

Vergleiche zeigen, daß die althergebrachte<br />

Arbeitsteilung in Deutschland ein<br />

besonders ausgeprägtes Beharrungsvermögen<br />

aufweist. Frauen arbeiten zwar insgesamt<br />

länger <strong>als</strong> Männer und haben weniger<br />

Freizeit, verfügen aber gleichzeitig über<br />

weniger eigenes Einkommen. Für den Anteil<br />

von Männern an der Hausarbeit ist die<br />

Familiengröße bzw. eine Erwerbstätigkeit<br />

der Partnerin irrelevant und liegt <strong>als</strong> eine<br />

Art »Naturkonstante« bei 10 Stunden wöchentlich.<br />

Auch bei jüngeren Paaren läßt<br />

sich keine Trendwende feststellen. Frauen<br />

entlasten sich selbst durch Teilzeitarbeit,<br />

durch weniger Hausarbeit oder beschäftigen<br />

l laushaltshilfen. Reinigung und Pflege der<br />

Wäsche, Putzen, Kochen sowie Kinderbetreuung<br />

ist hauptsächlich Sache der Frauen.<br />

Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts<br />

Allensbach ergänzte diesen Befund<br />

kürzlich mit der Feststellung, daß sich die<br />

männliche Bereitschaft zum Helfen (sie!)<br />

nach einer Eheschließung rapide minimiert.<br />

Siehe zu diesem Thema auch die gerade<br />

erschienene Studie von Cornelia Koppetsch/Günter<br />

Burkart: Die Illusion der<br />

Emanzipation. Zur Wirksamkeil latenter<br />

Gesdilechtsnormen im Milieuvergleich,<br />

Konstanzer Universitätsverlag, 38 DM, die<br />

daraufhinweisen, daß Frauen die tradierte<br />

Arbeitsteilung mittragen.<br />

Männergespräche<br />

Der Münsteraner Psychologe Alfred Gebert<br />

untersuchte Männergespräche und fand<br />

heraus, daß Männer nicht zuhören. Sie<br />

unterbrechen sich und übertrumpfen sich<br />

gegenseitig mit ihrem Expertenwissen und<br />

guten Ratschlägen. So können sie stundenlang<br />

kommunizieren. Sie hören auch ihren<br />

Frauen nicht zu. Umgekehrt ja, so Geliert.<br />

Sie reden aneinander vorbei. Die Frau wirft<br />

dem Mann dann vor, nicht zuzuhören und<br />

die Kommunikation bricht zusammen.<br />

(Tagesspiegel, 6. 4.1999,)<br />

Ein Vergleich der Mutter-Kind-Beziehung in<br />

Ost-West-Relation, den Psychologinnen der<br />

Universitäten Konstanz und Saarbrücken<br />

vornahmen, ergab diesen Befund. Mütter in<br />

Westdeutschland ließen Fehlverhalten ihrer<br />

Kinder häufiger durchgehen und seien unsicherer<br />

in ihren Regeln. Ostdeutsche Mütter<br />

setzen dagegen meist klare Grenzen. Die<br />

Mutter-Kind-Beziehung im Osten sei harmonischer<br />

und liebevoller. Der westliche Erziehungsstil<br />

ohne klare Grenzen verunsichere<br />

Kinder und führe häufiger zu Streit. Ostdeutsche<br />

Mütter dagegen definierten klar, was<br />

sie von Kindern erwarten und verhielten sich<br />

dadurch auch sehr herzlich. Die Autorinnen<br />

warnten davor, den ostdeutschen Erziehungsstil<br />

<strong>als</strong> »grauenhaften DDR-Stil« abzutun.<br />

Kinder in Frankreich oder Israel würden<br />

ähnlich erzogen. (Tagesspiegel, 8. 4. 1999)<br />

M ad ch enarbei t<br />

Zu diesem Thema erschien vom Bundesministerium<br />

für Familie, Senioren, Frauen<br />

und lügend die Nr. 45 des KABI-Informationsdienstes.<br />

Die Konzertierte Aktion Bundes<br />

Innovationen (KABI) ist eine gemeinsame<br />

Aktion des Bundes Jugendministeriums<br />

und der 'träger von Maßnahmen der Kinderund<br />

Jugendhilfe, die aus dem Kinder- und<br />

