Download Innenteil als PDF - Weibblick
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INHALT G<br />
Feuilleton<br />
Lesbenkultur:<br />
Spitzenschürzenjägerin<br />
Effi B. ...<br />
Kartenspiele ... O<br />
Corning out<br />
aus der Zwischenzeit... O ^<br />
Angelina Maccarone<br />
dreht Lesbenfilme für viele ... Q<br />
Lesben in<br />
Daily-Soaps .<br />
Durch die Berliner Lesbenszene<br />
führen I.u Kaiser und Annett Ahrends ... O Q<br />
Rezensionen:<br />
Bücherlips ... { ^<br />
Rubriken<br />
Gesundheit:<br />
Therapickonzept: Urin ...<br />
Mode: Ellen von Unwerths — _.<br />
Kreationen in Buchform .. / _?<br />
Medien: ,-.<br />
20 Jahre »Zeitpunkte« im SFB ... Ö W<br />
Wirtschaft: Arbeit:<br />
Q<br />
Erst orientieren, dann qualifizieren ... O -L<br />
Expertin M. Schwan _<br />
zur Steuerreform ... ö T" n c:<br />
Frauen-Aktienclubs im Kommen ... O J<br />
B'ldun8:<br />
Q r-,<br />
Frauen lesen anders ... O {<br />
Mix: Treff mit Marina, _<br />
transscxuell, lesbisch ... _/ \J<br />
Von der Chance einer Frau gegen Rau ... O<br />
Informationen:<br />
_<br />
Dies und Das & Kleinanzeigen ... 5 t—<br />
Cartoon,<br />
Vorschau und Impressum ... ~> U<br />
Sehr schnell mußte das unmittelbare<br />
Ziel des Natoeinsatzes, das Vertreiben der<br />
Kosovo-Albaner durch das serbische Militär<br />
zu beenden, einer anderen Realität weichen:<br />
Das Ausmaß an Brutalität und Vertreibung<br />
verschärfte sich von Tag zu Tag.<br />
Es wird ihn nicht geben, den schnellen<br />
Frieden für die Kosovo-Albaner und die Serben,<br />
auch wenn ihn sich heute in der achten Woche<br />
nach dem Fall der ersten Nato-Bomben immer<br />
mehr Menschen wünschen.<br />
Nur langsam beginnt die Mauer des<br />
Schweigens zu bröckeln, hinter der bruchstückweise<br />
die unvorstellbar leidvollen Erfahrungen<br />
der Frauen zutage treten, die vergewaltigt<br />
und gedemütigt wurden und bis zum<br />
heutigen Tag dieser Gefahr jederzeit schutzlos<br />
ausgeliefert sind. Sie können helfen, in dem sie<br />
die Arbeit von Medica mondiale unterstützen.<br />
Petra Welzel führte mit der engagierten Frauenärztin<br />
und Feministin der Organisation,<br />
Monika Hauser, ein ausführliches Gespräch<br />
und wird sie Mitte Mai auf ihrer Fahrt in das<br />
Krisengebiet vor Ort begleiten.<br />
Gewalt gegen Frauen und Kinder kennt<br />
keine Grenzen. Die Bundesregierung bezifferte<br />
die l lohe der Kosten, die dem Staat jährlich<br />
durch das Ausüben häuslicher Gewalt entstehen,<br />
auf 29 Milliarden Mark. Allein diese Zahl<br />
macht das Ausmaß des Dilemmas deutlich.<br />
Was erwartet Sie noch in unserer Ausgabe?<br />
Nach einem individuellen Streifzug durch<br />
Osteuropa, führt sie eine Autorin in das Leipziger<br />
Agneshaus. Hier sind junge Mädchen<br />
zu Hause, die <strong>als</strong> Mütter noch zur Schule<br />
gehen. Aus aktuellem Anlaß, daß sich nämlich<br />
seit kurzem die ersten schwullesbischen<br />
Paare ihren Treueschwur mit einem staatlichen<br />
Trauschein in Hamburg besiegeln lassen können,<br />
bekommen vielleicht einige Lust, ihre<br />
Flittcrwochcn in Berlin zu verbringen. Lu<br />
Kaiser machte sich mit der Fotografin Annett<br />
Ahrends auf den Weg, und sie haben für Sie<br />
eine heiße und spannende Spur gelegt.<br />
Bei aller Zerrissenheit in diesen Tagen<br />
/wischen Krieg und Frieden, bleiben Sie uns<br />
gewogen und empfehlen Sie uns weiter. Wir<br />
habens nötig, um nicht die Segel streichen<br />
zu müssen.<br />
2)1999
TITEL<br />
Albanische Mutter mit ihrem Kind<br />
Foto: Marco Limbe.rg<br />
Osteuropa! Osteuropäische Frauen!<br />
Es sollte eine kleine Erfolgsgeschichte werden.<br />
Cut zehn Jahre nach den politischen<br />
Wenden, nach der polnischen Soüdarnosc,<br />
der russischen Perestroika, der Auflösung<br />
des Warschauer Paktes und der deutschen<br />
Wiedervereinigung wollten wir gen Osten<br />
blicken und sehen, was die Osteuropäerinnen<br />
im vergangenen Jahrzehnt auf die Beine<br />
gestellt haben. Wie sieht heute der Alltag der<br />
Frauen im Osten aus? Welche Chancen haben<br />
heute Polinnen, Russinnen, Ukrainerinnen,<br />
Rumäninnen etc., aus ihrem Leben etwas zu<br />
machen? Vor allem, welche Möglichkeiten<br />
stehen ihnen zuhause offen? Es dürfte doch<br />
kaum der Traum jeder Polin sein, in einem<br />
deutschen Haushalt aufzuräumen, oder das<br />
Ziel einer Russin, sich auf deutschen Autorouten<br />
<strong>als</strong> Prostituierte zu verdingen? Oder<br />
könnte es aber sein, daß diese Frauen sich<br />
auch auf diesen Wegen Schritt für Schritt in<br />
einer gewandelten Realität emanzipieren?<br />
Wie auch immer, es sollten jedenfalls<br />
Geschichten von Erfolgen sein, die wir uns<br />
vorstellten, <strong>als</strong> wir dieses Heft planten. Nicht<br />
die bekannten Stories von den armen, unterdrückten<br />
Frauen im Osten, die im Westen<br />
für ihre Familien putzen und anschaffen<br />
gehen müssen. Von schlitzohrigen Geschäftsfrauen<br />
wollten wir berichten, von kleinen oder<br />
großen Frauen mit noch viel größeren Ideen,<br />
erfolgreichen Künstlerinnen, aber auch von<br />
denen, die ihren Platz außerhalb ihres Landes<br />
hier in Deutschland gefunden haben<br />
oder gleich die ganze Welt erobern wollen.<br />
Mittenrein platzten die Nato-Bomben im<br />
Kosovo.<br />
Inzwischen geht der Krieg in den dritten<br />
Monat, und mit jeder Nacht, in der die Nato<br />
Hunderte von Einsätzen fliegt, wird ein Stück<br />
mehr vom Balkan zerstört, auf dem Frauen<br />
und Männer trotz nation<strong>als</strong>taatlicher Bestrebungen<br />
friedlich hätten miteinander leben<br />
können. Innerhalb von zehn Jahren, ist es nun<br />
schon der zweite Krieg, der die Bevölkerung<br />
um Jahrzehnte in ihrer Entwicklung, nicht nur<br />
wirtschaftlich, sondern auch gesellschaftlich<br />
zurückwirft: Ein ganzes Volk, das der Kosovo-<br />
Albaner, ist auf der Flucht und seine Rückkehr<br />
noch längst keine ausgemachte Sache. Selbst<br />
wenn dieser Krieg zuende ist, ist ihr Land zerstört,<br />
sind ihre Häuser abgebrannt und ganze<br />
Dörfer dem Boden gleich gemacht.<br />
Wir haben uns den aktuellen Zeitläufen<br />
nicht verschlossen, und unsere Autorinnen<br />
trotzdem Erfolgsgeschichten schreiben lassen.<br />
Kleine, denn die großen zeichnen sich erst ab.<br />
Es gibt Rückblicke, Analysen und teils persönliche<br />
Beobachtungen. Aber sie alle ändern<br />
eins nicht: Es ist Krieg in Europa.<br />
211999
TITEL<br />
Lina<br />
~TT • l<br />
i mm e<br />
L iilo<br />
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r<br />
ic<br />
Die Gynäkologin Monika Hauser gründete 1993 im bosnischen Zenica ein<br />
Frauentherapiezentrum<br />
für kriegstraumatisierte Frauen. Dam<strong>als</strong> war sie die erste Person aus dem Westen, die steh vor Ort<br />
für eine humanitäre Lösung einsetzte und sich vor altem mit den Frauen solidarisierte.<br />
Anfang April fuhr sie zum ersten Mal nach Albanien, um dort eine sofortige Krisenintervention<br />
für die Kosovarinnen zu koordinieren. Und sie fordert: Milosevic muß weg.<br />
weibblick: Frau Hauser, Sie sind Anfang<br />
April für 10 Tage nach Tirana und an die<br />
albanische Grenze zum Kosovo gefahren.<br />
Was genau haben Sie dort gemacht?<br />
Monika Hauser: Wir wollten wissen, wie die<br />
Situation der kosovo-albanischen Flüchtlingsfrauen<br />
ist, was sie berichten, was sie erlebt<br />
haben und drittens, was wir machen können.<br />
Was wir zunächst angetroffen haben, war ein<br />
absolutes Chaos. Das heißt, die humanitäre<br />
Hilfe war überhaupt nicht organisiert, zumindest<br />
in Albanien. Das ist auch mein Vorwurf,<br />
daß die Bombardierungen begonnen wurden,<br />
ohne zeitgleich die humanitäre Hilfe vorzubereiten.<br />
Dementsprechend waren keine<br />
Auffanglager, weder genügend Essen noch<br />
Medikamente für die Flüchtlinge vorhanden.<br />
Die Menschen sind buchstäblich über die<br />
Grenzen geströmt und sitzen jetzt da auf den<br />
Straßen. Ich denke nicht, daß man sich eins<br />
zu eins auf diese Lage hätte vorbereiten können.<br />
Selbst wenn man weiß, was Milosevic seit<br />
acht fahren im Kosovo betreibt, war wirklich<br />
nicht vorhersehbar, mit welchem Tempo er<br />
einen derartigen Massenexodus verursacht.<br />
Dennoch war zu erwarten, daß es Flüchtlingsbewegungen<br />
geben wird.<br />
Wir fordern deshalb psychosoziale und<br />
gynäkologische Betreuung von Anfang an.<br />
Selbstverständlich müssen die Frauen erstmal<br />
ein Dach über dem Kopf haben und<br />
etwas zu essen für sich und ihre Kinder, erst<br />
dann kann ich an unser Programm denken.<br />
Aber damit muß unmittelbar danach begonnen<br />
werden. Alle Hilfsorganisationen müssen<br />
mehr Koordination zeigen. Wir kooperieren<br />
jetzt mit einer tiranischen Frauenorganistation,<br />
die vor Ort ein psychosoziales Projekt, <strong>als</strong>o<br />
eine psychologische Krisenintervention für<br />
Frauen aufbauen werden. Zudem werden wir<br />
einen Ambulanzwagen zur gynäkologischen<br />
Betreuung einsetzen.<br />
Mittlerweile liegen anscheinend glaubhafte<br />
Beweise vor, daß KosovoAlbanerinnen systematisch<br />
von serbischen Soldaten vergewaltigt<br />
werden. Was haben Ihnen die Frauen<br />
erzählt, mit denen Sie in den Flüchtlingscamps<br />
gesprochen haben?<br />
Aus den Aussagen derjenigen Frauen, die<br />
Gewalt selbst erlebt haben, und den Berichten<br />
derjenigen, die Augenzeugen von Gewalttaten<br />
sind, können wir bestätigen, daß es sehr verbreitet<br />
Gewalt gegen Frauen gibt. Allerdings<br />
ist es in der nach wie vor völlig unübersichtlichen<br />
Situation unmöglich, sich ein klares<br />
Bild zu machen. Von massenhaften oder<br />
systematischen Vergewaltigungen würde ich<br />
deshalb zu diesem Zeitpunkt noch nicht<br />
sprechen. Das kann seriöserweise niemand<br />
sagen. Aber aus all dem, was wir gehört haben,<br />
daß serbische Einheiten Dörfer beschossen<br />
haben, eingefallen sind, die moslemischen<br />
Eliten, Männer und Frauen aus ihren Häusern<br />
gezehrt und vor den Augen der anderen<br />
erschossen haben, die letzteren dann in<br />
Lagerhallen zusammengepfercht und die<br />
Frauen unter ihnen herausgeholt wurden<br />
und dann nach einigen Tagen halbtot und<br />
schwerverletzt zurückkehrten, daß Kinder<br />
vor den Augen ihrer Mütter umgebracht<br />
wurden, aus diesen Szenarien läßt sich<br />
schließen, daß vielfach Gewalt gegenüber<br />
Frauen angewendet wird. Aber die Frauen<br />
sprechen noch nicht alle. Zum einen sprechen<br />
sie nicht, weil sie noch unter Schock<br />
stehen. Und zum zweiten, weil sie aus einem<br />
sehr patriarchalen Kontext kommen.<br />
Ich denke, daß der noch patriarchaler ist,<br />
<strong>als</strong> wir das in Bosnien erlebt haben. Und die<br />
Frauen haben noch einen anderen, wichtigeren<br />
Grund zu schweigen: Was sie derzeit in<br />
Tirana, in den Camps erleben - nur Medien,<br />
Medien, Medien, ein Kamerateam nach dem<br />
anderen steckt seine Kamera in die Zelte hinein<br />
und hält sie auf die weinenden Frauen -<br />
sie haben überhaupt gar keine Möglichkeit,<br />
sich zurückzuziehen.<br />
Dieser Vorwurf wurde von Ihnen bereits<br />
im Bosnienkrieg erhoben: Den Medien sei<br />
hauptsächlich daran gelegen, das Grauen<br />
abzubilden und hinterher die Frauen mit<br />
ihren Erlebnissen und Verletzungen alleine<br />
zulassen.<br />
Es ist immer ein Drahtseilakt, auch für<br />
uns. Ich brauche die Medien, weil ich öffentlich<br />
machen will, was wir erlebt haben, was<br />
wir wissen, und zum anderen natürlich, weil<br />
wir Geld brauchen. Aber die Frage ist doch,<br />
wie man arbeitet. Mein Appell heißt deshalb<br />
mehr Selbstdisziplinierung. Die Medien haben<br />
sich in den Flüchtlingslagern gegenseitig<br />
die Klinke in die Hand gegeben, eine Sendeanstalt<br />
nach der anderen aus der ganzen<br />
Welt. Das war einfach nur ekelhaft. »<br />
2 1999
TITEL<br />
Wir haben Geschichten gehört, wo Frauen<br />
nicht mehr zurückgekommen sind. Niemand<br />
weiß, ob sie tot sind, aber wie soll man das<br />
wissen? Jedenfalls sind sie nicht von den<br />
Orten zurückgekehrt, an die man sie verschleppt<br />
hat. Ich habe bisher keinen Anhalt<br />
darüber, ob im Kosovo so viele Frauen wie<br />
in Bosnien umgebracht wurden. Auch dort<br />
wurden Frauen ja schon nach Vergewaltigungen<br />
und im Gefängnis umgebracht,<br />
Aber das ist auch gar nicht der Punkt. Viel<br />
wichtiger ist zu sehen, was da jetzt seit drei<br />
Wochen abläuft, und immer wieder zu sagen,<br />
daß solche Szenarien, wie sie uns beschrieben<br />
werden, die Gewalt gegenüber<br />
Frauen einschließt, auch wenn wir noch<br />
keine konkreten Zahlen haben.<br />
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TITEL<br />
hat. Die kosovarischen Frauen lebten seit<br />
zehn Jahren in der Angst, daß das passieren<br />
würde, was sie jetzt erlebt haben. Wenn<br />
man sie zum Beispiel auf ihre vielen Kinder<br />
anspricht, dann sagen sie:» Eins war immer<br />
für Milosevic bestimmt«. Und wenn man sie<br />
dann fragt, was sie damit meinen, sagen sie:<br />
»Wir wußten immer, daß Milosevic uns auslöschen<br />
will. Und deshalb haben wir immer<br />
ein Kind mehr bekommen, weil wir dachten,<br />
eins bringt er sicher um«. Ich habe auch<br />
einen alten Mann getroffen, der sagte: »Das<br />
Schrecklichste an der ganzen Geschichte ist,<br />
daß wir immer gesagt haben, daß das passieren<br />
wird, und niemand hat uns gehört«. Und<br />
jetzt ist alles noch viel schrecklicher gekommen,<br />
<strong>als</strong> man es sich in der Phantasie hätte<br />
vorstellen können. Also deshalb Holocaust,<br />
Apokalypse? Irgendwann beschreiben die<br />
Worte nicht mehr das, was die Menschen<br />
erlebt haben. Milosevic hat sie aus ihrem<br />
Land vertrieben und zwar so, daß sie wissen,<br />
dorthin können sie nie mehr zurückkehren,<br />
und er hat ihnen sämtliche Papiere wegnehmen<br />
lassen, jedes noch so kleine Fitzelchen,<br />
auf denen ihr Name oder Geburtsdatum<br />
stand. Sie haben noch nicht einmal mehr<br />
eine Identität.<br />
Nach dem Bosnienkrieg hieß es, die Heilung<br />
der kriegstraumatisierten Frauen wäre nur<br />
dann möglich, wenn in Den Haag ausgesprochen<br />
werde, was geschehen ist. Am 12. April<br />
wurde wieder ein Kriegsverbrecherprozeß<br />
gegen zwei Kroaten in Den Haag eröffnet<br />
Wie schätzen Sie den Erfolg des Tribun<strong>als</strong><br />
nach sechs fahren Arbeit ein?<br />
Dario Kordic, einer der jetzt Angeklagten,<br />
war einer der Kriegsverbrecher, der in Bosnien<br />
wütete, während wir in Zenica unser Zentrum<br />
aufbauten. Nur 20 Kilometer von uns entfernt.<br />
Zu uns kamen dam<strong>als</strong> sehr viele Kroatinnen<br />
und Muslirninnen, die durch ihn und seine<br />
Schergen Gewalt erlebt haben. Insofern ist<br />
Kordic einer der Männer, von denen ich immer<br />
gehofft habe, daß er nach Den Haag kommt<br />
und für das verurteilt wird, was ich praktisch<br />
live durch jene Frauen miterlebt habe.<br />
Und wie denken die betroffenen Frauen<br />
darüber?<br />
Im Endeffekt hat Anto Furundzija, um dessen<br />
Prozeß herum wir im letzten fahr eine<br />
große Kampagne gestartet hatten, zehn Jahre<br />
gekriegt, was absolut richtig ist. Aber der<br />
Weg dahin war sehr schmerzhaft für die einzige<br />
Zeugin. Ihre Glaubwürdigkeit wurde in<br />
Zweifel gezogen. Sie mußte sich von ihrer<br />
Diagnose distanzieren und dann in Den<br />
Haag ein zweites Kreuzverhör über sich<br />
ergehen lassen. Sie mußte sagen: »Ich bin<br />
nicht traumatisiert, und ich habe keine Therapie<br />
gemacht«. Und das ist wirklich eine<br />
ganz großes Armutszeugnis für den Verlauf<br />
des Tribun<strong>als</strong>, daß Frauen es nötig haben,<br />
sich von ihrer Geschichte zu verabschieden,<br />
anstatt sagen zu können: »Natürlich bin ich<br />
traumatisiert, aber das, was ich erlebt habe,<br />
das bin ich, wer wäre denn da nicht traumatisiert.<br />
Das ist mir passiert und da sitzt der<br />
Mann, der das getan hat. Punkt.«<br />
Hatte sich <strong>als</strong>o bis dieser läge nicht längst<br />
schon wieder das große Schweigen über die<br />
an den Frauen ausgeübte Gewalt ausgebreitet?<br />
Das sind zwei verschiedene Dinge. In<br />
Bosnien und weltweit hat sich über die Bosnierinnen<br />
das Schweigen ausgebreitet, absolut.<br />
Und wenn ich sehe, wie sich jetzt die<br />
Medien auf uns und die Frauen stürzen,<br />
denke ich schon wieder, was wird in einem<br />
Jahr sein? Wer wird uns noch Geld geben,<br />
damit wir das Projekt weitermachen können,<br />
sowohl in Bosnien <strong>als</strong> auch jetzt im Kosovo<br />
und in Albanien? Wer wird dann noch über<br />
die Frauen reden? Jetzt will man nur möglichst<br />
viele Details über die Vergewaltigungen<br />
wissen. In Den Haag gibt es hingegen Leute,<br />
die wirklich bemüht sind, die Dimensionen<br />
der sexualisierten Gewalt darzulegen. Aber<br />
es sind Fehler gemacht worden, zum Beispiel,<br />
daß jene Zeugin keinen rechtlichen<br />
Beistand hatte, während der Kriegsverbrecher<br />
mit einem Verteidiger dasaß, der mit<br />
allen Wassern gewaschen war und mit allen<br />
juristischen Mitteln versuchte, die Zeugin zu<br />
demontieren. Es gibt im Amerikanischen das<br />
Wort vom fair trial gegenüber dem Angeklagten,<br />
aber wie steht es um die Opfer dieser<br />
Kriegsverbrecher, was ist mit ihrem fair trial?<br />
Da sind wir noch nicht weitergekommen.<br />
Wir haben Briefe nach Den Haag geschrieben,<br />
weil wir <strong>als</strong> Projekt auch unmittelbar betroffen<br />
sind, weil wir zum Beispiel die psychologischen<br />
Unterlagen über diese Frau rausgeben<br />
mußten. Das ist ein großes Problem. Wie<br />
können unsere Klientinnen noch Vertrauen<br />
zu uns haben, wenn uns Den Haag dazu<br />
zwingt, ihre Unterlagen herauszurücken?<br />
Dieser Umstand, und daß die Frauen keinen<br />
Rechtsbeistand haben sowie die Verteidigungsstrategie,<br />
die Zeuginnen zu demontieren,<br />
empfinden wir <strong>als</strong> äußerst sexistisch,<br />
zumal die Richter dieser Strategie folgen.<br />
Mit Männern ist so etwas noch nie vorgekommen.<br />
Die Serben und Kosovo-Albaner beschuldigen<br />
sich bereits seit ungefähr 15 Jahren gegenseitig,<br />
die einen würden die Frauen der anderen<br />
vergewaltigen, wobei immer die einen schlimmer<br />
<strong>als</strong> die anderen sein. Was ist daran wahr?<br />
In den 8oer Jahren ist da eine große<br />
Propagandamaschine in Bewegung gesetzt<br />
wurden, in der behauptet wurde, die Kosovo-<br />
Albaner hätten aus nationalistischen Motiven<br />
Serbinnen vergewaltigt. Dazu kann ich <strong>als</strong> Feministin<br />
nur sagen, es wird sicher Kosovo-<br />
Albaner gegeben haben, die Serbinnen vergewaltigt<br />
haben, so wie deutsche Männer meinetwegen<br />
italienische Frauen vergewaltigen.<br />
Darüber müssen wir nicht diskutieren. Aber<br />
was in den 8oer Jahren über die nationalistische<br />
Propaganda gegen die Kosovo-Albaner<br />
gelaufen ist, war reine Hetze unter dem<br />
Motto »Unsere reinen serbischen Frauen<br />
werden von den dreckigen Kosovaren vergewaltigt«.<br />
Es gab aber nie Zahlen dazu, die<br />
diese Vergewaltigungen belegten. Nach allen<br />
Belegen muß man sagen, daß dam<strong>als</strong> die<br />
Gewalt gegenüber Frauen zu nationalistischen<br />
Zwecken instrumentalisiert wurden.<br />
Nach Angaben der UNO befinden sich<br />
$5.000 Schwangere unter den Flüchtlingen<br />
aus dem Kosovo, mit 700 Geburten pro Monat<br />
wird gerechnet: Seit etwa zwei Wochen<br />
stellen die UNO in Albanien Erste-Hilfe-<br />
Pakete für Geburten bereit Für die zwei bis<br />
fünf Prozent hochgerechneten Vergewaltigungsopfer<br />
gibt es die »Pille für den Morgen<br />
danach«, um ungewollte Schwangerschaften<br />
zu verhindern. Sind das die richtigen Sofortmaßnahmen?<br />
Es wird ganz bestimmt zu vielen Frühgeburten<br />
kommen. Man spricht in solchen Fällen<br />
von streßbedingten Frühgeburtsbestrebungen.<br />
Da ist es sicherlich gut, wenn für diese<br />
Frauen Erste-Hilfe-Pakete bereitstehen. Ich<br />
habe diese Pakete in Tirana auch selbst gesehen<br />
und bei der schlechten Infrastuktur der<br />
albanischen Krankenhäuser, sind die sehr<br />
wichtig. Was die Pille danach betrifft, so ist<br />
klar, daß die ohnehin nur bis zu 48 Stunden<br />
nach dem Geschlechtsverkehr funktioniert.<br />
Wenn man die Lage vor Ort auch nur ein<br />
bißchen realistisch einschätzt, wird man sich<br />
vorstellen können, daß keine Frau innerhalb<br />
von 48 Stunden in den Genuß dieser Pille<br />
kommt. Außerdem wird keine Kosovo-Albanerin<br />
nach Albanien fliehen und sagen, ich<br />
hätte gerne die Pille für danach. Das ist völliger<br />
Quatsch. Die UNFPA, die UNO-Organisation,<br />
die die Pakete und die Pillen ins<br />
Land bringt, hat ganz andere Motive. Man<br />
will die Gesundheit der Flüchtlingsfrauen »<br />
2)1999
TITEL<br />
mit Verhütungsmitteln insofern schützen,<br />
daß die Frauen jetzt in dieser Situation<br />
nicht schwanger werden, nicht durch<br />
Vergewaltigung, sondern generell. Und<br />
das finde ich sehr sinnvoll. Denn in einer<br />
solchen Situation schwanger zu werden,<br />
bedeutet eine enorme Zusatzbelastung für<br />
eine Frau. Es verringert ihre Lebenserwartungen<br />
und die des Ungeborenen. Außerdem<br />
finde ich es gut, daß endlich mal an<br />
solche Mittel gedacht wurde. Wir haben<br />
das in Bosnien erlebt, daß zwar Medikamente<br />
ins Land gebracht wurden, aber<br />
an gynäkologische Medikamente wurde<br />
nie gedacht. Es geht hier <strong>als</strong>o überhaupt<br />
nicht um die Vergewaltigungen, das ist<br />
eine rein reißerische Geschichte.<br />
Adona@KobOvo<br />
Was Ende Set/:; ,: ;,:^.-.'s per Züfai: !<br />
sches t'ncit. !;:.,iyr :;.- rs i iVk-rutt? ia;.<br />
in San Francs. .,, ä.^ilr-.-mien [. IVrai;<br />
Albanerin, b?^ tl-e ••..-.-•ititvJu?;^ A L£ . ufn.i<br />
ut'i;, ijitiM/i vo'-JiVi gthesrn.<br />
IH'h!.i''U) ,j.äüij!|i<br />
eine Bombenexplosion im Zentrum, nahe dem<br />
Platz, wo wir Jungendlichen immer hingehen.«<br />
»Hallo Finney, ich denkt, Dirgehtsgut.<br />
Und sei nicht besorgt, Deinem Finger geht es<br />
bestimmt bald besser. Okay Finney (ich nenne<br />
Dich gerne so), habe ich Dir gesagt, daß ich<br />
nicht-praktizierende Muslimin bin, und weißt<br />
Du warum? Wenn die Türken meine Urgroßeltem<br />
nicht gezwungen hätten, zum Islam überzutreten,<br />
wäre ich heute vielleicht Katholikin<br />
oder orthodox. Ich glaube schon, daß Religion<br />
eine gute und reine Idee ist, ich denke auch,<br />
viele Leute furchten Gott und glauben, daß es da<br />
eine ändert Welt gibt nach unserem Tod, die sie<br />
abschreckt, Schlimmes zu tun. Aber ich persönlich<br />
stimme mit Descartes überein; Gott ist eine<br />
Erfindung des menschlichen Gehirns. Und nur,<br />
um es Dir zu sagen: Deine E-Mails langweilen<br />
mich überhaupt nicht, ich lese sie total gerne.<br />
Ich höre gerne etwas über Euer Leben und ich<br />
bin wirklich glücklich, irgendwo einen Freund<br />
zu haben, mit dem ich reden kann.<br />
Bye, Adona.«<br />
»Liebster Finney, wie hast Du Deine Klausuren<br />
gemeistert? Was die Musik angeht; Ich<br />
mag die Stones, Saat, Jewel, Cher und andere.<br />
Bonjovi, Beatles und REM sind meine Favoriten.<br />
Ich stehe nicht nur auf eine Art von Musik,<br />
und ich tanze auch sehr gern. Du kannst Dir<br />
gar nicht vorstellen, wie gern ich zu einer Party<br />
gehen würde, verreisen oder so. Ich muß Dir<br />
sagen - manchmal ist es beängstigend. Wenn<br />
ei bedrohlich wird, sitzt die ganze Familie zusammen,<br />
und wir überlegen, wo wir im Ernstfall
TITEL<br />
hingehen, wo wir Geld außreiben können, ob<br />
wir um Hilfe bitten, wo wir unsere Pui.se und<br />
andere Papiere verstecken. Wir haben warme,<br />
Sachen gekauft, falls wirßiehen mitten und<br />
in die Berge gehen oder sonstwohin. Wir sind<br />
tinj das Schlimmste vorbereitet und sagen uns,<br />
das Leben geht weiter, egal wie.<br />
Was die NATO angeht. Du weißt, daß ich<br />
finde, daß die kommen und uns beschützen sollten.<br />
Ich wünschte, jemand könnte das. Ich weiß<br />
schon gar nicht mehr, wieviele. Leute umgekommen<br />
sind. Man sieht immer nur Todesanzeigen<br />
in den Zeitungen. Ich möchte wirklich nicht vergewaltigt<br />
werden, an keinem Teil meinet Körpers<br />
wie all die anderen Massakrierten. Ich wünschte<br />
mir. daß niemand in der ganzen Welt, im ganzen<br />
Universum, das durchmachen muß, was wir<br />
hierdurchmachen. Du weißt gar nicht, wie<br />
g/m kl ich Du sein kannst, ein ganz normales<br />
Leben zußihren. Wir alle möchten nur frei<br />
sein und so leben wie Du, wollen unsere Rechte<br />
haben und nicht unterdrück! werden. Finnegan.<br />
ich erzähle Dir. wie ich über diesen Krieg denke,<br />
und alle meine Freunde sehen das genauso.<br />
Bye, Adona, Kosovo<br />
PS: Schick mir mal Fotos von Dir - ich<br />
schick Dir dann welche von mir, sobald der<br />
Scanner wieder funktioniert.«<br />
••Hallo Finne}!. Ja, die Gewalt halt immer<br />
noch an. Mysteriöse Morde passieren. Vor ein<br />
paar Tagen wurde ein Mann in Pristina umgebracht,<br />
und viele Menschen werden unter mysteriösen<br />
Umständen in anderen Städten ermordet,<br />
das heißt, letztendlich sind die Umstände mir<br />
und meinen Freunden unbekannt. Gerade vor<br />
ein paar Tagen hatte eine meiner Freundinnen<br />
Geburtstag. Wir haben nicht gefeiert, weil wir<br />
dachten, daß sei nicht richtig. Letztendtich war<br />
es eine Form von Solidaritätßir die vielen Opfer.<br />
Nur die wenigen, besten Freundinnen trafen sich<br />
hei ihr zuhause, und wir haben über alles mögliche<br />
gesprochen, begonnen mit der Situation hier<br />
bis hin über die Schule, Musik undjungs. F.inige<br />
sagten, es sei nicht richtig, so weiterzumachen<br />
wie immer, während andere Menschen umgebracht<br />
werden.<br />
Du erwähntest die Unabhängigkeit des<br />
Kosovo. Mir ist der Status nicht wirklich wichtig,<br />
ich sehe das hier nicht <strong>als</strong> einen Krieg, der die<br />
Albaner und Serben teilt. Ich glaube auch nicht,<br />
daß dieser Krieg aus nationalistischen Gründen<br />
begonnen wurde oder um neue Grenzen zu ziehen.<br />
Während Europa versucht, die Grenzen<br />
aufzuheben und die Globalisierung voranzubringen,<br />
müssen wir nicht neue Grenzen ziehen.<br />
Wir brauchen nur die Rechte, die auch andere<br />
haben. Auf der Schultasche eines Freundes kann<br />
ich lesen: >Frieden ist die Zeit zwischen Kriegen.<<br />
'Zuerst erschien mir das dumm, aber wenn ich<br />
länger drüber nachdenke, macht es Sinn.«<br />
»Lieber !:inncy, Danke für Dein Angebot,<br />
mir helfen zu wollen, ein Stipendium zu finden.<br />
Ich versuche das nun schon seit Wochen. Ich<br />
sehe mir über Yahoo die Webseiten verschiedener<br />
Hochschulen an. Aber bisher habe ich noch<br />
nichts gefunden. Ich weiß, ich komme nicht weiter,<br />
wenn ii.h hier bleibe ... es wäre ein Desaster.<br />
Die Leute denken nicht viel über die Schute und<br />
Zukunßspläne nach, aber ich versuche, meinen<br />
Kopj irgendwie wach zu halten, in Distanz zu<br />
dieser Katastrophe, und versuche, meine 7,itkunft<br />
zu planen.<br />
Ich werde Dir mehr über mein Leben und<br />
mich erzählen. Ich liebe es. Spaß zu habeit. und<br />
verrückte Dinge zu tun. Früher bin ich mit meinen<br />
Freunden gewöhnlich bis elf Uhr abends<br />
unterwegs gewesen. Wir waren niem<strong>als</strong> sicher<br />
auf der Straße. Aber jetzt sind wir nicht einmal<br />
mehr zu Hause sicher. Ich habe niem<strong>als</strong> meinen<br />
Personalausweis dabei, wenn ich rausgehe, denn<br />
wenn ich von der Polizei oder ähnlichen Leuten<br />
angehalten werde, rede ich einfach Serbokroatisch<br />
und vermeide so Ärger. Das funktioniert<br />
immer.<br />
Sag mir, was Du über Aliens denkst.<br />
Schreib mir bald.<br />
Adona. Kosovo.«<br />
»Du muß! denken, daß jede einzelne Zeile,<br />
meines Hirns nur noch Horrorßlme oder ähnliches<br />
abspult. Aber Du liegst f<strong>als</strong>ch. Mein Gehirn,<br />
mein ganze* Leben ist allein von der Realität<br />
gezeichnet. Und nur ein geköpßer Leichnam<br />
oder ein dreijähriges massakriertes Kind - was<br />
ich mir ganz bestimmt nicht eingebildet habe -,<br />
oder die Nachrichten auf BBC, auch Du wärest<br />
davon berührt. Wäret Ihr diejenigen, die diesen<br />
bitteren und grausamen Teil der Welt schmecken<br />
müßten, würdet Ihr mich und meine Vorstellungen<br />
verstehen. Ihr würdet auch das Glück verstehen,<br />
das ich empßnde. allein dafür, daß ich lebe.<br />
Adona. Kosovo.«<br />
»Lieber Finney, in diesem Moment, in dem<br />
ich Dir schreibe, auf meinem Balkon sitzend,<br />
kann ich Menschen mit Koffern davonlaufen<br />
sehen und einige Schüsse hören. Ein Dorf, nur<br />
wenige hundert Meter von meinem 7uhause entfernt,<br />
ist komplett eingekesselt. Ich habe meine<br />
Tasche mit den notwendigen Dingen vorbereitet:<br />
Kleidern, Papieren und Geld ...ßir den Ernstfall.<br />
Allein in den letzten paar Tagen sind viele neue<br />
Truppen, Panzer und Soldaten in den Kosovo<br />
gekommen. Gestern war ein Teil meiner Stadt<br />
umstellt und es wurde geschossen ... Ich warte<br />
ungeduldig auf die Nachrichten.<br />
Paß auf Dich auf. Adona«<br />
»Liebster Finney, solange ich noch Strom<br />
habe, werde ich Dir weiterhin schreiben. Gerade<br />
jetzt versuche ich, so ruhig wie möglich zu bleiben.<br />
Meinjüngerer Bruder, der neun ist, schloß jetzt.<br />
Ich hoffe, daß ich ihn nicht aus seinen Träumen<br />
reißen muß. Er ist doch noch ein Kind. Ich muß<br />
jetzt wirklich weg. F.s gibt neue Nachrichten.<br />
Danke für Deine moralische Unterstützung.<br />
Vielen Dank. Ich hoffe, wieder von Dir zu hören.<br />
Adona. Kosovo.«<br />
Finnegan hat seit dieser letzten Mail<br />
mit Adona nur noch einmal telefoniert:<br />
»Als Adona den Hörer abnahm, war ich<br />
einfach nur erleichtert zu wissen, daß sie<br />
noch lebt. Es war irgendwie komisch plötzlich<br />
ihre Stimme zu hören, nach Monaten,<br />
in denen ich sie nur durch Worte auf dem<br />
Bildschirm kannte. Am Anfang war das<br />
Gespräch schlep- pend. Ich denke, wir beide<br />
waren etwas schlich- fern, aber dann ging es.<br />
Ich versuchte ihr zu er/ählen, daß sie hier<br />
viele Freunde hatte, die ihr helfen wollen.<br />
Es scheint so, <strong>als</strong> würden die Telefone im<br />
Kosovo abgehört, deshalb ist Adona sehr<br />
vorsichtig mildem, was sie sagt- Insbesondere<br />
beantwortet sie keine Fragen über den<br />
Krieg und die Bomben.<br />
Wie Montagnacht (29. März 1999) waren<br />
Adona und ihre Familie noch immer in ihrer<br />
Wohnung eingeschlossen. Sie sagte, die Lage<br />
wäre sehr schlecht... sie hätten keinen Strom,<br />
oft kein Wasser und ungefähr nur noch für<br />
eine Woche Nahrungsmittel im Haus. Sie<br />
sagte, sie könne das Telefon nicht mehr länger<br />
benutzen, und ihre Familie hoffe, so bald<br />
wie möglich aufbrechen ?u können - in ihren<br />
Worten >sobald sie einen Korridor sehen oder<br />
einen Pfad raus aus dem Gebiet!< Adona hat<br />
nur wenige oder gar keine Informationen<br />
darüber, was außerhalb dessen passiert, was<br />
sie von ihrem Fenster aus sehen und rundherum<br />
hören kann.<br />
Früher hatte Adona mal den Wunsch geäußert,<br />
mit ihrer Familie bleiben zu wollen,<br />
egal, was es koste. Jetzt sagt sie, die Situation<br />
sei sehr viel schlechter und ihre Familie habe<br />
beschlossen alles zurück/ulassen, wenn es<br />
notwendig sei.<br />
Für mich, der abends die Nachrichten<br />
sieht und morgens die Zeitung liest ist das<br />
was vorher reine Routine war jetzt eine Qual<br />
geworden. Fs ist unerträglich, ?u wissen, daß<br />
meine Freundin durch diese Hölle geht, die<br />
ich in den Nachrichten sehe.«
TITEL<br />
£ *1<br />
j^^^^ul^^ öl<br />
Die Lage war immer extrem<br />
schlecht, aber nie hoffnungslos<br />
in Polen, Nach über 200 Jahren<br />
sind jetzt auch die Polinnen<br />
endlich in Europa angekommen.<br />
Sie haben sich emanzipiert -<br />
auf ihre Art.<br />
Die Geschichte<br />
Bis zum Beginn von Polens Untergang<br />
im Jahre 1772 waren seine Bürger integrativer<br />
Bestandteil des damaligen Europas.<br />
1772 - 1918 begann die Teilung Polens, Polen<br />
verschwand für 123 Jahre von der Landkarte,<br />
aufgeteilt zwischen Österreich-Ungarn,<br />
Preußen und Rußland. Diesen Niedergang<br />
Polens haben eigentlich nur zehn Prozent<br />
der Bevölkerung wirklich wahrgenommen,<br />
vor allem von den ausgebildeten Adligen<br />
bzw. einer kleinen Gruppe des Bürgertums,<br />
meistens auch adliger Abstammung. Von der<br />
Struktur und von den Zielen her würde man<br />
diese Gruppe heute <strong>als</strong> Intellektuelle bezeichnen.<br />
Ihre Mitglieder haben sich auch <strong>als</strong> solche<br />
verstanden, obwohl es im 18. Jahrhundert<br />
noch gar keine abgesonderte Inteligencja<br />
gegeben hat. Der Rolle der Gebildeten,<br />
besonders derer, die in die Emigration gingen,<br />
wurde von Seiten der Polen gehuldigt,<br />
und dir intellektuellen Aufgaben wurden<br />
<strong>als</strong> Hauptfaktor der Bewahrung nationalen<br />
Bewußtseins gesehen. Es war eine Idee dieser<br />
Gruppe, daß die fehlenden staatlichen<br />
Strukturen durch patriotische Tugenden,<br />
Opferbereitschaft und nationale Verbundenheit<br />
in der Not ersetzt wurden.<br />
Foto: Sabine Wenzel, OSTKREUZ<br />
Hauptziel war zunächst, daß die breite<br />
Masse von Polen die Freiheit und Souveränität<br />
ihres Staates zurückerobern muß, sie <strong>als</strong><br />
[ lauptziel ihrer Existenz anerkennt und diesem<br />
Ziel entsprechend agiert. Beide Ziele der<br />
Intellektuellen wurden im Laufe des ig. Jahrhunderts<br />
erreicht und ausgeführt. Immer<br />
wieder erhoben sich die Polen gegen die<br />
Besatzungsmächte und kämpften mit der<br />
Waffe in der Hand um die Freiheit ihres<br />
Vaterlandes. 1795, 1831, 1848, 1863, 1918.<br />
Auch im Ausland, in Frankreich, Ungarn,<br />
Spanien, Italien, Brasilien oder San<br />
Domingo engagierten sich die emigrierten<br />
Polen in die nationalen Kämpfe und Kriege,<br />
deren Ziel, wenn auch sehr entfernt, die<br />
Minderung der einen oder anderen Besatzungsmacht<br />
war. Die patriotischen Ziele<br />
wurden über das persönliche Wohlergehen<br />
gestellt.<br />
So wurden das Nationalbild und Nationalbewußtsein<br />
der Polen in der Unfreiheit von<br />
der romantischen Intelligenz gestaltet. Die<br />
Prägung durch die Intellektuellen hatte positive,<br />
aber auch negalive Seiten. Für die Intellektuellen<br />
harten wirtschaftliche Probleme<br />
kaum eine Bedeutung. Die Verachtung alles<br />
Alltäglichen, Praktischen und Wirtschaftlichen<br />
bekam im Laufe der Zeit eine politische<br />
Erklärung: Die patriotisch Gesinnten wollten<br />
auf keinen Fall für den Wohlstand des Besatzungsstaates<br />
arbeiten. Aber auch eine unvermeidliche<br />
Möglichkeit, daß man infolge der<br />
Repressalien von einem zum anderen Tag<br />
seinen Besitz ver-lieren könnte, trug zu dieser<br />
Gesinnung bei und bewirkte eine Flucht<br />
in die geistigen und künstlerischen Werte.<br />
Nach jedem Aufstand wuchs erzwungenerrnaßen<br />
die Intelligencja: Güter wurden<br />
beschlagnahmt, Teilnehmer des Aufstandes<br />
inhaftiert, verbannt oder ausgcstoßcn. Für<br />
die Ausgestoßenen gab es kaum eine andere<br />
Möglichkeit, <strong>als</strong> in den Städten Fuß zu fassen.<br />
Daher ist der Intellektuelle immer zugleich<br />
auch ein Widerstandskämpfer gewesen, der<br />
in der Nation sehr angesehen war. Am Ende<br />
gab es aber mehr Intellektuelle <strong>als</strong> gut war.<br />
Es entstand im Ausland der abwertende<br />
Begriff von der »polnischen Wirtschaft«, weil<br />
wirtschaftliche- Belange grob vernachlässigt<br />
worden waren. Erst Fnde des 19. Jahrhunderts,<br />
im Zeitalter des Positivismus, erkannten<br />
einige Intellektuelle die Kluft zwischen ihren<br />
romantischen Idealen und dem Volk, dem<br />
sie zu neuer Identität im Staat verhelfen<br />
wollten.<br />
Die romantische Kampfeinstellung hatte<br />
mit Unterstützung und Billigung der katholischen<br />
Kirche stattgefunden. Ein wahrer<br />
Patriot war ein katholischer Patriot! Ein Pole<br />
war immer im Kampf, auch und vor allem<br />
gegen die herrschenden Staatsgesetze, die<br />
gebrochen werden durften, da sie ihm ja aufgezwungen<br />
worden waren. F.s gehört zum<br />
polnischen Selbstverständnis, lieber Verlierer,<br />
Märtyrer und Opfer zu sein, dafür aber<br />
auf der Seite der Gerechten zu stehen.<br />
Nach dem i. Weltkrieg stand die Nation<br />
vor einem Neuanfang, mit der die Umwertung<br />
aller bisherigen Werte einherging. Alles<br />
mußte nachgeholt werden, was ein funktionierendes<br />
Staatsgebilde ausmacht: eine<br />
staatliche Gesetzgebung, wirtschaftliche<br />
Richtlinien, ein ausgewogenes Finanzsystem.<br />
Die Geschichte belohnte Polen für diese Aufgabe<br />
mit zwanzig Jahren politischer Souveränität.<br />
Zu wenig, um über bedeutende Resultate<br />
sprechen zu können. Daher verstärkte da =<br />
Ergebnis leider nur den Eindruck der »polnischen<br />
Wirtschaft«. Das einzige, was sich -<br />
verständlicherweise - wunderbar entwickelte,<br />
war die Kultur: Polnische Filme,<br />
polnische Dichtung, die Bildhauerei, kurz<br />
polnische Kunst war in Europa anerkannt.<br />
Der Pole an sich<br />
Ein Pole ist in seinen eigenen Augen<br />
vor allem ein Europäer, dann ein polnischer<br />
Patriot, ein Katholik und ein Mensch der Kultur.<br />
Desgleichen ist er Romantiker, gern auch<br />
Individualist wenn nicht Anarchist, auf jeden<br />
Fall ist er jemand, der sich nicht mit der<br />
Obrigkeit arrangiert. Hin Mensch der Werle.<br />
Ein Kämpfer. Ein Querulant und Neinsager,<br />
wenn es sein muß. Vielleicht auch ein Künstler.<br />
Vor allern ein Mann. »<br />
2)1999
TITEL<br />
Zum polnisch-patriotischen Denken<br />
gehört ein spezifisches Frauenbild, das - wie<br />
das gesamte Selbstbild Polens im 19. Jahrhundert<br />
- in der Zeit der politischen Unfreiheit<br />
entstanden ist. Eine polnische Frau war<br />
eine Katholikin mit allen Attributen eines<br />
(männlichen!) Patrioten, der das Motto<br />
Goff- Ehre - Vaterland auf seine Fahnen<br />
geschrieben hatte, welches auch das Sterben<br />
einschloß. Der romantisierende Begriff der<br />
Frau setzte voraus, daß es für eine Polin<br />
selbstverständliche Vaterlandspflicht war,<br />
stark zu sein, die häuslichen Arbeiten klaglos<br />
zu erfüllen, den Lebenskreis zu organisieren<br />
und für das Weiterleben der patriotischen<br />
Ideale zu sorgen.<br />
Die Zeit der Teilung war für die Polinnen<br />
die Zeit ihrer ersten Emanzipation. Die<br />
Geschichte hatte verursacht, daß sich die<br />
Polinnen erzwungenermaßen realtiv früh<br />
emanzipierten - sie wurden selbständig,<br />
erlernten Berufe {auch intellektuelle), sorgten<br />
für die Familie. Die Männer waren in verschiedenen<br />
Aufständen gefallen oder in die<br />
Verbannung gegangen, die Frauen gezwungen,<br />
die Wirtschaft zu übernehmen. Gutsbesitzerinnen<br />
mußten lernen, wie die Landwirtschaft<br />
organisiert wird. Dazu waren sie zwar<br />
nicht immer fähig, und der Betrieb mußte<br />
verpachtet oder verkauft werden, aber insgesamt<br />
erwuchsen aus dieser Situation starke<br />
Frauen. Die Emanzipation kam jedoch zu<br />
den Polinnen ohne das entsprechende<br />
Selbstbewußtsein. Sowohl Ausbildung und<br />
Arbeit <strong>als</strong> auch das sogenannte Sagen in der<br />
Familie (die polnische Frau ist die, die das<br />
Geld in der Familie verwaltet) - allesamt<br />
Züge, die im Westen stark emanzipatorisch<br />
besetzt sind - werden in Polen <strong>als</strong> Selbstverständlichkeiten<br />
betrachtet, die eher eine<br />
Belastung <strong>als</strong> ein emanzipatorischer Faktor<br />
sind.<br />
In der Teilungszeit hatte sich aber auch<br />
ein spezifisch-polnisches Frauenideal der<br />
»Mutter-Polin« entwickelt. Dies wird oft im<br />
Westen mit dem russischen Begriff »Mutter<br />
Rußland« verwechselt. Dabei steht sie für<br />
eine ganz andere psychologische Situation.<br />
»Mutter Rußland« verkörpert Heimat und<br />
Heimatliebe, die die Aufopferung vor allem<br />
der Männer, Soldaten, Krieger und Kämpfer<br />
verlangt. Dagegen ist die »Mutter-Polin*<br />
jede einzelne Frau, die es sich zur Aufgabe<br />
gemacht hatte, Söhne zu gebären und nach<br />
strengen patriotischen Vorgaben großzuziehen,<br />
damit sie später - <strong>als</strong> Jugendliche und<br />
Erwachsene - für das in der Sklaverei leidende<br />
Vaterland kämpfen und auf dem<br />
Schlachtfeld fallen wurden. Sie würden sich<br />
nicht zur Verfügung stellen, wenn die Zeit<br />
dafür reif war, sie würden vielmehr diese<br />
Zeit selber hervorrufen und gestalten, da sie<br />
einzig fürs Vaterland geboren wurden und<br />
für dieses sterben sollten. Eine besondere<br />
Eigenschaft der »Mutter-Polin« war es, den<br />
Tod ihrer Söhne ohne Klagen und mit ausgeprägtem<br />
Stolz anzunehmen. Das historische<br />
Muster hierfür lag offensichtlich in Sparta,<br />
Wenige Polinnen haben sich bis heute<br />
von diesem Denken befreit. Vorreiterinnen<br />
sind hier wieder die Intellektuellen. Überspitzt<br />
formuliert war auch für sie bis zur<br />
Wende die Kultur ein Kult, dem das eigene<br />
Glück im Sendungsbewußtsein für Ehre<br />
und Vaterland zu opfern war. Erst nach der<br />
Wende wurde endlich auch das eigene persönliche<br />
Glück wichtig. Man kann sagen,<br />
daß die Polinnen zugleich emanzipiert und<br />
konservativ waren. Sie sollten selbständig<br />
und abhängig, klug und Untertan, erfolgreich<br />
und bildschön, gepflegt und elegant sein.<br />
Die fehlenden Frauenrechte wurden durch<br />
sprichwörtliche polnische Ritterlichkeit kompensiert.<br />
Die Polinnen sind bis heute so -<br />
stark und selbständig, ohne es sich bewußt<br />
zu machen. Sie verstehen sich <strong>als</strong> Bürger<br />
und nicht <strong>als</strong> Bürgerinnen.<br />
Die Polin hat nie um ihre Rechte <strong>als</strong> Frau<br />
gekämpft, historisch bedingt wurden ihr alle<br />
Frauenrechte »von oben« gegeben. Sie lernte<br />
nie, ihre Probleme zu thematisieren. Erste<br />
Frauenrechte - wie zum Beispiel das Recht<br />
auf Studieren - erhielten sie zusammen mit<br />
den Frauen ihrer Besatzer, es waren Russinnen<br />
oder deutsche und österreichische Bürgerinnen,<br />
die dafür gekämpft hatten. Das<br />
nächste Geschenk kam mit der Wiedergewinnung<br />
der staatlichen Souveränität. Polen<br />
wollte ein modernes, demokratisches Land<br />
sein. Das Wahlrecht für Frauen war einerseits<br />
ein Beweis der Zugehörigkeit zum<br />
Europa, anderseits gewann damit die junge<br />
polnische Regierung eine wichtige Gruppe<br />
von Unterstützerinnen. Dann kamen der 2.<br />
Weltkrieg und danach der Kommunismus.<br />
Zum dritten Mal erhielten die Frauen die<br />
Emanzipation und damit das Recht auf<br />
Arbeit, auf Ausbildung, auf Gleichberechtigung.<br />
Die Frauen übernahmen sie jedoch<br />
wenig begeistert. Die unbeliebte Ideologie<br />
des Kommunismus hatte sie ihnen aufgedrängt.<br />
Zudem verbesserte sich ihre persönliche<br />
Lage dadurch nicht. Im Gegenteil:<br />
Die Berufsarbeit erschwerte oft die Lebenssituation,<br />
Die ideologisch groß geschriebene Emanzipation<br />
der Frau im Sozialismus, die <strong>als</strong><br />
Gegenargument im ideologischen Kampf<br />
mit dem Kapitalismus gemeint war, hatte<br />
sich in der polnischen Version des Sozialismus<br />
nicht bewährt. Die Frauen wurden <strong>als</strong><br />
eine ziemlich harmlose soziale Gruppe<br />
betrachtet, die man von oben beliebig manipulieren<br />
und instrumentalisieren konnte. Sie<br />
wurden gleich nach dem Krieg, <strong>als</strong> das Land<br />
in Trümmern lag, arbeiten geschickt, um<br />
schon in den 6oern an den Herd zurückbefohlen<br />
zu werden. Der Höhepunkt ihrer<br />
Instrumentalisierung wurde in der Zeit zwischen<br />
1970 und 1980 erreicht (Gierek-Ära),<br />
<strong>als</strong> man einige Maßnahmen einführte, die -<br />
<strong>als</strong> Frauenprivilegien verkleidet - tatsächlich<br />
die Diskriminierung der Frau und ihr Ausscheiden<br />
aus dem Arbeitsmarkt bedeuteten<br />
(etwa den 3Jährigen Erziehungsurlaub, der<br />
sich mit wiederholten Schwangerschaften<br />
praktisch beliebig verlängern ließ).<br />
Die wirtschaftliche Misere zwang zwar<br />
weiterhin viele Frauen zur Arbeit, die aber<br />
selten - vor allem unter den Intellektuellen -<br />
Zufriedenheit mit dem im Beruf Erreichten<br />
zuließ. In einem System, in dem man schon<br />
sprichwörtlich für alle auch alltäglichen Verbrauchsgüter<br />
Schlange stehen mußte, waren<br />
die berufstätigen Frauen nicht wie anderswo<br />
doppelt, sondern dreifach belastet Beruf,<br />
Haushalt und Einkaufen bildeten die drei<br />
Segmente des Lebens, die soviel Zeit in<br />
Anspruch nahmen, daß gar keine Abwechslung<br />
oder Urlaub möglich war.<br />
Auch gesundheitlich waren die Polinnen<br />
(genauso wie andere Ostblockbürgerinnen)<br />
viel schlechter dran <strong>als</strong> die Frauen in den<br />
kapitalistischen Ländern. Ungesundes und<br />
monotones Essen, fehlende medizinische<br />
Vorbeugung, nicht ausreichende ärztliche<br />
Fürsorge und Übermüdung durch zuviel und<br />
zu schwere Arbeit trugen gemeinsam dazu<br />
bei, daß die Polinnen sehr oft gewünschr hatten,<br />
nicht (und nie) mehr emanzipiert zu<br />
sein und lieber im Schoß der Familie die<br />
Rettung aus der Misere zu suchen. Selbstverständlich<br />
war es den polnischen Männern -<br />
Ideologie hin, Ideologie her - auch recht,<br />
wenn die Frauen lieber nur zu Hause tätig<br />
sein wollten. Polen blieb <strong>als</strong> Land konservativ.<br />
Die wirtschaftliche und soziale Niederlage<br />
des Systems ließ die Polen weiterhin an<br />
K<br />
-ä | KJ99
TlTEI<br />
Foto: Harald Hauswald. OSTKREVZ<br />
ihrem bewährten Modell »Tradition + Patriotismus<br />
+ Familie + Kirche« hängen und<br />
/.wang auch die kommunistische Regierung,<br />
sich mit der Kirche zu arrangieren. Männer-<br />
Partei, Männer-Kirche und traditionelle patriarchalische<br />
Gesellschaft schafften /usammen<br />
eine Klammersituation, in der jedes Frauenrecht<br />
sich <strong>als</strong> Last entpuppte, und <strong>als</strong><br />
Gegensatz dessen, was es versprach. Die<br />
»Frauenemanzipation« hatte der Polin nichts<br />
zu bieten.<br />
Solidamosc<br />
Die Entstehung der Arbeiterbewegung<br />
Solidamosc während des Streiks im August<br />
1980 in Cdansk war zweifelsohne das wichtigste<br />
Ereignis in der Geschichte Polens nach<br />
dem 2. Weltkrieg. Fs ist jedoch 711 betonen,<br />
daß die Bewegung sehr traditionell gesinnt<br />
war, das heißt polnisch-patriotisch, konservativ<br />
und der katholischen Kirche Polens sehr<br />
nahe stehend. Die kommunisilische Partei<br />
mußte sich ungewollterweise mit der Kirche<br />
engagieren. Solidamosc machte es freiwillig,<br />
l'ür die Frauen in Polen ein Fakt mit sehr<br />
schweren Folgen. Die Frauen engagierten<br />
sich massenweise in der Solidamosc, eine<br />
Männerorganisation, in der die Frauen 50<br />
Prozent bildeten. Fast paradox scheint dabei,<br />
daß - obwohl iti dieser zuerst rein gewerkschaftlichen<br />
Bewegung fast alle Unzufriedenen,<br />
Andersdenkenden und Frustierten Asyl.<br />
Zuflucht und l lafcn gefunden hatten, und<br />
obwohl im Laufe der ersten eineinhalb jähre<br />
ihrer Existenz Solidamosc zum Sammelbecken<br />
aller möglichen politischen Richtungen<br />
geworden war- daß sich die Frauen nirgendwo<br />
<strong>als</strong> gesonderte Gruppe geäußert oder ihre<br />
Probleme ausgedrückt hatten. Solidamosc<br />
kämpfte um Bürgerrechte für alle Polen - die<br />
Frauen waren immer nur »mitgemeint«. Wie<br />
in vielen sogenannten 3. Welt Ländern wurden<br />
auch die Frauen in Polen, die sich in dieser<br />
Zeit für Frauenprobleme interessierten,<br />
mit dem Argument: »Dies alles später, jetzt<br />
zahlt vor allem innere Solidarität!«, zurückgewiesen<br />
oder sogar <strong>als</strong> Störenfriede der Bewegung<br />
abgestempelt.<br />
Nach der Wende<br />
Nach der Wende 1989 kämpften in Polen<br />
vier von Männern bestimmte Kräfte miteinander:<br />
die. abdankende Partei, die angehende<br />
kapitalistische Marktwirtschaft, die ultrakonservative<br />
Kirche und die patriotisch-koriscrvativ-traditionell<br />
gesinnte Salidarnosc. Die<br />
Frauen warendie ersten Opfer dieses Kampfes.<br />
Auch durch die Wende und die Wirtschaftsreform<br />
hatte sich die Lebenssituation vieler<br />
Polinnen verschlechtert. Mehr Frauen <strong>als</strong><br />
Männer sind von Arbeitslosigkeit betroffen,<br />
Kindergärten werden - weil zu teuer -<br />
geschlossen. Die Organisation des Haushalts<br />
mit knappern Budget liegt nach w:ie vor in<br />
den Händen der Frau. Katastrophal sank die<br />
Zahl der jungen Frauen, die sich weiterbilden<br />
oder studieren. Die Zahl der Frauen in staatlichen<br />
Institutionen und Gremien ist die<br />
niedrigste in den vergangenen 50 Jahren. »<br />
3I'999
TITEL<br />
Zugleich ist die polnische Gesellschaft<br />
noch konservativer denn je, der Umgang der<br />
Menschen miteinander ist gröber, brutaler<br />
geworden. Die traditionelle geschlechtsspezifische<br />
Rollenverteilung ist in Polen wieder<br />
zur Geltung gekommen. Die Männer genieren<br />
sich nicht mehr, in aller Öffentlichkeit zu<br />
behaupten, der Platz einer Frau sei zuhause.<br />
Auch viele Frauen stimmen dem zu. Die Ritterlichkeit,<br />
die vorher die fehlenden Frauenrechte<br />
zu ersetzen wußte, ist verschwunden.<br />
Die Ellenbogengesellschaft prämiert das<br />
Durchsetzungsvermögen und nicht wie<br />
zuvor die menschliche Solidarität.<br />
Eine Zeitlang war auch die staatliche<br />
Gesetzgebung ausgesprochen konservativ<br />
und frauenfeindlich. 1992 wurde ein Antiabtreibungsgesetz<br />
verabschiedet. In den<br />
goern legte man dem Sejm noch andere<br />
neue Gesetze vor, wie das zur Erschwerung<br />
