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Faschismus-Theorien (VI) / Diskussion - Berliner Institut für kritische ...

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Das Argument<br />

58<br />

12. Jahrgang 1970<br />

<strong>Faschismus</strong>-<strong>Theorien</strong> (<strong>VI</strong>) / <strong>Diskussion</strong><br />

Wolfgang Abendroth: Das Problem der sozialen Funktion<br />

und der sozialen Voraussetzungen des <strong>Faschismus</strong> 251<br />

Reinhard Kühnl: Probleme der Interpretation<br />

des deutschen <strong>Faschismus</strong> 258<br />

Reinhard Opitz: Fragen der <strong>Faschismus</strong>diskussion.<br />

Zu Reinhard Kühnls Bestimmung des <strong>Faschismus</strong>begriffs<br />

Richard Saage: Bemerkungen zur <strong>Faschismus</strong>interpretation<br />

Ernst Noltes<br />

Rainer Kretschmer (f) und Helmut J. Koch:<br />

Der Propagandaapparat des NS-Staates<br />

Peter Römer: Vom totalen Staat zur totalen bürgerlichen<br />

Gesellschaft<br />

Marios Nikolinakos: Materialien zur kapitalistischen<br />

Entwicklung in Griechenland (2. Teil)<br />

Uta Stolle: Die Ursachen der Studentenbewegung<br />

im Urteil bürgerlicher Öffentlichkeit<br />

280<br />

292<br />

305<br />

322<br />

340<br />

375<br />

Besprechungen:<br />

Politische Philosophie des Bürgertums; Imperialismus;<br />

<strong>Faschismus</strong>; Griechenland 395


251<br />

Wolfgang Abendroth<br />

Das Problem der sozialen Funktion und der<br />

sozialen Voraussetzungen des <strong>Faschismus</strong><br />

In der Periode des liberalen Kapitalismus der allseitigen Konkurrenz<br />

waren zwar der Staat, der die Wirtschaftsgesellschaft garantierte,<br />

und die relativ autonome Gesellschaft tendenziell unterschieden,<br />

doch nahmen die bürgerlichen Klassen den Staat und vor allem<br />

seine Gesetzgebungsapparatur in Besitz und wollten ihn über das<br />

Parlament mit Hilfe eines nur begrenzt demokratischen Wahlrechts<br />

beherrschen. Schon damals gab es Situationen, in denen die bürgerlichen<br />

Klassen nicht in der Lage waren, sich gleichzeitig gegen die<br />

andrängenden Unterklassen in dieser Position zu halten und ihre<br />

internen Differenzen durch Kompromisse zu vermitteln. Weil diese<br />

Doppelfunktion der Staatsmacht für sie lebensnotwendig ist, mußten<br />

die bürgerlichen Klassen es in derartigen Ausnahmelagen hinnehmen,<br />

wenn diese Staatsmacht durch politisch-soziale Kräfte erobert<br />

wurde, die an sich jenseits dieser bürgerlichen Klassen selbst stehen,<br />

aber gleichzeitig bereit und fähig sind, diese Aufgaben in deren<br />

Interesse zu erfüllen. Das bedeutet einerseits die Garantie der kapitalistischen<br />

Produktionsverhältnisse durch die Gesetzgebung und<br />

durch Unterdrückung bzw. Integration der Unterklassen und andererseits<br />

den Ersatz der mangelnden Kompromißfähigkeit innerhalb<br />

der kapitalistischen Klassen selbst durch Dezision.<br />

Das klassische Beispiel für eine derartige Entwicklung hat der Aufstieg<br />

des dritten Napoleon Bonaparte in Frankreich um die Mitte des<br />

vorigen Jahrhunderts geliefert, den Karl Marx analysiert hat. Nachdem<br />

die proletarische Unterklasse in einem revolutionären Kampf<br />

um die Durchsetzung ihrer Interessen unterlegen war, stützte sich<br />

der Bonapartismus auf die Mobilisierung von Außenseitern der Gesellschaft,<br />

Teilen der Unterschichten und der Armee. Dabei wurde<br />

die Führungsrolle eines mehr oder minder zufällig durch den geschichtlichen<br />

Prozeß sich anbietenden Mannes anerkannt. Die Massen<br />

der städtischen und ländlichen Mittelklassen waren bereit, ihm die<br />

Eigenschaft des Retters aus einer Krise zuzuschreiben. Die Übernahme<br />

der Macht durch Louis Bonaparte war nur dadurch möglich,<br />

daß auch Oberklassen und Führungsgruppen des Staatsapparates<br />

diese Wendung — wenn auch zum Teil widerwillig — akzeptierten,<br />

um die Lücke ihrer ungenügenden Kompromißfähigkeit in den eigenen<br />

Reihen ausfüllen und ihre soziale Vormachtposition erhalten zu<br />

können. Ähnliche Züge trug die Manipulationstechnik traditionaler<br />

Mitglieder dieser Oberklassen selbst (Disraeli) oder Angehöriger traditionaler<br />

Führungsgruppen der Staatsmacht (Bismarck) in England<br />

und Preußen-Deutschland, wobei gleichzeitig scheindemokratische<br />

Methoden (britische Wahlrechtsreform 1867 und Wahlrecht des Nord-


252 Wolfgang Abendroth<br />

deutschen Bundes) verwendet wurden. Nur wurden hier keine abenteuernden<br />

Außenseiter der Gesellschaft in Leitungspositionen des<br />

Staatsapparates und der politischen Macht einbezogen.<br />

Derartige bonapartistische Herrschaftsformen entwickelten sich<br />

unter bestimmten Bedingungen aus sozialen und politischen Krisen<br />

in der Periode des liberalen Kapitalismus. Das Prinzip der bürgerlichen<br />

Rechtsstaatlichkeit wurde grundsätzlich beibehalten und weiterentwickelt,<br />

die Intervention der öffentlichen Macht in die Wirtschaftsgesellschaft<br />

auf ein Minimum beschränkt. Dieses System<br />

wurde nur partial zur Niederhaltung der proletarischen Unterklassen<br />

durchbrochen. Der Fall des unmittelbaren Aufstiegs aus einer Gegenrevolution<br />

in Frankreich bedingte zwar die Kombination mit einer<br />

breiten und partial militanten auf Mittelklassen und Deklassierte gestützten<br />

Massenbewegung (Dezembergesellschaft), doch war es noch<br />

nicht möglich, diese Massenbewegung zu einer permanenten selbständigen<br />

politischen Herrschaftsgruppe zu organisieren und zu stabilisieren.<br />

Noch waren die sozialen Techniken ungenügend entwikkelt,<br />

die Chancen dafür bieten, mit einer derartigen Organisationsstruktur<br />

die Gesamtgesellschaft dauerhaft zu durchdringen und formal<br />

zu beherrschen. Charakteristisch für diese Periode war eine<br />

jeweilig nur eng begrenzte Intervention der Staatsmacht in den<br />

Wirtschaftsprozeß. Infolgedessen schien es nicht erforderlich, auf<br />

lange Sicht die Wiederherstellung der Öffentlichkeit im Gesetzgebungsverfahren<br />

auszuschließen. Das bedeutete die tendenzielle<br />

Wiederherstellung bürgerlich-parlamentarischer Verfahrensweisen,<br />

die auf die erneute Verwertung der Kompromißfähigkeit innerhalb<br />

der Oberklassen der bürgerlichen Gesellschaft abzielen.<br />

In der Periode des organisierten Kapitalismus stellen sich ähnliche<br />

Probleme in veränderter Form. Sie wurden erst nach der durch den<br />

Ausgang des Ersten Weltkrieges eingeleiteten Phase der sozialistischrevolutionären<br />

Erhebungen der Arbeiterklasse in Europa aktualisiert<br />

und erhielten dadurch ihre besondere Struktur. Der Sieg der sozialistischen<br />

Revolution, der das frühere Zarenreich in die UdSSR verwandelt<br />

hatte, ließ die Parole des Antibolschewismus als Motivierung<br />

des generellen Kampfes gegen Arbeiterbewegung und Marxismus<br />

zur zentralen Anti-Ideologie der Gegenrevolution werden. Dafür<br />

mußten die herrschenden Klassen nicht nur die traditionalen selbständigen<br />

Mittelschichten mobilisieren, sondern auch die neuen Teile<br />

der Arbeitnehmerschichten mit traditional mittelständischer Ideologie<br />

— die zahlenmäßig stark angewachsenen Schichten der Angestellten<br />

und Beamten —, wenn sie die proletarische Revolution nicht<br />

nur vorübergehend zurückdrängen, sondern dauerhaft schlagen wollten.<br />

In den von den Krisen dieser Periode am stärksten getroffenen<br />

Gesellschaften reichte nunmehr die bloße Reduktion des rechtsstaatlichen<br />

Moments und der demokratisch-parlamentarischen Formen<br />

klassischer bürgerlicher Staatlichkeit auf den autoritären Staat nicht<br />

mehr aus, um den Druck der Arbeiterklasse in Richtung auf Transformation<br />

der kapitalistischen Produktionsverhältnisse auszuschal-


Das Problem der sozialen Funktion 253<br />

ten. Das zeigt sich sehr deutlich in der Zeit der Präsidialdiktatur im<br />

Deutschen Reich. Inzwischen war das Kapital zu gewaltigen Oligopolen<br />

und Monopolen konzentriert, welche die Marktkonkurrenz<br />

durch Machtkonkurrenz (und Machtausgleich) ersetzten. So konnte<br />

man nun auch für längere Zeiträume auf die durch Öffentlichkeit<br />

vermittelte und daher auf den klassischen Parlamentarismus verwiesene<br />

Form sowohl der Gesetzgebung als auch der in anderer<br />

Weise durchgesetzten Regulierung der Gesellschaft und Intervention<br />

der öffentlichen Macht in die Gesellschaft verzichten. Der Machtausgleich<br />

zwischen einer fast unendlich großen Zahl von kleinen und<br />

mittleren Wirtschaftseinheiten bedarf der öffentlichen Auseinandersetzung<br />

zur Herstellung der erforderlichen Kompromisse; der Machtausgleich<br />

hinsichtlich des Einsatzes und der Verwendung der Staatsmacht<br />

zwischen einer begrenzten Zahl von ökonomischen Zentren<br />

der Produktion, des Kredits und der Distribution, die wieder untereinander<br />

verknüpft sind, kommt ohne das Moment der Öffentlichkeit<br />

leicht aus. Diese Zentren führen ohnedies ständig nichtöffentliche<br />

Spitzenverhandlungen untereinander und mit den Vertretern der<br />

Staatsmacht. In Krisenperioden ist dieser Machtausgleich auf völlige<br />

Abschirmung gegen die Öffentlichkeit sogar unbedingt angewiesen,<br />

weil demokratischer Parlamentarismus bei rechtsstaatlich gesicherter<br />

freier Willensbildung der Arbeiterbewegung zwei Konsequenzen<br />

hätte: er würde das Eingreifen der Arbeiterbewegung in staatliche<br />

Willensbildungsprozesse ermöglichen und — vor allem in der Krise<br />

— die Einsicht der Arbeiterbewegung in die Notwendigkeit des<br />

Übergangs von kapitalistischen zu sozialistischen Produktionsverhältnissen<br />

geradezu produzieren.<br />

So entsteht in der Periode des Monopolkapitalismus generell in<br />

allen Teilen der herrschenden Klassen die Tendenz, die aus der Aufstiegsperiode<br />

des liberalen Kapitalismus überkommenen Vorstellungsweisen<br />

und Rechtsformen mindestens zurückzudrängen, im<br />

Extremfalle langwieriger ökonomischer und sozialer Krisen jedoch<br />

voll zu überwinden. Da sich die Technologie weiterentwickelt und<br />

die Kapitalkonzentration sich verstärkt, muß das Gleichgewicht der<br />

wirtschaftlichen Prozesse aufrechterhalten und wiederhergestellt<br />

werden, indem der Staat zunächst stärker in die Ökonomie eingreift,<br />

bis im Endresultat Staatsmacht und Großökonomie zu einheitlicher<br />

Willensbildung verschmelzen.<br />

Zwischen den beiden Weltkriegen stand dieser Transformationsprozeß<br />

der politischen Ordnung unter dem Vorzeichen der Abwehr<br />

der Gefahr der proletarischen Revolution. Die Unterklassen waren<br />

zunächst relativ mobilisiert, was durch die revolutionäre Phase nach<br />

1917 ausgelöst war. Es folgte die Zwischenperiode der relativen<br />

Stabilisierung des Kapitalismus in der Rationalisierungskonjunktur<br />

nach 1924. Infolge der großen Krise drohte die neuerliche Mobilisierung<br />

der Unterklassen. Die inzwischen systemnotwendige Abschirmung<br />

der staatlichen Willensbildungsprozesse vor der Öffentlichkeit<br />

und die Wiederherstellung der Kompromißfähigkeit zwischen<br />

tendenziell widerspruchsvollen Sonderinteressen der mono-


254 Wolfgang Abendroth<br />

polistischen Führungen selbst ließ sich daher — insofern in ähnlicher<br />

Weise wie beim Aufstieg des Bonapartismus in der liberal-kapitalistischen<br />

Periode — nur dadurch vermitteln, daß als Gegenmacht<br />

gegen sozialistisch-proletarische Kräfte soziale Gruppen mit Mittelschichtenmentalität<br />

mobilisiert wurden. Den diesen Sozialschichten<br />

angebotenen antibolschewistischen und antimarxistischen Parolen<br />

wurde der Schein „antikapitalistischer" Ideologie zugesetzt, um<br />

ihnen die Illusion des Kampfes für ihre eigenen Interessen zu geben.<br />

Mit Hilfe dieser Parolenmixtur sollte das Mittelstandsaufgebot die<br />

Arbeiterorganisationen ausschalten. Verstärkter Druck der Staatsmacht,<br />

die mittels der militanten gegenrevolutionären Mittelschichten-Organisationen<br />

gefestigt und von ihnen unterstützt wurde,<br />

mußte dann die Arbeiterorganisationen vernichten.<br />

Gleichzeitig konnte auch die nunmehr der Kontrolle der Öffentlichkeit<br />

entzogene Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen<br />

Interessen der einzelnen Oligopole ohne Gefährung des sozialen Gesamtsystems<br />

weitergeführt werden. Die Oligopole hatten jedoch spätestens<br />

seit Ausbruch der Weltwirtschaftskrise einsehen müssen, daß<br />

der konjunkturelle Prozeß ohne Mithilfe der öffentlichen Gewalt<br />

nicht gesteuert werden konnte, wenn auch eventuell nur in der<br />

Weise, daß sie sich formell gemeinsam der quasi schiedsrichterlichen<br />

Entscheidung durch die öffentliche Gewalt unterwarfen. Auf dieser<br />

Situation beruhte die Wendung zum <strong>Faschismus</strong>, wie sie 1922 in Italien,<br />

1933 in Deutschland und in Österreich durchgespielt worden ist.<br />

Dabei zeigte sich jedoch noch eine weitere Differenz zum Bonapartismus<br />

der liberalkapitalistischen Periode: Die faschistischen Parteien,<br />

die — ausnahmslos verbunden mit quasi militärischen Terrororganisationen<br />

— zur Macht geführt wurden, waren zwar abermals auf die<br />

Präsentierung charismatischer „Führer" angewiesen, in deren Zeichen<br />

sie allein die in sich widerspruchsvollen Sonderinteressen divergenter<br />

Mittelgruppen versöhnen konnten, aber sie beruhten nun im<br />

Zeichen neuer Sozialstrukturen auf gefestigten Parteien, die im Gegensatz<br />

zu den proletarischen Massenorganisationen nicht langfristig,<br />

sondern in verhältnismäßig kurzer Periode geschaffen wurden. Dadurch<br />

wurde es erstens möglich, daß diese Parteien und ihre militärischen<br />

Verbände in Zusammenarbeit mit der traditionalen Staatsorganisation<br />

die Unterdrückungsfunktion der öffentlichen Gewalt<br />

gegenüber den Unterklassen generalisierten und extrem verstärkten<br />

und sie in derart erheblichem Maße permanent gestalten konnten,<br />

wie sie die bonapartistische Staatsmacht weder in dieser Intensität<br />

noch in dieser Dauerhaftigkeit herstellen konnte. Die zweite Folge<br />

dieser neuen Situation bestand darin, daß die Rechtsstaatlichkeit<br />

zwar nicht gänzlich aufgelöst werden konnte, weil sie als Parallele<br />

der Markt-Gesellschaft in bestimmten Relationen erhalten bleiben<br />

mußte, aber durch einen nicht rechtsstaatlichen, sondern unverhüllt<br />

dezisionistisch-repressiven Teil staatlicher Tätigkeit weithin verdrängt<br />

wurde. Drittens führte diese Situation zu einer relativ permanenten<br />

Symbiose von Monopolwirtschaft und Staat im Zeichen<br />

eines auch nach außen aggressiven Rüstungskapitalismus.


Das Problem der sozialen Funktion 255<br />

In einer Reihe von europäischen Staaten war die Gefahr des Druckes<br />

der organisierten Arbeiterbewegung in Richtung auf Umwandlung<br />

monokapitalistischer Produktionsbedingungen in sozialistische Produktionsverhältnisse<br />

weniger stark. In ihnen bewirkten bloße militärische<br />

bzw. obrigkeitsstaatliche Diktaturen die zur Krisenbewältigung<br />

erforderliche Vereinheitlichung der politischen Willensbildung innerhalb<br />

der herrschenden Klassen, die im Zeichen der Krise durch mangelnde<br />

Kompromißfähigkeit der einzelnen Teile dieser herrschenden<br />

Klassen gestört war. Unter diesen Voraussetzungen wurden selbstverständlich<br />

die rechtsstaatlichen Beziehungen erheblich. weniger verdrängt,<br />

während die parteienstaatliche parlamentarische Demokratie<br />

ebenso eliminiert wurde. Übrigens war auch in den faschistischen<br />

Systemen, die sich auf ursprünglich vor allem mittelständische Massenbewegungen<br />

mit terroristischer Komponente stützen konnten und<br />

formell das Monopol der sozialen Organisationsstruktur dieser Massenbewegungen<br />

herbeiführten, diese Machtstruktur selbst keineswegs<br />

„monolithisch" bzw. im Sinne jener <strong>Theorien</strong>, die post festum,<br />

aber in Parallele zum ideologischen Selbstverständnis des <strong>Faschismus</strong><br />

in dieser Richtung ausgebildet wurden, „totalitär". Zwar wurde die<br />

Organisationswelt der früheren Arbeiterbewegung vernichtet, und<br />

konkurrierende andere gesellschaftliche Organisationen wurden ausgeschaltet,<br />

abgesehen freilich von den kapitalistischen ökonomischen<br />

Verbänden der Wirtschaftsgewalt selbst, doch das sozialökonomische<br />

System der auf Machtausgleich angewiesenen formell privatwirtschaftlichen<br />

Monopole und Oligopole bestand fort. Dieser Machtausgleich<br />

mußte durch staatliche Dezision bewirkt werden, wenn er<br />

nicht durch unmittelbaren Kompromiß vermittelt werden konnte.<br />

Die Differenzen der Monopole und Oligopole untereinander, aber<br />

auch die Sonderinteressen anderer gesellschaftlicher Gruppen drückten<br />

sich nunmehr in den Gefügen der verwandelten staatlichen<br />

Struktur und der faschistischen Parteiorganisationssysteme selbst<br />

aus. Sie waren damit zwar der öffentlichen <strong>Diskussion</strong> entzogen und<br />

für den außenstehenden Beobachter nicht mehr offenkundig, aber —<br />

wie jede neuere Untersuchung des italienischen faschistischen Systems<br />

oder des deutschen nationalsozialistischen Systems belegt —<br />

ständig vorhanden und wirksam. Der rechtsstaatlich nicht mehr normierte<br />

Kampf divergenter Interessen wurde dadurch in einen permanenten<br />

untergründigen Konkurrenzkampf von Cliquen transformiert,<br />

ohne seine reale Bedeutung zu verlieren. Das hatte jedoch zur<br />

Folge, daß um dieser Unerkennbarkeit der Zusammenhänge für<br />

Außenstehende willen die demokratische Bildung von Bewußtsein<br />

bei den Massen der Unterklassen ausgeschaltet wurde — wenn man<br />

von der illegalen Tätigkeit der antifaschistischen Opposition absieht.<br />

So schien das gesellschaftliche Gesamtsystem in stärkerem Maße abgesichert<br />

zu sein, als das in der vorigen Entwicklungsphase parlamentarisch-demokratischer<br />

Formierung des bürgerlichen Staates der<br />

Fall war. Aus diesem Grunde blieben in den faschistischen Staaten<br />

sogar diejenigen Teile der Oberklassen, die durch Einzelentscheidungen<br />

der politischen Gewalt benachteiligt wurden, bis zur jeweiligen


256 Wolfgang Abendroth<br />

totalen Katastrophe im Kriege oder doch mindestens bis zur drohenden<br />

Katastrophe des Krieges grundsätzlich Anhänger des neuen politischen<br />

Systems. Daß die mit rüstungskapitalistischen Lösungen notwendig<br />

verbundene Steigerung der Gefahr außenpolitischer Katastrophen<br />

auch dieses System erhöht bedrohte, wurde dabei nicht einkalkuliert.<br />

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich in einer ganzen Reihe<br />

von spätkapitalistischen Staaten soziale Bedingungen auf neuer Stufe<br />

reproduziert, die einige Tendenzen erneuert haben, die nach vergleichbaren<br />

politischen Lösungen drängen. Inzwischen ist auch in den<br />

Staaten, die vorübergehend im Zuge des Wiederaufbaus nach dem<br />

Zweiten Weltkriege die ältere Entwicklungsstufe liberaler Konkurrenzverhältnisse<br />

wiederherzustellen schienen (wie auch vor allem in<br />

der Bundesrepublik Deutschland), die Zentralisation und Konzentration<br />

des Kapitals sehr bald wieder übermächtig geworden, so daß der<br />

Konzentrationsgrad des Kapitals in der Periode der faschistischen<br />

Herrschaft noch bei weitem übertroffen wird. Deshalb ist spätestens<br />

nach den Rezessionen kurz vor dem Koreakrieg und 1966/67 den ökonomischen<br />

Führungsschichten abermals bewußt geworden, daß das<br />

jeweilige relative Gleichgewicht der Wirtschaft nur durch planende<br />

Integration von Wirtschaftsführung und Staatsführung garantiert<br />

bleiben kann. Erst eine größere Bedrohung durch wirtschaftliche<br />

Rückschläge läßt es erforderlich erscheinen, diejenigen Schichten mit<br />

Mittelstandsbewußtsein, die normalerweise das Gesamtsystem in<br />

Form der Unterstützung traditionaler Parteien akklamieren, durch<br />

neue Formen faschistischer Massenbewegungen zu mobilisieren. Solange<br />

es geht, werden die herrschenden Klassen dazu neigen, die<br />

Auseinandersetzungen um ihre Kompromißbildung untereinander<br />

und um die Grenzen der Konzessionen, die sie an die organisierte<br />

Arbeiterbewegung machen müssen, aus der Öffentlichkeit zu verdrängen.<br />

Das geschieht mit folgenden Mitteln: man verstärkt obrigkeitsstaatliche<br />

Züge, schaltet parlamentarische Auseinandersetzungen<br />

aus und verlagert die Kompromißvermittlung und eventuell notwendige<br />

Dezisionen an die Regierung, an Spitzen der Verwaltung<br />

und notfalls an Parlamentsausschüsse, die nichtöffentlich verhandeln.<br />

Man erzielt also autoritäre politische Veränderungen im Zeichen der<br />

„konzertierten Aktion" oder der „formierten Gesellschaft". Die herrschenden<br />

Klassen sind bei diesen Versuchen allerdings darauf angewiesen,<br />

in Bürokratie, Erziehungssystem, Justiz und Armee wie im<br />

Management an soziale Gruppen anzuknüpfen, die vorher in den<br />

faschistischen Herrschaftssystemen mitgewirkt haben, wenigstens soweit<br />

es postfaschistische Staaten wie die Bundesrepublik, Österreich<br />

und Italien betrifft. Als Integrationsmittel dient dabei die Mentalität<br />

des Antibolschewismus, die ebenfalls ein Teil der Mentalität des<br />

faschistischen Systems gewesen ist, während andere Seiten früherer<br />

faschistischer Denkformen wegen der Veränderungen durch den Ausgang<br />

des Zweiten Weltkrieges abgestreift werden mußten. Da gleichwohl<br />

ständig Teile der gewerblichen und bäuerlichen Mittelschichten


Das Problem der sozialen Funktion 257<br />

durch die ökonomische Entwicklung strukturell bedroht bleiben, reproduzieren<br />

sich daneben auch immer wieder — in jeder auch nur<br />

geringen Rezession erheblich verstärkt — Ansätze faschistischer Bewegungen<br />

und Organisationen, die — solange das wirtschaftliche<br />

Wachstum die Konsumbedrohtheit der Mittelschichten und der Arbeitnehmer<br />

begrenzt — relativ klein bleiben, aber im politischen<br />

Gleichgewichtssystem ein Verstärkungsmittel der autoritären Tendenzen<br />

bilden. Das funktioniert trotz ihrer scheinbaren Opposition<br />

in ähnlicher Weise wie zum Beispiel in der Konjunkturperiode der<br />

Weimarer Republik mit den Völkischen und der NSDAP. Würden<br />

die durch die Automations-Rationalisierung bedingten Erweiterungsformen<br />

struktureller Erwerbslosigkeit (vor allem bei den Angestellten)<br />

erheblich größer werden und mit neuen Rezessionserscheinungen<br />

oder größeren politischen Krisen zusammentreffen, bestünde durchaus<br />

die Wahrscheinlichkeit, daß diese unmittelbar faschistischen Bestrebungen<br />

abermals erheblich wachsen, auch wenn sie partiell sich<br />

neuer ideologischer Formen bedienen müssen. Die Kristallisationspunkte<br />

dafür sind in Italien durch die MSI, in Österreich durch die<br />

Freiheitliche Partei, in Deutschland durch die NPD bereits geschaffen<br />

und in den Vereinigten Staaten in der Wallace-Bewegung deutlich<br />

geworden; in Konjunkturphasen verlagern sie sich in die traditionalkonservativen<br />

Parteien (CDU/CSU, ÖVP, CD) selbst. So ist es in<br />

keiner Weise auszuschließen, daß auch unter den gegenwärtigen Bedingungen<br />

des sogenannten staatsmonopolistischen Kapitalismus die<br />

generelle Tendenz zu autoritärer politischer Entwicklung sich mit<br />

speziellen Erscheinungsformen eines neuen <strong>Faschismus</strong> kombiniert<br />

oder in extremen Gefährdungslagen durch sie ersetzt wird.<br />

Die einzige Gegenkraft, die derartige Gefahren ausschalten könnte,<br />

ist — wie in der Periode zwischen den Weltkriegen — die selbstbewußte<br />

Mobilisierung der abhängig arbeitenden Klasse, also der<br />

klassischen Arbeiterklasse, der Angestellten und des (wachsenden)<br />

Teils der akademisch gebildeten Schichten, der sich über deren abhängige<br />

Tätigkeit im gesellschaftlichen Prozeß klar ist. Das erste Ziel<br />

ist die Verteidigung und Wiederherstellung funktionierender Formen<br />

der Öffentlichkeit von politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen<br />

in der parlamentarischen Demokratie; das nächste Ziel<br />

wäre, die monopolkapitalistischen Produktionsverhältnisse durch<br />

transparente sozialistische Produktionsverhältnisse zu ersetzen. Denn<br />

die Widersprüche der spätkapitalistischen Gesellschaft werden immer<br />

erneut, wenn auch in wechselnden ideologischen Erscheinungsweisen,<br />

Tendenzen erzeugen, die zu faschistischen oder faschistoiden<br />

autoritären politischen Herrschaftsweisen überleiten. Daß die herrschenden<br />

gesellschaftlichen Ideologien bei Bewahrung der alten Produktionsverhältnisse<br />

in jeder beliebigen Kombination zugunsten<br />

autoritärer und faschistischer Bestrebungen weiterverwendet werden<br />

können, also keinerlei Schutz gegen derartige Entwicklungsmöglichkeiten<br />

bieten, ist durch den Gang der Geschichte zwischen den Weltkriegen<br />

ausreichend bewiesen.


9<br />

Reinhard Kühnl<br />

Probleme der Interpretation<br />

des deutschen <strong>Faschismus</strong><br />

i.<br />

Bereits der bisherige Stand der Forschung läßt ein Urteil über die<br />

wichtigsten Merkmale und Kausalzusammenhänge des deutschen <strong>Faschismus</strong><br />

zu. Dennoch gibt es noch eine Reihe von Problemen, die<br />

bislang nur unzureichend geklärt sind. Die Flut neuer Schriften über<br />

Nationalsozialismus und Drittes Reich, die Jahr für Jahr den Markt<br />

überschwemmt, hat deshalb nicht nur konjunkturelle Gründe, obwohl<br />

das durch die Studentenbewegung neu entfachte Interesse für<br />

<strong>Faschismus</strong>probleme für Autoren und vor allem für Verlage sicherlich<br />

als Ansporn wirkt. Im folgenden soll über einige Neuerscheinungen<br />

berichtet werden, die entweder ein Gesamtbild des deutschen<br />

<strong>Faschismus</strong> vermitteln wollen oder sich mindestens mit ganz<br />

zentralen Problemen befassen. Der erste Teil (II—IV) untersucht<br />

einige Publikationen bürgerlicher Geschichtswissenschaft, in denen<br />

es vor allem um Aufstieg und Struktur der faschistischen Partei,,<br />

Stellung der traditionellen Oberklassen im faschistischen System,<br />

Widerstandsbewegung und Krieg geht. Der zweite Teil (V—<strong>VI</strong>) befaßt<br />

sich mit Büchern aus der Sowjetunion und der DDR, von denen<br />

einige eine Gesamtdarstellung des deutschen <strong>Faschismus</strong> bieten, andere<br />

den Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Politik im faschistischen<br />

Herrschaftssystem untersuchen. Zugleich mit der Kritik an<br />

diesen Schriften soll versucht werden, zu den Hauptproblemen des<br />

historischen deutschen <strong>Faschismus</strong> einige Thesen zu entwickeln, die<br />

vielleicht zu weiteren <strong>Diskussion</strong>en anregen können.<br />

II.<br />

Eine Geschichte der NSDAP von ihren Anfängen bis zu ihrer Auflösung<br />

1945 liegt bisher nicht vor. Bis vor kurzem gab es nicht einmal<br />

eine Gesamtdarstellung ihrer Aufstiegsperiode bis 1933Es erscheint<br />

deshalb durchaus sinnvoll, „bisher unbekannte oder nicht<br />

publizierte Dokumente zu wichtigen Problemen zur inneren Struktur<br />

der NSDAP" zu sammeln und mit einem Kommentar zu publizieren*<br />

— gleichsam als „Vorgriff auf die noch zu schreibende Ge-<br />

1 Vgl. jetzt D. Orlow, A History of the Nazi Party 1919—1933, Pittsburgh<br />

1969.<br />

» Tyrell, Albrecht (Hrsg.): Führer befiehl ... Selbstzeugnisse<br />

aus der „Kampfzeit" der NSDAP. Dokumentation<br />

und Analyse. Droste Verlag, Düsseldorf 1969 (403 S., Ln., 26,80 DM/kart.,<br />

19,80 DM).