Jugendplan des Bundes gefördert werden.<br />

Im KABI-lnfor-mationsdienst werden beispielhaft<br />

Projekte vorgestellt und Anregungen<br />

für die Praxis gegeben.<br />

Die KAB! kann kostenlos bezogen werden über:<br />

KABI Leserservice, PF 400,<br />

65175 Wiesbaden, Fax: 0611/9030281.<br />

KABI im Internet: www.universum.de oder<br />

www.bmßß.de/kindjuge/publikat/index.htm<br />

Chancengleichheit von Männern<br />

und Frauen 1996 - 2000<br />

Im Rahmen dieses Vierten mittelfristigen<br />

Aktionsprogrammes der Europäischen<br />

Gemeinschaft erscheinen regelmäßig Publikationen:<br />

vierteljährlich das Magazin<br />

»Chancengleichheit« und »New Ways«<br />

<strong>als</strong> Veröffentlichung des Europäischen<br />

Netzwerks »Familie, Arbeit und Solidarität<br />

zwischen den Generationen«. Weiterhin<br />

kostenlos verfügbar ist die 28-seitige Kurzfassung<br />

des Jahresberichtes 1997 »Chancengleichheit<br />

für Frauen und Männer in<br />

der Europäischen Union«. Ebenfalls <strong>als</strong><br />

Broschüre erhältlich ist der »Leitfaden zur<br />

Bewertung geschlechtsspezifischer Auswirkungen«.<br />

Das zuständige Referat der<br />

Europäischen Kommission ist unter der<br />

Website www.dg5b.cec/en/temp /equ_opp/<br />

index_en.htm zu finden.<br />

Bezugsadresse ßir kostenlose Veröffentlichungen:<br />

Europäische Kommission, CD V/D. 5,<br />

Rue de la Loi 200, 6-1049 ßrwsse/,<br />

{•»K; oo) 22/296 £5 61, Fax: 003 22/29635 62<br />

Die Rolle der Familie in Europa von heute<br />

Eine Fachkonferenz »Familien im europäischen<br />

Wirtschafts- und Sozialraum« befaßt<br />

sich am 29730. Mai 1999 in Berlin mit der<br />

Rolle der Familie in Europa, auf der Fragen<br />

erörtert werden sollen, welche Maßnahmen<br />

notwendig sind, um die Entlastung und<br />

Förderung für Familien bedarfsorientiert<br />

und zielsicher zu gestalten.<br />

Auskünße: Koordinierungsstelle ßir nationale<br />

und internationale Familienfragen,<br />

Tel.: 02 28/25 &4 64, Fax: 02 28/25 41 79-<br />

Geburtenrate in der Europäischen Union<br />

auf Nachkriegstiefstand<br />

Die Geburtenrate in der Union sank 1998<br />

auf 4,01 Mio. Da die geburtenschwachen<br />

Jahrgänge 1965-1975 folgen, wird sie weiter<br />

sinken. Besonders niedrige Raten verzeichnen<br />

Österreich, Finnland, Deutschland und<br />

Griechenland. Lediglich in Frankreich und in<br />

den Niederlanden wird mit einem deutlichen<br />

Zuwachs gerechnet. Deutschland muß aus<br />

diesem Grund mit einem natürlichen Bevölkerungsrückgang<br />

rechnen.<br />

(Eurostat News Release<br />

»Abtreibungspille« RU 486<br />

Welche nähere Informationen über RU 486<br />

(Myfegyne) wünscht, kann beim Feministischen<br />

Frauengesundheitszentrum Frankfurt ,<br />

Kasseler Str. la, 60486 Frankfurt eine ausführliche<br />

Broschüre anfordern.<br />

Auskünfte erteilt auch das FFGZ Berlin, Bamberger<br />

Str. 51, 10777 Berlin, Tel.: 030/213 95 97,<br />

2I!999 93


INFOS<br />

Zum Thema RU486 veranstalten Pro<br />

Familia und das Familienplanungszentrum<br />

Balance am 2. 6. 1999 von 19:30 - 21:30<br />

im Berliner Rathaus Schöneberg eine Podiumsveranstaltung.<br />

Hier soll es nicht nur um<br />

die medizinische Wirkungsweise gehen, sondern<br />

es sollen auch die Konsequenzen für<br />

die Beratungstätigkeit besprochen werden.<br />

Infos: Fön (030) 21 47 64 21<br />