der Scheidung, und auch das das Wohnen<br />
und Zusammenleben ohne Trauschein sollte<br />
behindert werden. Das Konkordat, der staatliche<br />
Vertrag mit dem Vatikan, wurde schon<br />
von der scheidenden Regierung Hanna<br />
Suchockas unterschrieben und dann 199^<br />
ratifiziert. Laut dem Konkordat muß die polnische<br />
Gesetzgebung an die Buchstaben des<br />
Konkordats angepaßt werden.<br />
Feminismus in Polen<br />
Im Vergleich zu den yoern und Soern<br />
scheint die Situation des Feminismus in<br />
Polen rosig zu sein. Feminismus ist zwar<br />
nach wie vor ein Schimpfwort in Polen und<br />
findet unter den Frauen wenig Verständnis,<br />
aber es sind Frauengruppen und -Organisationen<br />
entstanden, es gibt regelmäßig erscheinende<br />
feministische Zeitschriften und andere<br />
Veröffentlichungen. Vor allem hat sich in<br />
bestimmten Gruppen die Überzeugung verfestigt,<br />
Polen fehle eine grundsätzliche Stellungnahme<br />
zur Frauenproblematik. Es sind<br />
Versuche zu bemerken, die Probleme der<br />
Polinnen nicht nur zu thematisieren, sondern<br />
auch Lösungen zu erarbeiten.<br />
Dennoch ist die Situation weit von der<br />
westlichen » Frauenselbstverständlichkeit«<br />
entfernt. Frauengruppen existieren, sogar<br />
zahlreich, engagieren sich, versuchen nach<br />
dem westlichen Muster ein Frauenselbsdiilfenetz<br />
auf die Beine zu bringen - es engagieren<br />
sich jedoch selten die Frauen, die sich zusätzlich<br />
noch stets mit laufenden Alltagsproblemen<br />
auseinanderzusetzen haben. Feminismus<br />
ist vor allem unter den Studentinnen<br />
und/oder jungen Wissenschaftlerinnen präsent,<br />
in großen Städten, auch unter Lesben.<br />
Er hat aber mit der »normalen« Polin überhaupt<br />
nichts gemein. Daher fehlt es in Polen<br />
an feministischen Überlegungen, die der<br />
komplizierten Situation einer Polin mit<br />
ihrem Selbstbild gerecht würden. Polen kann<br />
keine westlichen feministischen Ideen und<br />
Methoden »pur« aufkaufen - der polnische<br />
Feminismus braucht eigene, spezifisch polnische<br />
Züge, so wie das Bild einer Polin seine<br />
spezifischen Eigenschaften hat.<br />
Am Ende des 2. Jahrtausends, zwanzig<br />
Jahre nach dem Beginn der der Solidaritätsbewegung,<br />
zehn Jahre nach der Wende, kann<br />
man sagen, daß sich sowohl die Lage der polnischen<br />
Gesellschaft, <strong>als</strong> auch die der polnischen<br />
Frau allmählich normalisiert. Die<br />
konservativen Strömungen in der Politik<br />
sind abgeklungen, die politischen Kämpfe<br />
insgesamt weniger wichtig geworden. Man<br />
hat sich an die- durch die Marktwirtschaft<br />
erzwungene wirtschaftliche und gesellschaftliche<br />
Selbständigkeit gewöhnt. Es sind zwar<br />
viele Frauen wieder »nach Hause« gegangen,<br />
man sieht aber, daß das »Zu-Hause-Sein«<br />
nicht unbedingt hemmend wirkt, daß sich<br />
gerade dadurch ganz viele Frauen emanzipiert,<br />
eigene Firmen gegründet, Kameren<br />
gemacht haben. Es sind starke Sparten für<br />
Frauen, die auch wahrgenommen werden,<br />
entstanden - zum Beispiel die Frauenliteratur<br />
mit einer ganzen Reihe hervorragender junger<br />
Schriftstellerinnen. Eine polnische Dichterin<br />
hat den Nobelpreis für Literatur bekommen,<br />
Eine polnische Regisseurin ist mit Erfolg<br />
nach Hollywood gegangen und macht Weltkarriere.<br />
Zu den zehn erfolgreichsten und<br />
reichsten Menschen in Polen zählen bereits<br />
drei Frauen. Das alles stärkt das Bewußtsein<br />
jeder Frau, auch der scheinbar unbedeutenden,<br />
unwichtigen.<br />
Von weitem betrachtet, scheint die polnische<br />
Frau im Vergleich zur Westeuropäerin<br />
relativ konservativ zu sein. In Polen sieht<br />
man aber, daß es nicht so ist. Unser Frauen-<br />
Modell ist vielleicht ein wenig sanfter und<br />
schöner, sicher ein bißchen eleganter <strong>als</strong><br />
anderswo. Also, wie die Polen es zu sagen<br />
pflegen: Unsere Lage ist extrem schlecht,<br />
aber nicht hoffnungslos.<br />
Ewa Maria Slaska ist Chefredakteurin der<br />
deutsch-polnischen Literaturedition »WIR«<br />
Ivonna Mickiewicz<br />
Gleich sind wir an diesem frühen Morgen<br />
Unsere Haut ist überall<br />
die Sonne quillt über<br />
Deine Füße Salome singend und treu<br />
Zwei nackte Einhörner in Kristallh<strong>als</strong>en<br />
von Tulpen<br />
Dann mag ich sehen<br />
Wie zwischen Luft und Atem<br />
eine Brust wächst fett und unbeweglich<br />
Welches Vorfall wandeln zwang uns<br />
Aus dem Infantintraum<br />
eine Nadel zu nehmen<br />
Einen Stern in der Baumwurzel<br />
einzuschläfern<br />
Wir wiederholten das<br />
wie ein eigenes Gedicht<br />
Der Rest vom abgehackten Vogelschnabel<br />
ist ein Stamm vermorscht<br />
Genau hier könnten wir uns treffen<br />
Abends vergesse ich<br />
Bitte die Mutter das Fenster zu putzen<br />
Vielleicht wird jemanden das Blut<br />
im Bauch des Spiegels schmerzen<br />
Unvermeidlichkeit dem Alter<br />
preisgeben<br />
Bevor wir mit Liebe und<br />
Schwefel spucken Salome<br />
Bevor wir sicher sind<br />
Daß uns der Tod zu eigen<br />
hier inmitten blumenlos<br />
enttäusche ich die Wände<br />
beschnuppere nicht mehr<br />
was es zu lieben gibt<br />
was kann man noch<br />
unter das Messer nehmen<br />
gegen den Strich betrachten atemlang<br />
den leeren Sommer teilen wir<br />
das Lamm zu tief<br />
im Mund der Schuh entfernt<br />
um eine Nacht<br />
der Tisch mit rippigem Schatten<br />
reizt nicht unsere Faust<br />
mir gegenüber dein entscheiden<br />
licht aus<br />
der Luft ein Gleichgewicht zu überwunden<br />
zu überaugen wie im Honig<br />
wölbt sich die fette Zunge<br />
es ist so weit daß ich mir<br />
das Ankommen verzeihe<br />
und Abwarten<br />
f.1 2(1999
TITEL<br />
Lidice: Der Name wurde zum Symbol<br />
für die sinnlose Grausamkeit der Nazis, die<br />
die SS in der Nacht vom 9. auf den 10. Juni<br />
7942 Lidice bescherte. Mila Kalibovä war 19<br />
jähre alt, <strong>als</strong> das Terrorkommando in ihrem<br />
Dorf einfiel. Die Frauen von Lidice wurden<br />
in das Konzentrationslager Ravensbrück<br />
deportiert. Erst nach dem Krieg erfuhren sie,<br />
daß die Deutschen alle 173 Männer des Dorfes<br />
erschossen, daß sie 88 Kinder verschleppt<br />
und die meisten von ihnen getötet hatten.<br />
von<br />
» UL t/<br />
i.aice<br />
Bis zum 10. Juni 1942 wohnten in Lidice<br />
493 Einwohner. Die Männer arbeiteten meistens<br />
in den Stahl- und Kohlebergwerken im<br />
sieben Kilometer entfernten Kladno, die<br />
Frauen bestellten die Felder und versorgten<br />
die Haushalte. Die Vernichtung des Dorfes<br />
war ein Racheakt der Nazis auf das Attentat<br />
gegen Reinhard Heydrich, der seit September<br />
1941 Polizeiprotektor in Böhmen und<br />
Mähren gewesen war. Zwei Fallschirmjäger<br />
der in England stationierten tschechoslowakischen<br />
Armee hatten den SS-Gruppenführer<br />
und Polizeigeneral Heydrich Ende Mai<br />
1942 so schwer verletzt, daß er am 4. |uni<br />
1942 starb. Die Gestapo verhängte das<br />
Standrecht und leitete eine umfangreiche<br />
Verfolgung der Attentäter ein. Lidice fiel in<br />
Verdacht, weil zwei junge Männer des Dorfes<br />
<strong>als</strong> Soldaten in der tschechoslowakischen<br />
Armee dienten. Sie waren aber schon seit<br />
Dezember 1939 verschollen. Ohne irgendwelche<br />
Beweise nahm die Gestapo die Verwandten<br />
dieser beiden Soldaten fest, acht<br />
Männer und sieben Frauen, und erschoß<br />
sie kurzerhand. Doch auch das erfuhren<br />
die Frauen von Lidice erst nach dem Krieg.<br />
Und auch wohin ihre unfreiwillige Reise<br />
ging, wußten sie dam<strong>als</strong> noch nicht.<br />
aufgeschrieben und festgehalten von Doris Liebermann<br />
Sie wollte Geigerin werden und begann ihre Amtszeit mit einem<br />
Paukenschlag- Erika Steinbach, Vorsitzende des Bundes der<br />
Vertriebenen. Die Tschechen hätten unter den Nation<strong>als</strong>ozialisten<br />
kaum gelitten, trommelte die CDU-Bundestagsabgeordnete letztes<br />
Jahr zu Pfingsten. Kaum gelitten - was das heißt, zeigt hingegen<br />
das Schicksal des Bergarbeiterdorfes Lidice, 20 Kilometer<br />
Drei |ahre blieben die Frauen von Lidice<br />
im KZ Ravensbrück. Nach ihrer Rückkehr<br />
aus Ravensbrück, Anfang 1945, erfuhren sie<br />
die schreckliche Wahrheit. Daß noch Kinder<br />
überlebt haben können, wie manchmal vermutet<br />
wurde, das hält Mila Kalibovä für<br />
unwahrscheinlich. Einmal im |ahr kommt<br />
sie mit arideren Frauen zu Besuch nach Berlin,<br />
eingeladen von dem SPD-nahen Arbeitskreis<br />
für politische Bildung, der seit Jahren<br />
Kontakte zu dem nach dem Kriege völlig<br />
neu gebauten Dorf Lidice pflegt. In Berliner<br />
Schulen erzählt Mila Kalibovä aus ihrem<br />
Leben und hofft, daß das, was sie erlebt hat,<br />
niemandem passieren möge: »<br />
westlich von Prag.<br />
2IT999
TITEL<br />
»Es waren einige furchtbare Momente, ja.<br />
Das war zum Beispiel diese Nacht, <strong>als</strong> wir<br />
nach Mitlernacht geweckt wurden, in den<br />
Häusern, wir die Häuser verlassen mußten<br />
und uns gesagt wurde: Ihr geht für drei Tage<br />
in die Schule. Nehmt warme Kleidung und<br />
etwas zu Essen mit. Und, an dem Dorfplatz,<br />
wurden wir dann von den Männern getrennt,<br />
und dk1 Frauen und Kinder wurden in die<br />
St huli' geführt. Als wir alle dort waren, mußten<br />
wir in die l astkraftwagen vor der Schule<br />
einsteigen. Wir wurden in eine Schule nach<br />
Kladno gebracht, wo gegenüber die Amtsstelle<br />
der Gestapo war. Da wurde die meiste<br />
Aufmerksamkeit den Kindern gewidmet, ja.<br />
Die wurden eingeschrieben, die Krankheiten,<br />
die sie durchlebt haben, und die Familienund<br />
Su/ialVerhältnisse. Und sie wurden<br />
gefragt, ob jemand von den Vorfahren ein<br />
Deutscher war. Am dritten Tag sind mehrere<br />
Gestapomänner gekommen und sagten: Ihr<br />
wißt, was in Lidice geschehen ist. Ihr geht<br />
für eine Zeit in ein Lager, geht mit dem Zug.<br />
Die Kinder gehen mit dem Bus, damit die<br />
Reise für sie bequemer ist. Gewaltsam wurden<br />
die Kinder von den Müttern getrennt,<br />
die nicht gehen wollten. Natürlich wollten<br />
die nicht gehen. Es weinten beide Seiten.<br />
Und das war das zweite, so schwere Erlebnis,<br />
die Nacht - <strong>als</strong> die Kinder weggenommen<br />
worden waren. Ich war neunzehn.<br />
Wir wurden dann in einen Zug auf dem<br />
Bahnhof gebracht. Das war Freitag abends,<br />
und am Sonntag früh sind wir an einem kleinen<br />
Bahnhof, Ravensbrück, angekommen.<br />
Da standen Frauen in SS-Uniformen mit<br />
Hunden, Wolfshunden am Bein und Revolver<br />
und schrien: Zu fünft aufstellen. Dann<br />
wurden wir durch das Tor 'Arbeit macht frei'<br />
geführt. Da standen wir dann auf dem Lagerplatz,<br />
und in der ersten Baracke ging ein<br />
Fenster ein Stück auf und in Tschechisch<br />
fragte jemand: Wer seid ihr? Unsere Gruppe<br />
wurde in Ravensbrück bereits erwartet. Wir<br />
sagten: Wir sind von Lidice. Sind unsere Kinder<br />
hier? Hier sind keine Kinder, sagten sie.<br />
Und später im Bad haben wir erfahren, daß<br />
wir im Konzentrationslager sind.<br />
Ich sage immer, die drei Jahre waren viel<br />
schlimmer für uns <strong>als</strong> für die anderen Häftlinge,<br />
weil wir drei Generationen waren, ja.<br />
Die Großmutter und die Mutter und die<br />
Töchter. Wir kannten uns, waren Kameradinnen,<br />
Schulkameradinnen und Nachbarinnen.<br />
Und wir haben das Leid dieses Lebens<br />
mitgelebt, mit den anderen. Und in den Briefen<br />
nach Hause - einmal im Monat konnten<br />
wir schreiben, wie überall in den Konzentrationslagern<br />
- haben wir gefragt, was ist mit<br />
unseren Kindern und Männern? Und von zu<br />
Hause, von Verwandten, haben wir die Antwort<br />
bekommen: Den Männern geht es wie<br />
euch, und die Kinder hätten von Polen geschrieben.<br />
Und so haben wir die drei Jahre<br />
durchlebt. Und zu Ende April 45 wurde<br />
Ravensbrück evakuiert, und wir wurden auf<br />
einen Todesmarsch geschickt, zuerst unter<br />
der Wache von den SS-Leuten, und später, <strong>als</strong><br />
die verschwunden waren, waren wir allein.<br />
Und noch einen Monat wanderten wir durch<br />
Deutschland, schrecklich vernichtet war das,<br />
überall Ruinen, und auch die Moral war am<br />
Ende, und dann zu L;nde sind wir in ein<br />
Sammellager für Ausländer in Neubrandenburg<br />
gekommen, und dann wurden wir von<br />
zwei Bussen von Kladno-Betriebe nach<br />
Hause zurückgeführt.<br />
Die Mithäftlinge, die später noch kamen,<br />
die wußten schon die Wahrheit. Aber weil sie<br />
unsere Verzweiflung sahen, wurde es ihnen<br />
von den anderen Häftlingen verboten, uns<br />
etwas zu sagen. Also wußten wir es die ganze<br />
Zeit nicht. Wir hofften, daß unsere Familienmitglieder<br />
noch lebten. Daß das nicht stimmte,<br />
das haben wir erst dann erfahren, <strong>als</strong> wir<br />
Anfang Juni zurückkehrten. Erst da erfuhr<br />
ich, daß mein Vater erschossen worden war.<br />
So mußten wir das Leben, nur wir Frauen,<br />
neu beginnen. Wir mußten erfahren, daß<br />
alle Männer erschossen wurden, und mußten<br />
das annehmen. Aber daß jemand den<br />
Kindern wehtun kann, den unschuldigen<br />
Kindern, das wollten wir nicht glauben. Es<br />
gab eine ausgedehnte Fahndung nach den<br />
Kindern. Erst 1947, <strong>als</strong> 17 Kinder gefunden<br />
wurden, haben wir von einem Zeugen in<br />
Polen erfahren, daß die Kinder nach Lodz in<br />
Lastkraftwagen gebracht worden waren und<br />
später vergast wurden, 82 Kinder.<br />
Sieben Kinder, die unter einem Jahr<br />
waren, die sind in Prag in einem deutschen<br />
Kinderhaus geblieben, und von Lodz wurden<br />
neun Kinder abgezogen und in ein Kinderheim<br />
gegeben, und dann an deutsche Familien<br />
verkauft. Und datin sind am Leben <strong>als</strong>o<br />
die neun und sieben, ein Knabe ist gestorben<br />
in Prag, in diesem Kinderhaus. Und dann<br />
noch sechs sind geboren nach der Tragödie,<br />
aber vier sind in der Matrik <strong>als</strong> Verstorbene<br />
gezeichnet. Und nur zwei davon leben. Insgesamt<br />
nur siebzehn Kinder von 105 sind<br />
am Leben gebliehen.<br />
Das erfuhren wir alles von den Leuten.<br />
Das war ein Lager für die Kinder, meistens<br />
für die jüdischen Kinder, wo die anderen hinkamen.<br />
Also man weifs nicht, was für Kinder<br />
weggenommen wurden. Ks sind auch Dokumente,<br />
daß sie nach Svatobozice, das ist in<br />
Mähren, in ein Lager gebracht wurden. Also<br />
man weiß es nicht. Da sind diese zwei jungen<br />
deutschen Leute, die nach den Kindern suchen.<br />
Aber die Frauen in l.idice haben sich schon<br />
damit abgefunden, dafs sie schon gestorben<br />
sind. Es ist schwer, so nach 50 Jahren. Die<br />
Kinder wußten nichts, auch die, die in den<br />
deutschen Familien, die hallen ganz vergessen,<br />
wo sie eigentlich herkamen. Ihnen wurde<br />
gesagt, ihre Eltern leben nicht mehr, <strong>als</strong>o sie<br />
mußten deutsch sprechen, in deutsche Schule<br />
gehen, und das frühere Leben ganz vergessen.<br />
Da waren Mädchen um 10 Jahre, die<br />
wußten schon etwas, und können sich erinnern,<br />
aber da waren auch kleinere Kinder.<br />
Ich denke, das jetzige Deutschland war<br />
etwas anderes in der Nazi-Zeit. Wir haben das<br />
erlebt, wir hatten auch diese Totali tat-Regime,<br />
da können wir besser begreifen, was das mit<br />
den Leuten machen kann, weil bei uns die<br />
Leute auch viele Jahre verhaftet waren, und<br />
von dem Regime viel gelitten haben. Ich<br />
denke, daß wir trotzdem nicht ganz belehrt<br />
von der Historie sind - doch etwas, dafs wir<br />
ein besseres Leben und Menschen sein<br />
wollen.«<br />
Doris Liebermann, Osteuropaexpertin,<br />
freie Autorin und Hörfunkjournalistin,<br />
lebt in Berlin.<br />
'i 2(1999
TITEL<br />
Brigitte Schulze<br />
w i e<br />
Pan<br />
wagen<br />
Intellektuelle, Mutterkult, Frauenbewegung und Politik in der Ukraine -<br />
persönliche Beobachtungen einer Korrespondentin<br />
Ankunft: Kiew- Flughafen Borispol:<br />
über die Brücke fahren, die die Hauptstadt<br />
der Ukraine in ein rechtes und ein linkes<br />
Ufer teilt: der Mutter l leimat entgegen.<br />
jener riesigen Statue aus der Sowjetzeit,<br />
dem Wahrzeichen der Verteidigung; Heimat<br />
fühlen; Anschluß an ukrainische l;reunde in<br />
der grünen Stadt, wie das mehr <strong>als</strong> anderthalb<br />
Jahrtausend alte Kiew wegen seiner viden<br />
Parks genannt wird. Die nachhaltigsten Eindrücke<br />
der ersten Zeit? Eine Klohürste ist<br />
nicht zu finden, ebensowenig eine Plastikschüssel.<br />
Dafür graues Schreibpapier. Schon<br />
zehn Geschäfte habe ich abgesucht.<br />
»Du willst doch nicht von der Toilette essen«,<br />
hat einer meiner besten Freunde in Kiew einmal<br />
zu mir gesagt. Und dennoch: Ich will das<br />
Klo putzen, die Fenster polieren, mich ein<br />
bißchen deutsch fühlen in diesem für mich<br />
so ungewohnten Land, daß ich allen Unkenrufen<br />
zum Trotz angefangen habe zu lieben,<br />
obwohl hier alles so anders ist, und der sozialistische<br />
Geruch, wie ich ihn nenne, über<br />
allem liegt: eine Mischung aus schlechtem<br />
Benzin. Mottenpulver, starkem Tabak, Menschenausdünstung<br />
und Parfüm.<br />
Ob ich auch schonmal Schiauge gestanden<br />
hätte, hat mich Jura, mein ukrainischer Journalistellkollege<br />
einmal gefragt. Ja - natürlich<br />
- und ich habe auch gespürt, wie die Aggression<br />
in mir hochkroch. Warum in so einer<br />
Schlange stehen? Warum existiert sie überhaupt?<br />
Was sind das für Menschen, die sich<br />
geduldig einreihen und stundenlang auf die<br />
Öffnung irgendeines Amtes, eines Geschäftes<br />
oder sonst etwas warten? Menschen, die das<br />
Warten gelernt haben, die alles geduldig hinnehmen?<br />
Ich habe hier etwas zu lernen: ein<br />
Stück Leben, anders <strong>als</strong> ich es bisher kannte,<br />
Es fällt mir schwer, dies in Worte zu fassen.<br />
Berichte über die Ukraine - Sachinformationen?<br />
Wie kann das gehen, wo doch alles<br />
von persönlichen Geschichten geprägt ist.<br />
Politik - auch da sind Menschen am Werk<br />
mit ihrer ganz persönlichen Geschichte,<br />
deretwegen sie sich oft und leicht in Machtkämpfe<br />
verstricken. Mensch sein - das<br />
bedeutet Leben. Und Leben verändert sich<br />
jeden Tag, wie jeder Mensch in jeder neuen<br />
Situation. Dieser fortwahrende Prozeß in<br />
Bezug auf ein Land läßt sich mit Worten und<br />
Sätzen kaum beschreiben. Ich versuche es<br />
dennoch, <strong>als</strong> Schlaglicht auf die Ukraine aus<br />
persönlicher Sicht. Was ich gestern schrieb,<br />
2)1999 '5
TITEL<br />
ist langst überholt. Heute gibt es Klobürsten,<br />
Faxpapier, eine Menge neuer Restaurants und<br />
Läden. Was aber bleibt ist die Beziehung zu<br />
den Menschen, zu den Frauen, die ich traf.<br />
Manche, zunächst rein berufliche Begegnung,<br />
führte häufig zu persönlicher Betroffenheit<br />
und der meist offenen Frage, wie sie es wohl<br />
schaffen, immer wieder ihre oft mißliche<br />
Lage /u meistern und Wege /um Überleben<br />
zu finden, Es ist ein Paradox, das für Fremde<br />
unlösbar scheint, auch dort in der Schule 270,<br />
einem der Plattenbauten, wie sie für die<br />
Randbezirkc von Kiew typisch sind.<br />
Zufallig Stoffe ich auf die F;rauen, deren<br />
Stimmen grell durch die Küchen t ür dringen.<br />
Die Organisationschefin und die Gastgeber<br />
werfen sich ärgerliche Blicke zu. Fs war nicht<br />
abgemacht, in der Küche derartig lustig zu<br />
sein. Schließlich waren die Frauen zum<br />
Kochen engagiert, dafür, etwas auf den Tisch<br />
zu bringen. Aber während die Gäste essen,<br />
erlauben sich auch die Köchinnen ihre Feier.<br />
Erneut schwillt der Gesang ukrainischer<br />
Volkslieder an. Was geht dort vor? Ich schiebe<br />
vorsichtig die Schwingtüre auf. Acht weibliche<br />
Körper, von denen mit Sicherheit die Hälfte<br />
die Zwei-Zentner-Grenze überschritten hat,<br />
geben in Hausschuhen, mit speckigen Kittelschürzen<br />
und fettigen Haaren unverhohlen<br />
ihrer Lebensfreude Ausdruck. Daß sie von<br />
einer westlichen )ournalistiri angesprochen<br />
werden, empfinden sie fast wie einen politischen<br />
Akt. auf alle Fälle aber <strong>als</strong> ein Zeichen<br />
der Verbundenheit mit ihrem »Land am<br />
Rande«, wie die Ukraine wörtlich übersetzt<br />
heißt. Sie sind dankbar, daß eine deutsche<br />
Zeitung veröffentlichen will, was sie denken:<br />
Daß die Ukraine ein gastfreundliches Land<br />
ist. daß beleibte Menschen immer lustig<br />
sind, und daß Fremde, vor allem die Deutschen<br />
in der ehemaligen Kornkammer Furopas<br />
immer gern gesehen werden.<br />
Nicht alle Frauen leben so unbeschwert<br />
wie die wohlbeleibten Köchinnen in der<br />
Schule 270, wo es bei entsprechenden Anlässen<br />
alles gibt, und wo sie für ihre Arbeit<br />
auch bezahlt werden. Die Masse erhält oft<br />
monatelang keinen Lohn. Auf ihre Männer,<br />
denen es meist genauso geht, können sie<br />
auch nicht /ählcn. Diese Frauen suchen<br />
ihren Ausweg im Geschäft auf der Straße.<br />
Alte Mütterchen verkaufen auf den Basaren<br />
alle möglichen Utensilien, die sie aus dem<br />
Haushall oder von persönlichen Dingen erübrigen<br />
können. Armselig stehen sie da, ein<br />
Sieb in der Hand, das Kunden anlocken soll.<br />
Auf dem Roden liegt eine alte Armatur, daneben<br />
ein gufseisernes Bügeleisen, abgetragene<br />
Kleidung, Aliiminiumgeschirr und vieles<br />
andere, was in Deutschland im Mülleimer<br />
landen würde. Wer keine Ware anbieten kann.<br />
versucht es mit kleinen Dienstleistungen,<br />
wie die Rentnerin im Gidropark neben der<br />
Dnjeprbrücke. Der Park mit seinen weit<br />
verzweigten Wegen und Nebenarmen des<br />
Dnjepr ist ein beliebtes Ausflugsziel für die<br />
Kiewer Bevölkerung. Vor allern sonntags<br />
kann die alte Frau dort mit Einnahmen der<br />
Vorübergeilenden rechnen. Sie hat eine<br />
Waage dabei und für zwanzig Kopeki. das<br />
sind etwa 10 Pfennige.dürfen die Ausflügler<br />
ihr Gewicht prüfen oder für den gleichen<br />
Preis die Kraft im Arm. Die Frau an der Ecke<br />
ist Invalidin zweiten Grades und hatte drei<br />
Schlaganfälle. »Mir reicht die Pension von<br />
80 Hrywna nicht«, klagt sie, umgerechnet<br />
sind das etwa 40 Mark. Deshalb müsse sie<br />
einfach sehen, wie sie zu Geld komme.<br />
Die ständige Anspannung hat Folgen.<br />
Frauen, die gerade erst 40 Jahre alt sind,<br />
sehen häufig aus wie Sechzig. Vor allem auf<br />
dem Land, wo sie überdurchschnittlich hart<br />
arbeiten, sind ihnen die Spuren der Zeit ins<br />
Gesicht gefurcht. Die Perestroika habe ihr<br />
Leben aus dem Gleichgewicht gebracht,<br />
schimpfen einige Alte in Kanew, die am Ufer<br />
des Dnjepr von den Touristen leben. Während<br />
sie ihrem Unmut über die Politik und die<br />
schlechte Wirtschaftslage Luft machen, flattern<br />
ihre bunten Kopftücher lustig im Wind.<br />
Auch sie sehen nicht so aus, <strong>als</strong> würden sie<br />
am Hungertuch nagen. Fs ist das bekannte<br />
Kunststück in der Ukraine. Trotz Wirtschaftskrise<br />
gibt es immer zu Essen, sitzen Gäste<br />
am vollgedeckten Tisch, wobei das Jammern<br />
der Gastgeber über die schwierige Situation<br />
ständige Begleitmusik ist.<br />
Immer wieder habe ich mich den vielfältigen<br />
Erfahrungen in der Ukraine ausgesetzt,<br />
wollte das fremde l .eben hautnah und an der<br />
Basis selbst spüren. Ich arbeite unter primitiven<br />
Bedingungen, lebe in Kiew in einer<br />
düsteren 2-Zimmer-Wohnung, die ich durch<br />
einen übelriechenden, dreckigen Hausflur,<br />
oft von Hunden belästigt, erreiche. An den<br />
Wänden hängen traditionsgemäß Teppiche.<br />
In Küche und Bad sind Ameisen ständige<br />
Gäste. Die dunkelbraunen Schleiflackmöbel<br />
im Stil der 5oer jähre sind abgewetzt. Nur<br />
Fax und Telefon verbinden mich mit der<br />
westlichen Welt, vorausgesetzt ich gewinne<br />
gegen die schlechten Verbindungen. Vielen,<br />
die mit der ganzen Familie auf gleichem<br />
Raum auskommen müssen, erscheint diese<br />
Wohnung, die ich seit fünf fahren gemietet<br />
habe, <strong>als</strong> absoluter Luxus. Denn ich lebe dort<br />
allein.<br />
,6 2I'999
TITEL<br />
Foto: Nelly Rau-Häring<br />
Wie leben die anderen? Wo ist die Frau,<br />
die mich in ihr Leben hineinschauen läßt?<br />
Wie werden Frauen durch die neue Gesellschaftsordnung<br />
geprägt? Wie kommen sie<br />
mit der neuen, planlosen Marktwirtschaft<br />
zurecht, die ihnen der Zerfall der Sowjetunion<br />
und die U nab h ängigkei Verklärung der Ukraine<br />
7991 präsentiert haben? Bei Anja lasse ich<br />
einfach mein Tonband laufen und mich<br />
treiben. Ich brauche Entspannung in dem<br />
anstrengenden Land, in dem jeder Moment,<br />
vom Aufwachen bis zum Schlafengehen,<br />
Arbeit und Aufregung bedeutet.<br />
Anja, die ich schon einige Jahre kenne,<br />
ist Wissenschaftlerin. Seit rund zwei Jahren<br />
arbeitet sie in einem ukrainisch-englischen<br />
Gemeinschaftsprojekt in der rund 500 Kilometer<br />
von Kiew entfernten ostukrainischen<br />
Stadt Sumi. Meist treffen wir uns samstags,<br />
wenn sie mit dem Nachtzug nach Hause gekommen<br />
ist. Wir sitzen in der Küche, dem<br />
immer noch beliebtesten Treffpunkt in allen<br />
Haushalten. Bei Anja gibt es ohnehin keine<br />
andere Variante. Sie lebt nämlich auf engstem<br />
Raum mit ihrem Mann und dem halbwüchsigen<br />
Sohn in einer rund 35 Quadratmeter<br />
großen Einzimmerwohnung. Beim<br />
ersten Besuch war ich schockiert. Mittlerweile<br />
habe ich mich an den ständigen Essensgeruch<br />
gewöhnt, der in jede Ritze kriecht. Sogar<br />
eine Katze findet noch Platz in dem j-Personen-Haushalt,<br />
der bis unter die Decke mit<br />
allen erdenklichen Dingen vollgestopft ist.<br />
Soziale Maßstäbe, wie sie in Deutschland<br />
üblich sind, haben in der Ukraine eine andere<br />
Bedeutung. Die gesellschaftliche Rangordnung<br />
läßt sich kaum durchschauen. Das kommunistische<br />
Gefüge ist seit dem Zusammcnbruch<br />
der Sowjetunion aus den Fugen geraten, was<br />
eine eindeutige Zurodnung der Menschen zu<br />
einer bestimmten Schicht unmöglich macht.<br />
Geistige Arbeit wird gering geschätzt, körperliche<br />
in der Produktion nicht gebraucht.<br />
Viele Fabriken stehen still. Das große Geld<br />
verdienen in der heutigen Urnbruchsituation<br />
die Geschäftemacher und Händlernaturcn.<br />
Anjas Selbstbewußtsein jedenfalls leidet<br />
nicht darunter, primitiv leben zu müssen.<br />
Und der Gastfreundschaft tut es keinen<br />
Abbruch. Der Fmpfang ist immer herzlich.<br />
Sie drückt mich auf einen der drei Hocker in<br />
der Küche, bietet Krautsalat mit Eiern und<br />
Mayonnaise an. Auf dem Gasherd brutzeln<br />
in längliche Stücke geschnittene Kartoffeln.<br />
Manchmal gibt es zum Bier auch getrockneten<br />
Fisch, wenn wir über Gott und die Welt<br />
und die wirtschaftlichen Möglichkeiten<br />
reden. Als Wissenschaftlerin arbeitet Anja<br />
schon lange nicht mehr. Denn das bringt<br />
kein Geld. Und weil Bildung teuer ist und<br />
keinen schnellen Gewinn verspricht wie<br />
kurzfristige Geschäfte, wird die intellektuelle<br />
Elite ins Abseits gedrängt.<br />
Nur wenige sind in der Lage, weiter wissenschaftlicher<br />
Lehre und Forschung nachzugehen,<br />
wie Kira Schachowa, Professorin für<br />
Weltliteratur an der Kiewer Schewtschenko<br />
Universität. Sie wohnt im Stadtzentrum von<br />
Kiew in einem der schönen alten, verzierten<br />
Häuser, in der vierten Etage. In Strumpfhosen<br />
öffnet sie die Tür. So früh hat sie mit der<br />
Besucherin nicht gerechnet. Seelenruhig<br />
zieht sie sich die schwarzen feans an, streift<br />
den dünnen, rot-schwarz gemusterten Pullover<br />
glatt, über dem sie eine schwarze Lederweste<br />
trägt und eine Kette aus dicken, roten<br />
Perlen, dazu den passenden dicken roten,<br />
ovalen Ring und ebensolche Ohrringe. Ihre<br />
langen grauen Haare hat sie elegant im Nacken<br />
zusammengesteckt. Sie bittet in ihr Wohnzimmer,<br />
den mittleren von drei Räumen.<br />
Die Zimmer sind vollgestopft mit Büchern.<br />
In der Küche setzt sie den alten Teekessel<br />
auf und serviert Tee in abgenutzten Bechern.<br />
Der Kühlschrank ist abgewetzt, ein Stuhl<br />
kaputt, die Tapeten sind eingerissen und<br />
vergilbt, darunter bröckelt der Putz. »<br />
2I'999
TITEL<br />
Der Spülslein trägt die Spuren jahrzehntelangen<br />
Gebrauchs. Aber Kira Schachowa ist über<br />
derart Alltäg-liches erhaben. Aufräumen ist<br />
einfach hin und wieder Notwendigkeit, ihr<br />
aber nicht wichtig. Das Leben spielt sich für<br />
sie offenbar in anderen Sphären ab. Ihre<br />
Gedanken scheinen nicht stillzustehen.<br />
Ihre lebendigen Augen lassen einen nicht<br />
los, während sie über den Mutterkult in der<br />
Ukraine erzählt, für mich ein ganz neues<br />
Thema: »In der Ukraine ist der Kultus der<br />
Muller besonders, irgendwie heilig.« Woher<br />
das kommt? Die Psychologen und Ethnologen<br />
würden das mitunter ziemlich komisch<br />
erklären und daraus sogar ableiten, daß das<br />
ukrainische Volk wegen diesem Kultus der<br />
Frau und der Mutter irgendwie schwach<br />
und gutmütig sei.<br />
Duldsam sind alle Ukrainer, Männer<br />
wie Frauen. Aber ob das dem Mutterkult<br />
zuzuschreiben ist, wo doch die Frau immer<br />
noch alle Lasten trägt? Frau Schachowa zieht<br />
es selbst in Zweifel. Aber eines steht fest:<br />
Die Neuzeit ist brutal anders und verlangt<br />
eine völlige Umstellung aller Menschen und<br />
ihrer Werte. Früher war die Ukraine durch<br />
die Sowjetmacht russifiziert und die Blickrichtung<br />
damit klar. Seit dem Zusammenbruch<br />
der Sowjetunion und der Unabhängigkeit<br />
fehlt die Orientierung auf eigene,<br />
ukrainische Werte. Alte Maßstäbe gelten<br />
nicht mehr, neue sind noch nicht gefunden<br />
und es gebe leider noch »sehr viele Bremsen<br />
aus dem früheren Leben«, erklärt Frau Schachowa.<br />
Urplötzlich sehe man »die alten<br />
Ohren sich herausstecken. Aber ich bin<br />
Optimistin. Ich sage immer: Man muß<br />
etwas warten, schnell kommen nur Kaninchen<br />
oder Kätzchen zur Welt. Und wir sind<br />
doch erst so kurze Zeit ein freier Staat.«<br />
Ob sich dieser Staat anders entwickelt<br />
hätte, wenn in der Ukraine Frauen das Sagen<br />
hätten? Hätte es die Tschernobyl-Katastrophe<br />
gegeben? Gäbe es die Bergarbeiterstreiks irn<br />
Donbass-Gebiet der Ostukraine, Korruption,<br />
Wirtschaftskrise und die nationalistischen<br />
Auseinandersetzungen zwischen Ost, Westund<br />
Südukraine, wenn die Frauen die Verantwortung<br />
für die politische und wirtschaftliche<br />
Umgestaltung hätten? Die Hellseherin<br />
I.ilja Efimowna will es wissen. Eine von drei<br />
Frauen mit einem speziellen Karma soll in<br />
der übernächsten Arntsperiodc Präsidentin<br />
der Ukraine werden, ließ sie im »Boulevard«<br />
verlauten. Diese Frau sei klug, gut und in<br />
politischen Kreisen hinreichend bekannt.<br />
Die Ukraine werde schon von 1998 an<br />
wirtschaftlichen Aufschwung und eine nie<br />
geahnte Stabilität erleben. Es werde sich<br />
alles zum Besseren wenden.<br />
Zwei Frauen sind bereits in die Regierung<br />
der Ukraine aufgerückt und nehmen<br />
Ministerposten ein: im Justizministerium<br />
und im Ministerium für Jugend und Familie.<br />
Im Parlament genießt Natalja Witrenko <strong>als</strong><br />
Abgeordnete großes Ansehen. Eine erfolgreiche<br />
Unternehmerin mit politischem Einfluß<br />
ist Julia Timoschenko. Immer mehr Frauen<br />
in der Ukraine wollen ihr Bewußtsein für<br />
politische Fragen schärfen und politische<br />
Positionen sowohl auf lokaler <strong>als</strong> auch überregionaler<br />
Ebene einnehmen. Um diesem<br />
Ziel näher zu kommen, wurde die Frauenpartei<br />
»Liga der Frauen« gegründet. Möglicherweise<br />
unter ihrer ersten Präsidentin,<br />
so die Wahrsagerin I.illja Efimowna, werde<br />
es »in etwa zehn oder fünfzehn fahren in<br />
der Ukraine das Leben geben, das wir uns<br />
schon lange wünschen«.<br />
t K 2)1999
TITEL<br />
1 ,,,<br />
o<br />
Text: Barbara Kerneck<br />
Fotos: Petra Prochäzkovä<br />
»Ganz oder gar nicht« hieß einer<br />
der erfolgreichsten Kinofilme der<br />
Neunziger über eine Männerstripgruppe,<br />
besetzt mit rauhbeinigen<br />
Arbeitslosen aus der nordenglischen<br />
Provinz. Moskau zählt zwar<br />
nicht zum unterentwickelten, russischen<br />
Hinterland, aber Arbeit zu<br />
finden, ist auch dort ein Kunststück.<br />
Ganz oder gar nicht haben<br />
sich daher auch die »Golden Boys«<br />
gedacht: Rußlands erste Stripper<br />
sind hin- und hergerissen zwischen<br />
ihren Zuschauerinnen, Freundinnen<br />
und Müttern.<br />
Vor zwei Minuten hat der gutgebaute<br />
Mann Irina auf die enge Tanzfläche des<br />
Moskauer Nachtklubs Up & Down gezogen,<br />
und schon grapscht seine Hand nach ihrer<br />
Brust - leicht und doch irgendwie demonstrativ.<br />
Irina (38) fühlt sich weder belästigt<br />
noch überrascht. Der Mann ist für sie zwar<br />
ein Fremder, aber sie weiß ihn einzuordnen.<br />
Im Up & Down ist heute der allwöchentliche<br />
»Frauentag«. Und das bedeutet: Auftritt der<br />
mannlichen Strippergruppe »Golden Boys«<br />
und weibliches Publikum in der Überzahl.<br />
Irmas Tanzpartner und seine vier Kollegen<br />
haben sich eben erst - nicht ganz synchron<br />
und etwas tolpatschig - auf einer kleinen<br />
Bühne zu orientalischen Klangen aus Phantasie-Beduinentrachten<br />
geschält. Jetzt trägt<br />
er nur noch einen Slip. Die »Boys« sind<br />
Moskaus neuester Hit. Zwischen ihren Auf-<br />
Iritten sind sie angehalten, ihre Zuschauerinnen<br />
zu animieren - in jeder Hinsicht.<br />
Der blonde Mann, der mit Irina tanzt, ist<br />
zweiundzwanzig. Er wird von seinen Kollegen<br />
»Woltschonok« genannt: »kleiner Wolf«. Irina<br />
klebt an ihm, ihr Knie geht auf Erkundungsfahrt<br />
in seinem Schritt. Nur der Griff dorthin<br />
ist tabu - dies wird der Moderator zu Beginn<br />
jeder Show nicht müde zu betonen, in der<br />
Regel halten sich die Frauen daran. Aber um<br />
Woltschonok an allen anderen Stellen zu betasten,<br />
strecken sich schon ein Dutzend Hände<br />
aus dem Publikum. Irinas Finger fahren in<br />
den Bund seines G-Strings - mit einem<br />
Fünfzigdollarschein.<br />
Die ärmsten Frauen sind es nicht, die<br />
hierher kommen. Der Eintritt kostet 350 Rubel<br />
(24 DM). Nicht mehr bezieht so manche<br />
Babuschka in der Provinz <strong>als</strong> Monatsrente.<br />
Die Golden Boys selbst charakterisieren ihre<br />
weiblichen Fans so: »Das sind entweder die<br />
Ehefrauen von den Neuen Russen, die vor<br />
Langweile zu Hause verrückt werden, während<br />
ihr Mann Geld scheffelt - manche von<br />
ihnen beschwatzen ihren Gatten, ihnen<br />
einen Auftritt von uns auf ihrer Geburtstagsparty<br />
zu schenken. Und dann sind da die<br />
gutverdienenden Geschäftsfrauen, die sich<br />
nach Feierabend in einer sexy Atmosphäre<br />
erholen wollen. Unser Auftritt bildet für sie<br />
eher eine Kulisse«.<br />
Am S. März, dem internationalen »Frauentag«,<br />
hatte die Leitung des Up & Down dieses<br />
Wort buchstäblich genommen und männlichem<br />
Publikum den Zulritt gänzlich verwehrt.<br />
Bei dieser Gelegenheit fanden sich<br />
auch Zuschauerinnen ein, die sich das Spektakel<br />
sonst nicht leisten. Ihre Neugierde ließen<br />
sie an den Boy-Leibern gründlich aus: »Dam<strong>als</strong><br />
hatten wir Angst, aufgefressen '/,u werden«,<br />
erzählen die Stripper. Ob sie ihre An-Hangerinnen<br />
deshalb verachten?<br />
»Keineswegs!«, sagl Sascha Gerassiinow<br />
(24). Er erblickt in seiner Tätigkeit die Mission<br />
eines barmherzigen Bruders: »Manchen Frauen<br />
sehe ich es bereits von der Bühne aus an, daß<br />
sie mich brauchen«, sagt er: »Während ich<br />
zu ihnen gehe, bin ich schon ein bifschen in<br />
sie verliebt. Ich freue mich, wenn ich diesen<br />
Frauen ein wenig Freude spenden kann, denn<br />
davon haben sie in unserem bedrückenden<br />
Alltag nicht allzuviel«.<br />
lieber Stripper <strong>als</strong> Kriegci<br />
Das allzugute Leben kann es nicht gewesen<br />
sein, wovor diese [ungs in den Beruf des<br />
Strippers flohen. Noch vor zehn fahren wäre<br />
diese Tätigkeit für einen Russen undenkbar<br />
gewesen. Für die Boys ist sie heute eine normale<br />
Überlebensstrategie, insgesamt zehn<br />
Männer arbeiten auf den Bühnen verschiedener<br />
Nachtklubs in zwei Schichten, jeweils zu<br />
fünft. Auf mehr <strong>als</strong> die 4000 Rubel (ca. 205<br />
DM|, die jeder von ihnen monatlich erhält,<br />
könnten sie heute kaum rechnen. Aber dazu<br />
kommen an guten Tagen noch die Dollar-<br />
Trinkgelder von den Zuschauerinnen.<br />
Fast all diese Jungs kommen aus der<br />
Provinz, manche frisch vom Militär. Sie entgingen<br />
dem Schicksal, an einer der vielen<br />
Bürgerkriegs fronten des postsowjetischen<br />
Raumes <strong>als</strong> Kanonenfutter verheizt zu werden.<br />
Michajl Anissimow, Manager und Erfinder<br />
der Truppe, erhielt an einem einzigen Tag<br />
über 1200 Anrufe, nachdem er vor einem<br />
fahr die Anzeige in die Zeitung gesetzt hatte,<br />
mit der alles begann: »Suche junge Männer<br />
<strong>als</strong> Tänzer für erotisches Theater«. Dam<strong>als</strong><br />
meldete sich auch Sascha Gerassimow. Er ist<br />
der einzige Moskauer und der Selbstsicherste<br />
unter den Golden Boys. Nach zwei Jahren<br />
Militärakademie trainierte er 1995 Rekruten<br />
für den Einsatz in Tschetschenien. »Sie taten<br />
mir leid«, erinnert er sich: „Die Kommandeure<br />
wollten uns gulausgebildete Soldaten<br />
nicht opfern. Deshalb wurden die Unerfahrensten<br />
dorthin geschickt - und sie wußten<br />
weshalb«. Jetzt studiert Sascha nebenher an<br />
der Moskauer Hochschule für Luftfahrt -<br />
keine leichte Aufgabe angesichts eines Golden<br />
Boy-Arbeitspensums von zwölf Stunden täglich.<br />
Manager Anissimow besteht auf intensiver<br />
Arbeit mit dem Choreographen und<br />
Schauspielunterricht für alle.<br />
Anderntags übt der Schauspiellehrer Juri<br />
Andrannik mit Badur aus Afghanistan, wie<br />
man dem Professor mitten im Universitätsexamcn<br />
ein Schmiergeld zusteckt. Die zuschauenden<br />
Golden Boys lachen. Andrannik<br />
ist für sie mehr <strong>als</strong> ein Pädagoge. Er versucht,<br />
sie spielerisch vorzubereiten. Nicht nur auf<br />
2)1999
TITEL<br />
den Strip - auch auf das Leben danach. Was<br />
Badur betrifft, so hat der dem Bürgekrieg in<br />
seiner Heimat den Rücken gedreht. Manager<br />
Anissimow behauptet, in Badurs Adern fließe<br />
blaues Blut: »Man merkt es daran, daß er selbst<br />
bei engstem I lautkontakt noch Distanz zu<br />
wahren versteht«.<br />
[•'roiwillig in den Bürgerkrieg begab sich<br />
dagegen ein anderer Golden Boy aus der<br />
Ukraine, der ebenfalls Sascha heißt. Sascha II<br />
(22) hatte seinen Wehrdienst fast beendet, <strong>als</strong><br />
ihn Emissionäre der französischen Fremdenlegion<br />
1996 für den NATO-Dienst bei Sarajewo<br />
anwarben. Nicht, daß es ihn besonders<br />
dorthin gezogen hätte, aber dort gab es »so<br />
ein Geld«. Mit 500 Dollar pro Monat waren<br />
die Ukrainer zwar die schlcchtbe/ahltesten<br />
Nalo-Soldaten vor Ort. Dafür verklärt sich<br />
Saschas Gesicht noch heute beim Gedanken<br />
an die französische Verpflegung. Seine Freundin<br />
Natascha, eine echte Moskauerin, war<br />
anfangs mit seinem neuen Beruf nicht einverstanden.<br />
Nun aber meint sie: »Mach, was<br />
du willst, nur in den Krieg lass' ich dich nie<br />
wieder«.<br />
Die Freundinnen<br />
»Jeder Golden Boy hat eine feste Freundin«,<br />
behauptet Manager Michajl. Fr neigt<br />
zu Ubertreibungen, aber auf die Mehrheit<br />
der Jungs trifft seine Feststellung zu. Michajl<br />
betont, für ihn sei es sehr wichtig, die Jungs<br />
privat gebunden zu wissen; »Da bin ich sicher,<br />
daß sie sich nach der Vorstellung daheim<br />
regenerieren und nicht noch weitere Kräfte<br />
verpulvern«. Ihre Verträge verbieten den Golden<br />
Boys Kundinnen-Kontakt nach der Show.<br />
»Und dazu wären wir auch viel zu müde«,<br />
schwören alle. Falls sich die beruflich sanktionierten<br />
Fummeleien einmal bis ins Morgengrauen<br />
hinziehen, haben die »Boys« im<br />
Moskauer Zentrum ein Zimmer in einer<br />
Gemeinschaftswohnung zum Übernachten<br />
gemietet. Und Michajl Anissimow ruft nacheinander<br />
ihre Bräute an.<br />
Seine Natascha stellt uns Sascha II gerne<br />
vor. Er ist stolz auf die blasse junge Frau mit<br />
den Proportionen und den goldblonden Haaren<br />
einer Barbie-Puppe. Nataschas noch nicht<br />
schulpflichtigem Sohn versucht er, ein guter<br />
Stiefvater zu sein. Ob er sich vorstellen könne,<br />
daß der Junge später auch einmal <strong>als</strong> Stripper<br />
arbeite? »Ja«, sagt Sascha ohne mit der Wimper<br />
zu zucken. Natascha zögert. Dazu möchte<br />
sie sich lieber nicht äußern. Natascha weiß,<br />
daß Sascha 11 im Dienst andere Frauen betatscht.<br />
»Auch dagegen habe ich nichts«, sagt<br />
sie: »Ich wünsche mir nur, daß er sie akkurat<br />
anfaßt!« Über die Möglichkeit, dies einmal<br />
selbst nachzuprüfen, verfügt sie nicht. Wie<br />
alle Golden Boys ist auch Sascha strickt gegen<br />
die Anwesenheit seiner Freundin bei der<br />
Show und erklärt: »Da wäre icli total gehemmt!«.<br />
2(1999
TITEL<br />
Und die Freundin? Möchte sie nicht den<br />
Männer-Strip einmal selbst erleben? »Daran<br />
hindert mich vorläufig meine Erziehung«,<br />
sagt sie altklug: »Aber vielleich später einmal<br />
- wenn ich <strong>als</strong> Frau reifer bin.«<br />
Die Mütter<br />
Der [üngste in der Truppe ist 18 Jahre alt.<br />
Da die Frauen in Rußland im Durchschnitt<br />
ihre Kinder mit Anfang zwanzig bekommen,<br />
könnten viele der Zuschauerinnen und Tanzpartnerinnen<br />
der Golden Boys gut und gerne<br />
ihre Mütter sein. Was ihre wirklichen Mütter<br />
betrifft, so versichern die meisten der Stripper,<br />
hätten die nichts gegen ihren neuen Beruf.<br />
»Sie sind froh über alles, was uns hilft, in<br />
Moskau Fuß zu fassen«, meint einer aus der<br />
Truppe. Tatsächlich gibt es weniger erfreuliche<br />
Wege, sich in der verheißungsvollen Hauptstadt<br />
zu etablieren. Viele Altersgenossen der<br />
Boys »fassen Fuß«, indem sie ihre trainierten<br />
Körper in den Dienst von Mafia-Banden stellen.<br />
Die professionelle »Großfamilie«, die die<br />
»Boys« bilden, ist weit harmonischer, <strong>als</strong> die<br />
meisten Kleinfamilien. Ein Lied davon singen<br />
kann der »kleine Wolf«. Als Jugendlicher<br />
erschlug er seinen Vater, weil dieser wieder<br />
einmal drauf und dran war, seine Mutter<br />
bewußtlos zu prügeln. Das Gefängnis blieb<br />
ihm erspart. Aber erst hier, bei den Golden<br />
Boys, fühlt sich Woltschonok <strong>als</strong> wertvolles<br />
Mitglied der Gesellschaft. Nur in einem Punkt<br />
unterscheidet er sich von den anderen: Der<br />
quasi Spätpubertierendc widmet sich dem<br />
Dienst an den Frauen aus dem Publikum mit<br />
noch größerer Hingabe. »Manchmal stehen<br />
die übrigen schon auf der Bühne, wenn wir<br />
ihn noch mit Gewalt von einer Zuschauerin<br />
loseisen müssen«, lacht Manager Anissimow.<br />
Wie alle Mütter, machen sich auch die<br />
der Golden Boys Sorgen um die Zukunft<br />
ihrer Kinder. Wohl kaum verwirklichen läßt<br />
sich der naheliegendste Traum der Jungs:<br />
»aus Golden Boys werden einst Golden Men<br />
und dann Golden Grandfathers«. Deshalb<br />
halten sie es mit Sascha II, der sagt: »Ich<br />
bemühe mich, nicht in eine Richtung zu<br />
starren, in der ich noch nichts erkennen<br />
kann«.<br />
Wenn ihre fernere Zukunft auch im Nebel<br />
bleibt, so hegen die »Boys« doch ganz konkrete<br />
Hoffnungen für die nächsten Monate.<br />
Der »kleine Wolf« bringt sie auf den gemeinsamen<br />
Nenner: »Das Tollste für uns wäre eine<br />
Tournee durch Westeuropa. Dann könnten<br />
wir das Geldverdienen damit verbinden, die<br />
Welt kennenzulernen. Und außerdem könnten<br />
wir den Frauen im Westen mal zeigen,<br />
was an uns russischen Männern so dran ist«.<br />
Barbara Kerneck ist freie Autorin und<br />
Korrespondentinfür die taz in Moskau.<br />
f 2(1999
TITEL<br />
Ein Frauenleben in Rumänien<br />
Erst <strong>als</strong> ich Lilo neun Jahre nach unserer<br />
ersten Zusammenkunft sah, fiel mir auf, wie<br />
jung sie dam<strong>als</strong> gewesen war und daß sie jetzt,<br />
eine Frau von sechsunddreißig jähren, ihre<br />
zarte Schönheit, die in einer sehr weißen Haut<br />
und einem feingliedrigen Körper lag, <strong>als</strong> etwas<br />
Vergangenes zu betrachten gelernt hatte. Es<br />
gab dam<strong>als</strong> gerahmte Portraitaufnahmen von<br />
ihr in ihrer Wohnung, von bekannten Fotografen.<br />
Sie war das gehätschelte Kind der im<br />
Land gebliebenen deutschsprachigen Kulturgemeinschaft,<br />
ein Bündel Energie und Mitgefühl,<br />
das viel wußte, viele kannte und<br />
aufgrund seiner moralischen Integrität für<br />
Literaten wie Journalisten, für Musiker und<br />
Akademiker oftm<strong>als</strong> der einzige Anlaufpunkt<br />
war, um ein Gespräch zu führen. Ohne eine<br />
Intrige befürchten zu müssen oder um eine<br />
Hilfe anzunehmen, die an eine Bedingung<br />
geknüpft war. Ihr Studium an der Universität<br />
in Bukarest an einer Fakultät, die die Rumänen<br />
in der Tradition Frankreichs »Litere«<br />
(lettres) nennen, schloß sie mit einer soziologischen<br />
Arbeit über die deutschen Dörfer im<br />
Banat ab, die zum Zeitpunkt, <strong>als</strong> sie zur Verteidigung<br />
ihres Diploms anhob, zum großen<br />
Teil schon verlassen waren und nunmehr ein<br />
historischer Gegenstand. Durch Siebenbürgen<br />
reisend sah ich später die Ruinen der<br />
Häuser, die Lilo, <strong>als</strong> die Farben auf den Mauern<br />
noch nicht verblaßt waren, für den Anhang<br />
ihrer Arbeit auf Fotografien festgehalten hatte.<br />
Dam<strong>als</strong>, im ersten Jahr nach der Revolution,<br />
lebte ihre Mutter noch, eine würdevolle<br />
Kettenraucherin mit Augen wie Romy Schneider.<br />
Es hieß, daß sie seit einem - Jahrzehnte<br />
zurückliegenden - Tag, an dem sie von einem<br />
Auto angefahren worden war, das Haus nicht<br />
mehr verlassen habe. Als Ehefrau eines hohen<br />
Funktionärs, der die deutsche Minderheit -<br />
die in Rumänien von den sechziger bis zu<br />
den achtziger Jahren eine relativ weitreichende<br />
kulturelle Autonomie besaß - in den Entscheidungsgremien<br />
des Zentralkomrnitees<br />
vertrat, wurden ihr insbesondere in der jungen<br />
sozialistischen Republik Privilegien zuteil,<br />
wie sie großbürgerliche Haushalte gepflegt<br />
haben mögen: I.ebensmittelheferungen am<br />
Dienslboteneingang, der in die Küche der<br />
modernen Wohnung (auf dem Boulevard mit<br />
Innen- und<br />
Außenperspektive<br />
miteinander<br />
verflochten<br />
den Botschaften) mündete. Daß die Mittelschicht<br />
in Rumänien bis dahin in zwar<br />
bescheidenem, aber den Bruderländcrn in<br />
nichts nachstehendem Wohlstand lebte, ist<br />
im Ausland kaum noch bekannt. Den einsetzenden<br />
Zusammenbrach der Ökonomie<br />
Anfang der achtziger fahre - jene bittere<br />
Armut <strong>als</strong>o, die über die Bevölkerung fast<br />
schlagartig und von einer perfiden Arroganz<br />
der gegenteilig lautenden offiziellen Verlautbarungen<br />
begleitet einbrach, hat diese Frau<br />
möglicherweise nicht mehr mit eigenen Augen<br />
gesehen. Sie hätte, wieviele Menschen, die in<br />
der forcierten Industrialisierung Rumäniens<br />
nicht nur ein politisch- ökomisches Dogma,<br />
sondern auch einen Fortschritt erblickten,<br />
allen Grund gehabt, eine andere Sicht von<br />
ihrem Land zu bewahren.<br />
Ich weiß nicht, ob Lilo zu der Zeit, <strong>als</strong><br />
meine Großmutter noch in Rumänien lebte<br />
und kein deutschsprachiges Magazin und<br />
keinen Heinz-Rühmann-Film ausließ, bereits<br />
die Moderation der deutschen Sendung im<br />
staatlichen Rundfunk übernommen hatte.<br />
Ihr Deutsch ist perfekt, ihre Sprach kompetent<br />
erstaunlich: Ausgeprägte Diktion, akzentfreie<br />
Aussprache. Sie schreibt Briefe mit langen,<br />
gewundenen Einleitungen, mit Übergängen,<br />
die den Adressaten in die nächste Erzählung<br />
hineinziehen, mit Darstellungen, die Innenund<br />
Außenperspektiven miteinander verflechten:<br />
Lilo im Abenkleid. aus dem Athenäum<br />
kommend, beim Solisten des Konzertes<br />
untergehakt, während auf den Boulevards<br />
Bukarests noch Autowracks ausglühen nach<br />
verheerender Straßenschlacht. Später, nach<br />
dem Sturz des Regimes, in jener ersten Zeit,<br />
in der die Öffentlichkeit der Hauptstadt in<br />
großem rührendem Taumel die Befreiung<br />
von den rigiden Erlassen der diktatorischen<br />
Führung genoß und die Machtmechanismen<br />
der neuen Regierung noch nicht beachtete,<br />
fing Lilo eine eigene, täglich ausgestrahlte<br />
Kultursendung für die internationale Welle<br />
in deutscher Sprache an. Früher hielt sie ihr<br />
hübsches Gesicht für Verlautbarungen hin,<br />
die vorzutragen ihr weniger ihre Gaben und<br />
Fähigkeiten, sondern ihre untadelige Herkunft<br />
aus politisch eindeutig positionierter<br />
Familie ermöglicht hatte.<br />
von Irina Rudolph<br />
Mitte der Achtziger war sie mit einer<br />
ersten Reportage über »Die Karpaten im<br />
Sommer« redaktionell beauftragt worden,<br />
und sie fuhr für ein Wochenende in die Berge<br />
mit dem dam<strong>als</strong> begehrtesten Kameramann,<br />
der kürzlich erst mit einer prämierten Dokumentation<br />
Aufsehen erregt hatte. Nicht unüblich,<br />
wurde dieser Ausflug später durch eine<br />
Heirat legalisiert. Lucian, der dam<strong>als</strong> mit<br />
einer Ingenieurin verheiratet war, ließ sich<br />
scheiden und zog zu Lilos Familie, die ihn,<br />
einen Rumänen aus einfacheren Kreisen, stets<br />
spüren ließ, daß er ihr an Herkunft und Bildung,<br />
in Kultur und Sitte unterlegen war. Wo<br />
immer im Land, ob in der Moldau oder im<br />
Banat, in den deutschen Hochburgen, auf<br />
dem Land oder in den Städten, gab es schon<br />