Probleme der Interpretation des deutschen <strong>Faschismus</strong> 259<br />

schichte des Aufstiegs der NSDAP" (9). Dabei hat Tyrell eine Menge<br />

interessanter Dokumente zutage gefördert, wenn diese auch das bisherige<br />

Bild von der inneren Struktur der NSDAP nicht wesentlich<br />

verändern, sondern im ganzen bestätigen. Das für eine sozialwissenschaftliche<br />

Analyse bei weitem wichtigste Resultat betrifft die soziale<br />

Zusammensetzung der Parteimitglieder: Tyrell hat neue Belege für<br />

„die geringe Zahl der Frauen in der Partei, den überaus hohen Anteil<br />

der mittelständischen Bevölkerungsschichten, das rapide Zunehmen<br />

der landwirtschaftlichen Berufsgruppen seit 1928/29 und den niedrigen<br />

Anteil der Arbeiterschaft" (379) gefunden. In der Tat ist dieser<br />

Arbeiteranteil mit „8,5 Prozent der Gesamtaufnahmen bis Dezember<br />

1930" nach diesem Dokument noch weit niedriger, als bisher schon<br />

vermutet wurde. Welche Bedeutung dieses Resultat hat, welchen<br />

Ursachen diese Sozialstruktur zuzuschreiben ist, wie die soziale Basis<br />

der Partei mit deren Ideologie einerseits und deren sozialer Funktion<br />

andererseits zusammenhängt, wird von Tyrell leider nicht reflektiert.<br />

Er scheint nicht einmal das Problem zu sehen. Sein Kommentar,<br />

der fast die Hälfte des Buches ausmacht, arbeitet mit einem<br />

ziemlich grobschlächtigen Begriffsapparat, der für solche Fragen<br />

gänzlich ungeeignet ist: Für ihn war das Hauptmerkmal der NSDAP<br />

das Führerprinzip. Weder eine bestimmte Ideologie noch eine bestimmte<br />

politische Richtung habe diese Partei gekennzeichnet. Es sei<br />

ihr nur darauf angekommen, die durch den Führer integrierten und<br />

organisierten „agitatorischen und ausdrücklich auch die körperlichen<br />

Energien in geballtem Einsatz nach außen zu richten" (103).<br />

Diese in der Geschichtswissenschaft seit langem bekannte Interpretation,<br />

die den <strong>Faschismus</strong> auf ein abstraktes Organisationsprinzip<br />

reduzieren und seines sozialen Inhalts vollständig berauben will,<br />

scheitert an der schlichten Tatsache, daß der Führer nicht führen<br />

kann, ohne zugleich in eine bestimmte Richtung zu führen. Welche<br />

Richtung das war, konnte der Einsichtige schon 1921 erkennen, als<br />

sich der Antimarxismus als politisches Leitmotiv der nationalsozialistischen<br />

Agitation herausschälte. Spätestens seit 1929/30, als das<br />

Bündnis zwischen der NSDAP und der „nationalen Rechten", das<br />

1933 zur „Machtergreifung" führte, konkrete Formen gewann und<br />

der Terror gegen die Linke immer größere Ausmaße annahm, müßte<br />

der soziale Charakter dieser Partei eigentlich für jedermann evident<br />

sein. Tyrell berichtet zwar über dieses gegen die Linke gerichtete<br />

Bündnis, kommt aber nicht auf den Gedanken, daß damit seine Zentralthese<br />

von der ziel- und prinzipienlosen, gleichsam unpolitischen<br />

Führerpartei, vom politisch inhaltsleeren Machtwillen hinfällig wird.<br />

Was die Begriffe der Rechten und der Linken, die er durchaus verwendet,<br />

in seiner Konzeption noch zu bedeuten haben, bleibt unklar.<br />

Da er über ein <strong>kritische</strong>s Kategoriensystem selbst nicht verfügt,<br />

übernimmt er eben die Begriffe, die er in den Quellen und in der<br />

Literatur jeweils vorfindet. So mag es auch zu erklären sein, daß er<br />

der Otto-Strasser-Gruppe, die 1930 aus der Partei ausschied, „eine<br />

strikt antikapitalistische, revolutionär sozialreformerische Konzeption",<br />

„Klassenkampfdenken" (312 f.) und dergleichen mehr unter-


260 Reinhard Kiïhril<br />

stellt. Das entspricht zwar dem Selbstverständnis dieser Gruppe,<br />

aber keineswegs der Wirklichkeit: tatsächlich handelt es sich um<br />

einen kleinbürgerlichen Antikapitalismus, der zwar das Großkapital<br />

bekämpfte und zu diesem Zweck ein Bündnis mit den Arbeiterparteien<br />

zu schließen bereit war, am Prinzip des Privateigentums aber<br />

ebenso fanatisch festhielt wie der Hitlerflügel und den Schutz der<br />

kleinen Selbständigen zur Hauptaufgabe der Staatsgewalt erklärte 2 .<br />

Mit der Kolonialkonzeption der NSDAP befaßt sich der junge<br />

Mannheimer Historiker Klaus Hildebrand*. Was in dieser fast 1000<br />

Seiten umfassenden Dissertation an Materialien verarbeitet wurde,<br />

ist in der Tat beachtlich. Obgleich die Untersuchung Hildebrands<br />

ständig um das Denken und die Politik Adolf Hitlers kreist und insoweit<br />

der herkömmlichen, auf Führerpersönlichkeiten konzentrierten<br />

deutschen Geschichtswissenschaft folgt, wird doch deutlich, daß <strong>Faschismus</strong><br />

etwas mit gesellschaftlichen Interessen und Konflikten zu<br />

tun hat: Hildebrand fragt auch nach der „Sozialgeschichte der Kolonialbewegung"<br />

und nach den ökonomischen Interessen, die mit der<br />

Kolonialkonzeption einerseits und der auf Eroberung osteuropäischer<br />

Gebiete gerichteten Konzeption andererseits verknüpft waren. Dabei<br />

erweist sich, was zu vermuten war: „Die Kolonialbewegung stützt<br />

sich fast ausschließlich auf die administrativen, militärischen und<br />

wirtschaftlichen Führungsschichten sowie auf das akademisch gebildete<br />

Bürgertum. ... Das für die Entwicklung der verspäteten deutschen<br />

Nation' so charakteristische Bündnis des ursprünglich liberalen<br />

Bürgertums mit den Resten der vorkapitalistischen Führungsgruppen<br />

des Adels ist auch bei der Kolonialbewegung als typisches soziales<br />

Grundmuster gegeben" (105).<br />

Innerhalb der ökonomischen Führungsgruppen waren es weniger<br />

die Konzerne der Schwerindustrie, die hier unmittelbare Interessen<br />

wahrten, obgleich auch sie —• aus grundsätzlichen machtpolitischen<br />

Erwägungen und aus Tradition — die Kolonialbewegung am Rande<br />

unterstützten. Die Zweige der „verarbeitenden Industrie, der Chemie<br />

und Textilbranche, die kommerziellen Kolonialgesellschaften<br />

und Schiffahrtslinien sowie die Banken" sind dagegen unmittelbar<br />

„am Kolonialgeschäft interessiert" (107). Diese Interessendivergenz<br />

deutete sich bereits im Kaiserreich und in der Kriegszieldiskussion<br />

des Ersten Weltkrieges an: Der Schwerindustrie war schon damals<br />

die Eroberung der Erzlager in Ostfrankreich und im Kaukasus wichtiger<br />

als ein afrikanisches Kolonialreich. Obwohl Kolonialpolitik für<br />

das Deutsche Reich seit 1918 das Stadium der politisch-militärischen<br />

Praxis niemals erreicht hat, spielte sie doch, wie Hildebrand zeigen<br />

kann, eine beachtliche politische Rolle — auch und gerade nach 1933.<br />

2 Zu diesem Problem vgl. R. Kühnl, Die nationalsozialistische Linke,<br />

Meisenheim 1966.<br />

* Hildebrand, Klaus: Vom Reich zum Weltreich. Hitler, NSDAP<br />

und koloniale Frage 1919—1945. Veröffentlichungen des Historischen<br />

<strong>Institut</strong>s der Universität Mannheim, Bd. 1. Wilhelm Fink Verlag, München<br />

1969 (955 S., Ln., 96,— DM).


Probleme der Interpretation des deutschen <strong>Faschismus</strong> 261<br />

In der Weimarer Zeit versuchte die Kolonialbewegung ihren Zielen<br />

durch Einflußnahme auf die zuständigen Ministerien näher zu kommen,<br />

deren Bürokratien nach 1918 ja unangetastet geblieben waren.<br />

Dabei dienten die bürgerlichen Parteien, vor allem die DVP, als Vermittlungsinstanz.<br />

Als sich 1929 der Aufstieg der NSDAP zur Massenbewegung<br />

abzeichnete, intensivierte die Kolonialbewegung ihre Kontakte<br />

zu dieser Partei, um sie für ihre Ziele zu gewinnen. Zwar hatte<br />

Hitler in „Mein Kampf" eine europäische Hegemonialpolitik und die<br />

Eroberung osteuropäischer Gebiete postuliert und sich damit für die<br />

schon im Ersten Weltkrieg die Kriegszieldiskussion bestimmende<br />

Gruppe des deutschen Imperialismus entschieden, aber im Parteiprogramm<br />

wurden immerhin Kolonien verlangt, und Hitler war nach<br />

1929 klug genug, dieses Konzept nicht mehr ausdrücklich abzulehnen.<br />

So waren die Voraussetzungen für ein Bündnis aller maßgeblichen<br />

Gruppen der deutschen Wirtschaft mit dem <strong>Faschismus</strong> geschaffen:<br />

Die Schwerindustrie versprach sich vom Aufrüstungsprogramm die<br />

Überwindung der Krise und die Chance für eine neue europäische.<br />

Hegemonialpolitik, die von der Kolonialbewegung repräsentierten<br />

Gruppen hofften auf ein afrikanisches Kolanialreich — und alle zusammen<br />

waren an der Zerschlagung der Arbeiterbewegung und der<br />

Errichtung der „nationalen Diktatur" interessiert (worauf Hildebrand<br />

allerdings nicht weiter eingeht).<br />

Nach 1933 rangen die beiden imperialistischen Konzeptionen mehrere<br />

Jahre um die politische Führung. Hjalmar Schacht, „auf kolonialem<br />

Feld die repräsentativste Figur der Interessengemeinschaft,<br />

die Wirtschaft, Finanzwelt und Partei 1933" eingingen (204), war bis<br />

1936 bemüht, die Reichsregierung auf die Kolonialpolitik festzulegen.<br />

Innerhalb der NSDAP vertrat vor allem Hermann Göring diesen<br />

Kurs. An diesem Beispiel entwickelt Hildebrand den Ansatz zu einer<br />

Theorie über das Verhältnis von Wirtschaft und Politik im deutschen<br />

<strong>Faschismus</strong>: „Wirtschaftliche Macht stützte Hitlers Herrschaft und<br />

zwang ihn doch zugleich, nationale Tabus ihrer Vertreter — wie die<br />

Kolonialfrage — mindestens zurückhaltend zu behandeln" (143). Für<br />

Hitler fungierte die Kolonialfrage nach 1933 zugleich als taktisches<br />

Mittel und als politisches Ziel: als Mittel, um mit Großbritannien zu<br />

einer Vereinbarung zu gelangen, als Ziel z. B. im Herbst 1940, als die<br />

Errichtung eines mittelafrikanischen Kolonialreichs noch vor der<br />

Niederwerfung der UdSSR möglich erschien, im übrigen aber als<br />

Fernziel: nach dem Aufbau einer auch auf Afrika sich erstreckenden<br />

Weltmacht Deutschland konnte die Auseinandersetzung mit der dann<br />

noch verbleibenden Weltmacht Amerika ins Auge gefaßt werden.<br />

Anfang 1943 war das deutsche Kolonialreich „auf dem Reißbrett fast<br />

fertiggestellt und perfekt organisiert" (774), das Herrschaftspersonal<br />

ausgewählt und geschult. Die Niederlage von Stalingrad holte den<br />

deutschen <strong>Faschismus</strong> von den Wolken auf die Erde zurück. Noch<br />

1943 ließ Hitler alle Arbeiten am Kolonialprojekt einstellen.<br />

Hildebrand hat hier ein bedeutsames Buch geschrieben, das das<br />

durchschnittliche Niveau einer Dissertation weit überragt. Freilich:<br />

es gibt Passagen, in denen er konservativen Ideologien auf den Leim


262 Reinhard Kiïhril<br />

geht. So etwa, wenn er zwischen dem <strong>Faschismus</strong>, der „eine von allen<br />

Normen gelöste Politik treiben wollte, und Schacht, der, als ein Vertreter<br />

traditioneller Machtpolitik durch gewisse Normen gebunden,<br />

vor dem offenen Völkermord zurückschreckte" (210), einen grundlegenden<br />

Unterschied erkennen will. Als ob die „traditionelle Machtpolitik"<br />

der imperialistischen Mächte in den Kolonien je vor Völkermord<br />

zurückgeschreckt wäre! Oder wenn er davon redet, daß die<br />

Wirtschaftskrise Deutschland „heimgesucht" habe, als handle es sich<br />

um ein Naturereignis wie Erdbeben oder Sturmflut. Aber die <strong>kritische</strong>n<br />

Passagen, die teilweise auch für die faschismustheoretische<br />

<strong>Diskussion</strong> der Linken von Bedeutung sind, haben doch das Übergewicht.<br />

III.<br />

Während die Untersuchung von Hildebrand wertvolle Auskünfte<br />

über- das Verhältnis der ökonomischen Führungsgruppen zum <strong>Faschismus</strong><br />

gibt, befassen sich die beiden folgenden Bücher mit dem<br />

Verhalten der militärischen und einiger anderer gesellschaftlicher<br />

Führungsgruppen zum Dritten Reich. Manfred Messerschmidt, Wissenschaftlicher<br />

Oberrat am Militärgeschichtlichen Forschungsamt<br />

Freiburg, untersucht das Problem der „soldatischen Menschenführung"<br />

im Dritten Reich *. Das Buch entstand auf Initiative von General<br />

a. D. Graf Kielmansegg, der auch als Herausgeber fungiert und<br />

eine Einleitung verfaßte. In dieser Einleitung formuliert Kielmansegg<br />

zunächst einige Vorbehalte gegenüber dem Text Messerschmidts,<br />

die leicht als Mißtrauenserklärung an die Geschichtswissenschaft vornehmlich<br />

der jüngeren Generation zu identifizieren sind: „Jemand,<br />

der die Ereignisse nicht selbst miterlebt hat, der zeitgebundene Umstände,<br />

Atmosphäre, Personen nicht aus eigener Erfahrung kennt",<br />

müsse notwendigerweise „nicht in der Zeichnung aber in der Farbgebung<br />

unvollständig bleiben" (<strong>VI</strong>I). Mit der Autorität des Augenzeugen<br />

ausgestattet, entwickelt er dann in knappen Zügen die gesamte<br />

Rechtfertigungsideologie jener Gruppen der Oberklassen, die<br />

mit dem <strong>Faschismus</strong> spätestens 1933 ein Bündnis geschlossen, während<br />

des Dritten Reiches an der Macht und der Machtausübung partizipiert<br />

und sich nach 1945 als Verführte, als unschuldige Opfer deklariert<br />

haben: Versailles (kein Wort von den Ursachen: dem deutschen<br />

Imperialismus des Ersten Weltkrieges) — Arbeitslosigkeit<br />

(kein Wort über den Kapitalismus, der die Krise hervorbrachte) —<br />

Versagen der parlamentarischen Demokratie (kein Hinweis auf die<br />

ökonomischen Machtgruppen, die sie verwarfen, als sie ihren Interessen<br />

nicht mehr diente) einerseits — der Glaube an eine „echte<br />

soziale Revolution" 1933 — „Volksgemeinschaft" — „nationaler Sozialismus"<br />

(keine Reflexion darüber, woher alle diese Ideologien<br />

stammen und wem sie nützen) andererseits — das sind die Mark-<br />

* Messerschmidt, Manfred: Die Wehrmacht im NS-Staat. Zeit<br />

der Indoktrination. Mit einer Einführung von General a. D. Johann<br />

Adolf Graf Kielmansegg. R. v. Deckers Verlag, G. Schenck, Hamburg<br />

1969 (519 S., Ln., 38,50 DM).


Probleme der Interpretation des deutschen <strong>Faschismus</strong> 263<br />

steine dieses Geschichtsbildes. Dazu Täuschung, „hintergründige Niedertracht"<br />

auf Seiten des Nationalsozialismus, so daß die Reichswehr<br />

„schutzlos ... erlag", nicht ohne eine „verächtliche Abscheu" angesichts<br />

der plebejischen Haufen von der SA zu bewahren (<strong>VI</strong>II f.). Der<br />

Dünkel des adeligen Offiziers gegenüber den proletarisierten Massen,<br />

die sich in den faschistischen Kampforganisationen sammelten, war<br />

in der Tat kennzeichnend für das Verhältnis zwischen Reichswehr<br />

und <strong>Faschismus</strong>. Hier kommt symptomatisch zum Ausdruck, daß die<br />

Oberklassen die Mesalliance mit der faschistischen Massenbewegung<br />

nur ungern und nur naserümpfend schließen, nämlich nur dann,<br />

wenn sie keine andere Möglichkeit mehr sehen, ihre Privilegien zu<br />

bewahren. Kielmansegg versucht, die „verächtliche Abscheu" der<br />

Offiziere gegenüber dem <strong>Faschismus</strong> zu einer Widerstandshaltung<br />

emporzustilisieren: Fritsch „wollte aus dem Heer eine pièce de résistence<br />

machen, bereit zum Eingreifen, wenn die Entwicklung gewisse<br />

Grenzen überschritt" (X), wollte „durch ,Haltungsschulung' (!) einen<br />

inneren Damm gegen die NS-EinWirkungen" bauen (XI). Diese<br />

„Grenzen" waren aber offenbar ziemlich weit gesteckt. Die Zerschlagung<br />

der Demokratie, die Praxis eines umfassenden Terrorsystems,<br />

die Errichtung von Konzentrationslagern, die Diskriminierung der<br />

Juden usw. scheinen noch innerhalb dieser Grenzen gelegen zu haben,<br />

denn erst 1958, als der Zweifrontenkrieg unmittelbar bevorstand,<br />

entschloß sich Fritsch zum Widerspruch. Das gibt einigen Aufschluß<br />

darüber, was unter „der Idee des Staates und des Dienstes<br />

für den Staat" (XI), denen Fritsch sich verpflichtet fühlte — und<br />

Kielmansegg offenbar auch — konkret zu verstehen ist.<br />

Das von Kielmansegg in der Einleitung skizzierte Geschichtsbild<br />

wird dann von Messerschmidt in aller Breite dargelegt — allerdings<br />

mit einigen wesentlichen Akzentverschiebungen: Obwohl auch Messerschmidt<br />

das Militär letzten Endes als „irregeleitet" (11), als Opfer<br />

der „Dämonie" des Nationalsozialismus (4) ansieht, erkennt er doch,<br />

daß der Annäherung zwischen beiden sowohl „Affinitäten des nationalen<br />

Bewußtseins" (5) als auch eine „Teilidentität der Ziele" zugrunde<br />

lagen: „Volksgemeinschaft und Wehrgesinnung", Beseitigung<br />

der Schranken des Versailler Vertrages und „innenpolitische Konsolidierung"<br />

wurden von beiden angestrebt (1 f.). Die Reichswehr<br />

„bejahte die Überwindung der Parteien, der Demokratie, unter welcher<br />

sie so etwas wie organisierte Schwäche verstand" (8). In den<br />

„Grundlagen der Ideologie" (6) sollen allerdings fundamentale Unterschiede<br />

bestanden haben. Bei dem Versuch, diese zu bestimmen,<br />

gerät Messerschmidt freilich sehr ins Allgemeine — in deutlichem<br />

Kontrast zu den relativ konkreten Aussagen über die Gemeinsamkeiten.<br />

Das ist kein Zufall. Die Ideologie von Autorität und Führertum<br />

und die Frontstellung gegen Demokratie und Sozialismus bildeten<br />

eben das eigentliche Fundament — und gerade diese Merkmale<br />

waren beiden Partnern gemeinsam. Um ein Beispiel von der wirren<br />

Vorstellungswelt des Autors zu geben, sei zitiert, was er zu diesem<br />

„Aufeinandertreffen von im Grunde verschiedenen Wertwelten"<br />

(17) vorbringt: „Ging die Armee von der Überzeugung aus, das Bewe-


264 Reinhard Kiïhril<br />

gungsprinzip der Weltanschauung werde im Führerstaat zur Ruhe<br />

kommen, der Nationalsozialismus werde seine Energie auf staatlicher<br />

Ebene gestalterisch verausgaben und sich dann als Träger des Staates<br />

verstehen, so betrachteten Hitler und die Partei den Staat nicht<br />

als die letzte Instanz der nationalen Ordnung und Geschichte. Ihre<br />

völkischen und rassischen Vorstellungen bildeten zusammen mit dem<br />

Führerprinzip die Grundlagen eines neuen, Innen- und Außenpolitik<br />

gleichermaßen umfassenden Leit- und Aktionsbildes, in welchem der<br />

,Staat' als solcher, als eine statische Größe, nur in dem Maße Daseinsberechtigung<br />

besaß, als er funktionell eingepaßt werden konnte<br />

in die Dimensionen und Perspektiven des nach Führerweisungen ablaufenden<br />

Bewegungsprozesses der völkischen Energie" (8). Wahrscheinlich<br />

hält er das für geschichtsphilosophische Betrachtungen.<br />

Innerhalb des Nationalsozialismus unterscheidet Messerschmidt zwischen<br />

einem „gesunden" oder „purifizierten Nationalsozialismus" (13)<br />

und „revolutionären" oder „radikalen" Elementen. Damit sind — wie<br />

bei Kielmansegg — die hauptsächlich in der SA konzentrierten plebejisch-aufrührerischen<br />

Kräfte gemeint, die auf Kampfmaßnahmen<br />

gegen die Oberklassen, mindestens aber auf soziale Sicherstellung<br />

auf Kosten der Oberklassen drängten und deshalb im Sommer 1934<br />

mit der Billigung von Militär und Wirtschaft niedergeworfen und<br />

zum Teil ermordet wurden. (Allerdings entsprach auch der <strong>Faschismus</strong><br />

der folgenden Jahre wegen seiner Irrationalität und seiner latenten<br />

Bedrohung auch der „gehobenen Stände" nicht ganz dem Bild<br />

des Militärs von einer ordentlichen Diktatur.)<br />

Im Hauptteil seines Buches stellt der Autor die Erziehungsarbeit<br />

dar, die während des Dritten Reiches von den militärischen Führungsgremien<br />

geleistet wurde. Dabei geht es ihm besonders um die<br />

Frage, in welchem Maße spezifisch nationalsozialistische Ideologie im<br />

Militär verbreitet worden ist. Er kommt zu dem Ergebnis: „Die<br />

Wehrmacht hat dies alles nicht nur .erlitten', ihre oberste Führung<br />

hat maßgeblich daran mitgearbeitet" (490). Die Generalität habe den<br />

nationalsozialistischen Staat und seine Politik „ganz überwiegend<br />

bejaht" (489). Im Bereich der reinen Fakten, soweit sie in den Akten<br />

auffindbar sind, ist diese Darstellung zuverlässig. Selbst in der Generalisierung<br />

dieser Fakten läßt der Autor Courage erkennen, wenngleich<br />

die von Kielmansegg vorgezeichnete Rechtfertigung sich ständig<br />

dazwischenmischt („überall erlag die Wehrmacht der verderblichen<br />

Kunst der Parteisimplifikateure ..."; 483). Das bedenklichste an diesem<br />

Buch ist, daß der Autor die Ideologie der „Kräfte der nationalen,<br />

Tradition" (15) bruchlos fortführt und sich selbst dabei als kritisch<br />

versteht. Sogar die faschistische Parole von der „Überwindung der<br />

Klassengegensätze" im Dritten Reich wird unreflektiert übernommen<br />

(482), und am Ende erscheint die europäische Machtpolitik des<br />

Nationalsozialismus als Ausfluß „liberal-demokratischen Denkens"<br />

und die „preußische Tradition" (483) zusammen mit einer „neuen<br />

Form der Transzendenz" (9) als Wall gegen den <strong>Faschismus</strong>. Daß 1933<br />

in Deutschland „angesichts der Schwäche der deutschen Republik"<br />

Ordnung, Sicherheit und militärische Stärke geschaffen werden muß-


Probleme der Interpretation des deutschen <strong>Faschismus</strong> 265<br />

ten, scheint ihm noch heute evident. „Problematisch war allein, daß<br />

der Gedanke der Ordnung und Stärke zu ausschließlich, zu einseitig<br />

in den Vordergrund gestellt wurde" (481). Ein wesentlicher Unterschied<br />

gegenüber den üblichen Rechtfertigungsschriften der Rechten<br />

ist in diesem Buch nicht zu erkennen. Daß es auf ein Plädoyer für die<br />

gemäßigte nationale Diktatur hinausläuft, entspricht seiner inneren<br />

Konsequenz.<br />

Gleichfalls mit dem Verhältnis zwischen den sozialen Oberklassen<br />

und dem faschistischen Staat befaßt sich Peter Hoffmann, der in der<br />

Bundesrepublik studierte und jetzt als Professor für Geschichte an<br />

der University of Northern Iowa lehrt *. Der Untertitel verspricht<br />

zwar, es werde „Der Kampf der Opposition gegen Hitler" dargestellt,<br />

aber tatsächlich wird dann in der üblichen Weise „die Opposition"<br />

auf den 20. Juli reduziert. Dessen Vorgeschichte, Verlauf und Folgen,<br />

breitet Hoffmann auf rund 1000 Seiten in allen Einzelheiten aus.<br />

Dabei hat er eine Menge bisher unbekannter Details ermittelt und<br />

im Kapitel über die „innenpolitischen Pläne" der Verschwörer auch<br />

Probleme behandelt, die — über bloße „Zeitgeschichte" hinaus —<br />

auch von politologischem Interesse sind. Leider korrespondiert der<br />

immense Fleiß des Verfassers nicht mit halbwegs brauchbaren methodischen<br />

Prinzipien. Auch das eifrigste Aktenstudium und der heftigste<br />

Abscheu gegen den Nationalsozialismus und seine Verbrechen<br />

reichen für ein Verständnis des Phänomens <strong>Faschismus</strong> nicht aus,<br />

wenn ein Begriff von Gesellschaft nicht vorhanden ist und selbst die<br />

fundamentalsten sozialwissenschaftlichen Einsichten fehlen. Vielleicht<br />

hätte Hoffmann diese mit ideologischen Vorurteilen durchsetzte<br />

Faktensammlung zu einer Konzeption formen können, wenn<br />

er ein paar Aktenstücke weniger und statt dessen einige sozialwissenschaftliche<br />

Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen <strong>Faschismus</strong><br />

und bürgerlicher Gesellschaft verarbeitet hätte. Damit soll<br />

ihm keineswegs angesonnen werden, die umfängliche marxistische<br />

Literatur zum <strong>Faschismus</strong>problem heranzuziehen — das liegt wohl<br />

außerhalb des wissenschaftlichen Horizonts eines normalen Historikers<br />

in den Vereinigten Staaten. Aber die Arbeiten seiner Landsleute<br />

Lipset, Parsons, Hallgarten und Schweitzer und die Analysen Theodor<br />

Geigers hätte er wenigstens berücksichtigen können 8 . Statt dessen<br />

stützt er sich methodisch und politisch auf Gerhard Ritter und<br />

Hans Rothfels (vgl. 12), deren reaktionäres Geschichtsbild selbst bei<br />

vielen Historikern der Bundesrepublik mittlerweile diskreditiert ist.<br />

3 S. M. Lipset, „<strong>Faschismus</strong>" — rechts, links und in der Mitte, in: ders.,<br />

Soziologie der Demokratie, Neuwied 1962;<br />

T. Parsons, Demokratie und Sozialstruktur in Deutschland vor der Zeit des<br />

Nationalsozialismus, in: Beiträge zur soziologischen Theorie, Neuwied 1964;<br />

G. W. F. Hallgarten, Hitler, Reichswehr und Industrie, Frankfurt 1962;<br />

A. Schweitzer, Big Business in the Third Reich, Bloomington 1965;<br />

Th. Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes, Stuttgart 1932.<br />

* Hoffmann, Peter: Widerstand, Staatsstreich, Attentat.<br />

Der Kampf der Opposition gegen Hitler. R. Piper & Co. Verlag, München<br />

1969 (988 S., Ln., 58,— DM).


