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Alkoholkonsum bei Senioren – ein Problem?<br />

Tabu, Angst und Hilflosigkeit – was<br />

können Angehörige und Helfer sinnvoll<br />

tun angesichts der Risiken eines<br />

Alkoholmissbrauchs bei alten Menschen?<br />

Beitrag zur Fachtagung der DGE-BW am 16.11.2013<br />

Karl Lesehr, M.A., Referent für Suchthilfe, Familientherapeut<br />

3 Feststellungen zur Einordnung dieses Workshops<br />

in die Tagungsthematik:<br />

- Deutschland hat durch den durchschnittlichen Pro-Kopf-Alkoholkonsum<br />

gesamtgesellschaftlich ein erhebliches gesundheits- und<br />

sozialpolitisches Problem<br />

- Deutschland hat im Gegensatz zu anderen EU-Ländern bislang keine<br />

nennenswerte Verbesserung dieser negativen Spitzenposition erreicht<br />

- neben den komatrinkenden Jugendlichen ist seit 6-8 Jahren „Sucht<br />

im Alter“ ein Boomthema. Bewahren Sie sich deshalb eine skeptische<br />

Aufmerksamkeit dafür, welche Schlußfolgerungen aus welchen<br />

Problemfeststellungen gezogen <strong>werden</strong> und vergessen Sie nicht, dass<br />

Korrelationen keineswegs automatisch auch Kausalzusammenhänge<br />

sind! Und erlauben Sie sich die Frage, ob einzelne Feststellungen Ihnen<br />

für Ihr Handeln eher helfen oder dies erschweren.<br />

wenn es hier also um die praktische Relevanz für<br />

Sie geht: Woran denken Sie spontan beim Tagungsthema<br />

eines Alkoholkonsums von Senioren?<br />

- die Rentnerwandergruppe in der Besenwirtschaft<br />

- den Genußtrinker vor einer guten Flasche Wein<br />

- den nicht mehr standfesten Viertelesschlotzer<br />

- den Balkonhocker <strong>mit</strong> dem Bierkasten neben sich<br />

oder doch eher an<br />

- die vereinsamte Frau <strong>mit</strong> dem morgendlichen Schnaps<br />

- das verstummte Paar vor dem Fernseher<br />

- den unter Alkohol verzweifelt und gewalttätig um männliche Stärke<br />

ringenden Mann<br />

- den vereinsamten Menschen, der benebelt vom Mix aus Medikamenten<br />

und „Stärkungs<strong>mit</strong>teln“ immer wieder in seiner Wohnung stürzt?<br />