immer diesen Hegemonialanspruch der<br />
deutschen Minderheil: Ihre Tugenden werden<br />
hoch geachtet, ihre Namen genießen Ansehen,<br />
werden sie doch mit einer Mentalität in Verbindung<br />
gebracht, die die rumänische Mehrheit<br />
für unerläßlich hält, um Wohlstand zu<br />
erlangen, aber so fernab ihrer eigenen latinischen<br />
Wurzeln liegt, dafs außer Bewunderung<br />
kein anderer Berührungspunkt möglich<br />
erscheint. In Lilos Familie, ursprünglich aus<br />
Temesvar, war dies die erste Mischehe seit<br />
Jahrhunderten.<br />
Lucian hat das Gefühl der Minderwertigkeit<br />
nie abgelegt, und revanchierte sich dafür<br />
mit stetigen Demütigungen seiner Frau. Lilo<br />
selbst hatte sich so viel kindlichen Frohmut.<br />
Respekt gegen sich selbst und andere und eine<br />
naive Direktheit im sozialen Umgang bewahrt,<br />
daß sie für Rollenbilder, wie sie Lucian<br />
für seine Vorwürfe brauchte, verloren war.<br />
Für gewöhnlich stößt die stark patriarchale<br />
Gesellschaftsordnung, die die rumänische<br />
Kultur prägt, auf große Akzeptanz: daher<br />
erklärt sich auch die absolute Unfähigkeit,<br />
I lomosexualität zu tolerieren, geht von ihr<br />
die stärkste Verunsicherung der Geschlechtermuster<br />
aus. Männer sind Männer und Frauen<br />
sind Frauen: Die Beziehungen sind extrem<br />
sexualisiert, der Umgang streng reglementiert,<br />
Freundschaft ohne erotisches Motiv gilt<br />
zwischen den Geschlechtern <strong>als</strong> unmöglich,<br />
<strong>als</strong> öffentliche Berührung dominiert der<br />
2I'999
TITEL<br />
sytemtragenden Regeln und konformen Meinungen.<br />
Mütterlichkeit gilt <strong>als</strong> angeborener<br />
Instinkt, possessive Ansprüche und Eifersucht<br />
<strong>als</strong> Indiz sexueller Leidenschaft. Lilo<br />
war schlicht zu entspannt für dieses Spiel.<br />
und sie war keine gute Hausfrau. Lucian hat<br />
nie gesehen, was für einen starken Arbeitspartner<br />
er in ihr hatte, <strong>als</strong> sie gemeinsam mit<br />
der Kamera auf die Straße gingen, um die<br />
Tage der Revolution zu rekonstruieren, die<br />
die Regierung Iliescus bereits vertuschte und<br />
vereinnahmte. Um den ersten Unmut emzufangen,<br />
den die Bevölkerung in den Städten<br />
über die ausbleibenden Reformen artikulierte.<br />
Um den Protest der Armee über das neue<br />
Regime zu dokumentieren, der eine erste<br />
Fährte dafür legte, daß der Machterhalt über<br />
den Wechsel gesiegt hatte. Mit ungeschnittenen<br />
Videobildern von der Erstürmung des<br />
Polizeipräsidiums, das die Regierung tags<br />
zuvor der studentisch und intellektuell geprägten<br />
Demokratiebewegung unterstellte,<br />
um sie, unterstützt von den Schlagstöcken der<br />
Bergarbeiter, zu zerschlagen, hat Lucian im<br />
Juli 1990 die Abschlußprüfung an der Theater-<br />
und Filmakademie bestanden. Seine Spur<br />
verliert sich in Notunterkünften für Obdachlose<br />
in Deutschland, lir floh, <strong>als</strong> Lilo sich nicht<br />
zu einer Ausreise entschließen konnte und<br />
erhielt hier, <strong>als</strong> einer von vier Dutzend seiner<br />
Landsmanner im Jahr 1991, politisches Asyl.<br />
Seine Verfolgungsängste wurden in Deutschland<br />
zum Wahn, l-'inen Arbeitsauftrag hat er<br />
hier nie erhalten.<br />
l landkuß. Seit Generationen schon hat das<br />
öffentliche Bedürfnis nach Frhaltung der<br />
Moral sich dem persönlichen Bedürfnis nach<br />
relativer sexueller Freizügigkeit angepaßt:<br />
Be/iehungen werden amtlich gemacht und<br />
mit gleicher Selbstverständlichkeit wieder<br />
geschiedeTi, die rumänisch-orthodoxe Kirche<br />
kennt wiederholte Trauungen vor dem Altar,<br />
tune Frau von dreißig Jahren blickt auf ein<br />
Sexualleben 7urück, daß der l rlwnserfahrung<br />
im u estlichen turopa annähernd gleicht, nur<br />
hat sie wahrscheinlich schon /wei geschiedene<br />
Lhen hinter sich und manche Abtreibung,<br />
und vielleicht eine ausgesprochene<br />
Selbstmorddrohung, weil eine Schwangerschaft<br />
nicht, wiegeplant, dam führte,einen<br />
Mann in eine feste Bindung zu l reiben.<br />
Zu diesen Verhalterismustern gehört ein<br />
weibliches Rollenbild, das ich nie widersprochen<br />
gesehen habe: Schönheit gilt und die<br />
Fähigkeit /.ur gewandten Konversalion, ökonomische<br />
und moralische Selbstständigkeit<br />
gilt unter Beibehaltung und Affirmation der<br />
I ilo blieb m Rumänien, beantragte aber<br />
für sicli und ihre Mutter spater Ausreisevisa.<br />
die ihnen <strong>als</strong> Deulschsta'mmigen zustanden.<br />
Ihres bewilligte die deutsche Botschaft, das<br />
ihrer Mutter nichl. l lentc betreu! sie auf dem<br />
Posten einer Büroangestellten Vertreter dei<br />
deutschen Außenhandelswirtschaft, um deien<br />
Investitionen Rumänien wirbt. Ihr Journalistinnengehalt<br />
reichte nicht für den Lebensunterhalt.<br />
Heule isl sie mit einem Deutschstämmigen<br />
verheiralel. der ihr Arbeitskollege<br />
beim Hörfunk war und jetzt ein Programm<br />
leitet. In ihrer Wohnung sieht kein Computer,<br />
aber Lilo kann Wiener Schnitzel aufwärmen.<br />
Um dieses Appartement hat sie - unsicher<br />
über die Figentumsverhältnisse - lange gebangt<br />
und sich schließlich zum Erwerb einer<br />
anderen Wohnung entschieden (Mieten sind<br />
in Bukarest unbezahlbar). Paradoxerweise<br />
ist es jetzt das Ausweichc|uartier, auf das Alteigentümer<br />
Ansprüche geltend machen, l.ilo<br />
strebt einen Prozeß an. Selber über Frauen in<br />
Rumänien zu schreiben, hat sie abgelehnl.<br />
Irina Rudolph isl sc/jjvf Dfit<br />
und h'bt H/.S Filmkritikerm in Berlin.<br />
wfnl-iblici 2|I999 '
TITEL<br />
E i jsc h ert<br />
lfe.nl<br />
Vor knapp 10 Jahren kam<br />
Irina Panasenko mit ihrem<br />
Mann und ihren beiden<br />
Söhnen nach Berlin. Seit drei<br />
Jahren bereitet die Physikerin<br />
und Logopädin Bortsch,<br />
gesalzene Heringe und andere<br />
russische Spezialitäten in<br />
ihrem Laden-Bistro zu<br />
Text: Kerstin Decker<br />
Foto: Annett Ahrends<br />
Die Hufelandstraße ist nicht lang. Da<br />
kann ein russischer Imbiß doch nicht einfach<br />
so verschwinden. Den oberen Teil der<br />
Straße halten zwei sehr deutsche Kneipen.<br />
Rechts der »Lindenbaum«, gegenüber die<br />
»Kiezkneipe Hally-Gally«. Die »Höhne-<br />
Bestattungen« sind gleich daneben, denn<br />
jede Ekstase hat ihren Preis. »Schnell und<br />
sauber« versprich! ein benachbartes Schild,<br />
aber das gehört schon der Texril- Reinigung.<br />
Nur Irina Panasenkos Laden ist weg. Also<br />
noch einmal von unten. Jeder, den man<br />
fragt, kennt Irina Panasenko: Na dort,<br />
gleich gegenüber!<br />
Dort, gleich gegenüber wehen eine amerikanische<br />
und die Berliner Fahne. Schon<br />
seltsam, diese Osteuropäer. Aber dann das<br />
eindeutige Indiz: Gesalzene Heringe aus<br />
Rußland, 100 Gramm 0,27 DM. Hier ist es.<br />
»Karavelle« steht obendrüber. Mit dem Namen<br />
kann man eigentlich alles werden. Vor allem<br />
Hafenkneipe. Wie jede »Karavelle« ist auch<br />
diese innen ganz aus Holz, läuft hinten in<br />
ein Halbrund aus und spezialisierte sich<br />
dann doch lieberauf Süßwaren. In den Sechzigern,<br />
<strong>als</strong> es hier noch keine russischen<br />
Heringe gab. Als man noch von Läden voller<br />
Pralinenschachteln leben konnte. Als es<br />
noch alte Damen gab, mit und ohne Pudel,<br />
die regelmäßig hier einkauften.<br />
Kein Kunde im Laden. Auch nicht Irina<br />
Panasenko. Nur ihr Mann. Mit undurchdringlicher<br />
Miene hört er unsere Bestellung<br />
an und sagt, daß er gerade keine Soljanka<br />
habe, aber Bortsch wäre möglich. Also Bortsch<br />
und Pelmeni. Irina Panasenkos Mann wirkt<br />
seltsam fremd in diesem Laden, zwischen<br />
den Glasregalen, wo jetzt anstelle von Pralinenschachteln<br />
Brot und Milchtüten anmutig<br />
ausgerichtet neben russischem Honig, russischem<br />
Porzellan und einem großen Samowar<br />
stehen. Irina Panasenkos Mann sieht aus wie<br />
ein Repräsentant. Würdevoll. Es ist nicht einfach,<br />
neben gesalzenen Heringen angemessen<br />
zu repräsentieren. Aber morgen wird seine<br />
Frau endlich zurück sein. Einen Monat war<br />
sie zu Hause, in der Ukraine, Zu Hause?<br />
'!<br />
2|'999
TirtL<br />
Wir sitzen an einem der drei kleinen<br />
ßartische. Irina Panasenkos Mann wärmt<br />
Bortsc.li und Peltneni auf. Zwei Braune hätt'<br />
ich gern!, ruft es von der Theke. Der neue<br />
Gast in der farbenprächtigen Windjacke ist<br />
so gutgelaunt, <strong>als</strong> käme er geradewegs aus<br />
dem »l lally-Gally« und wollte den Abend<br />
noch irgendwie, vernünftig zuende bringen:<br />
Zwei Braune. Meisler! Der Aushilfswirt<br />
•idiaut seinen Kunden in der Windjacke hilflos<br />
an: Goldbrand? - Klar, Coldbrand! Und<br />
'ne Cola, 'ne Tute und zwei Eier. - Zwei Eier?<br />
- Logisch. Na, nicht deine. Mann! - Ach.<br />
wenn seine Frau jetzt da wäre. Die kann mit<br />
sowas umgehen. Der Repräsentant lächelt<br />
weit nach innen, voll stiller Verzweiflung,<br />
und geht daran, zwei einzelne Eier aus einer<br />
Packung zu nehmen. Die Windjacke will bersten<br />
vor Lachen: Mann, Überraschungseier<br />
mein' ick! Wo ist eigentlich die schöne Frau?<br />
- Irina Panasenkos Mann erklärt sichtlich<br />
erleichtert, daß seine schöne Frau gleich wieder<br />
da sei. Morgen schon. Künftig wird die<br />
Windjacke die zwei Braunen, die Cola und<br />
zwei Lier <strong>als</strong>o wieder bei ihr kaufen, und<br />
das ist gut so.<br />
Borisch und Pelmeni kommen. Sie schrnekken<br />
nach längst vergangenen Studenten-<br />
Somrnerri in den Sonnenblumenfeldern der<br />
Ukraine. Den Piccolo-Sekt trinken wir aus<br />
stämmigen Vitamalzglasern.<br />
Am nächsten Abend ist sie da. F.inc<br />
sehr schöne Frau, genau wie die Windjacke<br />
angekündigt halte. Schmales Gesicht, große<br />
graue Augen. Und die Wimpern so getuscht,<br />
daß es unmöglich scheint, die Augen mit<br />
solch wehrhaftem Strahlenkranz drumherum<br />
einfach mal zumachen zu können. Russinnen<br />
sind oft so geschminkt. Denn wozu der Aulwand,<br />
wenn es ja doch keiner merkt? Das<br />
kleine Zuviel <strong>als</strong> Maß des Normalen. Aber<br />
Russin ist ganz f<strong>als</strong>ch. Irina Panasenko<br />
kommt eben aus der Ukraine, aus Dnepropetrowsk.<br />
Nein, nein, ich brauche den<br />
Namen nicht aulschreiben, F.s klingt wie:<br />
Diese Stadt kennt hier sowieso keiner. Auf<br />
Dienstreise, wäre sie gewesen. In Dnepropetrowsk.<br />
(iine Dienstreise nach Hause?<br />
Irina Panasenko steht in der Mitte ihres<br />
Laden-Bistros und es scheint, <strong>als</strong> ginge ein<br />
unmerklicher Ruck durch die Reihen der<br />
Ylarmeladengläser und Matriuschkas auf<br />
der Theke: Die Chefin isl wieder da!<br />
Ursprünglich hatte Irina Panasenko gar<br />
nichts zu tun mit Salzheringen, Piroggen<br />
und russischem l lonig. Denn sie isl Physikerin.<br />
Und Logopädin. »Zwei Hochschulausbildungen,<br />
zwei Diplome. Ich mach jelzl mal<br />
Kaffee.« Als Physikerin hätte sie in einem<br />
großen Betrieb gearbeitet. Später erfahre ich,<br />
daß die großen Betriebe in Dnepropetrowsk<br />
fast alle Rüstungsbetriebe waren. Die SS 20<br />
und die SS 24 habe man dort auch gebaut.<br />
Irina Panasenko nennt diese Namen mit<br />
jenem Gleichmut, den man sehr alltäglichen<br />
Dingen gegenüber hat. Und der Alltag von<br />
Dnepropetrowsk waren nun mal die SS 20.<br />
Aber nach dem zweiten Kind wollte Irina<br />
Panasenko einen Beruf mit etwas mehr<br />
Freizeit. Also Lehrerin. Logopädin. Nein,<br />
<strong>als</strong> Logopädin hätte sie in Deutschland keine<br />
Chance, da brauche sie höchstens selber<br />
eine: »Deutsch hat ja nicht mal ein rollendes<br />
R." Das sei schon eine Enttäuschung gewesen,<br />
eine Sprache ohne anständiges R, das soviele<br />
Schüler von ihr gelernt hätten. Und plötzlich<br />
sei das f<strong>als</strong>ch. Genau wie das »ch« in »plölzlich«,<br />
das noch immer von ganz weit hinten<br />
kommt. Bliebe <strong>als</strong>o noch die Physikerin? -<br />
Irina Panasenko senkt den schweren Wimpernvorhang,<br />
um ihn wirkungsvoll wieder<br />
anzuheben: »Bei den vielen arbeitslosen<br />
Physikern in Deutschland?« Fine Frau kommt<br />
herein, hält ein kleines Mädchen an der l land,<br />
dessen Blicke unwiderruflich an einem magischen<br />
Punkt in Irina Panasenkos Vitrine haften.<br />
»Lmrnal Kirsche im Mantel bitte!« Die<br />
Kleine nimmt das Stück russischer Torte.<br />
»Kirsche im Mantel« ginge sehr gut. Und sie<br />
koche alles selber. Aber was hält sie von der<br />
»Russischen Soljanka« beim Imbiß gleich<br />
nebenan? Die großen grauen Augen der<br />
»Karavelleiix-Wirtiri füllen sich mit unaussprechlicher<br />
Verachtung. Siekoche ukrainische<br />
Soljanka, das sei etwas völlig anderes,<br />
Ebenso wie man ihre Piroggen und Pelmeni<br />
nicht nachahmen könne. )a, die Pelmini<br />
gestern wären gut gewesen gestern, bestätige<br />
ich. Hat ihr Mann die gemacht? Irina Panasenkos<br />
Gesicht verschwimmt vor Heiterkeit.<br />
Der könne doch überhaupt nicht kochen.<br />
Aber daß sie jetzt hier sei und ihren eigenen<br />
Laden habe, das wäre schon sein Verdienst.<br />
Denn er wollte dam<strong>als</strong> vor bald zehn<br />
Jahren weg aus Dnepropetrowsk, weg aus<br />
der gerade noch existierenden Sowjetunion.<br />
So bestimmt, wie man nur selten etwas will,<br />
Und je mehr man es will, desto schwerer<br />
läßt es sich begründen. Vor diesem Wollen<br />
hat Irina Panasenko schließlich kapituliert.<br />
Das Argument des Bleibens: Man geht doch<br />
nicht einfach so weg! - es ist immer und<br />
überall dasselbe - war nicht mehr stark<br />
genug: Willst du in ein Land, dessen Sprache<br />
du nicht sprichst? In ein Land ohne rollende<br />
Rs und goldenen Zwiebeln auf den Kirchen?<br />
Ja, er wollte nach Deutschland. Das große<br />
>•[« (für Jude) unter der Rubiik »Nationalität«<br />
öffnete ihnen den Weg. Dam<strong>als</strong> war Anton,<br />
der ältere Sohn, zehn Jahre, Nikolai war fünf,<br />
l ieute, genauer seit einem Monal, sagt Irina<br />
Panasenko, weiß sie, daß ihr Mann recht hatte.<br />
Denn sie kommt gerade aus Dnepropetrowsk.<br />
Ist es denn so schlimm dort? »Wenn ich<br />
sagen würde -schlimm« - ich hätte nichts<br />
gesagt.«<br />
Sie war bei ihren alten Freunden, die fast<br />
ein Jahr lang keinen Lohn mehr bekommen,<br />
Die manchmal seit zwei Jahren schon keine<br />
Miete mehr zahlen und Strom ohnehin nicht<br />
mehr. Das Sei Chaos, Untergang. Manch einer<br />
erhält noch eine Pauschalriotsumme vom<br />
Betrieb anstelle des aussiehenden Lohns -<br />
ihre Freundin hat so 30 Grivna im Monat, das<br />
sind etwas mehr <strong>als</strong> siebzig Mark - andere<br />
haben nicht einmal das.<br />
Eine junge Frau mit Lederjacke und<br />
großem Geldschein in der Hand grüßt Irina<br />
Panasenko wie eine alte Freundin und will<br />
den Schein kleiner haben. Für Zigaretten,<br />
Fs scheint dringend zu sein. Irina Panasenko<br />
schaut sie ein wenig mißbilligend an. Der<br />
Blick kommt zurück: »Du rauchst doch<br />
auch!« - »Natürlich rauche ich!«, antwortet<br />
die Chefin der »Karavelle«. <strong>als</strong> handele es<br />
sich dabei um eine Frage der Ehre. Ein paar<br />
Kontinuitäten im Leben sollte es schon<br />
geben. Alles andere ist manchmal so schnell<br />
vorbei. Heimatzum Beispiel. Und Freunde.<br />
Das Gute ist, daß man immer neue findet.<br />
Ja, sie habe wieder viele Freunde. Berliner<br />
Russen und auch viele Deutsche. Die neuen<br />
Freunde müsse man aber anders trösten <strong>als</strong><br />
die in Dnepropetrowsk. Vor allem die, die<br />
keine Arbeit haben; Irina, ich halt das nicht<br />
mehr aus, dieses Zuhausebleibenniüssen!<br />
Irina Panasenko kennt das Gefühl. Deshalb<br />
ist sie so stolz auf ihren Laden. »Ich habe für<br />
mich einen Arbeitsplatz gebaut!« Begonnen<br />
hat alles damit, daß sie eine Frau kennenlernte,<br />
die hier arbeitete. Dann machte sie<br />
das auch und 1996 hat sie die »Karavelle«<br />
übernommen.<br />
11999 -'l
TITEL<br />
Viele Kunden kommen jelzl am Abend<br />
nicht. Selbst die Windjacke braucht noch<br />
keinen neuen Goldbrand. Kann man von<br />
der »Karavelle« leben? - Überleben, ja. Sein<br />
eigener Kapitalist und Ausbeuter sein! Aber<br />
so denkt Irina Panasenko gar nicht. Ladenbesitzerin<br />
- hört sich das nicht komisch an?<br />
Zumindest für jemand, der in der Sowjetunion<br />
groß geworden ist. »Arbeitsplatz« trifft<br />
es doch viel besser: Arbeiten bis 7um Umfallen,<br />
das sei etwas, was man erst jetzt richtig<br />
genießen könne. Denn im Osten dachten ja<br />
alle, Arbeit gehöre zu den Grundbeständen<br />
(manchmal auch Grundübeln) des Lebens.<br />
Aber daß das mit der deutschen Bürokratie<br />
so schwer sein würde, habe sie nicht gedacht:<br />
»Ich kann gut mit Leuten umgehen, aber mit<br />
der deutschen Bürokratie kann ich nicht<br />
umgehen.« Die deutsche Bürokratie war<br />
auch nicht immer besonders nett zu den<br />
Panasenkos.<br />
An einem Morgen vor zwei Jahren schaute<br />
Irina Panasenko aus dem Fenster. Draußen<br />
sah es genauso aus wie immer, nur völlig<br />
anders. Genau, das Auto fehlte. »Du, Jura,<br />
da ist kein Auto mehr«, sagt Irina Panasenko<br />
zu ihrem Mann. Und verstand nicht, warum<br />
die Polizei so unfreundlich zu ihnen war. Ist<br />
man den unfreundlich zu Menschen, denen<br />
gerade ein solches Unglück widerfahren ist?<br />
Bis Irina Panasenko begriff, daß die deutsche<br />
Polizei glaubte, sie härten das Auto absichtlich<br />
klauen lassen, um die Versicherung abzukassieren.<br />
Aber sie besaßen dam<strong>als</strong> gar keine<br />
Versicherung. Zwei Wochen später war der<br />
Dieb gefunden. Ein i4Jähriger Deutscher.<br />
Und wie ist das nun mit der Russenmafia?,<br />
frage ich, weil man sich nach manchen<br />
Dingen indirekt einfach nicht erkundigen<br />
kann. Woher sie das denn wissen solle, fragt<br />
Irina Panasenko zurück. Sie kenne so ziemlich<br />
alle Russen in Berlin, die eigene Läden<br />
und Restaurants haben. Russen sei natürlich<br />
Quatsch. Bürger der ehemaligen Sowjetunion,<br />
wenigstens in dieser sehr heutigen Vergangenheitsform<br />
existiere die Sowjetunion weiter.<br />
Aber die Mafia kenne sie nicht, sagt sie. Wirklich<br />
nicht. Überhaupt werde sie immerzu<br />
nach der Mafia gefragt, ein wenig kränkend<br />
sei das schon. Man wüßte ohnehin gar nicht<br />
mehr, wer man ist. Alles ein bißchen. Nichts<br />
so richtig. »Jude» stünde zwar in ihrem Ausweis<br />
und dem ihres Mannes. Die Muller war<br />
Jüdin. Aber in der Sowjetunion durfte man<br />
nicht religiös sein und heute, im Kapitalismus,<br />
habe sie einfach keine Zeit mehr dazu.<br />
Im Flüchtlingsheim Nebra bei Halle,<br />
ihrer ersten Station in Deutschland, wurde<br />
sie Mitglied der Jüdischen Gemeinde.<br />
Aber gläubig sei sie dadurch nicht geworden.<br />
Wie wird man eigentlich gläubig?<br />
Irina Panasenko hat beschlossen sich<br />
damit abzufinden, daß sie zum Glauben<br />
einfach kein Talent hat: »Ich kann doch<br />
nicht morgens aufwachen und sagen:<br />
Ab heute bin ich religiös.« Wenn Colt<br />
gewollt halle, daß sie seine Stimme höre,<br />
hätte er bestimmt zu ihr gesprochen.<br />
Hat er aber nicht.<br />
Aber ihre Söhne gingen noch öfter zur<br />
jüdischen Gemeinde. Und außerdem werden<br />
sie wohl richtige Deutsche. In Nikolais<br />
Klasse wußte bis letzte Woche keiner,<br />
daß er kein Deutscher ist. Kam einfach<br />
keiner drauf. Bis man einen Aufsat/ über<br />
Rußland schreiben sollte, und die Lehrerin<br />
sagte, er, Nikolai, müsse davon doch<br />
Ahnung haben. Nikolai und Anton gehen<br />
beide aufs Gymnasium. Anton ist jetzt<br />
zwanzig, spricht fünf Sprachen, liest<br />
Dostojewski und Tolstoi in Origin<strong>als</strong>prache<br />
und will Journalist werden. Bei Nikolai<br />
wisse man das noch nicht so genau.<br />
Vor zwei Jahren wollte Irina Panasenko<br />
es noch einmal wissen. Sie fuhr mit<br />
den Söhnen in die Ukraine. Ob die Kinder<br />
die alte Heimat wohl wiedererkennen,<br />
wieder lieben werden? Nach einer Nacht<br />
im Wagen an der polnisch-ukrainischen<br />
Grenze ging Nikolai in die nächste Tankstelle<br />
zum Duschen. Fr fand den Waschraum<br />
nicht. Gibt's hier nicht, sagle kleinlaut<br />
die Mutter. Komische Heimat, dachte<br />
der Sohn. Aber die Kirchen von Kiew<br />
fanden sie schön. Und sie sahen noch<br />
viele Kirchen, bis nach zwei Wochen Anton<br />
meinte, es sei nun genug, und man wolle<br />
doch lieber wieder nach Hause fahren.<br />
Nach Berlin. Irina Panasenko lacht. Es<br />
klingt ein bißchen traurig. Fin bißchen.<br />
Zwei Piroggen mit Champignons!,<br />
verlangt jetzt ein vor Aktivität vibrierender<br />
Radfahrer. Gesalzene I leringe hat noch<br />
immer keiner gekauft. Die amerikanische<br />
und die Berliner Fahne gehören gar nicht<br />
der »Karavelle«, sondern dem Jeansladen<br />
nebenan.<br />
J<br />
Sicher, nach der politischen Wende hat<br />
es in den osteuropäischen Landern einen<br />
schnellen Wandel gegeben. Die Jungen reisen<br />
durch die Well und sind, <strong>als</strong> Zielmarke den<br />
westeuropäischen Standard vor Augen, auf<br />
wirtschaftlichen Erfolg aus.<br />
Was trotz aller Veränderung geblieben ist.<br />
sind beispielsweise die kleinen Bistros an<br />
den Hauptstraßen der Städte und auf den<br />
Dörfern von Prag über Budapest bis Sofia.<br />
Hier stehen die Frauen hinter der Theke und<br />
brühen den Hastigen einen Kaffee oder reichen<br />
den Schnaps. Es sind Treffpunkte für alte<br />
Menschen, die der Einsamkeit entfliehen.<br />
In ihren abgeschabten Mänteln, mit ausgebeulten<br />
Hosen und schlechten Schuhen an<br />
den Füßen, verrühren sie langsam den<br />
Zucker im Teeglas. Im Ristro ist es für sie<br />
immer noch bezahlbar, auch wenn es darin<br />
zu kalt ist, um die Jacke ausziehen zu können.<br />
Frauen in knappen Businesskostümen nehmen<br />
höchstens einen Kaffee im Stehen, um<br />
danach schnell mit kleinen Sahnetörtchen<br />
aus dem Laden zu verschwinden.<br />
Biüe<br />
t<br />
fr'U.-Ä*.--" -i-V *••<br />
•' V, /- - -:: ."•<br />
Annette Maennel<br />
Unverändert auch die Gerüche - eine Mischung<br />
aus Ruß und abgestandenen Essensdünsten<br />
in Usti nad Labein, der muffige<br />
Geruch in den kleinen verwinkelten Gassen<br />
und die streunenden Hunde auf den Straßen<br />
von Most bis Prag. Es gibt sie immer<br />
noch, die Hochhaus-Siedlungen am Fnde<br />
der Stadt - für Randständige. Hier leben<br />
die, die am wenigsten haben. Hier läßt sich<br />
kaum einer blicken, der nicht dahin gehört<br />
oder von der Behörde geschickt wurde. Das<br />
sind die Slums - an denen sich kaum ein<br />
Einheimischer stört. Den Gegensatz dazu<br />
bieten die historischen Stadtkerne mit glan/-<br />
voller Architektur und ihrem bunten, auf<br />
Touristen ausgerichteten Treiben.<br />
Wer die Melancholie des stillen Verfalls<br />
sucht, wird genauso fündig wie der, der sich<br />
an Goldkuppeln erfreuen will. Die Bilder<br />
erzählen davon.<br />
rechts: In der tschechichen Stadt Usti nad<br />
l.ahc',m streitet sich die Tschechin Ludmila<br />
Doubkova mit der Roma Gizela Vulenova.<br />
Es geht um das Beachten der Grenzen des jeweiligen<br />
Wohngebietes. Die Tschechen wollen am<br />
liebsten nichts mit den Romas zu tun haben.<br />
2t,
TITEL (•<br />
Fotos: Jens Rötzsch / OSTKREUZ<br />
'< 2)1999
TITEL<br />
Foto: Georg Schönharting/ OSTKRF.U7<br />
wcibblt 2(1999
TITEL<br />
2)1999
TITEL<br />
In einer Markthalle, in Budapest Foto: Nelly Rau-Häring<br />
Schmuckverkäuferin in der Prager Altstadt Foto: Jens Rötzsch / OSTKREUZ<br />
2(1999
TITEL c<br />
fn einem Bistro in Budapest Foto: Neüy Rau-Häring<br />
Neubausiedlung in Choskovo bei Plovdiv (Bulgarien)<br />
Foto: Harald Haustvald / OSTKREUZ
TITEL<br />
geblieben<br />
.t Deutsche, Kommunistin<br />
gewesen und Anfang<br />
i Rußland gegangen,<br />
Am Ende hat sie alle übet l:?i>t,<br />
ihre Männer, ihre Kinder und<br />
den Kommunismus. Gemeinsam<br />
mit dem Autor Michael<br />
Peschke hat Gabriele Stammberger<br />
ihr Leben aufgeschrieben<br />
und in Dokumenten belegt.<br />
Annett Gröschner hat ihr Buch<br />
gelesen, der weibblick dokumentiert<br />
es in Auzügen.<br />
Anfang der neunziger Jahre begann<br />
Michael Peschke, dam<strong>als</strong> noch Dramaturg<br />
an der Volksbühne, über das Leben von Otto<br />
Katz zu recherchieren, besser bekannt unter<br />
dem Namen Andre Simon, eine schillernde<br />
Gestalt der kommunistischen Bewegung, der<br />
1952 zusammen mit Rudolf Slansky in einem<br />
stalinistischen Schauprozeß in Prag zum<br />
Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Die<br />
vielen Identitäten, Decknamen und Orte, an<br />
denen sich Katz aufgehalten hatte, führten<br />
ihn in ein Labyrinth und auf Abwege. Auf<br />
der Suche nach Zeugen traf er irgendwann<br />
durch Zufall auf Gabriele Slammberger, die<br />
zwar nichts mit Katz, aber um so mehr mit<br />
dem Schicksal der Kommunisten in der<br />
Sowjetunion unter Stalin zu tun hatte. Sie ist<br />
eine der letzten überlebenden Zeugen der<br />
Ereignisse der dreißiger bis fünfziger |ahre,<br />
und <strong>als</strong> Michael Peschke auf sie traf, gab es<br />
nur wenige, die von ihrer Geschichte wußten.<br />
In unzähligen Interviews und mit Hilfe von<br />
Briefen. Dokumenten und Tagebuchauszügen<br />
breitet das Buch »Gut angekommen -<br />
Moskau. Das Exil der Gabriele Stammberger<br />
Annett Gröschner<br />
1932-1954. Erinnerungen und Dokumente«<br />
eine Lcbensgeschichte aus, die exemplarisch<br />
und zugleich einmalig ist - die Odyssee der<br />
Gabriele Stammberger, an deren Ende nur<br />
sie allein übrig blieb. »In den Stunden der<br />
Verzweiflung hat mich immer ein Gedanke<br />
aufrecht gehalten: Wenn ich von allen, die<br />
mir am nächsten standen, übriggeblieben<br />
bin, dann darf ich mich nicht fallenlassen«,<br />
sagt sie an einer Stelle des Buches. Der Satz<br />
ist Motto.<br />
Die 1910 in Berlin geborene Architektentochter<br />
Gabriele Bräuning wuchs in behüteten<br />
Verhältnissen auf. Als sie mit 20 die Gründungsmitglieder<br />
des Spartakusbundes und<br />
der KPD, Käthe und Hermann Duncker,<br />
kennenlernt, ist sie noch völlig unpolitisch.<br />
Käthe Duncker hat in ihrem Haus einen<br />
marxistischen Studienzirkel, den Gabriele<br />
Stammbergerbesucht. Über die Dunckers<br />
lernt sie Walter Haenisch kennen, den Sohn<br />
des ehemaligen preußischen Kultusministers<br />
der Weimarer Republik, Konrad I laenisch.<br />
Der Vater ist verstorben und Walter<br />
kann nur wenig zum Lebensunterhalt der<br />
Familie beitragen. Als er 1931 die Einladung<br />
bekommt, in Moskau am Marx-Engels-lnstitut<br />
die Herausgabe der Marx-Engels-Werke<br />
m itzubetreuen, sagt er zu. Das Paar heiratet<br />
und gehl 1932 nach Moskau. »Ich bin <strong>als</strong>o<br />
wirklich da, und alles ist wunderschön«,<br />
schreibt Gabriele Stammberger im Mär/.<br />
1932 an ihre Eltern. Es sollte nicht lange so<br />
unbeschwert bleiben. Die erste »Säuberung«<br />
hat, <strong>als</strong> sie ankommt, das Institut schon<br />
erreicht. Auch Gabriele Stammberger wird<br />
Mitarbeiterin und lernt in ihrer ersten Zeit in<br />
Moskau viele internationale Persönlichkeiten<br />
der kommunistischen Bewegung kennen.<br />
Auch macht sie die Bekanntschaft der »Kornmunalka«,<br />
der unfreiwilligen Wohngemeinschaft,<br />
auch wenn die Moskauer Verhältnisse<br />
dieser Zeit ihr später wie das Paradies vorgekommen<br />
sein müssen. Am 3. Oktober 1932<br />
wird ihr Sohn Alexander geboren, den bald<br />
alle nur noch Pim nennen. Einen Monat<br />
später arbeitet sie schon wieder am Institut,<br />
in der Korrespondenzabteilung.<br />
Im Februar 1933 besucht sie ihre Eltern<br />
und kommt ausgerechnet an dem Tag in Berlin<br />
an, <strong>als</strong> der Reichstag brennt. Einen Monat<br />
später müssen alle Ausreisen von der Polizei<br />
überprüft werden. H<strong>als</strong> über Kopf und auf<br />
abenteuerlichen Wegen reist Gabriele Stammberger<br />
nach Moskau zurück. Erst 20 Jahrespäter<br />
wird sie wieder in Berlin sein. In der<br />
folgenden Zeit kommen viele Freunde und<br />
Bekannte in Moskau an. Der Arbeitsaufen t-<br />
hall ist für die Haenischs zum Exil geworden.<br />
Kurz danach beginnen am Institut erneut die<br />
Parteireinigungen. Walter Haenisch wird trotz<br />
seines Protestes in den Stand eines Parteilosen<br />
zurückversetzt - ein Zustand, der langsam<br />
und schleichend zur Lebensgefahr wird.<br />
Zuerst muß die Familie umziehen, ausgerechnet<br />
in die Moskauer Tolengasse. In diesem<br />
Haus leben viele Emigranten und Mitarbeiter<br />
des Marx-Engels-Lenin-Institutes.<br />
Es beginnt die Zeit der Bittbriefe an einflußreichere<br />
Genossen wie Pieck, Ulbricht oder<br />
Weincrt. Die meisten bleiben unbeantwortet.<br />
Mit der Entschließung des Parteikomitees<br />
vom Mär?. 1935 wird das Todesurteil Walter<br />
Haenischs besiegelt: Lr vertritt angeblich »in<br />
einer Reihe der wichtigsten Fragen des Marxismus-Leninismus<br />
systematisch sozialdemokratische,<br />
antimarxistische, antileninistische<br />
Ansichten«. Einen Monat später wird er entlassen.<br />
Die Ehe fängt an zu kriseln und Walter<br />
erlebt einen Zusammenbruch. Die Familie<br />
erwägt, nach Charkow umzusiedeln, wo der<br />
Mann eine Arbeit in einer Redaktion bekommen<br />
hat. Aber sie bekommen keine Wohnung.<br />
Haenisch bittet um Abkommandierung in<br />
den Spanischen Bürgerkrieg, aber das wird<br />
abgelehnt. Nach und nach werden etliche<br />
Bewohner des Hauses verhaftet, ohne Grund.<br />
Doch immer wieder meinen die Zurückbleibenden,<br />
irgendeine Verfehlung wird der oder<br />
die schon begangen haben. Sie werden gezwungen<br />
zu erklären, in welchem Verhältnis<br />
sie zu den Verhafteten standen. Am 11.3. 1938<br />
wird Walter Haenisch vom NKWD verhaftet.<br />
Gabriele Stammberger läuft in Moskau hemm,<br />
um etwas über den Verbleib ihres Mannes zu<br />
erfahren. »Ich fragte den Beamten, wie ich<br />
leben sollte, ohne Schreiberlaubnis, er lachte<br />
und sagte: »Sie werden sich wieder verheiraten!«<br />
Ich verstand ihn nicht. - Wieso soll ich<br />
mich wieder verheiraten? Ich werde auf ihn<br />
warten. Daraufhin schwieg er. Wahrscheinlich<br />
wußte er, daß man Walter schon längst<br />
erschossen hatte. »10 Jahre ohne Schreiberlaubnis«<br />
war die Umschreibung für »Tod<br />
durch erschießen«.<br />
2(1999
TITEL<br />
Gabriele Stammberger lernt schließlich<br />
Gregor Gog kennen, und er wird ihre große<br />
Liebe. Gog war in Deutschland Begründer<br />
und Vorsitzender der »Internationalen Bruderschaft<br />
der Vagabunden« gewesen und<br />
besaß eine reiche Lebenserfahrung. In der<br />
Sowjetunion hatte er in dem Film "Der<br />
Kämpfer« von Gustav Wangenheini mitgespielt<br />
und kannte Gott und die Well. Als<br />
Gabriele Stammberger ihn kennenlernt, ist<br />
er schon schwer krank. Aber immer wieder<br />
gelingt es ihm, sich zwischenzeitlich zu erholen.<br />
Am Ende hätte die Gabe von Penicillin<br />
gereicht, ihn zu retten, aber es kam anders.<br />
ut<br />
ekonunen<br />
Arn 29. 10. 1940 wird das gemeinsame<br />
Kind Stefan geboren. Ein |ahr später, Deutschland<br />
hat die UdSSR überfallen, wird die Familie<br />
nach Usbekistan evakuiert. Die Fahrt<br />
ist eine Odyssee. In Fergana erwarten sie<br />
Hunger, Kälte, Steine und kein Dach über<br />
dem Kopf. Arn 16. Dezember stirbt der<br />
kleine Sohn. Gregor Gog kommt ins Krankenhaus<br />
und erholt sich unter den klimatischen<br />
Bedingungen, dem Hunger und der<br />
Fntkräftung nicht mehr. Fr kann nicht<br />
mehr arbeiten und Gabriele Stammberger<br />
sorgt unter unvorstellbaren Entbehrungen<br />
für den Lebensunterhalt. Dann stirbtauch<br />
ihr ältester Sohn, Pim, an Meningitis. Gregor<br />
Gog erlebt noch den Tag der Befreiung.<br />
Alles Bemühen, ihn nach Deutschland ausreisen<br />
und dort behandeln zu lassen, bleibt<br />
ohne Erfolg. Sie kommen nicht einmal bis<br />
Moskau. Arn 7. Oktober 1945 stirbt er. Auch<br />
sein Wunsch, in Berlin begraben zu werden,<br />
wird nicht erfüllt. Gabriele Stammberger<br />
bleibt in Mittelasien, bis sie Ende 1954 endlich<br />
nach Berlin zurückkehren kann.<br />
Über die stalinistisch.cn Verbrechen ist<br />
in den letzten Jahren viel geschrieben worden.<br />
Aber diese Geschichte fügt in ihrer<br />
Genauigkeit, die aus der Verbindung von<br />
Dokument und Erzählung herrührt, eine<br />
wichtige Facette hinzu. Gabriele Stammberger<br />
ist bemüht, ihre Gefühle hinter<br />
ihrem Lebensbericht zu verstecken. Aber<br />
genau das führt dazu, daß es Situationen<br />
im Buch gibt, an denen ich einfach heulen<br />
mußte. Denn von dem Buch geht eine<br />
Beklemmung aus. Jedesmal, wenn ein<br />
neuer Bekannter im Leben Gabriele<br />
Stammbergers auftauchte, habe ich in dem<br />
ausführlichen und kenntnisreichen Apparat<br />
am Ende des Buches nachgeblättert,<br />
wann er gestorben ist, immer in der Hoffnung,<br />
er könnte nach dem Krieg wieder<br />
aus diesem unwirtlichen Exil zurückgekehrt<br />
sein. Es waren nicht viele. Und die<br />
wenigsten haben ihre Geschichte erzählt.<br />
Aus allen Himmelsrichtungen strömten<br />
Flüchtlinge nach Fergana. Neben dem Bahnhofstand<br />
eine große Teestube. Sie wurde ^ur<br />
Notunterkunft. Wie Heringe lagen wir nebeneinander,<br />
zu unseren Häuptern verstauten<br />
wir unser Fluchtgepäck. Die Schuhe stellten<br />
wir auf die Erde. Der Tschaichantschik empfahl<br />
uns, auch die Schuhe am Kopf zu verstauen,<br />
denn man wisse nie, wer nachts hier<br />
herumschleicht. Gegen Morgen, ich hatte<br />
geschlafen wie ein Sack, wurden wir vom<br />
Schlachtruf: »Zum Basar! Zum Basar!«<br />
geweckt. Am Kopf spürte ich einen kalten<br />
Luftzug. Ich sah mich um: Meine Schuhe<br />
waren weg! Der Dieb hatte die Scheibe her-<br />
Unser erster Weg war zum Bezirkskomitee<br />
der MOPR. Die Vorsitzende hieß Christowaja.<br />
Wir wiesen uns <strong>als</strong> Politemigranlen aus,<br />
und sie übergab uns fürs erste 100 Rubel<br />
Unterstützung. Weil wir sehr hungrig waren,<br />
steuerten wir umgehend das nächste Restaurant<br />
an. Bald standen Teller mit Gulasch und<br />
Makkaroni vor uns auf dem Tisch. Zu jeder<br />
Portion gehörte ein frischgebackener Eladen.<br />
Nach der entbehrungsreichen Fahrt gab es »<br />
2(1999
TITEL<br />
Gabriele Haenisch mit ihrem Sohn Pim, Berlin, März<br />
nichts Wunderbareres. Neben uns am Tisch<br />
saß ein junges Paar. Gregor und ich überlegten,<br />
aus welchem Fleisch der Gulasch zubereitet<br />
war, irgend jemand rief uns zu: »Pferdefleisch!«<br />
Daraufhin ließ dieses junge Paar<br />
Messer und Gabel fallen, stand auf und ging<br />
hinaus. Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden<br />
ist. Aber sicher haben auch sie gelernt,<br />
Pferdefleisch zu essen.<br />
Am zweiten Tag bin ich zur Jugendfürsorge<br />
gegangen. Vom Bahnhof bis zur Uliza<br />
Kommunistow war es ein weiter Weg. Dort<br />
angekommen, erklärte ich unsere Lage:<br />
»Mein kleiner Junge ist durch die Fahrt<br />
sehr geschwächt, wo soll ich ihn waschen<br />
und windeln? In der Teestube? Die hygienischen<br />
Verhältnisse und die Temperaturen<br />
sind katastrophal für die Gesundheit eines<br />
einjährigen Kindes!«<br />
Man gab mir sofort eine Einweisung für<br />
eine Wochenkinderkrippe, doch vorher mußte<br />
Stefan noch von einer Ärztin untersucht<br />
werden. Fr hatte zwar keinen Durchfall<br />
mehr, aber er war noch sehr geschwächt.<br />
Gleich am nächsten Tag konnte ich ihn in<br />
die Krippe bringen. Das Haus war warm und<br />
sauber, die Kinder bekamen richtige Kindernahrung<br />
und Milch.<br />
Langsam ging uns das Geld aus, aber wir<br />
wagten nicht, gleich wieder zur MOPR zu<br />
gehen. Also beschlossen wir. etwas zu verkaufen.<br />
Von meinen Nachbarn in Moskau<br />
hatte ich schwarzen Wollstoff, aus denen die<br />
Marinemäntel hergestellt wurden, gekauft.<br />
Den trugen wir nun in ein Kornmissionsgeschäft.<br />
Auf dem Basar hätte ich viermal soviel<br />
verlangen können, wie uns im Geschäft ausgezahlt<br />
wurde, aber dazu hätte man handeln<br />
müssen, und das hatten wir noch nicht gelernt.<br />
Wir waren froh, endlich etwas »Selbstverdientes«<br />
in der Tasche zu haben.<br />
liin eigenes Zimmer in Fergana zu bekommen,<br />
war unendlich schwer. Zwar gab<br />
es immer wieder Zimmer, die von einer<br />
Kommission requiriert worden waren, aber<br />
bei der Masse von Flüchtlingen war es immer<br />
nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Hätten<br />
wir genug Geld gehabt, wir hätten sicher<br />
etwas gefunden. Die Christowaja versuchte,<br />
uns soweit wie möglich zu helfen. Sie begleitete<br />
mich zu dem Büro, in dem der Verantwortliche<br />
für die Zimmcr-verteilung safs.<br />
Der Warteraum war von Obdachlosen überfüllt.<br />
Die Christowaja wollte sich mit mir zu<br />
dem Verantwortlichen durchdrängen, denn<br />
immerhin war sie eine Beamtin. Als ich<br />
mich aber an sie klammerte, um mit ihr<br />
durchzukommen, hätte mich die Menschenmenge<br />
fast gelyncht. Als sich die<br />
Bürotür öffnete und Christowaja eingelassen<br />
wurde, schlug man mir die Tür vor<br />
der Nase umgehend zu.
TITEL<br />
Wir bekamen eine Order für den Kolchos<br />
»8. März«, bekanntermaßen der ärmste im<br />
Rayon. Doch davon ahnten wir nichts, <strong>als</strong><br />
uns der Pferdewagen vom Kolchos abholte,<br />
und wir mit unserem kläglichen Hab und<br />
Gut auf dem Wagen saßen und aus der<br />
Stadt in die Steppe rollten.<br />
Von der Kolchosverwaltung wurden<br />
wir schon erwartet. Die Mitglieder saßen in<br />
einem engen Raum im Kreis auf Kissen,<br />
bewirteten uns mit Tee und Urjuk - getrockneten<br />
Pfirsichen - und sahen uns an. Sie<br />
sprachen einige Brocken Russisch, so daß<br />
wir uns notdürftig verständigen konnten.<br />
Die erste Nacht schliefen wir im Nebenraum<br />
auf Watternatralzen, der Fußboden bestand<br />
aus gestampftem Lehm. Wahrscheinlich<br />
wurde er meist <strong>als</strong> Vorratsraum genutzt.<br />
Zwei Tage später wies man uns in ein Gästezimmer<br />
ein. Eine wacklige I lolztrcppe führte<br />
zu ihm hinauf. Die Einrichtung bestand aus<br />
einem \, einer schmalen Bank und<br />
einem Tisch. Großzügigerweise gab man<br />
uns die Wattematratzen mit.<br />
Als Gregor am morgen unseres ersten<br />
Tages im Kolchos aufwachte, sagte er zu mir:<br />
»Mir geht es nicht gut. Ich glaube, ich habe<br />
Lungenentzündung. - Ich hab das schon<br />
einmal gehabt.« Er hatte sich auf dem kalten<br />
Lehmboden erkältet,<br />
Am 13. Dezember war Gregors Zustand<br />
so ernst, daß ich ihn ins Krankenhaus bringen<br />
mußte. Der Arzt, der für unseren Kolchos<br />
zuständig war, sah, in welcher Verfassung er<br />
sich befand, und gab ihm eine Überweisung<br />
ins Krankenhaus von Fergana. Ich ging in<br />
die Verwaltung und sagte, daß Gregor ins<br />
Krankenhaus gebracht werden müsse. Der<br />
Kolchosvorsitzende versprach, am nächsten<br />
Morgen, früh um sieben Uhr, würde ein<br />
Wagen in die Stadt fahren und Gregor könne<br />
mitfahren. Als ich am nächsten Tag früh aufstand,<br />
war der Hof leer. Der Wagen war eher<br />
abgefahren, und Gregor hatten sie vergessen.<br />
Ich ging zum Vorsitzenden, aber der zuckte<br />
nur mit der Schulter. Sie holten aus dem Stall<br />
einen mageren Grauschimmel und erklärten,<br />
auf ihm würde Gregor in die Stadt gebracht.<br />
Die Zügel führte ein alter, dürrer Usbeke,<br />
und Gregor wurde hinter ihm aufs Pferd<br />
gehoben. In der Nacht war nasser Schnee<br />
gefallen. Wir zogen los. Das Pferd trug die<br />
beiden Ma'nner, ich stapfte in meinen Schaftstiefeln<br />
hinterher und hielt mich am Schwanz<br />
des Pferdes fest, denn ich hatte Angst, sie<br />
aus den Augen zu verlieren. Als wir im Krankenhaus<br />
ankamen, war der Aufnahmeraum<br />
überfüllt. Alle guckten uns böse an: Noch<br />
einer, der da rein will! Mitten im Raum, auf<br />
der Erde, lag ein alter frommer Jude mit langem<br />
weißem Bart und Schläfen-locken, sein<br />
Gesicht war gelb und eingefallen, er jammerte<br />
vor Schmerzen.<br />
Ich gab den Einweisungsschein ab. Wir<br />
mußten nicht lange warten, bis Gregors<br />
Name aufgerufen wurde. Empörung und<br />
Entsetzen bei all den anderen. Die Schwester<br />
reagierte kühl: »Dieser Mann hat schon gestern<br />
seinen Einweisungsschein bekommen.<br />
Sie alle haben erst einen von heute, oder Sie<br />
haben keinen. Also wird er aufgenommen!«<br />
Als ich danach Stefan in der Krippe besuchen<br />
wollte, überreichte mir die leitende<br />
Ärztin unser Kind mit den Worten: »Er muß<br />
ins Krankenhaus, er hat vielleicht Lungenentzündung!«<br />
Das Kinderkrankenhaus befand sich in<br />
der Nähe. Die Aufnahmeärztin war gerade<br />
beschäftigt. Vor ihr stand eine Frau mit einem<br />
Jungen auf dem Arm und weinte, die Ärztin<br />
hatte ihr gesagt, daß sie ihr Kind nicht aufnehmen<br />
könne, weil keine Betten mehr frei<br />
seien und außerdem der Einweisungsschein<br />
fehle. Hinter dem Rücken der Frau gab mir<br />
die Ärztin ein Zeichen, den Hintereingang<br />
zu benutzen. Die Frau mit dem Jungen bemerkte<br />
natürlich, daß ich plötzlich wortlos<br />
verschwand, und im Abgehen hörte ich sie<br />
weinen: »Warum darf die, warum ich nicht?«<br />
— »Sie hat von der Krippe eine Einweisung<br />
bekommen, ich muß ihn aufnehmen.«<br />
Nachdem ich Gregor und Stefan ins<br />
Krankenhaus gebracht hatte, ging ich noch<br />
einmal zur Beamtin der Fürsorge: »Ich weiß<br />
nicht, wem ich mich nun zuerst zuwenden<br />
soll, meinem kranken Mann, meinem kranken<br />
Kleinkind oder meinem Sohn, der nun<br />
allein im Kolchos sitzt.« Im Rayon gab es ein<br />
Heim für evakuierte Kinder aus Belorußland.<br />
Man bot mir an. Pirn dort unterzubringen.<br />
Einzige Bedingung war eine Bescheinigung,<br />
daß er keine ansteckende Krankheit hatte.<br />
Anschließend lief ich wieder zum Kinderkrankenhaus.<br />
Die Mütter der kleineren Kinder<br />
durften die Nacht über bleiben. Es war schon<br />
sehr spät, Pim saß allein im Kolchos, ich<br />
sagte, ich müsse gehen, und man warf mir<br />
vor: »Wie können Sie das Kind alleine lassen,<br />
das stirbt Ihnen ja!«<br />
Der Weg zurück in den Kolchos führte<br />
über viele kleine Brücken und ich fürchtete,<br />
in der Dunkelheit auf den mit matschigem<br />
Schnee bedeckten Bohlen auszurutschen<br />
und in einen dieser Aryks zu stürzen.<br />
Am 14. Dezember brachte ich Pim in dieses<br />
Kinderheim. Es war fürchterlich für mich,<br />
ihn dort abzugeben. Es gab nur Betten für<br />
Erwachsene, und so schliefen die Kinder zu<br />
zweit in einem Bett, aber es war ein warmes<br />
Bett. Wegen der Entfernung vom Kolchos<br />
konnte ich ihn leider nicht jeden Tag besuchen,<br />
doch ich wußte, daß er dort wenigstens<br />
regelmäßig zu Essen bekam, und in ihrem<br />
Zimmer stand ein Weihnachtsbaum.<br />
2)1999
TITEL<br />
Am 16. Dezember starb Stefan in meinen<br />
Armen. Als ich ihn auf dem muslimischen<br />
Friedhof von Fergana begraben wollte, stand<br />
in der Nähe ein jüdisches Ehepaar vor einem<br />
offenen Grab, sie hatten ihr kleines Mädchen<br />
verloren. Sie boten mir an, unsere Kinder gemeinsam<br />
in einem Grab zu beerdigen. Als<br />
wir von unseren Kindern Abschied nahmen,<br />
stand lange ein wunderbares Abendrot am<br />
Himmel, <strong>als</strong> sollten wir getröstet werden.<br />
Tagelang ging ich nicht ins Krankenhaus,<br />
ich dachte, das könne ich Gregor nicht<br />
antun. In dieser Zeit wurde die Wehrmacht<br />
vor Moskau gestoppt. Wenigstens das war<br />
ein kleiner Hoffnungsschimmer.<br />
Kurz vor Weihnachten kam Gregor wieder<br />
nach Hause. Er war so schwach, daß er<br />
mehrere Wochen die Treppe vor unserem<br />
Zimmer nicht herunterkam.<br />
Der Ofen in unserem Vorraum funktionierte<br />
nicht richtig. Auch wenn wir gutes<br />
Brennholz hatten, qualmte es so stark, daß<br />
sich das Zimmer allmählich mit Rauch füllte.<br />
Die Fenster konnten wir wegen der Kälte<br />
nicht öffnen. Manchmal, wenn sich der Rauch<br />
von der Zimmerdecke um unsere Köpfe zu<br />
einer bedrohlichen Wolke zusammenballte,<br />
schlichen wir nur noch geduckt durch das<br />
Zimmer.<br />
Gregor und ich waren nicht die einzigen<br />
Flüchtlinge im Kolchos. Im Teehaus war eine<br />
Gruppe Ukrainerinnen mit ihren Kindern<br />
untergebracht. Und so konnten wir trotz<br />
aller Unzulänglichkeiten froh sein, ein Zimmer<br />
für uns ganz allein zu haben. Eines<br />
Tages erkrankte der Sohn einer Ukrainerin.<br />
Sofort gab es böses Blut: »Die Deutschen haben<br />
ein Zimmer für sich allein, und unsere<br />
Kinder werden krank in der Teestube.«<br />
Wir boten der Frau an, mit ihrem Kind<br />
zu uns zu ziehen. Zwei Tage hielt sie aus, in<br />
Kalte und Rauch, dann zog sie wieder mit<br />
dem todkranken Jungen in die luftigere Teestube.<br />
Einige Tage später klopfte es nachts an<br />
unserer Tür. Ich öffnete. Vor mir standen der<br />
einarmige Kolchoswächter mit geschultertem<br />
Gewehr, der Kolchosvorsitzende, der Vorsitzende<br />
des Dorfsowjet und ein Milizionär.<br />
Ich interessierte sie gar nicht. Mit stählernen<br />
Blicken verfolgten sie Gregor. |emand hatte<br />
den Männern eingeredet, in ihrem Kokhos<br />
hätte sich ein »deutscher Faschist« eingenistet.<br />
Sie wollten Gregors Papiere kontrollieren.<br />
Ich versuchte zu vermitteln, doch Gregor<br />
sagte zu mir, wie er es oft getan hatte in entscheidenden<br />
Augenblicken: »Du misch dich<br />
nicht ein! Laß mich mit ihnen reden!« Doch<br />
er war ein Deutscher, der nur einige Brocken<br />
Russisch konnte, und sie waren Usbeken, die<br />
selbst kaum Russisch sprachen. Gregor hantierte<br />
mit seinen Papieren, und erklärte mit<br />
wenigen Worten den Unterschied zwischen<br />
deutschen Kommunisten und deutschen<br />
Faschisten, allmählich wich ihre Reserviertheit.<br />
Zum Schluß gab der Vorsitzende des<br />
Dorfsowjet dem Kolchosvorsitzenden die<br />
Anweisung, uns ebenso wie die Kolchosmitglieder<br />
zu versorgen, dann verabschiedeten<br />
sie sich lächelnd mit Handschlag vom<br />
»Towarisch Goch«. Wenig später wurde der<br />
Verwalter zum Militär eingezogen, er weinte<br />
beim Abschied, mit einer leichten Verwundung<br />
konnie er aber bald zurückkehren.<br />
Wie gesagt, wir lebten im ärmsten<br />
Kolchos der Gegend, und wer nichts hat,<br />
kann nichts geben. Pim blieb im Kinderheim,<br />
dort hatte er wenigstens genug zu<br />
essen. Gregor und ich ernährten uns von<br />
Rettich und Baumwollöl. Der Rettich war<br />
sehr gut. und ich erinnere mich, wie die<br />
Verkäufer riefen: »Rettich! Halb Honig, halb<br />
Zucker!« - Das war natürlich übertrieben,<br />
aber er war viel saftiger und auch nicht so<br />
scharf wie in Deutschland. Hatten wir uns<br />
den Bauch mit Rettich vollgeschlagen, liefen<br />
wir anschließend mit aufgetriebenem Leib<br />
durch die Gegend.<br />
An den Wochenenden stand ich sehr<br />
früh auf, ging über die Felder in die Stadt<br />
zum Markt. An Wochentagen lohnte es sich<br />
nicht. Schon von weitem sah ich die Schlange<br />
stehen. Einfach nur eine Schlange und nichts<br />
weiter. Die Stadtbewohner hatten sich angestellt<br />
in der Hoffnung, daß irgend jemand<br />
käme und etwas Eßbares verkaufen würde.<br />
Einmal kam wirklich ein Mann mit einem<br />
Sack Kartoffeln. Jemand aus der Schlange<br />
lief ihm entgegen, drückte ihm ein paar<br />
Geldscheine in die Hand, der Mann stopfte<br />
das Geld in die Tasche, der andere ergriff<br />
den Sack und weg waren sie.<br />
Eine Zeitlang ernährten wir uns von<br />
Trockenfrüchten. Die Usbeken knackten die<br />
Kerne, wenn sie Rast machten auf Findlingen,<br />
überall am Weg sah man bei größeren<br />
Steinen die Schalen herumliegen. Mir war<br />
das zu umständlich, ich knackte sie im<br />
Mund und ruinierte mir die Zähne.<br />
Allmählich gingen alle meine Schmucksachen<br />
den Weg zum Basar. Um irgendwie<br />
an Geld zu kommen, mußte ich sie auf dem<br />
Markt verkaufen. Selbst meinen Ehering,<br />
den mir meine Schwiegermutter geschenkt<br />
hatte, verkaufte ich. Mit jedem Stück ging<br />
ein Tropfen Herzblut mit, aber das Leben<br />
zehn Tage weiter.<br />
Der Kolchosbuchhalter, der im Gegensatz<br />
zu den anderen Dorfbewohnern in Wohlstand<br />
lebte, war besonders von meinem Ring mit<br />
dem großen blauen Aquamarin angetan. Er<br />
war abergläubisch und versprach sich vom<br />
Stein Glück und Gesundheit. Da er unbedingt<br />
daran glauben wollte, versicherte ich es ihm<br />
hoch und heilig, daraufhin packte er auf die<br />
ausgehandelte Menge Maismehl noch ein<br />
Kilo drauf.<br />
Einmal brachte ich Hafer nach Hause, so<br />
wie er aus den Ähren geschüttelt wurde. Ich<br />
hatte mir gedacht, wenn man ihn lange genug<br />
kocht, wird schon so etwas wie Haferschleim<br />
dabei herauskommen. Der Hafer quoll in den<br />
Hülsen auf, und um an den Schleim zu kommen,<br />
kauten wir die Hülsen durch und spukten<br />
sie wieder aus. Gregor wurde schlecht<br />
davon, und seine Verdauung spielte nicht<br />
mit, aber was half es, wer nicht aß, wurde<br />
schwach und schwächer. Einmal in der Woche<br />
kaufte ich Rindertalg, vermischte ihn mit<br />
Maismehl und briet es auf der Pfanne. Gregor<br />
zählte, wie oft jeder von uns mit seinem Löffel<br />
auf der Pfanne krat?te: »Eins-zwei-drei-du,<br />
eins-zwei-drei-ich...«. aber in der Dunkelheit<br />
bemerkte er nicht, daß ich meine Löffel nur<br />
halb füllte.<br />
Die MOPR versprach uns, ab i. Mai über<br />
die städtische Verteilungsstelle 500 Gramm<br />
Brot pro Person, eine Portion Makkaroni,<br />
Baumwollöl und - eventuell - Zucker<br />
zukommen zu lassen. Kür mich stand fest,<br />
dann holen wir Pim wieder zu uns. Und ich<br />
zählte die Tage.<br />
Gregor hatte sich so weit erholt, daß<br />
er wieder in die Stadt gehen konnte. Eines<br />
Tages kam er mit der Nachricht zurück:<br />
»Sie haben Pim ins Krankenhaus gebracht!«<br />
Das war ein schrecklicher Schlag.