266 Reinhard Kiïhril<br />

Eine Darstellung des deutschen Widerstands, die sich auf den 20.<br />

Juli konzentriert und dieser Bewegung einen prinzipiell gegen das<br />

System gerichteten Charakter zuspricht, muß zweierlei erklären:<br />

1. Warum werden die Gruppen des 20. Juli in den Vordergrund<br />

gestellt und nicht die Widerstandsgruppen der Linken, die zahlenmäßig<br />

einen weit größeren Umfang hatten, deren Widerstand viel<br />

früher einsetzte, die zu keiner Zeit mit dem faschistischen System<br />

kooperiert haben und die erheblich mehr Opfer bringen mußten?<br />

2. Warum setzte der Widerstand militärischer und administrativer<br />

Führungsgruppen erst 1938 ein, wenn er doch angeblich gegen die<br />

faschistische Diktatur grundsätzlich gerichtet war?<br />

Hoff mann antwortet:<br />

Zu 1. Was Widerstand „eigentlich ausmacht, nämlich (der) Staatsstreichversuch"<br />

(10), treffe nur auf die Gruppen des 20. Juli zu. Nach<br />

seiner Ansicht ist das auch gut so, denn „nur wenige hochgestellte<br />

Funktionäre einer solchen Gesellschaft haben rechtzeitig den nötigen<br />

Einblick in die Realitäten der Lage und zugleich die Macht. ... Nur<br />

wenige können jeweils zweifelsfrei beurteilen, ob und wann ein geleisteter<br />

Eid, wann Treue sinnlos werden " (10 f.). Also: eine ziemlich<br />

willkürliche Definition dessen, was Widerstand „eigentlich" sei,<br />

verbunden mit elitärer Ideologie, die in auffallender Weise dem<br />

Selbstverständnis der Verschwörer entspricht. Von einer <strong>kritische</strong>n<br />

Distanz zu seinem Gegenstand ist in diesem Buch nichts zu bemerken.<br />

Zu 2. Um diese Gruppen zu konkreten Widerstandsplanungen zu bewegen,<br />

bedurfte es nach Hoffmann „des Anstoßes der akuten Gefahr<br />

eines großen Krieges" (10). Diese Begründung ist zwar noch nicht<br />

präzis genug, weil diese Gruppen 1938 wie auch später nicht gegen<br />

den Krieg grundsätzlich, sondern nur gegen diesen Krieg zu diesem<br />

— in ihren Augen höchst ungünstigen — Zeitpunkt votierten, der<br />

keine Erfolgsaussichten bot. Immerhin könnte dieser Ansatz zu einer<br />

Analyse darüber weiterentwickelt werden, was den Führungsgruppen<br />

aus Militär und Bürokratie denn am Dritten Reich konkret mißfiel<br />

— und was ihnen nicht mißfiel. Schon die Begründung Hoffmanns<br />

zeigt, daß sie gegen den faschistischen Terror im Innern —<br />

soweit er nicht die eigene Klasse traf — offenbar wenig einzuwenden<br />

hatten. Das Geschichtsbild Hoffmanns läßt sich nach alledem<br />

schon fast erraten: „rechts- und linksextreme" Elemente, der „dämonische<br />

Demagoge Adolf Hitler", die Intrigen „politischer Abenteurer<br />

und ... Verblendeter", „wilde Streiks" und „Arbeitslosigkeit" richteten<br />

die Weimarer Republik zugrunde (15 ff.). Letzten Endes resultierte<br />

das alles aus dem „Verlust der absoluten Werte" (22), die Hoffmann<br />

leider nicht näher definiert. Selbst empirisch längst widerlegte<br />

Geschichtslegenden werden hier neu aufgelegt: der <strong>Faschismus</strong><br />

konnte „alle Gegner ausschalten, ohne die Legalität verlassen zu<br />

müssen" (20); die KPD sei von Moskau von Widerstandshandlungen<br />

abgehalten worden, weil dort die Überzeugung herrschte, „ein faschistisches<br />

Regime könne die innere Selbstzerstörung Deutschlands nur<br />

fördern und den Boden für die kommunistische Machtübernahme


Probleme der Interpretation des deutschen <strong>Faschismus</strong> 267<br />

bereiten" (18). Die Papen-Rede vom 17. Juni 1934 wird zu einem antifaschistischen<br />

Widerstandsakt umgedeutet (43), während sie in Wirklichkeit<br />

nur gegen die „plebejischen" Tendenzen im Nationalsozialismus<br />

polemisierte, die ihren Terror nicht auf die Arbeiterbewegung<br />

beschränken wollten und den traditionellen Oberklassen nicht den<br />

gehörigen Respekt erwiesen. (Als General Hammerstein von der Ermordung<br />

General Schleichers erfuhr, sagte er: „Also jetzt fangen<br />

sie an, auch Gentlemen zu ermorden"; Hoff mann zitiert diese Äußerung,<br />

aber nicht um sie als typisches Merkmal für die Interessenlage<br />

und Mentalität der militärischen Führungsgruppen zu analysieren,<br />

sondern um sich mit ihr ganz naiv zu identifizieren.) Und just den<br />

Kirchen, die ihre Gläubigen bis zum letzten Augenblick zur treuen<br />

Pflichterfüllung gegenüber dem Dritten Reich aufgefordert haben,<br />

weiß er nachzusagen, sie hätten „als einzige Organisationen so etwas<br />

wie eine Volksbewegung gegen das nationalsozialistische Regime<br />

hervorgebracht" (28).<br />

Die Widerstandstendenzen außerhalb der Bewegung des 20. Juli<br />

werden zwar knapp dargestellt, doch fehlt — hier wie im ganzen<br />

Buch — jeder Bezug zu den Herrschaftsverhältnissen des Dritten<br />

Reiches und den Interessen der Beteiligten. Nach Hoffmann hängt<br />

politisches Handeln lediglich mit individuellen Charaktereigenschaften<br />

zusammen. Ohne Rücksicht auf Motive und Ziele steht in diesem<br />

Kapitel die kommunistische Saefkow-Gruppe neben „dem alten<br />

Kammerherrn Elard v. Oldenburg-Januschau", der zu seinem kranken<br />

Freund Hindenburg vordrang, um ihm von den Untaten der<br />

Nationalsozialisten zu berichten (37). Abgesehen von einigen Fakten<br />

über die politischen Zielvorstellungen der Verschwörer ist dieses<br />

Buch für die <strong>Faschismus</strong>diskussion ebenso bedeutungslos wie das von<br />

Messerschmidt.<br />

IV.<br />

Neben den beiden bisher behandelten Problemkomplexen — der<br />

Struktur der faschistischen Bewegung und der Rolle der traditionellen<br />

Oberklassen im faschistischen Herrschaftssystem — ist das Verhältnis<br />

zwischen <strong>Faschismus</strong> und Krieg von wesentlicher Bedeutung.<br />

Steuerten die faschistischen Staaten Deutschland, Italien und Japan<br />

(über dessen Herrschaftssystem ein endgültiges Urteil noch nicht<br />

möglich ist, das aber vermutlich mindestens als partiell faschistisch<br />

bezeichnet werden muß) kraft innerer Notwendigkeit auf den Krieg<br />

zu? Wie hängen die Ursachen, die Ziele und die Methoden des Kriegés<br />

mit der inneren Struktur der faschistischen Systeme einerseits<br />

und der alliierten Mächte andererseits zusammen? Welches waren<br />

die Ursachen für die wechselnden, zum Teil äußerst merkwürdigen<br />

Bündniskonstellationen? (1938 beim Münchener Abkommen: Westmächte<br />

und faschistische Staaten arrangieren sich auf Kosten der<br />

Tschechoslowakei und unter Ausschluß der UdSSR; 1939: Deutschland<br />

und die UdSSR arrangieren sich auf Kosten Polens unter Ausschluß<br />

der Westmächte; 1941: Das kapitalistische England und die<br />

sozialistische UdSSR verbünden sich gegen die faschistischen Mächte.)


268 Reinhard Kiïhril<br />

Auf solche Fragen darf man wohl eine Antwort erhoffen, wenn man<br />

ein Buch mit dem Titel „Probleme des Zweiten Weltkrieges" zur<br />

Hand nimmt*. Solche Hoffnungen werden aber schnell enttäuscht.<br />

Der jetzt in Freiburg lehrende Zeithistoriker Andreas Hillgruber,<br />

der die Auswahl der Texte besorgte, hat diesen Band von allen sozialwissenschaftlichen<br />

Fragestellungen konsequent freigehalten. Die<br />

Beiträge behandeln überwiegend militärisch-strategische Probleme<br />

und beschreiben allenfalls die Genese wichtiger militärpolitischer<br />

Entscheidungen (z. B. der Kapitulation Japans oder der Formel von<br />

der „bedingungslosen Kapitulation"). Einige zeichnen sich durch<br />

strenge Akribie im Sinne zeitgeschichtlicher Forschung aus (z. B. der<br />

Aufsatz von Hillgruber über das Unternehmen „Barbarossa"), andere<br />

breiten ungeniert ihre antikommunistischen Ressentiments aus und<br />

scheuen sich dabei auch nicht, die Tatsachen so zu verdrehen, daß sie<br />

ins Gesamtbild passen. (Das gilt z.B. für den Aufsatz von John L.<br />

Snell über „Größe und Versagen im Sieg der Alliierten 1944/45",<br />

dessen Geschichtsklitterung eine eigene Analyse erfordern würde.)<br />

Aber nicht das offen bekundete Ressentiment und die Verfälschung<br />

von Fakten sind die Hauptschwächen dieses Buches: Von weit größerer<br />

Bedeutung ist, daß die wichtigsten Probleme ausgeklammert, die<br />

wesentlichen Fragen gar nicht erst gestellt werden. So reduziert Hillgruber<br />

den Krieg Deutschlands gegen die UdSSR auf Hitler und<br />

seine Wahnvorstellungen, ohne nach den Interessen deutscher Konzerne<br />

an den Rohstoffen und Arbeitskräften der eroberten Gebiete<br />

und der Genese dieser Kriegsziele (seit 1914) zu fragen. Hattori zeichnet<br />

minuziös die Vorgänge in den politisch-militärischen Führungsgruppen<br />

Japans kurz vor der Kapitulation auf, ohne daß — in diesem<br />

Beitrag oder in einem anderen — etwas über Machtstruktur, sozialen<br />

Charakter und Kriegszielpolitik des damaligen Japan oder über die<br />

Ursachen des Konflikts zwischen Japan und den USA verlautet. Zum<br />

Thema „Widerstand" hat Hillgruber ausgerechnet einen Text von<br />

Ernst Nolte ausgewählt, als ob es zu diesem Problem keine kompetenteren<br />

Autoren gäbe. So kann dieser Band, unter sozialwissenschaftlichen<br />

Kriterien betrachtet, nur als Vorarbeit, als Tatsachenaufbereitung<br />

zu relativ sekundären Problemen betrachtet werden —<br />

und selbst das gilt nicht für alle Beiträge.<br />

V.<br />

Zum Problem Politik-Wirtschaft im deutschen <strong>Faschismus</strong> hat<br />

Eberhard Czichon zwei neue Publikationen vorgelegt, die sich mit<br />

demselben Thema befassen: hauptsächlich gestützt auf die in der<br />

DDR lagernden Akten der Deutschen Bank, untersucht Czichon die<br />

Rolle, die Hermann Josef Abs in der deutschen Politik während des<br />

• Hillgruber, Andreas (Hrsg.): Probleme des Zweiten Weltkrieges.<br />

Neue Wissenschaftliche Bibliothek 20. Kiepenheuer und<br />

Witsch, Köln-Berlin 1967 (455 S., kart., 26,— DM).


Probleme der Interpretation des deutschen <strong>Faschismus</strong> 269<br />

Dritten Reiches (und nachher) spielte*. Es liegen in der Tat „außergewöhnlich<br />

günstige Umstände" vor (XI), wenn ein <strong>kritische</strong>r Historiker<br />

die Archive einer Großbank ohne jede Einschränkung benutzen<br />

kann. Was Czichon hier zutage gefördert hat, gibt denn auch<br />

mehr Aufschluß über die Machtstruktur des deutschen <strong>Faschismus</strong><br />

als die ganze Flut jener Schriften, die immer aufs neue nach dem<br />

Seelenleben des Führers forschen oder den äußeren Verlauf bestimmter<br />

Ereignisketten bis ins kleinste Detail rekonstruieren.<br />

Czichon kann nachweisen, daß die deutschen Großkonzerne schon<br />

beim ersten Stoß des faschistischen Imperialismus nach. Südosteuropa<br />

1938—1941 einen maßgeblichen Anteil hatten. Damit wurde jene Richtung<br />

zunächst wieder aufgenommen, in die schon der Imperialismus<br />

des Kaiserreichs gezielt hatte. Vorzüglich geplant und zielbewußt<br />

agierend konnten die deutschen Konzerne die wichtigsten Unternehmungen<br />

nicht nur in Österreich und Ungarn, sondern auch in der<br />

Tschechoslowakei, in Jugoslawien und Rumänien, also in Ländern,<br />

die nach 1918 unter den Einfluß des englischen, französischen und<br />

belgischen Kapitals geraten waren, ihren Imperien angliedern. Am<br />

gleichen Tage, an dem Hitler zum ersten Mal in aller Offenheit die<br />

einzelnen Stadien seiner imperialistischen Konzeption vor der militärischen<br />

Führung entwickelte, nämlich am 5. November 1937, beriet<br />

der Kaufmännische Ausschuß der IG Farbenindustrie bereits „das<br />

Verhältnis des Deutschen Reiches zu Österreich und die Interessen<br />

der IG Farben an der chemischen Industrie Südosteuropas" (97). Am<br />

27. Mai 1938, als Österreich gerade annektiert war, befaßte sich der<br />

gleiche Konzern schon mit der Industrie der Tschechoslowakei, wobei<br />

Hans-Christoph Seebohm — später Minister mit der längsten Amtszeit<br />

in der Bundesrepublik — detailliertes Material über den jüdischen<br />

Anteil an der tschechischen Industrie und an tschechischen Banken<br />

vorlegte. Wochen vor dem Münchener Abkommen wurde dann<br />

bereits die „Arisierung" der Unternehmen in den sudetendeutschen<br />

Gebieten und ihre Verteilung an reichsdeutsche Konzerne geplant.<br />

Daß man sich unter diesen Umständen gedrängt fühlte, die Henlein-<br />

Partei finanziell zu unterstützen, ist leicht verständlich. In dieser<br />

imperialistischen Konzeption wurden die Bundesgenossen des Deutschen<br />

Reiches ebenso als Ausbeutungsobjekte betrachtet wie die<br />

militärisch unterworfenen Länder. In den Notizen von Abs heißt es<br />

z. B. über Rumänien, daß es bei der wirtschaftlichen Zusammenarbeit<br />

nicht darauf ankomme, die Entwicklung einer nationalen rumänischen<br />

Wirtschaft zu fördern, sondern die wichtigsten Industrieunternehmen<br />

und Banken in deutsche Abhängigkeit zu bekommen,<br />

* Czichon, Eberhard: Der Bankier und die Macht. Hermann<br />

Josef Abs in der deutschen Politik. Vorwort von George W. F. Hallgarten,<br />

Pahl-Rugenstein-Verlag, Köln 1970 (314 S., kart., 14,— DM).<br />

— alle Zitate hiernach —<br />

Czichon, Eberhard: Hermann Josef Abs. Porträt eines<br />

Kreuzritters des Kapitals. Union Verlag, Berlin (Ost) 1969<br />

(299 S., kart., 7,60 DM).


270 Reinhard Kiïhril<br />

um damit die rumänische Industrie als Ergänzung zur deutschen<br />

Wirtschaft zu formen (103).<br />

In der Frage, nach welchen Zielen die imperialistische Politik ausgerichtet<br />

und mit welchen Methoden das neue Imperium organisiert,<br />

beherrscht und ausgebeutet werden sollte, bildeten sich zwei Gruppen<br />

heraus: Die erste nahm die Mitteleuropa-Konzeption der Alldeutschen<br />

von 1914/15 wieder auf und verlangte die annexionistische<br />

Unterordnung der besiegten Länder im Rahmen einer ,völkischen<br />

Großraumordnung'" (120). Repräsentant dieser Annexionspolitik war<br />

die „Gesellschaft für europäische Wirtschaftsplanung und Großraumwirtschaft",<br />

die eng mit der Schwerindustrie und der SS liiert war.<br />

Die zweite Konzeption, repräsentiert vom Mitteleuropäischen Wirtschaftstag,<br />

lehnte diese Politik direkter machtpolitischer Annexion<br />

ab und befürwortete statt dessen eine Art privatrechtlicher Annexion:<br />

„die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Wirtschaftsgebietes,<br />

in dem die deutsche Hegemonie nicht über den Staatsapparat, sondern<br />

viel wirksamer durch die Beherrschung der Industrie und der<br />

Banken realisiert wurde" (121). Diese zweifellos modernere Konzeption,<br />

die erst nach 1945 voll zum Zuge kam und das Verhältnis der<br />

kapitalistischen Industriestaaten zu den unterentwickelten Ländern<br />

bis heute bestimmt, gewann zunächst die Oberhand, doch ließ der<br />

Kriegsverlauf nicht genügend Zeit, den Konflikt abschließend zu entscheiden.<br />

Interessenkonflikte anderer Art bildeten sich innerhalb der<br />

ökonomischen Machtgruppen in der kriegs- und rüstungswirtschaftlichen<br />

Frage. Aus ihnen entstand 1942 eine Fraktion, die angesichts<br />

der militärischen Kräftekonstellation für einen schnellen Friedensschluß<br />

eintrat, um die eroberten Machtpositionen so weit wie möglich<br />

halten zu können. Czichon betont mit Recht, daß diese Interessenkonflikte<br />

nicht als antifaschistischer Widerstand der Großindustrie<br />

interpretiert werden können, wie Wilhelm Treue das z. B. versucht<br />

hat. Vielmehr handelte es sich um Machtgruppen, die innerhalb des<br />

faschistischen Systems um die Führung rangen. Sowohl die faschistische<br />

Herrschaftsstruktur im Innern wie die imperialistische Politik<br />

nach außen waren als gemeinsame Grundlage akzeptiert.<br />

Die besondere Rolle, die die Deutsche Bank und ihr Vertreter<br />

Hermann Josef Abs im Dritten Reich spielten, braucht hier nicht dargestellt<br />

zu werden. Die Einzelheiten sind bei Czichon nachzulesen.<br />

Immerhin war diese Rolle so beachtlich, daß Abs von den Alliierten<br />

auf die Liste der „ökonomischen Kriegsverbrecher" gesetzt wurde<br />

und die amerikanischen Untersuchungsbehörden im November 1946<br />

feststellten: „Abs war der Spiritus rector der niederträchtigen Deutschen<br />

Bank, die eine ungewöhnliche Konzentration wirtschaftlicher<br />

Macht mit aktiver Teilhaberschaft an der verbrecherischen Politik<br />

des Nazi-Regimes verband. Die Deutsche Bank des Hermann Abs<br />

handelte wie eine Spitzeninstitution der deutschen Regierung und<br />

diente der wirtschaftlichen Durchdringung der Satellitenstaaten..."<br />

(146). In dieser Feststellung der amerikanischen Untersuchungsbehörden<br />

ist zugleich eine bemerkenswert realistische Hypothese zu jenem<br />

Problem enthalten, das für eine <strong>kritische</strong> <strong>Faschismus</strong>theorie zu den


Probleme der Interpretation des deutschen <strong>Faschismus</strong> 271<br />

wichtigsten gehört: zum Verhältnis von Wirtschaft und Politik im<br />

faschistischen Herrschaftssystem. Diese Frage, zu der Czichon in diesem<br />

Buch nicht ausdrücklich Stellung nimmt, zu der er an anderem Ort<br />

aber seine These dargelegt hat 4 , soll im Schlußkapitel noch einmal<br />

erörtert werden, wenn es darum geht, eine <strong>kritische</strong> Bilanz zu ziehen.<br />

<strong>VI</strong>.<br />

Eine umfassende Darstellung des Weltgeschehens von den zwanziger<br />

Jahren bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges bieten die vorzüglich<br />

ausgestatteten Bände 9 und 10 der „Weltgeschichte", die 1962<br />

und 1965 von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR herausgegeben<br />

und 1967/68 in Ostberlin nachgedruckt wurden *. Sie enthalten<br />

damit zugleich ein Gesamtbild über den deutschen <strong>Faschismus</strong> —<br />

wenn auch auf verschiedene Kapitel verteilt. Eine solche Gesamtdarstellung<br />

entwickelt auch das „Lehrbuch der deutschen Geschichte",<br />

das von einem Autorenkollektiv aus der DDR verfaßt wurde *.<br />

Beide Darstellungen weisen die allgemeinen Vorzüge und Schwächen<br />

auf, die von den meisten Publikationen aus der Sowjetunion<br />

und der DDR bekannt sind: Einerseits arbeiten sie mit marxistischen<br />

Ansätzen, begreifen Gesellschaft als ein Ganzes, analysieren die ökonomische<br />

Entwicklung und die soziale Lage der verschiedenen Klassen<br />

und leiten politische Entscheidungen aus gesellschaftlichen Interessen<br />

und Konflikten ab. Andererseits sind die Relikte des Dogmatismus<br />

noch nicht gänzlich überwunden: die Bedeutung der kommunistischen<br />

Parteien wird stellenweise ziemlich überschätzt und ihr<br />

jeweiliger politischer Kurs als der mindestens grundsätzlich richtige<br />

ausgegeben, wobei allenfalls Randphänomene schärfer kritisiert<br />

werden. (Zur Sozialfaschismustheorie, die sich nicht nur als theoretisch<br />

falsch, sondern auch als politisch katastrophal erwiesen hat,<br />

in der Schlußphase der Weimarer Republik das Verhalten der<br />

KPD aber maßgeblich bestimmte, heißt es in der sowjetischen Darstellung<br />

immerhin: „Einige schematische und dogmatische enge<br />

Einschätzungen vermochte die KPD jedoch auch zu dieser Zeit<br />

noch nicht völlig zu korrigieren"; a, Bd. 9, 212). Besonders gravierend<br />

ist, daß „unangenehme" Tatsachen einfach eliminiert, aus<br />

dem Geschichtsbild getilgt werden. Das gilt beispielsweise für das<br />

geheime Zusatzprotokoll des Ribbentrop-Molotow-Vertrages vom<br />

August 1939, das die Aufteilung Polens nach der militärischen Niederwerfung<br />

durch das Deutsche Reich vorsah; so wundert sich der<br />

4 E. Czichon, Der Primat der Industrie im Kartell der nationalsozialistischen<br />

Macht, in: Argument Nr. 47, 1968, H. 3.<br />

* Weltgeschichte Bd. 9 und 10, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften,<br />

Berlin 1967 und 1968 (Originalausgabe Moskau 1962 und 1965,<br />

hrsg. von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR) (810 u. 718 S.,<br />

Ln., je 44,80 M). — zit. a —<br />

* Paterna, Erich, Werner Fischer, Kurt Gossweiler, Gertrud Markus, Kurt<br />

Petzold: Deutschland von 1933 bis 193 9. VEB Deutscher<br />

Verlag der Wissenschaften, Berlin 1969 (410 S., Hin., 9,80 M). —zit. b —


272 Reinhard Kiïhril<br />

Leser, daß die Sowjetunion die östliche Teile Polens besetzen kann,<br />

ohne mit dem deutschen Militär in Konflikt zu geraten. Das gilt zum<br />

Teil auch für den Atombombenabwurf der USA 1945, der Japan sofort<br />

zur Kapitulation zwang (freilich ebenso gegen die Sowjetunion<br />

gerichtet war, um zu demonstrieren, daß fortan die Vereinigten Staaten<br />

in der Lage seien, in der Weltpolitik die Bedingungen zu diktieren)<br />

5 . Das sowjetische Werk ist nämlich bemüht, den unwiderstehlichen<br />

Vormarsch der Roten Armee als entscheidenden Grund für die<br />

japanische Kapitulation darzustellen, läßt den Atombombenabwurf<br />

im Text deshalb unerwähnt und nimmt lediglich in der angehängten<br />

Zeittafel einen entsprechenden Hinweis auf.<br />

Diese Beispiele genügen, um zu zeigen, daß diese Schriften kritisch<br />

gelesen werden müssen. Liest man sie aber in Kenntnis dieser ja keineswegs<br />

neuen, in den letzten Jahren übrigens allmählich sich abschwächenden<br />

Mängel, so vermitteln sie ein ziemlich realistisches<br />

Bild jener Geschichtsperiode und eine Fülle wertvoller Informationen,<br />

die man in den meisten bürgerlichen Darstellungen nicht findet.<br />

Anhand dieser Schriften, in denen alle für den deutschen <strong>Faschismus</strong><br />

wesentlichen Merkmale und Kausalzusammenhänge zur Sprache<br />

kommen, können einige Thesen entwickelt werden, die, zusammengenommen,<br />

das Gerippe einer Theorie über den deutschen <strong>Faschismus</strong><br />

ergeben:<br />

1. Die Ursachen für den Aufschwung der faschistischen Bewegung<br />

und der „Machtergreifung" erblicken sie darin, daß „anfänglich eine<br />

kleine Gruppe von Monopolisten, großen und mittleren Bougeois" die<br />

NSDAP „aufgepäppelt und hochgebracht" und daß „schließlich am<br />

19. November 1932 die deutsche Hochfinanz (Hitler) als ihren Reichskanzler<br />

gefordert" hat (b 13; vgl .auch a, Bd. 9, 210). Diese These muß<br />

m. E. differenziert werden. Was den Aufstieg des <strong>Faschismus</strong> zur<br />

Massenbewegung betrifft, so sind die Ursachen nicht primär in der<br />

Unterstützung des Großkapitals zu suchen. Der in der Tat strukturelle<br />

Zusammenhang zwischen <strong>Faschismus</strong> und Kapitalismus ist hier<br />

weniger unmittelbar — wenngleich nicht weniger evident: Die im<br />

kapitalistischen System begründete Wirtschaftskrise trieb die verängstigten<br />

Massen, vorab die proletarisierten oder von der Proletarisierung<br />

bedrohten Mittelschichten zum <strong>Faschismus</strong>, der ihnen soziale<br />

Sicherheit und nationales Prestige versprach und Objekte bot,<br />

an denen sie ihre Aggressionen gefahrlos entladen konnten. Erst als<br />

sich der <strong>Faschismus</strong> zur Massenbewegung formiert hatte, setzte die<br />

Unterstützung des Großkapitals ein, die sich schließlich zu einem<br />

politischen Bündnis verdichtete. Das hat freilich dann die Propagandamöglichkeiten<br />

des <strong>Faschismus</strong> weiter verstärkt und seinen Aufstieg<br />

beschleunigt. Die vorliegenden Darstellungen dagegen dehnen<br />

die ohnehin problematische „Agententheorie" sogar auf die Aufstiegsphase<br />

des <strong>Faschismus</strong> aus, um die faschistische Bewegung als<br />

ein Instrument zu erweisen, das sich von Anfang an in der Hand der<br />

5 Vgl. G. Alperovitz, Atomare Diplomatie. Hiroshima und Potsdam,<br />

München 1966.


Probleme der Interpretation des deutschen <strong>Faschismus</strong> 273<br />

herrschenden Klasse befand. Für den italienischen <strong>Faschismus</strong> trifft<br />

das in einem erheblichen Maße zu 6 , für den deutschen aber nicht.<br />

Von den Aufstiegsursachen der faschistischen Bewegung sind die<br />

Bedingungen ihrer „Machtergreifung" streng zu unterscheiden. Hier<br />

läßt sich ganz generell die These formulieren: Eine faschistische Bewegung<br />

kann aus eigener Kraft die politische Macht nicht erobern,<br />

mögen ihre Wahlerfolge auch ungewöhnliche Ausmaße annehmen.<br />

(Die NSDAP war aus den Juli wählen 1932 immerhin als stärkste<br />

Partei hervorgegangen!) Conditio sine qua non einer faschistischen<br />

„Machtergreifung" ist die Unterstützung mächtiger Gruppen der<br />

Oberklassen, vor allem ökonomischer Führungsgruppen.<br />

2. Die Frage, welche Ziele die Oberklassen in dieser Konstellation<br />

verfolgen, gewinnt damit entscheidende Bedeutung: „Die faschistische<br />

Diktatur ... erschien der großbürgerlich-junkerlichen Reaktion<br />

... nicht nur als der sicherste Garant gegen die Volksrevolution;<br />

diese Lösung galt ihr zugleich als die zuverlässigste Wegbereitung<br />

jener Politik, mit der die militärische Niederlage des Jahres 1918<br />

korrigiert werden sollte" (b 12). Die Volksrevolution sei in der damaligen<br />

Lage eine durchaus akute Gefahr für die Oberklassen gewesen,<br />

denn in den Novemberwahlen von 1932 habe sich der beginnende<br />

Zerfall der faschistischen Bewegung abgezeichnet — und die vom<br />

<strong>Faschismus</strong> Enttäuschten hätten sich wahrscheinlich den „revolutionären<br />

Kräften", besonders der KP, zugewandt (b 11).<br />

Auch diese These bedarf m. E. einiger Modifizierungen: Daß die<br />

herrschende Klasse die Errichtung einer faschistischen Diktatur auch<br />

deshalb unterstützte, weil sie hier eine Möglichkeit sah, die 1918 gescheiterte<br />

Politik wieder aufzunehmen, ist unzweifelhaft richtig.<br />

Auch die Möglichkeit, daß die vom <strong>Faschismus</strong> enttäuschten Massen<br />

sich in größerem Umfange nach links wandten, konnte nicht ausgeschlossen<br />

werden, obwohl nur wenige Symptome dafür vorliegen,<br />

daß diese Entwicklung wahrscheinlich war oder von der herrschenden<br />

Klasse für wahrscheinlich gehalten wurde. Autoritäre Denk- und<br />

Verhaltensformen waren gerade bei den deutschen Mittelschichten<br />

allzu tief verwurzelt. Mir scheint, daß das kapitalistische System<br />

1932/33 weniger direkt — durch die Möglichkeit einer Volksrevolution<br />

— in seinem Bestand bedroht war als vielmehr indirekt; weniger<br />

wegen eines mächtigen Feindes in Gestalt einer revolutionären Bewegung<br />

als wegen seiner inneren Widersprüche: Der bürgerliche<br />

Parlamentarismus hatte sich als unfähig erwiesen, den kapitalistischen<br />

Reproduktionsprozeß aufrechtzuerhalten und die Profite zu<br />

sichern. Auch die Mittel der autoritären Präsidialdiktatur — Ausschaltung<br />

des Parlaments aus dem politischen Entscheidungsprozeß<br />

und Verselbständigung der Exekutive 7 — offenbarten 1930—1932 ihre<br />

6 Dazu A. Tasca, Glauben, Gehorchen, Kämpfen, Aufstieg des <strong>Faschismus</strong>,<br />

Wien-Frankfurt-Zürich 1969.<br />

7 Die faschistische Diktatur sollte begrifflich sowohl von der autoritären<br />

wie auch von der herkömmlichen Militärdiktatur deutlich unterschieden<br />

werden. Dazu R. Kühnl, <strong>Faschismus</strong> — Versuch einer Begriffsbestim-


274 Reinhard Kiïhril<br />

Unzulänglichkeit. Der Kapitalismus benötigte eine politische Gewalt,<br />

die, durch keinerlei Rücksicht auf Verfassungsnormen, oppositionelle<br />

Parteien und Gewerkschaften gehemmt, die Konjunktur wieder in<br />

Gang setzte — und zwar durch Staats-, vornehmlich Rüstungsaufträge.<br />

Nur so konnte die soziale Herrschaftsposition der Oberklassen<br />

wieder gefestigt werden. Es kam also nicht nur darauf an, die KPD<br />

als Hauptfaktor einer potentiellen Volksrevolution auszuschalten,<br />

wobei ohnehin Zweifel anzumelden sind, ob die KPD überhaupt ein<br />

solcher Faktor war. In dieser Lage bedeutete bereits die Existenz der<br />

reformistischen Arbeiterbewegung eine Gefährdung des kapitalistischen<br />

Systems, denn Gewerkschaften und Sozialdemokratie konnten<br />

trotz äußerster Anstrengung, sich den Forderungen der Unternehmer<br />

anzupassen und die Lasten der Krise den Lohnabhängigen aufzubürden,<br />

eine bestimmte Grenze der Konzessionsbereitschaft nicht überschreiten,<br />

ohne ihre Massenbasis einzubüßen und sich selbst aufzugeben.<br />

Daran war bereits das letzte halbwegs parlamentarisch legitimierte<br />

Kabinett Hermann Müller 1930 gescheitert. Die „Bedrohung<br />

des Systems" lag also weniger in einer bevorstehenden „Volksrevolution"<br />

begründet als in der Tatsache, daß der Kapitalismus auf dem<br />

herkömmlichen Wege der Selbststeuerung und mit den Mitteln der<br />

parlamentarischen Demokratie seine tiefe Krise nicht überwinden<br />

konnte. Dieser Faktor hat freilich nur in Zusammenhang mit dem<br />

Wunsch der deutschen Oberklassen nach Wiederaufnahme der 1918<br />

gescheiterten Machtpolitik einerseits und mit der Existenz einer starken<br />

kommunistischen Partei, die zwar keine akute Bedrohung darstellte,<br />

sich aber potentiell zu einem revolutionären Faktor hätte entwickeln<br />

können, andererseits zum <strong>Faschismus</strong> geführt. In England<br />

und den USA reichte eine partielle „Formierung" aus, um das kapitalistische<br />

System in der Krise zu bewahren, weil die beiden anderen<br />

Faktoren fehlten.<br />

Will man die Perspektive der herrschenden Klasse auf vereinfachte<br />

Formeln bringen, so könnte man sagen: Die faschistische Bewegung<br />

wird unterstützt, sobald sich erweist, daß die herkömmlichen bürgerlich-demokratischen<br />

Parteien ihre Massenbasis an die faschistische<br />

Partei verlieren, d. h. sobald diese Partei ein politischer Machtfaktor<br />

geworden ist. Sie wird unterstützt, weil die herrschende Klasse für<br />

ihre Politik eine Massenbasis braucht, weil die faschistische Partei<br />

für die grundsätzlichen Ziele der herrschenden Klasse in der Innenwie<br />

in der Außenpolitik zu gewinnen ist, weil diese Partei die Unzufriedenheit<br />

der Massen artikuliert, absorbiert und zugleich in eine<br />

Richtung lenkt, die für das soziale Herrschaftssystem nicht nur ungefährlich,<br />

sondern äußerst nützlich ist: weil sie sich nämlich als<br />

Terrorinstrument gegen die Linke einsetzen läßt.<br />

3. Mit der Bestimmung der Motive der ökonomischen Führungsgruppen<br />

bei der Unterstützung der faschistischen Bewegung ist noch<br />

nichts über das Verhältnis von ökonomischer Herrschaft und politimung,<br />

in: ders., Deutschland zwischen Demokratie und <strong>Faschismus</strong>, Reihe<br />

Hanser 14, 2. Aufl., München 1969, S. 143 ff.