2<br />

Man sieht, was man sehen möchte: <strong>mit</strong> welchem<br />

persönlichen Interesse und da<strong>mit</strong> welcher<br />

Problemperspektive sitzen Sie hier?<br />

- „Wein und Bier sind doch für Leib und Seele gesund,<br />

gerade auch für ältere Menschen!“<br />

- „wir müssen uns angesichts des Demografischen Wandels<br />

intensiv <strong>mit</strong> den Risiken von Sucht im Alter befassen!“<br />

- „Tabu, Angst und Hilflosigkeit“ – „ich kenne aus eigener<br />

beruflicher oder familiärer Erfahrung die Probleme eines<br />

Alkoholmissbrauchs bei alten Menschen und ich suche<br />

3<br />

nach Problemlösungen.“


Ich unterstelle Ihnen hier als ZuhörerInnen eine<br />

gewisse persönliche Betroffenheit und ein Interesse<br />

an einer konkreten Problemlösung. Was heißt das?<br />

üblicherweise: - bei Problemen brauche ich eine Lösung!<br />

- bei Krankheit brauche ich eine Behandlung!<br />

- wenn Alkohol das Problem ist, braucht es Abstinenz!<br />

ich lade Sie ein zu einer erweiterten Idee von Problemlösung:<br />

- Bei Problemen brauche ich Achtsamkeit und neue Perspektiven!<br />

- Bei Krankheiten brauche ich Achtsamkeit für das, was mich krank macht<br />

oder mich nicht gesunden lässt!<br />

- Wenn Abstinenz mir spürbar zu mehr Lebensqualität verhilft, ist das eine<br />

gute Veränderungsoption!<br />

4<br />

Es könnte sich also lohnen, die Idee von Problemlösung genauer<br />

anzuschauen:<br />

Anmerkungen I zu „Problemlösungen“:<br />

v „den“ älteren Menschen gibt es nicht!<br />

(auch wenn ich im Weiteren auch so verallgemeinere)<br />

Ältere Menschen sind in oft sehr unterschiedlichen Lebenssituationen<br />

und Phasen des Alterns, leben in unterschiedlichster<br />

gesundheitlicher und materieller Verfassung.<br />

v Sucht und Abhängigkeit sind zwar ein bedrohlicher,<br />

aber eben auch nur kleiner Teil der Risiken<br />

eines Alkoholkonsums!<br />

Ich möchte deshalb ganz bewusst nicht über „Sucht im<br />

Alter“ reden, sondern über den Umgang <strong>mit</strong> Risiken eines<br />

Alkoholkonsums bei älteren Menschen.<br />

5<br />

Anmerkungen II zu „Problemlösungen“:<br />

v Wer von „Sucht“ redet, stößt auf Angst und Scham!<br />

Gerade für ältere Menschen ist die Zuschreibung einer Sucht<br />

oft sehr beängstigend und beschämend. Der Kontrollverlust<br />

der Sucht verbindet sich für sie <strong>mit</strong> der generellen Angst vor<br />

einem Verlust der Alltagskompetenz, vor der Abhängigkeit von<br />

Helfern und Behandlern.<br />

Für die <strong>vielen</strong> alten Menschen, nicht abhängig sind, sondern<br />

die risikoarm oder riskant Alkohol konsumieren, geht es vorrangig<br />

um Risikokompetenz (Wahrnehmung) und um Krisenkompetenz<br />

(Umgang <strong>mit</strong>..).<br />

6<br />

Anmerkungen III zu „Problemlösungen“:<br />

v Die differenzierte Lebenswirklichkeit älterer Menschen<br />

lässt sich im psychosozialen Kontext nicht<br />

sinnvoll auf eine medizinische Diagnose verkürzen:<br />

deshalb bekommen Sie hier kein knackiges Verhaltensrezept,<br />

keinen Ersatz für eine professionelle Schulungsmaßnahme!<br />

aber eine „Einladung zu Achtsamkeit für ältere Menschen“<br />

- als Alternative zu Wegschauen, Hilflosigkeit, Panik, Aggression in der<br />

Begegnung <strong>mit</strong> Menschen <strong>mit</strong> Alkoholproblemen (Alkoholkonsumenten<br />

sind Täter und Opfer von Gewalt!)<br />

- als Erweiterung zu einem nur auf Gesundheit und da<strong>mit</strong> auf Behandlung<br />