lieber Genösse Durus! jo. 12. 1941<br />
Am 26. Dezember wurde ich aus dem Krankenhaus<br />
entlassen, in dem ich mit Lungenentzündung<br />
tag -- die letzte Hlappe dieses<br />
schweren Krankheitsjahrs. Die nächste und<br />
Schlußetappe wird der Friedhof sein, irgendwo<br />
am Weg ein Sandhügel, der unachtsam<br />
niedergetreten wird. Und ich will doch noch<br />
nicht sterben, will nicht: Ich will unser Deutschland<br />
wiedersehen und will noch über viele<br />
schöne Dinge schreiben. In den schlaflosen<br />
Nächten denke ich daran, hundert Themen<br />
fallen mir ein, hundert Themen weiß ich.<br />
Vor allem möchte ich über > Deutsche Volkskunst<br />
schreiben, mit derselben Begeisterung,<br />
mit der ich über >Ukrainische Volkskunst«<br />
schrieb. Weißt Du noch, einmal in<br />
Moskau, <strong>als</strong> wir uns trafen, träumten wir<br />
gemeinsam von unsrer Arbeit in unserem<br />
Deutschland. Das waren flüchtige, doch<br />
unvergeßliche Glücksminuten.<br />
Gabriele holte mich aus dem Krankenhaus<br />
ab. Ich stolperte über die Schwelle; und<br />
mir wurde finster vor den Augen; da wurde<br />
mir erschreckend klar, daß mir die Lungenentzündung<br />
unmerklich die letzte physische<br />
Widerstandskraft weggenommen hatte.<br />
Gabriele stützte mich; der Weg ins Kolchos,<br />
in dem wir >lebenKibitka< im Kolchos auf einer Bank. Ich<br />
kann nicht gehen, hab physisch keine Kraft.<br />
Die Kräfte sind zerfallen, die Beine tragen<br />
selbst das Gerippe, das übrigblieb, nicht mehr.<br />
»Gog. Sie haben keine Temperatur mehr,<br />
legen Sie sich auf dem Kolchos ins Bett. Die<br />
Hauptsache ist jetzt, gut essen. Eier, Fleisch.<br />
Speck, Hühnersuppen, auch Wein dürfen sie<br />
trinken« - »Genossin Doktor, Sie sind eine<br />
große Zynikerin!« sagte ich mit lauter harter<br />
Stimme. Sie sah mich böse an und trug ihre<br />
zwei Zentner Lebendgewicht in den nächsten<br />
Krankensaa!.<br />
Daß ich die Dinge, die sie aufzählte, notwendig<br />
brauche, wußte die Arztin besser <strong>als</strong><br />
jeder andere im Krankenhaus; denn sie hatte<br />
bei ihren täglichen Untersuchungen den<br />
rapiden Zerfall meiner physischen Kräfte<br />
mehr <strong>als</strong> einmal konstatiert - vielleicht ist<br />
diese Ärztin eine verkappte Feindin der<br />
Sowjetunion, wer kennt sich da aus!<br />
Unser Kolchos ist eins der ärmsten<br />
Baumwollkolchose der Gegend. Wir kriegen<br />
buchstäblich nichts! In der ersten Zeit gab's<br />
wenigstens noch Mehl, aus dem man Lepjoschki,<br />
das Brot der Kolchosbauern, backen<br />
lassen konnte. Auch das gibt's nicht mehr.<br />
Seit vier Tagen hab ich kein Brot gesehen.<br />
Ich weiß nicht, wie den weiteren Verfall<br />
meiner Kräfte aufhalten. Retten würde mich<br />
Fleisch, Fett und nochm<strong>als</strong> Fleisch und Fett.<br />
Gabriele hat alles Entbehrliche verkauft und<br />
rennt herum, um etwas Nahrhaftes, vor allem<br />
Fleisch zu kaufen. Es ist ihr bisher nicht<br />
gelungen; unsere Kolchosbauern haben<br />
außer Zwiebeln nichts, keine Kartoffeln,<br />
kein Fleisch, kein Mehl. Ich muß aber in<br />
den nächsten vier Wochen den weiteren Verfall<br />
meiner Kräfte aufhalten, sonst bin ich<br />
verloren und muß in die Grube, in die ich<br />
nicht will!<br />
Was den Faschisten 1933 nicht gelang,<br />
mich kaputt zu machen, darf jetzt nicht geschehen,<br />
nämlich kaputtzugehen; denn es<br />
würde bedeuten, daß ich buchstäblich an<br />
Fntkräftung, an Untrrernährung zugrunde<br />
ginge. Das wäre ein Verbrechen und eine<br />
Schande. Hs wäre auch ein Unsinn 'zu sagen,<br />
ich hätte besonderes Pech. Es ist gar nicht so:<br />
daß es mit mir soweit gekommen ist, daß ich<br />
vor dem Entkräftungstod angelangt bin, ist<br />
die l'olge bestimmter Vernachlässigungen,<br />
um nicht ein härteres Wort zu gebrauchen.<br />
die von Anfang an begangen worden sind.<br />
Ich bin ein Schwerverwundeter der Kämpfe<br />
des Jahres 1953. Meine Verwundung heißt<br />
chronische Rückenwirbelentzündung. Das<br />
Fundament meines Körpers ist krank. Um<br />
Heilung zu finden, kam ich in die Sowjetunion.<br />
Der MOPR-Arzt gab mir eine f<strong>als</strong>che<br />
Kur (trotz meines Protestes). Damit begann<br />
die Misere. Was >verdanke< ich seitdem nicht<br />
alles der MOPR. Vielleicht nimmt sich später<br />
einmal ein proletarisches Gericht die Akten,<br />
auch meine Akten, bei der MOPR vor, um<br />
Sfi»££f<br />
dahinter zu kommen, was da geschehen ist.<br />
^^^Hi<br />
Bei normalem Leben, wie in den sc<br />
Jahren 1937-1940 > Schlummer te< die Krankheit<br />
in mir. Es ging alles gut. Ich lebte in einem<br />
Gesundheitszustand, der dieser verfluchten<br />
Krankheit angepaßt war. Darum sagte ich ja<br />
in diesen Jahren immer wieder, daß ich nur<br />
Rücksicht auf die Krankheit nehmen mußte,<br />
um akuten Erkrankungen zu entgehen und<br />
arbeitsfähig zu bleiben.<br />
1941 wurde ich durch physische Überanstrengung<br />
aus diesem gesunden Zustand<br />
hinausgeworfen. >Man< hätte mir dam<strong>als</strong><br />
helfen müssen, <strong>als</strong> ich selbst, aus eigenen<br />
Kräften, aus der schweren Erkrankung nicht<br />
herauskonnte. Ich habe keine Hilfe, sondern<br />
nur Beschimpfung erfahren. Ich sage das<br />
ganz ruhig; denn weder das noch je etwas<br />
beirrt mich in meiner kommunistischen<br />
Weltanschauung.<br />
- i '<br />
Doch jetzt bin ich, infolge vieler Vernachlässigungen,<br />
an einem kritischen Punkt<br />
angelangt. Die deutsche Vertretung bei der<br />
Komintern muß eingreifen! Genösse Wilhelm<br />
muß ein Machtwort sprechen, das<br />
mich einem schändlichen Untergang, den<br />
ich wirklich nicht verdient hätte, entreißt.<br />
...Handschlag! Dein Gregor Gog.<br />
Weißt Du was von unsrem Heinrich Vogeler?<br />
Grüße ihn herzlich.<br />
aus; »Gut angekommen - Moskau.<br />
Das Exil der Gabriele Stammberger<br />
Erinnerungen und Dokumente«<br />
Aufgeschrieben von Gabriele Stammberger<br />
und Michael Peschke, BasisDruck, Berlin 1999
TITEL<br />
»Die einzigen, die wirklich<br />
etwas von männlicher<br />
Sexualität verstehen,<br />
.<br />
erläaclie<br />
Text:<br />
Helmul Höge<br />
Fotos; Rolf Zöllner<br />
sind die Prostituierten,<br />
aber sie schweigen.<br />
Es fragt sie jedoch<br />
auch niemand«.<br />
Michel Foucoult<br />
»Ich frage hinterher<br />
immer die Freier:<br />
Hat es dir gefallen?«<br />
Sylvia Kosta<br />
Aus der Frauenperspektive gesehen<br />
scheint mir die Prostitution die einzige noch<br />
existierende linke Bewegung zu sein. Zürn<br />
einen real - grenzüberschreitend und zum<br />
anderen sozial, weil die Prostituierten trotz<br />
entsolidarisierender »Schönheit« und zunehmender<br />
Konkurrenz noch am ehesten<br />
zusammenfinden und -halten. Zudem gibt<br />
es hierbei auch noch eine quasi natürliche<br />
Bewegung, die sich mit den vielen überqualifizicrten<br />
osteuropäischen Frauen noch laufend<br />
beschleunig!, insofern diese nicht aus<br />
Hilflosigkeit, Neigung, Blödheit oder Gleichgültigkeit<br />
(»Wenn die Männer schon alle mit<br />
mir ticken wollen, dann sollen sie wenigstens<br />
anständig dafür zahlen«) Anschaffen<br />
gehen, und erst recht nicht, um einen Mann<br />
zu versorgen.<br />
Für die Osteuropäerinnen bedeutet dieser<br />
demiritorische »Job« meist die einzige Möglichkeit,<br />
um hier Geld zu verdienen - und<br />
um Frauen, Kolleginnen kennenzulernen, die<br />
ihnen weiterhelfen. Das heißt, daß die meisten<br />
sich dort mehr oder weniger widerwillig<br />
reinbewegen - aber dann auch so schnell wie<br />
möglich wieder rausbewegen. Auch Männer,<br />
Freier, sind ihnen dabei recht - indem diese<br />
ihnen gegebenenfalls helfen: Bei einem rechtlichen<br />
Problem, der »richtigen« Versicherung,<br />
Arbeitsamt, Sprachkurs, Wohnung etc. Spe-<br />
/.iell die Frauen mit Touristenvisa müssen<br />
auch immer noch schnell jemanden zum<br />
Heiraten finden. Und dann überlegen sich<br />
viele auch sofort Alternativ-Einnahmequellen.<br />
In einem Sexkino in Berlin-Mitte arbeitet<br />
z.B. eine Petersburgerin, die Klamotten entwirft,<br />
die sie mit tschechischen Stoffen in<br />
Moldawien produzieren läßt. In einem Weddinger<br />
Sexkino arbeitet eine Moskauerin, die<br />
Roh-CDs aus Singapur importiert, die sie<br />
hier vertreibt. In einem Kreuzberger Bordell<br />
»jobt« eine Tomskerin, um damit ihr Germanistik-Studium<br />
hier zu finanzieren. Viele<br />
lernen systematisch Deutsch, während sie<br />
21'999
TITEL ©»<br />
herum-sitzen und auf »Patienten« warten.<br />
Dazu gibt es eine Unmenge von Krankenschwestern,<br />
Kindergärtnerinnen, Psychologinnen<br />
und Lehrerinnen, die in einem Bordell<br />
arbeiten und daneben versuchen, ihre Ausbildung<br />
hier - bzw. europaweit - anerkannt zu<br />
bekommen: Das hilft ihnen dann absurderweise<br />
sogar daheim weiter.<br />
Vor kurzem berichtete die taz-Redakteurin<br />
Barbara Bollwahn de Paez Casanova über einen<br />
»Prostituierten-Prozeß«. Es ging dabei<br />
um bulgarische Schlepper, die mehrere<br />
Frauen aus ihrem Heimatland hierherverschleppt<br />
und u.a. an die Wirtin des Bordells<br />
»Palais Madame« vermittelt haben sollten.<br />
Die ansonsten von mir verehrte Kollegin war<br />
nie in dem Bordell gewesen und konnte auch<br />
nicht mit den »Opfern« sprechen. Einige der<br />
im »Madame« arbeitenden Frauen beschwerlen<br />
sich anschließend heftig über ihren Bericht.<br />
Auch ich war empört, nach meinem Kenntnisstand<br />
gibt es gar keinen Handel mit osteuropäischen<br />
Frauen, auch keine grenzüberschreitende<br />
»Verschleppung«. Aus dem einfachen<br />
Grund, weil viel mehr Frauen von<br />
dort hierher wollen, <strong>als</strong> sämtliche Schlepper<br />
jem<strong>als</strong> ranschaffen könnten. Dafür gibt es<br />
aber immer wieder Polizisten, die die von<br />
ihnen in den Knast verschleppten Prostituierten<br />
so lange erpressen, bis diese »Namen«<br />
nennen, d.h. Männer, die ihnen - gegen Bezahlung<br />
- dazu verhalfen, in einem Berliner<br />
Bordell zu arbeiten. Zwar führt für die Frauen<br />
fast kein Weg an dieser »Mafia« mehr vorbei,<br />
aber ohne solche »Dienstleister« ginge es<br />
auch nicht.<br />
Ich sprach mit Ljuba, einer 29jährigen<br />
Ukrainerin aus jenem Bordell, die mir die<br />
»Sachlage« so darstellte: »Wir haben fast alle<br />
mit dieser Mafia einen Vertrag. Und wenn<br />
wir auch manchmal mit den Zahlungen in<br />
Rückstand geraten, so versuchen wir doch,<br />
den einigermaßen sauber zu erfüllen. Es<br />
bleibt uns auch gar nichts anderes übrig.<br />
Aber damit hat es sich darin. Das gilt auch<br />
für die andere Seite, die z.B. darauf achtet,<br />
daß der Scheinehemann, meiner lebt in<br />
Fberswalde, nicht vorfristig abspringt. Leider<br />
kommt es hier immer öfter zu Verfolgungen<br />
ausländischer Frauen durch Polizei und Justiz<br />
- bis hin zu den deutschen Botschaften, die<br />
z.B. in der Ukraine überhaupt keiner Frau<br />
zwischen 17 und 37 mehr ein Touristenvisum<br />
geben, weil sie davon ausgehen, die wollen<br />
sich hier nur jemanden zum Heiraten suchen,<br />
und für immer bleiben. Wenn die Polizei zusammen<br />
mit dem LKA eine Gruppe Mädchen<br />
aus einem Bordell in die Mangel nimmt,<br />
nachdem sie sie festgenommen haben, dann<br />
ist das Problem das schwächste Glied. Es<br />
nützt nichts, wenn fünf den Mund halten,<br />
aber eine redet. Dann nimmt die Polizei<br />
einige Männer hoch - und alle sechs sind<br />
anschließend die Dummen, das heißt, wir<br />
Mädchen müssen anschließend die restlichen<br />
frei herumlaufenden Mafiosi fürchten. Das<br />
ist eine reguläre Terrorspirale: Die Russen<br />
müssen immer brutaler werden, damit die<br />
Mädchen - derart eingeschüchtert — auch<br />
wirklich das Maul halten, und die deutsche<br />
Polizei, die Erfolge im Kampf gegen das<br />
organisierte Verbrechen vorweisen will, wird<br />
auch immer brutaler, um das Schweigen der<br />
Mädchen zu brechen«.<br />
Vicky, eine ehemalige Kollegin von Ljuba,<br />
die jetzt in einem Neukölner Bordell arbeitet,<br />
erzählt: »Obwohl ich im Gegensatz zu Ljuba<br />
keine Akademikerin, sondern eine Verkäuferin<br />
war, habe ich es ganz alleine hierher<br />
geschafft. Mit großem Glück bei der Visaerteilung.<br />
Aber ich habe es auch nicht leicht.<br />
Ich habe eine Tochter - in Kiew. Sie lebt bei<br />
meiner Freundin, und ich muß ihr regelmäßig<br />
Geld und Spielzeug und vor allem Anziehsachen<br />
schicken. Dafür gebe ich im Monat<br />
manchmal mehr aus <strong>als</strong> Ljuba für ihre »Vermittlung«<br />
zahlt: Meine Mafia ist mein Kind!<br />
Außerdem habe ich noch an mehrere Freundinnen<br />
sehr viel Geld verliehen, damit die<br />
eine Scheinheirat bezahlen konnten. Und es<br />
ist nicht so leicht, das Geld wieder zurückzubekommen.<br />
Viele haben ebenfalls Kinder.«<br />
Unter den »Mafiosis« gibt es auch Frauen,<br />
eine - aus Thailand — ist schon seit 17 Jahren<br />
im Geschäft: Noy. Sie geht selbst Anschaffen,<br />
daneben eröffnet sie aber auch immer wieder<br />
eigene kleine Bordelle, die sie dann mil Gewinn<br />
verkauft. Und jedesmal wenn sie zu<br />
ihrer Mutter nach Bangkok fährt, kommt sie<br />
mit »Aufträgen« zurück: Das heifst sie sucht<br />
für ein oder zwei Frauen einen Scheinehemarin<br />
hier, und dann erledigt sie auch noch<br />
die ganze dazugehörige Papiermagie. Anschließend<br />
arbeiten die Frauen Noys »Unkosten«<br />
(plus Provision und Risikozuschlaginsgesamt<br />
etwa 20.000 DM) in einem der<br />
hiesigen Thai- Bordelle ab. Meistens an<br />
Orten, wo noch etwas mehr Geld <strong>als</strong> in Berlin<br />
nocturno zirkuliert - in Bad Pyrmont,<br />
Baden-Baden oder Stuttgart zum Beispiel.<br />
Neulich erfuhr ich von einer bevorstehenden<br />
Razzia in einem Billigpuff in der Neukölner<br />
Hermannstraße. Als ich reinkam, saßen<br />
etwa 10 Frauen im ersten Raum und im zweiten<br />
vor einem Porno-Video rund TO Männer<br />
- ein paar dünne türkische Arbeiter und<br />
ebensoviel dicke deutsche von der Müllabfuhr.<br />
Alle warteten geduldig. Dann kamen<br />
aber zwei unruhige junge Männer rein, die<br />
sofort die Frauen anpöbelten: »Wann geht es<br />
endlich los? Macht hin, wir wollen ficken!«<br />
Nichts passierte. Schließlich stürmten 30<br />
Polizisten den Puff. Fünf Russinnen wurden<br />
festgenommen. Von drei deutschen Frauen<br />
erfuhr ich später, daß sie die Abendschule<br />
besuchten, um Abitur zu machen. Den zwei<br />
jungen Männern dauerte die Razzia zu lange,<br />
sie pöbelten die Polizisten an: »Eh du, der so<br />
aussieht wie ein Türke, du bist doch bestimmt<br />
der Einsatzleiter. Wann kriegen wir endlich<br />
unsere Ausweise wieder?« Später sah ich die<br />
beiden am Einsatzwagen - mit Uniformteilen<br />
angetan: Es waren Polizisten, und sie waren<br />
sehr stolz auf ihr Provokations-Schauspiel,<br />
wie ich dann von ihnen selbst erfuhr.<br />
Einmal interviewte ich auch den Leiter<br />
der polizeilichen »Ermittlungsgruppe Menschenhandel«<br />
(früher «Sitte« genannt}: Andreas<br />
Reinhardt. Auf seinem Schreibtisch<br />
steht ein Schild mit der Aufschrift »Chef«.<br />
Das Gespräch war völlig unergiebig. Er kam<br />
mir faul, desintcressiert und - wegen seines<br />
Beamtenstatus - völlig unfähig vor, in diesem<br />
subtilen mit dem Zerfall der Sowjetunion<br />
entstandenen Problemfeld auch nur gedanklich<br />
»Ordnung« zu schaffen. Später besuchte<br />
ich einige Veranstaltungen, auf denen der<br />
fustizexperte für organisierte Kriminalität,<br />
Staatsanwalt Fätkinheuer, auftrat. Er schien mir<br />
ein Wichtigtuer zu sein, der nur die rassistischen<br />
Bild-Schlagzeilen mit ebenso haltlosen<br />
wie eitlen Behauptungen untermauert.<br />
Mehrm<strong>als</strong> traf ich mich danach mit feministischen<br />
Frauenhandels-Forscherinnen,<br />
u.a. aus dem Wissenschaftszentrum. Während<br />
die Männer meist so taten <strong>als</strong> würden sie<br />
weniger erzählen, <strong>als</strong> sie wüßten, war es bei<br />
den Frauen eher umgekehrt. Dennoch war<br />
der »Sachstand« bei ihnen ähnlich mager wie<br />
bei den Journalistinnen: Eine schrieb von der<br />
anderen ab und keine hatte jem<strong>als</strong> längeren<br />
»Kontakt« zu einer Prostituierten gehabt.<br />
Beslenfalls ließen sie sich gelegentlich - von<br />
»Hydra« oder der asiatischen Frauenhilfsorganisation<br />
»Ban Ying« vermittelt - mit einer<br />
verschleppten Prostituierten »verbinden«,<br />
die ihnen für Geld ein kurzes Interview über<br />
ihren Leidensweg gewährte. Ein in der BZ <strong>als</strong><br />
»Top-Russin« annoncierendes Callgirl (das<br />
»Haus und Hotel«-Besuche macht) erzählte<br />
mir, daß sie anfänglich, 1992, mehr Journalisten<br />
<strong>als</strong> Freier gehabt hätte, wogegen sie jedoch<br />
nichts einzuwenden hatte: »Die haben<br />
mir alle dasselbe bezahlt - 200 DM pro<br />
Stunde«.<br />
weibbkci 1999 i 9
TITEL<br />
Nachdem der feministische Braintrust<br />
der letzten Berliner Arbeitssenatorin Christine<br />
Bergmann - sie war einmal die schönste<br />
Sängerin im Jenaer Kirchenchor - eine Pressekonferenz<br />
über den Stand der Bekämpfung<br />
des »Mädchenhandels auf der Ost-West-Drehscheibe«<br />
abgehallen hatte, wobei sie erneut<br />
den »Handlungsbedarf« bei der Polizei ansiedelte,<br />
hagelte es Presse- und TV-Berichte<br />
über das - gerade in Berlin - nun völlig entmenschte<br />
»Milieu«. Wobei es den männlichen<br />
Journalisten inbesondere das »Zureiten« der<br />
frischen Frauenware aus dem Osten (durch<br />
ihre Zuhälter) angetan hatte, es tauchte in<br />
jedem Text auf.<br />
Neben den Selbstorganisationen der Prostituierten<br />
gibt es auch noch die sehr engagierten<br />
Sozialarbeiterinnen und Ärztinnen -<br />
in den Gesundheitsämtern, die speziell zur<br />
Kontrolle der Prostituierten eingerichtet wurden.<br />
Sie führen - leider zusammen mit der<br />
Polizei - auch »Bordell-Begehungen« durch.<br />
Einige dieser Ämter sind so liebevoll eingerichtet,<br />
daß etliche Thaifrauen die für Kreuzberg,<br />
Neukölln und Ternpelhof zuständige<br />
Einrichtung sogar <strong>als</strong> Treffpunkt nutzen. Die<br />
Beschäftigten kümmern sich um weit mehr<br />
<strong>als</strong> nur um Geschlechtskrankheiten. Probleme<br />
hatten sie ab 1994 mit den bulgarischen Prostituierten,<br />
die alle dort hinkamen, <strong>als</strong> hätte<br />
man sie geprügelt: »Wir haben sie erst mal<br />
alle wieder weggeschickt. Wir können euch<br />
nur helfen, wenn ihr freiwillig kommt, haben<br />
wir ihnen gesagt. Die waren von zu Hause<br />
anscheinend eine andere Art Gesundheitsdienst<br />
gewöhnt«.<br />
Noch kompetenter ist wohl nur die ehemalige<br />
Nollendorfplatz-Ärztin Dorothea<br />
Ridder: Sie arbeitete etliche fahre selbst <strong>als</strong><br />
Prostituierte - und dann <strong>als</strong> Terroristin, bevor<br />
sie später <strong>als</strong> Ärztin u.a, drogenabhängigen<br />
Prostituierten half. Es war nebenbeibemerkt<br />
kein geringerer <strong>als</strong> Rudi Dutschke,<br />
mit dem sie seinerzeit im SDS-Zentrum am<br />
Kurfürstendamrn wohnte, und der ihr - <strong>als</strong><br />
»Beschützer« - morgens half, die alleraufdringlichsten<br />
Freier, die ihr von der Lietzenburgerstraße<br />
nach Hause gefolgt waren, los<br />
zu werden. Anschließend frühstückten sie<br />
gemeinsam.<br />
Eine Journalistin, die früher politisch<br />
aktiv war, meinte - nachdenklich: »Wenn<br />
man einmal damit angefangen hat, kann man<br />
nicht mehr aufhören! Mir macht das Anschaffen<br />
Spaß, jedenfalls meistens. Ich arbeite<br />
allerdings auch nicht so oft«.<br />
»Was interessiert dich eigentlich an den<br />
Sexarbeitern so?« fragten mich Lena und<br />
ihre Freundin Diana - in einem Kreuzberger<br />
Bordell. Ich antwortete mit einem Franzosen-<br />
Spruch: »Wenn Denken bedeutet, etwas zu<br />
Geld zu machen, dann bedeutet Denken auf<br />
dem Gebiet der Leidenschaft Prostitution«.<br />
»Okay, aber das ist kein Grund, die Kopfund<br />
Handarbeiter links liegen zu lassen!«<br />
»Tu ich ja auch nicht, aber da ist logischerweise<br />
noch viel mehr Prostitution drin <strong>als</strong> in<br />
der Prostitution«. »Was ist daran so logisch?«<br />
Statt eine Antwort zu geben, fragte ich Diana:<br />
»Wenn ein Behinderter in die Bar kommt,<br />
gehst immer du mit ihm aufs Zimmer -<br />
warum?« »Einer muß es ja machen, die können<br />
wir doch nicht einfach wegschicken, das<br />
wäre unhuman!« Lena holte zu einer längeren<br />
Erklärung aus: »Unsere beiden Väter<br />
waren in der Armee und wir studieren jetzt<br />
auch zusammen - in Moskau, außerdem<br />
wollen wir beide nach Japan, Diana ist meine<br />
beste Freundin. Im Gegensatz zu mir hat sie<br />
aber schon richtig gearbeitet und jetzt verdienen<br />
wir in den Ferien immer hier in Berlin<br />
unser Geld...«<br />
»Laß mich erzählen,» unterbrach Diana<br />
sie, »ich habe bei einer Fernsehstation in<br />
Swerdlowsk gearbeitet, alle Chefs dort waren<br />
unfähige Funktionäre, die nur ihre Datschen,<br />
neuen Autos usw. im Kopf hatten. Sie wußten<br />
nicht, was in der Stadt und im Oblast überhaupt<br />
los war, es interessierte sie auch nicht,<br />
aber sie entschieden Tag für Tag, was gesendet<br />
wurde. Ich war da nur eine Art Sekretärin,<br />
aber die arideren Frauen, die Reporterinnen,<br />
die ständig irgendwas oder irgendwem auf<br />
der Spur waren, die hat das schier verrückt<br />
gemacht: diese Dummheit der Natschalniks.<br />
Daraus hat sich ein Sprichwort entwickelt -<br />
wenn die wieder mal wegen eines Themas<br />
bei denen vorsprechen mußten, das ihnen<br />
dann völlig verbogen wurde: »Mit den Krüppeln<br />
ticken!« Das war nicht sexuell gemeint,<br />
im Gegenteil. Wenn es doch mal sexuell ausartete,<br />
hieß es »Subbotnik« - so heißt heute<br />
noch das Urnsonst-Ficken-Müssen mit Zuhältern<br />
und Polizisten. »Mit Krüppeln ficken«<br />
meinte aber jede Situation, in der man sich<br />
aus einer gewissen Abhängigkeit heraus mit<br />
Freaks einlassen muß. Als hier nun das erste<br />
Mal ein Zwerg hereinkam, mit einem Buckel<br />
auch noch und schlechter I laut, da haben<br />
sich die Mädchen alle angekuckt: »Wer haut<br />
ihn <strong>als</strong> erste an?« Die Thailänderin hat sofort<br />
gesagt: »Das kann ich nicht«. Lena hat sich<br />
verdrückt und die Drogensüchtige, die sonst<br />
ziemlich hart drauf ist, war noch nicht zur<br />
Arbeit erschienen. Daraufhin habe ich gesagt<br />
- eigentlich nur so vor mich hin: »Ich kenn<br />
das, mit Krüppeln ficken!« Und schon haben<br />
mich die anderen erleichtert aus dem Frauenruheraum<br />
- geradezu gedrängt. Wenn jetzt<br />
wieder mal so einer kommt, heißt es immer<br />
gleich: »Die Diana kann das, mit Krüppeln<br />
ficken«. Ich kann es mittlerweile tatsächlich.<br />
Es ist sogar interessant... manchmal.«<br />
Während und nach der Studentenbewegung<br />
jobbten viele der Aktivistinnen in<br />
Nachtbars und Peep-Shows oder spielten -<br />
wie Gudrun Enslin - in Pornofilmen mit.<br />
Das hatte u.a. etwas mit Erotik und Proletarität<br />
zu tun. Der heutige Feminismus<br />
begreift die Prostituierten nur noch distanziert<br />
und einseitig <strong>als</strong> »Opfer«. Gerade in<br />
Berlin, wo es über 900 Bordelle gibt, wie die<br />
Puff-Providerin Maria Tiedemann schätzt,<br />
die nächtens den Berliner Prostituierten u.a.<br />
»Textil-Einzelstücke« verkauft, ist man gut<br />
beraten, erst einmal genau zuzuhören und<br />
genau hinzuschauen. Das Gunstgewerbe ist<br />
hier wie nirgendwo sonst in Deutschland im<br />
normalen Kiez-»Mix« - Wohnen und Arbeiten<br />
- integriert, ohne Sperrbezirke, Großbordelle<br />
von Bauludcn und Rotlichtstraßen<br />
bzw. -viertel. Außerdem gibt es hier die<br />
wahrscheinlich weltweit meisten, von Frauen<br />
selbstorganisierten Bordelle und Callgirl-<br />
Center. Und daneben inzwischen eine Menge<br />
Bordell besitzen die halbwegs in Ordnung<br />
sind.<br />
Kurzum: Nirgendwo sonst trifft man so<br />
viele warmherzige und tolle, kämpferische<br />
Frauen wie gerade in Bordellen - versuchte<br />
ich einmal der SFB-Journalistin Anja Baum<br />
klar zu machen. Sie wollte daraufhin mit mir<br />
ein Weddinger Thai-Bordell besuchen. Die<br />
Frauen dort freuten sich dann derart, daß da<br />
mal eine Deutsche und nicht wie sonst immer<br />
nur ein (deutscher) Freier hereinkam, daß<br />
sie sich sofort alle um die Journalistin scharten<br />
und mit ihr unterhielten. Mich sprachen<br />
sie nur an, wenn ich ihnen was zu trinken<br />
spendieren sollte oder um ihnen zu bestätigen,<br />
daß Anja eine tolle große Nase habe.<br />
In Berlin gilt schon lange nicht mehr,<br />
daß der Frauenforschung dieses Überraschungs-Feld<br />
verwehrt ist. Bisher wurden<br />
jedoch meist nur ideologisch-deduktiv und<br />
unüberprüft die Frauenhändler-Geschichten<br />
der Polizei vertieft: »Bullenfakes« allesamt!<br />
Wenn dabei mit O-Tönen von »Opfern«<br />
operiert wurde, waren es auch meist nur<br />
»Geständnisse«, die zuvor die Polizei den<br />
Prostituierten abgepreßt hatte. Ks gab einmal<br />
- in der historisch-feministischen »Hexen«-<br />
Forschung - durchaus einen anderen<br />
Umgang mit solchen »Geständnissen«!<br />
-J'-'
TITEL<br />
Vor einiger Zeit inhaftierte man eine<br />
Asiatin im Frauenknast Kruppstraße, sie<br />
hatte lange fast bis zur Hüfte reichende<br />
pechschwarze Haare. Da ihre Nationalität<br />
unbekannt war, konnte sie monatelang nicht<br />
ohne weiteres abgeschoben werden - und<br />
wurde immer wieder verhört. Nach einer<br />
besonders langen Einvernahme durch die<br />
Bullen und ihre Dolmetscher kam sie mit<br />
vollständig ergrauten Haaren wieder in die<br />
Zelle zurück. Was die Beamte mit ihr angestellt<br />
hatten, konnten nicht einmal die mit<br />
ihr inhaftierten und freundschaftlich verbundenen<br />
Thai-Frauen herausbekommen. Aber<br />
der ganze Knast war entsetzt. Auch hier gilt<br />
jedoch: Von Tätern und Opfern zu reden -<br />
das ist dümmster Amerikanismus und einer<br />
Linken unwürdig, nur korrupte Staatsfeministinnen<br />
und Juristinnen, die ihre Karriere<br />
forcieren wollen - klinken sich in einen solchen<br />
»Diskurs« ein. Den Vogel schoß einmal<br />
»Emma« - in einem Prostituierten-Artikel -<br />
ab, den eine Polin krönte, die ihr Zuhälter<br />
mit einem großen Schild »Ich koste 30 DM«<br />
um den H<strong>als</strong> an die Straße des ly.Juni<br />
gestellt hatte. Das möchte ich bestreiten!<br />
Eine verheiratete ehemalige Westberliner<br />
Sekretärin erzählt: »Ich vögel gerne und habe<br />
nur Universitätsleute <strong>als</strong> Kunden, die alle sehr<br />
sehr anständig sind«. Sie kann sich nicht einmal<br />
vorstellen, wie man eine Frau überhaupt<br />
zur Prostitution zwingen kann: »Derartig<br />
verstellen kann sich doch auf Dauer keine,<br />
daß sie gegen ihren Willen mit zehn Männern<br />
oder mehr täglich vögelt. Das geht doch gar<br />
nicht, außerdem muß sie dabei noch fröhlich<br />
sein, gesprächig, keck und einfallsreich<br />
und die Männer richtig zu nehmen wissen,<br />
damit die auch wiederkommen - gezwungenermaßen<br />
geht das doch gar nicht. Das ist<br />
doch Quatsch! Andersherum würde ich aber<br />
natürlich auch sofort behaupten, man habe<br />
mich brutal verschleppt, wenn die Polizei<br />
mich in einem Bordell verhaftete. Eine Frau<br />
wäre ja bescheuert, wenn sie das nicht sagen<br />
würde«.<br />
Ein wegen Beihilfe zum Frauenhandel zu<br />
drei Jahren verurteilter polnischer Chauffeur<br />
kam neulich zu einer ähnlichen Einschätzung:<br />
»Das ist doch ein Witz, daß die Frauen zur<br />
Prostitution gezwungen wurden. Wenn ich<br />
mich hier in der Kleinstadt hinstellen und<br />
laut rufen würde: Ich fahre nach Deutschland<br />
in ein Bordell, wer kommt mit? Dann<br />
würde die Hälfte aller Frauen hier sofort einsteigen.<br />
Schuld daran sind nicht die Frauen<br />
oder die Schlepper, sondern die Politik, die<br />
nichts gegen die Arbeitslosigkeit hier tut.<br />
Es gibt einfach keine Arbeit mehr!«<br />
Helmut Möge, freier Autorin Berlin,<br />
recherchiert und veröffentlicht<br />
<strong>als</strong> kenntnisreicher Insider des Milieus<br />
immer wieder zu diesem Thema.
TITEL<br />
Was für ihre Mütter undenkbar war, wagen die Töchter: Immer mehr junge<br />
zulernen, ihre Sprachkenntnisse zu verbessern oder auf der unbestimmten<br />
•..<br />
M)me<br />
-••<br />
n-o ist es hie<br />
T\T • *<br />
Tea aus Georgien<br />
Monika aus Warschau hat nicht nurgute<br />
F.rjahrungen mit Au-pair gemacht<br />
Elena (Nr.2) aus Sibirien<br />
»Au-pair-Club, Zimmer 1131,« stehl auf<br />
dem Wegweiser am Seitenaufgang des Wilmersdorfer<br />
Rathauses. Dort verbreiten die<br />
hellen Neonröhren an der Decke zwar nicht<br />
gerade Clubathmosphäre, doch die anwesenden<br />
Au-pairs stört das wenig: Viele sind neu<br />
in der Stadt und nutzen den allwöchentlichen<br />
Treff, um andere Au-pairs kennenzulernen,<br />
bei Tee und Keksen Eindrücke zu vergleichen<br />
und Erfahrungen auszutauschen. Neben<br />
Deutsch hört man vor allem Polnisch und<br />
Russisch - fast zwei Drittel der Mädchen<br />
hier kommen aus Osteuropa.<br />
Auch Elena. Erst seit ein paar Wochen<br />
ist sie in Deutschland und kommt seitdem<br />
regelmäßig hierher. Zu Hause in Kiew hat<br />
sie schon einige Semester Deutsch, Englisch<br />
und Weltliteratur studiert und wollte vor<br />
allem der Sprache wegen ins Ausland. Es<br />
ist nicht ihr erster Deutschland-Aufenthalt:<br />
Vor vier Jahren war die dam<strong>als</strong> lyjährigc <strong>als</strong><br />
Betreuerin mit einer Kindergruppe aus<br />
Tschernobyl in Salzwedel. Diesmal hat sie<br />
sich ganz bewußt für Berlin entschieden,<br />
»weil das die Hauptstadt ist und sich hier<br />
Ost und West vereinen«. Daß sie nun jenseits<br />
der Stadtgrenze wohnt und der letzte<br />
Bus abends um halb Neun Fahrt, findet sie<br />
nicht weiter schlimm: Vom Au-pair-Club<br />
holen sie ihre Gasteltern mit dem Auto ab,<br />
die übrigen Abende der Woche verbringt sie<br />
mit Lesen und Lernen.<br />
Ihrer Freundin Iwona wäre das zu langweilig:<br />
Sie ist froh, der Enge ihres polnischen<br />
Heimatdorfes endlich entkommen zu sein<br />
und nutzt ihre Freizeit zu ausgiebigen<br />
Museumsbesuchen. Nach ihrem Au-pair-<br />
Aufenthalt möchte sie Germanistik und<br />
Kunst studieren, am liebsten in Berlin.<br />
Was ihr hier gefällt? »Der ganze Lebensstil<br />
ist viel lockerer. Die jungen Leute denken erst<br />
daran, das Leben zu genießen, und kriegen<br />
dann Kinder. In Polen ist es genau andersherum.«<br />
Auch Elena Nummer zwei, ebenfalls erst<br />
seit sechs Wochen in Berlin, möchte sich mit<br />
dem Kinderkriegen noch etwas Zeit lassen:<br />
»Eine gute Ausbildung ist wichtiger,« sagt sie<br />
schüchtern. Dazu zählt auch der einjährige<br />
Au-pair-Aufenthalt, zu dem ihr ihre Eltern<br />
geraten haben. Schließlich soll Elena nach<br />
dem Studium das väterliche Reisebüro übernehmen,<br />
und da sind gute Deutschkenntnisse<br />
wichtig - auch wenn sich bislang nur<br />
wenige deutsche Touristen ins viereinhalb<br />
Flugstunden südöstlich von Moskau gelegene<br />
Abakan verirren. Viel zu wenige, bedauert<br />
die Neunzehnjährige und zeigt mir ein<br />
dünnes Faltblatt: »Chakassien ist reich an<br />
Geschichte und Kultur, mit liebenswerten<br />
Menschen,« lese ich da, »wenn auch vieles,<br />
was in Deutschland Lebensstandard heißt, in<br />
Sibirien noch Mangelware ist.« Ob sie Heimweh<br />
hat nach Abakan? »)a, großes Heimweh.«<br />
Für viele Mädchen sei das das größte Problem,<br />
bestätigt Frau Dückers, ehrenamtliche<br />
Vorsitzende des Vereins für internationale<br />
[ugendkontakte, der jährlich rund zweihundert<br />
Au-pairs in Gastfamilien nach Berlin<br />
und Brandenburg vermittelt. Dort leben sie<br />
<strong>als</strong> »Familienmitglied auf Zeit«, helfen bis<br />
zu dreißig Stunden wöchentlich im Haushalt<br />
und bei der Kinderbetreuung und haben<br />
dafür Anspruch auf 200 Mark monatliches<br />
Taschengeld, Krankenversicherung, die<br />
Monatskarte und einen täglichen Sprachkurs.<br />
Die Kosten dafür sowie die Vermittlungsgebühr<br />
tragen die Gasteltern, lediglich<br />
ihre Hin-und Rückreise müssen die Mädchen<br />
selbst bezahlen. »Au-pair ist für viele eine<br />
gute Gelegenheit, ohne großen finanziellen<br />
Aufwand und im gesicherten Umfeld einer<br />
Gastfamilie ein Jahr im Ausland zu verbringen,«<br />
lobt Frau Dückers ihr Modell, »und<br />
umgekehrt weiten auch deutsche Familien<br />
ihren Horizont und bekommen eine bessere<br />
Beziehung zu den Herkunftsländern ihrer<br />
Au-pairs.« Daß viele der meist Westberliner<br />
Familien zunächst Vorbehalte gegenüber<br />
Osteuropäerinnen haben, gibt sie offen zu,<br />
»aber die machen dann erst recht positive<br />
Erfahrungen.«<br />
2I'999
Osteuropäerinnen kommen <strong>als</strong> Au-pair nach Berlin - um die Stadt kennen-<br />
Suche nach einer besseren Zukunft, Einige von ihnen traf Karin Nungeßer.<br />
"besser<br />
Die haben mit ihrem ersten Au-pair auch<br />
Familie Heiden aus Treptow gemacht. Aber<br />
Vorbehalte gegenüber Osteuropa sind ihnen<br />
ohnehin fremd: »Wir <strong>als</strong> ehemalige DDR-<br />
Bürger haben da ein ganz anderes Verhältnis<br />
zu,« stellt Herr Heiden klar, und auch Frau<br />
Heiden war die Nationalität ihres Au-pairs<br />
ganz egal, bis sie von mehreren Seiten gehört<br />
hatte, die Osteuropäerinnen seien zuverlässiger.<br />
»Denen bleibt ja auch gar nichts anderes<br />
übrig,« setzt sie schnell hinzu, »die wollen ja<br />
nicht zurück.«<br />
Für Gasttochter Dina gilt das ohne Zweifel:<br />
»Ich habe zwar Heimweh nach zu Hause,«<br />
sagt sie leise, »aber in diesem Moment ist es<br />
hier besser.« »Zu Hause«, das ist für Dina<br />
die Schwarzmeerhalbinsel Krim, wo es<br />
weder Arbeit, noch einen Ausbildungsplatz<br />
für sie gibt. Ihre Großmutter rät ihr deswegen<br />
bei jedem Telefonat doch in Deutschland zu<br />
bleiben, aber wie soll sie das machen? Dinas<br />
Aufenthaltsgenehmigung läuft im August ab,<br />
und dann muß sie zurück nach Hause. Davor<br />
graut ihr, nicht nur, weil sie dann wieder<br />
dreienhalb Tage unterwegs ist im Zug nach<br />
Djankoi. Dina fühlt sich wohl bei Familie<br />
Heiden, die demnächst einen russischen<br />
Abend mit ihr veranstalten wollen, und auch<br />
die würden ihr erstes Au-pair gerne behalten.<br />
Schon, weil sich alles so gut eingespielt hat:<br />
Wenn beide Zwischenschicht haben, sie im<br />
Krankenhaus, er bei der Polizei, kümmert<br />
sich Dina liebevoll um Steven, Tom und<br />
Lilly, macht ihnen Abendbrot und bringt<br />
sie ins Bett. »Sie ist für uns wie ein Familienmitglied,«<br />
beteuert Frau Heiden, »auch die<br />
Kinder mögen sie sehr.« Vielleicht haben<br />
alle Glück, und Dina bekommt von der Ausländerbe-hörde<br />
eine Verlängerung für ein<br />
halbes Jahr.<br />
Vor demselben Problem steht alljährlich<br />
auch Familie Krummhauer im Westberliner<br />
Stadtteil Charlottenburg. Seit dreizehn Jahren<br />
haben sie Au-pairs, und jedes Jahr aufs Neue<br />
müssen sie den wechelnden Sachbearbeiterinnen<br />
klarmachen, wie lange es dauert, bis<br />
der gehörlose, fast blinde und geistig behinderte<br />
Martin sich auf eine neue Bezugsperson<br />
eingestellt hat. Warum sie sich trotzdem<br />
immer wieder für ein Au-pair entscheiden?<br />
»Es ist schön jemanden im Haus zu haben,<br />
und ein bißchen sind sie auch ein Ersatz für<br />
die Tochter, die wir gerne gehabt hätten,«<br />
antwortet Herr Krummhauer mit einem<br />
Schmunzeln.<br />
Entsprechend eng ist die Bindung der<br />
Krummhauers zu ihren ehemaligen Au-pairs:<br />
Obwohl die meisten von ihnen längst wieder<br />
in ihre Herkunftsländer nach Norwegen,<br />
Frankreich, die Schweiz, Polen und Peru<br />
zurückgekehrt sind, halten sie über Jahre<br />
hinweg den Kontakt und nehmen an ihrem<br />
weiteren Lebensweg Anteil. Auch für die<br />
Zukunft von Marlena, die seit Januar bei<br />
ihnen ist, fühlen sie sich schon jetzt ein<br />
verantwortlich: Sobald sie besser Deutsch<br />
spricht, soll Marlena zusätzlich einen Englischkurs<br />
besuchen, um ihre Berufsaussichten<br />
in Polen zu verbessern.Einstweilen lernt<br />
sie, mit Martin zu kommunizieren. Seine<br />
Zeichensprache versteht sie schon recht gut,<br />
und wenn er beim Puzzeln aufgeregt hinund<br />
herzuwippen beginnt, legt sie ihm sachte<br />
die Hand auf den Arm, bis er sich wieder entspannt<br />
und das nächste Teil ertasten kann.<br />
Ob sie in Polen schon mit Behinderten gearbeitet<br />
hat? Nein, da sei sie fünf Jahre im<br />
Büro gewesen. Was nach diesem Jahr werden<br />
soll, weiß sie noch nicht. Marlena ist<br />
erst einmal froh, hier bei Familie Krummhauer<br />
zu sein.<br />
»Meine ersten Gasteltern mußte ich<br />
siezen,« erzählt Monika aus Warschau von<br />
ihren Erfahrungen <strong>als</strong> »Familienmitglied auf<br />
Zeit«. Ohne Empörung, eher so, <strong>als</strong> versuche<br />
sie immer noch zu verstehen, warum sie so<br />
schlecht behandelt wurde. Dabei klingt das,<br />
was sie berichtet, wie ein böser Alptraum:<br />
Sieben oder acht Stunden habe sie arbeiten<br />
müssen, jeden Tag, auch am Wochenende.<br />
Und jedes Mal, wenn sie aus Lübars nach<br />
Berlin zu ihren Freundinnen fahren wollte,<br />
sei ihr gesagt worden, sie müsse spätestens<br />
in drei Stunden wieder zu Hause sein, um<br />
das Abendessen vorzubereiten. Auch in den<br />
Au-pair-Club habe sie in der ganzen Zeit nur<br />
zwei- oder dreimal gehen können, weil die<br />
Frau immer mittwochs so spät nach Hause<br />
gekommen sei. »Einmal kam sie früher«,<br />
erzählt Monika, »da hat sie mir zwei Kilo<br />
Weintrauben hingestellt, die mußte ich<br />
dann entkernen.«<br />
Drei Monate hat sie es ausgehalten, dann<br />
ist Monika davongelaufen: »Ich habe gesagt,<br />
ich fahre übers Wochenende nach Polen. Ich<br />
habe heimlich alle meine Sachen mitgenommen<br />
und nur einen Brief dagelassen, daß ich<br />
mich nicht wohlgefühlt und nichts geklappt<br />
habe.« Warum sie nicht offen gekündigt hat?<br />
»Ich hatte Angst vor dieser Frau und daß ich<br />
zurück nach Polen muß.« Eine begründete<br />
Angst, denn sobald das Arbeitsverhältnis<br />
endet, erlischt auch die Aufenthaltsgenehmigung.<br />
Wird die Ausländerbehörde davon informiert,<br />
bevor das Au-pair eine neue Familie<br />
gefunden hat, droht die Ausweisung.<br />
Monika hat Glück gehabt: Zu Hause in<br />
Warschau fand sie die Anschrift einer Kölner<br />
Agentur, die ihr eine neue Familie in Berlin<br />
vermittelt hat: »Sie behandeln mich wie eine<br />
Freundin,« freut sich Monika, »sie haben<br />
mir sogar angeboten, im nachten Jahr bei<br />
ihnen zu wohnen und mich um ihr Kind<br />
zu kümmern, wenn ich hier in Berlin studiere.«<br />
Auch ihre Freundin Tea hat bereits ganz<br />
konkrete Pläne für die Zukunft: Sie möchte<br />
zu Hause in Georgien <strong>als</strong> Ärztin arbeiten.<br />
Sobald sie ihr Au-pair-Jahr im Sommer<br />
beendet hat, will sie ihr Medizinstudium<br />
fortsetzen, am liebsten in Deutschland:<br />
»Die technische Ausstattung und überhaupt<br />
die ganze Ausbildung sind hier viel besser,<br />
da kann ich viel lernen,« hofft sie. »Es gibt<br />
zwar auch bei uns viele arbeitslose Mediziner,<br />
aber mit einem Studium in Deutschland<br />
habe ich gute Chancen, dort eine Stelle zu<br />
bekommen.«<br />
Auf Dauer in Deutschland zu bleiben,<br />
kann sie sich überhaupt nicht vorstellen: Zu<br />
sehr vermißt sie ihre Eltern und ihre Schwester,<br />
mit denen sie wöchentlich telefoniert,<br />
auch wenn sie das die Hälfte ihres Taschengeldes<br />
kostet. Entsprechend betroffen macht<br />
Tea der geringe Familienzusammenhalt in<br />
Deutschland: Neulich habe sie ein Mädchen<br />
kennengelernt, das mit achtzehn von zu
TITEL<br />
Hause ausgezogen sei und seitdem keinerlei<br />
Kontakt mehr zu ihrer Familie habe, erzählt<br />
sie schockiert. »Nicht mehr miteinander zu<br />
sprechen, obwohl man zur selben Familie<br />
gehört, das wäre bei uns in Georgien nicht<br />
möglich.« Was noch anders ist? »Hier in<br />
Deutschland ist die Frau in der Familie die<br />
wichtigste Person, in Georgien entscheide!<br />
oft der Mann.« Ob sie das richtig findet? »Ich<br />
möchte nicht so leben und für alles sorgen.<br />
Ich finde, der Mann muß sich mehr durchsetzen.<br />
Er ist stärker und soll die Probleme<br />
lösen.« Doch nicht samtliche Veränderungen<br />
im Umgang der Geschlechter lehnt Tea ab:<br />
»Was ich hier gut finde, ist, daß auch die<br />
Männer in der Küche stehen. Das werde ich<br />
später genauso machen.«<br />
Elena und Iwona sehen sich regelmäßig im Au-pair-Club<br />
Doch nicht nur aus ihren deutschen<br />
Gastfamilien beziehen die jungen Frauen<br />
neue Impulse, ebenso profitieren sie vom<br />
Kontakt untereinander: »Im Au-pair-Club<br />
und in der Sprachenschule treffen wir Menschen<br />
aller Nationalitäten und kommen gut<br />
miteinander aus,« findet nicht nur Elena aus<br />
Sibirien. »Wie schön wäre die Welt, wenn<br />
das überall möglich wäre!«<br />
Familie Krummhauer: Marlena kümmert sich um den gehörlosen Martin<br />
»Au-pair«, übersetzt »Wohnung gegen<br />
Arbeit im Haushalt«, gibt es in Westeuropa<br />
seit Ende des zweiten Weltkriegs.<br />
Doch das zugrundeliegende System ist<br />
weit älter: Schon im 19. Jahrhundert<br />
strömten überall in Europa junge Frauen<br />
vom Land in die Städte, um sich dort <strong>als</strong><br />
Dienst- oder Kindermädchen zu verdingen.<br />
Als sich während der Wirtschaftskrise<br />
der Zwanziger Jahre immer weniger<br />
Famitien in Deutschland Dienstpersonal<br />
leisten konnten und in den Städten Massenarbeitslosigkeit<br />
herrschte, wurden<br />
viele Frauen ins Ausland, insbesondere<br />
in die Schweiz, Frankreich und England<br />
vermittelt. Während sie früher jedoch in<br />
der Regel über mehrere Jahre und<br />
manchmal sogar ein Leben lang bei<br />
ihren »Herrschaften« blieben, gelten<br />
für Au-pairs strenge Begrenzungen: Sie<br />
müssen bei ihrer Einreise zwischen 18<br />
und 24 sein, über Grundkenntnisse der<br />
jeweiligen Landessprache verfügen und<br />
dürfen maximal ein Jahr <strong>als</strong> Au-pair<br />
arbeiten.<br />
-H
iiltt e r<br />
Wenn Kinder Kinder kriegen<br />
Text: Annette Mielitz<br />
Fotos:. Birgitta Kowsky
REPORTAGE<br />
Das Agneshaus in Leipzig - Zufluchtsstätte<br />
für minder fahrige Mutter und ihre Kinder<br />
Conny hat für ihre Tochter Cindy eine<br />
Puppe gekauft. Eine, die aus der Flasche trinkt<br />
und gewindelt werden muß. Cindy feiert bald<br />
ihren zweiten Geburtstag und mit der Puppe<br />
kann sie dann das machen, was ihre Mama<br />
jetzt immer mit Dominik tut. Dominik ist seit<br />
Februar Cindys Bruder.<br />
Conny ist 17 und lebt seit drei Jahren im<br />
Agneshaus, dem Wohnheim für Mütter und<br />
Kinder des Leipziger Cari las-Verbandes. Offiziell<br />
heißt es »Wohngruppe für Mutter, Kind<br />
und weibliche Jugendliche im Agneshaus«,<br />
das Wort »Heim« möchten die Frauen<br />
ve n neiden.<br />
Äußerlich hat der langgestreckte, nüchterne<br />
Bau unweit der Leipziger City wenig<br />
Anheimelndes. Dieser Eindruck ändert sich<br />
auch nicht auf dem Weg in die zweite Etage,<br />
auf einer steilen Treppe, vorbei an einem<br />
[•'ahrstuhl. von dessen Benutzung abgeraten<br />
wird. Oben stehen oder sitzen sie auf der<br />
Treppe und rauchen: junge Mädchen - oder<br />
sind sie schon Frauen? - neben ein paar jungen<br />
Männern, die Freunde, und Cindy. Sie<br />
genießt die Runde, springt umher und läßt<br />
sich auch von mir an die Hand nehmen.<br />
Wir betreten einen langen Flur, links und<br />
rechts gehen jede Menge Türen ab. Küche,<br />
Eßzimmer, Spielzimmer, Wohnzimmer,<br />
Büro, eine Ftage höher die Zimmer der<br />
Mütter und ihrer Kinder. In ein oder zwei<br />
Jahren soll das Haus saniert werden. Wohneinheiten<br />
sollen die behördenhafte Links-<br />
Rechts-Aufteilung ablösen. Einzelheiten<br />
werden gerade geplant, die Mittel für die<br />
Sanierung kommen vom Dresdner Diözesanverband.<br />
Zum Reden führt mich Conny ins Wohnzimmer.<br />
Der Raum mit dunkler Schrankwand,<br />
weißem Nippes, schweren Sesseln und<br />
großem Ecksofa hat etwas Offizielles. Ja, hier<br />
sei sie zu Hause, sagt Conny. Und trotz ihrer<br />
/urückhaltenden Art strahlt sie Selbstsicherheit<br />
aus. Ohne sichtbare Bewegung erzählt<br />
sie, daß sie mit sechs Jahren das erste Mal in<br />
ein Kinderheim gekommen sei. Vier Jahre<br />
später habe ihre Mutter sie wieder zu sich<br />
genommen. Doch deren neuer Lebensgefährte<br />
habe Conny und die altere Schwester<br />
mißbraucht. Er streitete alles ab. Die Mutter<br />
glaubte nicht ihren Töchtern, sondern ihrem<br />
Freund, auch <strong>als</strong> der rechtskräftig verurteilt<br />
wurde. Von ihren Kindern sagte sie sich los.<br />
Mit 12 lernte Conny ihren Vater kennen. Der<br />
lebte in Berlin mit neuer Frau und neuen<br />
Kindern. Conny durfte zu ihm ziehen. Knapp<br />
ein Jahr später ist sie wieder in Leipzig. »Es<br />
lief nicht richtig«, sagte sie. Zurückhaltend<br />
äußerte sie sich auch über die Zeit danach;<br />
darüber wie sie 13-jährig, jetzt in einer WC<br />
untergebracht, »Mist« machte. Mist? Naja,<br />
mit einer Freundin hat sie sich geprügelt<br />
zum Beispiel. Da war sie schon schwanger.<br />
Die Blessuren der anderen haben sie vor<br />
Gericht gebracht. Als Cindy geboren war, hat<br />
sie ihre Strafe in einem Altenhcim abgearbeitet.<br />
Seit sie im Agneshaus lebt, verläuft Connys<br />
Leben geordneter.<br />
Ich frage sie, wie es ihr ging, <strong>als</strong> sie mit<br />
14 erfuhr, daß sie ein Kind bekommen werde.<br />
Erst habe sie abtreiben wollen, sagt sie, hat<br />
es dann aber nicht getan, weil »ich meinem<br />
Kind die Liebe und Geborgenheit geben wollte,<br />
die ich von meiner Mutter nie erhalten habe.«<br />
Sie sagt »mein Fleisch und Blut«. Und daß<br />
Cindy weint, wenn sie weggeht, mache sie<br />
irgendwie froh.<br />
Als Conny die 8. Klasse beendete - mit<br />
einem Durchschnitt von 2,3 - ist sie wieder<br />
schwanger, trotz Pille. Sie machte sich an die<br />
y. Klasse, im Februar brachte sie Dominik<br />
auf die Welt. Der Unterrichtsstoff wurde ihr<br />
gebracht, seil April geht sie wieder zu Schule.<br />
Mit dem 9. Klasse-Abschluß will sie die<br />
Schule im Sommer beenden.<br />
Conny hol Glück. Sie wird von vielen Seiten<br />
unterstützt: den Betreuerinnen im Heim,<br />
ihrem Freund, dem Vater von Dominik, 20<br />
und I lochbau-Azubi, der sie nicht verlassen<br />
hat. Von ihrer Klassenlehrerin und den<br />
Mädchen und jungen in ihrer Klasse. »Die<br />
haben gesagt, sie ziehen vor mir den Hut«.<br />
Auf die Frage, was sie denn jetzt weiter<br />
machen will, zuckt die junge Mutter die<br />
Schultern: keine Ahnung. Am liebsten würde<br />
sie Sozial pädagogin werden, »sowas wie die<br />
hier machen«. Oder Erzieherin, aber das<br />
geht bestimmt nicht, Krankenschwester auch<br />
nicht. Da braucht man Re<strong>als</strong>chulabschluß.<br />
Vielleicht ein »Berufsvorbercitendes Jahr«?<br />
Da denkt sie lieber erst mal an ihren Auszug.<br />
Fnde Dezember wird sie 18, und dann will<br />
sie mit dem Freund zusammenziehen.<br />
Mit ihrem Selbstbewußtsein ist Conny<br />
eine Ausnahme. Die meisten der Madchen,<br />
die ins Agneshaus kommen, haben wenig<br />
Selbstwertgefuhl, sind labil und unsicher in<br />
Bezug auf sich und die Menschen, die ihnen<br />
nahestehen. Nicht alle bekommen deshalb<br />
ein Baby, doch Susanne Richter, die Leiterin<br />
des Heims, weiß, daß da Zusammenhänge<br />
bestehen. Oftm<strong>als</strong> sind Schwangerschaften<br />
bei so jungen Mädchen der Versuch, sich zu<br />
vergewissern, ihrer selbst, des Freundes oder<br />
auch der Eltern. Im Grunde sind es Hilfeschreie.<br />
Die Fachliteratur nennt es unrealistische<br />
Lösungsversuche.<br />
14 Plätze hat das Agneshaus, nicht nur<br />
fiir Mütter und Kinder. Auch junge Mädchen,<br />
die mit ihren Eltern nicht auskommen und<br />
solche, die nicht mit Mannern und Jungen<br />
unter einem Dach wohnen wollen. Die meisten<br />
bleiben zwei bis drei Jahre. Dann haben<br />
sie die Schule abgeschlossen, werden 18 und<br />
heimmüde. »In diesem Zeitraum kann man<br />
viel erreichen«, sagt die Leiterin. Das betrifft<br />
vor allem das, was die Mädchen <strong>als</strong> Mütter<br />
können müssen; angefangen beim Kochen<br />
und Waschen, mit Geld umgehen bis hin<br />
zum Planen und Organisieren. Die lebenspraktischen<br />
Fertigkeiten erwerben die<br />
Mädchen-Mütter während sie die Geborgenheit<br />
der Gemeinschaft erleben - das Betreuungskonzept<br />
in Kurzform. Das Zusammenleben<br />
sei wie in einer großen WG, sagt<br />
Susanne Richter, »mit dem Pech, daß wir<br />
abends nach Hause gehen.« Sie hat es auch<br />
anders erlebt. Noch zu DDR-Zeiten wohnten<br />
die Betreuerinnen mit ihren Schützlingen<br />
unter einem Dach. Das machte den Alltag<br />
einfacher: Vieles ergab sich nebenher, was<br />
heute aufwendiger Organisation bedarf. Und<br />
die Mädchen halten immer eine Ansprechpartnerin.<br />
Andererseits hatten die Pädagoginnen<br />
kaum ein eigenes Leben. Susanne<br />
Richter erinnert sich an die Frage eines<br />
Mädchens: Wann geht ihr denn eigentlich<br />
arbeiten?! Heute wäre sie dazu nicht mehr<br />
bereit, sagt die 35Jährige Sozialpädagogin.<br />
Außer ihr arbeiten fünf, manchmal sechs<br />
Pädagoginnen und Praktikantinnen im<br />
Agneshaus. 40 Stunden in der Woche.<br />
Auch nachts ist immer jemand da.<br />
Die Mädels (wie die Betreuerinnen meistens<br />
sagen) erledigen einen Teil der anfallenden<br />
Arbeiten selbst: Wäschewaschen,<br />
Zimmer saubermachen, Abendessen vorbereiten.<br />
Welche ihr Kind betreut haben will,<br />
muß erklären, warum. All das wird schriftlich<br />
fixiert in einer Art Vertrag, dem Hilfeplan.<br />
Er wird schon bald nach der Ankunft<br />
eines Mädchens erarbeitet, zusammen mit<br />
Eltern und Schule. Da steht dann auch, wie<br />
die Ausbildung weiterverlaufen soll. Alle<br />
halbe Jahre wird der Plan aktualisiert.<br />
Natürlich erhalten alle Mädchen die Hilfe,<br />
die siebenötigen. Ihre Kinder werden betreut,<br />
solange sie in der Schule sind oder wenn sie<br />
ubends mal weggehen wollen. Hilfestellungen<br />
gibt es weiterhin beim Umgang mit diversen
REPORTAGE<br />
Ämtern. Wenn eine auszieht, wird nach<br />
Wohnung und Möbeln Ausschau gehatten.<br />
Da springt auch Susanne Richter ins Auto,<br />
um im Baumarkt ein Regal zu kaufen. An<br />
viele Einrichtungsgegenstände kommen die<br />
Agneshäuslerinnen kostenlos, dank der Vernetzung<br />
mit anderen Carilas-Einrichtungen.<br />
Auch nach dem Auszug bietet das Agneshaus<br />
Hilfe an. Ungefähr ein halbes Jahr lang<br />
kommen die jeweiligen Betreuerinnen zu den<br />
Mädchen nach Hause und helfen.<br />
In ihrer sozialen Arbeit mit den jungen<br />
Frauen sind die Betreuerinnen auf das angewiesen,<br />
was die Mädchen erzählen. Meist<br />
öffnen sie sich abends, wenn die Kinder<br />
schlafen und Ruhe einkehrt, erzählt Katrin<br />
Kammlot. Sie arbeitet seit sechs Jahren <strong>als</strong><br />
Erzieherin im Agneshaus. Gespräche und<br />
individuelle Zuwendung hält sie für sehr<br />
wichtig, denn »die Mädels haben viel aufzuarbeiten«.<br />
Bei den meisten wäre zusätzlich<br />
psychologische Hilfe angebracht, eine Therapie.<br />
Die Bereitschaft dazu sei bei so jungen<br />
Leuten jedoch gleich Null, weiß Katrin<br />
Kammlot, es fehle der Leidensdruck und<br />
schließlich seien die Mädchen noch im Werden,<br />
eben noch keine Frauen, auch wenn sie<br />
schon Kinder haben.<br />
Pädagoginnen in einem Mutter-Kind-<br />
Heim haben viel zu leisten: Sie müssen den<br />
jungen Müttern beistehen bei deren Reifung<br />
und sie begleiten im Hinblick auf Einstellung<br />
und Umgang mit ihrem Kind. Denn das<br />
Dilemma der jungen Mütter besteht darin,<br />
daß sie selbst noch viel brauchen, und daß<br />
ihre Bedürfnisse nach Kontakten und Abenteuern<br />
auf die ihres Kindes nach Ruhe und<br />
Geborgenheit stoßen. Meist zahlen dafür die<br />
Kinder, sagt Susanne Richter. Ein alltägliches<br />
Beispiet ist das morgendliche Aufstehen. Die<br />
Kinder erwachen - wie überall - meist vor<br />
ihren Müttern. Die schlafen gern lange und<br />
werden oft nicht mal munter, wenn ihr Kind<br />
weint. Doch die Betreuerinnen sind davon<br />
überzeugt, daß sie beiden, Kindern und Müttern,<br />
nicht wirklich helfen, wenn s i e die<br />
Kleinen aus dem Bett holen.<br />
Alles in allem ist das Leben, so wie es<br />
sich Tag für Tag abspielt, dem in einer<br />
großen Familie nicht unähnlich. Es gibt verbindliche<br />
Regeln und es passieren Überraschungen.<br />
Vielleicht ein paar mehr <strong>als</strong> in<br />
einer Familie, vielleicht auch schlimmere.<br />
Grausam war die Entdeckung, daß der einjährige<br />
Erik unter den Augen der Betreuerinnen<br />
mißhandelt wurde, ohne daß es jemand<br />
gemerkt hatte. Der Täter war der Freund<br />
der Mutter. Natürlich wurde man stutzig, <strong>als</strong><br />
der Kleine eines Tages nicht mehr krabbelte,<br />
man mit ihm in der Kinderklinik war. Doch<br />
die Ärzte fanden nichts. Erst <strong>als</strong> Erik eines<br />
Tages bewußtlos wurde und der Notarzt kam,<br />
stellte man fest, daß sein Schädel gebrochen<br />
war, ebenso wie die Arme, und daß innere<br />
Organe verletzt waren, Der Täter sitzt mittlerweile<br />
im Gefängnis, dem Richter hatte er<br />
erzählt, es seien »pädagogische Maßnahmen«<br />
gewesen. Auch die Mutter des kleinen Erik<br />
hat aufgrund ihrer früheren Erfahrungen<br />
ein besonderes Verhältnis zu Gewalt. Sie<br />
schwieg und das Beispiel zeigt, daß es nirgendwo<br />
Schutz gibt, wenn einmal die<br />
Seele beschädigt ist.<br />
Die Energie für ihre Arbeit beziehen<br />
die Pädagoginncn zum großen Teil aus<br />
ihrem Glauben. Die meisten sind katholisch.<br />
Der Glaube bedeute für sie wahre Menschlichkeit,<br />
sagt Susanne Richter. Diese Haltung<br />
werden auch die katholischen Fürsorgerinnen<br />
gehabt haben; die hier wirkten im Laufe der<br />