Frauen-Vorlesungsverzeichnisse Sommer-<br />

• Hamburg: Koordinationsstelle Frauenstudien/Frauenforschung,<br />

Joseph-Carlebach-Platz/Binderstr. 34,<br />

20146 Hamburg,<br />

Tel.: 040/428 38-59 66,<br />

Fax: 040/428 38 67 63<br />

FU Berlin: FU Berlin, ZE 3,<br />

Königin-Luise-Str. 34, 14195 Berlin,<br />

Tel.: 030/838-33 78, Fax: 030/838 61 83,<br />

E-Mail: zefrauen@zedat.fu-berlin.de<br />

Der 36-seitige Reader zum Preis von 3 DM<br />

umfaßt die Beiträge der Landesfrauenversammlung<br />

von Bü/Grü NRW vom November<br />

1997 sowie einen Literatur- und<br />

Adressenanhang.<br />

Kostenlose Ansichtsexemplare:<br />

Bündnis 907 DIE GRÜNEN,<br />

Landesgeschäßsstelle N R W,<br />

jahnstr. 52, 40215 Düsseldorf,<br />

Tel.: 02 11/386 6630, Fax: 0211/3866699,<br />

E-Mail: bauer.gruene-nrw@t-online.de<br />

Dokumentation »Virtuelle Frauenwelten«<br />

Teilnehmerinnen aus Frankreich, Österreich<br />

und Deutschland diskutierten auf einer europäischen<br />

Zukunftswerkstatt, veranstaltet<br />

vom Leonardo-Pilotprojekt »Netzwerk Neue<br />

Berufsbilder für Frauen in Europa« und vom<br />

Projekt Teleservice 2000 plus des Virtuellen<br />

Gründerzentrums für Telearbeit GmbH (VGZ),<br />

über Fragen, wie: Wo sind die Frauen in der<br />

virtuellen Welt? Wie würde die Zukunft aussehen,<br />

wenn mehr Frauen an ihrer Gestaltung<br />

beteiligt wären?<br />

Die Doku der Diskussion erhältlich bei:<br />

VGZ, Projekt Teleservice 2000 plus<br />

(Birgitt Wählisch), Großkopfstr. 8, 1340$ Berlin,<br />

Tel.: 030/42 10 64 06, Fax: 030/42 10 64 07,<br />

E-Mail: info@vgz.de<br />

Münchner Bündnis -<br />

Aktiv gegen Männergewalt<br />

Am 23. / 24. |uni 1999 findet in München<br />

eine Fachtagung zu den Ergebnissen der<br />

»Münchner Kampagne gegen Männergewalt<br />

an Frauen und Mädchen/Jungen« statt.<br />

Im Zusammenhang mit dieser Kampagne<br />

erschien das Buch: »Aktiv gegen Männergewalt<br />

- Kampagnen und Maßnahmen<br />

gegen Gewalt an Frauen interantional«<br />

von den renommierten Expertinnen Anita<br />

Heiliger und Steffi Hoffmann.<br />

(ISBN: 3-88104-302-0)<br />

Veranstaltungsprogramm: c/o Kofra e.V.,<br />

Baaderstr. 30, #0469 München.<br />

25. Kongreß Frauen in Naturwissenschaft<br />

und Technik<br />

vom i3--i6. Mai in der TU Darmstadt<br />

mit dem Thema: »Frauenmehrwert -<br />

eine Bilanz am Ende des Jahrtausends« -<br />

Rückschau und Perspektiven.<br />

Kontakt: (061 51) 16-49 M-<br />

iil: fi n uti)i)dfj hrzl.hrz.tu-darmstadt.de<br />

Lesen'nrtenbmf zur Ausgabe 5/98 mit dem<br />

Schwerpunkt Frauen und Religionen<br />

Leider ist in Ihrem Artikel über jüdische<br />

Frauen in Berlin heute nur von denen die<br />

Rede, die orthodox praktizieren. Von den<br />

breiten Aktivitäten im liberalen Spektrum<br />

wird nichts berichtet, außer dem f<strong>als</strong>chen<br />

Satz »Frauen in der Oranienburger Straße<br />

setzten nach langen Auseinandersetzungen<br />

den gleichberechtigten Gottesdienst durch,<br />

sie lesen seit ungefähr einem Jahr selbst aus<br />

der Thora«. Dazu stellen wir fest: Seit vier<br />

bzw. fünf Jahren treffen sich regelmäßig<br />

zwei egalitäre (^gleichberechtigte) Gruppen,<br />

der sogen, »egalitäre Gottesdienst« und der<br />

»egalitäre Minjan«, bei dem Frauen und<br />

Männer die gleichen Möglichkeiten haben,<br />

im Gottesdienst aktiv zu werden, <strong>als</strong>o aus der<br />