verengten Blick auf ältere Menschen<br />

- aber auch als Ernstnehmen Ihrer eigenen emotionalen oder professionellen<br />

Position oder Distanz gegenüber den älteren Menschen: es geht<br />

um Menschen, nicht um Diagnosen, Problemfälle, Leistungen, und es<br />

geht um Ihre Grenzen und Handlungsmöglichkeiten!<br />

8<br />

7


Einladung zu Achtsamkeit:<br />

Ein kurzer Blick auf 8 Aspekte der Lebenswirklichkeit<br />

älterer Menschen, die auch Alkohol konsumieren<br />

9<br />

8<br />

Lebenswirklichkeit 1<br />

Ältere Menschen trinken nicht grundlegend anders Alkohol<br />

als der Durchschnitt der Bevölkerung. Alle gesundheitlichen<br />

Risiken eines Alkoholkonsums gelten deshalb auch für ältere<br />

Menschen; und auch alte Menschen können vom Gelegenheitskonsumenten<br />

zum Regeltrinker <strong>werden</strong>, auch alte<br />

Menschen können noch abhängigkeitskrank <strong>werden</strong>!<br />

Einerseits gibt es bei älteren Menschen eine deutlich höhere<br />

Abstinenzquote, andererseits ist aber bei älteren Menschen<br />

auch deren Gesundheits- und letztlich Suchtrisiko erhöht!<br />

10<br />

9<br />

Lebenswirklichkeit 2:<br />

Der soziale Kontext älterer Alkoholkonsumenten unterscheidet<br />

sich in wesentlichen Dimensionen vom durchschnittlichen<br />

Lebensalltag vieler Erwachsener:<br />

- Ältere haben häufig unabhängig von Beschäftigung oder<br />

Existenznot eine große individuelle Handlungsfreiheit<br />

- Mit der Berentung verringert sich soziale Wahrnehmung<br />

und Kontrolle dramatisch; gleichzeitig wächst die Bedeutung<br />

einer Partnerschaft als sozialem Stützsystem<br />

- Altersbedingt nehmen Einschränkungen in der Wahrnehmungs-,<br />

Handlungs- und Bewegungsfähigkeit zu, bis<br />

hin zur Abhängigkeit von fremder Versorgung<br />

11 10<br />

Lebenswirklichkeit 3:<br />

Die Wirkungen des Alkohols auf Psyche und Körper verändern<br />

sich <strong>mit</strong> dem Alter teilweise erheblich, bisherige<br />

Konsum- und Lebenserfahrungen stimmen deshalb nicht<br />

mehr. Das wahrzunehmen erfordert Achtsamkeit und die<br />

Bereitschaft zur Veränderung gewohnter Lebensmuster. (die<br />

oft empfohlenen Grenzwerte sind keine persönlichen Sicherheiten<br />

und erst recht keine Konsumempfehlungen!)<br />

Gleichzeitig sind alkoholbedingte Beeinträchtigungen oder<br />

Schädigungen nicht immer eindeutig von altersbedingten<br />

Besch<strong>werden</strong> zu unterscheiden (Tendenz zur Bagatellisierung<br />

– alles ist Alkohol, alles ist Alter).<br />

12<br />

11


Lebenswirklichkeit 4:<br />

Es gibt ein erhebliches Risiko von Wechselwirkungen und<br />

Risikoverstärkungen zwischen Alkohol und einigen im Alter<br />

deutlich häufiger verordneten somatischen und psychiatrischen<br />

Medikamenten – leider gibt es bislang nur in<br />

Ausnahmefällen eine dafür notwendige Fachkompetenz und<br />

dann auch eine individualisierte systematische Risikoanalyse<br />

der Gesamtpalette verordneter Medikamente und regelmäßig<br />

eingenommener Substanzen. Das Wissen um mögliche Wirkzusammenhänge<br />

hilft aber nur, wenn es konkret, verständlich<br />

und glaubwürdig ist!<br />

13<br />

12<br />

Lebenswirklichkeit 5:<br />

Eine veränderte Lebensperspektive älterer Menschen bringt<br />

auch Änderungen in den individuellen Konsummotiven <strong>mit</strong><br />

sich: z.B. erhöhte Genuss- und Risikobereitschaft, wachsende<br />

Fremdheit im Lebensalltag, Wunsch nach Gemeinschaftserleben,<br />

eingeschränkte Handlungskonzepte für eher<br />

mögliche / notwendige Entspannung und Entschleunigung,<br />

Auseinandersetzung <strong>mit</strong> bislang nicht gelebten Lebensträu<br />

men; gleichzeitig gibt es aber auch eine erhöhte Bewusstheit<br />

für die Endlichkeit des eigenen Lebens und daraus<br />

folgernd eine erhöhte Bereitschaft zur Verantwortung für die<br />

eigene Lebensqualität.<br />

14<br />

13<br />

Lebenswirklichkeit 6:<br />

Altern ist Stress: Aufgrund der ihm zugeschriebenen oder<br />

bislang be<strong>kann</strong>ten Wirkungen, aber auch wegen einer<br />

eingeschränkten sozialen Kontrolle wird Alkohol im Alter<br />

häufiger genutzt als Hilfs<strong>mit</strong>tel zur Bewältigung von individuellen<br />

Problemen und situativen Belastungen (z.B. bei<br />

Schlafstörungen, Schmerzen, Ängsten, Beziehungskrisen,<br />

als Ersatz für fehlende Gespräche, zur Verdrängung<br />

traumatischer Lebenserinnerungen / Kriegserfahrungen).<br />

Manches vermeintliche Genusstrinken (gerade auch bei<br />

Menschen <strong>mit</strong> höherem Bildungsniveau) wäre wohl hier<br />

einzuordnen. (vgl. <strong>Vortrag</strong> Hermann: Konzept eines Trinktagebuchs –<br />

Bewusstmachen von Motiven und Situationen)<br />

15<br />

14<br />

Lebenswirklichkeit 7:<br />

Für viele ältere Menschen ist das Risiko eines Verlusts von<br />

Selbstkontrolle und Eigenverantwortung sehr beängstigend<br />

und schambesetzt – das gilt auch für das Thema Sucht.<br />

Die Angst vor einer Sucht erschwert bei Betroffenen und<br />

bei Angehörigen eine nüchterne Problemwahrnehmung<br />

und verstärkt die aus Suchtfamilien be<strong>kann</strong>ten Beziehungsdynamiken<br />