80 Jahre, die das Heim besteht. Das Agneshaus<br />
ist die älteste Mutter-Kind-Einrichtung<br />
im Osten Deutschlands.<br />
Seine Entstehung verdankt es in starkem<br />
Maße den Sorgen und Nöten zugewanderter<br />
junger Mädchen aus dem Rheinland, Westfalen,<br />
Böhmen und Bayern. Sie alle suchten<br />
Arbeit und Glück in der Messestadt. Die<br />
Mädchen aus Bayern zumeist <strong>als</strong> Kellnerinnen.<br />
Daß es zu dieser Zeit zu den besonderen<br />
»Berufsnöten« einer Kellnerin gehörte,<br />
geschlechtskrank oder straffällig zu werden,<br />
wurde erst sehr spät bemerkt.<br />
1900 schuf Agnes Neuhaus in Dortmund<br />
den Katholischen Fürsorgeverein für Frauen<br />
und Mädchen. Elf Jahre später entstand die<br />
Leipziger Ortsgruppe, 1919 wurde die erste<br />
Zufluchtsstätte mit fünf Betten eingeweiht.<br />
Zehn Jahre später zog die Gruppe an die<br />
heutige Adresse und bekam in Gedenken<br />
an Agnes Neuhaus deren Namen.<br />
Natürlich hat sich des Betreuungskonzept<br />
im Laufe der Jahrzehnte stark gewandelt. In<br />
den ersten Jahren und Jahrzehnten nahmen<br />
die Fürsorgerinnen noch eine Art Mutterrotle<br />
an. Sie waren bestrebt, ihre Schützlinge auf<br />
den rechten Pfad zu führen. Wenn schon<br />
nicht den Pfad der Tugend, so doch den des<br />
Fleißes. Was sie für ihre Mädels sei, frage ich<br />
Katrin Kammlot - Mutter, Freundin, Erzieherin?<br />
Als sie im Agneshaus angefangen hatte,<br />
antwortet sie, da wollte sie den Mädchen<br />
alles aus der Hand nehmen. Bis sie merkte,<br />
- 2)1999
•-•"• REPORTAGE "••<br />
daß sie ihnen damit nicht half. Und erziehen?<br />
Das sei gelaufen, dazu sei es<br />
zu spät.<br />
Nicht nur das Betreuungskonzept,<br />
auch der Stellenwert der Religion hat sich<br />
stark verändert. Lediglich ein Holzkreuz<br />
und ein Plakat mit einem Bibetzitat im<br />
Eßzimmer weisen heute sichtbar auf die<br />
Konfessionalität des Mutter-Kind-Heims<br />
hin. Und längst nicht alle Bewohnerinnen<br />
können etwas damit anfangen, wenn sie<br />
kommen. (Das war zu DDR-Zeiten anders.<br />
Da die Behörden kirchliche Heime ignorierten,<br />
kam der größte Teil der Zufluchtsuchenden<br />
aus Kirchenkreisen.) Einmal am Tag<br />
wird ein Gebet gesprochen. Vor dem Abendbrot,<br />
wenn alle um den großen Eßtisch sitzen.<br />
Andere Gelegenheiten, den Glauben in den<br />
Vordergrund zu holen, sind Feste wie Weihnachten<br />
und Ostern und die Hauseinsegnung<br />
jedes Neujahr. Dann kommen Fragen,<br />
dann ergeben sich Gelegenheiten, über Religion<br />
zu sprechen. Niemand soll bekehrt werden,<br />
sagt die Leiterin: »Ein geistlicher Abend<br />
wäre Quatsch, aufgesetzt und Blödsinn.<br />
Das Agneshaus finanziert sich über<br />
Pflegesätze aus städtischen Mitteln. Für<br />
jeden der 14 Plätze bekommt man eine zuvor<br />
ausgehandelte Summe. Darin enthalten<br />
sind sämtliche Kosten vom Essen bis zu den<br />
Gehältern der Mitarbeiterinnen. Der Haken:<br />
Das Geld fließt nur für Plätze, die tatsächlich<br />
belegt sind. Darüber wird im Rathaus entschieden,<br />
denn einweisungsberechtigt ist<br />
allein das Jugendamt.<br />
Fünf Plätze sind frei zur Zeit im Agneshaus.<br />
»Das habe es schon lange nicht mehr<br />
gegeben«, sagt eine Betreuerin. Eine Weile<br />
kämen sie so über die Runden, sagt Frau<br />
Richter. Wenn das Geld knapp wird, müsse<br />
eine Kollegin ihren Arbeitsplatz räumen.<br />
Doch nur solange, bis die Nachfrage wieder<br />
steigt. Bis dahin kann sie in einer anderen<br />
Einrichtung der Caritas arbeiten und muß<br />
nicht entlassen werden. Das ist der Vorteil<br />
des freien Trägers.<br />
Auch die Mädchen-Mütter haben Probleme<br />
mit dem Geld. Im Monat können sie<br />
über ca. 100 Mark verfügen, doch die meisten<br />
lassen sich dazu noch einen Teil des Erziehungsgeldes<br />
auszahlen, das eigentlich gespart<br />
werden soll. Den Verlockungen der<br />
Schaufenster zu widerstehen, seien darin<br />
nun lolle Klamollen, witziges Spielzeug oder<br />
Leckereien, fällt besonders mit 17 nicht leicht.<br />
»Egal«, beharrt Leiterin Susanne Richter,<br />
»sie müssen es lernen.«<br />
»Latzrock-Muttis« nennt man in England Mädchen, die selbst noch Kinder, aber schon<br />
Mutter sind. Seit im vorletzten Jahr der Fall einer 15jährigen, die von einem njährigen<br />
Jungen geschwängert wurde, auf der Insel für Aufsehen regte, zumal die beiden Kids ihr<br />
gemeinsames Kind unbedingt bekommen wollten, stehen die Zeichen der Regierung Blair<br />
wieder auf Alarm. Schließlich machen alleinerziehende Mütter einen großen Prozentsatz<br />
der Sozialhilfeempfänger im Land der Queensmum aus. 200 Millionen Pfund jährlich zahlt<br />
die britische Regierung an Alleinerziehende unter 20 Jahren, von denen allein 75 Millionen<br />
Pfund den unter löjährigen zukommen. Oft haben die sehr jungen Mütter keine Ausbildung<br />
und sind deshalb kaum auf dem Arbeitsmarkt unterzubringen. Auch dann nicht,<br />
wenn ihre Kinder keiner Rundumdieuhrbetreuung mehr bedürfen.<br />
Vor allem aber handelt es sich nicht um ein marginales Problem. England hat bis heute in<br />
Europa die höchste Rate schwangerer Teenager, in der sogenannten ersten Welt folgt die<br />
Insel gleich hinter den USA- Für das Jahr 1993 wurden folgende Zahlen ermittelt: Unter<br />
tausend Mädchen im Alter zwischen 15 und 19 Jahren waren in Frankreich 8,1 Prozent<br />
schwanger und wurden Mutter, in Deutschland 8,7 Prozent, in Spanien 9,2 Prozent und in<br />
den Niederlanden 5,4 Prozent. In England waren es 30,9 Prozent. Weltweit wurden 1996 in<br />
Derselben Altersgruppe rund 15 Millionen Kindfrauen selbst Mutter, oder anders formuliert,<br />
jedes zehnte Kind auf der Erde wird nach Angaben des UN-Kinderhilfswerks (Unicef) von<br />
einem Teenager geboren.<br />
In England und Wales war die Zahl der Schwangerschaften bei den unter iGjährigen schon<br />
einmal von 9,3 Prozent auf 8,3 Prozent gesunken, seit 1995 ist sie die Geburtenrate bei den<br />
minderjährigen Mädchen allerdings wieder auf 9,5 Prozent geklettert, Tendenz steigend.<br />
Dabei hängt ein solcher Anstieg der Geburten immer mit dem zunehmenden Verzicht auf<br />
Verhütungsmitteln zusammen. Die Zahl der Mütter unter 16 Jahren ist besonders hoch im<br />
Nordosten Englands. Im Vergleich zu den westlichen Midtands, wo 1994 unter den 13- bis<br />
iSjährigen 1,3 Prozent schwanger wurden, und 0,7 Prozent im Südosten, waren es im<br />
Nordosten 1,5 Prozent. Trotz alledem werden die gymslips mums in England weniger.<br />
Brachten sie 1971 noch 83.000 Kinder zur Welt, waren es 1995 nur noch 42.000 Babys.<br />
Das krasseste Beispiel Englands gibt seit Generationen Grimsby, ein gottverlassener Ort<br />
am Ende der Insel, dort wo der Humber in die Nordsee fließt. Eine lokale Studie hatte für<br />
1994 eine Schwangerschaftsrate von 17,4 Prozent bei den unter i6jährigen. Daran hat sich<br />
bis heute nicht viel geändert. Verantwortlich machen die Lokalpolitiker und Sozialarbeiter<br />
vorort die relativ geschlossene Gesellschaft von Grimsby. Wer dort geboren wird, bleibt<br />
auch meist dort hängen. Die nächste größere Stadt ist kilometerweit entfernt, und niemand<br />
muß Grimsby passieren, um woanders hin zu gelangen. Wenig Bewegung heißt aber auch<br />
immer nur wenig Veränderung. Junge Mädchen, die heute in Grimsby mit 13 bis 15 Jahren<br />
Mutter werden, haben meistens eine Mutter und eine Großmutter, die genauso alt waren,<br />
<strong>als</strong> sie das erste Mal schwanger wurden. Und bis heute gilt in Grimsby das Gesetz:<br />
Eine Frau ist immer nur die Frau eines Mannes und nie sie selbst. (P.W.)<br />
Auch Claudia will im Sommer ausziehen,<br />
und eine eigene Wohnung haben. Dann ist<br />
sie 18, und kann tun was sie will. Im Sommer<br />
wird Claudia hochschwanger sein und<br />
ihr Sohn Timmy zwei Jahre alt. Sie zuckt<br />
die Achseln.<br />
Als Antwort auf die Frage, ob sie sich<br />
nicht sorgt um die Zukunft ihrer Mädels,<br />
lacht Susanne Richter erst mal. Dann wird<br />
sie ernst. »Es ist nicht böse gemeint, aber<br />
man ist mit vielen Sachen schon wirklich<br />
abgestumpft. Es gibt Tage, da kann man es<br />
gut sortieren, aber wenn man selber nicht<br />
gut drauf ist, haut es einen um und man<br />
sagt sich, eigentlich müßtest du aufhören,<br />
das schaffst du nie. - Je länger man diese<br />
Arbeit macht, desto realistischer setzt man<br />
Ziele. Unsere Mädchen werden keine<br />
Professorinnen!«.<br />
Claudias größter Wunsch ist es, zu<br />
ihrem 18. Geburtstag nach New York zu<br />
fliegen, dorthin, wo der Bär tanzt und die<br />
Kuh fliegt. Doch an ihrem 18. Geburtstag<br />
ist Claudia im 8. Monat, und Geld hat sie<br />
auch keins.<br />
211999 49
•~r
-'<br />
UNTERWEGS
UNTERWEGS<br />
Raymond überzeugt mich aber durch<br />
eine ganz andere Behauptung. Wegen seiner<br />
außerordentlich günstigen Lage seien in<br />
Hongkong vor allem auch Frauen sehr erfolgreich,<br />
geschäftlich wie politisch. Dies zumal<br />
wir seit 1984 auf der Energiestufe 7 leben<br />
würden, die unter anderem alles, was mit<br />
dem Mund und dem Weiblichen zu tun hat,<br />
bereichert. Man muß sich das so erklären,<br />
daß das Feng Shui einen Kreislauf von 180<br />
Jahren mit neun Energiestufen hat, <strong>als</strong>o alle<br />
20 Jahre die Stufe wechselt. Bis 2004 befinden<br />
wir uns <strong>als</strong>o jetzt noch auf der mündlichen<br />
und weiblichen siebten Stufe. Raymond<br />
macht das im übrigen daran fest, daß erst<br />
seit 1984 die Handys ihre Blüte erleben und<br />
Frauen wie Margret Thatcher, die ehemalige<br />
englische Premierministerin, und Madeleine<br />
Albright, die amerikanische Außenministerin,<br />
mit großem Erfolg das Parkett der hohen<br />
Politik betreten hätten. Bleiben mir <strong>als</strong>o noch<br />
fünf Jahre für den eigenen Durchbruch und<br />
die Milliardäre erstmal gestohlen, die ja<br />
doch nur mit dem ganzen Familienclan hinter<br />
einem Fenster in einer himmelhohen Wohnbüchse<br />
zu hausen scheinen und deshalb auch<br />
die Wäsche zum Fenster raushängen müssen.<br />
Ihre »internationale Flagge« nennen die<br />
Hongkonger ihre Wäsche, um zu kaschieren,<br />
daß hier eigentlich zu viele Menschen auf zu<br />
wenig Raum leben. Jahrelang zum Beispiel<br />
landete der Müll der Stadt im Viktoriahafen,<br />
jetzt spuckt der ihn wieder aus: Die Wasserverschmutzung<br />
ist Hongkongs größtes Problem,<br />
Bakterienalarm wie auch dieser Tage<br />
nicht selten. Auf dem Wasser ist davon nicht<br />
viel zu sehen, <strong>als</strong> ich mit der Fähre von Kowloon<br />
nach Hongkong-Island rüberschipper.<br />
Ein oranger Sonnenball sinkt langsam hinter<br />
der Skyline in die Dämmerung, das Meer<br />
glänzt und glitzert, <strong>als</strong> fielen ständig Gold-<br />
"-'— Hinein, und auch ich möchte jetzt nichts<br />
.vie der weiße Mann von der Barkasse.<br />
Auf der anderen Seite sind wir im Goethe-<br />
Institut, das im Arts Centre residier verabredet.<br />
In einem der 17 Stockv>.<br />
rade Kinder und Jugendliche aus. Zum Beispiel<br />
ein Bett mit einer bunten Patchworkdecke,<br />
auf der mit Filzstift Gedanken zu Leben und<br />
Tod fixiert sind: »Ich hatte einen komischen<br />
Traum«, steht da, oder: »Ich lie1-- Oich mein<br />
Stinke.' • chlaferli - Schnapperli«, aber<br />
auch: »Das Leben ist nur ein Traum!! und<br />
der Tod ist das Erwachen vom Leben! Laßt<br />
uns sterben!! alle!« Die »Farben der Poesie«<br />
nennt sich diese Arbeit, und ich frage mich,<br />
ob dieses Kind auch noch Kunst wird machen<br />
können, wenn es erstmal erwachsen ist, und<br />
wie es sich in Hongkong dann, etwa 15 Jahre<br />
nach der Übernahme durch China leben wird.<br />
Knapp zwei sind erst herum, und Kunst fast<br />
nur in Nischen wie dieser möglich.<br />
Unten im Kino läuft gerade eine vom<br />
Goethe-Institut veranstaltete Reihe mit deutschen<br />
Filmen. Ich gehe hin und lande in »Kurz<br />
und schmerzlos« von Fatih Akan. Verrückt!<br />
Da bin ich in Hongkong und sehe mir einen<br />
deutschen Film von einem Türken mit englischen<br />
Untertiteln an, <strong>als</strong> wäre es das Norm<strong>als</strong>te<br />
auf der Welt. Als ich rauskomme,<br />
regnet es, und die Straßen sind abgesehen<br />
von Autos und Bussen wie leergefegt. Erst<br />
in der U-Bahn sind die Menschenmassen<br />
plötzlich wieder da: Die Waggons saugen sie<br />
in Tausenden auf wie ein Badewannenabfluß<br />
das Wasser. Und alle telefonieren mit ihrem<br />
Handy: Strahlungsenergiestufe wohl 7!<br />
Am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe<br />
sehe ich zum ersten Mal Fahrradfahrer,<br />
zwei alte Männer auf klapprigen Drahteseln.<br />
Auf den Straßen ist noch nicht viel los, und<br />
die Busse sind fast leer. Die wenigen Passagiere<br />
schlafen noch. Auch die andere Journalistin<br />
hat heute früh in der Hotellobby noch<br />
gepennt und sich ihre Tasche klauen lassen.<br />
Die beiden Galeristen haben verpennt, und<br />
so fahre ich nur mit dem Fotografen und<br />
unserer Führerin auf eine »Gesundheitstour«<br />
in Hongkong-Island: Morgengymnastik,<br />
die hier Sheiko heißt, im Viktoriapark,<br />
dann Teezeremonie in einem alten, traditionellen<br />
Teeladen und Besuch einer chinesischen<br />
Apotheke stehen auf dem Plan, was man bei<br />
soviel B<strong>als</strong>am für Leib und Seele nur mit<br />
einem vegetarischen Essen abschließen kann.<br />
Kunst sehe ich natürlich auch wieder,<br />
steht ja jeden Tag auf dem Programm: Treffen<br />
mit Künstlern, Atelierbesuche. Der Blick ins<br />
Museum ist kein Muß. Besonders gut gefallen<br />
mir Bilder eines ehemaligen Krankenpflegers<br />
einer psychiatrischen Klinik. Chu Hong Wah<br />
ist einer von etwa 1000 Künstlern in der Stadt,<br />
der die Kunst erst während einer Fortbildung<br />
in London entdeckte und sich bis zu seiner<br />
Pensionierung <strong>als</strong> Sonntagsmaler bezeichnete.<br />
Heute vertritt den 6ojährigen Hongkongs<br />
weltweit renommierteste Galerie, Hanart T Z,<br />
und eines seiner so schlichten wie treffenden<br />
Bilder hängt drüben in Kowloon im Museum<br />
of Art. Flächendeckende Karomuster <strong>als</strong><br />
Sinnbilder für Hochhausfronten und davor<br />
hockende Menschen, oft alt und gebückt,<br />
bringen die unterschiedlichen Welten der<br />
alten chinesischen Traditionen und der Isolation<br />
durch die Ghettoisierung in anonymen<br />
Wohnblöcken auf den Punkt in seinen teilweise<br />
pointilistischen Bildern.<br />
Eher ein Zufall führt uns in den China<br />
Club, in der alten Bank of Hongkong, einem<br />
abgebrochenen Empire State Building - so<br />
siehts jedenfalls aus. Hier im 14. Stockwerk<br />
pflegen wirklich nur die oberen Zehntausend<br />
der Stadt zu speisen, in einem Jugendstilsaal<br />
mit chinesischen Glaslampions und Gemälden,<br />
die die Wände oberhalb der Holzvertäfelungen<br />
tapezieren, wahrend ich mit silbernen<br />
Stäbchen in meinem Essen stochere, fällt<br />
mein Blick ständig auf das schwanenh<strong>als</strong>ige<br />
Brustbild einer Chinesin von Modigliani. Um<br />
mich herum sitzen jetzt <strong>als</strong>o die Milliardäre.<br />
Unten im Schatten der neuen Bank of Hongkong<br />
rasten an diesem Sonnabend ihre philippinischen<br />
Hausmädchen an ihrem freien<br />
Tag und verzehren mit den Händen ihr mitgebrachtes<br />
Mittag. Es könnte ein Bild von<br />
diesem Krankenpfleger sein. Genauso wie<br />
der blinde Straßenmusiker, dem ich auf dem<br />
Weg zurück zum Hotel begegne, der ohne es<br />
sehen zu können, neben einem Schild sitzt,<br />
auf dem steht: »Das Verteilen von Flugblättern<br />
ist verboten«. Das Demonstrieren mittlerweile<br />
im Prinzip auch, seit Bejing die<br />
Politik der Stadt dirigiert. Und das zehn Jahre<br />
nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen<br />
Frieden in Bejing, wo sich Tausende<br />
von Studenten für die Demokratie versammelten<br />
und das mit ihrem Blut bezahlten.<br />
Ich habe jetzt mein eigenes Bild von<br />
Hongkong. Zu dem gehören auch die Menschen,<br />
die tatsächlich wie der weiße Mann<br />
auf alten Booten leben. Es sind die sogenannten<br />
Tankas, die Ureinwohner dieses<br />
Meeres- und Landeszipfels und die schon<br />
immer mehr zu Wasser <strong>als</strong> auf dem Land<br />
lebten. Umschlossen von den Sozialwohnungsblocks<br />
des Stadtteils Aberdeen hausen<br />
sie auf abgewetzten Holzkähnen, ziehen<br />
Pflanzen, halten sich erbärmlich stinkende<br />
Tauben und trocknen in der Sonne Fische,<br />
was auch nicht besonders gut riecht. Die<br />
Häuser sind oft bis an die Kaimauern heran<br />
gebaut, dazwischen haben gerade noch ein<br />
Friedhof und ein Schrottplatz Raum. Struppige<br />
Hunde wühlen sich durch die Abfälle,<br />
während nur einige Meter weiter teure »Floating<br />
Restaurants« im Hafen von Aberdeen<br />
auf die Milliardäre warten. Das muß auch<br />
so ein Punkt geballter Energien sein.<br />
Informationen zur Reisetour u. Terminen:<br />
Asian Fine Arts Factory,<br />
Sophienstr. 18,10178 Berlin,<br />
Tel.: (030) 28 39 13 87<br />
i i
• • •» KOMMENTAR '•• ••<br />
Die Haltung der US-Amerikanerinnen<br />
zum NATO-Einsatz beschreibt<br />
aus New York Katia Davis<br />
Die Amerikaner unterstützen in überwältigender<br />
Mehrheit den Einsatz der Nato in<br />
Jugoslawien. Von Linken über Liberale bis<br />
hin zu Konservativen herrscht ausnahmsweise<br />
absolute Einigkeit.<br />
Als Grund für die Zustimmung führt<br />
man die von den Serben durchgeführten<br />
ethnischen Säuberungen gegen die Kosovo-<br />
Albaner an. Die Verantwortung an der Katastrophe<br />
in der Region wird dem <strong>als</strong> Diktator<br />
und Völkermörder bezeichneten Slobodan<br />
Milosevic gegeben. Es wird darauf hingewiesen,<br />
daß sein bisher sowieso schon autoritäres<br />
System sich nun vollends in ein totalitäres<br />
System verwandelt hat, welches die Medien<br />
kontrolliert und mit deren Hilfe eine unvergleichliche<br />
demagogische Kampagnie führt.<br />
In den USA forderte man gerade von Seiten<br />
der linken und Linksliberalen seit Jahren<br />
i'irie eindeutige Haltung der Regierung<br />
gegen Milosevic und ein Eingreifen der Nato.<br />
Amerikanische Beobachter von humanitären<br />
Organisationen und progressive politische<br />
Analytiker sind seit dem Krieg in Bosnien<br />
ununterbrochen in den Krisengebieten und<br />
informieren die Öffentlichkeit, den Congress<br />
und die Clinton-Regierung regelmäßig über<br />
die Situation und die Gefahren einer Ausweitung<br />
der Krise. Der größte Vorwurf war bisher<br />
stets gegen das Prinzip des Wegsehens und<br />
die dadurch laue Aufsenpolitik gerichtet.<br />
Vor allem aber kritisierte man die unbeteiligte<br />
und abwartende Einstellung der europäischen<br />
Staaten.<br />
Nach dem Desaster des Vietnamkrieges<br />
machen es sich die Amerikaner und unter<br />
ihnen besonders politisch Progressive nicht<br />
leicht mit Entscheidungen über eine Einmischung<br />
in die Belange anderer Lander. Doch<br />
in diesem Falle fühlt das gesamte Spektrum<br />
politischer Richtungen die moralische Verpflichtung,<br />
das Blutbad inmitten Europas mit<br />
Gewalt zu beenden. Die einzig Zögernden<br />
oder sogar Gegner einer amerikanischen<br />
Beteiligung am Nato-Einsatz waren in den<br />
USA nur die Rechtskonservativen und<br />
extrem Rechten. Ihnen ist der Balkan keine<br />
amerikanischen Menschenopfer wert.<br />
Ül>er das Für und Wider einer Einmischung,<br />
über historische Lehren aus dem<br />
Holocaust und dem von den Deutschen<br />
angezettelten 2. Weltkrieg sowie dem viel zu<br />
späten Fintritt der USA in den Krieg, über<br />
fehlende Aktionen in Kambodscha und<br />
Ruanda und die schwachen Proteste bisheriger<br />
amerikanischer Regierungen gegen Menschenrechts-<br />
und Völkerrechtsverletzungen<br />
gab es in den vergangenen ]ahren mehr und<br />
mehr Diskussionen in der Öffentlichkeit.<br />
Nicht nur sind große Schichten der Bevölkerung<br />
an politischen und sozialen Problemen<br />
im In- und Ausland interessiert, sie engagieren<br />
sich auch in unzähligen Grass-roots-Organisationen.<br />
Besondere Aufmerksamkeit verdienen die<br />
qualitativ guten Informationsmöglichkeiten,<br />
Die durch den nicht zu unterschätzenden<br />
Einfluß von unabhängigen Medien ermöglicht<br />
werden. Dazu gehören die ausgezeichneten<br />
Programme der landesweit 520 Sender<br />
des liberalen National Public Radio (Öffentliches<br />
Radio) mit über 16 Millionen Hörern,<br />
der ehem<strong>als</strong> trotzkistische und jetzt immer<br />
noch linksradikale Sender Radio Pacifika mit<br />
ebenfalls ein paar Millionen Zuhörern im<br />
ganzen Lande, öffentliche Fernsehsender<br />
(wie auch die Rundfunkanstalten allein von<br />
den Bürgern finanziert) sowie eine große<br />
Anzahl linker und progressiver Zeitschriften<br />
mit hohem intellektuellen Anspruch. Die<br />
auch auf dem Internet erscheinende linke<br />
Zeitschrift »Mother ]ones« veröffentlicht<br />
gegenwärtig Meinungen und Analysen der<br />
gegensätzlichsten Art zu der Katastrophe<br />
in Kosovo. Doch sie alle kommen zu der<br />
Schlußfolgerung, man müsse den Nato-Finsatz<br />
unterstützen. Die Herausgeber schreiben<br />
in einer Stellungnahme, daß sie alle es sich<br />
sehr schwer gemacht haben, einen Krieg im<br />
Kampf gegen Inhumanität zu unterstützen.<br />
Doch die Fakten führten unumgänglich zur<br />
Notwendigkeit solch einer intellektuellen<br />
und praktischen Entscheidung. Das Argument,<br />
warum jetzt ein Eingreifen, wenn man<br />
in früheren Krisenherden an anderen Plätzen<br />
der Welt nichts getan habe, wird verworfen.<br />
Wenn man so denke, könne man nie eine<br />
neue Menschenrechts-Potitik beginnen. Und<br />
selbst Fehler wären besser <strong>als</strong> Tatenlosigkeit.<br />
Internationale Solidarität wird angestrebt<br />
und man hofft auf eine neue, die Menschenrechte<br />
berücksichtigende Sicherheitspolitik<br />
der USA und anderer Nato-Staaten.<br />
Die einzige grundsätzliche Kritik aus<br />
breiten Kreisen aller politischen Schattierungen<br />
betrifft die vermutete Strategielosigkeit<br />
der führenden Politiker der Mitgliedsstaaten<br />
der Nato. Zu spät habe man eingegriffen und<br />
dann die Schwierigkeiten eines solchen Einsatzes<br />
unterschätzt, heißt es. Ebenso wären<br />
sich die Politiker nicht über die Zukunft des<br />
Krisengebietes klar. Während man bei vielen<br />
Menschen Hilflosigkeit und innere Zerrissenheit<br />
gegenüber der Situation im ehemaligen<br />
Jugoslawien antrifft, bleibt jedoch niemand<br />
von den tagtäglich im Fernsehen gezeigten<br />
Bildern der albanischen Flüchtlinge und den<br />
Berichten von Massengräbern in Kosovo<br />
unberührt. Es besteht Übereinstimmung,<br />
den Opfern zu helfen und sich dafür einzusetzen,<br />
Milosevic für seine Kriegsverbrechen<br />
zur Rechenschaft zu ziehen. Allerdings fürchtet<br />
man zunehmend, daß die amerikanische<br />
Regierung und die Nato sich auf einen faulen<br />
Kompromiß einlassen könnten.<br />
Katia Davis, 51 Jahre alt.ßüchtete 1977 aus<br />
politischen Gründen aus der DDR und lebt<br />
seit 1983 in New York. Sie stammt aus einer<br />
alten und berühmten kommunistischen {•'amilic<br />
väterlicherseits. In derDDR wollte sie unter den<br />
Bedingungen der Manipulation nicht <strong>als</strong> Journalistin<br />
arbeiten und schlug so eine erfolgreiche<br />
Karriere <strong>als</strong> Rocksängerin, Texterin und Komponistin<br />
ein, die sie in der Bundesrepublik<br />
fortsetzte. Seit sieben Jahren arbeitet sie ausschließlich<br />
<strong>als</strong> Journalistin und Schrißstellerin<br />
in den USA.
POLITIK<br />
PoliL'i/ i.<br />
Eine Bewegung<br />
gewöhnlicher Leute<br />
Junge Historiker aus Wuppertal untersuchen<br />
die Geschichte des Widerstandes, der Verfolgung<br />
und des Exils in ihrer Stadt und<br />
bemühen sich, gewonnenes Wissen und<br />
Informationen durch Publikationen und Vorträge<br />
zu verbreiten. Die Resultate sind keine<br />
trocken wissenschaftlichen Abhandlungen,<br />
sondern anschaulich und faktenreich erzählte<br />
Geschichten.<br />
Die neueste Veröffentlichung der Forschungsgruppe<br />
Wuppertaler Widerstand<br />
ist eine bewegende Erzählung von Stephan<br />
Stracke über den Kommunistischen Jugendverband.<br />
Stracke schreibt: »Kaum beachtet wurde<br />
in der bisherigen Forschung, daß gerade die<br />
deutsche kommunistische Bewegung vor<br />
allem in ihren Hochburgen eine soziale<br />
Massenbewegung, eine Bewegung von<br />
»gewöhnlichem Leuten, war und daß in Zeiten<br />
der Niederlage und Stagnation die Partei<br />
aus generationsübergreifenden Familienkernen<br />
bestand.« Die Geschichte des Wuppertaler<br />
Kommunismus kann nach seiner Ansicht<br />
nicht <strong>als</strong> Funktionärsgeschichte beschrieben<br />
werden.<br />
Man erhält einen Überblick über die Entstehung<br />
der progressiven Jugendbewegung<br />
bis hin zu kommunistischen Kindergruppen,<br />
dem kommunistischen Jugendverband und<br />
die durch die Arbeiterbewegung geschaffenen<br />
»Freien Schulen«. Obgleich die Spaltung<br />
der Arbeiterbewegung bereits präsent war,<br />
gab es gemeinsame Schulgärten und Jugendheime<br />
für die Freizeit und das gemeinsame<br />
Bekochen der Kinder durch sozialdemokratische<br />
und kommunistische Frauen. Sehr viel<br />
Raum widmet der Historiker den proletarischen<br />
Mädchen und jungen Frauen und<br />
ihrer Rolle im organisierten politischen Leben.<br />
Bu.oh.6j<br />
Dovis<br />
Stracke zeigt, daß es nach der Machtübernahme<br />
der Nazis besonders die Jungkommunisten<br />
waren, die zum bewaffneten Widerstand<br />
bereit waren und sogar Waffenlager besaßen.<br />
Und noch nach dem Reichstagsbrand erschien<br />
am 14. März zum 5o.Todestag von Karl Marx<br />
eine siebenseitige Sonderausgabe der illegalen<br />
»Jungen Garde« in Wuppertal. Doch<br />
dann wurden Jungkommunisten auf offener<br />
Straße ermordet und schließlich die ersten<br />
Todesurteile gegen Mitglieder des KJVD<br />
gefällt. Währenddessen war eine völlige Verkennung<br />
der politischen Lage ihrerseits zu<br />
bemerken, die Stracke anhand von Zitaten<br />
aus der »Jungen Garde« belegt. Gleichzeitig<br />
propagierte man mit Hilfe der Sozial faschismustheorie<br />
den Kampf gegen die Sozialdemokratie,<br />
gegen die vermeintlichen<br />
Trotzkisten und Brandleristen und versperrte<br />
sich so jede solidarische Zusammenarbeit<br />
unter den Gegnern der Nazis.<br />
Einige illegale Ortsgruppen ließen sich<br />
jedoch ihre Eigenständigkeit nicht nehmen<br />
und bauten aktive Verbindungen mit sozialdemokratischen<br />
und christlichen Jugendgruppen<br />
auf. Insbesondere zu erwähnen ist<br />
der Kontakt zwischen Kaplan Josef Rossaint,<br />
Diözesanpräses der Katholischen Jugend,<br />
und dem KJVD. Er verbarg kommunistische<br />
Funktionäre im Pfarrhaus und organisierte<br />
Diskussionsabende und Wochenendschulungen<br />
verschiedener katholischer Jugendorganisationen,<br />
auf denen Jungkommunisten<br />
über Probleme des Kampfes gegen Hitler<br />
sprechen konnten. Papier für kommunistische<br />
Druckschriften wurde aus katholischen<br />
Quellen besorgt, der Vertrieb der »Jungen<br />
Garde« lief teilweise über katholische Netze<br />
und Kuriere des KJVD kamen regelmäßig in<br />
Klostern unter. Diese Art Allianz geschah<br />
zumeist ohne Wissen oder gegen den ausdrücklichen<br />
Willen des ZK des KJVD.<br />
Nach den Massenverhaftungen im Jahre<br />
1935 war die kommunistische Bewegung<br />
weitgehend zerschlagen. Es wird von etwa<br />
12.000 der Vorbereitung zum Hochverrat<br />
angeklagten Verhafteten in den Jahren 1933<br />
bis 1936 im Rhein-Ruhr-Gebiet berichtet.<br />
Stracke bezeichnet die deutschen Kommunisten<br />
nach dem Ende des NS-Staates <strong>als</strong><br />
geschlagene Sieger. Denn sie standen vor<br />
dem Nichts, was ihre Utopien und ihre Verankerung<br />
im deutschen Proletariat anging.<br />
Dann aber zitiert er Wilhelm Pieck: »Unser<br />
Volk ist in tiefster Seele krank, vergiftet von<br />
der Nazipest. Und doch dürfen wir den Glauben<br />
an unser Volk nicht verlieren, weil wir<br />
sonst unsere Arbeit <strong>als</strong> Kommunisten einstellen<br />
können.« Ein zeitloses Signal?<br />
Stephan Stracke:<br />
»Mit rabenschwarzer Zuversicht«<br />
Achterland Verlagscompagnie 1998,<br />
146 Seiten, 32,- DM.<br />
Niem<strong>als</strong> werde ich mein<br />
Versprechen einlösen können<br />
»Wir reisen mit fast der ganzen Wuppertaler<br />
Gemeinde. Liebe Kinder, es ist eben<br />
unser Schicksal! Ich bitte Euch, seid auch<br />
Ihr stark.« November 1941 - Worte aus<br />
einem der letzten Briefe der sechzigjährigen<br />
Marta Glaser vor ihrer Deportation an ihre in<br />
die Niederlande geflüchteten Kinder. Die aus<br />
Wuppertal stammende Familie wurde fast<br />
vollständig von den Nazis ausgerottet.<br />
Ihre Tochter Herta Sonnenfeld und deren<br />
Sohn Günter überlebten das Grauen in holländischen<br />
Verstecken. Achtzehn Jahre nach<br />
Kriegsende schrieb Herta Sonnenfeld schließlich<br />
für den Sohn ihre Erinnerungen auf. Sie<br />
waren <strong>als</strong> Denkmal gedacht für die ermordete<br />
Familie und die vielen mutigen Retter in den<br />
Niederlanden.<br />
Der in den USA lebende Günter Sonnenfeld<br />
kam 1992 auf Einladung der Stadt nach<br />
Wuppertal und sprach dort in einem Gymnasium<br />
das erste Mal vor Deutschen über seine<br />
Kindheitserlebnisse. Er hinterließ mit seiner<br />
Lebensgeschichte nicht nur bei den Schülern<br />
einen nachhaltigen Eindruck. Der junge Lehrer<br />
Christoph Knüppel blieb mit ihm in Kontakt<br />
und Günter Sonnenfeld übersandte nach<br />
kurzer Zeit die Erinnerungen seiner 1987 in<br />
New York verstorbenen Mutter. »<br />
2(1999 55
'<br />
POLITIK<br />
Christoph Knüppel entschloß sich zu<br />
einer Veröffentlichung, die von den jungen<br />
Historikern der »Forschungsgruppe<br />
Wuppertaler Widerstand« in einem liebevoll<br />
hergestellten Bändchen herausgegeben<br />
wurde. Neben Herta Sonncnfelds<br />
Aufzeichnungen und Fotos der Familie<br />
sind insbesondere die im Anhang des<br />
Buches gedruckten Briefe ihrer Mutter<br />
und Schwiegereltern kurz vor ihrem<br />
Abtransport in den Tod Dokumente des<br />
Grauens.<br />
Erst <strong>als</strong> Werner Sonnenfeld linde<br />
die Firma weggenommen wurde, flüchtete<br />
er nach Amsterdam und Herta und der<br />
kleine Sohn Günter folgten ihm in einer<br />
gefährlichen Flucht über Luxemburg und<br />
Belgien. Nach der Besetzung der Niederlande<br />
durch die Deutschen tauchte die<br />
Familie mit Hilfe der holländischen Widerstandsbewegung<br />
unter. Man brachte sie<br />
in verschiedenen Verstecken unter.<br />
Werner Sonnenfeld wurde gefunden<br />
und in Auscliwitz ermordet.<br />
Christoph Knüppel erwähnt im Vorwort,<br />
daß in den Niederlanden nach 1940<br />
etwa 25.000 Juden zeitweise in Verstecken<br />
lebten und davon etwa 4500 Kinder waren.<br />
Die meisten der Kinder konnten gerettet<br />
werden. Von den 3000 ehem<strong>als</strong> in Wuppertal<br />
lebenden jüdischen Menschen<br />
haben nur wenige überlebt. Im vorletzten<br />
Brief von l,eo Sonnenfeld an seinen Enkel<br />
Günter schrieb er über einen Wunsch des<br />
Jungen: »Eigentlich soll man solchen kleinen<br />
Jungen nichts mehr versprechen,<br />
denn fast sieht es so aus, <strong>als</strong> ob ich niem<strong>als</strong><br />
werde mein Versprechen einlösen<br />
können.« Das durch die Initiative des<br />
Lehrers geschaffene Zeitdokument ist<br />
ein Versprechen, die jüdische Vergangenheit<br />
der Stadt nicht dem Vergessen zu<br />
überlassen.<br />
Herta Sonnenfeld:<br />
»Stufen zur Freiheit.<br />
Die Geschichte meines Lebens.«<br />
Übersetzt, eingeleitet und<br />
kommentiert von Christoph Knüppel.<br />
Achterland Verlagscompügnie 199^.<br />
18,- DM.<br />
Bildungswerk Berlin<br />
'er Heinrich-Böll-Stiftung<br />
lughofstr. 20, 10997 Berlin, Tel: 612 60 74.<br />
e-mail: büdungswerk.boell^bcrlin.snafu.de<br />
Berliner Frauen-Parlament<br />
Einladung zum Mitbestimmen<br />
Samstag 19. Juni 1999 (10.00 - 17.00)<br />
im Rathaus Schöneberg<br />
unter der Schirmfrauschaft der<br />
Bezirksbürgermeisterin Dr. Elisabeth Ziemer<br />
mit Parlamentarierinnen aus dem Abgeordnetenhaus<br />
Wie - feministische Politik hat keine Kraft und keine Ideen<br />
mehr? Das sehen wir anders!<br />
Was wäre wenn ...<br />
• die Hälfte der Sitze im Abgeordnetenhaus von Frauen besetzt<br />
würden?<br />
• die Vergabe öffentlicher Aufträge an eine effektive<br />
Frauenförderung gekoppelt wäre und damit die §§ 13/14 des<br />
Landesgleichstellungsgesetzes endlich umgesetzt würden?<br />
• Mädchen tolle Ausbildungsplätze bekämen, nicht nur die in<br />
schlecht bezahlten Berufen mit geringen Aufstiegschancen?<br />
• Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte idealefinanzielleund<br />
organisatorische Arbeitsbedingungen vorfanden und durch die<br />
Bezirksreform gestärkt würden?<br />
• Die Universitäten Geld entsprechend der Güte ihrer<br />
Frauenförderung bekämen?<br />
i 6 .-.• M'li '. 2)1999
Bestseller<br />
Frontbericht<br />
von Christiane Kloweit<br />
Bomben auf Belgrad - das ist noch kein<br />
Buchtitel. Erstaunlich übrigens, wo sie doch<br />
schon seit drei Wochen fallen. Bomben auf<br />
Belgrad sind trotzdem Bestseller. Sie gehen<br />
wie warme Semmeln. Bestseller müssen<br />
sowieso nicht immer Bücher sein. Gern<br />
genommen, weil preiswert, werden auch<br />
marode Industrien wie die ostdeutsche oder<br />
Frauen und Kinder wie die aus dem maroden<br />
Ex-Ostblock, die überraschend schnell<br />
gelernt haben, sich auf dem Markt anzubieten,<br />
mit dem, was ihnen kein rotes Regime<br />
rauben konnte: mit ihrem Körper. Das heißt<br />
natürlich noch nicht, daß wir auch alle welche<br />
nehmen müßten. Aber sie sind doch<br />
zumindest im unteren Preissegment auf<br />
dem Weg von Restsellern zu Bestsellern.<br />
Aber zur Sache: Echte Bestseller, <strong>als</strong>o gut,<br />
teuer und gefragt, sind diese eleganten Raketen<br />
und Bomben, die mit poetischen Namen<br />
wie Tomahawk, Cruise Missiles, Tarnkappe<br />
die christliche Friedensbotschaft tief in das<br />
Hinterland des mörderischen Serben tragen.<br />
So wie sie übrigens schon seit dem Advent<br />
98 - Advent heißt schließlich Ankunft - im<br />
Hinterland des mörderischen Islam im Irak<br />
ankommen. Nun mögen »Pazifistinnen« -<br />
hoppla, die politischen Gänsefüßchen, seit<br />
dem Tod der »DDR« tot geglaubt, sind auferstanden<br />
aus Ruinen! - mögen <strong>als</strong>o „Pazifistinnen"<br />
sagen, Krieg sei kein Mittel zur<br />
Konfliktlösung, und zu leiden hätte immer<br />
die Zivilbevölkerung. Keine Sorge. Die Bestseller-Bomben<br />
made in USA und Großbritannien<br />
treffen auf den Meter genau, wußten<br />
dam<strong>als</strong> die Irak-Frontberichterstatter. Warum<br />
sollte es an der Serbien-Front anders sein?<br />
Da muß die Zivilbevölkerung, die selbstverständlich<br />
mit den Luftangriffen nicht<br />
gemeint ist, eben einfach einen Meter<br />
beiseite treten.<br />
Im übrigen frage ich die »Pazifistinnen«:<br />
Wer hält sich denn in der Nähe militärischer<br />
Anlagen auf, denen die Bomben gewidmet<br />
sind? Frauen, Kinder und Greise? Ach? Seit<br />
wann sonnenbaden Frauen auf dem Hof von<br />
Chemiewaffenfabriken? Seit wann spielen<br />
Kinder Räuber und Gendarm in unterirdischen<br />
AtomwaffenStützpunkten? Seit wann<br />
schnappen Greise frische Luft am Fuße von<br />
Raketenabschußrampen? Nein! Hier haben<br />
wir hochaggressive, paramilitärische und<br />
militärische Verbände vor uns, die jederzeit<br />
ihr Leben für den Teufel Saddam Hussein<br />
bzw. ein Großserbien unter Milosevic geben<br />
würden. Genau dazu gibt ihnen die internationale<br />
Völkergemeinschaft jetzt die Gelegenheit.<br />
Schon im Advent 98 hatte unser Volk,<br />
das sich, wie die Massenmedien nachwiesen,<br />
mit rot-grün verwählt hatte und die neue<br />
Regierung sofort haßte, doch nicht ohne<br />
Rührung gesehen, wie die Ungeliebten dank<br />
ihrem uneingeschränkte Ja zu Bomben auf<br />
Belgrad endlich ankommen durften in der<br />
christlichen Umarmung der Herren Schäuble<br />
und Ruhe. Die Umarmung hält an, so lange<br />
das Ja zu den Bomben anhält.<br />
Schon zum zweiten Mal binnen kurzem<br />
stehen wir Deutschen, endlich! nach 60 Jahren!<br />
wieder zusammen gegen den Feind. Vor<br />
sieben Jahren, <strong>als</strong> sich Teil I von »Bomben<br />
auf Bagdad« abspielte, da waren die Grünen<br />
noch dagegen, während sie jetzt, in der<br />
Regierungsverantwortung, wie ein Mann,<br />
oder wenn wir von Frau Beer, der ewigen<br />
Nörglerin, einmal absehen, wie o, 99 Mann<br />
hinter jedem Friedensbombardement stehen,<br />
das die USA der NATO befehlen, die natürlich<br />
nicht ewig auf ein UNO-Mandat warten<br />
kann, zumal, wenn das gar nicht in Aussicht<br />
ist. Und was die Schuldfrage angeht - natürlich<br />
sind immer die Bombardierten schuld.<br />
Sonst würde sie ja wohl nicht bombardiert.<br />
Das ist doch logisch, oder?<br />
Was bringen die Bombardements noch?<br />
Eine ausländische Zeitung schrieb kürzlich,<br />
Schröder habe mit dem Krieg, pardon, mit<br />
den Luftangriffen für Freiheit und Humanität<br />
staatsmännisches Format gewonnen.<br />
Na, bitte, es geht doch. Und wessen staatsmännisches<br />
Format in Stahlgewittern<br />
gestählt wurde, der wird zu Hause dann<br />
wohl endlich aufhören, dem Druck der<br />
Straße nachzugeben und dieses alberne<br />
Bündnis für Arbeit in der Sozi-Hobbykiste<br />
liegen lassen. Wer hat in diesen hehren<br />
Tagen Zeit für Hobbies? doch höchstens ein<br />
Aussteiger wie Lafontaine.<br />
Was bringen die Bomben noch? Zum<br />
einen: Aus Massenmedien wurden Heer-<br />
Scharen. Flotte Schnitte, gerechter Zorn,<br />
subtile Betroffenheit, todsicherer Definitionen<br />
von Gut und Böse in Nachrichten, speci<strong>als</strong>,<br />
brennpunkten, talkshows. Und das<br />
Wunder Sie reden alle mit einer Zunge,<br />
wenn man von gewissen Organen mal<br />
absieht, denen man die SED-Nachfolge<br />
ansieht.<br />
Zum anderen: Der Aufschwung Ost, dessen<br />
wir vom langen Warten schon ein wenig<br />
müde geworden waren, differenziert sich<br />
nun in Aufschwung Nah-Ost und Aufschwung<br />
Süd-Ost. Denn: Der Markt für Bomben<br />
macht immer auch den Markt für Wiederaufbaugüter<br />
hungrig. Man könnte sagen, je<br />
bombiger das Wetter, desto größer der Aufschwung...<br />
irgendwann. Wie gut, wie klug<br />
und haushälterisch, daß auch deutsche Konzerne<br />
seit jeher die Abfälle ihrer RüstungsprodiikHon<br />
für die allerlei Ziviles zu nutzen<br />
wisse::. S^ Donnen sie mindestens dreimal<br />
verdienen. Erstens an den Bomben und Chemiewaffenteilen<br />
für Bagdad, zweitens an den<br />
Bomben auf Bagdad, drittens an denen auf<br />
Belgrad. Über viertens, fünftens und so weiter<br />
werden wir dann hoffentlich vom Spiegel<br />
so detailgetreu informiert wie über den<br />
Hausbau von Herrn Hombach.<br />
Vom gerechten Krieg nun rasch zu den<br />
Bestsellern von der Literaturfront. Vielleicht<br />
stellt ja schön das nächste Literarische Quartett<br />
im Luftschutzbunker unterm Reichstag<br />
Triimmerliteratür vor. Sollte bis dahin widererwarten<br />
noch kein aktuelles Werk auf dem<br />
Markt sein, können zur Not die Literaturtrümmer<br />
aus den Endvierziger und Anfangfünfziger<br />
Jahren herhalten. Außerdem böten<br />
sich an »In Stahlgewittern« von Ernst jünger,<br />
Originalfassung und »Faust« von Joh. W.<br />
Goethe, zu Ehren von dessen 250. Geburtstag<br />
unter dem Titel »Die eiserne Faust« neu<br />
eingerichtet <strong>als</strong> Taschenbuchausgabe für<br />
unsere feldgrauen Jungs ah der Serbienfront.<br />
Krönender Abschluß wäre nun mein Name.<br />
Das kann ich jetzt natürlich nicht riskieren.<br />
Sie wissen ja: Feind liest mit.<br />
2(1999
•• •• FEUILLETON •• ••<br />
.<br />
i 11 .3<br />
Jede Geschichte läßt sich immer<br />
auch anders erzählen, und<br />
mit dem Schicksal der armen<br />
Efifi Briest haben viele Leserinnen<br />
gehadert. So auch ich. In<br />
meiner Version werden zwar<br />
auch fatale Briefe gefunden, aber<br />
sie enthüllen etwas anderes <strong>als</strong><br />
einen Ehebruch. Und sie veranlassen<br />
nicht Baron von Innstetten,<br />
sondern Effi zur Trennung.<br />
Bei Fontäne begibt sich Effi in<br />
eine Berliner Pension, die sich<br />
durch schlechte Luft auszeichnet.<br />
Fontäne erwähnt auch ein<br />
abenteuerlich zusammengewürfeltes<br />
Damenkränzchen,<br />
,aber sollten diese Pensionsgästinnen<br />
tatsächlich nichts<br />
anderes bewirken <strong>als</strong> eine unerquickliche<br />
Atmosphäre, wie<br />
Herr Fontäne meint, der im<br />
übrigen immer wieder andeutet,<br />
daß Effi an Frauen Gefallen<br />
findet?<br />
Fräulein Thea trat auf die Terrasse. Die<br />
Dame, bei der sie sich untergehakt hatte,<br />
mochte um die Vierzig sein, war groß, stattlich<br />
und strahlte vor Vitalität. Ihre üppigen<br />
dunklen Locken harte sie nachlässig unter<br />
ein herrc n hutähnliches Gebilde gesteckt.<br />
Auch ihr übriges Kostüm war wenig damenhaft,<br />
dennoch stand es ihr gut: ein schlichter<br />
Rock mit hüftlanger Jacke, eine weifte Bluse<br />
und eine Krawatte. Ihr gutgeschnittenes<br />
Gesicht bekam durch einen Flaum über der<br />
Oberlippe einen Zug ins Pikante. »Meine<br />
Damen«, sagte Fräulein Thea mit Emphase,<br />
»darf ich bekannt machen, falls Sie unsere<br />
liebwerte Besucherin nicht schon von der<br />
Oper her kennen: Kammersängerin<br />
Marietta Trippelli.«<br />
»Machen Sie's doch nicht so feierlich,<br />
liebes Fräulein Thea, Sie wissen doch:<br />
ich habe keinen Sinn fürs Dramatische«,<br />
sagte Marietta lächelnd.<br />
Wenn die Dame.n wüfsten, daß sich unter<br />
Fräulein Theas wohlkorsettierter Figur im<br />
taubenblauen Seidenkleid samt perfekt geplätteter<br />
Spitzenschürze ein Mann verbarg!<br />
Das Fräulein Thea war ein Herr Theodor -<br />
nicht die Schwester, sondern der Bruder von<br />
Fräulein Martha, eine Frauenseele im Männerkörper<br />
gefangen, wie Fräulein Thea sich<br />
ausdrückte. Marietta hatte ihn (oder vielmehr:<br />
sie) vor Jahren im »Mikado* kennengelernt,<br />
wo viele Herren verkehrten, die sich <strong>als</strong> Damen<br />
kleideten und fühlten. Fräulein Thea hatte<br />
am Flügel gestanden und voller Inbrunst<br />
eines der unsäglich schwülstigen Lieder des<br />
Fürsten Fulenburg zum Besten gegeben.<br />
Bald hatte Marietta die charmante Dame<br />
Thea freundschaftlich in ihr Merz geschlossen<br />
und diese Freundschaft mit der Zeit auch<br />
auf die Schwester ausgedehnt. Fräulein Martha<br />
ihrerseits sah es gerne, wenn die berühmte<br />
Kammersängerin so vollkommen ohne Allüren<br />
und ganz ohne die Herablassung<br />
der GroKen und Gefeierten in ihrer Pension<br />
Besuch machte. Manchmal lieK die Trippelli<br />
sich sogar überreden, einige Lieder vorzutragen.<br />
Fine solche Gelegenheit verfehlte ihren<br />
Eindruck auf die Gäste nie. Das waren, vermutete<br />
Marietta, die Augenblicke, in denen<br />
Fräulein Martha sich mit der Neigung ihres<br />
Bruders fast versöhnte. Denn vor nichts hatte<br />
Fräulein Martha solche Angst wie vor Entdeckung.<br />
»Ich weiß nicht, weshalb du dich<br />
alterierst, meine Liebe«, pflegte Fräulein Thea<br />
zu sagen. »Ich verfüge über eine hochoffizielle<br />
Genehmigung unseres Herrn Regierungspräsidenten,<br />
weibliche Kleidung tragen<br />
zu dürfen. Und da bin ich nicht die einzige.<br />
Ich könnte dir einige Schwestern aus den<br />
ersten Kreisen nennen.«<br />
»Aber wenn es aufkommt, Thea, der<br />
Skandal!«<br />
Nun, dachte Marietta, es kommt nicht<br />
heraus, dazu spielte Fräulein Thea ihre<br />
Rolle, wenn es denn eine war, viel 'iu gut.<br />
In kürzester Zeit hatten sich fast alle Pensionsgäste<br />
auf der Terrasse versammelt. Eine<br />
musikbegeisterte junge Engländerin nahm<br />
Marietta sogleich in Beschlag, eigentlich eine<br />
Unhöflichkeit, aber die übrigen Damen schienen<br />
es dem Enthusiasmus der jungen Frau<br />
zugute zu halten. Marietta stand der Sinn<br />
nicht nach musikalischen Erörterungen.<br />
Sie hatte einen anstrengenden Tag im Aufnahmestudio<br />
der Grammophongesellschaft<br />
verbracht. Mal mußte der Gesang, mal die<br />
Klavierbegleitung wiederholt werden. Fs<br />
war eine rechte Ochsentour gewesen, eine<br />
zu lukrative freilich, <strong>als</strong> daß sie das Angebot<br />
hätte aussschlagen mögen. Nun empfand<br />
sie das dringende Bedürfnis nach ganz alltäglichem<br />
Geplauder.<br />
Der Tee wurde serviert. Das Gesicht einer<br />
soignierten etwa fünzigjährigen Dame aus<br />
London, einer Mrs. Douglas, kam Marietta<br />
vage bekannt vor. Sie hatte es allerdings lange<br />
aufgegeben, solchen Eindrücken nachzugehen,<br />
Ihre Gastspiel- und Konzertreisen brachten<br />
sie über die fahre mit so vielen Menschen<br />
zusammen, daß es Sisyphusarbeit gewesen<br />
wäre, sich deren Gesichter alle einprägen ?u<br />
wollen. Eine junge F'rau dagegen, mit Schatten<br />
unter den Augen, weckte sofort Erinnerungen:<br />
Gieshüblers Salon in Kessln, ein<br />
gestriegelter Landrat und seine mädchenliaft<br />
>*
FEUILLETON<br />
rt "l TO<br />
liebliche Neuvermählte, ein Liederabend und<br />
eine Unterhaltung über Gespenster. Marietta<br />
erinnerte sich sogar des Namens: Baronin<br />
Innstetten. Gieshübler hatte ihr vor |ahren<br />
geschrieben, daß der Landrat mit Familie -<br />
eine Tochter war geboren worden - nach<br />
Berlin berufen worden sei. Ob die Baronin<br />
wußte, daß Gieshübler gestorben war? Ob es<br />
ihr überhaupt genehm war. sich der Bekanntschaft<br />
zu erinnern oder sie zu erneuern?<br />
Die grauhaarige Dame mit dem herouchen<br />
Namen sprach wenig, aber wenn,<br />
dann war es Deutsch mi necklenburgischer<br />
Färbung. »Sie führen einen sehr geschichtsträchtigen<br />
Namen, gnädige Frau«,<br />
konstatierte Marietta. »War's unter Maria<br />
Stuart oder später, daß er zu Ehren kam?<br />
Ich weiß es nicht mehr. Er kommt in meiner<br />
Lieblingsballade vor, müssen Sie wissen.«<br />
»Ich hab es getragen sieben Jahr', ich<br />
kann es nicht tragen mehr, wo immer die<br />
Welt am schönsten war, da war sie öd und<br />
leer«, deklamierte Baronin Innstetten, und<br />
das Lächeln, das eben noch um ihre Lippen<br />
gespielt hatte, verschwand ganz plötzlich.<br />
»Liebste gnädige Frau«, flehte Fräulein<br />
Thea mit ihrer samtigsten Stimme, ȟberlassen<br />
wir doch die Herren Männer ihren Heldentaten<br />
und seien wir froh, daß wir friedlich<br />
überm Stickrahmen sitzen dürfen. Diese<br />
schicks<strong>als</strong>chwangeren Balladen müssen von<br />
Dichtern stammen, die zu schwer gegessen<br />
haben. Darf ich Ihnen noch einen Baiser<br />
reichen?« Alles lachte.<br />
Geschickt lenkte Marietta die Konversation,<br />
in der sie den Mittelpunkt bildete, über<br />
Genüsse, Kunstgenüsse. Gastspiele, Gastspiele<br />
an Provinzbühnen und schließlich<br />
Provinz schlechthin an den Punkt, an dem<br />
sie ihre Heimatstadt ins Spiel bringen<br />
konnte:<br />
»Sagen Sie mir nichts gegen die Provinz,<br />
Baronin. Ich selbst bin in einem rechten Provinznest<br />
aufgewachsen. Kessin in Pommern.«<br />
Bei der Erwähnung Kessins beugte sich<br />
Mrs. Douglas tiefer über ihre Stickerei.<br />
Nun ja, dachte Marietta, wer aus London<br />
kam, dem mochte eine kleine Hafenstadt<br />
an der Ostsee langweilig erscheinen.<br />
»Das Leben in der Provinz«, fuhr sie fort,<br />
»besitzt doch einen entschiedenen Vorzug.<br />
Die Originale leuchten um so deutlicher aus<br />
der Masse der Alltagsmenschen hervor. In<br />
Kessin hatten wir einen Apotheker, übrigens<br />
war er der einzige, der sich für mich und<br />
mein Ges^"osstudium einsetzte, und wer<br />
weiß, wo ich heute stünde ohne ihn! Schon<br />
sein Name war apart: Alonzo Gieshübler.<br />
Leider weilt er nicht mehr unter den Lebenden.«<br />
Marietta tat ihrem verstorbenen Freund<br />
im stillen Abbitte, daß sie ihn mißbrauchte,<br />
um die Baronin aus ihrer Reserve zu locken,<br />
doch die Taktik erreichte ihren Zweck. Frau<br />
von Innstetten erzählte nun, sie habe selbst<br />
einige Jahre in ebendiesem Kessin zugebracht,<br />
wobei sie geflissentlich vermied, den<br />
Gatten zu erwähnen. Und nun kam sie auch<br />
auf die Begegnung mit der Kammersängerin<br />
im Hause Gieshübler zu sprechen.<br />
»Das IM jetzt wohl neun Jahr her, mein<br />
gnädiges Fräulein. Ach, es war ein schöner<br />
Abend, gewiß einer der schönsten, den ich<br />
dort verbrachte«, erklärte Frau von Innstetten.<br />
»Wir sprachen über Kunst, gnädige<br />
Frau«, fiel Marietta ein, »was natürlich immer<br />
obligatorisch ist, und über Gespenster.<br />
Sie lebten, wenn ich mich recht entsinne,<br />
in einem Hause, das <strong>als</strong> Spukhaus galt?«<br />
»Ja, und mir ist, <strong>als</strong> ob ich mich dam<strong>als</strong><br />
gefürchtet hätte«, lächelte Frau von Innstetten,<br />
»völlig unnötigerweise. Denn was hätte<br />
mir der Chinese - es ging nämlich um einen<br />
Chinesen, wie ich Mrs. Douglas schon berichtete<br />
- auch antun können? Mit Chinesen war<br />
ich immer gut freund. Als Kind dachte ich<br />
mir Geschichten aus«, und hier nahm das<br />
Gesicht der Baronin einen fast kindlich-weichen<br />
Zug an, »<strong>als</strong> Kind dachte ich mir immer<br />
Geschichten aus, in denen ein Chinese die<br />
Hauptrolle spielte.«<br />
Plötzlich fiel die Terrassentür geräuschvoll<br />
ins Schloß. »Ich bitte sehr um Entschuldigung!<br />
Für meine Verspätung und den Lärm«,<br />
sagte die Störenfriedin mit englischem<br />
Akzent und schalkhaftem Lächeln. Sie<br />
mochte in Mariettas Alter sein, hatte fuchsrotes<br />
Haar, das sie ungewöhnlich kurz trug,<br />
und braune Augen. »Sie müssen die berühmte<br />
Miss Trippelli sein. Sehr erfreut, Sie kennenzulernen.<br />
Meine junge Cousine schwärmt<br />
für Sie, wie Sie sicher schon bemerkt haben.<br />
Ich bin Miss Sharp, die Majestätsbeleidigerin.<br />
Habe mich hier durch eine Bemerkung über<br />
den Kunstverstand Ihres Kaisers unpopulär<br />
gemacht.«<br />
Marietta lachte. Stühle wurden gerückt,<br />
ein weiteres Gedeck gebracht, Tee eingeschenkt,<br />
Zuckerdose und Gebäck herumgereicht.<br />
»Darf ich rauchen?« fragte Miss<br />
Sharp, was ihr gnädigst gestattet wurde.<br />
Doch nur die Cousine nahm von dem angebotenen<br />
Etui und gab es an Marietta<br />
weiter.<br />
»Mögen Sie auch ein paar Züge vom<br />
Hauch des Paradieses, Madam?« fragte sie<br />
mit einem tiefen Blick in Mariettas Augen.<br />
»Wo denken Sie hin, meine Liebe! Ich brauche<br />
meine Stimme um mir die Brötchen zu<br />
verdienen, und von Zeit zu Zeit etwas Kaviar<br />
drauf.«<br />
Die Majestätsbeleidigerin lachte: »Jedem<br />
Tierchen sein Pläsierchen, so sagt ihr Deutschen<br />
doch, nicht wahr? An Kaviar wird es<br />
Ihnen gewiß nicht mangeln.«<br />
Bald darauf verabschiedete sich die Trippelli.<br />
Frau von Innstetten zog sich mit Kopfschmerzen<br />
in ihr Zimmer zurück. Also von<br />
den Zigaretten der beiden Engländerinnen<br />
kam der sonderbare Weihrauchgeruch!<br />
Die Sängerin ging ihr die ganze Zeit über<br />
nicht mehr aus dem Sinn. An diesem<br />
Abend stickte sie nicht weiter.<br />
aus; Dorothee Keuler:<br />
»Das wahre Leben der Ejß B.«<br />
© 1998 by Haffmanns Verlag AG, Zürich<br />
211999
FKUILLLTON<br />
Jeden Freitag spielten wir Karten. Der<br />
schöne Erich, ein unentwegter Psychologie-<br />
Student, immer in schwierigen Liebesgeschkhten<br />
steckend, Monika, Chefsekretärin<br />
in einer großen Rundfunkanstalt, eine<br />
stattliche Frau mit Vorliebe fiir weite und<br />
ausgefallene Kleider - und ich, dam<strong>als</strong><br />
eine Ausländerin mit Ungewisser Zukunft.<br />
Eine Erzählung von Maria Kolenda<br />
Wir wohnten in einem Haus in der l lauptstraKe.<br />
einem in den li'inf/iger Jahren gebauten,<br />
häßlichen, grauen Kasten. Unsere drei<br />
kleinen Wohnungen lagen nebeneinander im<br />
vierten Stock; ein überdachter Außengang mit<br />
Blick '/.um Hof führte /u den Eingangslüren.<br />
Das erste Mal begegneten wir uns /ufällig<br />
im Hof und Hrich verwickelte uns in<br />
ein Gespräch über Mülltrennung. Eigentlich<br />
ititeressierte mich das Thema nicht, aber<br />
weil ich noch nicht lange in Berlin war und<br />
niemanden kannte, blieb ich bei ihnen stehen<br />
und stimmte /.u. Von dem Tag an traten<br />
wir uns regelmäßig zum Kartenspielen.<br />
Und heute war Freitag. Wie üblich saßen<br />
wir bei Monika. Sie war die ein/ige, die<br />
einen großen 'Fisch hatte, der zum Spiel gut<br />
geeignet war. Und noch wichtiger war, daf<<br />
sie in der Küche, gleich links hinter der Tür,<br />
vor/üglichen Wein in ansehnlichen Mengen<br />
lagerte. Wir plauderten über dies und das,<br />
spielten Kartell, tranken genüßlich den Wein<br />
und freuten uns des Lebens. Wie immer<br />
gewann Monika. Und <strong>als</strong> ob sie sich dessen<br />
schämte, schlug sie eine neue Partie vor.<br />
Wir waren sehr einverstanden, denn in so<br />
einem Moment erhob sich Monika vom<br />
Sessel, mit ihrem afrikanischen Kleid<br />
raschelnd und flog in die Küche, um eine<br />
neue Flasche /u holen. Für sie, für die nächste<br />
h'lasche. ertrugen wir würdevoll die<br />
unvermeidlich folgende Niederlage.<br />
Aber heute passierte etwas Unerwartetes.<br />
Frich fragte leicht angriffslustig, ob sie uns<br />
vielleicht beim Spiel betrüge. Das würde<br />
ihm nicht viel ausmachen, aber sie sollte<br />
es wenigstens zugeben. Sofort unterbrach<br />
Monika das Spiel, richtete sich starr auf,<br />
band ihre herunterhängenden, graugoldenen<br />
Haare zu einem festen Knoten und durchdrang<br />
uns mit einem strafenden Chefsekretärinnenblick.<br />
»Wenn ihr mich des<br />
Betruges beschuldigen wollt, dann könnt<br />
ihr euch ganz schnell eine andere Spielpartnerin<br />
suchen.«<br />
Erich erschrak. Seit langem schrieb er an<br />
seiner Doktorarbeit, einem unverständlichen<br />
und verwirrenden Werk ohne Ende, und war<br />
-'•l ">')'!