Torah zu lesen. In traditionellen jüdischen<br />

Gottesdiensten werden nur Männer gezählt.<br />

Wir zählen - beim EGALITÄREN MINJAN -<br />

Frauen UND Männer zum Minjan der Zehn,<br />

und alle gestalten gleichberechtigt den Gottesdienst<br />

mit. Auch zählen wir Teilnehmerinnen,<br />

die einen jüdischen Vater haben - <strong>als</strong>o<br />

nicht nur die Nachkommen jüdischer Mütter<br />

- zu unserem Minjan. Dieser Gottesdienst<br />

entsprang dem Bedürfnis, Schabbat gemeinsam<br />

zu feiern und eigene Formen des Betens<br />

für unsere unterschiedlichen Geschichten<br />

und Erfahrungen zu finden. Seit Ende 1993<br />

haben wir uns alle 3 Wochen am Schabbatvormittag<br />

getroffen. Wir haben eine eigene<br />

Liturgie, die die wichtigsten Inhalte des traditionellen<br />

jüdischen Gotesdienstes beibehält.<br />

Neuerscheinung<br />

6. Auflage<br />

iflpfür Selbsthife Vöjekfe! V" '<br />

1 . _und kleine Betriebe .,_ ...:<br />

||:jlii( Berlin und den neuen,<br />

'. ' ''•: ^Bundesfäodern'; ..; v'; ;<br />

91 Seiten A4<br />

15 DM + 2 DM Porto,<br />

(Für NW-Mitglieder 10 DM + Porto)<br />

ABM, SAM, Hilfe zur Arbeit,<br />

Sozialgesetzbuch (SGB Mi - früher<br />

AFG], Lohnkostenzuschuß, Existenzgründungsprogramme,<br />

zinsgünsrige<br />

Kredite, ESF-Mittel, Stiftungen,<br />

Bußgelder, Beratungseinrichtungen<br />

Bestellung bei:<br />

Netzwerk Selbsthilfe e.V.<br />

Gneisenaustr. 2a, 10961 Berlin<br />

Fön (030) 6913072 Fax 6913005<br />

jedoch viele andere Gebete und Sprüche<br />

hat, die nicht im Traditionellen zu finden<br />

sind. Wir richten uns nach der Rekonstruktionistischen<br />

Bewegung in den USA<br />

(vom Rabbiner Mordechai Kaplan gegründet),<br />

haben mehrere Gebete und Anregungen<br />

von amerikanischen Feministinnen<br />

übernommen, doch unsere Liturgie<br />

bleibt offen und flexibel und wird immer<br />

ergänzt, vertieft, weiterentwickelt. Während<br />

in der traditionellen Synagoge die<br />

Sprache des Gebetes ausschließlich Hebräisch<br />

ist, betet jede/r in der Sprache,<br />

die für sie/ihn am bequemsten ist: Hebräisch,<br />

Deutsch oder Englisch. Für viele<br />

Gebete haben wir eigene - deutsche -<br />

Fassungen verfaßt. Den Mittelpunkt des<br />

Gottesdienstes bildet die Parascha - der<br />

Wochenabschnitt aus der Torah. Bei uns<br />

wird sie nicht nur vorgelesen sondern<br />

auch diskutiert. Auch Frauen tragen -<br />

soweit sie das möchten - Kipa und Tallit.<br />

Anschließend feiern wir gemeinsam Kiddusch:<br />

das Segnen des Schabbats, genießen<br />

zusammen ein einfaches Schabbatessen.Unser<br />

Ansatz ist demokratisch, wir<br />

respektieren die unterschiedlichen politischen,<br />

religiösen Einschätzungen der Mitglieder<br />

unserer Gruppe. Bei uns finden<br />

Rassismus, Anti-Jüdisches, Anti-Arabisches,<br />

Sexistisches, Homophobie, Klassen-<br />

und Bildungsdünkel keinen Platz.<br />

Mit freundlichem Gruß, Iris<br />

2I'999


ANZEIGEN<br />

Solidaritätsaktion für SEKA<br />

Das Frauen-Friedens-Projekt SEKA, ein therapeutisches<br />

Erholungszentrum auf der Insel<br />

Brac in Kroatien, arbeitet seit fast zwei Jahren<br />

mit Frauen und Kindern, die durch den<br />

Krieg in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens<br />

traumatisiert wurden. Die Anfragen<br />

für eine Aufnahme in dem Haus übersteigen<br />