Probleme der Interpretation des deutschen <strong>Faschismus</strong> 275<br />

scher Macht im faschistischen System ausgesagt. Entsprechend der<br />

„Agententheorie", die 1935 auf dem <strong>VI</strong>I. Plenum der Komintern verkündet<br />

wurde und noch heute die <strong>Faschismus</strong>diskussion in den kommunistischen<br />

Parteien der sozialistischen Staaten weitgehend bestimmt,<br />

definieren die DDR-Autoren das faschistische System als<br />

„absolute Herrschaft des Monopolkapitals", die „ihren Ausdruck im<br />

Monopol einer Partei" fand (b 89 f., im Anschluß an eine Formulierung<br />

von Walter Ulbricht) und als „terroristische Diktatur" der „aggressiven<br />

Kreise der deutschen Monopolbourgeoisie" (b 106).<br />

Es scheint jedoch, als seien diese Definitionen hauptsächlich als<br />

Verbeugung vor der offiziell noch nicht korrigierten Formel der<br />

Komintern aufzufassen, die schließlich (349) nahezu wörtlich wiederholt<br />

wird. Das „Lehrbuch" aus der DDR wie auch die „Weltgeschichte"<br />

aus der Sowjetunion sind differenziert genug, den „Pluralismus"<br />

im Herrschaftsgefüge des Dritten Reiches, insbesondere das Eigengewicht<br />

der auf die faschistische Bewegung gestützten staatlichen<br />

Exekutive gegenüber den ökonomischen Führungsgruppen zu erkennen:<br />

Die „Auseinandersetzungen innerhalb der Führungsspitze der<br />

faschistischen Diktatur" wurden „unter Ausschluß der Öffentlichkeit<br />

in der Form eines Dschungelkrieges in den exklusiven Zirkeln des<br />

Monopolkapitals, der Reichswehrführung, den Spitzengremien der<br />

Nazipartei und ihrer Gliederungen und in der Regierung" ausgetragen<br />

(b 110 f.). „Diese Auseinandersetzungen um taktische Varianten<br />

zur Erreichung des gemeinsamen Zieles wurden dadurch verschärft,<br />

daß sie mit Rivalitäts- und Cliquenkämpfen innerhalb der Naziführung<br />

unentwirrbar verknüpft waren" (b 115).<br />

Beide Darstellungen halten jedoch trotz aller inneren Konflikte<br />

mit Recht daran fest, daß es „allein die Monopolherren, und zwar vor<br />

allem die mächtigsten" waren, „die ihre Herrschaft in Industrie und<br />

Handel in bis dahin einzigartiger Weise festigen konnten" (a, Bd. 9,<br />

335), daß das Monopolkapital danach als „Hauptnutznießer" des <strong>Faschismus</strong><br />

bezeichnet werden muß (174). Schon August Thalheimer<br />

hatte in seiner <strong>Faschismus</strong>theorie 8 soziale Herrschaft und politische<br />

Machtausübung unterschieden und den <strong>Faschismus</strong> als ein System<br />

definiert, in dem die Oberklassen die politische Macht an die faschistische<br />

Partei abtreten, um ihre soziale Herrschaft erhalten und ausbauen<br />

zu können. Nun haben zwar neuere Untersuchungen gezeigt,<br />

daß diese rigorose Trennung nicht aufrechtzuerhalten ist, daß die<br />

Führungsgruppen aus Wirtschaft, Militär und Bürokratie auch am<br />

politischen Entscheidungsprozeß maßgeblich beteiligt waren, aber ein<br />

Element von Wahrheit enthält sie dennoch: Im Bereich politischer<br />

Entscheidungen verfügte die Führung der faschistischen Partei über<br />

8 Vgl. O. Bauer u. a., <strong>Faschismus</strong> und Kapitalismus. <strong>Theorien</strong> über die<br />

sozialen Ursprünge und die Funktion des <strong>Faschismus</strong>, hersg. von W.<br />

Abendroth, Frankfurt 1967, S. 19 ff.;<br />

R. Griepenburg und K. H. Tjaden, <strong>Faschismus</strong> und Bonapartismus. Zur<br />

Kritik der <strong>Faschismus</strong>theorie August Thalheimers, in: Das Argument Nr.<br />

41, 1966, H. 6, S. 461 ff.


276 Reinhard Kiïhril<br />

ein beträchtliches Gewicht. Im Falle von Konflikten zwischen verschiedenen<br />

Konzerngruppen oder verschiedenen taktischen Konzeptionen<br />

fungierte sie als letzte Entscheidungsinstanz. Die ökonomischen<br />

Machtgruppen waren darauf angewiesen, um einflußreiche Positionen<br />

im Vorfeld (in den Beratungsgremien usw.) zu kämpfen und<br />

die politische Führung für ihre Ziele zu gewinnen. Dagegen besteht<br />

kein Zweifel daran, daß sich alle politischen Entscheidungen des faschistischen<br />

Staates im Rahmen der grundsätzlichen Interessen und<br />

Ziele hielten, über die sich die verschiedenen Fraktionen der herrschenden<br />

Klasse untereinander (und mit der faschistischen Exekutive)<br />

einig waren. Im Bereich sozialer Herrschaft konnten die Oberklassen<br />

ihre Wünsche und Interessen so gut wie vollständig verwirklichen<br />

— abgesehen von einigen sozialen Bonbons, die zur langfristigen<br />

Sicherung des Gesamtsystems opportun erschienen. Weder die<br />

Bauern noch der „Mittelstand", die von der faschistischen Ideologie<br />

beide zum Rückgrat der Nation ernannt und von der Propaganda<br />

ständig umschmeichelt wurden, konnten auch nur ihre elementarsten<br />

Interessen wahren 9 . Und was die Lohnabhängigen betrifft, so wurden<br />

sie auf gesetzlichem Wege aller Rechte beraubt und in Befehlsempfänger<br />

der Unternehmer, der Tendenz nach schließlich in „dienstverpflichtete<br />

Zwangsarbeiter" verwandelt (98).<br />

Bei der Frage nach dem Verhältnis zwischen <strong>Faschismus</strong> und Kapitalismus<br />

darf der außenpolitische Aspekt nicht übersehen werden.<br />

Hier weist die sowjetische Darstellung darauf hin, daß die herrschenden<br />

Kreise in den westlichen Ländern mit einer beträchtlichen Sympathie<br />

auf das faschistische Deutschland blickten, das den Klassenkampf<br />

in so wirksamer Form „überwunden" hatte und sich überdies<br />

anschickte, den Bolschewismus auch im internationalen Kräftefeld zu<br />

vernichten. Diese auf gemeinsamer Interessenlage beruhende Sympathie<br />

bewirkte nicht nur eine großzügige Haltung der westlichen<br />

Regierungen gegenüber dem deutschen <strong>Faschismus</strong> (z. B. beim<br />

deutsch-englischen Flottenvertrag, bei der Tolerierung der vertragswidrigen<br />

Aufrüstung und der verschiedenen Annexionen vor 1939),<br />

sondern auch wirtschaftliche Hilfeleistungen etwa durch amerikanische<br />

Konzerne. Aber: „Die Versuche der Westmächte, das faschistische<br />

Deutschland zu ,befrieden', um es als Waffe gegen die Sowjetunion<br />

zu verwenden, änderten ... nichts an den tiefen imperialistischen<br />

Widersprüchen zwischen ihnen und den faschistischen Staaten.<br />

Deutschland griff unaufhörlich nicht nur die wirtschaftlichen, sondern<br />

auch die politischen Positionen Großbritanniens, Frankreichs<br />

und der USA an" (a, Bd. 9, 342). Am Beispiel der südosteuropäischen<br />

Staaten, der Türkei, des arabischen Raumes und Lateinamerikas<br />

führt das Buch vor, was diese Konkurrenzsituation konkret bedeutete.<br />

Nur deshalb konnte die Strategie der Sowjetunion Erfolg haben,<br />

9 Das geht auch aus der Untersuchung von D. Schoenbaum, Die braune<br />

Revolution. Eine Sozialgeschichte des Dritten Reiches, Köln-Berlin 1968,<br />

hervor, die in der Interpretation allerdings Mängel aufweist (dazu R.<br />

Kühnl, Der deutsche <strong>Faschismus</strong>, in: Neue Politische Literatur 1970, H. 1).


Probleme der Interpretation des deutschen <strong>Faschismus</strong> 277<br />

zu der sie sich entschloß, als ihre Konzeption einer antifaschistischen<br />

Allianz mit den Westmächten mit dem Münchener Abkommen 1938<br />

offensichtlich gescheitert war: gegen ihren Willen wurden die Westmächte<br />

schließlich doch gezwungen, in den Krieg einzutreten.<br />

4. Zwischen der kleinbürgerlichen Anhängerschaft faschistischer<br />

Bewegungen, die nicht nur von antikommunistischen und antigewerkschaftlichen<br />

Tendenzen, sondern auch von antikapitalistischen Stimmungen<br />

geprägt ist, und der nach der „Machtergreifung" ganz offen<br />

hervortretenden sozialen Funktion des faschistischen Herrschaftssystems,<br />

die in der Sicherung und Festigung der Herrschaftsposition<br />

der sozialen Oberklassen besteht, mußte es zu Konflikten kommen.<br />

Nicht zuletzt diese plebejisch-antikapitalistischen Tendenzen, die dem<br />

<strong>Faschismus</strong> ein Moment der Unberechenbarkeit auch für seine Bündnispartner<br />

verleihen, sind ein Grund dafür, weshalb die herrschende<br />

Klasse nur ungern und nur unter dem Zwang der Verhältnisse ein<br />

Bündnis mit der faschistischen Bewegung schließt. Der Schrecken vor<br />

diesen „radikalen" Elementen des <strong>Faschismus</strong>, wie sie sich beispielsweise<br />

in der SA und im Ruf nach der „zweiten Revolution" artikulierten,<br />

zittert in der bürgerlichen Geschichtsschreibung heute noch<br />

nach.<br />

Für diesen Konflikt, der sich aus den Widersprüchen zwischen sozialer<br />

Basis und sozialer Funktion des <strong>Faschismus</strong> ergab und 1934 —<br />

nachdem der gemeinsame Feind auf der Linken vernichtet war — das<br />

faschistische System zu sprengen drohte, bieten die Darstellungen<br />

aus der DDR und der Sowjetunion Erklärungen an, die sich in einem<br />

Punkte unterscheiden: Einigkeit besteht darüber, daß „die weitere<br />

Konsolidierung dieser Diktatur ... die Abrechnung mit den antimonopolistischen<br />

Bestrebungen ihrer eigenen kleinbürgerlichen Gefolgschaft"<br />

verlangte (b 106). Während aber die DDR-Autoren die SA<br />

als organisatorisches Zentrum und als Organ dieser Bestrebungen<br />

begreifen, unterscheidet die sowjetische Darstellung zwischen den<br />

Mitgliedern und der Führung der SA: Die Mitglieder seien von der<br />

„tiefgreifenden Unzufriedenheit" der Mittelschichten erfaßt worden.<br />

Die Führung dagegen, „die keine politischen Meinungsverschiedenheiten<br />

mit Hitler hatte, suchte ... die Gährung unter den Mitgliedern<br />

für ihre eigenen karrieristischen Ziele auszunutzen", die Führung<br />

der Reichswehr an sich zu reißen und die SA zum Grundstock eines<br />

Milizheeres zu machen (a, Bd. 9, 335). Für beide Interpretationen gibt<br />

es empirische Belege. Überdies sind sie sich über das Hauptproblem<br />

einig. Ihre Differenzen betreffen nur eine Randfrage.<br />

5. Um die Funktion von Rüstungswirtschaft und Krieg für das<br />

faschistische Herrschaftssystem zu bestimmen, müssen mindestens<br />

vier Aspekte berücksichtigt werden: Die ökonomischen Machtgruppen<br />

„erzielten maximale Profite bei der Aufrüstung; und sie erwarteten<br />

maximale Profite von den Expansionen und Aggressionen, denen<br />

diese Aufrüstung galt" (b 174). Neben diesen beiden Gründen ist aber<br />

darauf hinzuweisen, daß die Aufrüstung das einzige wirksame Mittel<br />

zur Überwindung der großen Krise und insofern die Lebensgrundlage<br />

des Gesamtsystems war. (Selbst in den USA konnte die Massen-


278 Reinhard Kiïhril<br />

arbeitslosigkeit erst nach 1939/40 mit dem Aufschwung der Rüstungsproduktion<br />

überwunden werden — dort unter Aufrechterhaltung<br />

bürgerlich-parlamentarischer Formen —, nicht etwa mit dem sozialstaatlich<br />

orientierten New Deal Roosevelts.) Aus der hemmungslosen<br />

Aufrüstung ging schließlich mit einer ziemlichen Zwangsläufigkeit<br />

der — freilich ohnehin gewünschte und geplante — Krieg hervor: die<br />

wirtschaftliche und finanzielle Lage des Dritten Reiches war 1938/39<br />

so bedrohlich geworden, daß ihm kaum ein anderer Ausweg blieb<br />

(vgl. b 253 ff.).<br />

Von beachtlicher Bedeutung ist schließlich viertens der sozialpsychologische<br />

Aspekt: Die Freund-Feind-Ideologie des <strong>Faschismus</strong>,<br />

die die terroristische Niederwerfung der Linken und die antisemitischen<br />

Ausschreitungen legitimierte, die Rüstungspolitik begleitete<br />

und dann im Krieg kulminierte, fungierte zugleich als Kompensation<br />

für die vorenthaltene Emanzipation und als ideologische Basis einer<br />

„nationalen Solidarität", die sich von selbst aus der Klassengesellschaft<br />

nicht entwickelt hätte, aber durch Terror allein auch nicht zu<br />

erzielen gewesen wäre: Indem die slawischen Völker als Untermenschen<br />

dargestellt wurden, die zum Sklavendienst für das deutsche<br />

Herrenvolk geschaffen waren, konnte erstens auch der gewöhnlichste<br />

deutsche Kleinbürger das erhebende Gefühl erhalten, zu den Auserwählten<br />

zu zählen, und zweitens auch der gänzlich Besitz- und Bedeutungslose<br />

die — übrigens nicht ganz unbegründete — Hoffnung<br />

nähren, die Unterwerfung der slawischen Gebiete werde ihm sozialen<br />

Aufstieg ermöglichen. Und indem das Deutsche Reich als von Feinden<br />

und Neidern umgeben dargestellt wurde, konnten „nationale Solidarität"<br />

und treuer Gehorsam gegenüber den Herrschenden als höchste<br />

Tugend erscheinen. Dieser sozialpsychologische Aspekt kommt in den<br />

Darstellungen aus der Sowjetunion und der DDR entschieden zu<br />

kurz. In diesen Ländern sind in die Marxsche Theorie Elemente der<br />

Psychologie Freuds und seiner Nachfolger bislang kaum eingegangen.<br />

<strong>VI</strong>I.<br />

An dieser Stelle kann die Frage, ob diese Thesen auch auf die übrigen<br />

Faschismen der damaligen Periode zutreffen, nicht geprüft werden.<br />

Ebensowenig die andere nach dem Nutzen solcher historischen<br />

Analysen für das Verständnis der Herrschaftssysteme und ihrer Entwicklungsperspektiven<br />

in den kapitalistischen Ländern der Gegenwart<br />

10 . Aus aktuellem Anlaß sei aber betont, daß sich eine marxistische<br />

<strong>Faschismus</strong>theorie nicht damit begnügen darf, die soziale Funktion<br />

des <strong>Faschismus</strong> festzustellen. In dieser Hinsicht unterscheidet<br />

sich nämlich der <strong>Faschismus</strong> in keiner Weise von anderen Formen<br />

bürgerlicher Herrschaft: Die Aufrechterhaltung des kapitalistischen<br />

Systems ist die zentrale Aufgabe nicht nur des faschistischen, sondern<br />

auch des bürgerlich demokratischen Staates. Das Spezifikum faschi-<br />

10 Über dieses Problem, bis zu welchem Grade der <strong>Faschismus</strong>begriff<br />

sinnvollerweise generalisiert werden kann, liegen noch kaum systematische<br />

Untersuchungen vor.


Probleme der Interpretation des deutschen <strong>Faschismus</strong> 279<br />

stischer Herrschaft liegt also nicht in ihrer sozialen Funktion, die sie<br />

mit parlamentarisch-parteienstaatlichen Systemen gemeinsam hat,<br />

sondern in den besonderen Formen der Herrschaftssicherung, die<br />

freilich hier nicht ausführlich dargestellt werden konnten. Als ein<br />

voll entwickeltes faschistisches Herrschaftssystem sollte ein System<br />

nur dann bezeichnet werden, wenn es die folgenden Merkmale aufweist<br />

(die freilich nur mit einigen Stichworten aufgezählt werden<br />

können) :<br />

Auf dem Sektor der Staatsorganisation: die faschistische Bewegung,<br />

aus der sich nach der „Machtergreifung" ein umfassendes System<br />

von staatlich kontrollierten Massenorganisationen entwickelt;<br />

die Zusammenfassung von Lohnabhängigen und Unternehmern in<br />

den gleichen, hierarchisch aufgebauten und staatlich gesteuerten Organisationen;<br />

staatliche Lenkungsmaßnahmen in der Wirtschaft;<br />

staatliches Propaganda- und Informationsmonopol und terroristische<br />

Unterdrückung aller oppositionellen Regungen. Auf dem ideologischen<br />

Sektor: Führerprinzip, Volksgemeinschaftsideologie und<br />

Freund-Feind-Schema.<br />

Daß dabei Abgrenzungsprobleme auftreten, ist selbstverständlich.<br />

Welches Maß staatlicher Terror erreichen und welche Merkmale eine<br />

politische Partei aufweisen muß, um als faschistisch gelten zu können,<br />

kann im Einzelfall umstritten sein. Zu warnen ist aber vor einer<br />

uferlosen Ausweitung des <strong>Faschismus</strong>begriffs. Statt den <strong>Faschismus</strong><br />

als eine besondere Herrschaftsform der bürgerlichen Gesellschaft zu<br />

definieren, erscheinen <strong>Faschismus</strong> und bürgerliche Gesellschaft bei<br />

manchen linken Autoren als Synonyme. Welchen Erkenntniswert der<br />

<strong>Faschismus</strong>begriff dann noch haben soll, ist allerdings nicht zu sehen.<br />

Und daß ein <strong>Faschismus</strong>begriff, der zwischen dem Dritten Reich und<br />

der Bundesrepublik keinen Unterschied mehr macht, auch keine<br />

realistische politische Strategie hervorbringen kann, scheint mir<br />

gleichfalls evident. Es gibt durchaus Argumente für die These, daß<br />

<strong>Faschismus</strong> im hier entwickelten Sinne anachronistisch sei, weil dem<br />

organisierten Kapitalismus in den hochentwickelten Ländern der Gegenwart<br />

genügend Herrschaftsmittel anderer Art zur Verfügung<br />

stünden. Ich halte diese Argumente — obwohl sie zweifellos ein Element<br />

von Wahrheit enthalten — für unzureichend 11 . Aber selbst<br />

wenn sie überzeugend wären, so ergäbe sich daraus keineswegs die<br />

Folgerung, daß der <strong>Faschismus</strong>begriff ausgeweitet werden muß, damit<br />

er auch die neuen Herrschaftsformen noch deckt. Man mag darüber<br />

streiten, bis zu welchem Grade der <strong>Faschismus</strong>begriff verallgemeinert<br />

werden soll. Ein Minimum an spezifischen Merkmalen, die<br />

ihn als eine besondere Herrschaftsform kennzeichnen und von anderen<br />

Formen bürgerlicher Herrschaft unterscheidbar machen, muß<br />

ihm aber belassen werden, sonst wird er als wissenschaftlicher Begriff<br />

unbrauchbar und als Basis einer politischen Strategie verhängnisvoll.<br />

11 Vgl. zu dieser Kontroverse R. Kühnl u. a., Die NPD — Struktur,<br />

Ideologie und Funktion einer neufaschistischen Partei, Frankfurt 1969,<br />

S. 342 ff.


280<br />

Reinhard Opitz<br />

Fragen der <strong>Faschismus</strong>diskussion<br />

Zu Reinhard Kühnls Bestimmung des <strong>Faschismus</strong>begriffs<br />

Zum Prozeß der Rückbesinnung auf die Ansätze linker <strong>Faschismus</strong>kritik<br />

in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren, ihrer Weiterführung<br />

auf Grund des inzwischen vorliegenden immensen empirischen<br />

Materials und damit zugleich der Erledigung eines großen Teils<br />

der in den letzten Jahrzehnten in der Bundesrepublik dominierenden<br />

apologetischen, Monopolkapital und bürgerlich-imperialistische Gesellschaft<br />

aus der Ursachenerwägung ausklammernden <strong>Faschismus</strong>deutungen<br />

haben Kühnls Arbeiten über Teilaspekte des Nationalsozialismus,<br />

über die NPD und über hervorstechende restaurative<br />

Entwicklungszüge der bundesdeutschen Gesellschaft in jüngster Zeit<br />

ganz erheblich, vielleicht sogar, verglichen mit allen sonstigen parallelgehenden<br />

Bemühungen, am nachhaltigsten beigetragen. Der besondere<br />

Vorzug aller Kühnischen Untersuchungen liegt darin, daß in<br />

ihnen stets eine Fülle von Material aufs gewissenhafteste ausgebreitet<br />

und eher mit zu großer Vorsicht verarbeitet ist, so daß diejenigen,<br />

denen die empirische Forschung zum Daueralibi geworden ist, von<br />

dem aus sie jede sozial<strong>kritische</strong> Schlußfolgerung unter Ideologieverdacht<br />

stellen, es schwer haben, gegen Kühnl anzukommen, daß<br />

aber eben alle mit Akribie zusammengetragenen Einzelbeobachtungen<br />

auch stets der Frage nach ihrem sozialen Inhalt ausgesetzt werden,<br />

wodurch sich Kühnl von vornherein der Gefahr enthebt, in die<br />

Denkgeleise des Totalitarismusschemas zu verfallen oder einer der<br />

sonstigen einschlägigen Versuchungen landläufiger bürgerlicher <strong>Faschismus</strong>kritik,<br />

also etwa der Personalisierung und Dämonisierung,<br />

der Psychologisierung, Ökonomisierung oder Konstruktion bloßer<br />

ideengeschichtlicher Ahnenreihen, zu erliegen. Längst gehören deshalb<br />

Kühnls Bücher und Aufsätze zu jenem Grundbestand an neuerer<br />

<strong>Faschismus</strong>literatur der Bundesrepublik, auf den man jeden, den die<br />

<strong>Faschismus</strong>frage zu beschäftigen beginnt, zu allererst verweisen<br />

sollte, wobei sich Kühnls Arbeiten des weiteren noch dadurch auszeichnen,<br />

daß sie den Leser nie in die Gefahr bringen, die monopolkapitalistische<br />

Gesellschaft als den unstrittigen Nährboden des <strong>Faschismus</strong><br />

mit diesem gleichzusetzen und sich so den Zugang zur<br />

Dialektik der bürgerlichen Demokratie — deren Widersprüche in der<br />

Phase des monopolisierten und mit dem Staat verflochtenen Kapitalismus<br />

nicht aufgehoben, sondern verstärkt wirksam sind — selbst<br />

zu verstellen.<br />

Seit langem war zu sehen, daß ein Autor, den die Frage nach den<br />

sozialen Interessen und die Aufgeschlossenheit gegenüber den Quellen<br />

dazu geführt hatten, die bürgerlichen <strong>Faschismus</strong>theorien und<br />

den Positivismus als Ideologien zu durchschauen, sich eines Tages an,


Fragen der <strong>Faschismus</strong>diskussion 281<br />

einer eigenen <strong>Faschismus</strong>konzeption würde versuchen müssen. Den<br />

ersten wesentlichen Schritt hierzu machte Kühnl in seinem Aufsatz<br />

„<strong>Faschismus</strong> — Versuch einer Begriffsbestimmung", der im Dezember<br />

1968 in den „Blättern für deutsche und internationale Politik" erschien,<br />

und dieser Text bildet — versehen mit einer neuen, sehr<br />

instruktiven Einleitung und um ein weiteres Kapitel ergänzt — auch<br />

den Schluß teil seines 1969 bei Hanser erschienenen letzten Buches<br />

„Deutschland zwischen Demokratie und <strong>Faschismus</strong>" *. Vorangestellt<br />

sind diesem abschließenden Definitionsversuch eine kurze Erörterung<br />

der Begriffe „rechts" und „links", ein erster Teil, der sich mit<br />

dem Problem von Demokratie und <strong>Faschismus</strong> in der Weimarer Republik<br />

— und in den letzten Kapiteln speziell mit der NSDAP — beschäftigt,<br />

ein knapper zweiter Teil, der das „radikal-demokratische Zwischenspiel"<br />

der Jahre nach 1945 behandelt, und ein dritter Teil, der<br />

dem Problem von Demokratie und <strong>Faschismus</strong> in der Bundesrepublik<br />

— und in den letzten Kapiteln wiederum speziell der NPD und der<br />

Frage nach den Möglichkeiten der Abwehr des Neofaschismus — gilt.<br />

Im ganzen stellt dieser Band somit eine Art übersichtlicher Zusammenfassung<br />

aller früheren Kühnischen Arbeiten dar, zumindest ist<br />

deren theoretischer Extrakt, so wie er sich heute Kühnl selbst darstellt,<br />

in ihn eingeflossen, so daß nicht nur derjenige, der sich über<br />

Kühnls Positionen rasch informieren will, hier die thematisch umfassendste<br />

und zugleich gedrängteste Übersicht findet, sondern mit<br />

der Vorlage einer so komprimierten Gesamtdarstellung, die Kühnl<br />

selber in einer Nachbemerkung als „in sich geschlossene Gesamtanalyse"<br />

apostrophiert, wohl auch der Zeitpunkt gekommen ist, an<br />

dem eine erste vorläufige Bilanz zu ziehen und dabei vor allem in<br />

Blick darauf, daß Kühnls Arbeiten weitgehend als repräsentativ angesehen<br />

werden können für den allgemeinen Stand der <strong>Faschismus</strong>diskussion<br />

der nichtantiautoritären Linken, auch die Frage nach dem<br />

noch Unzulänglichen oder besser nach denjenigen offenen Problemen<br />

zu stellen wäre, die sich gerade auf Grund der Kühnischen Antworten<br />

nun in den Vordergrund schieben.<br />

Das größte Verdienst der in vier Punkten zusammengefaßten <strong>Faschismus</strong>definition<br />

Kühnls dürfte darin bestehen, daß sie zwischen<br />

derfi sozialen Charakter des zur Macht gekommenen <strong>Faschismus</strong> und<br />

demjenigen der aus verschiedensten Strömungen bestehenden und<br />

insgesamt erst noch um ihre Machtergreifung kämpfenden faschistischen<br />

Bewegungen deutlich unterscheidet. Die faschistische Partei,<br />

heißt es in Punkt 3 der Kühnischen Definition, „rekrutiert sich vor<br />

der Eroberung der politischen Macht vor allem aus Sozialgruppen mit<br />

mittelständischer Mentalität" (150). Für den zur Macht gekommenen<br />

<strong>Faschismus</strong> und das faschistische Herrschaftssystem heißt es dagegen<br />

in Ziffer 1: „Seine soziale Funktion besteht darin, kapitalistische<br />

Eigentumsverhältnisse und die damit verbundenen sozialen Privile-<br />

* Kühnl, Reinhard: Deutschland zwischen Demokratie und <strong>Faschismus</strong>.<br />

Zur Problematik der bürgerlichen Gesellschaft seit 1918. C. Hanser Verlag,<br />

München 1969 (186 S., kart., 7,80 DM).


282 Reinhard Opitz<br />

gien der Oberklassen auch dann aufrechtzuerhalten, wenn dieses<br />

System in eine Krise geraten ist und die Massen sich dagegen wenden<br />

oder zu wenden drohen" (148). Mit der Hineinnahme dieses scheinbaren<br />

Widerspruchs in eine Definition, deren unausgesprochener<br />

Angelpunkt die Behauptung eines Funktionswandels oder einer sozialen<br />

Konversion des <strong>Faschismus</strong> in der Phase seines Überganges<br />

zur Macht ist, hat sich Kühnl wahrscheinlich am meisten der Entschleierung<br />

des rätselhaften gesellschaftlichen Gesetzes genähert,<br />

dem der von der Linken so oft als irritierend empfundene Umstand<br />

zu verdanken ist, daß sich der <strong>Faschismus</strong>, wo immer er zur Macht<br />

gelangt, eindeutig als terroristischer Vollstrecker der sozialen Interessen<br />

des Monopolkapitals identifizieren läßt, gleichwohl aber bis zur<br />

Machtübernahme ein nicht abzuleugnendes Rivalitätsverhältnis zwischen<br />

der faschistischen Partei und den monopolkapitalistisch orientierten<br />

bürgerlichen Parteien besteht, auch die Sympathien der führenden<br />

Wirtschaftskreise für die faschistische Bewegung zumindest<br />

in deren Frühphase keineswegs so klar zutage liegen und zu belegen<br />

sind wie umgekehrt deren Bemühen, eine der mittelständischen Mentalität<br />

entsprechende, gleichzeitig gegen Sozialismus und Großkapital<br />

gerichtete Position zu propagieren, und daß überdies der Augenblick<br />

der offenen Konversion auf die Seite des Großkapitals stets in die<br />

Phase der größten innenpolitischen Ohnmacht des Großkapitals fällt<br />

— wenn es nämlich selbst über keine Massenbasis mehr verfügt —,<br />

die faschistischen Parteien (nämlich alle) also gerade in dem Augenblick<br />

(und zwar regelmäßig) ihr mittelständisch akzentuiertes Protestprogramm<br />

fallenlassen, in dem seiner Verwirklichung, von den<br />

Machtvoraussetzungen her, kein ersichtliches Hindernis mehr im<br />

Wege steht. Für diesen Umschlagsvorgang, der der wichtigste Punkt<br />

der gesamten gegenwärtigen <strong>Faschismus</strong>debatte sein dürfte, liefert<br />

Kühnl nun allerdings keine befriedigende Erklärung. Aus dem Tatsachenhinweis,<br />

daß bislang jeder faschistischen Machtergreifung die<br />

Liquidation der mittelständischen Programmbestandteile und des<br />

„linken" Parteiflügels folgte, geht noch keineswegs hervor, weshalb<br />

und inwiefern es sich hier um ein Gesetz und nicht etwa nur um eine<br />

zufällige Aufeinanderfolge gleichartiger Vorgänge in Italien und<br />

Deutschland handelt. Aber im Durchstoß zur Erklärung dieses regelmäßig<br />

wiederkehrenden Ereignisverlaufes als eines gesetzmäßigen<br />

liegt augenscheinlich der Schlüssel zur vollen Entschleierung des Verhältnisses<br />

von Monopolkapitalismus und <strong>Faschismus</strong> und damit auch<br />

zu einer erstmals vollgültigen, allen Anforderungen genügenden<br />

<strong>Faschismus</strong>definition.<br />

Daß Kühnl bis dahin nicht vorzudringen vermag, hat seine Ursache<br />

in der etwas starren, genauer gesagt: etwas formalen Begrifflichkeit,<br />

in die er sich schon auf den ersten Seiten des Buches, beim Versuch<br />

nämlich einer Definition der Begriffe rechts und links, einzwängt und<br />

die ihn verständlicherweise daran hindert, am Ende, bei der Gesamtdefinition<br />

des <strong>Faschismus</strong>, in entscheidenden Punkten, in denen<br />

Gesetzmäßigkeiten erfaßt sein müßten, über rein deskriptive Feststellungen<br />

hinauszukommen.