FEUILLETON<br />
auf Monikas diskrete Hufe angewiesen. Ich<br />
fühlte mich auch unbehaglich. »Moni,<br />
bitte, nimm es nicht so ernst, es war nur<br />
ein Scherz.«<br />
Erich versuchte sich bei ihr einzuschmeicheln.<br />
»Wir wissen doch: Du bist die ehrlichste<br />
Spielerin. Und ich hab dir doch<br />
gesagt, daß ich jetzt Probleme mit Klaus<br />
habe«, fügte er weinerlich hinzu.<br />
Monika schwankte. Sie hob die Hand<br />
zum Haar, nahm sie zurück, studierte aufmerksam<br />
unsere Gesichter und riß mit<br />
entschlossener Bewegung die Haarspange<br />
wieder heraus. Fettige Strähnen fielen auf<br />
ihr mit roten Flecken bedecktes Gesicht.<br />
Uns wurde es leichter ums Herz, und das<br />
Spiel begann von neuem.<br />
Monika gewann ihre gute Laune zurück,<br />
und wie immer in solchen Momenten griff<br />
sie unter ihren Sessel und zerrte eine vor<br />
Angst zitternde Katze namens Lucy vom<br />
Teppich. Sie setzte Lucy auf ihren Schoß,<br />
drückte sie kräftig herunter und sprach liebevoll:<br />
»Schau mal, Lucy, das sind meine Nachbarn.<br />
Aber sei nicht eifersüchtig, du bist<br />
ja meine Liebste.« Lucy erstarrte einen<br />
Sekunde lang, für Monika der Beweis wahren<br />
Interesses, sie lockerte den Handgriff<br />
was Lucy sofort nutzte, um sich mit einem<br />
Sprung unter dem Schrank zu verstecken.<br />
»Was für eine wunderschöne Katze«,<br />
sagte Erich, der panische Angst vor ihren<br />
Krallen hatte. »Und so bezaubernd wild« -<br />
er erschauderte bei seinen eigenen Worten.<br />
Er wirkte nervös an diesem Abend. Oft hatte<br />
er auf die Uhr geschaut; plötzlich sagte er<br />
verlegen: »Ich muß heute noch weg. Ich<br />
habe eine Verabredung.« Wir waren sprachlos.<br />
Er brach ein ungeschriebenes Gesetz:<br />
Die Nacht von Freitag auf Samstag gehörte<br />
uns. Erich fragte schuldbewußt, ob er vielleicht<br />
meine Ausgehtasche leihen könnte,<br />
ein kleines, mit originellem Pe-rlenmuster<br />
verziertes Täschchen. Ich willigte stumm<br />
ein, er hängte sie sich über die Schulter,<br />
sagte: »Kann sein, daß ich später nochmal<br />
vorbeikomme« und verschwand in der<br />
Dunkelheit der Nacht.<br />
Wir blieben im Zimmer zurück. Schweigend<br />
spielten wir weiter. Nach langer Zeit<br />
bemerkte Monika unerwartet: »Die Karten<br />
sind manchmal f<strong>als</strong>ch gemischt.« Da ich an<br />
ihre Sprüche gewöhnt war, nahm ich auch<br />
diesen ohne Wimpernzucken hin. Das Spiel<br />
langweilte uns, das Gespräch stockte. Unbewußt<br />
lauschten wir auf Geräusche des<br />
Außengangs. Kurz nach fünf Uhr morgens<br />
hörten wir Poltern, dann schrillte die Klingel.<br />
Monika sprang auf und öffnete die Tür, Erich<br />
torkelte in die Wohnung, prallte von der Wand<br />
ab und landete mit einem Schwung im Sessel.<br />
Er trug einen schicken Pelzmantel und elegante<br />
Lackschuhe an seinen Füßen.<br />
»Leg ab«. Monika war leicht verwirrt,<br />
aber auch sichtbar glücklich. Erich betrachtete<br />
uns, eine nach der anderen, lange unter<br />
seinen silberblau geschminkten Augenliedern<br />
und entledigte sich mit einer koketten<br />
Schulterbewegung des Pelzes.<br />
Unsere Blicke, etwas getrübt durch den<br />
Müller-Thurgau, erfreuten sich einer wundervollen<br />
Erscheinung. Erich: glatt, braungebrannt,<br />
bekleidet mit einem raffiniert<br />
rot-glänzenden Höschen und Hosenträgern<br />
in der gleichen Farbe.<br />
»Zieh dich besser wieder an«, schlug<br />
Monika vor.<br />
»Aber wozu?« protestierte ich spontan.<br />
»Es ist doch .„«<br />
Ohne ein weiteres Wort warf ihm Monika<br />
eins ihrer afrikanischen Kleider zu. Erich<br />
verschwand im Gewühl aus bunten Blumen,<br />
befreite nach kurzen Kampf seinen Kopf und<br />
nahm die Pose eines tief verzweifelten Menschen<br />
an. »Klaus hat Schluß mit mir gemacht!«<br />
schluchzte er. »Das ist das Ende.<br />
Ich halte diesen Schmerz nicht aus.« Monika<br />
schob ihm ein volles Glas Wein hin. Er trank<br />
es hastig leer.<br />
»Vielleicht ist alles nicht so schlimm, wie<br />
du denkst.« Ich versuchte, ihm die weiteren<br />
Einzelheiten zu entlocken. »Nein, nein, es ist<br />
aus, ein für alle Mal! Klaus hat mich rausgeworfen,<br />
einfach rausgeworfen!« »Warum<br />
gleich rausgeworfen, du siehst das bestimmt<br />
f<strong>als</strong>ch.« Erich vergrub sein Gesicht in den<br />
Händen. »Nein, er hat mich wirklich rausgeschmissen,<br />
mit einem Hißtritt hat er mich<br />
wirklich rausgeschmissen, mit einem Fußtritt<br />
hat er mich aus dem Auto befördert!«<br />
»So ein Grobian!« rief Monika entrüstet.<br />
»Und warum?«<br />
Erich begann jetzt erst recht zu klagen:<br />
»Wir waren schon auf dem Weg nach Hause,<br />
nach der Fete bei Michi... Oh, das ist grausam<br />
...'< Er tupfte sich die Tränen mit dem<br />
Zipfel des Kleides ab. »Wir waren schon fast<br />
da, Klaus saß am Steuer, wie immer fuhr er<br />
sicher, so männlich, stark. In der Nähe der<br />
kleinen Parkanlage habe ich plötzlich diesen<br />
jungen Polizisten gesehen. Ach, was für<br />
ein süßer funge, sag ich euch, was für ein<br />
Schnuckelboy; dunkle Augen, Grübchen irn<br />
Gesicht. Da sage ich zu Klaus: Bitte, halte<br />
kurz an ...«<br />
Erich unterbrach die Erzählung und verharrte<br />
längere Zeit mit tragischem Gesichtsausdruck.<br />
»Warum habe ich ihn nur darum<br />
gebeten, warum? Hat mein Schutzengel<br />
geschlafen? Klaus hat angehalten. Ich bin<br />
ausgestiegen, bin zu meinem Polizisten<br />
rübergegangen. Ich wollte nur in sein süßes,<br />
kleines Ohr hauchen: »Guten Morgen, du<br />
Schönster!« Aber was passiert?! Plötzlich<br />
erscheint hinter ihm sein Kollege, eine<br />
pflichtbewußte Fratze! Ein Schock! Der<br />
widerliche, behaarte Affe ist gleich zu unserem<br />
Auto gegangen. Und Klaus betrunken<br />
am Steuer. Autopapiere, Pusten. Aussteigen,<br />
Führerschein weg. Als alles vorüber war,<br />
bestellten wir ein Taxi. Klaus ist eingestiegen,<br />
ich wollte hinterher. Da dreht er sich zu mir<br />
und versetzt mir mit voller Wucht einen Tritt<br />
und schreit: Hau ab, du käufliche Schwuchtel<br />
mit Hängearsch und geh zu deiner Uniformtunte!«<br />
Die letzten Worte sprach Erich kaum<br />
hörbar und tief beschämt.<br />
Wir saßen ziemlich ratlos da. »Ich rufe<br />
ihn morgen an, deinen Klaus und rede mit<br />
ihm ein paar Takte« drohte Monika. »Nichts<br />
ist mehr möglich«, kreischte Erich. »Keiner<br />
hat ein Recht, zu mir zu sagen: Du käufliche<br />
Schwuchtel mit Hängearsch! Käuflich: ]a.<br />
Dagegen habe ich nichts, das Geld nehme<br />
ich. Aber nicht »Hängearsch«! Denn das«,<br />
er schaute uns zaghaft an, »hat die Erfolge<br />
meiner jahrelangen Therapie zunichte<br />
gemacht. Ich bin wieder häßlich und<br />
keiner liebt mich.«<br />
Er weinte leise und herzzerreißend.<br />
Monika sah mich bedeutungsvoll an. Ich<br />
verstand ihren Blick. Worte genügten nicht<br />
mehr, gefragt waren jetzt Taten. Sie streifte<br />
ihr Kleid ab und zeigte mit der Hand auf<br />
ihren Bauch. »Schau hin, Erich. Das ist<br />
mein Bauch. Ein typischer, faltiger Hängebauch.«<br />
»Tatsächlich. Du auch«, sagte Erich.<br />
Jetzt blickten sie erwartungsvoll zu mir.<br />
Ich zögerte und zog mich dann aus. »Auch<br />
keine Venus« stellte Monika befriedigt fest,<br />
Erichs Augen leuchteten ein wenig hoffnungsvoller.<br />
Den ganzen Morgen spielten wir noch<br />
Karten, splitternackt. Das war der Anfang<br />
einer wunderbaren Freundschaft. Und Lucy,<br />
von Kopf bis Fuß in Pelz gekleidet, steckte<br />
ihren Kopf unter dem Schrank hervor und<br />
beobachtete uns mit großen Augen.
D FEUILLETON<br />
G<br />
n<br />
Amäl liegt in Schweden und ist ziemlich<br />
klein, aber es ist auch der Ort einer<br />
großartigen lesbischen Liebesgeschichte,<br />
Elin langweilt sich. »Ich höre einfach auf<br />
zu atmen-., sagt sie t'inrna!, dann wieder: »Ich<br />
werde Miss Schweden». Schauspielerin will<br />
sie auch werden, und high sein. Man muß<br />
dazu wissen, daß Hin im schwedischen Arnal<br />
lebt, und das liegt, behauptet sie, »am Arsch<br />
der Welt". Deshalb redet sie auch immer von<br />
»Fucking Amal«, was ungefähr dasselbe heißt,<br />
würde ein r 4 jähriger deutscher Teenager von<br />
»Scheiß Castorp-Rauxel» sprechen.<br />
Agnes will sterben. Agnes lebt nämlich<br />
auch in Amäl. Allerdings ist ihr Problem<br />
weniger die Stadt am Ende von Schweden,<br />
sondern vielmehr, daß sie dort mittlerweile<br />
eineinhalb Jahre wohnt, aber keine Freunde<br />
hat. »Keiner mag mich«, brüllt sie ihrem verzweifelten<br />
Vater an ihrem 16. Geburtstag<br />
entgegen, <strong>als</strong> sie ihm erklärt, sie könne niemanden<br />
7ii einer Geburtstagsparty einladen.<br />
Manchmal weiß sich Agnes nämlich nicht<br />
mehr zu beherrschen und ihren Litern zuliebe<br />
das Susi-Sorglos-Gesicht aufzusetzen.<br />
Und nur ihrem Compntertagebuch vertraut<br />
sie wirklich alles an, auch ihr größtes Geheimnis:<br />
Sie liebt Elin.<br />
Nun ist aber das Problem, daß Elin so<br />
ziemlich der Schwärm eines jeden pubertierenden<br />
Jungen in Amal ist und sie selbst<br />
total spitz darauf, sich ihr Jungfernhäutchen<br />
entfernen zu lassen. Fs erzählen sich ja ohnehin<br />
schon alle, daß sie es mit fast jedem getrieben<br />
hätte. In der Schule gellt aber auch<br />
das Gerücht rum, Agnes stehe nur auf Frauen<br />
und besonders auf Elin. Und dabei weiß Agnes<br />
selbst noch nicht einmal, was es heißt, Frauen<br />
/u lieben. Fs ist ja nur so ein Gefühl, und<br />
geküßt hat sie bisher weder eine Frau noch<br />
einen Mann.<br />
Daß Amal. wo jeder jeden kennt, nicht<br />
gerade der ideale Ort lür Blümchensex und<br />
ein lesbisches Corning Out ist, daraus macht<br />
der Erstlingsfilm »Fncking Amal" des jungen<br />
schwedischen Regisseurs Lukas Moodysson<br />
keinen l lehl, ganz im Gegenteil: Das Milieu<br />
der Kleinstadt, ihr meist langer ruhiger FluK<br />
des Lebens, aus dem sich die Kids mit Besäufnissen,<br />
gelegentlichen Partys und Videonachmittagen<br />
am Wochenende stehlen, sind die<br />
Bedingungen seiner ebenso subtil wie real<br />
gestrickten ersten Beziehungsgehversuche<br />
eines jungen lesbischen Paares.<br />
Und da sind auf der einen Seite die<br />
rührenden Eltern von Agnes, irgendwie<br />
68er-mäßig sozialisiert und daher unheimlich<br />
offen und betroffen, die aber nicht die<br />
leiseste Ahnung davon haben, was mit ihrer<br />
Tochter wirklich los ist. Das ahnt die Mutter<br />
erst, <strong>als</strong> sie heimlich in Agnes' elektronischen<br />
Seiten blättert. Auf der anderen Seite ist da<br />
die alleinerziehende Mutter von Flin und<br />
ihrer älteren Schwester, die kaum Kontrolle<br />
über den Lebenswandel ihrer Töchter hat,<br />
weil sie sich meistens zuhause nur die Türklinke<br />
in die Hand geben. Die einen kommen<br />
aus der Schule, sie geht zur Arbeit. Als<br />
Elin irgendwann kapiert, daß sie eigentlich<br />
auch auf Agnes steht, nimmt sie einen Anlauf,<br />
mit ihrer Mutter darüber zu reden, doch die<br />
leiht ihr nur ein Ohr zum Zuhören, und Flin<br />
macht einen Rückzieher. Und auch ihrer<br />
Schwester vertraut sie sich nicht an. weil die<br />
letztendlich auch /u denen zählt, die Mädchen,<br />
die Mädchen küssen, für abartig hält.<br />
Alles <strong>als</strong>o nicht so einfach und im Prinzip<br />
der Stoff für einen psychologischen Kokon,<br />
in den sich die Hauptdarstellerinnen bis /u<br />
ihrer Schmetterlingswerdung einigeln könnten.<br />
»Fucking Amal" ist aber trotz aufgeschnittener<br />
Pulsadern alles andere <strong>als</strong> ein<br />
Kammerspiel um Liebe und Tod. sondern<br />
ein erfrischend normaler Kilm über ein normales<br />
Ereignis. Die erste große Liebe, Es ist<br />
ein Film über dir Zwischenzeit: Nicht mehr<br />
Kind, aber auch noch nicht erwachsen. Was<br />
es heißt, zu lieben, erfahren Elin und Agnes<br />
zum ersten Mal miteinander, selbst wenn<br />
sich Elin vorher noch von Johann entjungfern<br />
läßt. Aber sie merkt auch bald, daß sie<br />
ihin nichts zu sagen hat, und er ihr scheinbar<br />
auch nur bestätigen kann, daß Frauen<br />
nichts von I landys verstünden, wie der<br />
Freund ihrer Schwester feststellt. Elin versteht<br />
immerhin soviel davon, daß sie Johann<br />
schließlich übers Mobiltelefon in den Orkus<br />
schickt.<br />
Ganz zurecht gewann »Eucking Amäl«<br />
den diesjährigen Teddy Award, den schwullesbischen<br />
Filmpreis der Berlinale. Als der<br />
Regisseur und seine beiden Hauptdarstellerinnen<br />
zur Premiere ihres F'ilms zuvor auf<br />
die Bühne des Royal Palastes traten, konnte<br />
er nur sagen: »Ich bin nervös». Die Mädchen<br />
fragten beeindruckt: »Wieviel Leute sind hier<br />
drin, es ist so groß?« Amäl ist eben fncking<br />
sniall, auch die Kinos, aber man dreht dort<br />
Filme, in denen Mädchen auf dem Weg zur<br />
Frau Schokomilch trinken und darüber reden,<br />
<strong>als</strong> wäre es ein Cuba libre. Und man glaubt<br />
es ihnen.<br />
FEUILI ETON<br />
Angelina Maccarone<br />
Foto: Manju/PicturePress<br />
Toronto. Und ein Angebot von Samuel Goldwyn.<br />
Ihr jüngster Kilin »Ein Engel schlägt<br />
zurück« wurde mit dem Regiepreis der Kölner<br />
Fernsehmesse ausgezeichnet.<br />
Die 33-jährige Drehbuchautorin und<br />
Regisseurin wurde in einem Provinzkaff<br />
namens Pulheim bei Köln geboren, ist halb<br />
Italienerin und halb Deutsche. Sie hat nie<br />
eine Filmhochschule besucht, wird aber ab<br />
nächstem Jahr an einer unterrichten. Sie<br />
trägt den akademischen Titel »Magister der<br />
schönen Künste«. Ihre Magisterarbeit in<br />
Germanistik schrieb sie über ihren ersten<br />
eigenen Film. Titel: »Eine Mainstream-<br />
Lesbenkomödie und ihre kultur- und filmhistorischen<br />
Voraussetzungen.«<br />
nacr<br />
FEUILLETON<br />
Gibt es ein nationales oder internationales<br />
Netzwerk von Frauenfihnern oder Schauspielerinnen,<br />
die an solchen Filmen über<br />
Frauen interessiert sind?<br />
Ja, es gibl eine Organisation in Los Angeles,<br />
die VtVnm'H Makf Moi'iVi heißt und in<br />
München eine Vertretung hat Die haben mir<br />
Adressen geschickt, '['rot/dem wird es einem<br />
nicht so leicht gemacht, daß jel/t a l k- Produktionsfirmen<br />
begeistert aufschreien: Ja, das<br />
machen wir. Die Stars müßte ich trotzdem<br />
alleine finden. Und damit ginge das Budget,<br />
das ich in Deutschland mühsam aufgetricben<br />
habe, für die Flugticket s drauf. Ich habe mit<br />
zwei Produzenten darüber gesprochen und<br />
die Reaktion war wie erwartet: ein müdes<br />
l ächeln, alles sehr schön, aber ... Ich würde<br />
gern in Deutschland einen Kinofilm machen.<br />
Das ist, denke ich, ein realistischeres Ziel<br />
und st hon schwierig genug.<br />
Der Film der Sichel Sisters «All over nie«,<br />
gut gelaufen. In dem Film geht es um jungt-<br />
Trauen, die sich ineinander verlieben. Bisher<br />
wurde dieses Thema in Filmen und Büchern<br />
immer ein bißchen melodramatisch dargestellt:<br />
Liebeskummer, Tod, Krankheit,<br />
Depres-sionen. Welche ist denn Ihre bevorzugte<br />
Art, das Thema zu behandeln?<br />
Meine Art damit umzugehen? Ich stelle<br />
mir das genauso bunt \vie in dei i letero-Welt<br />
vor. Zum Beispiel in einem Psycliothriller, in<br />
dem dann eben kein l leid, sondern eine Heldin<br />
eine Antagonistin liebt. Ich habe diese<br />
Coniing-Out-Themalik einmal bei »Kommt<br />
Mausi raus» behandelt, das wareine Komödie.<br />
••Alles wird gut« ist eine Screw-ball-Komödie.<br />
<strong>als</strong>o ein sehr spezifisches Koniödiengenre.<br />
Dagegen ist »Kin Engel schlagt /uriick« nicht<br />
explizit lesbisch, aber es gehtauch hierum<br />
zwei Frauen, die sich lieben. Hier ging es<br />
mir nicht darum, Liebesszenen /u drehen<br />
wie bei »Alles wird gut«, sondern einen Kontrast<br />
zu den ganzen tragischen Geschichten<br />
zu bieten, die Sie eben angesprochen haben.<br />
Sind solche riimhguren riskant.<br />
Naja, wie gesagt, es ist eine Screwball-<br />
Cotnedy und da gibl es immer Hindernisse<br />
zu überwinden bis es zum Happy-End kommt,<br />
zur Vereinigung der beiden Menschen, die<br />
sich am Anfang nicht ausstehen können.<br />
Und da haben wir überlegt, wie \\irdie<br />
»kontrastär« gestalten können. Die eine ist<br />
eine workoholic, die sich von Dosenravioli<br />
ernährt, und die andere ist so ein slacker typ.<br />
wie man in Amerika sagen würde. Sie hat<br />
den (ob geschmissen, weil ihr die politische<br />
Konfrontation mit einer Kundin gestunken<br />
hat (die Frau beharrte auf dem Wort Negerkuß).<br />
Sie ist eine Frau, die sehr konsequent<br />
ihr Leben lebt und manchmal bedeutet diese<br />
Konsequenz eben, daß du unglücklich,<br />
arbeitslos und ohne Freundin dastehst. Sie<br />
ist jemand, der diese Konsequenz auch trägt.<br />
Ist es Urnen wichtig, daß Sie Quote machen<br />
mit Ihren Filmen?<br />
Ja, das wünschen sich, glaube ich, alle.<br />
Es ist jetzt nicht so. daß ich Filme mache, in<br />
denen schwarze l esben vorkommen, damit<br />
sich das nur schwarze Lesben angucken. Ich<br />
wünsche mir, daß mein Onkel Karlheinz,<br />
sich daran genauso erfreut wie viele andere<br />
Leute. Es geht um emotionale Erfahrungen<br />
und nicht so sehr um eine oberflächliche<br />
Identifikation. Ich wünsche mir hohe Quoten,<br />
was bei meinen Filmen bisher nicht der Fall<br />
war. Ich fände es allerdings schade, wenn die<br />
Gründe jetzt da gesucht würden, wo natürlii h<br />
alle ansel/en: Ist doch klar, es ist ein Minderheitenthema.<br />
Diese Art von Quotenzählerei<br />
finde ich sehr dubios.<br />
Was sagt denn Onkel Karlheinz und der<br />
Rest der Familie zur Karriere der Angelina<br />
Matrarone?<br />
Meine Mutter quält alle, indem sie diverse<br />
Videokassetten mit Interviews vorspielt. Die<br />
ganze l-amilie ist tolal süß- Alle rufen an, wenn<br />
Filme von mir gelaufen sind. Die finden sie<br />
immer toll, aber das erwarte ich auch von<br />
meiner Familie. Besonders lustig fand ich,<br />
daß meine Nichte überall in der Schule<br />
erzählt hat, daß alle meine Filme gucken<br />
müssen, damit die Quote höher wird.<br />
Ja, ich habe ein fertiges Drehbuch, Das<br />
ist eine Weihnachtsgeschichte - für die ganze<br />
Familie sozusagen - mit dem Titel »Weilinachtszombies«.<br />
Es geht um eine Frau, die<br />
einen l lundesalon besitzt und sehr unglücklich<br />
mit ihrem Leben ist. Es is! schon symptomatisch,<br />
daß sie eigentlich lieber Kat/en<br />
mag. Sie hat ein Verhältnis mit einem verheirateten<br />
Mann, der sie zum l [eiligen Abend<br />
das soundsovielte Mal versetzt. Das Leben<br />
verläuft nicht ganz nach ihren Vorstellungen<br />
und sie entschliefst sich, nach Amsterdam zu<br />
gehen. Dort will sie sich das Leben nehmen.<br />
Unterwegs trifft sie Francesra, die aus dem<br />
gegenteiligen Grund hier ist, sie will nämlich<br />
ihre kleine Schwester vor dem hmkiedasein<br />
retten. Die beiden kommen sich auf der Fahrt<br />
naher, trennen sich und in Amsterdam isl<br />
dann alles ganz anders, <strong>als</strong> sie gedacht haben.<br />
Musik spielt in Ihren Filmen ja eine große<br />
Rolle. In dem Zusammenhang ist interessant,<br />
dbS Sie vor 13 Jahren eigentlich mit dem Ziel<br />
nach Hamburg gekommen sind, um Popstar<br />
zu werden. Nach einem Auftritt war dann<br />
allerdings Schluß. Wollen Sie immer noch<br />
Sängerin werden?<br />
Ich singe und nehme auch Gesangsunterricht.<br />
Ich habe neulich gerade im Jesus<br />
Müller Club ausprobiert, was ich dazugelernt<br />
habe. Ls war für mich eine Art Mutprobe,<br />
und ich würde das sehr gerne öfter machen.<br />
Ich muß damit a IXT keinen Erfolg haben,<br />
um Geld damit zu verdienen. Es macht<br />
einfach nur Spaß,<br />
zwei »eitere Filme produziert. Bedauern Sie,<br />
daß Sie nie eine Filmhochschule besuch!<br />
haben?<br />
Ja, denn ich denke, daß so eine Filmhochschule<br />
eine große Chance ist, Dinge<br />
auszuprobieren. Ich habe die Filmerei so/usagen<br />
gleich im wahren Leben ausprobiert.<br />
Wenn das in die Hose geht, dann geht es<br />
gleich richtig in die Hose, weil es ein öffentliches<br />
Versagen ist. Umgekehrt natürlich,<br />
wenn es gut wird, ist es dann umso besser,<br />
weil man dadurch mehr Aufmerksamkeit<br />
bekommt. Andererseits hätte ich mir diese<br />
Filmliochschulen nicht leisten können. Die<br />
sind sehr teuer, und ich hätte nicht nebenher<br />
arbeiten können. Witzigerweise bin ich nächstes<br />
Jahr <strong>als</strong> Dozentin am DFFB (Deutsche<br />
Film-und Fernsehakademie Berlin) tätig. Ob<br />
die mich <strong>als</strong> Studentin genommen hätten, ist<br />
fraglich.<br />
"• :K 2)1999
FEUILLETON<br />
Text: Christoph Schultheiß<br />
Fotos: Annett Ahrcnds<br />
-n-- - -.-!•<br />
^^•w: *Jh*K<br />
. .>M^» uMiloU<br />
»Dafs man dich überhaupt reingelassen<br />
hat...« unkte die freundliche ßarfrau hinter<br />
der Getränketheke. Dabei war auch ihrem<br />
Gegenüber nicht entgangen, daß die annoncierte<br />
Podiumsdiskussion in der Berliner<br />
Kulturbrauerei ein Publikum halte herbeieilen<br />
lassen, das offensichtlich alles andere <strong>als</strong><br />
ausgerechnet heterosexuell oder gar männlich<br />
sein wollte. Jenseits jedweder demoskopischen<br />
Repräsentanz, stellte der Beobachter<br />
fest, war die Schar der Interessierten erstaunlich<br />
homogen und mehrheitlich Minderheil.<br />
Was einem zu denken geben könnte. »Damit<br />
fängt's schon an« zum Beispiel.<br />
Aber eine Beobachtung ist noch lange<br />
kein Thema. Es sei denn, man macht eins<br />
draus wie eben der »Bund lesbischer &<br />
schwuler Journalistinnen«, <strong>als</strong> er Ende März<br />
gemeinsam mit dem Journalistinnenbund<br />
zur öffentlichen Gesprächsrunde in Sachen<br />
»Lesben in Serie« lud.<br />
Nun ist Homosexualität an sich im deutschen<br />
Fernsehen ja schon lange kein (Tabu-)<br />
Thema mehr. Man mag vielleichl mit Schrekken<br />
zurückdenken an das nölige Weichei<br />
Steven Carrington, mit dem sich der Homosexuelle<br />
im US-Import »Denver Clan«<br />
erstm<strong>als</strong> ins deutsche Serienfernsehen<br />
geschlichen halle. Aber das ist schließlich<br />
schon etliche Jahre her. Bald darauf jedenfalls<br />
schien die Republik auch reif für ihre<br />
erste eigene Sei-fenoper (»Lindenstraße«)<br />
und hatte wenig später sogar ihren ersten<br />
eigenen Serienschwulen (»Garsten Flöter«).<br />
Und <strong>als</strong> RTL am n. Mai 1992, pünktlich<br />
um 19.40 Uhr dann endlich die guten Zeiten,<br />
schlechten Zeiten der Daily Soap einläutrtr<br />
und sich hernach auch ganz andere TV-Sender<br />
an den vorabendlichen Banalitäten versuchten,<br />
fanden <strong>als</strong>bald auch die werktäglichen<br />
Geschichtenerzähler Gefallen an der Homosexualität.<br />
Schließlich ist die »Verbotene Liebe«<br />
nicht nur für die gleichnamige ARD-Soap<br />
Programm. Weswegen das Genre schon bald<br />
seine eigenen Garsten Flöter im Repertoire<br />
hatte und (nachdem die einschlägigen Schwulitäten<br />
allmählich allerorten durchgenudelt,<br />
konsensfähig und ergo fad wurden) quasi in<br />
einem zweiten Coming-Out auch die lesbische<br />
Liebe für ihre Zwecke entdeckte. Zumal<br />
ja all die anderen Minoritäten (die Kranken<br />
und Ausländer, die Vergewaltigerund Vergewaltigten,<br />
die Reichen und Schönen usw.)<br />
ohnehin zum Inventar hiesiger Husch-husch-<br />
Serien gehören, die wissen, daß sich mit quotierten<br />
Minderheiten prima Quote machen<br />
läßt. Denn zu einem <strong>als</strong> »aufklärerisch« subsumierten<br />
Voyeurismus für alle, die's nicht<br />
anders kennen, gibt's den Identifikations-<br />
Trash, für jene, die es besser wissen, gratis.<br />
Die Diskussionsveranstaltung hingegen<br />
kostete 10 Mark. Dafür aber saßen auf dem<br />
Podium eine TV-Kritikerin (Barbara Sichtermann,<br />
Die Zeit), eine RTL-Lesbendarstellerin<br />
(Katy Karrenbauer, »Hinter Gittern«), eine<br />
Soap-Aulorin (Gabriele Kosack vom TV-Serien-<br />
Magnaten Crundy UFA), zwei Gesprächsleiterinnen<br />
(Sabine Zurmühl vom Journalistinnenbund;<br />
Susanne Kaiser vom »Bund lesbischer<br />
und schwuler Journalistinnen«) und<br />
mittendrin ein Hans W. Geißendörfer. Und<br />
während die Kritikerin das Lesbäschsein »in<br />
besonderer Weise beunruhigend« finden<br />
durfte und Moderalorin Zurmühl ihr mit »<br />
2)1999
3 FEUILLETON
FEUILLETON<br />
lunc-RvncI-Party<br />
(„S
FEUILLETON<br />
Im schwulen Museum können auch Männer<br />
immer wieder lesbische Künstlerinnen<br />
inspizieren, zur Zeit sind die i lollywood-<br />
Idole dran. Filmfrau Maria Schmitt hat gerade<br />
wieder eine ihrer berühmten Collagen<br />
da/u fertiggestellt. Das Verborgene Museum<br />
dagegen will oftm<strong>als</strong> schon vergessene<br />
Frauen des letzten Jahrhunderts zur Öffentlichkeit<br />
verhelfen und verbirgt darunter auch<br />
lesbische. Einmal jährlich sind die Werke der<br />
von der Frauenstiftung Goldrausch geförderten<br />
Künstlerinnen zu sehen, ansonsten muß frau<br />
die lesbischen Damen in den Cafes an der<br />
Wand hängen sehen. Ein Künstlerinnen-<br />
Salon, der Musik, Literatur, Malerei und<br />
Lebens- und Todeskünste verbindet, findet<br />
4 x jährlich bei Anita Meier in halbprivater<br />
Öffentlichkeit statt (Tel. O3O/ 261 55 90).<br />
Wer sich gerne Lichtspiele anschaut,<br />
kann in das auf schwullesbische Filme<br />
spezialisierte Kleinkino Xenon gehen oder<br />
montags im International die Mongay-Reihe<br />
im großen Saal genießen. Das Acud zeigt<br />
immer wieder stark besuchte Lesbenknaller<br />
wie letztens die weiblichen Ejakulationen.<br />
Frauen- und Lesbenfilme sind im Arsenal<br />
hervorgehoben, die Cine Sisters sowie die<br />
Blickpilotin bemühen sich seit Jahren,<br />
Frauen auf dieTeinwand zu holen.<br />
Haben Sie heute schon einen Film<br />
von einer Frau gesehen? Diese Frage kann<br />
während des jährlich im Herbst stattfindenden<br />
Lesbenfilmfestiv<strong>als</strong> garantiert positiv<br />
beantwortet werden. Das schwullesbische<br />
internationale Filmfestival Verzaubert zeigt<br />
ebenfalls Filme aus aller Welt.<br />
Um die Jahrtausendwende läßt sich ein<br />
trotziger Trend zum Zweitbuch verzeichnen,<br />
l.iteraturveranstaltungen genießen fullhousc<br />
wie das seit diesem Jahr in einer Kirche sich<br />
abspielende Lesbische Quartett beweist. Nach<br />
offiziellem viel trögeren Fernsehvorbild streiten<br />
drei Prominenzen und eine Gästin monatlich<br />
über fünf Bücher und sorgen für<br />
abendfüllende informative Unterhaltung.<br />
Die Idee geht auf die zwei lesbischslen Jungs<br />
dieser Stadt zurück, die den Buchladen<br />
Xronika führen und ihre Kundinnen aufs<br />
charmöseste betreuen. Die Buchhandlung<br />
AnaKoluth organisiert mit dem Lesbenarchiv<br />
Spinnboden zusammen Lesungen. Neuerscheinungen<br />
werden von Cornelia Saxe in<br />
ihrer Reihe Amazonen im EWA vorgestellt,<br />
und neuerdings hält sie im Sonntagsclub<br />
ihren Freitax-Salon mit diversen geladenen<br />
Gästinnen dieser Stadt ab. Etwas weniger<br />
deutschsprachig kommt Tindys Literatursalon<br />
Blue Velvet in der Schokofabrik daher<br />
und lehrt uns andere Sicht- und Hörweisen.<br />
Zum Drink bleibt frau in Kreuzberg gleich<br />
in der Schoko oder geht gern in die Cocktailbar<br />
im Bierhimmel, wo unter anderm Mittwochs<br />
charming Jonny mixt. Gleich nebenan im plüschigen<br />
Roses finden sich Anette Berrund<br />
andere Tunten hinter und vor der Bar. Montags<br />
geht lesbe ins Shambala in den Prenzlauer<br />
Berg, wo in dschungelartigen Räumen<br />
preiswerte exotische Drinks zu Hipper und<br />
Billiard geliefert werden.<br />
In Schöneberg ist das legendäre PE:<br />
Pour Elle periodisches Muß auch für Altberlinerirmen,<br />
wenn sie nicht in der Begine<br />
ihr Hetz- und Lachbedürfnis abdecken kann.<br />
In der Burg Charlottes geht frau nach der<br />
Arbeit zu Karin in dir klitzekleine Bar, um<br />
den Apcritiv zu schlürfen und kehrt oftm<strong>als</strong><br />
auch hierhin zurück, um sich die letzte<br />
Absackerin zu genehmigen. Letztes Jahr<br />
konnte frau noch gegenüber schnell ein<br />
Buch bei Lilith erstehen, die leider nach<br />
20 Jahren schließen mußten. Die Schatulle<br />
ist ein neues Do-So Angebot mit Tiger-Tapeten<br />
und das Stonewall tut im eher bürgerlich<br />
kargen Ambiente alles für das flüssige Wohl.<br />
Die beste Barschlampe Berlins bleibt allerdings<br />
die rote Dagmar vom Wassorturm.<br />
Im ehemaligen Die 2 kann frau beim Billiardspielen<br />
schon fast ausgestorbene Lesben-<br />
Spezies bestaunen und im Sommer inmitten<br />
der Schrebergärten im Grünen sitzen.<br />
Das Tanzbein schwingt frau gern auch<br />
im Standard, zu dem es diverse Abende in<br />
Btigine und Schoko gibt, aber auch in den<br />
Tanzschulen z.B. Walzerlinksgestrickt, die<br />
auch rauschende Damenbälle und Tangonächte<br />
veranstalten. Das auch bei Heteras<br />
se, ...' j Cafe Fatal im SOj6 lädt sonntags<br />
alle Geschlechter zum traditionellen Tanz<br />
ein und sorgt mit einem kleinen Variete für<br />
Unterhaltung. Das SOjß steht mittlerweile<br />
schon für sich selbst mit seinem queeren Programm<br />
und professionellen Gogo-Shows.<br />
Hier finden immer wieder die Jane-Bond-<br />
Parties statt und mittwochs sind Hungrige<br />
Herzen auch bei den schwulen Jungs am<br />
schlagen. Neu sind die ßingo-Nächte dienstags,<br />
die für großes Amüsement mit anschließender<br />
Disco sorgen. Die wirklichen<br />
MegalesbenParties finden aber an unterschiedlichen<br />
Orten statt, haben oftm<strong>als</strong> ein<br />
Motto wie z.B. Emma-Peel- und [ohn-Steed-<br />
Lookalikes. Lesben lassen sich hier gern<br />
begutachten und mit allen Augen ausziehen.<br />
Das Schiff der Frauen aus allen sexuellen<br />
Welten, MS Sanssouci schwimmt auf dem<br />
Wasser und ist im Sommer heißbegehrter<br />
dancefloor für alles, was sich weiblich gibt.<br />
Der ChitChat oder die Party MS Titanica finden<br />
hier statt und heißen Lesben und ihre<br />
ganze Familie willkommen, d.h. gentlemen<br />
welcome with ladies. Auch schön, mit diversen<br />
Musikrichtungen (Standard, Tango,<br />
I lousc Groove, Disco) zu verschiedenen<br />
Uhrzeiten.<br />
Die ausnehmlich auf Techno abfährt,<br />
begibt sich zur Zeit ins Schlegel und mischt<br />
sich unters gemischte Volk. Flotte Disco<br />
machen samstags auch das £WA und am<br />
Wochenende Die 2 am Wasserturn und vereinen<br />
in einzigartiger Weise jung und alt,<br />
ost und west, und sonstige scheinbare Geggensätze.<br />
Diven Attacks muß lesbe unregelmäßig<br />
über sich ergehen lassen, die sich bei<br />
guter Musik und Liveacls in der Kalkscheune<br />
abspielen, wo Chantöse Tanja Ries auch zu<br />
ihren speziellen Abenden lädt.<br />
Wenn Body Culture auf dem Muskel<br />
spielt und die gemeinhin schön schlanke<br />
Lesbe ihren Körper attraktiv geshapt und<br />
gestylt haben will, begibt sie sich in einen<br />
der Sportvereine, um jegliche Sportart unter<br />
sich zu betreiben. Seitenwechsel ist ausschließlich<br />
für Lesben, beim Vorspiel trifft frau<br />
sich mit den Jungs. Der Schokosport bietet<br />
auch für jede fast alles und frau kann danach<br />
im türkischen Bad Hamam entspännen.<br />
Selbstverteidigung trainiert frau in der<br />
Hauptstraße, trifft sich hinterher im Cafe<br />
Atemlos. Im Sommer gibt's Fahrradausflüge<br />
von der Cruising-Aera im Tiergarten aus.<br />
der Amazone. Ganzjährig montags gill in<br />
der Eso-Lutzow-Sauna der Partnerinnen-Tarif<br />
Die wirklich auch relaxen will, findet in der<br />
liebevoll gestalteten Sauna auch ein Schwimmbad<br />
zum Reintauchen und sich wohlfühen.<br />
Während die Regenbogenforellen zum Bahnen<br />
abreißen ihre Puste brauchen, läßt der Heart-<br />
Chor die Luft 3- bis 7-stimmig raus. Der Lesbenchor<br />
singt a capella und wird im Herbst<br />
neben dem Neuen Berliner Damenchor und<br />
anderen beim LO. bundesweiten Treffen der<br />
Frauen- und Lesbenchöre zu hören sein. »
FEUILLETON<br />
^1999
Fl-'UII.I F1ON<br />
Emma l'fd rechte Scitr: lauru Mtritt in ihrem Sexpertinnrnsulw<br />
'<br />
K
FEUILLETON<br />
2lr999 7.i
FEUILLETON 6<br />
Rund um den Körper, Stimmungen und<br />
Gefühle geht's auch bei Sexdusivitäten. Im<br />
ITC i tags-Dame n-Salon von Laura Meritt<br />
gesellt frau sich bei Cafe und Likörchen<br />
zum Tratsch über die letzten Affairen, den<br />
otnirnösen G-Punkt, die Funktionalität von<br />
Sextoys, Pornos oder das l.iebcslcben von<br />
Hillary. |e nach Begehren kann frau sich hier<br />
nicht nur einen Dildo besorgen, sondern<br />
auch noch die passende Frau dazu, zum<br />
Unkosten preis von 150 DM). »Sehnsucht<br />
nach Berührung« haben viele Frauen und<br />
im Darkroom des Sonntug... und danach in die Btgine«, wirbt diese<br />
ihre weiblichen Gästinnen, l her kann frau<br />
seit der Neubewirtschaft auch lecker essen<br />
und seit neuestem eine Romanze bei einem<br />
»Candlelight-Dinner« verführen. Im ersten<br />
vegetarischen und ehem<strong>als</strong> auch von Lesben<br />
betriebenen Restaurant Caß V. ist das etwas<br />
preiswerterrnöglich. Der Laden ist jetzt in<br />
türkischer I;amilienhand, die sich ihrer lesbischen<br />
Kundschaft auf das reizendste mit<br />
grüßen Portionen annehmen. Im Lotus ißt<br />
frau mexikanisch und kann sich schon im<br />
l rühjahr ein windstilles Sonnenplätzchen<br />
auf dem Marheinekeplatz für den i. Outdoor-<br />
Milchkaffe sichern. Fein dinnieren mit der<br />
Geliebten oder auch den Fltern ist irn Bluf<br />
Cönt in der Weiberwirtschafl angesagt. In<br />
einer lockeren Atmosphäre tragen die beiden<br />
Chefinnen und ihre ansprechenden Mitarbeiterinnen<br />
ganz ohne Schurzchen ihre<br />
delikaten Speisen, vegetarisch und Fisch<br />
sowie Neulandfleisch auf. Frühstücken läfst<br />
sich freitags im Frieda, am Wochenende im<br />
l-'nmtnhotfl Artftnisia und immer am letzten<br />
Sonntag ab 12 in der AHA, aber auch im Rat<br />
und Tal (RuT), wo sich die sogenannten ältelen<br />
Damen ein Stelldichein geben.<br />
Ausgezeichnetes Essen mit Rahmenprogramm<br />
bietet auch Mahides KKVVan.<br />
Sie kann nicht nur selbst ökologisch, auf<br />
Wunsch auch sehr preiswert Menüs zusammenstellen<br />
und Verpflegung für Veranslallungen<br />
organisieren. Ist beispielsweise eine<br />
afrikanische Küche gewünscht, managt sie<br />
gleich die afrikanischen Köchinnen und<br />
sonstige Personen dazu.<br />
Erholung in der Nacht findet frau im<br />
Frauenhotel Artemisia und im neu eröffneten<br />
Intermezzo. Im erateren sind die Zimmer<br />
nach berühmten Frauen gestaltet,<br />
immer wieder Ausstellungen zu beäugen<br />
und im Sonrner auf einer wunderschönen<br />
Dachterrasse ein Drink und die Aussicht<br />
zu genießen.<br />
KULTUR<br />
Bar jeder Vernunft, Schaperstr. 24, Tel. 248 83 15 82<br />
Grüner Salon, Rosa-Luxemburg Platz, Tel. 472 36 87<br />
BKA, Mehringdamm 34<br />
Begine, Potsdamer Str. 139, Tel. 215 43 25<br />
Schoko. Marianrtenstr. 6, Tel. 615 15 61<br />
Verborgenes Museum, Schlüterstr. yo.Tel. 313 36 56<br />
Schwules Museum, Mehringdamm 61, Tel. 693 11 72<br />
Kino Xenon, Kolonnenstr. 5-6, Tel. 782 88 50<br />
Blickpilotin, Ritterstr. n, Tel. 615 92 71<br />
Buchh. Chronika, Bergmannstr. 26, Tel. 693 42 69<br />
AnaKoluth, K.-Liebknechts Str. 13, Tel. 247 269 03<br />
Spinnboden, Anktamer Str. 38, Tel. 448 58 48<br />
EWA, Prenzlauer Allee 6, Tel. 442 55 42<br />
Sonntagsclub, Greifenhagener Str. 28, Tel. 449 7590<br />
ESSEN UNDTRINKEN<br />
AHA, Mehringdamm 57, Tel. 692 36 oo<br />
RuT, Schillerpromenade i, Tel. 621 47<br />
Shambala, Greifenhagener Str. 12, Tel. 447 62 26<br />
Roses, Oranienstr. 187, Tel. 615 65 79<br />
Pour Elle, Kalckreuthstr. 10, Tel. 218 75 33<br />
Cafe V, Lausitzer Platz 12, Tel. 612 45 05<br />
Locus, Marheinekeplatz 4, Tel. 691 56 37<br />
Blue Göut, Anklamer Str. 38, Tel. 448 58 40<br />
Frieda,Proskauer Str. 7, Tel. 422 42 76<br />
Schatulle, Fasanenstr. 40<br />
Die 2, Spandauer Damm 168, Tel. 302 52 60<br />
TANZEN<br />
Begine, Schokofabrik<br />
Cafe Fatal im SO 36, Oranienstr. 190<br />
MS Sanssouci, Göbenufer, T 611 12 55<br />
Walzerlinksgestrickt, Am Tempelhfer Berg 7,<br />
EWA, Die 2<br />
BODYCULTURE<br />
Seitenwechsel, Kulmer Str. 203, Tel. 215 90 oo<br />
Bad Hamam. Mariannenstr., Tel. 615 14 64<br />
Eso-Lützow-Sauna, Lützowstraße<br />
Sexclusivitäten, Fürbringerstr. 2, Tel. 693 66 66<br />
SCHLAFEN<br />
Hotel Artemesia, Brandenburgische Str. 18, Tel. 873 89 05<br />
Hotel Intermezzo, An der Kolonnade 14, Tel. 22 48 90 96<br />
Wer jetzt noth darüber klagt, dafs sie zu<br />
wenig jungen Mannsweiber, alten Lesben,<br />
behinderten Mädels, schwarzern Frauentheater,<br />
Komikcrinnen, Asiatinnen und<br />
linkshändige Türkinnen begegnet, der sei<br />
getrost versichert: sie existieren. Es ist nur<br />
eine Frage von gewußt wo! It's a wonderfull<br />
queer world. Und Berlin hat da so einiges<br />
zu bieten!<br />
und andere örtfichkeiten<br />
können jeden Freitagabend<br />
mit Compania<br />
aufgesucht werden<br />
Tel. 443 587 04<br />
1
Ana<br />
KOLUTH<br />
Buchhandlung<br />
BÜCHERTIPS<br />
Karl-Liebfcnecht-Str. 13,<br />
10178 Berlin<br />
Fön: 050 / 247 269 03<br />
Fax. 030 7 Z47 269 04<br />
Hauptsache<br />
weit weg<br />
»Hauptsache weit weg<br />
Die Faszination exotischer Länder, der<br />
Reiz des Abenteuers, die Möglichkeit, aus<br />
Zwängen des gesellschaftlichen und häuslichen<br />
Lebens aufzubrechen waren und<br />
sind Gründe für Frauen zum Aufbruch in<br />
die Ferne zu anderen Kulturen. Susanne<br />
Aeckerle stellt n Frauen aus drei Jahrhunderten<br />
vor, die über längere Zeiträume in<br />
der Wüste, am Polarkreis, im Dschungel<br />
lebten, liebten, arbeiteten, forschten: Daisy<br />
Bates bei den Aborigines, Diane Fossey bei<br />
den Gorillas in Ruanda, Sophie Caratini<br />
bei den Nomaden in Mauretanien, Carmen<br />
Rohrbach bei den Indios in Ecuador, Christiane<br />
Ritter auf Spitzbergen.<br />
Go and fly away!<br />
Piper Verlag 16.90 DM<br />
»Women's Links<br />
Das kommentierte Internet-<br />
Adressbuch 2000«<br />
Wie findet frau im Internetdschungcl die<br />
frauenspezifischen Homepages? Welche<br />
Datenbanken sind für sie interessant? Wo<br />
kann sie Frauenbücher bestellen? Wie funktioniert<br />
die Chat-Kommunikation? Women's<br />
Links gibt Benutzerinnen das Basiswissen<br />
zum Umgang mit dem Internet: Informationen<br />
zu Server, eMail, Webseiten, Suchmaschinen,<br />
Internet Relay Chat. Im thematisch<br />
zusammengefaßten Adressteil mit<br />
über 1000 internationale Sites kann sich<br />
frau auf die für sie relevanten Webadressen<br />
zurückgreifen: Kunst, Kultur, Gesundheit.<br />
Frauenforschung, Lesben, Reisen, Bibliotheken,<br />
Job-Datenbanken, Zeitschriften ...<br />
Annemarie Schwarzenbach:<br />
»Das Leben zerfetzt sich mir<br />
in tausend Stücke«<br />
Areli Georgadou erzählt die Lebensgeschichte<br />
dieser ungewöhnlichen, intelligenten,<br />
hochbegabten und attraktiven<br />
Schweizerin, einer rastlosen Frau, die<br />
gerne unterwegs und auf Reisen war.<br />
Die enge Freundin von Erika und Klaus<br />
Mann, die in das wilde Berliner Nachtleben<br />
der Zwanziger Jahre eintauchte,<br />
immer auf der Flucht vor der dominanten<br />
Mutter, kannte die verführerischen<br />
Momente des Morphiums ebenso wie<br />
die Qualen des Entzuges. Bereits im<br />
Alter von 34 Jahren stirbt sie an den<br />
Folgen eines tragischen Unfalls.<br />
Wiederentdeckt und neuaufgelegt<br />
wurde die Autorin von dem Schweizer<br />
Lenos-Verlag:<br />
Annemarie Schwarzenbach:<br />
»Wie lange hause ich schon<br />
an den äußeren Flüssen des Paradieses?«<br />
Limitierte Auflage! Lenos Verlag 29.00 DM<br />
Susanne Meyer, Orlanda Frauenverlag<br />
ohne CD-Rom 24.80 DM<br />
mit CD-Rom 44.00 DM<br />
2)1999 75
GtSUNDHEIT<br />
Urin<br />
ir aju_er<br />
Murfae<br />
von Manfred Kriener<br />
Ein Schlückchen Natursekt gefällig?<br />
300 Heifbehandler in Deutschland<br />
verordnen ihren Patienten regelmäßig<br />
Urintherapient die Journalistin<br />
Carmen Thomas brach ein<br />
Tabu und schrieb über die Kraft<br />
im eigenen Saft. Ihre Gebrauchsanweisung<br />
wurde ein Renner,<br />
27 Bücher sind seitdem in sechs<br />
Jahren zum Thema erschienen -<br />
mit Millionenauflage. Und im Mai<br />
tagte der 2. Welt-Urin- Kongreß in<br />
Deutschland. Hohe Zeit* sich den<br />
»himmlischen Nektar« aus der<br />
körpereigenen Apotheke genauer<br />
anzusehen.<br />
lilli K. aus Feusdorf-[ünkerath tut es,<br />
Quique Palladino aus New York tut es, und<br />
Volker Moritz aus Bielefeld tut es. Auch der<br />
frühere indische Ministerpräsident Morarji<br />
Dcsai und die Schauspielerin Sarall Miles<br />
tun es. Sie alle fangen nach dem Aufstehen<br />
den Mittelstrahl ihres ersten Urins auf und<br />
trinken, »guten Morgen!«, furchtlos ein Tässchen<br />
auf nüchternen Magen. Oder sie nehmen<br />
es <strong>als</strong> Gesichtswasser, träufeln es in<br />
entzündete Augen und Ohren, ziehen es<br />
durch die Nase, sie gurgeln und massieren,<br />
klistieren, tupfen und legen vom goldenen<br />
Strahl getränkte Kompressen auf. Urintherapie:<br />
Das Pipi <strong>als</strong> Medizin.<br />
Wer seine emotionale1 Abwehr gegen ein<br />
Ausscheidungsprodukt noch nicht überwunden<br />
hat, fängt mit äußeren Anwendungen an<br />
und trinkt zur Unterstützung nur ein paar<br />
Tröpfchen, in Fruchtsaft aufgelöst oder mit<br />
Honig gemildert. Allmählich steigt dann die<br />
Dosis und irgendwann passiert es: Der erste<br />
Schluck aus der »körpereigenen Apotheke«<br />
rinnt den H<strong>als</strong> hinunter.<br />
Wie sich das berühmte erste Mal anfühlt,<br />
hat uns Frauke Liebermann {--"} eindrücklich<br />
geschildert. Die Patientin eines Berliner<br />
Heilpraktikers leidet seit Jahren an chronischen<br />
Verdauungsbeschwerden und wollte<br />
es mal probieren. »Ich habe das Glas immer<br />
wieder in die Hand genommen und überlegt.<br />
Dann habe ich den Urin gegen meine Lippen<br />
laufen lassen, ohne zu trinken, bis ich mit<br />
geschlossenen Augen einen kleinen Schluck<br />
genommen habe.« »Salzig« habe es geschmeckt<br />
und »sehr warm«. Andere Trinker<br />
fühlten sich an Meerwasser oder eine kräftige<br />
Bouillon erinnert.<br />
»Hustensäfte schmecken erheblich<br />
scheußlicher«, sagt der Arzt und Harnspezialist<br />
Johann Abele. Er empfiehlt eine<br />
andere Methode zur Annäherung: Zuerst<br />
den Urin über die Fingerspitzen laufen lassen,<br />
ein bißchen einmassieren, ein wenig<br />
dran rumlecken, dann mit einem kleinen<br />
Schluck den Mund ausspülen, wieder ausspucken<br />
und später »einen Fingerhut voll«,<br />
mit einigen Tropfen Zitronensaft aromatisiert,<br />
hinunterschlucken. Irgendwann, glaubt<br />
Abele, schafft man einen ganzen »Whisky«,<br />
vielleicht sogar einen doppelten.<br />
Die Gebrauchsanweisung findet sich in<br />
Abeles Buch »Eigenharnbehandlung«, einer<br />
von vielen einschlägigen Ratgebern, die seit<br />
dem Schicks<strong>als</strong>jahr 1993 erschienen sind. In<br />
jenem Jahr schrill die Kölner Journalistin<br />
Carmen Thomas tabubrechend voran und<br />
veröffentlichte ihr erstes Urinbuch: »Ein<br />
ganz besonderer Saft«. Mehrere Verlage hatten<br />
das Manuskript dankend abgelehnt, bis<br />
die Kölner Verlagsgesellschaft VGS das richtige<br />
Naschen hatte. Ergebnis: Das Buch wurde<br />
bis heute in 38 Auflagen mehr <strong>als</strong> eine Million<br />
mal verkauft. Es ist das erfolgreichste<br />
Sachbuch der Bundesrepublik Deutschland<br />
nach dem 2. Weltkrieg. Nur Telefon- und<br />
Postlcitzahlbücher gehen besser. Carmen<br />
Thomas hat die Deutschen aufs Töpfchen<br />
geschickt und damit alle Rekorde gebrochen.<br />
Und dies, obwohl die meisten großen<br />
Zeitungen jede Besprechung des Pinkel-<br />
Bandes ablehnten.<br />
Die Autorin löste ein Beben aus, das mit<br />
keuchenden Postboten und einer Flut von<br />
mehr <strong>als</strong> zehntausend Leserzuschriften von<br />
den Philippinen bis Castrop-Rauxel begann.<br />
Inzwischen sind 27 Bücher zum Thema im<br />
deutschsprachigen Raum erschienen, in<br />
Indien fand eine erste Welt-Urin-Konferenz<br />
statt, und in Deutschland wirbt das 1996<br />
gegründete »Institut für Eigenharnbehandlung«<br />
(IfE) zeitgemäß im Internet für den<br />
»göttlichen Nektar«. Vorläufiger Höhepunkt:<br />
Im Mai dieses Jahres werden sich Urtntherapeuten<br />
aus aller Welt im hessischen Gersfeld<br />
zur zweiten Weltkonferenz treffen.<br />
Auf mehr <strong>als</strong> 300 ist nach Auskunft des IfE<br />
das Kontingent der Naturheilkundler angewachsen,<br />
die in der Bundesrepublik ihren<br />
Patienten regelmäßig Urinkuren verordnen.<br />
Andreas Krüger, Leiter einer großen Heilpraktikerschule<br />
in Berlin, empfiehlt allen<br />
Rt'handlern »das, was unten rauskommt« <strong>als</strong><br />
sanfte, preiswerte und uralte Therapiemethode<br />
gezielt einzusetzen. Und weil Krügt-r<br />
von Patienten und Schülern nicht mehr verlangen<br />
will, <strong>als</strong> er selbst zu leisten vermag,<br />
hat er den Kelch nicht ungeleert vorübergehen<br />
lassen und sich angelegentlich schon<br />
mal ein halbes Gläschen gegönnt. Das Problem<br />
ist für ihn nicht die Wirksamkeit der<br />
Methode, sondern der Ekel seiner kranken<br />
Kundschaft. Nur »robuste Patienten«, sagt<br />
Krüger, akzeptieren die Urinverordnung<br />
ohne zu meckern. Der normale Charlottenburger<br />
Bildungsbürger, der in seine Praxis<br />
komme, sei dagegen in der Regel »ein<br />
bißchen pikiert«.<br />
2JI999
GESUNDHEIT<br />
Doch entscheidend sind für Krüger die<br />
therapeutischen Ergebnisse. Vor allem bei<br />
Pilzerkrankungen und Allergien habe er gute<br />
Erfolge. Nicht immer müssen die Kranken<br />
ihre Ausscheidung trinken. Bei Asthma und<br />
Heuschnupfen spritzt Krüger intramuskulär<br />
eine Ideine Dosis sterilen Eigenurin und<br />
erzielt damit »erstaunliche Besserungen«.<br />
Gute Erfahrungen habe er auch bei Ekzemen<br />
und H<strong>als</strong>entzündungen gemacht, die er mit<br />
Urin betupfen oder ausspülen läßt.<br />
Während Krüger das Einsatzfeld des<br />
Goldwassers deutlich absteckt, kennen die<br />
einschlägige.'!! Buchautoren keine Grenzen.<br />
Ob Husten oder Haarausfall, Ischias oder<br />
Impoten/, Typhus oder Tinnitus, der Urin<br />
soll alle Gebrechen lindern. 161 Krankheiten<br />
listet der VGS-Ratgeber »Urin-Therapie von<br />
A bis Z« auf, gegen die der Nektar Genesung<br />
bieten soll. Selbst bei Geisteskrankheiten,<br />
Aids und Krebs werden Urinanwendungen<br />
empfohlen. Mehr noch: Die Anwender<br />
berichten von spektakulären Heilungen.<br />
Aids-Patient Palladmo schildert in dem Buch<br />
»Die goldene Fontäne« des Niederländers<br />
Coen van der Kroon wie seine nekrotischcn<br />
Hautpartien, seine Geschwüre und Erkältungen<br />
verschwanden. Die krebskranke Martha<br />
Christy hat ihre Geschichte ins Internet<br />
gestellt. Mit dem Einsatz der Urintherapie<br />
sei sie nach 30 Jahren ununterbrochener<br />
Krankheit von Tumoren und Menstruationskrämpfen<br />
geheilt worden. Ihr Credo: »Unser<br />
eigener Körper produziert eines der wirksamsten<br />
Naturheilmittel der Menschheit«.<br />
Solche Wunder sind mit großer Skepsis<br />
zu betrachten. »Anekdotisch« nennt die Wissenschalt<br />
Berichte unerklärlicher Genesungen,<br />
die sich um viele Heilverfahren ranken.<br />
Egal ob Geistheiler, Krankheitsbesprecher,<br />
Pendler oder Bach bluten therapeuten: Sie<br />
alle reklamieren für sich, daß sie Menschen<br />
zurückgeholt haben, bei denen Bruder Huin<br />
schon auf der Bettkante saß und fidelte.<br />
Doch seriöse wissenschaftliche Belege fehlen.<br />
Das heißt nicht, daß die Krankengeschichten<br />
frei erfunden wären. In der Regel<br />
sind die Patienlen tatsächlich gesund geworden.<br />
Nur: Niemand weiß warum. Gerade bei<br />
Krebs ist das Phänomen der »Spontanremission«,<br />
der plötzlichen Rückbildung der<br />
Symptome, in Einzelfällen immer wieder<br />
beobachtet worden. Bei einem von 60.000<br />
Fällen verschwinden plötzlich die Tumore,<br />
manchmal in wenigen Tagen. Erst seit den<br />
letzten |ahren wird dieses Phänomen genaueruntersucht.<br />
Viele Patienten glauben,<br />
den Schlüssel für die Krebsbekämpfung<br />
gefunden zu haben, weil sie vor der Remission<br />
sehr viel Joghurt aßen, regelmäßig im<br />
Wald spazieren gingen oder eine Musiktherapie<br />
begannen. Oder eben ihren Urin tranken.<br />
Doch die tatsächliche Ursache der Heilung<br />
bleibt im Dunkeln. Solch unerklärliche Spontanheilungen<br />
werden von vielen Krankheiten<br />
immer wieder berichtet.<br />
Daß Urin eine medizinisch wirksame<br />
Substanz ist, muß allerdings nicht mehr<br />
bewiesen werden. Dafür sprechen ungezählte<br />
Patientenberichte und historische<br />
Belege in den Gesundheitsfibeln aus vielen<br />
Jahrhunderten. Die in spirituellen Kontexten<br />
gerne <strong>als</strong> »Brunnen der Gnade« bezeichnete<br />
Ausscheidung enthält eine Fülle pharmakologisch<br />
interessanter Stoffe wie Mineralien,<br />
Vitamine, Salze, Hormone und Enzyme, aber<br />
auch Antikörper. Nicht nur Naturheilkundler<br />
und ihre Patienten, auch die Pharmaindustrie<br />
sammelt Urin, um daraus Arzneien zu gewinnen.<br />
Der bekannteste und arn besten erforschte<br />
Bestandteil ist Harnstoff (Urea), das<br />
Endpodukl unseres EiweiKsloflwechsels. Seit<br />
mehr <strong>als</strong> 30 Jahren werden Harnstoffzubereitungen<br />