(z.B. verstärkte Loyalitätsbindung gegen<br />

„Angriffe“ von außen, Verdrängung / Abspaltung realer<br />

Bedrohungen, Überverantwortlichkeiten, Tabuisierungen).<br />

16<br />

15


Lebenswirklichkeit 8:<br />

Abhängig von der Lebenssituation der älteren Menschen<br />

verändert sich deren subjektive Bewertung von Wirkungen<br />

und Risiken eines Alkoholkonsums: für die persönliche<br />

Lebensqualität hat die aktuelle Befindlichkeit zunehmend<br />

mehr Bedeutung als eine potentielle Lebensperspektive<br />

und dort sich realisierende Risiken: manche älteren Menschen<br />

orientieren sich eher an einer konkret erlebbaren<br />

Lebensqualität als an einer möglichen Lebenszeit. Aber<br />

Leben wird auch stärker als schicksalhafte denn als<br />

gestaltbare Wirklichkeit erlebt.<br />

17<br />

16<br />

Einladung zu Achtsamkeit:<br />

Wenn wir bislang auf die Lebenssituation der Alkohol<br />

konsumierenden älteren Menschen geschaut haben,<br />

wollen wir in einem nächsten Schritt überlegen, welche<br />

Bedeutung in diesem Lebensfeld dann Angehörige, Kinder<br />

oder auch hinzugezogene professionelle Helfer haben:<br />

Ein erweiterter Blick auf wieder 8 Aspekte des<br />

Beziehungssystems älterer Menschen:<br />

18<br />

17<br />

Systemische Dimension 1:<br />

Wenn (von den Anforderungen an Großeltern mal abgesehen)<br />

bei älteren Menschen das Beziehungsnetz dünner<br />

und oft auch unverbindlicher geworden ist, haben verbleibende<br />

regelmäßige Bezugspersonen verstärkt die<br />

„Verpflichtung“ zur Wahrnehmung eines „sozialen Feedbacks“<br />

/ der Verdeutlichung sozialer Realitäten (Ihr<br />

Hosenladen steht noch offen, Ihre Kleidung stinkt etc.).<br />

Das <strong>kann</strong> aber insbesondere bei professionellen Akteuren<br />

auch zu Identitäts- und Interessenkonflikten führen.<br />

19<br />

18<br />

Systemische Dimension 2:<br />

Bei Kindern reden wir von „Er-Ziehung“, weil wir sie zu<br />

unserer erwachsenen Welt befähigen wollen. Ältere Menschen<br />

sind uns in ihrer Lebensentwicklung aber immer<br />

„voraus“, haben berechtigterweise ihre eigene Lebensorientierung.<br />

Uns bleibt deshalb neben der Option einer<br />

un<strong>mit</strong>telbaren Kontrolle dieser Lebensrealität nur die Möglichkeit<br />