Fragen der <strong>Faschismus</strong>diskussion 283<br />

Kühnls einschlägige Formulierung bei dem Versuch, die Begriffe<br />

rechts und links auf wissenschaftlich praktikable Weise in den Griff<br />

zu bekommen, lautet: „Als rechts gelten jene Kräfte, die für autoritär-hierarchische<br />

Strukturen in Staat und Gesellschaft eintreten,<br />

als links jene, die für demokratische Strukturen plädieren" (11).<br />

Das hat zweifellos etwas sehr Verführerisches einfach angesichts des<br />

Umstandes, daß hier endlich einmal die Linke, wie es der Sache nach<br />

not tut, von vornherein fest mit dem Begriff der Demokratie identifiziert<br />

ist, die Linke historisch und generell als der genuine Sachwalter<br />

der Demokratie in Erscheinung tritt bzw. umgekehrt die Demokratie<br />

definitorisch als der entscheidende Inhalt der linken Bewegung erkannt<br />

und anerkannt wird. Und doch muß man die Frage stellen, ob<br />

sich mit dieser Formel ernstlich operieren läßt, ob sie sich also z. B.<br />

auch dann als tragfähig erweist, wenn man, mit ihr in der Hand, das<br />

Verhältnis von <strong>Faschismus</strong>, monopolkapitalistischer Formierung,<br />

liberaler Demokratie und sozialistischem Anspruch auf reale Demokratie<br />

untersuchen wollte. Kühnl leitet den Absatz, der die zitierte<br />

Bestimmung von rechts und links enthält, mit einem jener Sätze ein,<br />

deren instinktsicherer <strong>kritische</strong>r Zuschnitt ganz allgemein charakteristisch<br />

für seine Art des Herangehens an einzelne Themen ist, der er<br />

letztlich seine heutige vorgeschobene Position jenseits aller gängigen<br />

bürgerlichen Erklärungsschablonen zum <strong>Faschismus</strong>problem und anderen<br />

Fragen der bürgerlichen Gesellschaft verdankt. Es heißt da:<br />

„Die Begriffe rechts und links werden offenbar erst dann zu brauchbaren<br />

Kategorien, wenn man nicht den formalen Aspekt des politischen<br />

Verhaltens — bewahren oder verändern —, sondern den inhaltlichen<br />

zugrunde legt: wenn man die Ziel Vorstellungen einer Partei<br />

konkret bestimmt." Aber desungeachtet bleibt die dann folgende<br />

Definition dieser beiden Begriffe ihrerseits im Formalen stecken, sie<br />

spricht nicht von sozialen Interessen, sondern von politischen Strukturen,<br />

die als solche zu einem Inhalt und zum ausschlaggebenden Unterscheidungsmerkmal<br />

von rechts und links gemacht werden. So kann<br />

es zu der etwas merkwürdigen Darlegung kommen, daß im 18. und<br />

beginnenden 19. Jahrhundert das aufstrebende Bürgertum die Linke<br />

gewesen sei, bis sich mit dessen Beteiligung an der Macht auch seine<br />

„Funktion" verändert habe, die bürgerlichen Kräfte nämlich, da sie<br />

„nun selbst Anteil an der Herrschaft hatten", nach rechts rückten, so<br />

daß „in dieser Lage ... die Arbeiterbewegung zum Repräsentanten<br />

der Linken" werden mußte, „d. h. der Kräfte..., die auf weitere<br />

Demokratisierung drängten" (11—13). Wie man an dieser Stelle deutlich<br />

sieht, ist für Kühnl das „Linke" nicht mit irgendeinem bestimmten<br />

sozialen Inhalt gefüllt, sondern vielmehr eine politische Strukturidee,<br />

der sich zu verschiedenen Zeiten verschiedene soziale Kräfte<br />

— und zwar die historisch jeweils fortschrittlichsten — annehmen,<br />

sich zu ihrem „Repräsentanten" machen können.<br />

Sicher ließe sich einwenden, daß Kühnl immerhin die Gleichheitsidee<br />

und somit das Grundprinzip der realen Demokratie vorschwebt,<br />

wenn er seinen Linksbegriff mit seinem Demokratiebegriff in eins<br />

setzt. Aber indem er dieses Prinzip formal auffaßt, es also, seiner


284 Reinhard Opitz<br />

eigenen Forderung zuwider, nicht als inhaltliches, durch soziale Interessen<br />

definiertes Prinzip, sondern als vorgegebene Strukturidee<br />

einführt, zu der wechselnde Klassen je nach ihrer Stellung in der<br />

Gesellschaft in eine vorübergehende oder dauerhafte funktionale<br />

Beziehung treten und zur Linken nur jeweils insoweit werden, wie<br />

sie sich diese Idee zu eigen machen, bleibt in der Mitte von Kühnls<br />

nach wie vor unausgesprochen dreiteiligem Begriffsgebäude unvermeidlich<br />

die bürgerliche Formaldemokratie als das heimliche Zentrum,<br />

von dem her von einer Rechten und einer Linken gesprochen<br />

wird, bestehen. Der auffällige Umstand, daß Kühnl eine Definition<br />

dessen versucht, was rechts und was links genannt werden soll, ohne<br />

zuvor — oder wenigstens nachträglich — zu bestimmen, was unter<br />

Mitte zu verstehen sei, rechts von was und links von was sich also<br />

Rechte und Linke befinden (und ohne einen solchen gemeinsamen<br />

Bezugspunkt verliert die Rede von rechts und links ja wohl ihren<br />

logischen Halt), weist auf das Dilemma, in das notwendig jeder gerät,<br />

der von der bürgerlichen Politologie das Denken in inhaltsneutralen<br />

Strukturkategorien, in der eigenen politischen Praxis jedoch das<br />

Fragen nach dem gesellschaftlichen Inhalt einer jeglichen Politik und<br />

einer jeglichen politischen Strömung gelernt hat. Kühnl befreit sich<br />

aus diesem Dilemma nicht wirklich, wenn er als die „Mitte" diejenigen<br />

Kräfte anspricht, die dem Prinzip der Willensbildung von unten<br />

nach oben nur bedingt, nämlich nur im politischen, nicht aber auch<br />

im wirtschaftlichen Bereich Geltung zuerkennen wollen, wenn er<br />

zum Merkmal der Mitte also ganz im herkömmlich-liberalen Sinne<br />

das Bekenntnis zu einem abstrakten Normaltyp der bürgerlich-parlamentarischen<br />

Verfassung macht und diese Position kritisch als eine<br />

Zwischenposition, als ein „Mittelding" zwischen den reinen Ausprägungen<br />

des rechten Autoritarismus und der von der Linken repräsentierten<br />

Demokratieidee charakterisiert. Die ihm von seinem Wirklichkeitssinn<br />

dann sofort aufgenötigte Einschränkung, es gebe allerdings<br />

heute in der Bundesrepublik keine einzige große Partei, die<br />

„auch nur den bestehenden Grad an politischer Demokratie entschlossen<br />

zu verteidigen bereit wäre; d. h. es gibt im Grunde nur Rechtsparteien"<br />

(23), macht die Fragwürdigkeit eines Schemas, dessen<br />

Zentrum mehr oder minder nichtexistente, in jedem Fall aber sehr<br />

flüchtige, je nach Interessenlage fluktuierende Kräfte sind, deutlich.<br />

Einen Weg, aus den Verfänglichkeiten des liberalen Rechts-Mitte-<br />

Links-Schemas herauszukommen, stellt die <strong>kritische</strong> Anmerkung,<br />

daß die Mitte zur Zeit kaum besetzt sei, zumindest nicht von starken<br />

Parteien, in gar keinem Falle dar, weil der Maßstab, an dem dies<br />

gemessen wird, noch immer der liberal-formaldemokratische ist. Dies<br />

aber hat seine notwendigen Auswirkungen auch auf die Bestimmung<br />

der Linken und der Rechten.<br />

Auf der einen Seite gerät dadurch nämlich der qualitative Unterschied<br />

zwischen formaler und realer Demokratie aus dem Blick; er<br />

reduziert sich auf einen nur quantitativen. Kühnl beschreibt dementsprechend<br />

die Linke als diejenige Kraft, die erkannte, „daß die<br />

formale Rechtsgleichheit durch eine reale soziale Chancengleichheit


Fragen der <strong>Faschismus</strong>diskussion 285<br />

ergänzt werden müsse" (14). Sie nahm, wie es weiter heißt, „die<br />

Ideale des Rationalismus und Liberalismus auf, verband sie jedoch<br />

mit sozialistischen Zielen" (Hervorhebungen v. Verf.). Der Plural<br />

erfüllt hier eine unentbehrliche Funktion: Er läßt als miteinander<br />

vereinbar erscheinen — im Sinne einer einfachen Ausweitung —,<br />

was, stünde hier „sozialistisches Ziel", sofort erkennbar wäre als ein<br />

qualitativer, auch die politische Demokratie von Grund auf revolutionierender<br />

Sprung. Die Formel von der Ausdehnung der Demokratie<br />

auf die Wirtschaft entspricht zwar vollkommen den gegenwärtigen<br />

Bedingungen des politischen Kampfes der demokratischen und<br />

sozialistischen Kräfte in den westlichen Ländern, reale Demokratie<br />

ist aber gleichwohl mehr als gesamtgesellschaftlich — also u. a. auch<br />

in der Wirtschaft — verbindlich gewordene liberale Demokratie. So<br />

wenig dies in einer gegebenen strategischen Augenblickssituation<br />

von Relevanz sein mag, so sehr muß es sich in einer Definition niederschlagen,<br />

solange Allgemeingültigkeit zu den unabdingbaren Kriterien<br />

gehört, denen Definitionen genügen müssen. Kühnl entzieht<br />

sich dieser zur Zeit gewiß nicht sehr opportunen Aufgabe mit dem<br />

scheinbar nach allen Seiten hin loyalen Überbrückungssatz: „Zwar<br />

gab es über die einzelnen Merkmale der angestrebten sozialen Demokratie<br />

(sie! d. Verf.) wie über die Wege zu ihr Differenzen innerhalb<br />

der Linken — über das Prinzip aber war man sich einig" (ebd.). Über<br />

welches Prinzip? Über das der Ausweitung der im politischen Bereich<br />

schon verwirklichten (bürgerlichen, formalen) Demokratie auf die<br />

Wirtschaft und sonstige weitere Gesellschaftsbereiche (hier gab es<br />

meist weitreichende taktische Bündnisse, gewiß) oder aber über das<br />

tatsächliche realdemokratische Prinzip, das sich ebenso in einer Revolution<br />

und in der Form der revolutionären Diktatur wie in der<br />

Form der sozialistischen Demokratie wie vielleicht schon partiell in<br />

einer mehrheitlich von Linkskräften beherrschten bürgerlich-parlamentarischen<br />

Demokratie Geltung verschaffen kann, jedenfalls nicht<br />

ohne weiteres auf ein einziges Strukturmodell festlegbar ist, weil es<br />

eben ein inhaltliches und kein formales Prinzip ist. Die Einheit der<br />

Linken, der Kühnl offenbar eine Formel liefern will, läßt sich nur<br />

auf Grund der gemeinsamen Inhalte ihres Kampfes konstituieren,<br />

jede auf formale Strukturmodelle abhebende Definition dogmatisiert<br />

die Vorstellungen eines Teiles der Linken auf Kosten der Vorstellungen<br />

anderer Teile oder setzt einzelne Stadien des Revolutionsprozesses<br />

absolut. Damit aber wird die Linke nicht auf ihren Begriff, sondern<br />

um das Verständnis ihrer Zusammengehörigkeit gebracht. In<br />

Kühnls Definition bleibt die Gefahr, daß sie dazu benutzt werden<br />

kann, eine Differenzierungslinie quer durch die Linke zu ziehen so<br />

lange anwesend, wie nicht unmißverständlich aus ihr hervorgeht,<br />

daß der gemeinsame Nenner aller Linken das Einstehen für demokratische<br />

Inhalte ist, also für etwas, wovon sich die bürgerliche Demokratietheorie<br />

seit Schumpeter nicht einmal mehr einen Begriff<br />

machen will und wofür sie sich jede Erkenntnisfähigkeit selbst kategorisch<br />

abgesprochen hat — nicht jedoch unbedingt auch das Einstehen<br />

für bestimmte Verfahrensmodelle. Verharrt man bei der bür-


286 Reinhard Opitz<br />

gerlichen Formalisierung des Demokratiebegriffs, dann gelangt man<br />

unvermeidlich dazu, von einer „echten" Linken, die in der Praxis<br />

durch alle Entwicklungsphasen hindurch einer bestimmten Strukturidee<br />

die Treue hält, diejenige Linke abzusondern, die sich nicht<br />

scheut, in bestimmten historischen Situationen zur Diktatur des Proletariats<br />

und also auch zum Gebrauch autoritärer Mittel überzugehen.<br />

Politische und gesellschaftliche Strukturen weisen sich primär auf<br />

Grund der Inhalte, für die sie durchlässig sind, als demokratische aus,<br />

sie sind es nicht schon qua Struktur bzw. qua allgemeiner — inhaltsindifferenter<br />

— Durchlässigkeit.<br />

Auf der anderen Seite bewirkt der Nachhall des liberalen Mitteverständnisses,<br />

daß der aus dem Machtwillen des Monopolkapitals<br />

hervorgehende Autoritarismus und der im Protest gegen die vom<br />

Monopolkapital geschaffenen Verhältnisse von unten her in Gestalt<br />

rechter Bewegungen aufsteigende Autoritarismus begrifflich eher<br />

zueinandergebracht werden, als es der Beobachtung des zwischen<br />

ihnen bestehenden Spannungs- und Eskalationsverhältnisses guttun<br />

kann. Das Problem, um das es geht, ist doch gerade der Umschlag<br />

rechtsradikaler Protestpotentiale in Stützen des Systems, gefragt ist<br />

nach der entzaubernden rationalen Erklärung der mystischen Vereinigung<br />

von Monopolkapital und Kleinbürgerradikalismus, die sich<br />

keineswegs uno actu, etwa erst am Tage der Übertragung der Staatsmacht<br />

auf die faschistische Partei, sondern natürlich mindestens bei<br />

der führenden und in der Phase unmittelbar vor der Machtübernahme<br />

eben notwendigerweise stets dominierenden (weil die praktische<br />

Möglichkeit der Machtübernahme allein garantierenden)<br />

Gruppe bereits vorher und sukzessive, bei anderen innerparteilichen<br />

Strömungen übrigens vielfach analog, wenn auch nur partiell, vollzieht,<br />

jedoch selten geradlinig, in der Regel vielmehr in einem widersprüchlichen<br />

Prozeß, weil die Einsetzung der faschistischen Partei in<br />

die Macht nur unter bestimmten innenpolitischen Bedingungen zum<br />

unmittelbaren — und dann auch überwiegend gemeinsamen — Interesse<br />

des Monopolkapitals wird, sein Verhältnis zur faschistischen<br />

Partei grundsätzlich ein instrumentelles ist, das bestimmt wird von<br />

seinem Primärinteresse am eigenen Profit und der eigenen Macht<br />

über den Staat und deshalb immer erst dann zu einem zielstrebig auf<br />

die direkte Machteinsetzung der faschistischen Partei hinarbeitenden<br />

wird, wenn dem politischen Machtkalkül des Monopolkapitals<br />

keine Wahlmöglichkeit mehr zwischen Integration und Terror gegeben<br />

erscheint, wenn die Integration mißrät und das, was sie leisten<br />

sollte, nur noch mittels eines einheitlichen politischen — also staatlichen<br />

— Diktatur- und Terrorsystems gewährleistet werden kann.<br />

Gerade erfolgreiche Integration aber ist gleichbedeutend mit der Erzeugung<br />

eben jener — also manipulierten und nicht etwa autochthonen<br />

— Mentalität und jenen falschen Bewußtseins in den abhängigen<br />

Klassen, aus denen sich der spezifisch rechtsradikale Affekt<br />

überhaupt erst aufbauen und so dem Monopolkapitalismus gerade im<br />

Augenblick des rapiden Popularitätsschwunds und Zerfalls seiner<br />

bisherigen eigenen Parteien eine neue, zur Vernichtung aller seiner


Fragen der <strong>Faschismus</strong>diskussion 287<br />

Gegner fanatisch entschlossene Massenbasis verschaffen kann, und<br />

der Modus dieser Verschmelzung läßt sich schlecht aufdecken, anders<br />

gesagt: das Wechselverhältnis von Formierung und Faschisierung<br />

entzieht sich dem Blick, wenn auf Grund des beibehaltenen<br />

liberalen Rechts-Mitte-Links-Schemas mit seiner statischen, für eine<br />

abstrakte Verfassungidee stehenden Mitte und der Gleichsetzung von<br />

„rechts" mit „autoritär" jede in autoritäre Richtung ausschlagende<br />

Abkehr der herrschenden bürgerlichen Parteien vom Idealtypus einer<br />

formaldemokratischen Verfassung mit dem gleichen Namen belegt<br />

wird wie der von unten aufsteigende und via falsches Bewußtsein<br />

desorientierte Protest. Weit hinter der Grenze, hinter der der <strong>kritische</strong><br />

idealistische Demokrat nur noch Rechtes, unterschiedslos ineinander<br />

verschwommen, sieht, haben sich diese beiden Tendenzen noch<br />

immer nicht vollends getroffen, springen sie jedoch unter bestimmten<br />

Umständen ineinander um, und hier liegt das Untersuchungsfeld, auf<br />

das es ankommt. Solange die gleichartige Etikettierung der sozial<br />

unterschiedlich motivierten Autoritarismen dazu verleitet, fortwährend<br />

auch ihre Merkmale miteinander zu verwechseln, solange wird<br />

der Versuch, das spezifisch Faschistische abzugrenzen von dem, was<br />

nur allgemein „rechts" ist, der Gefahr der Willkürlichkeit ausgesetzt<br />

bleiben; ohne präzise Bestimmung dessen, was in rechten Protestbewegungen<br />

die spezifisch faschistischen, was nur allgemein-rechte<br />

Elemente sind, kann jedoch auch das besondere Verhältnis, das Monopolkapital<br />

und faschistische Bewegung im faschistischen Herrschaftssystem<br />

eingehen, nicht adäquat beschrieben, der Charakter<br />

des <strong>Faschismus</strong> als Herrschaftssystem also auch nicht allgemeingültig<br />

dargestellt werden.<br />

Eben dies sind die Gründe, weshalb hinter Kühnls Vierpunkte-<br />

Definition des <strong>Faschismus</strong> im Schlußkapitel des Buches einige Fragezeichen<br />

zu setzen sind. Außer der schon erwähnten wichtigen Unterscheidung<br />

in der Funktion und dem sozialen Charakter des <strong>Faschismus</strong><br />

vor und nach der Machtergreifung nimmt Kühnl in Punkt 3 eine<br />

weitere wesentliche und zutreffende Fixierung vor, indem er das<br />

Vorhandensein einer faschistischen Massenbewegung zur Voraussetzung<br />

dafür macht, daß von <strong>Faschismus</strong> gesprochen werden kann,<br />

und in dieser Bindung des <strong>Faschismus</strong>begriffs an die Massenbasis<br />

liegt wohl in der Tat eines der entscheidenden Kriterien für die Abgrenzung<br />

faschistischer Systeme von sonstigen autoritären Diktaturen.<br />

Aber Kühnl begnügt sich damit nicht, sondern setzt in Punkt 4<br />

dazu an, auch Grundzüge einer angeblichen faschistischen Ideologie<br />

herauszuarbeiten, und hierbei wird nun ganz offenbar, daß die Unterscheidung<br />

von „rechts" im allgemeinen und „faschistisch" im besonderen<br />

keineswegs gelungen ist. Schon zu Anfang des Buches (45)<br />

hatte Kühnl die Vision eines „dritten Weges" jenseits von Kapitalismus<br />

und Sozialismus als charakteristisch für die faschistische Ideologie<br />

bezeichnet — aber sind nicht die meisten staatsmonopolistischen<br />

Formierungsideologien (und zwar gerade auch die, die in der liberalsozialen<br />

Tradition stehen) Ideologien des dritten Weges? Sind Volksgemeinschaftsmythos<br />

und Antikommunismus, die Kühnl dann am


288 Reinhard Opitz<br />

Ende (150) besonders hervorhebt, und desgleichen die Rechtfertigung<br />

der bestehenden Machtverhältnisse durch Beschwörung äußerer<br />

Feinde und der „nationalen Werte" tatsächlich nur beim <strong>Faschismus</strong><br />

und nicht vielmehr quer durch das ganze bürgerliche Lager hindurch<br />

feststellbar? Gilt das, was Kühnl in einem gesonderten Kapitel<br />

(123 ff.) der Springer-Presse nachweist und was er „charakteristisch<br />

für faschistische Denkformen" (123) nennt, nicht in ganz erheblichem<br />

Maße auch für eine stattliche Zahl von Politikern in den drei großen<br />

Parteien und für nahezu die gesamte gegenwärtige Führungsschicht<br />

der Wirtschaft? Ist bei uns in der Bundesrepublik derartiges nicht<br />

dem Ansatz nach in fast jeder zweiten offiziösen politischen Meinungsbekundung<br />

auffindbar? Sicher könnte man daraus die Konsequenz<br />

ziehen, eben von einer Faschisierung der gesamten Gesellschaft<br />

zu sprechen, aber dann landet man dort, wohin sich Kühnl ausdrücklich<br />

nicht begeben will, nämlich bei einem so weitgespannten<br />

<strong>Faschismus</strong>begriff, daß der Unterschied zwischen den Verhältnissen<br />

etwa der gegenwärtigen Bundesrepublik und solchen einer faschistischen<br />

Bundesrepublik begrifflich nicht mehr zu erfassen wäre.<br />

Kühnl widmet dem Problem der Abgrenzung von „konservativer"<br />

(sie! d. Verf.) und faschistischer, „gemäßigter" und „extremer" Rechter<br />

einen eigenen Abschnitt (151 ff.) und bezieht sich dabei auf die —<br />

weiß Gott — „formale Definition" Iring Fetschers, der als konservativ<br />

das Bestreben nach „Aufrechterhaltung eines in der Gegenwart<br />

noch existierenden politischen und sozialen Zustands", als rechtsradikal<br />

das Bestreben nach „Rückgängigmachen eines in dieser Gesellschaft<br />

bereits erreichten Zustands der politischen und sozialen<br />

Demokratisierung" verstanden wissen will. Demnach könnten Formierungsbestrebungen<br />

nur als rechtsradikal klassifiziert werden, womit<br />

die Aussicht, daß die Wechselbeziehungen zwischen Formierung<br />

und rechtem Radikalismus zum Gegenstand des Fragens gemacht<br />

würden, erlischt. Und Kühnls <strong>kritische</strong> Frage an Fetscher: „Werden<br />

die Kräfte, die den gerade bestehenden Grad an Demokratisierung<br />

bewahren wollen, nicht von der bürgerlich-liberalen Mitte repräsentiert?"<br />

(152) zeigt vollends, daß diejenigen Kräfte, die -durch die Bezeichnung<br />

„Mitte" abgedeckt sind, als mögliche aktive Quellen des<br />

Entdemokratisierungsprozesses nicht mit in den Blick treten werden.<br />

Das Theorem von der statischen Mitte, die deshalb Mitte ist, weil sie<br />

angeblich unbeweglich am jeweils erreichten Demokratisierungsgrad<br />

festhält (und damit für Fetscher dann allerdings schon konservativ<br />

ist), taucht den Zwang zur Eigendynamik, unter dem doch gerade<br />

auch diese Kräfte stehen, ins Dunkle und entzieht damit der Skala<br />

von Kräften, aus deren Zusammenwirken die Vorgeschichte faschistischer<br />

Machtergreifungen im engeren Sinne besteht, eine wichtige<br />

Komponente, die für die Erklärung des Umschlags in den <strong>Faschismus</strong><br />

unentbehrlich ist.<br />

Kühnl stellt die Frage nach diesem Umschlag richtig: „Es bleibt zu<br />

fragen, wieso ein faschistisches System die Interessen der sozialen<br />

Oberklassen, vor allem des großen Kapitals, vertreten kann, wenn<br />

die faschistische Bewegung ihrer sozialen Zusammensetzung nach


Fragen der <strong>Faschismus</strong>diskussion 289<br />

vorwiegend kleinbürgerlich bestimmt ist" (154). Aber die Antwort<br />

darauf kann nicht gelingen, solange man sich nur zwischen Begriffen<br />

wie „konservative" und faschistische Rechte, „autoritär-hierarchisch"<br />

und „demokratisch" bewegt und vor allem die Verfassungskonformität<br />

als Kriterium der Mitte bestehen läßt. Kühnl schildert den<br />

Übergangsprozeß zum <strong>Faschismus</strong> mit folgenden Sätzen: „Erweisen<br />

sich diese Regierungsformen (nämlich diejenigen einer von autoritären<br />

Elementen durchsetzten parlamentarischen Demokratie; d. Verf.)<br />

als unzureichend, die bestehenden Herrschaftsverhältnisse gegen demokratische<br />

Bewegungen zu verteidigen, so neigt die konservative<br />

Rechte zur Verselbständigung der Exekutive und zur Errichtung<br />

einer autoritären Diktatur. Ist auch diese nicht stark genug, um das<br />

kapitalistische System zu bewahren, so sind die Führungsgruppen in<br />

Wirtschaft, Gesellschaft und Staatsapparat zum Bündnis mit der faschistischen<br />

Bewegung bereit, die dann zwar die politische Gewalt<br />

übernimmt, die sozialen Privilegien der Oberklassen jedoch garantiert"<br />

(154). Dieses „zwar ... jedoch", um das es in der gegenwärtigen<br />

<strong>Faschismus</strong>debatte geht, kann Kühnl von den Voraussetzungen her,<br />

an die er sich durch seine Entscheidung für liberal vorgeprägte Begriffe<br />

gebunden hat, nur konstatieren, aber nicht erklären. Das macht<br />

das Dilemma aus.<br />

Und dieses Dilemma nun wird mittels einer großen Hilfshypothese<br />

überbrückt, zu der Kühnl — und nicht nur er allein — Zuflucht<br />

nimmt. Die Erklärung des unerklärt Gebliebenen liefert wie ein deus<br />

ex machina die Verselbständigungstheorie. Tatsächlich läßt sich ohne<br />

endgültigen Einblick in Charakter und Ablauf des Umschlagsvorganges<br />

die zentrale Frage nach dem Verhältnis von Monopolkapital<br />

und faschistischer Partei und so also auch der letztlich auf einer<br />

bloßen Blickverengung beruhende Streit zwischen der sogenannten<br />

„Agententheorie" und der Verselbständigungstheorie nicht zur Klärung<br />

bringen. Die Verselbständigungstheorie bietet sich indessen als<br />

Fluchtweg an, der es einem erspart, sich um diesen Einblick zu bemühen,<br />

weil sich nun alles aus der Annahme eines autonomen, auf<br />

eine gleichsam technische, klassenneutrale Gesetzlichkeit zurückzuführenden<br />

Oligarchisierungsprozesses innerhalb der Parteien (und so<br />

nur unter anderem auch innerhalb der faschistischen Partei) erklären<br />

läßt. Im exzessiven Rückgriff auf Verselbständigungs- und Bürokratisierungstheorien<br />

spiegelt sich jedoch immer nur ein ungenügend<br />

entwickeltes Verhältnis zur Frage nach den gesellschaftlichen Inhalten<br />

einer Politik wider. In Wirklichkeit ist die Logik der sozialen<br />

Interessen stets viel härter und dynamischer als die tendenzielle<br />

Eigengesetzlichkeit von Apparaten; wo diese zur prima causa gemacht<br />

wird, da schlägt Sozialkritik regelmäßig um in bürgerliche<br />

Sozialphilosophie, da wird z. B. das, was seinem sozialen Charakter<br />

nach monopolkapitalistische Formierung ist, zu einem von den organisierten<br />

gesellschaftlichen Großkollektiven selbst produzierten gesetzmäßigen<br />

„Entartungs"vorgang. Von Robert Michels, den Kühnl<br />

erstaunlich unkritisch rezipiert (56), ist es in der Tat nicht weit, um<br />

schließlich ganz im Sinne der heutigen rechtsliberalen und neokon-


290 Reinhard Opitz<br />

servativen Pluralismuskritik von einem System der „verfestigten<br />

Oligarchien" zu sprechen und sich dabei gleichermaßen auf Peter von<br />

Oertzens „konstitutionelle Oligarchie", Dahrendorfs „Kartell der<br />

Eliten" und Jaspers' „Parteienoligarchie" zu berufen (84). Und diese<br />

gegenüber den gesellschaftlichen Inhalten verselbständigte Theorie<br />

von der Verselbständigung der Führungsoligarchien bildet ein natürliches<br />

Hindernis beim Verstehen der Eigenart des modernen staatsmonopolistischen<br />

Verhältnisses von Monopolkapital und staatstragenden<br />

Parteien bzw. faschistischer Staatspartei, das mit formalstrukturellen<br />

Kategorien nie zureichend zu erfassen ist; sie erlaubt<br />

im günstigsten Falle eine Annäherung an das Verständnis dieses<br />

Verhältnisses bis zu dem Punkt, bis zu dem Kühnl auch tatsächlich<br />

geht, seiner Deutung nämlich als eines „Bündnisses" der „Führungsgruppen<br />

in Wirtschaft, Militär und Bürokratie (sie! d. Verf.) einerseits<br />

und der Führung der faschistischen Massenbewegung andererseits"<br />

(157), das durch multilaterale Abhängigkeit (156) und demzufolge<br />

auch durch Kompromisse und Widersprüche in Programmatik<br />

und Herrschaftspraxis gekennzeichnet sei. Über den in der Bonapartismustheorie<br />

erreichten relativen und durchaus ungenügenden Grad<br />

von Klarheit gelangt Kühnl also nicht hinaus, und zwar letztendlich<br />

wegen seiner Fixiertheit auf eine dem formaldemokratischen Denken<br />

verhaftet bleibende Begriffswelt, in der Strukturelles für Inhaltliches<br />

steht und der sich eben deshalb der nur mit inhaltlichen Kategorien<br />

zu erfassende spezifisch neue, staatsmonopolistische Zwangskonnex<br />

von privater Wirtschaftsmacht und offizieller politischer<br />

Macht — der sich weder als ein einfaches Subordinationsverhältnis<br />

noch als ein Bündnisverhältnis beschreiben läßt — entzieht.<br />

Die Gleichsetzung der Begriffe rechts und links mit „autoritärhierarchisch"<br />

und „demokratisch" (und zwar letzteres in einem eben<br />

doch formal bleibenden Sinne) bewirkt nun aber in Verbindung mit<br />

dieser Verselbständigungstheorie, daß dem bürgerlichen Leser eine<br />

Hintertür offenbleibt, um nicht nur die revolutionär-leninistischen<br />

Parteien aus dem Lager der „echten" Linken aussondern zu können,<br />

sondern auch nicht zusammengehörige Vorgänge als dem Prinzip<br />

nach gleichartig anzusehen, nämlich Kühnls Bemerkungen über die<br />

„Wendung der NSDAP zur Führerpartei" (57), die „Verbürokratisierung"<br />

der Führungsapparate von Gewerkschaften, Reichsbanner und<br />

SPD (63) und die „Unterwerfung der KPD unter die schließlich von<br />

Stalin bestimmte Linie" (34) so aufzufassen, als sei hier von übereinstimmend<br />

aus dem bloßen Apparatcharakter abzuleitenden Prozessen<br />

die Rede, denen man mit dem Schlagwort von der Bürokratisierung<br />

schon auf den Grund gekommen sei und die dann ihrerseits — denkt<br />

man es nur konsequent zu Ende — die eigentliche Misere von Weimar<br />

wären. Die flackernde Ungenauigkeit in der Bestimmung derjenigen<br />

Kräfte, die Kühnl für die Weimarer Jahre bis etwa 1929 und<br />

dann auch für die „radikaldemokratische" Vorgeschichte der Bundesrepublik<br />

von 1945 bis etwa 1949 als die demokratischen gelten lassen<br />

will, hat hier ebenso wie die unterlassene Abgrenzung von <strong>Faschismus</strong><br />

und Neofaschismus — trotz ausdrücklicher Einführung dieses


Fragen der <strong>Faschismus</strong>diskussion 291<br />

zusätzlichen Begriffes — und die Unentschiedenheit in der endgültigen<br />

Zuordnung der einzelnen linken Kräfte zu Kühnls demokratischer<br />

Linken ihre Ursache.<br />

Mit alledem aber sind, wie unschwer zu sehen ist, Probleme angeschnitten,<br />

deren Lösung außerhalb der Kühnischen Arbeiten nicht<br />

etwa schon irgendwo gültig vorläge, die zur Klärung zu bringen vielmehr<br />

die zur Zeit vor der Opposition und der jungen, engagierten<br />

Wissenschaft insgesamt stehende Aufgabe ist und zu deren Bewältigung<br />

sich bei Kühnl in der Summe weit mehr aufgearbeitete Einsichten<br />

und wichtige Ausgangsüberlegungen finden als in vielen anderen<br />

Publikationen zum Thema. Kühnls Buch ist also aus doppeltem<br />

Grunde wichtig und für die weitere <strong>Diskussion</strong> unentbehrlich:<br />

erstens wegen der — im Unterschied etwa zu Nolte oder anderen<br />

apologetischen Autoren mit modernistischem Anstrich — grundsätzlich<br />

an die richtigen Fragen rührenden und deshalb in der Mehrzahl<br />

exakte, dem praktischen Kampf um Demokratisierung also aufhelfende<br />

Antworten liefernden Art, in der hier <strong>Faschismus</strong>forschung<br />

als engagierte Wissenschaft betrieben wird; zweitens wegen derjenigen<br />

Probleme, die dabei allerdings als noch offene sichtbar werden.