ständig die Kapazität des Hauses.<br />

SEKA will und muß die begonnene Arbeit<br />

fortsetzen - dafür braucht es finanzielle<br />

Unterstützung.<br />

Weitere Infos: SEKA, Friedensallee 7,<br />

22765 Hamburg, Tel/Fax. (040) 39 90 56 53.<br />

Gcschlechterdemokratie in Organisationen<br />

Vom 10.6. /n. 6. 99 werden sich internationale<br />

Referentinnen mit Themen befassen<br />

wie: Von der Frauenförderung zur<br />

Geschlechterdemokratie, vom Chancengleichheitsansatz<br />

in der EU, Workshops<br />

Gender Training u.a. HGDÖ, Heinrich Böll<br />

Stißung, Tel.: (069) 23 10 90, Fax.: 2} 94 78<br />

Rundbrief zur lfsben-,Schwulen-und<br />

Lebensweisenpolitik erschienen<br />

Der Rundbrief aus der PDS-Fraktion beschäftigt<br />

sich mit der Gleichstellung aller Lebensweisen,<br />

dem Fall Riewa, Gewalt, Mietrecht u.a.<br />

Bezug: Fön: (0228) 16 83 682, Fax: 16 86 972<br />

NGO-Nachfblgekonferrnz<br />

»In Peking wurde unterschrieben...«<br />

Die Thüringer Frauenkonferenz in der Zeit<br />

vom 27. - 30. Mai 1999 in Erfurt präsentiert<br />

ein umfangreiches Programm. Die Konferenz<br />

soll den Stand der Umsetzung der in der<br />

Pekinger Aktionsplattform unterschriebenen<br />

Forderungen feststellen und zwar in<br />

Deutschland am Beispiel Thüringens.<br />

Konfakt: FKBZ Brennessel,<br />

Meister-Eckehardt-Str. 5, 99084 Erfurt,<br />

Fön: (05 61) 565 65 10/12, Fax: (03 61^565 65 n<br />

emaü: brennessel.erfurt@t-oniine.de<br />

(KUR-iUrlaubaufdem Frauenhof KÖRE!<br />

Bio-dynamische Landwirtschaft bei Sulingen<br />

hat drei Zimmer für (Kur-)Gastfrauen.<br />

Unsere Angebote:<br />

- der Hof mit Kühen und Feldern in einer<br />

weiten, ruhigen Landschaft (NSG)<br />

- naturheilkundliche (Einzel-}Begleitung<br />

und-behandlung durch Angelika Borger<br />

(Ärztin und Landwirtin)<br />

- Kreativ-Werkstatt mit Monika Braun<br />

- Anregungen zur meditativen Begegnung<br />

mit der Natur.<br />

Frauenhof KÖRE, Fön: (04274) 963990,<br />

Oberdamm ig, 27259 Varrel<br />

Zwanzig Jahr« und kein bißchen leiser „.<br />

Pünktlich zum Jubiläum der Zeitpunkte<br />

(siehe Seite ) plant der Sender Freies Berlin<br />

wieder einmal, sein frauenpolitisches Magazin<br />

einzustellen. Wir, die freien Mitarbeiterinnen<br />

des Frauenfunks, erinnern an den kulturellen<br />

Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks<br />

und fordern den Erhalt des<br />

Frauenressorts mit seiner täglichen Sendung.<br />

Unsere Hörerinnen im Osten wie im<br />

Westen schätzen unsere kritische, manchm<strong>als</strong><br />

augenzwinkernde, immer sachkundige<br />

Berichterstattung mit dem weiblichen Blick<br />

auf Weltbewegendes und Alltägliches. Wir<br />

wollen sie auch weiterhin informieren und<br />

inspirieren, an- und aufregen. Warum die<br />

preisgekrönten und in der deutschen<br />

Medienlandschaft einmaligen Zeitpunkte<br />

zum wiederholten M<strong>als</strong> weichen sollen,<br />

bleibt ein Geheimnis der SFB-Chefetage:<br />

20 Jahre und kein bißchen weiser...?<br />

V.i.s.d.P.: ßirgif Schönberger, Gesine Strempel<br />

Riidrn<br />

Europäischer Photographinnen 1920-1940<br />

vom 15. April - 30. Mai 3999 im Verborgenen<br />

Museum, Schlüterstraße 70,10625 Berlin,<br />

Fön: (030) jij 36 56<br />

f iervarhebungen und besondere CttsUlturig sind nicht möglich. Köntaktanieigtri werden<br />