von Hautärzten und Kosmetikern<br />
eingesetzt. Harnstoff gilt <strong>als</strong> Weichmacher,<br />
er erhöht die Wasserbindungsfähigkeit der<br />
Hautzellen, die geschmeidiger und belastbarer<br />
werden. Er lockert die Hornschicht der<br />
Haut und »entschuppt« sie. Harnstoff<br />
verlängert zudem die Lebensdauer der<br />
fipidermiszellen, bremst im Laborversuch<br />
gleichzeitig das Teilungsvermögen von Zellkulturen.<br />
Er stillt den Juckreiz und ist dabei,<br />
wie Doppelblindversuche ergaben, sogar<br />
wirksamer <strong>als</strong> eine 0,5 prozentig dosierte<br />
Kortisonlösung. Besonders wichtig ist seine<br />
»penetrationsfördernde« Eigenschaft: Harnstoffschwächt<br />
die Hornschichtbarriere der<br />
Haut und sorgt dafür, daß andere Arzneimittel<br />
besser durchkommen. Damit hat er <strong>als</strong><br />
Verstärker eine wichtige Funktion in medizinischen<br />
Kombinationspräparaten. Als körpereigene<br />
Substanz wird Harnstoff auch von<br />
Allergikern gut vertragen.<br />
HarnstoiThaltige Cremes und Salben<br />
gehören zum Standardrepertoire der Hautpflege.<br />
Sie glätten die menschliche Hülle,<br />
verbessern Hautfeuchte und Hautrelief, sie<br />
entfernen Warzen und heilen Exzeme. Sie<br />
helfen bei juckenden Entzündungen und<br />
Allergien, bei Schuppenflech.tr, Akne und<br />
Filzbefall. Bei diesen Erkrankungen können<br />
Massagen und Wickel mit Urin, der etwa vier<br />
Prozent Harnstoff enthält, <strong>als</strong>o durchaus<br />
wirksam sein. Aber: »Wir haben doch wunderbar<br />
preiswerte Medikamente mit Harnstoff«,<br />
sagt der Berliner Urologe Prof. Lothar<br />
Weifsbach, der deshalb das Einreihen oder<br />
gar Trinken einer »mit Schlacken und<br />
Abbauprodukten beladenen Körperausscheidung«<br />
einfach nur »fürchterlich« findet.<br />
Für Weißbach ist die Urintherapie ein<br />
Mythos und Aberglaube, der vor allem in<br />
Deutschland, dem »Land der Sagen und<br />
Mythen« auf fruchtbares Terrain stoße. Dieser<br />
Mythos sei nicht einmal ungefährlich.<br />
Bei Harnwegsinfektionen und Niercnbeckenentzündungen<br />
enthalte der Urin<br />
»Keime in hoher Zahl«. Immer wieder hätten<br />
seine Patienten trübe und stinkende Ausscheidungen.<br />
Warum, so fragen sich der<br />
Urologe und viele seiner Kollegen, trinken<br />
gebildete Mitteleuropäer, die sich jahrelang<br />
nach dem Gang aufs Klo stundenlang die<br />
Hände wuschen, plötzlich ihr eigenes Pipi?<br />
Die Verfechter der Urintherapie lassen<br />
die Hinweise auf ästhetisch und hygienisch<br />
unbedenklichere harnstoffhaltige Medikamente<br />
an ihrer ganzheillichen Sichtweise<br />
abprallen. Für sie ist Urin mehr <strong>als</strong> die<br />
Summe einzelner Bestandteile. F,rst Gesamtheit<br />
und Zusammenspiel aller Inhaltsstoffe<br />
mache ihn zur einmaligen Arznei. Sein<br />
Wirkprinzip wird indes von Anwendern und<br />
Autoren höchst unterschiedlich beschrieben.<br />
Am plausibelsten erscheint die Impfstoff-<br />
Theorie: Die im Kranlcheitsprozeß ausgeschiedenen<br />
Substanzen würden dem Körper<br />
durch Trinken oder Einreiben in kleinen<br />
Mengen zurückgegeben. Dadurch werde das<br />
Abwehrsystem des Körpers angeregt. Ryoichi<br />
Nakao, Chairman der i. Weltkonferenz,<br />
vertritt die »Informationshypothese«: Urin<br />
sei eine exakte Informationsquelle und<br />
dokumentiere den jeweiligen Zustand des<br />
Körpers. Die Inhaltsstoffe übermittelten dem<br />
Körper Signale, welche die Selbstheilungskräfle<br />
aktivieren.<br />
Häufig wird die Urinwirkung aber auch<br />
ideologisch umwölkt, es werden vegetarische<br />
Ernährung und Fastenwochen, homöopathische<br />
Kuren und Meditationssitzungen gleich<br />
mit empfohlen. Auch die Ausrichtung nach<br />
Osten bei der morgendlichen Gewinnung<br />
der Arznei gehört in manchen Anleitungen<br />
zum verquasten Theorieinventar. In Veröffentlichungen<br />
des IfE wird die Niere <strong>als</strong> Sitz<br />
der menschlichen »Urenergie« verortet, die<br />
ein entsprechend energiegeladenes Rinnsal<br />
absondere. Zu den Absurditäten gehört auch<br />
ein vom englischen Autor John W. Armstrong<br />
geschilderter Bauer, der seine Gesundheit bis<br />
ins hohe Alter dem täglichen Trunk von zwei<br />
Litern (!) Rinderharn zu verdanken habe.<br />
2I
M o n i-<br />
Solcherart Hokuspokus ist dem Wissenschaftler<br />
Uwe l lohohm ein Graus. Der Zellbiologe<br />
und ßioinformatiker versucht, die<br />
Wirkung des Urins auf der immunologischen<br />
Ebene rein rational zu erklären, denn<br />
»es geht hier nicht um eine Zauberflüssigkeit«.<br />
Durch das Trinken der Ausscheidung<br />
würden »dem Körper vorhandene Antigene<br />
über den Magen ein zweites Mal präsentiert,<br />
und das kann eine lmmunstimulation auslösen«.<br />
Beeindruckt von den Fallberichten in<br />
Carmen Thomas' Buch begann er vor drei<br />
Jahren Fragebögen an Patienten und Rehandler<br />
zu schicken und Erfahrungsberichte zu<br />
sammeln. Obwohl er viele Zusendungen <strong>als</strong><br />
»nicht glaubhaft« aussortieren mußte, ist er<br />
von den Behandlungserfolgen verblüfft. »Die<br />
Leute wenden Urin bei allen möglichen Infekten<br />
und Leiden an, und es gibt tatsächlich<br />
einige erstaunliche Erfolge." Nach seiner vorläufigen<br />
Auswertung wirkt Eigenurin sehr gut<br />
bei Darinpilzen, Neuroderrnitits, Heuschnupfen<br />
und anderen Allergien, l lobohrn ist sicher,<br />
daß sich das möglicherweise vorhandene Heilpotential<br />
im Tierversuch leicht untersuchen<br />
ließe. Doch welcher seriöse Wissenschaftler<br />
will schon mit »Natursekt« experimentieren?<br />
l lobohm: »Da will sich keiner den Ruf ruinieren«.<br />
Sollte sich das Heilpotential bestätigen.<br />
dann, so glaubt der Biologe, könnte man den<br />
Urin zeitgemäß und hygienisch aufbereiten,<br />
von Ammoniak und gelbem Farbstoff befreien<br />
und so die Ekelsclmelle senken.<br />
31-53<br />
4JL»<br />
c<br />
-L 4-x -L vx v?<br />
Pftra<br />
Wdze.l<br />
Nicht wenige Urinanhänger würden dies<br />
vermutlich <strong>als</strong> Verfremdung und Zerstörung<br />
begreifen. Für sie ist die Urintherapie auch<br />
ein Stück Entdeckung des eigenen Körpers,<br />
die Rückkehr zum Einfachen, Natürlichen<br />
und Unverfälschten. Gegenüber der Hochleistungs-<br />
und Apparatemedizin, gegenüber<br />
Betablockern und monoklonalen Antikörpern<br />
erscheint das eigene güldene Rinnsal<br />
vertraut und milde und individuell /ugeschnitten<br />
wie kein anderes Medikament. So<br />
findet die Irritation über die ungeheuer erfolgreiche,<br />
aber auch <strong>als</strong> bedrohlich und anonym<br />
empfundene moderne technologische Medizin<br />
ihren Ausdruck in der Begeisterung<br />
für den Schluck aus der körpereigenen<br />
Apotheke. Mag der Ekel noch so groß sein.<br />
* Name von der Redaktion geändert, alle andeirn<br />
Nattit-n sind autktntii>th.<br />
Ungefähr die Hälfte des Hintergrundes<br />
belegt ein schneeweißes Tuch, die andere<br />
Hälfte ein saftiger Rasen mit vereinzelten<br />
Sonnensprenkseln. Das Tischtuch ist gedeckt.<br />
Mit Äpfeln und violetten und grünen Weintrauben<br />
auf weißen Tellern, drei bernsteinmarmorierten<br />
Plastikkaffeetassen, Besteck,<br />
einem Edelstahlflachmann im gelben Lederetui,<br />
einer silbernen, aufgeschlagenen und<br />
spiegelnden Dose mit einem Baguette darauf<br />
und einem kleinen Strauß gerade gepflückter<br />
Kleeblümchen. Wo nichts steht, bauscht das<br />
kräftige Gras das Tuch. Stimmung überall,<br />
die Musik aus dem alten Grammophon am<br />
rechten oberen Bildrand glaubt man beinahe,<br />
hören zu können.<br />
Auf diesem Bild gibt es aber auch noch<br />
zwei Frauen, lasziv gelagert zum Teil auf dem<br />
weißen Tuch und zum Teil auf der grünen<br />
Wiese. Aufgestützt auf ihrem Ellenbogen,<br />
beschäftigt sich die mit den in den Spitzen<br />
gelockten kurzen, blonden Haaren, dem<br />
weißen Spitzentop und der schwarzen Seidenhose<br />
mit der Frau mit den brünetten Haaren<br />
im goldenen, mit großen Blumen applizierten<br />
Maxitträgerkleid, die rücklings liegend<br />
den Kopfdirekl im Schofs der anderen gebettet<br />
hat. »Picknick, Long Island« nennt Ellen<br />
von Unwerth ihre Fotografie, tatsächlich ist<br />
es aber eine weitere Variante auf F.duard<br />
Manets »Frühstück im Grünen«, das seit<br />
seiner öffentlichen Präsentation im 19. Jahrhundert<br />
Generationen von Malern und Fotografen<br />
zu den unterschiedlichsten Interpretationen<br />
herausgefordert hat. Bis heute.<br />
Ellen von Unwerth, seit Mitte der 8oer<br />
Jahre so etwas wie ein Shootingstar der Modefotografie,<br />
nachdem sie nach 10 Jahren erfolgreicher<br />
Modelkarriere die Seite der Kameralinse<br />
gewechselt hatte, wird gerne <strong>als</strong> die Fotografin<br />
mit dem »weiblichen Blick« gehandelt.<br />
Selbst der Spifgrl, dem man in Sachen Mode.<br />
Fotografie und einem Blick für diese Dinge<br />
nicht gerade viel zutraut, /eigte anhing letzten<br />
Jahres ein Bild von Ellen von Unwerth mit der<br />
Unterzeile »Frauen-Blick«. Als Pendant mußte<br />
mit dem »Männer-Blick« Helmut Newton herhalten.<br />
Betrachtet man noch einmal Ellen von<br />
Unwerths »Picknick«, müßte man allerdings<br />
konsequenterweise vom »feministischen<br />
Blick« sprechen. Denn sind beim Impressionisten<br />
Manet die Rollen noch auf zwei an-<br />
/|1999
MODH<br />
gezogene Männer und eine nackte Frau im<br />
Vordergrund verleih, sind sie es bei der Fotografin<br />
auf zwei elegant gekleidete Frauen,<br />
deren männliches Objekt der Begierde auf<br />
ein steifes, langes Weißbrot reduziert ist,<br />
das die Blonde der Brünetten genüßlich zwischen<br />
die bordeauxroten Lippen schiebt.<br />
Dem neuen Fotoband von Ellen von<br />
Unwerlh mit dem Titel »Couples« (Paare),<br />
in dem sich auch das »Picknick« befindet,<br />
ist nicht zu entnehmen, ob es sich dabei<br />
um eine Auftrags arbeit fiir eines der großen<br />
Mode-magazine wie Vogue, für die die Fotografin<br />
arbeitet, handelt. Das Buch ist 352 Seiten<br />
dick, kameraschwer und glänzt abgesehen<br />
von einem kurzen Vorwort und einer noch<br />
kürzeren Danksagung mit nichts <strong>als</strong> Bildern<br />
von Paaren. Die könnten unterschiedlich aber<br />
kaum sein. Die einen sind schwarzweiß, wirken<br />
fast wie Filtnstills aus Stummfilmzeiten,<br />
die anderen sind farbig, schrill und grell. Da<br />
ist die junge Frau im Rüschenrock, die wie<br />
auf einem Rokokogemälde von Antoine Watteau<br />
ins Objektiv schaukelt. Oder das kopflose<br />
Götterpaar von Delos, zwei Säulenheilige der<br />
griechischen Klassik. Aber da ist auch die<br />
Frau aus Jaisalmer, deren Kind an ihrer entblößten<br />
Brust nuckelt, sind die beiden kleinen<br />
Mädchen mit eisblauen Zungen, der<br />
Liliputaner und der Junge am Strand mit<br />
Stock, Charme und Melonen, <strong>als</strong> kämen sie<br />
aus einer anderen Zeit Manchmal sieht man<br />
nur zwei Hunde, einmal einen alten Mann<br />
und seinen mickrigen Fisch: Paare eben.<br />
Als Waisenkind in Bayern aufgewachsen,<br />
lebt Ellen von Unwerth heute mit ihrer Tochter<br />
und ihrem Freund in New York. Antisemitismus<br />
harte man ihr 1993 vorgeworfen,<br />
<strong>als</strong> sie für die Vogue die neue Kollektion von<br />
Jean-Paul Gaultier im jüdischen Vierlel von<br />
Brooklyn fotografierte. Ihren Modellen setzte<br />
sie dam<strong>als</strong> die traditionellen männlichen<br />
Kopfbedeckungen der [uden, die Kipa und<br />
die Fellmütze, auf. Auch Schläfenlocken trugen<br />
sie und manche rauchten Zigarren. Peinlich<br />
berührt und erregt waren die gläubigen<br />
Chassidim des Quartiers, vom Antisemitismus<br />
unter dem Deckmantel der Mode war<br />
die Rede. Ellen von Unwerth reagierte mit<br />
Unverständnis: »Das sind doch keine chassidischen<br />
Frauen, sondern reine Phantasieprodukte«,<br />
entgegnctc sie der Kritik.<br />
So schnell landel man <strong>als</strong> Fx-yoer-Kommunardin,<br />
die sie einmal war, in der rechten<br />
Ecke. Doch recht besehen, sind Ellen von<br />
Unwerths Fotografien Produkte des Zufalls,<br />
der Phantasie und einer Bilderwelt, die in<br />
ihrem Kopf lebt. Als im vergangenen Jahr<br />
der Verleger Lothar Schirmer seinen sogenannten<br />
Showroom für seine Fotobildbände<br />
in München mit Fotografien aus einem<br />
anderen Buch von Ellen von Unwerth eröffnete,<br />
sagte er: »Die Affinität von Buchbranche<br />
und Bekleidungsindustrie liegt doch auf der<br />
Hand: Das Buchregalais K leiderschrank der<br />
Seele ist doch ein hübsches Bild.« Eine<br />
schöne Metapher auch für die »Couples«.<br />
Und Schirmer sagte noch etwas: »Mancher<br />
streicht über Rilkes Lyrik, bevor er einschläft,<br />
und denkt, die Zuneigung gelte dem Meister.<br />
Die Haptik gehört untrennbar dazu, wenn<br />
man begreifen will, was einen ergreift.«<br />
Über die »Couples« streift man und die<br />
Zuneigung gilt ihnen und ihrer Meisterin.<br />
Ellen von Unwerth - »Couples«<br />
Schinner/Mosel Verlag, 1999,<br />
^52 Seiten, 193 Abbildungen, 58,- DM.<br />
2)1999
MEDIEN<br />
Margret Lünenborg<br />
Seid wild und unersättlich<br />
Die Zeitpunkte, Berlins einziges frauenkulturpolitisches Radioprogramm wurde 20 Jahre alt. Oft totgesagt, müssen<br />
sich die Macherinnen der Sendung jetzt wieder auf einen heißen Sommer im Kampf um Sendeplätze machen.<br />
»So wünscht es sich insgeheim fast jeder<br />
Journalist: Daß, wenn er eines Tages nicht<br />
mehr schreiben darf, die Leser sich zu Protestzügen<br />
vor dem Redaktionsgebäude formieren,<br />
daß sie Unterschriften sammeln<br />
zugunsten des Verstummten.« So beschrieb<br />
im Mai / 1990 der Tagesspiegel beeindruckt<br />
und zugleich fassungslos den Protest, den<br />
die drohende Einstellung der Sendung<br />
Zeitpunkte in Berlin ausgelöst hatte. Beeindruckt,<br />
weil 6.000 Unterschriften, die von<br />
Frauen und Männern gesammelt und dem<br />
Intendanten überreicht wurden, tatsächlich<br />
jedes normale Maß an Hörer(innen)bindun^<br />
weit übersteigen. Fassungslos, weil dieses<br />
Maß an »Kundinnenbindung« die Chefs des<br />
SFB nur mühsam und äußerst zögerlich hat<br />
dazu bewegen können, den Zeitpunkten weiterhin<br />
einen Platz im Äther einzuräumen.<br />
»Vielleicht«, so resümierte der Tagesspiegel,<br />
»ist nicht nur die Hörfunkstruktur reformbedürftig,<br />
sondern auch die Denkstruktur<br />
mancher Führungspersönlichkeiten.«<br />
Am 6. April feiern die Zeitpunkte ihren<br />
20. Geburtstag. Während dieser Zeit haben<br />
sie diverse Hörfunkreformen des SFß überlebt<br />
- wenn auch mit kontinuierlichen Beeinträchtigungen<br />
durch den Wechsel auf andere<br />
Wellen, Reduzierung des Etats, Verkürzung<br />
und Verschiebung der Sendezeit. Durch all<br />
diese Veränderungen hat eine hartnäckige<br />
Hörerinnengemeinde das frauenpolitische<br />
Magazin begleitet. Deshalb zögert Redakteurin<br />
Birgit Ludwig nicht eine Sekunde mit der<br />
Antwort auf die Frage, was für sie der größte<br />
Erfolg der Sendung in den letzten 20 Jahren<br />
war: »Das außergewöhnlichste Erlebnis waren<br />
die Hörerinnen. Als es uns mal wieder an<br />
den Kragen ging, sind sie in die Sitzung des<br />
Rundfunkrats gezogen und haben dem Intendaten<br />
erklärt: >Die Zeitpunkte sind unser<br />
Radio. Wir lassen uns das nicht wegnehmen.<<br />
Dieses Feedback an uns Macherinnen bedeutete<br />
für die Hörerinnen eine Menge Arbeit.<br />
Und es gehörte auch Mut dazu, das ist schließlich<br />
nicht der einfachste Weg.« Tatsächlich<br />
dürfte es nur wenige Beispiele dafür geben,<br />
daß ein aufklärerisches, emanzipatorisches<br />
Programm so unmittelbar zur Emanzipation<br />
der Hörerinnen beigetragen hat.<br />
S u 2)1999
FRAUEN&ARBHIT<br />
T- -1'wAibÄi*<br />
, *?-<br />
mogiicn<br />
Manchmal fand diese Aufklärung auf<br />
Wegen statt, die erst viel später sichtbar wurden.<br />
Magdalena Kemper, Redakteurin der<br />
ersten Stunde, erzählt, wie sich bis heute<br />
Türen bei Recherchen in Potsdam oder auf<br />
dem brandenburgischen Land offen, wenn<br />
der Name Zeitpunkte fällt. Erst 1989/1990<br />
haben die Redakteurinnen erfahren, wie<br />
intensiv die Sendung im Osten gehört wurde.<br />
Entsprechend engagiert stritten auch Ostberliner<br />
Hörerinnen für den Fortbestand der<br />
Sendung,<br />
Die Zeitpunkte sind in der gesamten<br />
ARD das einzige frauenpolitische Magazin,<br />
das tagesaktuell Politik und Alltag, Kultur<br />
und Wirtschaft, Wissenschaft und Sport aus<br />
der Sicht von Frauen hörbar machen. Dazu<br />
gehören der aktuelle Bericht zur Situation<br />
von Frauen in Afghanistan, das Gespräch mit<br />
Mädchen über die Angst vor dem ersten Mal,<br />
die Betrachtung über die Form des eigenen<br />
Busens, die Glosse zum Khefrauenverschleiß<br />
regierender Politiker und natürlich auch der<br />
unvermeidliche Kommentar zum | 218.<br />
Die Qualität der Sendung mußte in den vergangenen<br />
|ahren leiden, wenn der Redaktionsetat<br />
beharrlich zusammengekürzt wurde.<br />
Themenwochen mit aufwendigen Recherchen<br />
und kunstvoll gebauten Mini-Features<br />
sind heule kaum noch bezahlbar. War in den<br />
Anfangsjahren eine Sendung über Menstruation<br />
ein solch tabubrechender Schock, daß<br />
aufgeregt in der Ge.schäftsleitung darüber<br />
debattiert werden mußte, so werden wir heute<br />
allnachmittäglich mit Talks über Sexualpraktiken<br />
aller Art via Bildschirm konfrontiert.<br />
Die Themen der Zeitpunkte sind heute nicht<br />
mehr exklusiv in dieser Sendung zu finden.<br />
Außergewöhnlich bleibt aber die Machart.<br />
Magdalena Kemper erklärt sich die besondere<br />
Identifikation der Hörerinnen mit<br />
diesem Programm durch die journalistische<br />
Haltung; »Es ist die Art der Ansprache:<br />
Nicht alles besser zu wissen, sich nicht zu<br />
erheben über diejenigen, die man belehren<br />
will, sondern sie ernst nehmen und sich mit<br />
der journalistischen Eitelkeit halbwegs<br />
zurückhalten.«<br />
Fünf Redakteurinnen, zwei Redaktionsassistentinnen<br />
und mehrere dutzend<br />
freie Mitarbeiterinnen gestalten<br />
die Sendung. Mit dem steigenden Alter<br />
der Redakteurinnen haben sich die<br />
Themenschwerpunkte teils verändert:<br />
Spielen heute Lebensmöglichkeiten alter<br />
Menschen im Programm eine größere<br />
Rolle, so hat das auch mit pflegebedüftigen<br />
Eltern von Redakteurinnen und Mitarbeiterinnen<br />
zu tun. Teenager-Themen<br />
rücken durch die Töchter der Macherinnen<br />
ins Programm. Wenn im SFB der<br />
Grundsatz herrscht, freiwerdende Stellen<br />
ersatzlos zu streichen, dann wird<br />
ein personeller Wechsel in der Redaktion<br />
damit unmöglich gemacht.<br />
Und so rüsteten sich die Redakteurinnen<br />
mit dem Fest zum 20. Geburtstag<br />
zugleich für die nächste Runde im<br />
Kampf um die Abschaffung der Sendung.<br />
Erst im September 1997 wurden<br />
gegen den Willen der SFB-Mitarbeiterlnnen<br />
zwei Kulturwellen (radio kultur<br />
und Radio 3) etabliert. Jetzt soll das Rad<br />
wieder zurückgedreht werden. Eine Zusammenlegung<br />
der beiden Wellen ist<br />
geplant. In den intern diskutierten Programmplänen<br />
für die neue Welle tauchen<br />
die Zeitpunkte nicht oder nur <strong>als</strong><br />
Marginalie auf. Der Hörfunkdirektor<br />
Jens Wendland mag sich zu diesen Plänen<br />
zur Zeit gar nicht äußern: »Kein<br />
Kommentar«, bügelt er Anfragen rigoros<br />
ab. Selbst in der Pressestelle des<br />
Senders ist man über diese Verschwiegenheit<br />
irritiert. Volker Schreck bemüht<br />
sich nicht, das Gerücht zu dementieren,<br />
bereits im Sommer 1999 werde auf nur<br />
noch einer Kulturwelle gesendet. Mehr<br />
könne er jedoch nicht sagen. »Seid wild<br />
und unersättlich! fetzt!« Unter diesem<br />
Motlo feiern die Zeitpunkte ihren<br />
Geburtstag - und hoffentlich ihre<br />
Zukunft,<br />
Ihrer» beruflichen Neu- oder Wiedereinstieg<br />
zu organisieren, fällt vielen Frauen schwer.<br />
Selbst qualifizierte Frauen finden sich in<br />
den Anforderungsprofilen der Stelleninserate<br />
häufig nicht wieder, unterschätzen ihre<br />
eigenen Kompetenzen oder sind sich nicht<br />
klar über ihre beruflichen Ziele. Speziell für<br />
erwerbslose Akademikerinnen sowie für<br />
Frauen, die ihr Studium nicht abgeschlossen<br />
haben, bietet der Berliner Verein FRAU<br />
und BERUF deshalb zweimal jährlich einen<br />
zehnwöchigen Informations- und Orientierungskurs<br />
an, Karin Nungeßer sprach mit<br />
vier ehemaligen Kursteilnehmerinnen über<br />
ihre Erfahrungen.<br />
/_-. weibblick: Mit welchen Gefühlen und<br />
V Erwartungen seid Dir in den Orientie-<br />
'£; rungskurs gegangen? Wie war Eure<br />
•"•,'. Ausgangssituation?<br />
(lacht) Völlige Orientierungslosigkeit.<br />
Ich habe immer ganz viele Ideen und es gibt<br />
auch viele Sachen, die ich gerne machen<br />
würde: Schreiben, zum Beispiel, das wäre<br />
mein Traumberuf. Gleichzeitig habe ich<br />
aber genauso viele Ängste, das umzusetzen.<br />
Ich wollte deshalb endlich etwas finden,<br />
was sich tatsächlich realisieren läßt und<br />
wo ich nicht mehr unter meinen Qualifikationen<br />
arbeiten muß in irgendwelchen Jobs,<br />
in denen ich mich zwar sicher fühle, aber<br />
auch schnell frustriert bin.<br />
Ich bin in dem Kurs angekommen<br />
mit einem Gefühl von Bewegungslosigkeit,<br />
weil ich überhaupt nicht wußte, was ich<br />
beruflich machen soll. Das Thema »zu<br />
spät« stand für mich an allererster Stelle:<br />
Ich dachte, ich bin zu alt und habe keine<br />
Chance mehr auf dem Arbeitsmarkt. Mein<br />
Studium hatte ich abgebrochen, und die<br />
Jobs im sozialen Bereich, die ich vor der<br />
Geburt meines Sohnes gemacht hatte,<br />
haben mir zwar halbwegs Spaß gemacht,<br />
aber letztlich bin ich da immer unter meinen<br />
eigenen Möglichkeiten geblieben. »
FRAUENfi-AkHFl l<br />
Meine Hoffnung war schon, mit einem<br />
ganz präzisen Berufsziel vor Augen aus<br />
diesem Kurs rauszukommen.<br />
Ich bin mit nicht allzu hohen<br />
Erwartungen in den Kurs gekommen. Ich<br />
wollte zunächst einmal einen neuen Blick<br />
auf mich selbst bekommen und klären, welchen<br />
Stellenwert Berufstätigkeit überhaupt<br />
für mich hat. Denn Arbeit und Berufstätigkeit<br />
hatten für mich immer einen enorm<br />
hohen Stellenwert, und gleichzeitig hatte ich<br />
das Gefühl, selbst nur irgendwelche Jobs zu<br />
machen, und das hat mein Selbstwertgefühl<br />
ziemlich angekratzt. Von daher war der Kurs<br />
so etwas wie ein erster Schritt, um eine langfristige<br />
Perspektive zu entwickeln.<br />
Ich hatte Sozialarbeit studiert und<br />
danach jahrelang in diesem Bereich gearbeitet,<br />
obwohl mir eigentlich schon zu Beginn<br />
des Studiums klar war, daß das nicht das<br />
Richtige für mich ist. Ich habe öfter die Stellen<br />
gewechselt und in den handwerklichen<br />
Bereich geguckt, aber trotzdem immer weiter<br />
in der Sozialarbeit gearbeitet. Das war eine<br />
ganze Zeit lang einigermaßen okay, aber<br />
nachdem ich meine letzte Stelle gekündigt<br />
hatte und von diesem Kurs erfahren habe,<br />
hatte ich das Bedürfnis, noch mal genauer<br />
hinzuschauen, was ich jetzt machen will. Ich<br />
wollte etwas finden, was für mich sinnvoll<br />
ist, was ich mit mir vereinbaren kann.<br />
Am dem, was Ihr gesagt habt, klingt durch,<br />
wie eng berufliche Orientierung und persönliche<br />
Entwicklung miteinander verknüpft<br />
sind. Welche Rolle spielte das im Kuts?<br />
• i Ich glaube, das war der zentrale Punkt,<br />
daß dieser Kurs sich zunächst sehr weit von<br />
den Ideologien der Arbeitsgesellschaft entfernt<br />
hat. Es ist entspannend, wenn du da<br />
reingehst und erst einmal gefragt wird: Was<br />
wolltest du <strong>als</strong> Kind werden? Welche Vorbilder<br />
hattest du? Welche Träume? Welche<br />
Begabungen? Wo hast du dich sicher<br />
gefühlt? Und das nachdem ich die letzten<br />
zehn |ahre meines Berufslebens das Gefühl<br />
hatte, der Zug ist abgefahren. Meine ganze<br />
Panik war plötzlich weg und statt dessen die<br />
Chance, in aller Ruhe noch einmal auf mich<br />
selber gucken zu können.<br />
Das habe ich ähnlich empfunden.<br />
Denn nach meinen eigenen Wünschen hatte<br />
ich mich gar nicht mehr gefragt, das war<br />
völlig weg. Aber dann kamen liier Sachen<br />
raus, die für mich ganz wichtig sind: Welche<br />
Bedeutung der handwerklich-kreative Bereich<br />
für mich hat, das hatte ich einfach vergessen.<br />
Auf die eigenen Wünsche zu<br />
gucken, fand ich auch wichtig. Sich einmal<br />
diese ganzen Fragen zu stellen: Was ist mir<br />
wichtig im Beruf, was brauche ich zum Beispiel<br />
an Anerkennung? Gleichzeitig habt<br />
ich aber im Kurs gemerkt, daß ich an diesem<br />
Punkt »was will ich wirklich« noch nicht so<br />
recht weiterkomme. Deshalb fand ich es<br />
nachträglich richtig, in der zweiter Phase<br />
davon wegzugehen und statt dessen Handwerkszeug<br />
zu bekommen: Wie schreibe ich<br />
eine Bewerbung, wie gestalte ich meinen<br />
Lebenslauf, was gibt es für Weiterbildungsmöglichketten,<br />
wer sind die Ansprechpartner<br />
dafür - die ganze Palette.<br />
Für mich war das eher ein Schock, ich<br />
hätte da gut eine Woche Pause zwischen den<br />
Blöcken vertragen können. Hilfreich fand ich<br />
in dieser zweiten Phase vor allem die konkreten<br />
Handlungsstrategien, die wir gelernt<br />
haben: Methoden zur Zielplanung, wie das<br />
Mind-Mapping zum Beispiel, oder auch die<br />
Verträge die wir geschlossen haben, um die<br />
»Aufschieberitis« in den Griff zu bekommen,<br />
überhaupt diese ganze »Politik der kleinen<br />
Schritte«. Das sind für mich Sachen, die ich<br />
gut in meinen Alltag integrieren kann und<br />
die ich unbedingt weitermachen möchte.<br />
Ihr habt ja im Kurs auch Euer eigenes »Kompetenzkonto*<br />
erstellt Wie seid Ihr da vorgegangen?<br />
Genau wie zu den anderen Themen<br />
»Kindheitswünsche«, »Vorbilder«, »Zielwegeplanung«<br />
hatten wir Arbeitsblätter, die<br />
jede erstmal für sich bearbeitet hal. Und<br />
dann haben wir uns in Kleingruppen zu dritt<br />
oder viert darüber ausgetauscht. Das war für<br />
mich ungeheuer wichtig: Ich konnte mich<br />
dadurch auf eine Weise betrachten, die ich<br />
alleine nie erreicht hätte.<br />
judit, 42. Ex-Eremdsprachenkorrespondentin,<br />
F.x-Politologie'itudfntin. Idttmfabrikuntin,<br />
nächstes Ziel: Landung im Hier und Jetzt<br />
,:.-.' Das Kompetenzkonto war für mich<br />
wirklich so etwas wie eine Offenbarung.<br />
Statt sich diesem typisch weiblichen Understatement<br />
»Ich bin nichts, ich hab nichts,<br />
ich kann nichts« hinzugeben, mal hinzugehen<br />
und sich zu fragen: Welche Probleme<br />
habe ich in meinem Leben schon gelöst,<br />
wie gehe ich da ran, welche Fähigkeiten<br />
habe ich schon entwickelt, wo stecken<br />
meine Kompetenzen, wo hab ich sie verborgen?<br />
Das ist mir im ersten Moment<br />
gar nicht so gelungen, aber es hat bei mir<br />
eine Langzeitwirkimg enlwickelt.<br />
Wie wichtig war es da Tür Euch, ausschließlich<br />
unter Frauen zu sein?<br />
l Ike: Das war ein entscheidender Punkt.<br />
Schon bei der Vorstellungsrunde am ersten<br />
Tag war es schön zu sehen, daß ich mit meinen<br />
Selbstzweifeln nicht alleine dastehe. Daß<br />
hat mich erstmal überrascht, wie frauenspezifisch<br />
dieses Problem ist. Und dann waren<br />
die vielen Gemeinsamkeiten auch eine ganz<br />
wichtige Basis für die Offenheit und den<br />
Respekt, den wir uns gegenseitig entgegengebracht<br />
haben.<br />
!'•• Das habe ich auch so erlebt: Für<br />
mich war diese Gruppe seit langer Zeit, die<br />
erste schöne Gruppe, und das lag auch an<br />
dieser Offenheit und diesem Vertrauen<br />
untereinander. Aber einen ganz wichtigen<br />
Anteil an dem, was da in Gang gekommen<br />
ist, hatten für mich auch die beiden Dozentinnen.<br />
Sie sind nicht nur fachlich kompetent,<br />
sie haben auch eine Begabung, jede<br />
Frau an ihre persönlichen Knackpunkte zu<br />
bringen.<br />
Annette, 32, Ex-Verwaltungsbeamtin, abgebrochenes<br />
Biologiestudium, schlägt sich mit<br />
diversen Jobs durch, nächstes Ziel: Urlaub<br />
2I'999
FRAUI-NnAKBriT<br />
Ich seh das genauso: Die Beiden sind<br />
klasse und haben ein tolles Konzept für ihre<br />
/ielgruppe. Aber daß sich die ganze Gruppe<br />
auf so einen Prozeß einläßt, ohne daß es<br />
dabei Widerstände gegen den intensiven<br />
Umgang mit den eigenen Wünschen, Hoffnungen<br />
und Ängsten gibt, das kkippi,<br />
glaube ich, so nur unter Frauen.<br />
U'h finde das auch aus dem Grunde<br />
wichtig, weil Frauenberufstätigkeit noch<br />
keine lange Geschichte hat und viele Frauen<br />
auch aus diesem Grund bestimmte Schwierigkeiten<br />
haben, beruflich ihren eigenen Weg<br />
zu finden. In meiner Familie haben zwar alle<br />
Frauen gearbeitet, aber sie sind dazu nicht<br />
aus dem Haus gegangen und waren nicht in<br />
diesem Sinne berufstätig. Da gibt es <strong>als</strong>o<br />
keine Vorbilder, an denen ich mich orientieren<br />
könnte, ich muß mir da selber was schaffen.<br />
Wenn Ihr Eure Situation, <strong>als</strong> Ihr in den Kurs<br />
gekommen seid, mit dem verglicht, wo Ihr<br />
heute steht, was hat sich da für Euch verändert?<br />
Ich weiß jetzt, was ich nicht<br />
machen werde. Ich halte mich jetzt nicht<br />
mehr an Stellen auf, die nicht mehr für mich<br />
in Frage kommen. Das ist mir eigentlich erst<br />
bei der Bilanz am Ende des Kurses deutlich<br />
geworden, daß ich mich von ganz bestimmten<br />
Dingen verabschiedet habe: Ich möchte<br />
zum Beispiel nicht mehr Berufsanfängerin<br />
im handwerklichen Bereich sein, ich möchte<br />
eine bestimmte Summe Geld verdienen<br />
und mich nicht auf Dauer körperlich überanstrengen.<br />
Und mir ist auch klargeworden,<br />
daß ich einen beruflichen Werdegang habe,<br />
mit dem ich recht gut dastehe und den ich<br />
gerne mit rübernehmen möchte in diese<br />
neue Berufstätigkeit, den ich aber auch ein<br />
Stück weit hinter mir lassen möchte.<br />
Ich bin an meine Knackpunkte herangeführt<br />
worden: Ich weiß jetzt, wo bei mir<br />
der Hase im Pfeffer liegt, daß ich mit meiner<br />
Berufswahl nicht weiterkomme und warum<br />
ich mich in Bewerbungen nicht so darstellen<br />
kann, wie ich das gerne möchte. Gleichzeitig<br />
hat mich dieser Kurs erstm<strong>als</strong> total entlastet<br />
von dem Druck, jetzt unbedingt und sofort<br />
eine berufliche Perspektive entwickeln zu<br />
müssen. Ich hatte zum Beispiel ewig keinen<br />
Urlaub gemacht, weil ich immer das Gefühl<br />
hatte, ich habe das gar nicht verdient. Jetzt ist<br />
mir klargeworden, wieviel ich in den letzten<br />
sechs Jahren gearbeitet habe und daß ich es<br />
Henrike, 41, Ex-Sozialarbeiterin,<br />
lebt mit Hund Paul, 13, gestattet sich<br />
eine Schaffenspause.<br />
mir sehr wohl erlauben kann, in Urlaub<br />
zu fahren und richtig zu entspannen.<br />
Und dann sehe ich weiter,<br />
Wichtig für mich war, meinen eigenen<br />
negativen Gedanken üufdie Schliche<br />
zu kommen: Wo boykottiere ich mich, wie<br />
mache ich mir selbst das Leben schwer und<br />
auch die Berufswahl? Beruflich kann ich,<br />
ähnlich wie Henrike, jetzt sehr viel konkreter<br />
sagen, was ich nicht will: Ich habe keine<br />
grolse Karriere vor, ich habe meine Grenzen,<br />
mehr <strong>als</strong> fünfundzwanzig Stunden wöchentlich<br />
kann ich zur Zeit nicht arbeiten, weil<br />
ich ein kleines Kind habe. Aber es gibt auch<br />
noch ein paar Wünsche: Ich hätte gerne ein<br />
abgeschlossenes Studium, da merke ich einfach,<br />
das muß ich klären: Ist das so wichtig<br />
für mich und weshalb ist das so wichtig?<br />
Krieg ich das noch hin? Gleichzeitig gibt es<br />
bei mir diesen künstlerisch-handwerklichen<br />
Bereich, den ich in irgendeiner Form umsetzen<br />
möchte. Ob beruflich oder privat, das<br />
weiß ich noch nicht, aber der Wunsch ist<br />
da, und ich weiß jetzt, wenn ich den einfach<br />
zur Seite schiebe, geht es mir schlecht.<br />
Elke, 39, lebt mit Sohn, i */2, und Freund,<br />
29, zusammen, Ex-Raumausstatterin<br />
Ex-Angestellte im Erziehungsdienst<br />
(j jähre »lit'hindfrte.n«-Arbeit). Abitur<br />
auf dem 2. Bildungsweg, unvollendetes<br />
Studium der Landschaßsplanung<br />
Mir war wichtig, diese Unterscheidung<br />
klarzukriegen, zwischen meinen Vorstellungen<br />
bigger than liß und einem Beruf,<br />
der mich im Hier und Jetzt hält. Beruf ist<br />
für mich jetzt etwas, womit ich mein Geld<br />
verdienen will, und es soll auch ein bißchen<br />
Spaß machen, aber ich definiere mich nicht<br />
mehr darüber. Und deshalb hab ich mir jetzt<br />
einen Umschulungsplatz gesucht im Veranstaltungs-<br />
und Organisationsbereich, auch<br />
weit ich im Kurs gemerkt hab, ich organisiere<br />
gern: Da sind meine Ängste nicht da,<br />
aber jede Menge Kompetenzen.<br />
Der nächste Orientierungskurs beginnt<br />
am 2j. 9. 1999.<br />
Infos und Anmeldung bei:<br />
FRAU und BERUF e.V.<br />
Glogauer Straße 22, 10999<br />
Tel.: (030) 612 ji 35
FINANZEN<br />
St eu.e.xre..£.Q.rm<br />
von<br />
»Finanzminister sind schlaue Füchse,<br />
weil sie ihren Steuern so angenehme Namen<br />
geben wie Solidaritätszuschlag, Krankenhaus-Notopfer<br />
oder Ökosteuer,« so antwortete<br />
eine i3Jährige Schülerin auf eine Umfrage<br />
der Zeitschrift Eltern zum Thema Steuergerechtigkeit<br />
(Eltern-Heft 3/99). Und die neue<br />
Bundesregierung hat sich ohne zu zögern<br />
bemüht, das Urteil zu bestätigen. Am i. April<br />
wurde sie Wirklichkeit, die Ökosteuer.<br />
Damit ist ein großer Schritt in Sachen<br />
Umweltpulilik getan worden. Ökomöbel.<br />
Ökokleidunt;. Ökolebensmitlel, Ökohäuser.<br />
Die Politik liegt voll im Trend. Je mehr Steuern<br />
wir zahlen, desto mehr öko? Nein, Vater<br />
Staat will uns zum richtigen Verhalten leiten,<br />
indem er uns den Anreiz, sozusagen das<br />
Bonbon gibt, Energie einzusparen. Angenommen,<br />
wir würden alle vom Auto aufs<br />
Fahrrad umsteigen, dann wäre zwar das<br />
pädagogische Ziel erreicht, allein der Finanzminister<br />
hatte mit schwindenden Einnahmen<br />
das Nachsehen. Aus dem Dilemma<br />
führt eine Doppelstrategie: Man greife bei<br />
der Namensgebung Bedürfnisse der Bevölkerung<br />
z.B. nach Umweltschutz oder Arbeitsplatzsicherheit<br />
auf, schmücke das Ganze zu<br />
wohlklingenden Bezeichnungen und verbaue<br />
gleichzeitig weitgehend die Möglichkeit,<br />
Steuerzahlungen zu vermeiden (Stichworte:<br />
Arbeitsplatzmobilität und fehlender öffentlicher<br />
Personen nah verkehr außerhalb der<br />
Zentren). Selbstverständlich erinnert niemand<br />
mehr an so veraltete Vorhaben wie<br />
den Abbau der Steuervergünstigung für den<br />
Flugverkehr oder die Verlagerung des Güterverkehrs<br />
aufschiene und Schiff oder die<br />
Förderung erneuerbarer Energiequellen.<br />
Alles Vorhaben, die neben anderen zum<br />
ursprünglichen Konzept der Ökosteuer<br />
gehörten.<br />
—"% ^d*l*fc,<br />
JA<br />
Jf<br />
Uud so können wir dem neuen Finanzminister<br />
einen weiteren Tip mit auf den Weg<br />
geben: Man lasse sich umfangreiche Steuerreformvorschläge<br />
erarbeiten, löse daraus<br />
nach Jahren und Jahrzehnten der öffentlichen<br />
Diskussion einen winzigen Bruchteil,<br />
hänge ihm den ursprünglichen Namen um,<br />
fertig ist der Wolf im Schafspelz.<br />
Die jetzt eingeführte Energiesteuererhöhung<br />
wurde uns damit schmackh;ift<br />
gemacht, daß dadurch Arbeitsplätze gesichert<br />
werden könnten: »Die Energie teurer<br />
und Arbeit billiger machen«, lautete das<br />
Motto. Nun sind Steuern grundsätzlich nicht<br />
zweckgebunden, sondern wandern mit anderen<br />
Steuerarten in einen Topf. Und von ihrer<br />
Definition her sind es Zahlungen ohne<br />
Gegenleistung. Das heißt, würden wir ein<br />
Recht, einen Anspruch oder eine andere<br />
Gegenleistung erhalten, kann es sich dabei<br />
nicht um Steuern handeln. Das Versprechen,<br />
für eine Steuererhöhung beispielsweise die<br />
Rentenversicherungsbeiträge herabzusetzen,<br />
ist paradox. Denn ist die Zusicherung wahr,<br />
können es keine Steuern sein, sind es aber<br />
Steuern, kann das Versprechen nicht von<br />
Dauer sein.<br />
Auch die Neuregelung der geringfügigen<br />
Beschäftigungsverhältnisse, der 63O-Mark-<br />
Jobs, verlangte schlaue Köpfe. Denn einfach<br />
dürfte es nicht gewesen sein, einerseits Sozialversicherungsbeiträge<br />
abzuverlangen,<br />
andererseits keine richtigen Rentenansprüche<br />
entstehen zu lassen. Tapfer wurde<br />
die Hürde genommen. Wir erinnern uns:<br />
Langjährige Forderung der Frauenbewegung<br />
war und ist es, die staatliche Normsetzung<br />
auf den männlichen Familienernährer und<br />
der im Hause waltenden Ehefrau, die geringfügig<br />
dazuverdient, zu beenden. Das Ehegattensplitting<br />
im Einkommensteuerrecht zu<br />
streichen und die gewonnenen Finanzmittel<br />
Familien mit Kindern zugute kommen zu<br />
lassen, waren ebenfalls vorgesehen. Damit<br />
würde die Lohnsteuerklasse V wegfallen. Zu<br />
diesem Konzept zählte auch die Einführung<br />
Kritische Anmerkungen zur<br />
rot-grünen Steuer-politik<br />
/*v?,'*,..... .'...::.. :;; «*.. .: r-i<br />
Marianne Schwan<br />
T 11 T* ci C* ^ l r9 11 (P<br />
*~*" ^*^i<br />
«••-^ B*«***<br />
O O<br />
der Sozialversicherungspflicht für geringfügig<br />
entlohnt Beschäftigte, damit Frauen<br />
nach einem arbeitsreichen Leben einen ausreichenden<br />
Rentenanspruch haben. Mit der<br />
jetzt umgesetzten Neuregelung hat die rotgrüne<br />
Koalition ihre Befähigung zur Regierung<br />
und Verantwortung unter Beweis<br />
gestellt. Es wurde eine Reform geschaffen,<br />
mit der die Nachteile für Millionen Frauen<br />
im wesentlichen beibehalten, und das<br />
Ganze noch aufwendiger, noch bürokratischer<br />
geregelt wurde.<br />
Heute sollen 80 Prozent der Steuerfachliteratur<br />
der Welt in deutscher Sprache verfaßt<br />
sein. Daraufsind unsere Repräsentanten<br />
zu Recht Stolz, denn in keinem anderen<br />
Land der Welt beschafft der Staat dem Volke<br />
soviel Arbeit. Damit Bürgerinnen und Burger<br />
auch in Zukunft kraftvoll Steuern sparen<br />
können, widmet sich die Politik ohne zu<br />
ruhen der nächsten Herausforderung - der<br />
ganz großen Steuerreform. Inzwischen ist<br />
das Steuerrecht so umfangreich, verworren,<br />
widersprüchlich und genial ungerecht, daß<br />
selbst Fachleute den Durchblick verlieren.<br />
Niemand kann mehr behaupten, sich im<br />
Steuerrecht auszukennen. Und so können<br />
wir der Politik nur raten, ohne Unterlaß am<br />
Weiter-so festzuhalten, so daß wir künftig<br />
nicht mehr ohne die Hilfe gleich mehrerer<br />
Steuer-Spezialis t Innen auskommen können.<br />
Eine Beraterin für den Paragrafen 4 Absatz 2<br />
Nr. 3 des Umsatzsteuergesetzes und einen<br />
Spezialisten für den Paragrafen 26 b des Einkommensteuergesetzes.<br />
Mit solchen sinnvollen<br />
Arbeitsbescharfungsniaßnahmen wird<br />
Deutschland seine europa-, ja weltweite Vorbild<br />
f'i m ktion ausbauen, und den Standort<br />
Deutschland richtungsweisend stabilisieren.<br />
2)1999
FINANZEN<br />
DD5344727S5<br />
Claudia von Zglinicki<br />
-t *» ^M
FINANZEN<br />
Einer der beiden Berliner Ur-Clubs trifft<br />
sich montags, der andere dienstags, immer<br />
einmal im Monat. Acht weitere Clubs sind<br />
inzwischen entstanden. In allen treffen sich<br />
Frauen unterschiedlicher Generationen. In<br />
Berlin ist die zur Zeit älteste Aktienlady Jahrgang<br />
1919, die jüngste knapp über Zwanzig.<br />
Verschiedene Motive treiben die Frauen in<br />
die Gruppe, nur im Grundsatz wollen sie alle<br />
das Gleiche: ihr Geld gut anlegen und Gewinn<br />
machen, ganz ernsthaft. Es ist kein Spiel,<br />
und dies sind nicht die Damen, die das vom<br />
Gatten herübergereichte Taschengeld vertändeln.<br />
Hier wird gelernt, der Markt beobachtet,<br />
diskutiert und schließlich mit Geld operiert.<br />
Mit eigenem Geld. Es sei immer wieder so,<br />
erzählt Anne Wulf, daß zu Beginn ein Drittel<br />
der Neugründerinnen ziemlich ahnungslos<br />
ist, neugierige Anfängerinnen. Ein Drittel<br />
befaßt sich längst mit Aktien und allem, was<br />
dahintersteht. Das letzte Drittel denkt seit<br />
einiger Zeit über die Börse und ihre Geheimnisse<br />
nach, erschließt sich die Wirtschaftsteile<br />
der Tageszeitungen, hat aber bisher noch nicht<br />
gehandelt. Und dann kommen die Frauen<br />
zusammen und beraten einander. Manchmal<br />
laden sie sich eine Expertin der gastgebenden<br />
Banken zu einem Vortrag ein.<br />
Aber das verpflichtet keine, Geld in Produkte<br />
dieser Bank zu investieren. Die Kooperation<br />
mit einer Bank ist zu empfehlen, wegen<br />
der auf diese Weise einzusparenden Raummiete<br />
und den zur Verfügung stehenden<br />
Referentinnen. Aber die Gruppe, juristisch<br />
betrachtet eine Gesellschaft bürgerlichen<br />
Rechts, handelt in eigener Verantwortung,<br />
nach gemeinsamer Beratung in der Runde<br />
und gemeinsam gefällter Entscheidung.<br />
Immer wird anfangs ein Einstiegsbeitrag<br />
festgelegt, 300 oder 500 Mark zum Beispiel,<br />
und die monatliche anzulegende Summe.<br />
Bei 50 Mark kann es schon losgehen. Das<br />
Risiko, so Anne Wulf, ist nicht groß. Reich<br />
muß keine sein, um mitzubankern, aber den<br />
Notgroschen sollte auch keine im Club investieren.<br />
Auf die Frage, was Geld für sie ist, hat die<br />
Finanzfrau sofort eine Antwort parat: »Eine<br />
gewisse Freiheit. Das kommt aus meiner<br />
Geschichte. Bei meinem Vater galt der Spruch<br />
»So lange du die Fuße unter diesen Tisch<br />
steckst, tust du, was ich sage«. Da mußte ich<br />
raus. Unabhängig wollte ich werden, und das<br />
ist mir gelungen. Natürlich: Geld ist Macht,<br />
aber da der Begriff Macht negativ besetzt ist,<br />
fällt es uns Frauen schwer zu sagen: »Ich will<br />
Geld. Ich will reich werden. Ich will eine Million.«<br />
Das gilt unter Frauen <strong>als</strong> anstößig.<br />
Dabei ist das gar nicht so vermessen. Gelingt<br />
es mir, Vermögen anzuhäufen, könnte ich<br />
das Geld, das ich übrig habe, dann ja in ein<br />
Projekt stecken, das ich fordern will, zum<br />
Beispiel, wie es in den USA nicht selten<br />
geschieht, in ein Frauencollege.«<br />
Und was bedeutet für Anne Wulf die<br />
Börse? »Das Irre an der Börse ist, daß eigentlich<br />
die Zukunft gehandelt wird.« In direkter<br />
Reaktion auf die Gegenwart allerdings. Tritt<br />
Lafontaine zurück, reagieren die Kurse sofort.<br />
Dann gewinnen auch die Aktienladies,<br />
Gewinn aus einem möglichen politischen<br />
Rückschritt, aus einer unsozialen Politik, aus<br />
Waffengeschäften und Kriegen? Und aus<br />
Massenentlassungen? Schon, räumt Anne<br />
Wulf ein, aber andererseits sieht sie in<br />
Aktien »die einzige Möglichkeit für Arbeitnehmerinnen,<br />
sich positiv am Stellenabbau<br />
zu beteiligen«. Darüber könnte man nun<br />
lange streiten. Es wäre naiv, anzunehmen,<br />
man würde mit zehn VW-Aktien die Politik<br />
des Unternehmens mitbestimmen. Aber die<br />
Abläufe können die Frauen besser verstehen<br />
und nach ihren Einsichten anders handeln.<br />
Denkbar wäre zum Beispiel, ein Produkt zu<br />
boykottieren. Oder sich gegen die Aktien<br />
bestimmter Unternehmen zu entscheiden.<br />
Die Erfahrungen in den Frauen-Aktienclubs<br />
zeigen, daß Frauen vorsichtiger mit<br />
Geld umgehen <strong>als</strong> Männer. Sie wollen genauer<br />
wissen, wo ihr Vermögen investiert ist - und<br />
sei es auch ein sehr kleines, der Begriff ist<br />
relativ. Das weibliche Sicherheitsbedürfnis ist<br />
stärker ausgeprägt, auch der Wunsch, immer<br />
kurzfristig über eine bestimmte Summe verfügen<br />
zu können. Darin spiegelt sich die Alltagserfahrung<br />
wider, aber, so meint Anne<br />
Wulf, auch die Geschichte. Eigene Mittel<br />
haben Frauen eben erst seit kurzem, seit diesem<br />
fahrhundert nämlich, zur Verfügung.<br />
Und noch bis zum Anfang der 8oer Jahre<br />
galt in der Bundesrepublik der sogenannte<br />
Hausfrauenparagraph, nach dem Frauen<br />
allein nur über so viel Geld vom Familienkonto<br />
verfügen konnten, wie für den täglichen<br />
Bedarf nötig war. Eine unglaubliche<br />
Geschichte, und noch gar nicht lange her.<br />
»Verkäuferin aus Leidenschaft« nennt<br />
sich Anne Wulf. Anfangs handelte sie mit<br />
Möbeln, jetzt eben mit Geld, warum nicht?<br />
Sie ist selbst in einem der weiblichen Aktienclubs<br />
engagiert. Dem neuen Club in Dresden<br />
steht sie <strong>als</strong> Beraterin zur Seite.<br />
211999
BILDUNG<br />
Wenn Frauen lesen:<br />
Wiederbegegnyngen und<br />
Rollenangebote<br />
Vor fünfzehn Jahren hielt ich Irmtraud<br />
Morgners »Hexenroman« erstm<strong>als</strong> in den<br />
Händen. Dabei erlebte ich etwas, was die<br />
Morgner detailliert beschrieben hat: Ich<br />
»fragte mich, wie gestorbene Dichter in<br />
einen jetzigen Kopflängen können und aus<br />
der Unordnung herausholen, was der Kopfbesitzer<br />
selbst nicht findet«. Nur daß Irmtraud<br />
Morgner dam<strong>als</strong> noch lebte, und daß<br />
sie kein Dichter war, sondern Dichterin,<br />
Erfinderin von Laura Salman. Die Erfahrung,<br />
mich in der klassischen deutschen Literatur<br />
nur mit männlichen Helden identifizieren<br />
zu können, hatte ich, wie Laura Salman,<br />
gerade gemacht. Allerdings besetzte meine<br />
Deutschlehrerin die Rollen Mephistos und<br />
Fausts bedenkenlos mit den literaturinteressierten<br />
Schülerinnen, obwohl in meiner Abiturklasse<br />
ausreichend junge Männer zur<br />
Verfügung standen, für die Rolle Gretchens<br />
bot sich keine Freiwillige an. Keine von uns<br />
wollte gern die Verführte, ungewollt Schwangere<br />
und im Gefängnis Findende sein, denn<br />
wir pfiffen auf die Aussicht, die Goethe uns<br />
bot: nur im Himmel »gerettet« zu werden.<br />
Die weitaus meisten attraktiven Rollen nicht<br />
einmal nur der klassischen Literatur waren<br />
männlich, jedenfalls die, die ich in der<br />
Schule der siebziger Jahre kennenlernte. Die<br />
Identität der Leserin in diesen Texten blieb<br />
brüchig, denn auf Dauer konnte keine davon<br />
absehen, daß männliche Figuren eben nicht<br />
<strong>als</strong> Menschen, sondern <strong>als</strong> Männer gemeint<br />
waren. Wie sollte es auch anders sein. Den<br />
Einwand, es sei naiv und Schülerinnenhaft,<br />
sich beim Lesen identifizieren zu<br />
wollen, lasse ich dam<strong>als</strong> wie heute nicht<br />
gelten. Zu viele Frauen sind mir begegnet,<br />
die Figuren aus der Literatur nennen,<br />
wenn sie beschreiben, wie sie erwachsen<br />
wurden und politisch zu denken begannen:<br />
Christa T., Laura Salman, Paula,<br />
Franziska Linkerhand, die Frauen aus<br />
Maxie Wanders »Guten Morgen, du<br />
Schöne«... Vorbilder-1 Nein, Personen,<br />
in denen wir uns - menschlich und<br />
politisch - wiederfanden und die deshalb<br />
mehr sind <strong>als</strong> gut erfunden. »<br />
2I'999
BILDUNG<br />
Die Spatzen pfeifen es von den Dächern:<br />
Der >«Leser« ist eif*e Les&rin.<br />
Als 1985 Kinder zwischen 8 und 12 Jahren<br />
befragt wurden, zeigte sich, daß 80 Prozent<br />
der Mädchen, aber nur 61 Prozent der Jungen<br />
täglich oder mehrm<strong>als</strong> pro Woche in ihrer<br />
Freizeit lasen. In einer neueren Studie über<br />
das Leseverhalten von Kindern und Jugendlichen<br />
war das Verhältnis noch deutlicher: 70<br />
Prozent der Jungen, aber nur 30 Prozent der<br />
Mädchen waren »leseabstinent«. 1993 waren<br />
78 Prozent der Frauen, aber nur 67 Prozent<br />
der Männer im weitesten Sinne »Leser«,<br />
Intensiv, <strong>als</strong>o mehrm<strong>als</strong> pro Woche, lasen 42<br />
Prozent der Frauen, gegenüber 31 Prozent<br />
Männern. Und Frauen lesen nicht nur mehr,<br />
sondern auch anders: Etwa ein Drittel aller<br />
lesenden Frauen und Männer lesen nach<br />
einer Studie von Renate Köcher sowohl zur<br />
Unterhaltung <strong>als</strong> auch zur Information.<br />
Doch mit 52 Prozent der Leserinnen<br />
(gegenüber 32 Prozent der Leser) ist die<br />
»Unterhaltung« bei lesenden Frauen deutlich<br />
stärker repräsentiert, während nur n Prozent<br />
der lesenden Frauen (31 Prozent der Männer)<br />
vorwiegend zur Information lesen. Der bewertende<br />
Beigeschmack der Begriffe »Unterhaltung«<br />
und »Information« verkehrt sich leicht,<br />
wenn man sich klarmacht, daß »Informationen«<br />
auch ein Ratgeber über das Reparieren<br />
von Autos bietet, während selbst hochkomplizierte<br />
Lyrik zur »Unterhaltung« gelesen<br />
wird. Aber ich will nicht das Lesen von<br />
Fachliteratur denunzieren, sondern darauf<br />
hinweisen, daß nach allem, was die Studien<br />
des letzten Jahrzehnts ergeben haben, Frauen<br />
schlicht lustvoller lesen. Sich zu bilden oder<br />
durch das Lesen Überlegenheit über andere<br />
zu erreichen, gaben dagegen Männer häutiger<br />
an. Entspannung, das Abtauchen in Phanlasiewelten<br />
und das Miterleben von Gefühlen<br />
ist für Frauen ein wesentliches Motiv beim<br />
Lesen. »Abtauchen in Phantasiewelten« steht<br />
dabei nicht - und schon gar nicht ausschließlich<br />
- für die Flucht aus den Widersprüchen<br />
des alltäglichen Lebens, sondern für die<br />
intensive Auseinandersetzung mit literarischen<br />
Figuren, Identifikation oder Abgren-<br />
7ung. So sind in den letzten beiden<br />
Jahrzehnten gerade im Bereich der klassischen<br />
Unterhaltung mit den sogenannten<br />
Frauenkrimis und mit von Frauen geschriebener<br />