292<br />

Richard Saage<br />

Bemerkungen zur Fasehismusinterpretation<br />

Ernst JNoltes<br />

Bekanntlich sind mit dem Erscheinen des Bandes „Die Krise des<br />

liberalen Systems und die faschistischen Bewegungen" Noltes „Werke<br />

zur Phänomenologie des <strong>Faschismus</strong>" abgeschlossen. Inwiefern die<br />

Intention des Autors, daß die einzelnen Arbeiten zwar für sich selbstständig<br />

sind, zugleich aber aufeinander verweisen und durch diesen<br />

Bezug erst den Gegenstand als ganzen zur Entfaltung bringen, realisiert<br />

ist, soll hier nicht explizit untersucht werden. Nicht die innere<br />

Architektonik der von Nolte vorgelegten „Phänomenologie des <strong>Faschismus</strong>"<br />

kann an dieser Stelle primär interessieren, sondern der<br />

methodologische Aspekt, unter dem sie abgefaßt wurde. Da der<br />

Schwerpunkt dieser Besprechung naturgemäß auf der Kritik der <strong>Faschismus</strong>-Interpretation<br />

zu liegen hat, wie sie sich in den angegebenen<br />

Arbeiten* darstellt, soll von vornherein auf eine ausdrückliche Würdigung<br />

der weiterführenden Resultate, die Nolte zweifellos erzielen<br />

konnte, verzichtet werden: sie sind überdies in der Literatur zur Genüge<br />

herausgestellt worden 1 . Zur allgemeinen Orientierung können<br />

wir uns auf eine kurze Darstellung der für die Kritik relevanten Publikationen<br />

beschränken.<br />

Die theoretische Grundlegung seines spezifischen <strong>Faschismus</strong>-Verständnisses<br />

hat Nolte zweifellos in seinem Buch „Der <strong>Faschismus</strong> in<br />

seiner Epoche" versucht. Diese Arbeit soll deswegen zuerst behandelt<br />

* Nolte, Ernst: Der <strong>Faschismus</strong> in seiner Epoche. Die<br />

Action française. Der italienische <strong>Faschismus</strong>. Der Nationalsozialismus.<br />

Piper-Verlag, München 1965 (635 S., Ln., 35,— DM). — zit (a)<br />

Ders.: Die faschistischen Bewegungen. dtv-Weltgeschichte<br />

des 20. Jahrhunderts, Bd. 4, München 1968 (334 S.,<br />

brosch., 2,80 DM).<br />

— zit. (b)<br />

Ders. (Hrsg): <strong>Theorien</strong> über den <strong>Faschismus</strong>. Verlag<br />

Kiepenheuer & Witsch, Neue Wissenschaftliche Bibliothek, Bd. 21,<br />

Köln 1967 (455 S., brosch., 22,80 DM / Ln., 34,— DM). — zit. (c)<br />

Ders.: Der <strong>Faschismus</strong>. Von Mussolini bis Hitler. Bilder, Texte,<br />

Dokumente. Desch-Verlag, München 1968 (404 S., Ln., 64,— DM).<br />

— zit. (d)<br />

Ders.: Die Krise des liberalen Systems und die faschistischen<br />

Bewegungen. Piper-Verlag, München 1968<br />

(475 S., Ln., 28,— DM). — zit. (e)<br />

1 Ein Überblick über die Rezensionen in der Zeit von September 1963<br />

bis Juni 1966 ist in den Anmerkungen zum Nachwort des Bandes „Die<br />

Krise des liberalen Systems und die faschistischen Bewegungen" S. 454<br />

bis 456 abgedruckt. Vgl. dazu auch das Nachwort selbst (S. 432—456), in<br />

dem Nolte sich mit seinen Kritikern auseinandersetzt.


Bemerkungen zur <strong>Faschismus</strong>interpretation Ernst Noltes 293<br />

werden, weil an ihr primär die Kritik einzusetzen hat. Auf Grund<br />

seiner „typologischen Methode" (a 48 f.) 2 identifiziert Nolte drei prinzipielle<br />

Erscheinungsformen des Phänomens „<strong>Faschismus</strong>": den Frühfaschismus,<br />

der sich in der „action française" um Charles Maurras<br />

konkretisiert, den Normalfaschismus, wie er sich in Italien um Mussolini<br />

darstellt, und den Radikalfaschismus, der im nationalsozialistischen<br />

Deutschland in Hitler seinen genuinen Exponenten fand. Diese<br />

drei Grundvarianten des <strong>Faschismus</strong> werden mit Hilfe der „phänomenologischen<br />

Methode" (a 53 f.) beschrieben. Dabei steht im Zentrum<br />

die Darstellung der geistigen Vorläufer des <strong>Faschismus</strong> und ihre<br />

Fortbildung zur faschistischen Doktrin durch die jeweiligen „Führer",<br />

also Maurras, Mussolini und Hitler. Mit großer Akribie legt Nolte<br />

u. a. die „disparaten Wurzeln" der „action française" frei, deren<br />

Artikulation durch Maurras er als eine „paradoxe Synthese" von<br />

christlichem Konservativismus (de Maistre, de Bonald), <strong>kritische</strong>m<br />

Liberalismus (Comte, Le Play, Renan, Taine, Fustel de Coulanges)<br />

und radikalem Konservativismus (de la Tour du Pin, Dûment, Barres)<br />

nachweist. Große Sorgfalt verwendet Nolte auch auf die Darstellung<br />

der intellektuellen Entwicklung Mussolinis, dessen marxistische Periode<br />

(1902—1914) von den Faschisten nicht grundlos verschwiegen<br />

wurde. Bei der Aufhellung des ideologischen Hintergrundes des Nationalsozialismus,<br />

der Rassenlehre, geht Nolte ein auf Gobineau,<br />

Vacher de Lapouge und Houston Stewart Chamberlain. Die enge Verbindung<br />

zwischen dem Denken Maurras' und Hitlers wird evident in<br />

der Darlegung der nationalsozialistischen Doktrin im Zusammenhang.<br />

Der geistesgeschichtliche Aspekt der phänomenologischen Explikation<br />

wird ergänzt durch die Aufzeichnung der historischen Entwicklung<br />

der einzelnen faschistischen Bewegungen und der Formen ihrer<br />

Praxis. Auf einer dritten Ebene schließlich versucht Nolte mit Hilfe<br />

der „philosophischen Methode" (a 545 f.) den <strong>Faschismus</strong> als transpolitisches<br />

Phänomen zu begreifen. Legitimiert sieht Nolte diesen<br />

Schritt darin, daß der <strong>Faschismus</strong> in seinem Selbstverständnis sich aus<br />

einem Bereich herleite, der selbst nicht mehr politisch sei, weil er, wie<br />

bei Maurras etwa, auf Begriffe wie „Widernatur" und „Monotheismus"<br />

rekurriere, die ihrerseits auf die Überlieferung der abendländischen<br />

Philosophie und Religion hindeuten. Anhand der Positionen<br />

von Marx, Nietzsche und Max Weber versucht Nolte im übrigen auf<br />

dieser Ebene nachzuweisen, daß der <strong>Faschismus</strong> ebenso wie der Bolschewismus<br />

ohne die bürgerliche Gesellschaft gar nicht zu denken<br />

sind. Zwar resultiere der <strong>Faschismus</strong> aus der „zweite(n) und<br />

schwerste(n) Krise der liberalen Gesellschaft, da er auf ihrem eigenen<br />

Boden zur Herrschaft gelangt und in seiner Radikalform ihr Wesen<br />

auf die vollständigste und wirksamste Weise verneint, die überhaupt<br />

denkbar ist" (a 544), aber gerade das Werk Max Webers mache deutlich,<br />

daß die bürgerliche Gesellschaft „nicht unter allen Umständen<br />

2 Im übrigen werden die „typologische", „phänomenologische" und<br />

„philosophische Methode" im Verlauf der Besprechung noch näher expliziert.


294 Richard Saage<br />

und Voraussetzungen auf Wege getrieben werden muß, die doch nur<br />

Bruchstücke ihres unverkürzten Wesens darstellen" (a 542).<br />

Wenn Nolte noch 1963 feststellt, daß die Zeit für eine „Geschichte<br />

Europas in der Epoche des <strong>Faschismus</strong>" „noch längst nicht reif" sei,<br />

zumal „selbst von den unentbehrlichsten Teilstücken erst eins" vorliege:<br />

die „Storia d'Italia nel periodo fascista" von Salvatorelli und<br />

Mira (a 48), dann versucht er mit dem 1966 erschienenen dtv-Band<br />

„Die faschistischen Bewegungen" zumindest partiell diese Lücke zu<br />

schließen. In diesem Buch, das bis auf einige Unterkapitel, Anmerkungen,<br />

einer über tausend Titel umfassenden Bibliographie und<br />

einem Nachwort identisch ist mit dem 1968 erschienenen Band „Die<br />

Krise des liberalen Systems und die faschistischen Bewegungen",<br />

trägt der Verfasser eine Fülle von Material zusammen, das trotz noch<br />

anzumeldender Bedenken einen durchaus informativen Überblick über<br />

die faschistischen Formationen in der Zeit von 1918—1945 vermittelt.<br />

Aufbauend auf den methodologischen und geistesgeschichtlichen<br />

Grundlagen, die er in „Der <strong>Faschismus</strong> in seiner Epoche" entwickelt<br />

hat, konzipiert Nolte im 1. Teil am Beispiel des italienischen und deutschen<br />

<strong>Faschismus</strong> den „Umriß einer Geschichte Europas in der Epoche<br />

des <strong>Faschismus</strong>", der den „prekären ,Sieg der Demokratie' und die<br />

innere Möglichkeit des <strong>Faschismus</strong>" nach dem 1. Weltkrieg, „Die<br />

unmittelbaren Prämissen des <strong>Faschismus</strong>", „Die Anfänge der faschistischen<br />

Bewegungen", „<strong>Faschismus</strong> und Antifaschismus seit 1933", sowie<br />

den „2. Weltkrieg und den Untergang der Faschismen" behandelt.<br />

In Teil 2 werden die nationalen faschistischen Bewegungen beschrieben,<br />

wie sie sich in Südosteuropa (Griechenland, Bulgarien, Albanien,<br />

Jugoslawien, Kroatien, den baltischen Staaten, Finnland), Mitteleuropa<br />

(Schweiz, Tschechoslowakei, Österreich, Italien, Deutschland),<br />

sowie in Nord- und Westeuropa (Skandinavien, Belgien, Niederlande,<br />

England, Frankreich, Spanien, Portugal) herausbildeten.<br />

Der 1968 herausgegebene Bild-Band „Der <strong>Faschismus</strong>" versucht<br />

nach Noltes eigenem Anspruch, „dasjenige soweit wie möglich augenfällig<br />

zu machen, was in den früheren Bänden durchdacht und dargestellt<br />

wurde — er ist populär auch in dem Sinne, daß in der Zusammengehörigkeit<br />

von Text, Bild und Legende ein Ganzes anschaulich<br />

wird, welches aber das gemeinsame Thema aller vier Bände bildet:<br />

die Epoche des <strong>Faschismus</strong> als unverwechselbare und signifikante<br />

Phase der Menschheitsgeschichte im ganzen" (e 432 f.). Zu bemerken<br />

wäre noch, daß jedem Kapitel eine Zeittafel vorangestellt ist und daß<br />

der Band u. a. eine Kurzbiographie jener Politiker enthält, die den<br />

<strong>Faschismus</strong> als internationales Phänomen entscheidend mit repräsentierten.<br />

In dem Aufsatz schließlich „Vierzig Jahre <strong>Theorien</strong> über den <strong>Faschismus</strong>",<br />

der als Vorwort zu dem Sammelband „<strong>Theorien</strong> über den<br />

<strong>Faschismus</strong>" erschienen ist, gibt Nolte einen Überblick über die Entwicklung<br />

der verschiedenen Typen von <strong>Faschismus</strong>-<strong>Theorien</strong>, die er<br />

anhand einiger ausgewählter Beispiele aus den Jahren 1921—1960 zu<br />

verdeutlichen sucht. Nolte will mit dieser Arbeit nicht nur einen<br />

orientierenden Überblick geben, sondern vor allem ein Katgorien-


Bemerkungen zur <strong>Faschismus</strong>interpretation Ernst Noltes 295<br />

system entwerfen, unter das dann alle auftauchenden Interpretationen<br />

des <strong>Faschismus</strong> zu subsumieren wären. Nolte zufolge, gehen<br />

zwar alle <strong>Theorien</strong> über den <strong>Faschismus</strong> auf Identitätsthesen zurück,<br />

d. h. konkret: „Der <strong>Faschismus</strong> wird mit einer schon bekannten Erscheinung<br />

gleichgesetzt, mit dem Kapitalismus, dem Katholizismus,<br />

dem Liberalismus, der italienischen Vergangenheit, dem Militarismus,<br />

dem Absolutismus" (c 50). Dennoch komme keine Theorie umhin, bei<br />

der Beschreibung des Phänomens bestimmte Formunterschiede zu<br />

akzeptieren. <strong>Theorien</strong>, die auf einer relativen Differenz bei prinzipieller<br />

Identität von <strong>Faschismus</strong> und einer bekannten politischen<br />

Größe beharren, nennt Nolte „heteronomistisch". Zu ihnen wären<br />

primär die sozialistischen und kommunistischen Konzeptionen zu<br />

zählen, die den instrumenteilen Charakter des <strong>Faschismus</strong> betonen.<br />

Wird aber der relative Unterschied dermaßen exponiert, daß er sich<br />

in einen absoluten umwandelt, so schlägt Nolte die Bezeichnung „autonomistisch"<br />

vor. Von diesen <strong>Theorien</strong> wird der <strong>Faschismus</strong> als eine<br />

Erscheinung gedeutet, die auf nichts Bekanntes zurückführbar ist<br />

und die deswegen ihren „Agentencharakter" verloren hat. Aus dieser<br />

prinzipiellen Distinktion zwischen „heteronomistischen" und „autonomistischen"<br />

<strong>Faschismus</strong>theorien leitet Nolte zweierlei ab: 1. In modaler<br />

Hinsicht tendieren alle heteronomistischen Auffassungen dahin,<br />

im <strong>Faschismus</strong> eine notwendige Entlarvung ihres „Auftraggebers"<br />

zu sehen. Die autonomistischen Konzeptionen dagegen sehen in ihm<br />

ein Zwischenspiel oder einen Zufall (c 50). 2. In Hinblick auf die<br />

Praxis läßt sich sagen: je heteronomistischer eine Theorie ist, desto<br />

separierender wird sie sich auswirken, d. h. sie wird überlieferte<br />

Feindschaften verstärken; je autonomistischer sie jedoch ist, „um so<br />

ausgeprägter muß sie sich als koalierend erweisen, d. h. nach neuen<br />

Bündnissen rufen — es sei denn, sie betrachte den <strong>Faschismus</strong> gleichmütig<br />

als Zufall und Zwischenspiel" (c 51). Auf die anderen Distinktionen,<br />

also die Differenz zwischen regressiven und progressiven,<br />

antimodernen und modernen, singularisierenden und generalisierenden<br />

<strong>Theorien</strong> etc. (c 50 f.), braucht hier nicht eingegangen zu werden.<br />

Grundsätzlich stellt sich aber die Frage, ob eine solche Kategorisierung<br />

überhaupt vertretbar ist. Zu unvermittelt und ungeprüft scheint<br />

hier das „Entweder-oder" in ein „Sowohl-als auch" umgewandelt worden<br />

zu sein. Zu klären wäre also, ob es möglich ist, daß im gleichen<br />

Atemzug von singularisierenden und generalisierenden, von autonomistischen<br />

und heteronomistischen <strong>Theorien</strong> gesprochen werden kann,<br />

ohne die Einheit des Phänomens „<strong>Faschismus</strong>" in Frage zu stellen,<br />

und von welcher Instanz Nolte die Legitimität zu solcher „Toleranz"<br />

bezieht, die eine in kognitiver Hinsicht tendenzielle Gleichberechtigung<br />

aller <strong>Theorien</strong> impliziert.<br />

Deswegen sollte zunächst von dem die Rede sein, was nicht nur<br />

dem angedeuteten Kategoriensystem als konstitutives Moment vorausgeht,<br />

sondern auch den Methoden, mit denen Nolte das Phänomen<br />

des <strong>Faschismus</strong> darzustellen sucht: dem Objektivitätsbegriff. Dieser<br />

Objektivitätsbegriff visiert eine „höhere" Ebene an, auf der die <strong>Faschismus</strong>konzeptionen<br />

konservativer, christlich-kirchlicher, liberaler,


296 Richard Saage<br />

jüdischer, sozialistischer und kommunistischer Provenienz vereinigt,<br />

sei es teilweise, sei es im ganzen, und zugleich „überholt" werden<br />

sollen (a 51). Konzeptionen nennt Nolte diejenigen <strong>Theorien</strong>, die „in<br />

den Auseinandersetzungen des gesellschaftlichen Lebens selber" „v o r<br />

der Wissenschaft" entstanden sind (a 42). Sie sind, im Gegensatz zur<br />

wissenschaftlich abgeklärten Theorie, auf ganz bestimmte Interessen<br />

politischer Art bezogen, wodurch ihre kognitive Relevanz gewissermaßen<br />

eingeengt erscheint. Zwar konzediert Nolte, daß die Wissenschaft<br />

weder Konzeptionen hervorbringen noch auf sie verzichten<br />

kann (a 47). Zwar negiert er verbal die Möglichkeit einer „rein wissenschaftlichen<br />

Theorie diesseits aller Konzeptionen" (c 51) und ist<br />

überzeugt, daß „es keine Theorie über den <strong>Faschismus</strong> (gibt)", „wenn<br />

nur dasjenige Theorie heißen darf, was sich in der olympischen Distanz<br />

der Astronomie entfaltet" (c 15). Aber diese Modifikationen<br />

bleiben letztlich Behauptungen: wenn wissenschaftlich nur ist, was<br />

über die größte Entfernung zur Sphäre politischen Interesses verfügt,<br />

dann impliziert dieses Postulat einen Objektivitätsbegriff, der seiner<br />

Intention nach sich auf die Idee der von allen konkreten gesellschaftlichen<br />

Interessen unberührten Wahrheit bezieht, auch wenn man sich<br />

dieser nur approximativ annähern kann (a 33 f.). In jedem Falle aber<br />

bleibt das Verwiesensein des Objektivitätsbegriffs auf die sog. Konzeptionen<br />

für diesen folgenlos. Zwar baut er auf jenen auf: hat er sich<br />

aber erst einmal konstituiert, so löst er sich von seiner Vermittlung<br />

ab. Was übrigbleibt, ist dann doch das Postulat reiner Wissenschaftlichkeit:<br />

eben jene „höhere" Ebene, der sich das zu behandelnde Objekt<br />

erst dadurch würdig erweist, daß es „tot" ist (a 33). Gerade das,<br />

was Nolte durch seinen Objektivitätsbegriff auszuschalten sucht, die<br />

politische Manipulation, wird so durch ihn erst provoziert: die Blindheit<br />

gegenüber der gesellschaftlichen Vermittlung dessen, was er<br />

„höhere" Ebene nennt, reflektiert nicht den ideologischen Preis, der<br />

für sie zu zahlen ist: die apologetische Behauptung, die Epoche des<br />

<strong>Faschismus</strong> sei vorbei, weil es u. a. nach 1945 keine gesellschaftlich<br />

relevante Gruppe mehr gebe, die gewissen formalen Kriterien der<br />

Faschismen in der Zeit vor 1945 genüge.<br />

Freilich scheint Nolte diese Position in seinem Bild-Band „Der <strong>Faschismus</strong>"<br />

zu modifizieren. Er spricht hier von der „Möglichkeit einer<br />

Wiedergeburt des <strong>Faschismus</strong> auf der neuartigen und weiteren Ebene<br />

eines Kontinental- und Rassenfaschismus" (d 38 f.). Allerdings seien<br />

die Voraussetzungen für dessen Aktualisierung weder in Europa noch<br />

in den sog. „Entwicklungsländern" gegeben, sondern ausschließlich<br />

auf die Vereinigten Staaten beschränkt. Aber auch hier könne der<br />

Rassenfanatismus nur dann so virulent werden, daß die ihn tragenden<br />

Massenbewegungen den formalen Kriterien des <strong>Faschismus</strong> 3 entsprechen,<br />

„wenn die Vermutung einer von China gesteuerten Verschwörung<br />

der Farbigen an Kraft gewinnt und wenn die liberale Tradition<br />

auch grundsätzlich in Frage gestellt wird. Aber nur wenn ein nach<br />

3 Diese Kriterien werden von Nolte in „Der <strong>Faschismus</strong> in seiner<br />

Epoche" entwickelt. Auf sie wird noch einzugehen sein.


Bemerkungen zur <strong>Faschismus</strong>interpretation Ernst Noltes 297<br />

außenpolitischen Niederlagen und inneren Rassenkämpfen durch den<br />

,weißen Rückstoß' umgeschmolzenes Amerika in der deutschen Enttäuschung<br />

den idealen Bündnispartner findet, wird die Geschichte<br />

des <strong>Faschismus</strong> mit dem Tod Hitlers und Mussolinis nicht zu Ende<br />

sein" (d 38 f.). Was diese Prognose zweifellos verkürzt erscheinen läßt,<br />

ist einerseits die Ausklammerung der Tatsache, daß Rassenvorurteile<br />

selbst wieder eine Genese besitzen, die nicht zu trennen ist von einer<br />

Gesellschaft, die offenbar zu ihrer Reproduktion eben diese Ressentiments<br />

erzeugen muß, und es ist andererseits der naive Rekurs auf die<br />

„liberale Tradition", die insbesondere in den Vereinigten Staaten<br />

schon längst hinter den faktischen gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen<br />

herhinkt. So bringt diese Modifikation Noltes qualitativ<br />

nichts Neues. Zwar ist seine Interpretation des <strong>Faschismus</strong> insofern<br />

„variabler" geworden, als sie dessen „Wiedergeburt" nicht mehr kategorisch<br />

ausschließt. Indem sie ihn aber wie bisher auf seine antiquierte,<br />

„historische" Form, wie sie sich von 1918—1945 darstellte,<br />

festlegt, bleibt Nolte nach wie vor das Opfer seiner eigenen Prämisse.<br />

Im übrigen korrespondiert der Objektivitätsbegriff Noltes auf das<br />

genaueste mit dem, was er bürgerliche oder liberale Gesellschaft<br />

nennt. Diese sei „die Form der Sozietät, in der die führende Schicht<br />

ihre Aufgabe, die technisch-ökonomische Einheit der Welt herzustellen<br />

und die Emanzipation aller Menschen zur Anteilnahme an diesem<br />

Werk zu betreiben, in immer neuen politischen und geistigen Kompromissen<br />

mit den früher herrschenden Gewalten vollzieht" (a 541). Wenn<br />

so die bürgerliche Gesellschaft die „Gesellschaft der Synthese" ist',<br />

dann reflektiert sich diese in jenem Pluralismus der verschiedenen<br />

gleichberechtigten Konzeptionen, die im Objektivitätsbegriff „aufgehoben"<br />

werden. Dadurch jedoch, daß der ideologisch-politische<br />

Kompromißcharakter von Nolte isoliert als konstitutiv für die bürgerliche<br />

Gesellschaft angesehen wird, ist das Fehlen jeder Kompromißbereitschaft<br />

ihrer herrschenden Schichten in bezug auf die Veränderung<br />

der Eigentumsverhältnisse und damit der gesellschaftlichen<br />

Struktur nur notdürftig verschleiert. Die einzige Klasse, die beispielsweise<br />

in der Bundesrepublik sowohl die wilhelminische Epoche und<br />

die Weimarer Republik als auch das „Dritte Reich" ungebrochen<br />

überlebt hat, um nach dem 2. Weltkrieg das Monopol ökonomischer<br />

Macht unangefochtener denn je zu kontrollieren, ist jene, unter deren<br />

Regie das Geschäft der Herstellung der „technisch-ökonomischen Einheit<br />

der Welt" betrieben wird. Daß in der Tat dieser Sachverhalt von<br />

einer entpolitisierten, konsumorientierten „Öffentlichkeit" wie ein<br />

Naturereignis hingenommen wird, ist zwar „real", aber deswegen<br />

als Basis der „Objektivität" um so fragwürdiger: sich auf einen manipulate<br />

hergestellten Konsensus beziehend, ist sie lediglich ein Reflex<br />

auf deren Ideologie.<br />

So äußerlich die realen politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse diesem<br />

Objektivitätsbegriff bleiben, so zwingend gehen aus ihm die<br />

Methoden hervor, derer sich Nolte zur Explikation des <strong>Faschismus</strong><br />

bedient. Allen drei Stufen seines methodischen Ansatzes, der typologischen<br />

auf der Ebene des Binnenpolitischen, der phänomenologischen


298 Richard Saage<br />

in der Sphäre des Politischen und der philosophischen im Bereich des<br />

Transpolitischen ist gemeinsam die Vernachlässigung der sozioökonomischen<br />

Analyse der Ursachen des <strong>Faschismus</strong> und das Bestreben,<br />

diesen entweder durch äußere Merkmale zu identifizieren oder ihn als<br />

geistesgeschichtliches Phänomen zu fassen. Vor Ausführung der Kritik<br />

sollte aber kurz umrissen werden, was Nolte unter dem Begriff<br />

des Binnenpolitischen, des Politischen und des Transpolitischen versteht<br />

und wie die Methoden strukturiert sind, die er diesen Ebenen<br />

jeweils zuordnet.<br />

Das Binnenpolitische wäre nach Nolte im Bereich des politischen<br />

Tageskampfes der konkurrierenden Parteien und Organisationen zu<br />

lokalisieren. In diesem Spannungsfeld ist der <strong>Faschismus</strong> wie jede<br />

andere politisch agierende Gruppe gezwungen, sich irgendwie zu profilieren<br />

und eine Struktur zu entwickeln, die sie von den anderen<br />

Konkurrenten unterscheidet. Solche spezifischen, aus den direkten<br />

politischen Auseinandersetzungen resultierenden Strukturmerkmale<br />

sind in bezug auf den <strong>Faschismus</strong> etwa die Existenz einer Ideologie,<br />

die pseudosozialistische und rassistische Momente enthält, das Vorhandensein<br />

eines Vernichtungswillens und die Ausbildung einer charakteristischen<br />

Praxis. Je nachdem, ob diese Elemente ganz oder teilweise,<br />

stärker oder schwächer entwickelt sind, unterscheidet Nolte<br />

vier „typologische Stellen": die noch nicht faschistische, die als präfaschistisch<br />

bezeichnet werden kann (das Regime Pilsudskis etwa),<br />

die frühfaschistische (action française), die normalfaschistische (italienischer<br />

<strong>Faschismus</strong>) und die radikalfaschistische (Nationalsozialismus).<br />