eines Beziehungsangebots, in das wir unsere eigenen<br />

Beziehungssehnsüchte genauso einbringen können und<br />

sollten wie unser professionelles Wissen und unsere Lebenserfahrung.<br />

Aber: unterscheiden Sie dabei unbedingt moralische<br />

Ansprüche von persönlichen Lebenserfahrungen!<br />

20<br />

19


Systemische Dimension 3:<br />

Viele Paare sind wenig oder gar nicht „vorbereitet“ auf den<br />

intensiven Stellenwert, da<strong>mit</strong> aber auch auf die Risiken<br />

einer Partnerschaft in der Lebensphase ohne Erwerbsarbeit<br />

– oft wird diese Zukunft ähnlich verklärt wie in der Phase<br />

der ersten Verliebtheit. Manche Paare brauchen bei von<br />

außen erkennbaren Konflikten und Spannungen eine<br />

authentische Ermutigung und v.a. eine Enttabuisierung<br />

solcher Lebenskrisen, um auch beratende oder psychotherapeutische<br />

Hilfe in Anspruch nehmen zu können.<br />

21<br />

20<br />

Systemische Dimension 4:<br />

Wenn Alkoholkonsum im familiären Miteinander oder im<br />

professionellen Kontakt als Störung erlebt wird, dann ist das<br />

zuallererst für den Angehörigen oder Helfer ein Problem!<br />

‣ Chance 1: Das eigene Gestörtsein und mögliche /glaubwürdige<br />

eigene Schutzstrategien in der Beziehung<br />

ansprechen! (=direkte Problemintervention – Förderung<br />

von Risikokompetenz)<br />

‣ Chance 2: Störung auch als Chance für eigene Weiterentwicklung<br />

verstehen, z.B. durch Haltung der Neugier<br />

gegenüber dem Potential an Lebensqualität, das sich <strong>mit</strong><br />

dem Alkohol verbindet (strategische Problemintervention<br />

– Förderung von Lebenskompetenz)<br />

21<br />

22<br />

Systemische Dimension 5:<br />

Ältere Menschen haben viel erlebt, überlebt, waren wie<br />

wohl kaum eine frühere Generation gezwungen, sich <strong>mit</strong><br />

radikal veränderten Lebensumständen auseinander zu<br />

setzen. Mancher ältere Mensch fühlt sich diesem Entwicklungstempo<br />

nicht mehr gewachsen, erlebt es als lebensfeindlich,<br />

und zieht sich in eine eigene Welt zurück. Was ist<br />

dabei Abkapselung und was ist Weisheit? Für Betroffene<br />

wie Angehörige gilt es, eine für beide Seiten tragbare<br />

Balance zu finden, in der diese eigene Welt möglichst bunt,<br />

lebendig und anregend bleiben <strong>kann</strong>, ohne jemand in eine<br />

passive Abhängigkeit von unverständlichen technischen<br />

Hilfs<strong>mit</strong>teln und Strukturen zu bringen.<br />

23<br />

22<br />

Systemische Dimension 6:<br />

Alter ist der allmähliche Ausstieg aus der vertrauten Normalität<br />

des Erwachsenenalters, viele beginnende Beeinträchtigungen<br />

und Leiden lassen sich kaum oder gar nicht<br />

aufheben. Wenn wir als Jüngere diesen einschränkenden<br />

Lebenswirklichkeiten nicht erschreckt und hilflos gegenüber<br />

stehen wollen, brauchen wir selber auch für uns Vertrauen<br />

in die Sehnsüchte, die Lieben und die Änderungspotentiale<br />

gerade auch der älteren Menschen: es gilt, die<br />

„Verrücktheiten“ des Alters nicht nur auszuhalten, sondern<br />

auch zu fördern – dies <strong>kann</strong> dazu beitragen, dass auch ein<br />

Alkoholkonsum dann schlicht weniger attraktiv ist!<br />

24<br />

23


Systemische Dimension 7:<br />

Es gibt keine Behandlung, die Suchtprobleme irgendwie<br />

„wegmachen“ könnte (zumal dann, wenn erst mal „die<br />

anderen“ da<strong>mit</strong> ein Problem haben): jede wirkungsvolle<br />

Behandlung gründet auf einer eigenverantwortlichen Neugestaltung<br />

des Lebensalltags. Anregungen und Begleitung<br />

dafür bekommen Sie nicht nur in Suchtberatungsstellen,<br />

sondern manchmal auch anderswo, wo Lebenslust, Begeisterung,<br />

Engagement angeregt wird. Die Erfahrung der<br />

Fachleute in der Suchtberatung und Suchtreha <strong>kann</strong> aber<br />

immer helfen, eine solche Neugestaltung sachkundig und<br />

kritisch zu begleiten und zu unterstützen.<br />

25<br />

24<br />

Systemische Dimension 8:<br />

Gute Ratschläge, Rezepte, Verbote sind nicht optimal entwicklungsfördernd.<br />

Alte Menschen schätzen das genau so<br />

wenig wie Kinder, aber sie schätzen genauso sehr die<br />

Erfahrung von Begegnung und von Beziehung. Und das ist<br />