Science Fiction zwei Genres entstanden,<br />
die die soziale und politische Situation von<br />
Frauen differenziert widerspiegeln.<br />
Auch von Männern verfaßte belletristische<br />
Bücher werden - folgt man der Logik<br />
der Statistik - von mehr Frauen <strong>als</strong> Männern<br />
gelesen. Aber ziehen Männer die Frauen <strong>als</strong><br />
Publikum auch in Betracht? Dazu ein Beispiel<br />
und ein Gegenbeispiel:<br />
Als 1982 die Novelle »Der fremde Freund«<br />
von Christoph Mein erschien, wurden Rezensenten<br />
und Leser nicht müde, zu betonen, wie<br />
unglaublich gut Hein sich in die Rolle der<br />
Ich-Erzählerin, einer Ärztin, eingefühlt habe.<br />
Aber auch der »fremde Freund« ist sehr<br />
glaubhaft geschildert, ebenso wie die Verhältnisse<br />
des real existierenden Sozialismus. Ist<br />
es denn nicht selbstverständlich, daß der<br />
Autor sich in die Erzählfigur hineinversetzt,<br />
die er doch selbst gewählt hat? Ist vielleicht<br />
das eigentlich Bemerkenswerte, daß Hein<br />
eine Erzählerin und keinen Erzähler wählte?<br />
Viele Leser und manche Leserinnen stellten<br />
fest, diese Erzählerin sei kühl, beziehungsarm.<br />
Diese Erzählerin beschreibt mehrfach<br />
präzise die Gewalttätigkeit ihres Freundes<br />
gegen sie, bis zur Vergewaltigung. Einmal<br />
schlägt er sie, und sie kommentiert: »... aber<br />
ich weiß auch, daß irgendwann, in irgendeiner<br />
besonders komplizierten und nervösen<br />
Situation jeder Mann schlagen wird. Sie<br />
werden sich gegenüber anderen Männern<br />
zurückhalten können, aber nicht gegen<br />
Frauen und Kinder. (...) Nach der Frau<br />
schlägt man wie nach dem Hund, nebenher.<br />
Notwendige Erziehungsmaßnahme zum<br />
Nutzen des Geschlagenen. Die Umarmung<br />
kann dem Schlag unmittelbar folgen.<br />
Schließlich, man haßt nicht, man rückt nur<br />
etwas gerade.« Leicht vorstellbar, daß ein<br />
männlicher Leser lieber die Kühle der Erzählerin<br />
hervorhebt <strong>als</strong> ihren Realismus. Mehrere<br />
Frauen haben mich auf diese Textstelle<br />
aufmerksam gemacht. Heins Erzählerin ist<br />
deswegen nicht zu ihrem »Vorbild« geworden.<br />
Das Angebot der von ihr mitgeteilten<br />
Erfahrung wurde von den Leserinnen jedoch<br />
wahrgenommen, es war ihnen möglich, in<br />
der Rolle dieser Figur einen - den entscheidenden<br />
- Augenblick lang sich selbst zu<br />
sehen. Hein hat es verstanden, Erfahrungen<br />
von Frauen <strong>als</strong> menschlich, notwendig und<br />
literaturwürdig mitzuteilen und sie in einen<br />
politischen Zusammenhang zu stellen,<br />
Das Gegenbeispiel: Vor einiger Zeit empfahl<br />
mir ein Bekannter den berühmten<br />
»Lolita«-Roman von Nabokov <strong>als</strong> »erotisches<br />
Buch«. »Lolita« wird aus der Sicht von Humbert<br />
erzählt, eines Mannes, der eine »sexuelle<br />
Vorliebe« für Minderjährige hat. Er heiratet<br />
die Mutter einer Zwölfjährigen, ermordet die<br />
Erwachsene und beginnt, das Mädchen jahrelang<br />
zu vergewaltigen, unter dem zynischen<br />
Vorwand einer angeblich »unglücklichen Leidenschaft«.<br />
Dabei ist sich der Täter-Erzähler<br />
die ganze Zeit bewußt, daß er ein Verbrechen<br />
begeht. Bei der Rückgabe des Buches<br />
wies ich darauf hin, wie erstaunlich offen der<br />
Autor Nabokov mit dieser Tatsache verfährt.<br />
Der Mann, der mir das Buch geliehen hatte,<br />
fragte verblüfft, wo das denn stünde? Er habe<br />
,vs 2(1999
BILDUNG<br />
nichts davon gelesen. Auch der Kritiker<br />
Reich-Ranicki schreibt über Nabokov, die<br />
»Beziehung eines reifen Mannes zu einem<br />
zwölfjährigen Mädchen« gebe das »extreme<br />
Beispiel des Glücks und des Unglücks einer<br />
Liebe, die so glücklich und so unglücklich<br />
ist, weil sie sich nicht erfüllen kann«. So<br />
redet, wer sich nicht im Ansatz in die Rolle<br />
des mißhandelten Kindes hineinversetzen<br />
kann oder will. Denn diese Rolle ist für Männer<br />
nicht vorgesehen. Aber müßte sich nicht<br />
auch derjenige distanzieren, der sich in die<br />
Rolle des männlichen Täters versetzt? Die<br />
Leser sprechen von Liebe oder Erotik. Die<br />
Sicht des angeblich Liebenden ist die Sicht<br />
eines Täters, doch sie konnten dies oftcnbar<br />
verdrängen. Frauen aber werden sich dieser<br />
Sichtweise höchstens im Ausnahmefall<br />
anschließen können. Das läßt sich nur unzureichend<br />
damit erklären, daß sie die<br />
Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit<br />
verwischen, sehr gut aber damit, daß der<br />
Inhalt des Romans sie mit Unruhe und<br />
Angst erfüllen muß.<br />
Verwechsle ich nicht dauernd die Texte<br />
mit ihren Inhalten, vielleicht verführt vom<br />
Roman und anderen erzählenden Formen?<br />
Doch auch Gedichte schreiben und lesen<br />
l'raucn anders:<br />
Die Mutter holt Kartoffeln<br />
Die Mutter holt Kartoffeln,<br />
sie schält und schneidet sie.<br />
Die Mutter hat Blumenkohl gekauft,<br />
sie reinigt ihn.<br />
Die Mutter hat Petersilie geholt,<br />
Die Mutter kocht die Kartoffeln und den Kohl<br />
in gesalzenem Wasser.<br />
Die Mutter gibt acht, daß das Wasser<br />
nicht verkocht, das Essen nicht anbrennt.<br />
Die Mutter wartet, bis das Essen gar ist.<br />
Sie zerdrückt das Essen mit Milch und Butter<br />
zu einem Brei.<br />
Sie tut den Brei auf den Teller und streut<br />
feingewiegte Petersilie darüber.<br />
Sie ruft das Kind herein zum Essen.<br />
Sie setzt das Kind an den Tisch<br />
und will es füttern.<br />
Das Kind sagt »nein«, schüttelt den Kopf<br />
und will nicht essen.<br />
Das Kind will nicht essen.<br />
Das ist ein irrer Augenblick im Leben<br />
der Mutter, der sie verwirrt.<br />
(Elke Erb, 1973)<br />
Das Gedicht kommentiert sich selbst, nur<br />
der Hinweis vielleicht, daß die Frau in diesem<br />
Gedicht tut, was erwartet wird, und dann<br />
geschieht das Unerwartete, das aufmerksam<br />
gezeichnete Bild bekommt einen Bruch. Das<br />
Gedicht ist von einer Frau verfaßt, ich kann<br />
das lesen, nicht weil etwas aus der Küche<br />
erzählt wird, sondern weil das glatte Bilder<br />
weiblichen Rolle bricht.<br />
Die Literaturwissen seh aftleri n Andrea<br />
Günter schreibt; »In Texten von Frauen<br />
etwas anderes zu finden <strong>als</strong> in Texten von<br />
Männern, bleibt eine Möglichkeit, die aus<br />
dem Zusammenspiel von Körper, individuellen<br />
Erfahrungen und gesellschaftlichen<br />
Einflüssen erwachsen kann. Dabei sind<br />
Erfahrungen und gesellschatlliche Einflüsse<br />
zwar stets an einen Körper gebunden, aber<br />
sie sind weder sein unmittelbarer Ausdruck<br />
noch fließen sie unmittelbar in den Text ein.<br />
Diese Unterscheidung ist auch deshalb von<br />
besonderer Wichtigkeit, weil sie die gradlinige<br />
Rückübertragung eines Textes auf die<br />
Lebensgeschichte der Autorin unmöglich<br />
macht, ohne daß geleugnet werden soll, daß<br />
es eine Verbindung zwischen Schreiben und<br />
Leben gibt.« Um eine geradlinige Übertragung<br />
von Texten auf »das Leben« kann es<br />
nicht gehen. Trotzdem ist es kein Zufall, daß<br />
vor allem die dokumentarische und halbdokumentarischer<br />
Literatur der letzten Jahrzehnte<br />
wesentlich von Frauen geschaffen<br />
wurde, angefangen mit Maxie Wanders<br />
»Guten Morgen, du Schöne«. Die außerordentlich<br />
heftige Diskussion, die die »Tonbandprotokolle«<br />
auslösten, war eben nicht<br />
allein der augenblicklichen politischen Brisanz<br />
der Texte geschuldet, sondern auch der<br />
Tatsache, daß die Leserinnen in jedem Ich<br />
der Texte eine »wirkliche Frau«, ein reales<br />
Gegenüber sehen konnten, zu dem sie sich<br />
kritisch in Beziehung setzten. Die Vielzahl<br />
und Eigenart der Frauenleben machte die<br />
Glaubwürdigkeit der Texte aus. Maxie Wander<br />
hat mit den - natürlich stark bearbeiteten -<br />
Protokollen eine direkte Kommunikation<br />
zwischen den interviewten Frauen und den<br />
Leserinnen hervorgebracht, die Ansatzpunkte<br />
für ein weiteres, kaum mehr literaturbezogenes<br />
Gespräch zwischen Frauen<br />
(unter Beteiligung von Männern) gab. Für<br />
viele Frauen ist »Guten Morgen, du Schöne«<br />
die erste literarische Selbstfeier gewesen.<br />
Auch deshalb fand das Buch so viele Leserinnen,<br />
nicht nur innerhalb der politischen<br />
Grenzen der DDR.<br />
Weibliche Lust beim Lesen entsteht in der<br />
Spannung zwischen Bekanntem und Überraschendem.<br />
Leserinnen wollen sich finden -<br />
nicht in einem getreuen Abbild, sondern in<br />
der Summe wirklicher und gedachter Möglichkeiten.<br />
Ich schlage das Buch auf und beginne<br />
zu lesen.<br />
Statistisches Material aus:<br />
»Frauen lesen. Literatur ai Erfahrung« 26/27<br />
Berlin und Paderbom 1993, darin zahlreiche<br />
Verweise auf Einzeluntersuchungen.<br />
Lesesozialisation, Bd. i hg. von Bettina Hurrelmann/Michael<br />
Hammer/Ferdinand Nieß,<br />
Bd. 2 hg. von Heinz Bonfadelli/Angela<br />
Fritz/Renate Köcher. Gütersloh 1993.<br />
Zum Weiterlesen:<br />
Ruth Klüger, »Frauen lesen anders.» Essays.<br />
München 1996<br />
Dorothee Marlcert, »Momo, Pippi...<br />
was kommt dann? Leseerziehung, weibliche<br />
Autorität und Geschlechterdemokratie.«<br />
Königstein/Taunus 1998.<br />
Andrea Günter, Veronika Mariaux fHgg.),<br />
»Papieme Mädchen - dichtende Mütter.<br />
Lesen in der weiblichen Genealogie.«<br />
Frankßtrt am Main 1994
Mix<br />
E.r Lei t & Aui g e s<br />
Marina, transsexuell, lesbisch<br />
Marina stöckelt in die Hotelhalle. Sie ist<br />
groß, ihre Schultern breit, sie trägt einen<br />
engen Rock und schwarze Strümpfe. Ihre<br />
Haare sind dünn, aber lang, etwas Wimperntusche<br />
um die klaren, großen, blauen Augen,<br />
hellrosa Lippenstift. Ihre Stimme ist tiefer,<br />
<strong>als</strong> man einer Frau zutrauen mag und einzig<br />
daran verrät sich, daß sie eben keine Frau ist,<br />
sondern auf dem Weg. eine zu werden, oder<br />
besser: Eine Imitation, wie sie selbst sagt.<br />
Vor vier Jahren war Marina noch wissenschaftlicher<br />
Mitarbeiter an der TU, sie stand<br />
kurz vor der Hochzeit mit einer Frau, die<br />
jede sexuelle Andersartigkeit heftig ablehnte.<br />
Marina war ein gutaussehender Mann,<br />
hatte Erfolg bei den Frauen, hatte nie auch<br />
nur daran gedacht, selbst weiblich zu sein<br />
oder weibliche Anteile zu haben. Als sie 28<br />
Jahre war, krallte sich diese Idee in ihrem<br />
Kopf fest und ließ nicht mehr los. Marina<br />
löste die Verbindung zu ihrer Freundin, kündigte<br />
ihren Job und hatte fortan nur noch ein<br />
Ziel: So gründlich und so perfekt wie möglich<br />
eine Frau zu werden, ungeachtet der<br />
Schwierigkeiten, die auf sie zukamen.<br />
Marina ist kein unkritischer Mensch,<br />
sie befragte sich selbst, wühlte in ihren<br />
Untergründen, ging zum Psychiater, suchte<br />
Kontakt zu Selbsthilfegruppen. Lächelnd<br />
spricht sie darüber, daß die meisten Transsexuellen,<br />
die sich vom Mann in eine Frau<br />
verwandeln wollen, einen sozialen Abstieg<br />
durchmachen, und es handelt sich hier nicht<br />
um eine Stufe, sondern um mehrere Etagen:<br />
Die meisten gehen auf den Strich. »Das ist<br />
das Geld«, sagt Marina. »Sie glauben gar<br />
nicht, was das kostet. Bis jetzt habe ich<br />
43.000 Mark ausgegeben, zwei Drittel allein<br />
für Epilationen. Der Haarwuchs auf Brust<br />
und Kinn und Beinen verschwindet nicht<br />
einfach von selbst.«<br />
Bis zu zweihundert Sitzungen bei<br />
Hautärzten oder Kosmetikern sind nötig,<br />
schmerzhaft wird jede Haarwurzel einzeln<br />
ausgezogen. Dazu kommt die Hormonbehandlung.<br />
Man kann sie unter ärztlicher<br />
Aufsicht durchführen lassen, doch die<br />
meisten Transsexuellen besorgen sich die<br />
Pillen schwarz. Irgendwann stehen dann die<br />
Foto: Christina Damasceno<br />
Operationen auf dem Plan, eine große und<br />
mehrere kleine. »Ich hoffe, daß das die<br />
Krankenkasse zahlt, aber sicher ist das<br />
nicht«, sagt Marina. »Ich muß Gutachten<br />
beibringen, daß ich den sogenannten Alltagstest<br />
durchgeführt habe, das heißt, daß<br />
ich seit etwa drei Jahren wie eine Frau lebe.<br />
Dann kann ich meinen Namen ändern lassen,<br />
sogar schon ohne Operation.« Denn<br />
Transsexualität wird <strong>als</strong> Krankheit anerkannt.<br />
Es ist nicht der Sex, um den es Marina<br />
geht. Männer machen sie nicht an: »Ich habe<br />
eher einen Hang zu Frauen, aber ich gehe<br />
auf den Strich, wie fast alle, und wie fast alle<br />
hoffe ich, daß man mir nach Abschluß der<br />
Operationen nicht mehr ansehen wird, daß<br />
ich einmal ein Mann war. Ich will es so perfekt<br />
wie möglich. Ich werde mir sogar die<br />
Stimmbänder operieren lassen, auch wenn<br />
davon abgeraten wird.« Ihr ginge es noch<br />
gut, sagt Marina. Es gäbe andere, denen fallen<br />
die Haare aus, nicht bei allen schlügen<br />
die Hormone so an wie sie sollen. Hinzu<br />
kommen feststehende natürliche Maße. An<br />
den großen Füßen, der Körpergröße könne<br />
man eben nichts ändern, und der Adamsapfel<br />
soll auch noch weg.<br />
»Je jünger jemand ist, desto leichter wird<br />
die Umwandlung, er ist noch nicht so eingerichtet<br />
in seinen männlichen Körper. Nach<br />
der Umwandlung ist es sehr schwer, wieder<br />
Fuß zu fassen im Berufsleben. Viele bleiben<br />
Prostituierte. Es gibt mehr Männer, die das<br />
anmacht, mit einer Transsexuellen zusammenzusein,<br />
<strong>als</strong> man glaubt, aber sie heiraten<br />
sie nicht.«<br />
Ist das der Traum vieler umgewandelter<br />
Frauen: Die Ehe, ein Mann, der sich um sie<br />
kümmert? Hat der Prozeß nicht stark masochistische<br />
Züge, die Schmerzen bei den Epilationen,<br />
die Operationen, die Veränderung<br />
des gesamten sozialen Umfeldes, und später<br />
der Sex gegen Geld? Genommen werden,<br />
erdulden, hinnehmen, eine Perfektion<br />
erstreben?<br />
»Viele, vor allem junge Transsexuelle<br />
träumen davon, ein Modell zu sein. Sie brauchen<br />
die Bestätigung: Ja, Du bist eine Frau.<br />
Andere Interessen treten fast vollständig in<br />
den Hintergrund, ihr Hobby ist die Beschäftigung<br />
mit sich selbst, dem Körper, der Reaktion<br />
der Umwelt.« Marina weiß das alles.<br />
Und trotzdem soll das Ding zwischen ihren<br />
Beinen weg, sie will es nicht mehr haben.<br />
Alles wird künstlich sein. Sie wird keine<br />
Regel haben, immer Hormone nehmen<br />
müssen. »Ich strebe nach dem antiquierten<br />
Klischee einer Frau. Wirkliche Frauen müssen<br />
heute ihren Mann stehen, das will eine<br />
Transsexuelle nicht. Ich habe mehr Glück <strong>als</strong><br />
die meisten: Ich habe Eltern, die versuchen,<br />
mich zu verstehen, wenn es ihnen auch<br />
schwerfällt.« Die Freundin, die sie einmal<br />
fast geheiratet hätte, die hat auch eine Verwandlung<br />
durchgemacht: »Ich habe sie wiedergetroffen.<br />
Heute ist sie Lesbierin und wir<br />
kommen uns wieder nah. Ist doch komisch,<br />
oder?"<br />
Während unserer Unterhaltung ist zwei<br />
Tische weiter ein mittelalter Herr in einem<br />
grauen Anzug aufgestanden. Er hatte uns<br />
schon eine Weile beobachtet, nun kommt er<br />
herüber, legt eine mit Zimmer- und Telefonnummer<br />
beschriebene Papierserviette auf<br />
den Tisch, lächelt, geht. Marina steckt die<br />
Serviette ein.
Mix<br />
Frau statt Rau<br />
hat kaum<br />
Am 23. Mai werden 66g Bundeslagsabgeordnete<br />
und ebenso viele Delegierte der<br />
16 Landtage den oder die Nachfolgerin von<br />
Bundrspräsidcnt Roman Herzog wählen.<br />
Aller Wahrscheinlichkeit macht erneut ein<br />
Mann das Rennen ums höchste Staatsamt.<br />
Johannes Rau, mit 68 Jahren noch drei Jahre<br />
älter <strong>als</strong> der bisherige Amtsinhaber, krebskrank<br />
und Vater von drei minderjährigen<br />
Kindern, will sich seinen Lebenstraum erfüllen.<br />
Als nordrhein-westfälischer Ministerpräsident<br />
hatte er den Stab an den jüngeren<br />
Wolfgang Clement nur unter der Bedingung<br />
weitergereicht, daß ihm die SPD-Spitze das<br />
ßundespräsidentenamt versprach.<br />
no<br />
Glianc<br />
von Jutta Re,dmann<br />
e n<br />
Berufstätigkeit der Mütter ein und stellt<br />
sich hinter die Reform des Abtreibungsparagraphen<br />
218. Seit ihrer Nominierung im<br />
Januar gab sich die Kandidalin eigenwilliger,<br />
<strong>als</strong> es CDU und CSU lieb ist: Zuerst ließ sie<br />
Distanz zur Unionskampagne gegen die doppelte<br />
Staatsangehörigkeit erkennen. Dann<br />
sorgte sie in der Union für helle Empörung<br />
mit ihrer Äußerung, sie könne nicht ausschließen,<br />
auch mit PDS-Stimmen zur ßundespräsidentin<br />
gewählt zu werden: »Das gehört<br />
zur Normalität in dieser Demokratie«.<br />
Sozialdemokratische und grüne Frauen,<br />
die seit der Bundestagswahl eher halbherzig<br />
und verspätet auf eine Frau ins höchste<br />
Staatsamt gedrangt hatten, reagierten frustriert<br />
- und folgenlos. Den Bündnisgrünen<br />
war die freiwerdende Stelle einer EU-Kommissarin<br />
zugesagt worden, wenn sie Rau<br />
mitwählten. Jetzt sieht zwar alles danach aus,<br />
daß die grünen Politikerinnen erneut leer<br />
ausgehen und der attraktive Brüsseler Posten<br />
an den CDU-Mann Matthias Wissmann geht<br />
- höchstwahrscheinlich werden sie aus<br />
Koalitionsräson aber doch für den SPD-Kandidaten<br />
stimmen. Ebenso die Sozialdemokratinnen,<br />
die ihre Niederlage längst antizipiert<br />
haben und den Genossen jetzt über den<br />
grünen Klee loben.. Damit hat auch der kluge<br />
Appell der überparteilichen Initiative »Die<br />
Bundespräsidentin!« an Johannes Rau wohl<br />
keine Chancen mehr, er solle einen »mutigen<br />
Schritt« machen und auf das Staatsamt<br />
zugunsten einer Frau verzichten.<br />
Auch die Kandidatur der 55Jährigen<br />
parteilosen Unionskandidatin Dagmar<br />
Schipanski brachte nur vorübergehend<br />
Bewegung in diese Gemengelage. Zwar<br />
zollten auch sozialdemokratische und grüne<br />
Frauen der Thüringer Professorin für Festkörperelektronik<br />
ausdrücklich ihren Respekt<br />
- wählen wollen sie trotzdem Rau. Ausgesprochen<br />
empört reagierten die Sozialdemokratinnen,<br />
<strong>als</strong> der Deutsche Frauenrat sich<br />
eindeutig hinter die ostdeutsche Frau stellte.<br />
»Auf den Leim gegangen« sei der Frauenrat<br />
der Union mit deren Kampagne »Frau statt<br />
Rau«. Sie verschwiegen dabei, daß die Union<br />
ihre Kampagne nur fahren konnte, weil die<br />
S PI) keine Frau nominiert hatte.<br />
Der Frauenrat, der 50 Frauenverbände<br />
und elf Millionen Mitglieder vertritt, ließ sich<br />
durch solche Kritik nicht beirren. »Wir wollen<br />
doch ins nächste Jahrtausend«, erklärte die<br />
Vorsitzende Helga Schulz in schonungsloser<br />
Offenheit: »Das können wir unmöglich mit<br />
einem alten Mann. Dafür brauchen wir eine<br />
gestandene Frau«. Daß Dagmar Schipanski<br />
eine gestandene Frau ist, das geben auch<br />
ihre politischen Gegnerinnen zu. Mit 27 Jahren<br />
promovierte sie, mit 36 habilitierte sie in<br />
der Männerdomäne Physik. Nebenher zogen<br />
sie ihr und Mann drei Kinder groß - Rau hat<br />
auch drei Kinder, die aber fast ausschließlich<br />
von seiner viel jüngeren Ehefrau Christina<br />
erzogen wurden. Unbequem ist Schipanski<br />
auch: Weil sie sich weigerte, in die SED einzutreten,<br />
konnte sie erst 1990 nach der<br />
deutschen Einheit Professorin werden. Dann<br />
verlief ihre wissenschaftliche Karriere aber<br />
um so rasanter: Im thüringischen Ilmenau<br />
wurde sie erste Rektorin einer bundesdeutschen<br />
technischen Universität. Und sie leitete<br />
<strong>als</strong> erste Frau kompetent den angesehenen<br />
Wissenschaftsrat. Auch frauenpolitisch hat<br />
sie im Gegensatz zu Rau einiges zu bieten:<br />
Sie bringt die So^ialisation der DDR-Frauen<br />
ein, tritt ganz selbstverständlich für die<br />
Kein Wunder, daß die parteilose CDU-<br />
Kandidatin auf viel weibliche Unterstützung<br />
zählen darf- allerdings hauptsächlich außerhalb<br />
der Parteien. Zur »Aktion Pro Schipanski«<br />
bekannte sich ein breites Spektrum,<br />
angefangen von der Verfassungsrichterin<br />
Karin Graßhof bis hin zur Schauspielerin<br />
Uschi Glas. Vom Hausfrauenbund kam Lob<br />
für die »sehr geeignete Kandidatin«. Und<br />
auch »Emma«-Herausgeberin Alice Schwarzer<br />
rührte emsig die Werbetrommel für die<br />
Wissenschaftlerin: »Frauen, die wollen, daß<br />
man ihnen den Einsatz für Fraueninteressen<br />
ernsthafl abnimmt, müssen am 23. Mai für<br />
Dagmar Schipanski stimmen«.<br />
Doch sieht alles danach aus, <strong>als</strong> ob sich<br />
die meisten der insgesamt 1.338 Wahlfrauen<br />
und -männer doch für den Mann Rau entscheiden<br />
werden. Als feste Truppen kann<br />
Schipanski nur die CDU- und CSU-Mitglieder<br />
in der Bundesversammlung verbuchen - bei<br />
einer Probeabstimmung votierten die Unionsabgeordneten<br />
einstimmig für sie. Trotz<br />
massiven Drucks von FDP-Chef Wollgang<br />
Gerhardt werden wohl nur 25 Liberale für<br />
Schipanski stimmen - 15 Freidemokratlnnen<br />
um den Nordrhein-Westfalen Jürgen Mollemann<br />
wollen Rau quasi <strong>als</strong> Einstiegsticket<br />
in eine spätere sozialliberale Koalition<br />
wählen.<br />
211999
INFOS<br />
Auch die PDS. die sich lange nicht<br />
zwischen der ostdeutschen Frau - die sie<br />
gemäß eigenem Selbstverständnis <strong>als</strong> ostdeutsche<br />
Interessenpartei nicht übergehen<br />
konnte - und dem westdeutschen<br />
Mann - von dessen Unterstützung sie<br />
sich mehr Aufgeschlossenheit der SPD<br />
für rot-rote Koalitionen versprach - entscheiden<br />
kotinte, fälll nun <strong>als</strong> Stirnmenlieferantin<br />
lür die parteilose CDU-Kandidatin<br />
weg. Der Kosovokrieg bot der Partei<br />
einen Ausweg aus dem Entscheidungsdilernnia.<br />
Weder Ran noch Schipanski<br />
seien wegen ihrer Zustimmung zu den<br />
NATO-Angriffen auf Jugoslawien »wählbar«,<br />
betonte PDS-Chef Lothar Bisky.<br />
Und präsentierte flugs die katholische<br />
Theologin Uta Ranke-Heinemann, Tochter<br />
des früheren Bundespräsidenten<br />
Gustav l leincrnann. <strong>als</strong> eigene friedensbewegte<br />
Kandidatin. Doch der 7ijährige<br />
Fricdensaklivistin, die sich seit Jahren mit<br />
der katholischen »Männerkirche« streitet,<br />
geht es nach eigener Aussage ȟberhaupt<br />
nicht um das Amt des Bundespräsidenten<br />
oder der Bundespräsidentin«. Sie<br />
will die Kandidatur nur nutzen, »um<br />
meine Stimme gegen den Kriegswahnsinn<br />
/.n erheben". »Die Gefahr, daß ich<br />
Bundespräsidentin werde, ist gleich null«.<br />
Ohne POS-Stimmen hat Schipanski<br />
aber kaum Chancen. Rau dagegen sind<br />
die Stimmen von SPD und Grünen und<br />
von einem guten Dutzend Freidemokraten<br />
ziemlich sicher. Wird er am 23. Mai<br />
zum neuen Bundespräsidenten gewählt,<br />
dann sind wieder einmal alle drei höchsten<br />
Staatsämter an Männer gegangen -<br />
obwohl die neue rot-grüne Bundesregierung<br />
einen frauenpolitischen Aufbruch<br />
versprochen hatte. Dann bleibt nur der<br />
Blick auf das Jahr 2004 - und die Hoffnung,<br />
daß sich dann auch sozialdemokratische<br />
und grüne Frauen früher und<br />
eindeutiger für eine Bundespräsidentin<br />
stark machen.<br />
Frauen an der Spree<br />
Unter diesem Titel geleitet uns ein gerade im<br />
Berliner be.bra.Verlag erschienenes Büchlein<br />
auf historischen Frauenpfaden in 47 Kurzgeschichten<br />
die Spree abwärts vorn Osthafen<br />
bis nach Tiergarten. Es wurde von der Berliner<br />
Geschichtswerkstatt herausgegeben und enthält<br />
Materialien und Geschichten, die diese für<br />
ihre historischen Dampferfahrten zur Frauengeschichte<br />
recherchierte und sammelte. Die<br />
Zusammenstellung präsentiert auf 128 Seiten<br />
historische Frauenorte, -biografien sowie -bewegungen<br />
und wurde von den 16 Autorinnen<br />
<strong>als</strong> Spazicrgang konzipiert.<br />
l » Das ist das letzte«<br />
ist nicht nur der Titel des Frauenpolitischen<br />
Rundbriefes No. 1-1999 ^es Berliner Landesverbandes<br />
von Bündnis tjo/DIL GRÜNFN<br />
zum Internationalen Frauentag, sondern es<br />
sind die peinlichen sachlichen Fehler im Inhalt.<br />
Im Artikel »80 |ahre Frauenwahlrechl«<br />
wurde die Einführung des Wahlrechtes auf<br />
1910 und der Artikel 3 Abs. 2 des Grundgesetzes<br />
der Bundesrepublik Deutschland auf 1940<br />
datiert. Aber das sind momentan vermutlich<br />
nicht die einzigen Irrtümer der Grünen.<br />
; Urlaubsnetzwerk<br />
Dem 1984 gegründeten Urlaubsnetzwerk<br />
»Women welcome women« gehören gegenwärtig<br />
2.500 Frauen aus 67 Landern - in<br />
Deutschland etwa 300 Frauen - an. Sie bieten<br />
sich auf Reisen gegenseitig Unterkunft, zum<br />
Teil kostenlos. Koordinatorin ist Ursula Hufler.<br />
Infos: 068^8/6800 oder<br />
www.womenwelcomcwomen/org.uk<br />
Gewalt gegen Frauen; Aufklärung tut not<br />
Die Europäische Kommission fördert im<br />
laufenden Haushalt mit insgesamt 1,9 Mio<br />
Euro Informations- und Aufklärungsmaßnahmen<br />
mit europäischen Bezug, um die<br />
Öffentlichkeit auf diese Form von Gewalt<br />
! aufmerksam zu machen. Gemeinnützige<br />
; Einrichtungen können eine Projektunterstützung<br />
erhoffen, wenn sie möglichst viele<br />
gesellschaftliche Gruppen und öffentliche<br />
Stellen in ihre Planung einbeziehen. Außer-<br />
. dem sollten sich die Vorhaben örtlichen Gegebenheiten<br />
anpassen und auf die Verhütung<br />
i häuslicher Gewalt ausgerichtet sein. Die Projekte<br />
sollten positive Botschaften vermitteln<br />
und Frauen über ihre Rechte und Verteidi-<br />
; gungsmöglichkeiten unterrichten. Die Anträge<br />
müssen bis zum 21. Mai 1999 eingehen.<br />
Antragsunterlagen: Europäische Kommission,<br />
GDX/A/5, Zielgruppe Frauen,<br />
Büro Ti20 7/50, Rue de la Loi 200.<br />
6-1049 Brüssel, Fax: ooj 22/299 3^ 91-<br />
E-mail: infqfemmes@dgio.cec.be.<br />
Zweite Ausschitibungsrundt<br />
ftir»DAPHNE« 1999<br />
Tggg stehen insgesamt 5 Mio Euro für die<br />
DAPHNE-Initialive zur Bekämpfung von<br />
Gewalt gegen Kinder, Jugendliche und<br />
Frauen bereit. Fördermittel können entsprechend<br />
qualifizierte nichtsstaatliche bzw.<br />
gemeinnützige Organisationen für folgende<br />
Projekte bis ;airn 18. Juni 1999 beantragen:<br />
Ausbildung und Austausch; Pilotprojekte;<br />
Auf- und Ausbau europäischer Netze; Studien<br />
und Forschung; Informationsverbreitung<br />
sowie Zusammenarbeit zwischen<br />
Nichtregierungsorganisationen und Behörden.<br />
Projekte, an denen sich Einrichtungen<br />
aus mindestens zwei Mitgliedsstaaten beteiligen,<br />
werden vorrangig berücksichtigt.<br />
Lt.'i!juiitfn und Antragsunte.rlagen:<br />
Europäische Kommission, Gener<strong>als</strong>ekretariat,<br />
Task Force Justiz und Inneres,<br />
z. Hd. Anthony Simpson<br />
Avtnue des Nerviens 9 - 6/25.<br />
Rue de la Loi 200, 8-1049 Brüssel,<br />
Fax: 003 22/295 °' 74'<br />
Kuropa.eu.int/comm/sg/daphne/en/<br />
index.htm<br />
Fachtagung<br />
»Sexuelle Gewalt gegen Mädchen<br />
und Frauen - Die Opfer schützen*<br />
Das Ministerium für Frauen, Arbeit, Gesundheit<br />
und Soziales des Saarlandes richtete im<br />
September 1997 zum genannten Thema eine<br />
Fachtagung mit dem Ziel aus, das Spannungsfeld<br />
zwischen Opferschutz, parteilicher<br />
Beratungstätigkeit und Erfordernissen eines<br />
Strafrechtsverfahrens bei sexuellen Gewaltdelikten<br />
zu beleuchten. Die Ergebnisse liegen<br />
nun <strong>als</strong> Dokumentation vor und sind gegen<br />
eine Gebühr von 10 DM erhältlich.<br />
Ministeriumßir Frauen, Arbeit, Gesundheit<br />
und Soziales, Abteilung Frauen,<br />
Franz-Josef-Röder-Str. 23, (16115; Saarbrücken,<br />
Tel.: 06 81/50132 02, Fax: 06 81/50133 35<br />
Frauen <strong>als</strong> Ziel von Gewalt - Neues Archiv<br />
Die Gender Studies-Bibliothek in Prag hat<br />
dieses Archiv gegründet. Das Archiv soll<br />
Material von Organisationen sammeln, die<br />
geschiedene und verwitwete Frauen sowie<br />
weibliche Opfer von Gewalt beraten, Präventionsarbeit<br />
für diese Frauen leisten, psychosoziale<br />
Hilfe für sexuell mißbrauchte Frauen<br />
anbieten, dem Frauenhandel entgegentreten,<br />
Anti-Gewalt-Projekte beraten und bereits<br />
Material zum Thema Gewalt gegen Frauen<br />
archivieren. Diese Archiv soll <strong>als</strong> Informationsquelle<br />
für alle am Thema Gewalt gegen<br />
Frauen Interessierte dienen. Um Artikel<br />
zum Thema wird gebeten.<br />
E-Mail: gender@ecn.cz<br />
1(1999
Der Sammelband »Frauen in ver-rückten<br />
Lebens weiten«, herausgegeben von Claudia<br />
Brügge/Wildwasser Bielefeld, stellt die breite<br />
aktuelle feministische Diskussion zu Psychiatrie<br />
und Ver-rücktheit von Frauen vor.<br />
Namhafte Autorinnen setzen sich mit dem<br />
weiblichen Wahnsinn auseinander - historisch,<br />
politisch, feministisch, persönlich.<br />
Psychiatriebetroffene berichten von ihren<br />
persönlichen Erfahrungen, feministische<br />
Psychotherapeut innen geben Einblick in ihre<br />
therapeutische Arbeit, Frauen beschreiben,<br />
wie sie schwere Krisen von Freundinnen<br />
erlebt haben. Wissenschaftlerinnen erzählen<br />
von der Kulturhistorie des Wahnsinns und<br />
vom Leben der »Wahnsinnsfrauen« dam<strong>als</strong><br />
und heute. Die Autorinnen rechnen mit dem<br />
Vorurteil ab, daß Wahnsinn immer nur bei<br />
den anderen zu finden ist. Sie denken darüber<br />
nach, welche Wege es außer psychiatrischer<br />
Gewalt und diagnostischen Etikettierungen<br />
noch geben kann, und stellen<br />
konkrete Alternativen zur Psychiatrie vor.<br />
Bezug zum Preis von 39,80 DM:<br />
Wildwuswr Bielefeld t. V., ]öllenbecker Str. 57,<br />
3j6ij Bielefeld, Fax: 05 21/17 ^4 7^<br />
Männer lassen waschen<br />
Über die klassische Frauenarbeit, nämlich<br />
unbezahlte Arbeit, schreibt Christina Klenner<br />
im Magazin der Hans-Böckler Stiftung<br />
»Die Mitbestimmung« Nr. 3/99. Trotz der<br />
zunehmenden Teilnahme von Frauen am<br />
Erwerbsleben, ist die klassische Rollenverteilung<br />
nach wie vor ungebrochen. Internationale<br />
Vergleiche zeigen, daß die althergebrachte<br />
Arbeitsteilung in Deutschland ein<br />
besonders ausgeprägtes Beharrungsvermögen<br />
aufweist. Frauen arbeiten zwar insgesamt<br />
länger <strong>als</strong> Männer und haben weniger<br />
Freizeit, verfügen aber gleichzeitig über<br />
weniger eigenes Einkommen. Für den Anteil<br />
von Männern an der Hausarbeit ist die<br />
Familiengröße bzw. eine Erwerbstätigkeit<br />
der Partnerin irrelevant und liegt <strong>als</strong> eine<br />
Art »Naturkonstante« bei 10 Stunden wöchentlich.<br />
Auch bei jüngeren Paaren läßt<br />
sich keine Trendwende feststellen. Frauen<br />
entlasten sich selbst durch Teilzeitarbeit,<br />
durch weniger Hausarbeit oder beschäftigen<br />
l laushaltshilfen. Reinigung und Pflege der<br />
Wäsche, Putzen, Kochen sowie Kinderbetreuung<br />
ist hauptsächlich Sache der Frauen.<br />
Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts<br />
Allensbach ergänzte diesen Befund<br />
kürzlich mit der Feststellung, daß sich die<br />
männliche Bereitschaft zum Helfen (sie!)<br />
nach einer Eheschließung rapide minimiert.<br />
Siehe zu diesem Thema auch die gerade<br />
erschienene Studie von Cornelia Koppetsch/Günter<br />
Burkart: Die Illusion der<br />
Emanzipation. Zur Wirksamkeil latenter<br />
Gesdilechtsnormen im Milieuvergleich,<br />
Konstanzer Universitätsverlag, 38 DM, die<br />
daraufhinweisen, daß Frauen die tradierte<br />
Arbeitsteilung mittragen.<br />
Männergespräche<br />
Der Münsteraner Psychologe Alfred Gebert<br />
untersuchte Männergespräche und fand<br />
heraus, daß Männer nicht zuhören. Sie<br />
unterbrechen sich und übertrumpfen sich<br />
gegenseitig mit ihrem Expertenwissen und<br />
guten Ratschlägen. So können sie stundenlang<br />
kommunizieren. Sie hören auch ihren<br />
Frauen nicht zu. Umgekehrt ja, so Geliert.<br />
Sie reden aneinander vorbei. Die Frau wirft<br />
dem Mann dann vor, nicht zuzuhören und<br />
die Kommunikation bricht zusammen.<br />
(Tagesspiegel, 6. 4.1999,)<br />
Ein Vergleich der Mutter-Kind-Beziehung in<br />
Ost-West-Relation, den Psychologinnen der<br />
Universitäten Konstanz und Saarbrücken<br />
vornahmen, ergab diesen Befund. Mütter in<br />
Westdeutschland ließen Fehlverhalten ihrer<br />
Kinder häufiger durchgehen und seien unsicherer<br />
in ihren Regeln. Ostdeutsche Mütter<br />
setzen dagegen meist klare Grenzen. Die<br />
Mutter-Kind-Beziehung im Osten sei harmonischer<br />
und liebevoller. Der westliche Erziehungsstil<br />
ohne klare Grenzen verunsichere<br />
Kinder und führe häufiger zu Streit. Ostdeutsche<br />
Mütter dagegen definierten klar, was<br />
sie von Kindern erwarten und verhielten sich<br />
dadurch auch sehr herzlich. Die Autorinnen<br />
warnten davor, den ostdeutschen Erziehungsstil<br />
<strong>als</strong> »grauenhaften DDR-Stil« abzutun.<br />
Kinder in Frankreich oder Israel würden<br />
ähnlich erzogen. (Tagesspiegel, 8. 4. 1999)<br />
M ad ch enarbei t<br />
Zu diesem Thema erschien vom Bundesministerium<br />
für Familie, Senioren, Frauen<br />
und lügend die Nr. 45 des KABI-Informationsdienstes.<br />
Die Konzertierte Aktion Bundes<br />
Innovationen (KABI) ist eine gemeinsame<br />
Aktion des Bundes Jugendministeriums<br />
und der 'träger von Maßnahmen der Kinderund<br />
Jugendhilfe, die aus dem Kinder- und<br />
Jugendplan des Bundes gefördert werden.<br />
Im KABI-lnfor-mationsdienst werden beispielhaft<br />
Projekte vorgestellt und Anregungen<br />
für die Praxis gegeben.<br />
Die KAB! kann kostenlos bezogen werden über:<br />
KABI Leserservice, PF 400,<br />
65175 Wiesbaden, Fax: 0611/9030281.<br />
KABI im Internet: www.universum.de oder<br />
www.bmßß.de/kindjuge/publikat/index.htm<br />
Chancengleichheit von Männern<br />
und Frauen 1996 - 2000<br />
Im Rahmen dieses Vierten mittelfristigen<br />
Aktionsprogrammes der Europäischen<br />
Gemeinschaft erscheinen regelmäßig Publikationen:<br />
vierteljährlich das Magazin<br />
»Chancengleichheit« und »New Ways«<br />
<strong>als</strong> Veröffentlichung des Europäischen<br />
Netzwerks »Familie, Arbeit und Solidarität<br />
zwischen den Generationen«. Weiterhin<br />
kostenlos verfügbar ist die 28-seitige Kurzfassung<br />
des Jahresberichtes 1997 »Chancengleichheit<br />
für Frauen und Männer in<br />
der Europäischen Union«. Ebenfalls <strong>als</strong><br />
Broschüre erhältlich ist der »Leitfaden zur<br />
Bewertung geschlechtsspezifischer Auswirkungen«.<br />
Das zuständige Referat der<br />
Europäischen Kommission ist unter der<br />
Website www.dg5b.cec/en/temp /equ_opp/<br />
index_en.htm zu finden.<br />
Bezugsadresse ßir kostenlose Veröffentlichungen:<br />
Europäische Kommission, CD V/D. 5,<br />
Rue de la Loi 200, 6-1049 ßrwsse/,<br />
{•»K; oo) 22/296 £5 61, Fax: 003 22/29635 62<br />
Die Rolle der Familie in Europa von heute<br />
Eine Fachkonferenz »Familien im europäischen<br />
Wirtschafts- und Sozialraum« befaßt<br />
sich am 29730. Mai 1999 in Berlin mit der<br />
Rolle der Familie in Europa, auf der Fragen<br />
erörtert werden sollen, welche Maßnahmen<br />
notwendig sind, um die Entlastung und<br />
Förderung für Familien bedarfsorientiert<br />
und zielsicher zu gestalten.<br />
Auskünße: Koordinierungsstelle ßir nationale<br />
und internationale Familienfragen,<br />
Tel.: 02 28/25 &4 64, Fax: 02 28/25 41 79-<br />
Geburtenrate in der Europäischen Union<br />
auf Nachkriegstiefstand<br />
Die Geburtenrate in der Union sank 1998<br />
auf 4,01 Mio. Da die geburtenschwachen<br />
Jahrgänge 1965-1975 folgen, wird sie weiter<br />
sinken. Besonders niedrige Raten verzeichnen<br />
Österreich, Finnland, Deutschland und<br />
Griechenland. Lediglich in Frankreich und in<br />
den Niederlanden wird mit einem deutlichen<br />
Zuwachs gerechnet. Deutschland muß aus<br />
diesem Grund mit einem natürlichen Bevölkerungsrückgang<br />
rechnen.<br />
(Eurostat News Release<br />
»Abtreibungspille« RU 486<br />
Welche nähere Informationen über RU 486<br />
(Myfegyne) wünscht, kann beim Feministischen<br />
Frauengesundheitszentrum Frankfurt ,<br />
Kasseler Str. la, 60486 Frankfurt eine ausführliche<br />
Broschüre anfordern.<br />
Auskünfte erteilt auch das FFGZ Berlin, Bamberger<br />
Str. 51, 10777 Berlin, Tel.: 030/213 95 97,<br />
2I!999 93
INFOS<br />
Zum Thema RU486 veranstalten Pro<br />
Familia und das Familienplanungszentrum<br />
Balance am 2. 6. 1999 von 19:30 - 21:30<br />
im Berliner Rathaus Schöneberg eine Podiumsveranstaltung.<br />
Hier soll es nicht nur um<br />
die medizinische Wirkungsweise gehen, sondern<br />
es sollen auch die Konsequenzen für<br />
die Beratungstätigkeit besprochen werden.<br />
Infos: Fön (030) 21 47 64 21<br />
Frauen-Vorlesungsverzeichnisse Sommer-<br />
• Hamburg: Koordinationsstelle Frauenstudien/Frauenforschung,<br />
Joseph-Carlebach-Platz/Binderstr. 34,<br />
20146 Hamburg,<br />
Tel.: 040/428 38-59 66,<br />
Fax: 040/428 38 67 63<br />
FU Berlin: FU Berlin, ZE 3,<br />
Königin-Luise-Str. 34, 14195 Berlin,<br />
Tel.: 030/838-33 78, Fax: 030/838 61 83,<br />
E-Mail: zefrauen@zedat.fu-berlin.de<br />
Der 36-seitige Reader zum Preis von 3 DM<br />
umfaßt die Beiträge der Landesfrauenversammlung<br />
von Bü/Grü NRW vom November<br />
1997 sowie einen Literatur- und<br />
Adressenanhang.<br />
Kostenlose Ansichtsexemplare:<br />
Bündnis 907 DIE GRÜNEN,<br />
Landesgeschäßsstelle N R W,<br />
jahnstr. 52, 40215 Düsseldorf,<br />
Tel.: 02 11/386 6630, Fax: 0211/3866699,<br />
E-Mail: bauer.gruene-nrw@t-online.de<br />
Dokumentation »Virtuelle Frauenwelten«<br />
Teilnehmerinnen aus Frankreich, Österreich<br />
und Deutschland diskutierten auf einer europäischen<br />
Zukunftswerkstatt, veranstaltet<br />
vom Leonardo-Pilotprojekt »Netzwerk Neue<br />
Berufsbilder für Frauen in Europa« und vom<br />
Projekt Teleservice 2000 plus des Virtuellen<br />
Gründerzentrums für Telearbeit GmbH (VGZ),<br />
über Fragen, wie: Wo sind die Frauen in der<br />
virtuellen Welt? Wie würde die Zukunft aussehen,<br />
wenn mehr Frauen an ihrer Gestaltung<br />
beteiligt wären?<br />
Die Doku der Diskussion erhältlich bei:<br />
VGZ, Projekt Teleservice 2000 plus<br />
(Birgitt Wählisch), Großkopfstr. 8, 1340$ Berlin,<br />
Tel.: 030/42 10 64 06, Fax: 030/42 10 64 07,<br />
E-Mail: info@vgz.de<br />
Münchner Bündnis -<br />
Aktiv gegen Männergewalt<br />
Am 23. / 24. |uni 1999 findet in München<br />
eine Fachtagung zu den Ergebnissen der<br />
»Münchner Kampagne gegen Männergewalt<br />
an Frauen und Mädchen/Jungen« statt.<br />
Im Zusammenhang mit dieser Kampagne<br />
erschien das Buch: »Aktiv gegen Männergewalt<br />
- Kampagnen und Maßnahmen<br />
gegen Gewalt an Frauen interantional«<br />
von den renommierten Expertinnen Anita<br />
Heiliger und Steffi Hoffmann.<br />
(ISBN: 3-88104-302-0)<br />
Veranstaltungsprogramm: c/o Kofra e.V.,<br />
Baaderstr. 30, #0469 München.<br />
25. Kongreß Frauen in Naturwissenschaft<br />
und Technik<br />
vom i3--i6. Mai in der TU Darmstadt<br />
mit dem Thema: »Frauenmehrwert -<br />
eine Bilanz am Ende des Jahrtausends« -<br />
Rückschau und Perspektiven.<br />
Kontakt: (061 51) 16-49 M-<br />
iil: fi n uti)i)dfj hrzl.hrz.tu-darmstadt.de<br />
Lesen'nrtenbmf zur Ausgabe 5/98 mit dem<br />
Schwerpunkt Frauen und Religionen<br />
Leider ist in Ihrem Artikel über jüdische<br />
Frauen in Berlin heute nur von denen die<br />
Rede, die orthodox praktizieren. Von den<br />
breiten Aktivitäten im liberalen Spektrum<br />
wird nichts berichtet, außer dem f<strong>als</strong>chen<br />
Satz »Frauen in der Oranienburger Straße<br />
setzten nach langen Auseinandersetzungen<br />
den gleichberechtigten Gottesdienst durch,<br />
sie lesen seit ungefähr einem Jahr selbst aus<br />
der Thora«. Dazu stellen wir fest: Seit vier<br />
bzw. fünf Jahren treffen sich regelmäßig<br />
zwei egalitäre (^gleichberechtigte) Gruppen,<br />
der sogen, »egalitäre Gottesdienst« und der<br />
»egalitäre Minjan«, bei dem Frauen und<br />
Männer die gleichen Möglichkeiten haben,<br />
im Gottesdienst aktiv zu werden, <strong>als</strong>o aus der<br />
Torah zu lesen. In traditionellen jüdischen<br />
Gottesdiensten werden nur Männer gezählt.<br />
Wir zählen - beim EGALITÄREN MINJAN -<br />
Frauen UND Männer zum Minjan der Zehn,<br />
und alle gestalten gleichberechtigt den Gottesdienst<br />
mit. Auch zählen wir Teilnehmerinnen,<br />
die einen jüdischen Vater haben - <strong>als</strong>o<br />
nicht nur die Nachkommen jüdischer Mütter<br />
- zu unserem Minjan. Dieser Gottesdienst<br />
entsprang dem Bedürfnis, Schabbat gemeinsam<br />
zu feiern und eigene Formen des Betens<br />
für unsere unterschiedlichen Geschichten<br />
und Erfahrungen zu finden. Seit Ende 1993<br />
haben wir uns alle 3 Wochen am Schabbatvormittag<br />
getroffen. Wir haben eine eigene<br />
Liturgie, die die wichtigsten Inhalte des traditionellen<br />
jüdischen Gotesdienstes beibehält.<br />
Neuerscheinung<br />
6. Auflage<br />
iflpfür Selbsthife Vöjekfe! V" '<br />
1 . _und kleine Betriebe .,_ ...:<br />
||:jlii( Berlin und den neuen,<br />
'. ' ''•: ^Bundesfäodern'; ..; v'; ;<br />
91 Seiten A4<br />
15 DM + 2 DM Porto,<br />
(Für NW-Mitglieder 10 DM + Porto)<br />
ABM, SAM, Hilfe zur Arbeit,<br />
Sozialgesetzbuch (SGB Mi - früher<br />
AFG], Lohnkostenzuschuß, Existenzgründungsprogramme,<br />
zinsgünsrige<br />
Kredite, ESF-Mittel, Stiftungen,<br />
Bußgelder, Beratungseinrichtungen<br />
Bestellung bei:<br />
Netzwerk Selbsthilfe e.V.<br />
Gneisenaustr. 2a, 10961 Berlin<br />
Fön (030) 6913072 Fax 6913005<br />
jedoch viele andere Gebete und Sprüche<br />
hat, die nicht im Traditionellen zu finden<br />
sind. Wir richten uns nach der Rekonstruktionistischen<br />
Bewegung in den USA<br />
(vom Rabbiner Mordechai Kaplan gegründet),<br />
haben mehrere Gebete und Anregungen<br />
von amerikanischen Feministinnen<br />
übernommen, doch unsere Liturgie<br />
bleibt offen und flexibel und wird immer<br />
ergänzt, vertieft, weiterentwickelt. Während<br />
in der traditionellen Synagoge die<br />
Sprache des Gebetes ausschließlich Hebräisch<br />
ist, betet jede/r in der Sprache,<br />
die für sie/ihn am bequemsten ist: Hebräisch,<br />
Deutsch oder Englisch. Für viele<br />
Gebete haben wir eigene - deutsche -<br />
Fassungen verfaßt. Den Mittelpunkt des<br />
Gottesdienstes bildet die Parascha - der<br />
Wochenabschnitt aus der Torah. Bei uns<br />
wird sie nicht nur vorgelesen sondern<br />
auch diskutiert. Auch Frauen tragen -<br />
soweit sie das möchten - Kipa und Tallit.<br />
Anschließend feiern wir gemeinsam Kiddusch:<br />
das Segnen des Schabbats, genießen<br />
zusammen ein einfaches Schabbatessen.Unser<br />
Ansatz ist demokratisch, wir<br />
respektieren die unterschiedlichen politischen,<br />
religiösen Einschätzungen der Mitglieder<br />
unserer Gruppe. Bei uns finden<br />
Rassismus, Anti-Jüdisches, Anti-Arabisches,<br />
Sexistisches, Homophobie, Klassen-<br />
und Bildungsdünkel keinen Platz.<br />
Mit freundlichem Gruß, Iris<br />
2I'999
ANZEIGEN<br />
Solidaritätsaktion für SEKA<br />
Das Frauen-Friedens-Projekt SEKA, ein therapeutisches<br />
Erholungszentrum auf der Insel<br />
Brac in Kroatien, arbeitet seit fast zwei Jahren<br />
mit Frauen und Kindern, die durch den<br />
Krieg in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens<br />
traumatisiert wurden. Die Anfragen<br />
für eine Aufnahme in dem Haus übersteigen<br />
ständig die Kapazität des Hauses.<br />
SEKA will und muß die begonnene Arbeit<br />
fortsetzen - dafür braucht es finanzielle<br />
Unterstützung.<br />
Weitere Infos: SEKA, Friedensallee 7,<br />
22765 Hamburg, Tel/Fax. (040) 39 90 56 53.<br />
Gcschlechterdemokratie in Organisationen<br />
Vom 10.6. /n. 6. 99 werden sich internationale<br />
Referentinnen mit Themen befassen<br />
wie: Von der Frauenförderung zur<br />
Geschlechterdemokratie, vom Chancengleichheitsansatz<br />
in der EU, Workshops<br />
Gender Training u.a. HGDÖ, Heinrich Böll<br />
Stißung, Tel.: (069) 23 10 90, Fax.: 2} 94 78<br />
Rundbrief zur lfsben-,Schwulen-und<br />
Lebensweisenpolitik erschienen<br />
Der Rundbrief aus der PDS-Fraktion beschäftigt<br />
sich mit der Gleichstellung aller Lebensweisen,<br />
dem Fall Riewa, Gewalt, Mietrecht u.a.<br />
Bezug: Fön: (0228) 16 83 682, Fax: 16 86 972<br />
NGO-Nachfblgekonferrnz<br />
»In Peking wurde unterschrieben...«<br />
Die Thüringer Frauenkonferenz in der Zeit<br />
vom 27. - 30. Mai 1999 in Erfurt präsentiert<br />
ein umfangreiches Programm. Die Konferenz<br />
soll den Stand der Umsetzung der in der<br />
Pekinger Aktionsplattform unterschriebenen<br />
Forderungen feststellen und zwar in<br />
Deutschland am Beispiel Thüringens.<br />
Konfakt: FKBZ Brennessel,<br />
Meister-Eckehardt-Str. 5, 99084 Erfurt,<br />
Fön: (05 61) 565 65 10/12, Fax: (03 61^565 65 n<br />
emaü: brennessel.erfurt@t-oniine.de<br />
(KUR-iUrlaubaufdem Frauenhof KÖRE!<br />
Bio-dynamische Landwirtschaft bei Sulingen<br />
hat drei Zimmer für (Kur-)Gastfrauen.<br />
Unsere Angebote:<br />
- der Hof mit Kühen und Feldern in einer<br />
weiten, ruhigen Landschaft (NSG)<br />
- naturheilkundliche (Einzel-}Begleitung<br />
und-behandlung durch Angelika Borger<br />
(Ärztin und Landwirtin)<br />
- Kreativ-Werkstatt mit Monika Braun<br />
- Anregungen zur meditativen Begegnung<br />
mit der Natur.<br />
Frauenhof KÖRE, Fön: (04274) 963990,<br />
Oberdamm ig, 27259 Varrel<br />
Zwanzig Jahr« und kein bißchen leiser „.<br />
Pünktlich zum Jubiläum der Zeitpunkte<br />
(siehe Seite ) plant der Sender Freies Berlin<br />
wieder einmal, sein frauenpolitisches Magazin<br />
einzustellen. Wir, die freien Mitarbeiterinnen<br />
des Frauenfunks, erinnern an den kulturellen<br />
Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks<br />
und fordern den Erhalt des<br />
Frauenressorts mit seiner täglichen Sendung.<br />
Unsere Hörerinnen im Osten wie im<br />
Westen schätzen unsere kritische, manchm<strong>als</strong><br />
augenzwinkernde, immer sachkundige<br />
Berichterstattung mit dem weiblichen Blick<br />
auf Weltbewegendes und Alltägliches. Wir<br />
wollen sie auch weiterhin informieren und<br />
inspirieren, an- und aufregen. Warum die<br />
preisgekrönten und in der deutschen<br />
Medienlandschaft einmaligen Zeitpunkte<br />
zum wiederholten M<strong>als</strong> weichen sollen,<br />
bleibt ein Geheimnis der SFB-Chefetage:<br />
20 Jahre und kein bißchen weiser...?<br />
V.i.s.d.P.: ßirgif Schönberger, Gesine Strempel<br />
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Europäischer Photographinnen 1920-1940<br />
vom 15. April - 30. Mai 3999 im Verborgenen<br />
Museum, Schlüterstraße 70,10625 Berlin,<br />
Fön: (030) jij 36 56<br />
f iervarhebungen und besondere CttsUlturig sind nicht möglich. Köntaktanieigtri werden<br />
nur mit Chiffre veröffentlicht. Maßgeblich für dio fteeihKwn'gssfaenuiit^ ist nicht der<br />
/«•l&numfang der gedruckten Anyeige-, sonderr. >rw irn iur:tsr. abgedruckten Cittsr.<br />
T',iv die inhaltliche Richtigkeit übeirfielhimen wir --:eiiN; Veraoitwöfüueifc We'bbliek »shält<br />
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l private:<br />
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Jede weitere Anzeige 5 DM<br />
Grundgebühr, jeweils ab 6. Zeile 2 DM<br />
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bar beilegen.)<br />
l private Angebote für Kurse,<br />
Workshops und Unterricht:<br />
i. bis 5. Zeile 10 DM.<br />
Je weitere Zeile 2 DM.<br />
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Zeile 6 DM, zzgl. gesetzlicher Mehrwertsteuer.<br />
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Chiffre: 6,60 DM (siehe Text oben)<br />
Veröffentlichung unter folgender Chiffre:<br />
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STATTEN IKBEB HERKUNFT.<br />
© Ursula Fürst, Zürich<br />
In unserer nächsten<br />
erwarten Sie u. au folgende Themen:<br />
Titel: Kunst und Kultur von Frauen<br />
Reportage: Concierges in Barcelona<br />
Unterwegs: Die Welt der Sinti und Rorna<br />
Bildung: Hochbegabte Mädchen<br />
weibbliCK Anklamer<br />
is FKAUBNSICHT Fax: 030/448 55 42, e-mail: weibblick@aol.com<br />
Straße 38,101x5 Berlin, Fön: 030/448 55 39,<br />
Frauenförderung e.V., Anklamer Straße 38,10115 Berlin -ISSN 1434-2294-<br />
Annette Maennel (V.i.S.d.P.), Petra Welzel<br />
Karin Nungeßer - Der Inhalt<br />
der Texte muß nicht mit der Meinung der Redaktion übereinstimmen. Wirfreuen uns über jedes Manuskript,<br />
können aber bei unverlangt eingesandten Texten keine Haßung übernehmen.<br />
siehe obenstehende Adresse - die Anzeigen-Preisliste kann bei der Redaktion angefordert werden,<br />
Bank für Sozialwirtschaft, BLZ 100 205 oo, Konto; 33 22 3-02<br />
Axel Raidt, weibblick, v .mv weibblick, Druckerei Stein, Potsdam<br />
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Das Abo - holen Sie sich<br />
den weibblick ins Haus!<br />
Geschenkt!<br />
An alle neuen Abonnentinnen vergibt weibbhcK das Buch »Die Päpstin<br />
Johanna« von Elisabeth Gössrnann <strong>als</strong> Dankeschön, solange unser Vorrat<br />
reicht. Sollten Sie <strong>als</strong>o den Wunsch haben, weibbhcK zu abonnieren,<br />
schneiden Sie einfach die Postkarte aus und schicken sie an uns.<br />
Ein Jahresabo von weibbhcK, der Zeitschrift aus Frauensicht. Alle zwei<br />
Monate ein neues Heft im Briefkasten. Sechsmal im Jahr interessanter<br />
Lesestoffaus Politik, Wirtschaft, Kultur, Feminismus, Reisen und Mode,<br />
gespickt mit guten Fotos und verpackt m einem erfrischenden Layout.<br />
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