Diese Typologie läuft also auf die Konstruktion einer Skala hinaus,<br />

deren Fixpunkte der Autoritarismus einerseits und der vollausgebildete<br />

Totalitarismus andererseits sind. Es entsteht somit eine Topologie,<br />

dergestalt, daß jede Variante des <strong>Faschismus</strong> im Skalenbereich<br />

ihren Ort findet.<br />

Aber der <strong>Faschismus</strong> ist nach Nolte in dieser Form nur unvollkommen<br />

charakterisiert. Genauso, wie die Typologie auf gänzlich<br />

ungeklärte Begriffe wie beispielsweise „Ideologie" oder „Praxis"<br />

verweist, stellt ihr Medium, das Binnenpolitische, selbst nur die<br />

Oberfläche des eigentlich Politischen dar. Der Bereich des Politischen<br />

beginnt Nolte zufolge dort, wo der „Naturgrund der Politik selbst ans<br />

Licht gebracht und zum Selbstbewußtsein erweckt" wird (a 516). Die<br />

sog. Phänomenologie ist die Methode, die Nolte zur Sichtbarmachung<br />

jener Motivationsstruktur vorschlägt, die faschistische Aktivität im<br />

Binnenpolitischen erst auslöst. Diese Methode bezieht sich ausdrücklich<br />

nur auf solche Phänomene, für deren Existenz eine Ideologie<br />

(neben anderen Faktoren) konstitutiv ist. Diese in ihrem historischen<br />

Kontext und ihrer praktisch-politischen Auswirkung sich selbst explizieren<br />

zu lassen und somit das „Bewußtsein" des Phänomens aus dessen<br />

„Immanenz" heraus zur Darstellung zu bringen, ist die eigentliche<br />

Intention der Phänomenologie.<br />

Wenn Nolte im Bereich des Politischen den Radikalfaschismus als<br />

den „Todeskampf der souveränen, kriegerischen, in sich antagonistischen<br />

Gruppe" erkennt, der sich als „praktischer und gewalttätiger


Bemerkungen zur <strong>Faschismus</strong>interpretation Ernst Noltes 299<br />

Kampf gegen die Transzendenz" (a 507) manifestiert, dann ist bereits<br />

die Ebene des Transpolitischen tangiert. Wenngleich von ihr Wirkungen<br />

auf die Sphäre des Politischen ausgehen, bezeichnet sie selbst<br />

keinen politischen Vorgang (a 516). Sie ist Nolte zufolge die fundamentalste<br />

Ebene überhaupt, weil auf ihr der letzte Grund zu suchen<br />

ist, der den <strong>Faschismus</strong> als binnenpolitisches und politisches Phänomen<br />

erst ermöglichte: die existentielle Angst um das Schöne (Maurras)<br />

oder, weniger sublim, um das „nackte" Überleben des „österreichischen<br />

Alldeutschen" (Hitler). Angstauslösend in beiden Fällen aber ist<br />

das Faktum der Transzendenz, das Überschreiten dessen, was als<br />

gesichert, ewig, normal und natürlich galt. Daß die Darstellung des<br />

<strong>Faschismus</strong> auf dieser Ebene nur noch durch philosophische Reflexion<br />

möglich ist, liegt auf der Hand, zumal der zentrale Begriff der Transzendenz<br />

gar nicht zu trennen ist von der Tradition der europäischen<br />

Philosophie und Theologie.<br />

Wollte man zusammenfassend den Politik-Begriff Noltes, der seiner<br />

Explikation des <strong>Faschismus</strong> zugrunde liegt, auf eine prägnante<br />

Formel bringen, so könnte gesagt werden, daß der Hintergrund, vor<br />

dem er Konturen gewinnt, die „nackte" Angst vor der Veränderung<br />

eines wie auch immer gearteten status quo ist. Existentielles Bedrohtsein<br />

und dessen Korrelat, die aufs Ganze gehende Bedrohung anderer,<br />

erscheinen so zugleich als Urgrund und Wesen des Politischen<br />

Wie freilich ein so strukturierter Politik-Begriff mit der bürgerlichen<br />

Gesellschaft, deren Konstituens Nolte zufolge ja gerade die Fähigkeit'<br />

zu immer neuen geistigen und politischen „Synthesen" sein soll, zu<br />

vermitteln ist, bleibt unklar: Nolte nimmt nicht einmal den Widerspruch<br />

wahr, der zwischen der von ihm herausgestellten „Toleranz"<br />

der bürgerlichen oder liberalen Sozietät und dem fundamentalen<br />

„bellum omnium contra omnes" klafft, dem schon Hobbes und seine<br />

Nachfolger durch ein Politik-Verständnis Rechnung trugen, das jene<br />

„Toleranz" der Tendenz nach ausschloß 4 .<br />

Trotz dieser Einwände sei nochmals betont, daß Nolte in ideologiehistorischer<br />

Hinsicht wertvolle Erkenntnisse gelingen. Aber gerade<br />

deswegen ist es um so notwendiger, die beträchtlichen Schwächen<br />

seines methodischen Ansatzes herauszuarbeiten. Die Mängel der typologischen<br />

Methode sind offensichtlich. Nolte weist selbst darauf hin,<br />

daß sie auf Abstraktionen rekurriert, die ihrerseits noch ungeklärt<br />

sind. Wenn nach der typologischen Methode der „<strong>Faschismus</strong>... Antimarxismus<br />

(ist), der den Gegner durch die Ausbildung einer radikal<br />

entgegengesetzten und doch benachbarten Ideologie und die Anwendung<br />

von nahezu identischen und doch charakteristisch umgeprägten<br />

4 Insbesondere Carl Schmitt ist hier wesentlich konsequenter, wenn er<br />

postuliert, die politische Einheit (der Staat) könne Kompromisse oder, wie<br />

Nolte es nennt, „Synthesen" nur so lange dulden, wie ihre Priorität unangetastet<br />

bleibt. Denn eine politische Einheit „existiert oder sie existiert<br />

nicht. Wenn sie existiert, ist sie die höchste, d. h. die im entscheidenden<br />

Fall bestimmende Einheit" (C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin<br />

21963, S. 43).


300 Richard Saage<br />

Methoden zu vernichten trachtet, stets aber im undurchbrechbaren<br />

Rahmen nationaler Selbstbehauptung und Autonomie" (a 51), dann<br />

stellt sich die Frage, was beispielsweise Marxismus bzw. Antimarxismus<br />

heißt. Auch ist Nolte darin zuzustimmen, daß er in der Typologie<br />

eine gedankliche Konstruktion sieht, die sich dem Vergleich einzelner<br />

Faschismen verdankt, indem deren häufig hervortretende Merkmale<br />

zusammengetragen und zu einem Schema verdichtet werden, auf das<br />

hin das Material dann zu sichten und zu beziehen ist. Es wird somit<br />

mehr von außen eine Struktur dem Material dekretiert, als daß diese<br />

aus ihm selbst hervorginge. Leider bleibt für Nolte diese <strong>kritische</strong><br />

Einsicht nur verbal. Zwar will er die Typologie „aufheben", d. h. partiell<br />

negieren und zugleich teilweise konservieren 5 . Daß es aber nur<br />

zu einer „schlechten" Aufhebung kommt, wird spätestens dann klar,<br />

wenn man sich die Kriterien vor Augen führt, nach denen Nolte in<br />

seinem Buch „Die faschistischen Bewegungen" diese zu differenzieren<br />

sucht: „Als faschistisch werden ....... alle Parteien, Bewegungen und<br />

Tendenzen bezeichnet, die offenkundig weiter rechts stehen, d. h. vor<br />

allem auf radikalere Weise antikommunistisch sind als die aus der<br />

Zeit vor dem Weltkrieg bekannten rechtsgerichteten Parteien, die<br />

jedoch zugleich in sehr viel stärkerem Maße linke Elemente in sich<br />

enthalten als diese. Ganz pragmatisch und äußerlich sind sie in ihrer<br />

Vorliebe für Uniformen, ihrer Neigung zum Führerprinzip und ihrer<br />

unverhüllten Sympathie für Mussolini und Hitler bzw. für beide zu<br />

erkennen. Wenn nur einzelne dieser Kennzeichen deutlich ausgeprägt<br />

sind, darf nur von Philofaschismus oder Halbfaschismus gesprochen<br />

werden, wo bei einer Partei mit andersartigen Wurzeln ein einzelnes<br />

dieser Momente stark hervortritt (z. B. das Prinzip der bewaffneten<br />

Parteiarmee), ist unter Umständen die Bezeichnung Pseudofaschismus<br />

angebracht. Wo alle wesentlichen Momente nur in Ansätzen vorhanden<br />

sind, empfiehlt sich der Terminus Protofaschismus. Es ließe sich<br />

mithin ... ein Weg vom Proto- und Halbfaschismus über den in verschiedenen<br />

Stufen vollausgebildeten <strong>Faschismus</strong> zu einem lauwarmen<br />

Philofaschismus verstehen" (b 190). Wohin ein so strukturiertes Kategoriensystem<br />

führt, ist evident: Je spitzfindiger und differenzierter<br />

zwischen Proto-, Halb-, Voll- und Philofaschismus distinguiert wird,<br />

desto mehr tritt das Spezifische in den Hintergrund: die Funktion<br />

nämlich, die der <strong>Faschismus</strong> für die Konsolidierung der Klassenstruktur<br />

in den verschiedenen Ländern ausgeübt hat und das Aufzeigen<br />

der unterschiedlichen Mittel, derer er sich auf Grund der verschiedenen<br />

ökonomischen und politischen Entwicklungsstadien der einzelnen<br />

Länder bedienen mußte. Es impliziert objektiv eine verschleiernde<br />

Akzentverschiebung, wenn Nolte auf Grund seiner formalen Krite-<br />

5 Um einem Mißverständnis vorzubeugen, sollte festgestellt werden,<br />

daß selbstverständlich gegen eine Typologie, wie Nolte sie entwickelt hat,<br />

nichts einzuwenden ist, wenn sie zur vorläufigen Sichtung des Materials<br />

dient. Diese „Vorläufigkeit" wird von Nolte auch angedeutet, aber zur<br />

Einlösung des Versprechens kommt es nicht. Nur dagegen richtet sich die<br />

Kritik.


Bemerkungen zur <strong>Faschismus</strong>interpretation Ernst Noltes 301<br />

rien zu dem Schluß kommt, daß beispielsweise die belgische Rexistenbewegung<br />

in ihrer Anfangsphase nur deswegen keine faschistische<br />

Partei genannt werden darf, weil sie weder über uniformierte<br />

Sturmtruppen verfügte noch „die kleinste Gewaltsamkeit auf ihr<br />

Konto zu schreiben" (b 275) war.<br />

Aber es kommt noch ein weiterer Mangel hinzu. Wie unzureichend<br />

nämlich der Versuch ist, die faschistischen Gruppierungen mit Hilfe<br />

einer Definition auf den Begriff zu bringen, die einerseits selbst noch<br />

der Erklärung bedarf und die andererseits stets neue Komplemente<br />

erfordert, bis sie auf die einzelnen konkreten Phänomene „paßt",<br />

wird vollends deutlich, wenn Nolte in dem Bild-Band „Der <strong>Faschismus</strong>"<br />

seine Kriterien-Konstruktion inhaltlich so ausführt: Als faschistisch<br />

könnten zwischen 1922 und 1945 nur solche Gruppen bezeichnet<br />

werden, die ihre spezifische Existenz auf die „praktische(n) Sympathie<br />

für Mussolini bzw. später für Hitler" gründeten. Dabei sei nicht entscheidend,<br />

ob „diese Sympathie auf der Basis einer eigenständigen<br />

Entwicklung" beruhe, sondern daß aus ihr „organisatorische und<br />

ideologische Konsequenzen" (d 157) folgten. Nolte schreibt: „Ein<br />

diffuses Wohlwollen ist höchstens philofaschistisch, eine noch so prononcierte<br />

Doktrin ist allenfalls faschistoid: erst der Wille zum farbigen<br />

Hemd, bildlich gesprochen, das heißt zum militanten Kampfverband<br />

ist ein unverwechselbares Merkmal des <strong>Faschismus</strong>. Dieser<br />

Wille muß zugleich den Trieb zur Selbstständigkeit mit sich führen:<br />

eine bloße Schlägerkolonne im Dienst anderer Mächte ist nicht faschistisch.<br />

Dieser Trieb zur Selbstständigkeit kann ohne die Tendenz zu<br />

einer eigentümlichen — auch von dem verbündeten Konservativismus<br />

abweichenden Ideologie nicht existieren, er muß aber nicht notwendig<br />

in unzweideutiger Klarheit vorliegen, so wenig wie der Wille<br />

zur Uniform jederzeit realisiert sein muß. Auf der anderen Seite genügt<br />

der Begriff des nicht-staatlichen Kampfverbandes keineswegs,<br />

um den Begriff des <strong>Faschismus</strong> zu erfüllen, sonst hätten ja die Petersburger<br />

Roten Garden faschistisch sein müssen ... ,<strong>Faschismus</strong>' bedeutet<br />

weit eher eine Tendenz als totale Deckungsgleichheit in der<br />

Anschauung: es gibt eine Fülle von zweifelhaften Misch- und Übergangsformen,<br />

aber die praktische Sympathie für die Bewegungen<br />

Mussolinis und Hitlers' ist die einfachste Orientierungshilfe" (d 157).<br />

Man sieht, daß die aufgeblähte Begriffsapparatur, die, auf eine bestimmte<br />

Grunddefinition fixiert, gezwungen ist, für jede Erscheinungsform<br />

des <strong>Faschismus</strong> immer neue Deskriptionsvarianten einzuführen,<br />

vor sich selbst kapituliert: was sich angesichts der komplexen<br />

Oberfläche des Gegenstandes durchhält, ist nichts als das Mittelmaß<br />

einer Faustregel, deren dünnes Substrat uns Nolte als die „Identität"<br />

des <strong>Faschismus</strong> anbietet. Auch wenn man unterstellt, daß jene Typologien<br />

eine nuancierte Beschreibung der einzelnen Faschismen nicht<br />

ausschließen, kommt es bestenfalls zu einer bloßen Reproduktion des<br />

Gegenstandes: zu seiner Erklärung wird nicht nur nichts beigetragen,<br />

sondern sogar von ihr abgelenkt: was kategorial beschrieben erscheint,<br />

ist konsumerabel und- verliert seine bedrohlichen Perspektiven. Nicht<br />

formale Identitäten, sondern die materiellen Ursachen des <strong>Faschismus</strong>


302 Richard Saage<br />

müßten relevant werden für die theoretische Strukturierung des Materials<br />

6 . Erst dann wäre es möglich, den <strong>Faschismus</strong> in seinem vielleicht<br />

akutesten Stadium zu identifizieren: wenn er auf die Mittel des<br />

offenen Terrors weitgehend verzichten kann, weil er mit Hilfe „demokratischer"<br />

Manipulationsmechanismen sich allgemeiner, „freiwilliger"<br />

Zustimmung erfreut.<br />

Zwar bedeutet die phänomenologische Methode insofern einen<br />

Fortschritt gegenüber der Typologie, als sie weder mit bloßen Abstraktionen<br />

noch mit fertigen Schemata operieren muß. Indem sie sich<br />

jedoch auf die ideologische Selbstexplikation des <strong>Faschismus</strong> im wesentlichen<br />

beschränkt, macht sie wohl die geistesgeschichtliche Genesis<br />

der faschistischen Weltanschauung sichtbar, unterläßt es aber, sie auf<br />

ihre sozioökonomischen Grundlagen zu beziehen. Nolte setzt somit eindeutig<br />

den Hauptakzent auf die ideologisch-politische Differenz zwischen<br />

<strong>Faschismus</strong>, Liberalismus und Konservativismus, ignoriert aber<br />

zugleich deren fundamentale Identität, die in dem Postulat gründet,<br />

daß der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater<br />

Aneignung unter allen Umständen aufrechtzuerhalten sei. Auch<br />

hat die phänomenologische Methode den nicht unbedeutenden Nachteil,<br />

daß sie ihre Optik allzu einseitig auf die intellektuelle und politische<br />

Biographie der faschistischen Führer einstellen muß, zumal<br />

vom <strong>Faschismus</strong> als von einer durch das Führerprinzip charakterisierten<br />

Bewegung auszugehen ist. Zwar fällt Nolte nicht auf die<br />

faschistische Propaganda herein, der „Führer" selbst habe die Bedingungen<br />

seiner Bewegung gleichsam aus dem Nichts geschaffen: dennoch<br />

ist die Nähe zu einer personalisierenden Geschichtsschreibung<br />

nicht zu leugnen 7 . Schließlich zwingt die phänomenologische Methode<br />

dazu, weitgehend in der verstehenden Immanenz des <strong>Faschismus</strong> zu<br />

verbleiben. Dadurch ist zwar eine Distanzierung von den sog. Totalitarismustheorien<br />

möglich, aber die gesellschaftliche Funktion des<br />

<strong>Faschismus</strong> gerät aus dem Blick. Diese Schwäche wird besonders<br />

deutlich, wenn Nolte in seinem Buch „Der <strong>Faschismus</strong>" diesen anhand<br />

eines umfangreichen Bildmaterials darzustellen versucht. Zwar weist<br />

er auf die Grenzen seiner Arbeit hin, die darin bestünden, daß ein<br />

Bild-Band „gerade dasjenige nicht zu erfassen (vermag), was nicht in<br />

den Bereich der Anschauung fällt oder sich der fotografischen Dokumentation<br />

entzogen hat" (d 403). Aber der Gefahr, die ein Rückgriff<br />

auf das „ungeheure fotografische Material", das der <strong>Faschismus</strong> hinterließ,<br />

in sich birgt, nämlich die Übernahme der Blickweise, „welche<br />

es hervorgebracht hat" (d 403), entgeht Nolte nur partiell. Zwar<br />

schreibt er: „Es gibt keine Fotos von der Ermordung Matteottis, von<br />

den Erschießungen des 30. Juni 1934, von den Vorgängen in den<br />

6 Vgl. hierzu: Urs. Müller-Plantenberg, Neuere Literatur über den<br />

<strong>Faschismus</strong>, in: Das Argument 30, 3/1964, S. 146. Siehe außerdem u. a. hierzu:<br />

O. Bauer, H. Marcuse, A. Rosenberg: <strong>Faschismus</strong> und Kapitalismus.<br />

<strong>Theorien</strong> über die sozialen Ursprünge und die Funktion des <strong>Faschismus</strong>,<br />

hrsg. v. W. Abendroth, Frankfurt 1967, besonders S. 7.<br />

7 Vgl. hierzu besonders: Urs. Müller-Plantenberg, a.a.O., S. 146.


Bemerkungen zur <strong>Faschismus</strong>interpretation Ernst Noltes 303<br />

Gaskammern. Wer sich nur auf die Bilder dieses Buches verlassen<br />

wollte, erhielte gerade wegen ihrer Anschaulichkeit einen unzureichenden<br />

Eindruck. Daher ist dieser Bildband trotz aller Selbstständigkeit<br />

doch wiederum nur ein Teil einer Phänomenologie des <strong>Faschismus</strong>'<br />

in vier Bänden, und nur in deren Gesamtheit kann die<br />

Entfaltung der Frage nach dem <strong>Faschismus</strong> und der Versuch einer<br />

Antwort gefunden werden" (d 403). Indem jedoch die von Nolte veröffentlichten<br />

und interpretierten Dokumente den gesamtgesellschaftlichen<br />

Rahmen, innerhalb dessen der <strong>Faschismus</strong> fungierte, gerade<br />

nicht sichtbar machen und in den anderen Teilen des Gesamtwerkes<br />

dieser Bezugsrahmen eher verwischt wird, wirkt das fotografische<br />

Material tendenziell doch affirmativ. Eine <strong>kritische</strong> Funktion hätte es<br />

nur ausüben können, wenn nicht nur das untersucht worden wäre,<br />

was die einzelnen Faschismen subjektiv wollten und wie sie sich „sinnenfällig"<br />

(Klappentext) entfalteten, sondern vor allem, was sie objektiv<br />

für die Erhaltung bzw. „Modernisierung" der bürgerlichen Gesellschaft<br />

bewirkten. Daß die Faschisten beispielsweise politische <strong>Institut</strong>ionen<br />

des Bürgertums zerstörten, ist evident. Ebensowenig kann<br />

bestritten werden, daß sich die durch das fotografische Material reproduzierten<br />

sinnlichen Eindrücke der Faschismen kaum mit „bürgerlichen"<br />

Verhaltensweisen vereinbaren lassen. Aber legitimiert das<br />

den Schluß, sie stünden im absoluten Gegensatz zum Bürgertum?<br />

Schließlich gibt es einerseits Veränderungen auf dem Gebiet der<br />

politischen <strong>Institut</strong>ionen, die aufs Ganze gesehen für die Struktur<br />

der Gesellschaft eher konservierend wirken, wie andererseits Differenzen<br />

im sinnlichen Erscheinungsbild bestehen können, die sich als<br />

bloße Epiphänomene erweisen. Nicht zuletzt sollte aber darauf hingewiesen<br />

werden, daß die phänomenologische Methode den wichtigen<br />

instrumentellen Aspekt des Verhältnisses der Faschisten zu ihrer<br />

Ideologie wenig oder gar nicht beachten kann. Gezwungen, diese als<br />

politisch-geistige Bewußtseinslandschaft sich gleichsam selbst malen<br />

zu lassen, entzieht sich ihr jener Zynismus, der Ideologie skrupellos<br />

zur Manipulation verwandte. So gerät Nolte mindestens partiell in die<br />

Gefahr, den <strong>Faschismus</strong> als Ideologie ernster zu nehmen als dieser es<br />

je getan hat 8 .<br />

Vollends problematisch wird es jedoch, wenn Nolte mit Hilfe der<br />

philosophischen Methode den <strong>Faschismus</strong> als transpolitisches Phänomen<br />

zu fassen sucht. Diese Methode soll „zum unsichtbaren Fundament<br />

des Gebäudes vordringen" (a 516), nicht zuletzt deswegen, weil<br />

„die Politik selbst nichts Politisches mehr ist und als solche nur vor<br />

einer Folie manifest werden kann, die anderer Natur ist als sie"<br />

(a 516). Damit projiziert Nolte den <strong>Faschismus</strong> in einen Bereich außerhalb<br />

der politisch-sozialen Realität, deutet ihn als eine Erscheinung,<br />

„die in ihrem Kern zum ,menschlichen Wesen' eine gleichsam reichs-<br />

8 Vgl.: Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Soziologische Exkurse,<br />

Frankfurter Beiträge zur Soziologie, Band 4, Frankfurt 1956, S. 162—181.<br />

Auf die Bedeutung des instrumenteilen Charakters der nationalsozialistischen<br />

Ideologie weist auch hin: Urs. Müller-Plantenberg, a.a.O., S. 147.


304 Richard Saage<br />

unmittelbare Beziehung hat, sei es als Aufbrechen einer vornationalen<br />

Irrationalität, sei es als Stellungnahme zur menschlichen Natur im<br />

ganzen" (c 51). War mit der typologischen und phänomenologischen<br />

Methode wenigstens eine partielle Einsicht in die Erscheinung des<br />

<strong>Faschismus</strong> möglich, so ist jetzt die Mystifikation des Objekts vollkommen.<br />

Der <strong>Faschismus</strong> wird von Nolte an Prämissen gebunden, die<br />

als letzte ontologisch abgeschirmte Einheiten nicht mehr ableitbar sein<br />

sollen. Genau das hat aber das faschistische Selbstverständnis je gefordert.<br />

Sein konstitutives Merkmal sei der „Kampf gegen die Transzendenz"<br />

(a 515), und seinen eigentlichen Gegner sehe er in der „Freiheit<br />

zum Unendlichen", die als Widernatur schlechthin die Einheit<br />

von Weltwirtschaft, Technik, Wissenschaft und Emanzipation (a 516)<br />

umfasse. Das alles mag m. E. stimmen. Aber daß der <strong>Faschismus</strong> in<br />

der letzten Konsequenz nur vor diesem Hintergrund zu fassen sei,<br />

wirft ein bedenkliches Licht auf den methodischen Ansatz Noltes.<br />

Hier wird deutlich, wohin eine vorwiegend geistesgeschichtlich<br />

orientierte Betrachtungsweise des <strong>Faschismus</strong> führen muß: in der<br />

begrüßenswerten Absicht, diesen kritisch begreifen zu wollen, ist sie<br />

von ihm selbst dann noch durchdrungen, wenn sie ihn denkerisch zu<br />

überwinden sucht.


305<br />

Rainer Kretschmer (f) und Helmut J. Koch<br />

Der Propagandaapparat des NS-Staates<br />

A. Zur Frage der Gleichschaltung von Fresse und Rundfunk<br />

I.<br />

Bei der Analyse von Begriffen wie „Terror" und „Propaganda"<br />

waren die politologischen Reflexe lange Zeit zuverlässig konditioniert.<br />

Der meist gutdotierte Versuch, dem Kalten Krieg auch in der wissenschaftlichen<br />

Begriffsbildung zur Salonfähigkeit zu verhelfen, führte<br />

zur Gleichung Rot = Braun, also zur Totalitarismustheorie. Außer<br />

auf der fundamentalen Gleichsetzung von <strong>Faschismus</strong> und Stalinismus<br />

(und meist noch der von Stalinismus und Sozialismus/Kommunismus)<br />

beruhen diese <strong>Theorien</strong> auf der Annahme eines streng monolithischen<br />

Charakters des totalitären Systems, das frei ist von institutionalisierbaren<br />

Konflikten und jede immanente Weiterentwicklung<br />

beliebig sistieren kann. Gegenübergestellt wird dieses barsche<br />

Modell der „pluralistischen" oder „offenen Gesellschaft", also dem<br />

liberalistischen Modell, das als absolut konträr empfunden wird.<br />

Mit dem von Horkheimer empfohlenen „Rückgang auf die Tendenzen<br />

des Kapitals" läßt sich dagegen das höchst ambivalente Verhältnis<br />

von <strong>Faschismus</strong> und Kapitalismus zeigen: Nicht die Grundordnung<br />

der liberal-kapitalistischen Gesellschaft wird im <strong>Faschismus</strong><br />

zerstört, sondern lediglich die spezifische Form jener ökonomischen,<br />

politischen, juristischen und psychologischen Vermittlungen von gesellschaftlichen<br />

Interessen mit der Staatsmacht. Zerstört wird diq<br />

Form von Vermittlungen, die einzig für die Phase eines funktionierenden,<br />

relativ atomistischen Wettbewerbskapitalismus typisch waren<br />

— und auch hier eher für dessen Modell als für die Wirklichkeit —,<br />

wobei die Phase des Wettbewerbs wiederum ein sehr kurzes Intermezzo<br />

bezeichnete, das mit der großen 1873er Krise in Deutschland<br />

endgültig ausgespielt hatte. Die mit einem liberalisierten Marktsystem<br />

verbundenen ökonomischen und politischen Freiheiten wurden deswegen<br />

nicht gleich abgeschafft. Ihre Kodifizierungen in den Grundrechten<br />

und im Privatrechtssystem blieben bestehen, doch wurden<br />

sie immer mehr ausgehöhlt. Ihre endgültige, spektakuläre und auch<br />

de jure vollzogene Aufhebung markiert der faschistische Eingriff,<br />

der einen qualitativen Sprung bedeutet: An die Stelle des formell<br />

freien Marktes treten massive staatliche Interventionen, insbesondere<br />

staatlich verordneter Lohnstop, an die Stelle von Parlament und diskutierender<br />

Öffentlichkeit hierarchisierte Befehlskompetenzen und<br />

Gleichschaltung der Massenmedien, an die Stelle eines universalen<br />

Rechts mit generellen Normen das Faustrecht der politischen Justiz,<br />

an die Stelle individuationsorientierter Erziehung autoritäre psychische<br />

Kollektivierung. Dieser spektakuläre Umbau der <strong>Institut</strong>ionen


306 Rainer Kretschmer und Helmut J. Koch<br />

verdeckt die zugrunde liegende Kontinuität der herrschenden Interessen,<br />

die im Bereich der ökonomischen Verfügungsgewalt ungebrochen<br />

fortbestehen und in der Rechtsprechung lediglich den Bereich<br />

des „Politischen" für eine völlige Umorganisierung freigeben<br />

müssen. Von Grund auf verändert werden allein die <strong>Institut</strong>ionen<br />

der Politik, der Meinungsbildung und der Erziehung. Auf diese qualitativen<br />

Veränderungen, und nur auf diese, reagieren die Totalitarismustheorien<br />

der Arendt, W. Kornhauser, C. J. Friedrich u. a. Entsprechend<br />

wird der Bereich der Ökonomie gar nicht oder nur aphoristisch<br />

behandelt (meist nur mit dem Hinweis auf die Tatsache der<br />

Planwirtschaft, als hinge nicht alles davon ab, wer plant); vom<br />

Rechtssystem findet nur der Bereich der politischen Justiz Interesse;<br />

breitesten Raum nimmt die Analyse der politisch-institutionellen<br />

Veränderungen und (besonders bei Hannah Arendt) der radikal veränderten<br />

individuellen Erlebniswelt ein. Nicht also die friedliche Koexistenz<br />

von bürgerlicher Gesellschaft und faschistischem Terror,<br />

sondern lediglich die <strong>Institut</strong>ionalisierung des Terrors wird zum<br />

Wesen des <strong>Faschismus</strong> erklärt. So erschöpft sich denn die Totalitarismustheorie<br />

in der Aufzählung phänomenologisch abdestillierter „totalitärer"<br />

Merkmale, zweitens in deren Untermauerung mit unzähligen<br />

Anekdoten und locker arrangierten Fakten aus dem Machtbereich<br />

Hitlers und Stalins und drittens in der im Schlußkapitel artikulierten<br />

Erleichterung, in der „pluralistischen" Gesellschaft der „Freien Welt"<br />

leben zu dürfen. Im gleichen Maße, wie die gewaltsame Antithetik<br />

von „Pluralismus" und „Totalitarismus" die Kontinuität kapitalistischer<br />

Interessen im <strong>Faschismus</strong> unterschlägt, wird das „monolithische"<br />

faschistische System zu einem System sui generis, weil es keinen<br />

fruchtbaren Schoß mehr gibt, aus dem es hätte kriechen können.<br />

Um den <strong>Faschismus</strong> möglichst weit jenseits bürgerlicher Wohlanständigkeit<br />

ansiedeln zu können, greifen diese <strong>Theorien</strong> also zu einer<br />

doppelten Stilisierung, nämlich<br />

1. der Unterschätzung oder Leugnung faschistischer Tendenzen der<br />

bürgerlichen Gesellschaft, und<br />

2. der Überschätzung einer inneren Geschlossenheit (Monolithismustheorem).<br />

Die behauptete innere Geschlossenheit des faschistischen Systems<br />

läßt für die (wünschenswerte) Veränderung nur noch die militärische<br />

Intervention von außen sinnvoll erscheinen. Im Kontext der frühen<br />

Totalitarismustheorien in den 40er Jahren (Franz Neumann, Ernst<br />

Fraenkel, Max Horkheimer) war dies der adäquate Ausdruck der<br />

weltweiten antifaschistischen Bewegung und hatte damit eine <strong>kritische</strong><br />

Funktion. Damals wurde der <strong>Faschismus</strong> in historisch-<strong>kritische</strong>r<br />

Analyse auf den Kapitalismus bezogen. „Totalitär" hieß damals faschistisch.<br />