bedeutsam: Funktion und Wirkung jeder psychotropen<br />

Substanz lassen sich letztlich nur durch die Erfahrung<br />

menschlicher Nähe und Beziehung befriedigend kompensieren.<br />

Aber Beziehung hat keine Wirkgarantie: wer alten Menschen<br />

helfen will, sollte auch dedshalb die Stimmigkeit<br />

seiner Beziehung zu ihnen immer wieder ehrlich prüfen.<br />

26<br />

25<br />

Vielleicht haben Sie sich anregen lassen, ihre Perspektive<br />

vom „Problemfall des älteren Alkoholkonsumenten“ zu<br />

erweitern hin zur Sicht auf einen Lebensraum, in dem Sie<br />

und Ihr älteres Gegenüber neben der Fokussierung auf den<br />

Alkohol ja noch mehr Handlungsoptionen haben.<br />

Deshalb:<br />

Aus Erfahrung gerade im Bereich von Suchtproblemen<br />

weiß ich aber:<br />

In Ihrem Alltag wird Sie die vertraute Problemperspektive<br />

immer wieder einholen, sie wird Ihnen vermutlich sogar als<br />

die einzig richtige Perspektive erscheinen! Sie <strong>werden</strong> in<br />

diesem Sinne selber „rückfällig“ <strong>werden</strong>!<br />

27<br />

26<br />

Kernsätze zum Mitnehmen,<br />

vielleicht zum sich daran Reiben,<br />

vielleicht zum sich darüber Ärgern<br />

Immer aber zum Weiterdenken und Suchen:<br />

28<br />

27


ü Ihr Gegenüber ist zwar vielleicht der Anlass / Auslöser,<br />

aber im Kontakt <strong>mit</strong> dem älteren Menschen haben Sie<br />

das Problem / die Störung! Das stärkste Motiv für Veränderung<br />

und kreative Entwicklung liegt deshalb in<br />

Ihnen!<br />

ü Misstrauen Sie deshalb allen Rezepten und Lösungen,<br />

bei denen sich vorrangig / ausschließlich ein<br />

Anderer ändern soll (gerade auch wenn Sie zutiefst<br />

davon überzeugt sind, dass dieser Andere „schuld“ ist<br />

an Ihrem Leiden!)<br />

ü Wenn Alkohol Teil Ihres Problems ist, machen Sie sich<br />

bewusst, dass jedes sog. Sucht<strong>mit</strong>tel Bedürfnisse<br />

nach Lebensqualität erfüllt (trotz aller manchmal<br />

dramatischen Nebenwirkungen auf Lebensqualität und<br />

Leben)! Wohl kein Mensch lässt sich so ohne weiteres<br />

wegnehmen, was seine Bedürfnisse erfüllt.<br />

ü Das einzige halbwegs wirksame „Substitut“ für Sucht<strong>mit</strong>tel<br />

ist lebendige Beziehung – auch wenn die manchmal<br />

Nebenwirkungen und Belastungen <strong>mit</strong> sich bringt.<br />

Aber: Sucht<strong>mit</strong>tel bleiben weiter attraktiv – auch trotz<br />

lebendiger Beziehungen!<br />

29<br />

28<br />

30<br />

29<br />

ü Wer älter wird und alt ist, ist (passiv oder aktiv) Experte<br />

in Veränderung! Allerdings gehen in den Erfahrungen<br />

des Alterns manchmal Mut und Selbstvertrauen verloren.<br />

Geben Sie einem alten Menschen deshalb kein<br />

Rezept für Veränderung, sondern unterstützen Sie seinen<br />

Mut und sein Selbstvertrauen.<br />

ü Werden Sie im Kontakt <strong>mit</strong> alten Menschen weder zu<br />

deren Eltern noch zu einem Kind! Haben Sie den Mut,<br />

auch ältere Menschen klar und konsequent <strong>mit</strong><br />

Ihrem Wunsch nach Lebens- und Beziehungsqualität<br />

zu konfrontieren – immer wissend, dass Sie<br />

nichts davon einfordern oder gar erzwingen können.<br />

ü<br />

Sogar bei Osteoporose sind alte Menschen meist nicht aus Glas!<br />

31<br />

30<br />

ü Zentrale Wirkung jedes Sucht<strong>mit</strong>tels ist die Aufhebung /<br />

Veränderung gewohnter Begrenzungen von Wahrnehmung<br />

und Empfindung und das suchen alle Konsumenten.<br />

Verpflichten Sie alte Menschen deshalb nicht<br />

auf Korrektheit und Normalität, engen Sie sie nicht ein<br />

auf Vernunft und Rationalität, sondern wagen Sie eher<br />

<strong>mit</strong> Ihnen auch mal Verrücktes!<br />

ü Wenn Sie trotz allem immer noch auf eine Lösung des<br />

Alkoholproblems konzentriert geblieben sind: wagen Sie,<br />

es für möglich zu halten, dass jede noch so bescheidene<br />

Verbesserung der Lebensqualität Ihres Gegenübers auch<br />

eine Veränderung Ihres Problems bewirken könnte!<br />

32<br />

31


Vielen Dank für Ihr Interesse!<br />

Karl Lesehr<br />

lesehr@paritaet-bw.de<br />

Weiterführende hilfreiche Literatur finden Sie auf<br />

www.dhs.de<br />

33

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