nur mit Chiffre veröffentlicht. Maßgeblich für dio fteeihKwn'gssfaenuiit^ ist nicht der<br />

/«•l&numfang der gedruckten Anyeige-, sonderr. >rw irn iur:tsr. abgedruckten Cittsr.<br />

T',iv die inhaltliche Richtigkeit übeirfielhimen wir --:eiiN; Veraoitwöfüueifc We'bbliek »shält<br />

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l private:<br />

i. bis 5. Anzeige bis zur 5. Zeile kostenlos.<br />

Jede weitere Anzeige 5 DM<br />

Grundgebühr, jeweils ab 6. Zeile 2 DM<br />

pro Zeile (Briefmarken, Scheck oder<br />

bar beilegen.)<br />

l private Angebote für Kurse,<br />

Workshops und Unterricht:<br />

i. bis 5. Zeile 10 DM.<br />

Je weitere Zeile 2 DM.<br />

l l gewerbliche:<br />

i. bis 5. Zeile 30 DM, jede weitere<br />

Zeile 6 DM, zzgl. gesetzlicher Mehrwertsteuer.<br />

SlriKr. HJUS<br />

D<br />

Chiffre: 6,60 DM (siehe Text oben)<br />

Veröffentlichung unter folgender Chiffre:<br />

Poilletlzjhl. Wohnort<br />

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CARTOON<br />

ESMERflLDA<br />

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MICH Bi&tLMOSWG »U t"I<br />

STATTEN IKBEB HERKUNFT.<br />

© Ursula Fürst, Zürich<br />

In unserer nächsten<br />

erwarten Sie u. au folgende Themen:<br />

Titel: Kunst und Kultur von Frauen<br />

Reportage: Concierges in Barcelona<br />

Unterwegs: Die Welt der Sinti und Rorna<br />

Bildung: Hochbegabte Mädchen<br />

weibbliCK Anklamer<br />

is FKAUBNSICHT Fax: 030/448 55 42, e-mail: weibblick@aol.com<br />

Straße 38,101x5 Berlin, Fön: 030/448 55 39,<br />

Frauenförderung e.V., Anklamer Straße 38,10115 Berlin -ISSN 1434-2294-<br />

Annette Maennel (V.i.S.d.P.), Petra Welzel<br />

Karin Nungeßer - Der Inhalt<br />

der Texte muß nicht mit der Meinung der Redaktion übereinstimmen. Wirfreuen uns über jedes Manuskript,<br />

können aber bei unverlangt eingesandten Texten keine Haßung übernehmen.<br />

siehe obenstehende Adresse - die Anzeigen-Preisliste kann bei der Redaktion angefordert werden,<br />

Bank für Sozialwirtschaft, BLZ 100 205 oo, Konto; 33 22 3-02<br />

Axel Raidt, weibblick, v .mv weibblick, Druckerei Stein, Potsdam<br />

•).. 2(1999


Das Abo - holen Sie sich<br />

den weibblick ins Haus!<br />

Geschenkt!<br />

An alle neuen Abonnentinnen vergibt weibbhcK das Buch »Die Päpstin<br />

Johanna« von Elisabeth Gössrnann <strong>als</strong> Dankeschön, solange unser Vorrat<br />

reicht. Sollten Sie <strong>als</strong>o den Wunsch haben, weibbhcK zu abonnieren,<br />

schneiden Sie einfach die Postkarte aus und schicken sie an uns.<br />

Ein Jahresabo von weibbhcK, der Zeitschrift aus Frauensicht. Alle zwei<br />

Monate ein neues Heft im Briefkasten. Sechsmal im Jahr interessanter<br />

Lesestoffaus Politik, Wirtschaft, Kultur, Feminismus, Reisen und Mode,<br />

gespickt mit guten Fotos und verpackt m einem erfrischenden Layout.<br />

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