Mit der Beziehung des <strong>Faschismus</strong> auf den Stalinismus in<br />

einer rein phänomenologischen, unhistorischen Methode wurde die<br />

antifaschistische Sprache zugleich eine antikommunistische. „Totalitär"<br />

meinte nun faschistisch und stalinistisch (bolschewistisch, kommunistisch).<br />

Die neuen <strong>Theorien</strong> verfielen damit einem Denken, das<br />

dem Psychologen als pathisch-projektives Ingroup-Outgroup-Schema


Der Propagandaapparat des NS-Staates 307<br />

bekannt ist: die Übertragung eigener tabuierter (faschistisch-„totalitärer")<br />

Tendenzen und Neigungen auf einen Gegner (Sowjetunion),<br />

dessen unterstellte Aggressionsabsichten die eigenen Aggressionshemmungen<br />

beseitigen und zugleich eine integrative Wirkung auf<br />

die Ingroup (die „Freie Welt") dergestalt ausüben sollen, daß sie „im<br />

Zuge der Selbstverteidigung" alle jene Eigenschaften annehmen<br />

darf, die sie beim Gegner bekämpft. So wie der nordischen Rasse von<br />

den Faschisten Reinheit, Unschuld, Kraft, Treue usw. und den anderen<br />

zu bekämpfenden Rassen sexuelle „Perversion", Verwilderung,<br />

Hinterlist und Parasitentum unterstellt werden, um nach der reinlichen<br />

Scheidung die eigenen Fehler beibehalten und sie nur am Gegner<br />

bekämpfen zu können, so suggeriert die Totalitarismustheorie<br />

analog die ungetrübte Realität von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit<br />

im eigenen Lager und den Zustand totaler Unfreiheit, Ungleichheit<br />

und Angst in den „totalitären" Staaten, um diese als Aggressionsobjekt<br />

zu erhalten. Da die Totalitarismustheorien sich — wenn<br />

auch nicht mehr politologisch, so doch im vorwissenschaftlichen Raum<br />

— noch einer guten Konjunktur erfreuen, erscheint es angebracht,<br />

an einem Beispiel aus dem Bereich der Vermittlungsinstitutionen<br />

zwischen Gesellschaft und Staat die spezifische Funktion faschistischer<br />

Herrschaftsausübung zu untersuchen.<br />

II.<br />

Die Gesellschaftsordnung des organisierten Kapitalismus kennt<br />

keine Trennung mehr von Öffentlichkeit und Privatsphäre. Die kapitalistischen<br />

Privatinteressen haben sich organisiert und damit politisiert.<br />

Die Konkurrenz organisierter Privatinteressen dringt nun in<br />

die Öffentlichkeit, die allerdings zum bloßen Verkündigungsort und<br />

Werbeforum nichtöffentlich agierender privilegierter Interessen wird.<br />

Der durch nicht-öffentliche Kompromisse ausgehandelte Konsensus<br />

hat mit dem „Allgemeininteresse" nicht mehr viel zu tun, selbst<br />

wenn man berücksichtigt, daß jenes „Allgemeininteresse" sich immer<br />

nur auf das Publikum der kapitalistischen Privateigentümer bezog.<br />

Die Zentralisation des Kapitals macht aus dem „Allgemeininteresse"<br />

vollends eine Phrase, die der inszenierten Öffentlichkeit als Hülle<br />

privilegierter Interessen zugemutet wird. Es „gibt" keine Öffentlichkeit<br />

mehr, sie muß gemacht werden („Öffentlichkeitsarbeit"). Publizität<br />

wird zur Publicity.<br />

Im gleichen Maße verliert auch der Redakteur einer Zeitung seine<br />

publizistische Autonomie. In der politischen Presse untersteht er<br />

einer Aufsichtskommission, an deren Direktiven er gebunden ist. In<br />

der kommerziellen Presse geht es ihm nicht besser: Nicht mehr ein<br />

hervorragender Redakteur, sondern der Verleger gibt einer Zeitung<br />

Rang und Namen. Er erwartet von seinen Redakteuren weisungsgebundene<br />

Arbeit im privaten Interesse eines Erwerbsunternehmens.<br />

Das affiziert auch das Publikum: „Der unmittelbare Publizitätseffekt<br />

erschöpft sich nicht in jener entkommerzialisierten Werbewirkung<br />

einer aura of good will, die Zustimmungsbereitschaft produziert.<br />

Diese Publizität taugt nun über eine Beeinflussung der Konsumenten-


308 Rainer Kretschmer und Helmut J. Koch<br />

entscheidungen hinaus auch zur politischen Pression, weil sie ein Potential<br />

unartikulierter Zustimmungsbereitschaft mobil macht, das<br />

notfalls in eine plebiszitär definierte Akklamation übersetzt werden<br />

kann"K<br />

In der Tagespresse integrieren sich immer stärker die einst getrennten<br />

Bereiche von Räsonnement und Information einerseits und<br />

Belletristik andererseits: „Auf dem gemeinsamen Nenner des sogenannten<br />

human interest entsteht das mixtum compositum eines ...<br />

Unterhaltungsstoffes, der tendenziell Realitätsgerechtigkeit durch<br />

Konsumreife ersetzt und eher zum unpersönlichen Verbrauch von<br />

Entspannungsreizen ver- als zum öffentlichen Gebrauch der Vernunft<br />

anleitet" 2 . Von den Faschisten wird dieser „Feuilletonisierung<br />

des gesamten redaktionellen Inhalts" 3 eine Politisierung des Feuilletons<br />

entgegengestellt 4 . Kritisiert wird die aura of good will nicht,<br />

weil sie autoritär und denkfeindlich ist, sondern weil sie es nicht<br />

effektiv genug ist. Entsprechend wird auf „öffentliche Meinung" im<br />

klassischen Sinne verzichtet 5 , denn sie könne kein „einheitliches<br />

Wollen" herbeiführen. Die Aufgabe des Journalisten lautet jetzt<br />

unmißverständlich: „Wie der Dichter mit dem König zu gehen hat, so<br />

muß der Journalist mit dem Führer marschieren" 6 .<br />

III.<br />

Die Errichtung des „Reichsministeriums für Volksaufklärung und<br />

Propaganda" (RMVP) am 13. 3.1933 bedeutet die <strong>Institut</strong>ionalisierung<br />

und Zentralisierung der Kontrolle über die Systemkonformität der<br />

Massenmedien. Zunächst war die Presse davon betroffen. Das Schriftleitergesetz<br />

vom 4. 10. 1933 ernennt den Staat, also das RMVP, zu<br />

einer Art „Gesamtverleger", demgegenüber sich die Schriftleiter in<br />

einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis befinden.<br />

Die NS-Presse hatte vor der Machtergreifung keine sonderliche<br />

Rolle gespielt, ihr Aufstieg begann erst jetzt. Die sozialistische und<br />

linksliberale Presse wurde zerschlagen, die restliche gleichgeschaltet.<br />

Die Theorie der Gleichschaltung der Presse lieferte der nach dem<br />

Kriege wieder in Westberlin lehrende Professor für Publizistik Emil<br />

Dovifat. Die ökonomische Unterwerfung besorgte der NS-Pressetrust<br />

unter Max Amann. Die Verordnungen vom 24. 4. 1935 „Zur Wahrung<br />

der Unabhängigkeit des Zeitungsverlagswesens", „Zur Beseitigung<br />

der Skandalpresse", „Über Schließung von Zeitungsverlagen zwecks<br />

Beseitigung ungesunder Wettbewerbsverhältnisse" boten die Hand-<br />

1 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied 1962,<br />

S. 220.<br />

2 ebd., S. 187.<br />

3 Theodor Fürstenau, Das Feuilleton der <strong>Berliner</strong> Boulevardpresse von<br />

1918 bis 1933, Inaugural-Dissertation an der Univ. Berlin, 1942, S. 304.<br />

4 Vgl. Emil Dovifat, in: Handbuch der Zeitungswissenschaft. Hrsg.<br />

Walther Heide, Leipzig 1940, Bd. 1, S. 984.<br />

5 Vgl. Emil Dovifat, Zeitungslehre, Bd. 1, Berlin 1937, S. 108—111.<br />

6 Franz Kiener, Die Zeitungssprache, Inaugural-Diss. an der Univ.<br />

München, 1937, S. 119—120.


Der Propagandaapparat des NS-Staates 309<br />

habe zu weiteren Schließungen, Zusammenlegungen und Betriebsumstellungen,<br />

wobei Aktienmehrheiten an NS-Treuhandeinrichtungen<br />

ausgeliefert wurden. Auch die meisten Zeitungen des Scherl-<br />

Verlags Hugenbergs gingen an Amann über. Die Aufgabe der rechtlichen<br />

und institutionellen Gleichschaltung übernahm das RMVP,<br />

indem es alle bisher verteilten Kompetenzen der Beeinflussung und<br />

Überwachung in sich zentralisierte, systematisierte und verschärfte.<br />

Vom Innenministerium übernahm es die Überwachung von Radio,<br />

Film, Presse, Theater, die Regulierung von Staatsfeiern und -feiertagen,<br />

vom Außenministerium die Kontrolle der Auslandspropaganda,<br />

vom Postministerium einen Teil der Befugnisse in der Verwaltung<br />

des Rundfunks (Frage der Gebührenabschöpfung) und weitere,<br />

noch zu behandelnde Funktionen.<br />

Nach dem organisatorischen Vorbild der Parteiorganisation „Reichspropagandaleitung"<br />

übernahm es das Prinzip der Gliederung der<br />

verschiedenen öffentlich wirksamen Betätigungen in Kulturkammern.<br />

Das Reichskulturkammergesetz vom 22. 9. 1933 schrieb die<br />

Bildung von Kulturkammern für Film, Schrifttum, Presse, Rundfunk,<br />

Theater, Musik und Bildende Künste vor, wobei diese Kammern<br />

nach Führerprinzip organisiert und mit dem Recht der Zwangsmitgliedschaft<br />

ausgestattet waren. Die seit 1919 den Ländern zustehende<br />

Gesetzgebungskompetenz in kulturellen Angelegenheiten<br />

war somit auf das Reich, genauer: das RMVP übergegangen. Durch<br />

Erlaß vom 16. 5. 1934 mußte jeder Gau eine Landesstelle des RMVP<br />

haben, die die Bezeichnung „Reichspropagandaamt" erhielt und als<br />

Reichsbehörde galt. Diese organisatorische Erfassung von oben wurde<br />

durch eine von unten ergänzt: durch das schon erwähnte Schriftleitergesetz.<br />

Seit 1935 ist die erfolgreiche Absolvierung der Reichspresseschule<br />

die Voraussetzung für eine Neuzulassung von Schriftleitern.<br />

Die inhaltliche „Ausrichtung" der Presse wird im Wandel der<br />

Reichspressekonferenz sichtbar: Seit 1919 von der Presseabteilung<br />

der Reichsregierung betreut, von einem von Journalisten gewählten<br />

Leiter durchgeführt, wurde sie nun eine Veranstaltung des RMVP,<br />

auf der ihr jetzt beamteter (!) Leiter verbindliche Ausrichtungen und<br />

Sprachregelungen ausgab. Per Fernschreiber gingen die Anweisungen<br />

an die Reichspropagandaämter, die ihre örtlichen Pressekonferenzen<br />

abzuhalten hatten. Die Pressekonferenz war zum Befehlsempfang<br />

geworden. Die ursprüngliche Aufgabe der Unterrichtung<br />

ging immer mehr an das Deutsche Nachrichtenbüro (DNB, vormals<br />

das Wolffsche Telegrafenbüro) über. Einen kleinen Kreis von NS-<br />

Journalisten und Parteifunktionären versorgte es mit streng geheimem<br />

Material. Die DNB-Dienste Grün, Gelb, Rot und Weiß bezeichneten<br />

jeweils verschiedene Personenkreise abgestufter Vertrauenswürdigkeit.<br />

Die Schärfe der Überwachung der Presse richtete sich<br />

nach der jeweiligen politischen Relevanz. Im Zentrum der Überwachung<br />

stand die Tageszeitung, hier wieder der politische Teil,<br />

dann Wochen- und Fachzeitschriften. Die Sparten Spiel, Unterhaltung,<br />

Kunst hatten mehr Freiheit als Rundfunknachrichten, Wochen-


310 Rainer Kretschmer und Helmut J. Koch<br />

schau und politische Tagesschriftleitung. Mehr als ein Viertel der<br />

vertraulichen Presseanweisungen bestand aus Schweigegeboten, weswegen<br />

das Press Department von Auslandskorrespondenten gern<br />

Suppress Department genannt wurde. Nach einer Anweisung vom<br />

11. 12. 1936 durften keine KZ-Berichte gebracht werden. Meldungen<br />

über KZ-Flüchtlinge oder Hochverratsprozesse durften nur in der<br />

Regionalpresse erscheinen.<br />

Die deutsche Öffentlichkeit war also nicht nur konzentrisch in ein<br />

Stufensystem der Publizität eingeordnet, sie war auch regional<br />

gleichsam in wasserdichte Schotten eingeteilt, die man bei einer örtlichen<br />

Havarie sorgfältig absperrte. Bewußt ließ Goebbels jedoch<br />

einen Teil der bürgerlichen Presse mit besonderen Privilegien bestehen.<br />

Ab 1937 gab es eine besondere „Glossenkonferenz" für „kommentarfähige"<br />

Zeitungen, zu denen die „Deutsche Allgemeine Zeitung",<br />

die „Frankfurter Zeitung", die „Kölnische Zeitung", die „<strong>Berliner</strong><br />

Börsenzeitung" gehörten. Sie hatten die Aufgabe, die Langeweile<br />

bei der Lektüre hin und wieder zu durchbrechen, mit der ihnen<br />

belassenen relativen Seriosität das Image des Regimes im Ausland zu<br />

stärken und in wichtigen Augenblicken von unmittelbar bevorstehenden<br />

Gewaltakten abzulenken und sie hinterher zu rechtfertigen. Die<br />

„<strong>Berliner</strong> Börsenzeitung", der „Financial Times" vergleichbar, war<br />

beispielsweise für antibolschewistische Kampagnen zuständig, wofür<br />

sie keineswegs extra gleichgeschaltet werden mußte.<br />

IV.<br />

Die Gleichschaltung des Rundfunks war zunächst relativ einfach.<br />

Er war erst 10 Jahre alt, also ohne feste Traditionen und Methoden.<br />

Politisch immer ein getreues Spiegelbild der herrschenden Parteienkonstellationen,<br />

brauchte er bloß weiterzuspiegeln. Die Rundfunkanstalten<br />

standen zum Zeitpunkt der Machtübernahme schon unter<br />

staatlicher Regie: Nach der Rundfunkreform von 1932 gingen private<br />

Geschäftsanteile an die Länder über, die Rundfunkgesellschaften<br />

wurden in gemeinnützige G.m.b.H.'s verwandelt, die technische und<br />

wirtschaftliche Leitung übernahm die Reichs-Rundfunk-Gesellschaft<br />

(RRG). So wurden nach der Machtergreifung lediglich noch die parlamentarischen<br />

Kontrollorgane ausgeschaltet und die Rundfunkgesellschaften<br />

in „Reichssender" umgewandelt. Die bisher vom Innenministerium<br />

ausgeübte politische Kontrolle ging nun an das<br />

RMVP über, desgleichen ein großer Teil der bisherigen Funktionen<br />

der Reichspost auf dem Gebiet von Verwaltung und Wirtschaft. Die<br />

beiden Rundfunkkommissare des Reichspost- und des Reichsinnenministeriums<br />

wurden durch einen nun dem RMVP unterstellten<br />

Reichsrundfunkkommissar ersetzt. Die Rundfunk-Führungspositionen<br />

waren weitgehend als Personalunionen organisiert; zum Beispiel<br />

war Hans Kriegler gleichzeitig Leiter der Abteilung Rundfunk im<br />

RMVP und in der Reichspropagandaleitung der NSDAP sowie Präsident<br />

der Reichsrundfunkkammer. Die politische Lenkung erfolgte<br />

teilweise durch die Abteilung Rundfunk im RMVP: Sie hatte unter<br />

vorgegebenen Primaten langfristige Planungen auszuarbeiten und


Der Propagandaapparat des NS-Staates 311<br />

durchzuführen. Die aktuelle politische Ausrichtung, also die jeweilige<br />

Sprachregelung, vollzog sich zwischen Goebbels und Reichssendeleiter<br />

Hadamovsky. Beide erstrebten eine „Rundfunkeinheit unter<br />

dem Primat des Geistigen", d. h. Eingliederung der Rundfunkwirtschaft<br />

in die Reichsrundfunkkammer unter dem Primat propagandistischer<br />

Notwendigkeiten, was den Anspruch auf die Organisation<br />

der Wirtschaft nach ideologisch- propagandistischen Bedürfnissen der<br />

Faschisten, nicht den ökonomischen Bedürfnissen der kapitalistischen<br />

Produzenten bedeutete. Dieses Projekt mit dem dazugehörigen des<br />

„Reichsrundfunkrechts" — ausgearbeitet nicht vom Justizministerium,<br />

sondern von der Rechtsabteilung der Reichsrundfunkkammer !<br />

— scheiterte am Widerstand der traditionellen Ministerien der Post,<br />

Justiz und Wirtschaft.<br />

Zwar ist Goebbels als Reichspropagandaleiter der NSDAP, als Minister<br />

für Volksaufklärung und Propaganda, als Präsident der<br />

Reichskulturkammer und in Vertretung des Reichs als alleiniger Aktieninhaber<br />

der RRG in einer Machtposition ohnegleichen. Zugleich<br />

scheint er eine bloße Leerstelle zu sein, auf die die Macht gefallen ist.<br />

Goebbels bezieht seine spektakuläre Macht nicht aus entscheidenden<br />

Funktionen innerhalb der Produktionssphäre, seine Funktion ist eine<br />

rein restriktive. Er hat das ökonomische System gegen Gefährdungen<br />

zu schützen, nicht umzugestalten. Auf Machtverschiebungen zwischen<br />

den dominierenden, auf ökonomischer oder militärischer Hausmacht<br />

ruhenden Gruppen muß er seismographisch reagieren, er lenkt sie<br />

nicht. Die Doppelt- und Dreifachorganisierung z. B. der Rundfunkkompetenzen<br />

ist nicht Goebbelsscher Plan, sondern entspricht den<br />

bourgeoisen Interessen: Diese wurden schon vor der Machtergreifung<br />

nicht mehr öffentlich aufeinander abgestimmt, öffentliche Willensbildung<br />

wurde abgeschafft, nicht weil plötzlich die bourgeoisen Interessen<br />

übereinstimmten, sondern um die Konstituierung bzw. Weiterentwicklung<br />

einer sozialistischen Öffentlichkeit zu verhindern.<br />

Wie vorher werden die bourgeoisen Interessen nicht-öffentlich artikuliert:<br />

eben durch die Mehrfach-Organisierung der Kompetenzen.<br />

Das Goebbelssche Interesse verlangt vielmehr umgekehrt nach Straffung<br />

und Vereinfachung des Propagandaapparats. So propagiert er<br />

mit Hadamovsky das nationale Einheitsprogramm des Rundfunks<br />

und erreicht bis zur Jahreswende 1933/34 die Reduktion der 10 Programme<br />

auf 3 bis 4, doch im Frühjahr 1934 muß er diesen Plan wieder<br />

aufgeben. Die Gegenmaßnahmen Görings, im Juni 1933 begonnen,<br />

setzen sich durch, wobei dies ganz offensichtlich mehr ist als ein<br />

reiner Machtkampf: Der zur Expansion neigende Fachmann Goebbels<br />

wird vom weitsichtigeren Kollegen zur Ordnung gerufen. 1937 muß<br />

Goebbels Hadamovsky de facto entmachten. Am 28. 10. 1939 wird die<br />

Reichsrundfunkkammer endgültig aufgelöst, übrig bleibt lediglich<br />

die leere Hülse einer „Arbeitsgemeinschaft" der Rundfunkindustrie<br />

mit der Abteilung Rundfunk im RMVP. Die gleiche Reduktion des<br />

spezifisch faschistischen Apparats auf die bloße Funktion der politischen<br />

Kontrolle zeigt sich auf der Empfangsseite. Deren Kontrolle,<br />

etwa auch die Anordnung und Überwachung des Gemeinschafts-


312 Rainer Kretschmer und Helmut J. Koch<br />

empfangs, lag vorwiegend in den Händen der NS-Funkwarte. Soweit<br />

diese mangels befriedigenderer Aufgaben darüber hinausgingen, gerieten<br />

sie in Konflikt mit Funktionen der Reichspost und der technischen<br />

Stäbe der Elektroindustrie. Die „Dienstvorschrift für die Funkhauptstellenleiter<br />

der NSDAP" von 1937 beschränkt ihre Tätigkeit<br />

auf die rein ideologische Überwachung.<br />

Aus all dem geht hervor, daß der nationalsozialistische Staat kein<br />

totalitärer im Sinne eines alle Gesellschaftsbereiche quasi-militärisch<br />

erfassenden Einheitsstaates war, sondern nichts anderes als der politische<br />

Ausdruck eines spätkapitalistischen Gesellschaftssystems, das<br />

seine eigene Regulierung allerdings teilweise hatte aus der Hand geben<br />

müssen. Doch nicht einmal die Organisation des Propagandaapparates<br />

konnte sich über die traditionellen Interessen der fortbestehenden<br />

Wirtschaftsgruppen hinwegsetzen, sie war auch in ihrer<br />

organisatorischen Form gezwungen, darauf Rücksicht zu nehmen.<br />

Rainer Kretschmer (j)<br />

B. Charakteristische Elemente<br />

nationalsozialistischer Pressepropaganda<br />

Eine Sammelbesprechung<br />

Völkischer Beobachter. Faksimile-Querschnitt, hrsg. von<br />

Sonja Nolden und Hildegard von Kotze. Scherz Verlag, München<br />

Bern Wien 1967 (208 S., Ln., 24,80 DM).<br />

Das Schwarze Korps. Faksimile-Querschnitt, hrsg. von Helmut<br />

Heiber und Hildegard von Kotze. Scherz Verlag, München<br />

Bern Wien 1968 (208 S., Ln., 24,80 DM).<br />

Signal. Faksimile-Querschnitt, hrsg. von Hans Dollinger. Mit einer<br />

Einleitung von Willi A. Boelcke. Scherz Verlag, München Bern<br />

Wien 1969 (208 S., Ln., 24,80 DM).<br />

Das Reich. Faksimile-Querschnitt, hrsg. v. H. D. Müller. Eingeleitet<br />

von Harry Pross. Scherz Verlag, München Bern Wien 1964<br />

(208 S., Ln., 28,— DM).<br />

Frankfurter Zeitung. Faksimile-Querschnitt, hrsg. von Ingrid<br />

Gräfin Lynar. Eingeleitet von Benno Reifenberg. Scherz Verlag,<br />

München Bern Wien 1964 (208 S., Ln., 28,— DM).<br />

Hale, Oron J.: Presse in der Zwangsjacke 1933 — 1945.<br />

Droste Verlag, Düsseldorf 1965 (345 S., Ln., 24,80 DM).<br />

Abel, Karl Dietrich: Presselenkung im NS-Staat. Colloquium<br />

Verlag, Berlin 1968 (176 S., Ln., 28,— DM).<br />

Die Geschichte der NS-Presse begann 1920 mit einem Darlehen aus<br />

einem Geheimfonds der Reichswehr, mit dem Hitler die in Bayern<br />

erscheinende „unabhängige Zeitung für nationale und völkische Politik",<br />

den Völkischen Beobachter kaufte und zur Parteizeitung der<br />

NSDAP umgestaltete 1 . Bis 1929 fanden die NS-Blätter nur wenige<br />

Leser. Im Verlauf der Wirtschaftskrise jedoch schnellte die Gesamtauflage<br />

aller von der Parteileitung offiziell anerkannten Tageszei-<br />

1 Hale, S. 28.


Der Propagandaapparat des NS-Staates 313<br />

tungen mit finanzieller Unterstützung durch die hinter dem deutschnationalen<br />

Hugenberg stehende Gruppe der Großgrundbesitzer von<br />

20 000 im Jahre 1928 auf 800 000 im Jahre 1932 empor. Gleich nach<br />

der Machtübernahme ging dann das Triumvirat aus Großgrundbesitz,<br />

Industrie und Reichswehr unter dem Beifall eines bedeutenden<br />

Teils des Kleinbürgertums daran, die kommunistische und sozialdemokratische<br />

Presse auszurotten 2 : das Verlagsvermögen wurde beschlagnahmt<br />

und zum weiteren Ausbau der NS-Presse genutzt, die<br />

bereits 1933 eine Gesamtauflage von über 3 Millionen Exemplaren<br />

erreichte. Die bürgerlichen, die konfessionellen und die unpolitischen<br />

Blätter wurden auf weniger zupackende Art nach und nach durch<br />

Drohungen, Kauf und gesetzliche Regelungen des Pressewesens<br />

„gleichgeschaltet". Wie sich die Gleichschaltung im einzelnen vollzog,<br />

kann man bei Haie nachlesen. Interessant ist vor allem, daß es bereits!<br />

ab Mitte 1933 keine grundsätzliche politische Opposition in der'<br />

Presse mehr gab und daß jeder, der das versucht hätte, sich großer<br />

Gefahr — zumindest nach bürgerlichen Karrierevorstellungen —<br />

ausgesetzt hätte.<br />

Wie war es möglich, daß der <strong>Faschismus</strong> in so kurzer Zeit gegen<br />

den Willen der Arbeiterklasse, die erst sehr spät in den NS-Staat<br />

integriert werden konnte, gegen die Einsicht des aufgeklärten Bürgertums<br />

und gegen die Interessen der direkten und indirekten Finanziers<br />

des bedrohten Verlags- und Pressewesens die Herrschaft<br />

über den gesamten Presseapparat gewann? Zu dieser Frage, die doch<br />

ähnlich immer wieder gestellt werden muß, wie die Ereignisse in<br />

Griechenland oder die Konzentrationsvorgänge in der BRD und anderswo<br />

zeigen, findet man beim ehemaligen Vernehmungsoffizier<br />

Haie nichts; er kümmert sich statt dessen penetrant und sehr verständnisvoll<br />

mehr aus der Sicht von Entnazifizierungs- und Entschädigungsprozessen<br />

um die persönlichen Eigenschaften und Beziehungen<br />

von „Hitlers geschäftigen Kobolden" im Pressewesen 8 .<br />

„Wollte man eine aufs Grundsätzliche zielende Schlußfolgerung ziehen,<br />

so wäre es die, daß schon ein Mindestmaß von Sozialisierung<br />

oder Verstaatlichung der Presse, ob demokratisch oder autoritär, mit<br />

wahrer Pressefreiheit unvereinbar ist" 4 . Unter diesem organisatorischen<br />

Blickwinkel muß natürlich die Entwicklung der Presse in der<br />

Bundesrepublik als Neubeginn und Fortschritt gewertet werden, und<br />

so geschieht es ja auch immer wieder, vor allem dann, wenn es darum<br />

geht, die Kritik an Springer und ähnlichen Fällen zu entschärfen.<br />

Angesichts der Tatsache aber, daß sowohl das Prinzip der Profitorientierung<br />

auch für die Presse der NS-Zeit in weiten Bereichen<br />

gültig blieb, als auch die keineswegs auf die wirtschaftliche Seite<br />

2 „Einzig die ausgesprochene >Linkspresse< fiel zunächst der Ausschaltung<br />

durch die Nationalsozialisten zum Opfer" (Abel, S. 29). Kein Anlaß<br />

für die Bürgerlichen damals oder für Abel heute, das Ideal der Pressefreiheit<br />

unmittelbar gefährdet zu sehen.<br />

3 Hale, S. 31.<br />

4 Hale, S. 9.


314 Rainer Kretschmer und Helmut J. Koch<br />

beschränkte Monopolisierung auf dem Pressemarkt der Bundesrepublik<br />

bereits weit fortgeschritten ist, läßt sich nur noch in einem sehr<br />

begrenzten Rahmen darüber streiten, ob es um die Pressefreiheit in<br />

der BRD tatsächlich sehr viel besser bestellt ist als im Dritten Reich.<br />

Hier soll mehr der Blick darauf gelenkt werden, welche Spuren<br />

die jahrelange propagandistische Beeinflussung im Sinne der „nationalsozialistischen<br />

Weltanschauung" und die personelle Kontinuität<br />

in der veröffentlichten und überhaupt politisch wirksamen Meinung,<br />

der Nachkriegszeit hinterlassen haben. Dem bundesdeutschen Publikum<br />

wurden nach dem Krieg immer wieder die Abscheulichkeiten<br />

des NS-Staates vorgeführt. Kriegsszenen, KZ-Greuel, Fahnen und<br />

Aufmärsche, rednerische Ekstasen von Hitler und Goebbels, leeres<br />

Pathos der Sprache — das war und ist das Material, das den einem<br />

Schuldspruch Entkommenen Gelegenheit bot, ihre Unschuld zu beteuern,<br />

und das den Jüngeren das Fortleben faschistischer Ideen in<br />

manchen Bereichen verbarg. In der Reihe „Faksimile-Querschnitte<br />

durch Zeitungen" sind nun 5 Bände erschienen, die einen Einblick in<br />

den Alltag der Presse des Dritten Reiches gewähren. In der Einleitung<br />

wird jeweils der Werdegang der Zeitung — teilweise von früheren<br />

Mitarbeitern — beschrieben und kommentiert; dann folgen<br />

auf etwa 150 Seiten Auszüge aus allen Jahrgängen und Sparten, die»<br />

kurz erläutert werden. Wer etwas über konkrete Zusammenhänge!<br />

wissen will, wird auf die Originale oder andere Quellen und Darstellungen<br />

zurückgreifen müssen. Die Einleitung und die Erläuterungen<br />

vermitteln mehr Einzelheiten als geschichtliche Zusammenhänge.<br />

Derjenige dagegen, der einen allgemeinen Vergleichsmaßstab für die<br />

politische Orientierung der heutigen Presse sucht, sollte sich diese<br />

Querschnitte ansehen.<br />

Die Redaktion des Parteiorgans „Völkischer Beobachter" war von,<br />

Anfang an an Weisungen der Propagandaabteilung in der Reichsleitung<br />

der NSDAP gebunden. Dementsprechend war das, was hier erschien,<br />

für die gesamte Parteipresse verbindlich. Nach 1933 wurden<br />

die Agenturen, von denen die Zeitungen ihr Nachrichtenmaterial bezogen,<br />

vom Propagandaministerium kontrolliert. In den täglichen<br />

Reichspressekonferenzen beim Propagandaminister wurden für die<br />

gesamte Presse Richtlinien erlassen, die gelegentlich sogar auf Einzelheiten<br />

der Aufmachung eingingen 5 . Seit dieser Zeit unterschied<br />

sich der VB in der Behandlung politischer Fragen von anderen Zeitungen<br />

nur noch durch Äußerlichkeiten und durch die Schwerpunkte<br />

der Agitation. Da er weiterhin „ Kampfblatt der national-sozialistischen<br />

Bewegung Großdeutschlands" blieb, also Nachrichten nur in<br />

propagandistischer Absicht verhüllt brachte, und die nicht parteigebundenen<br />

Zeitungen mehr oder weniger notgedrungen zu einer stark<br />

selektiven und tendenziösen Berichterstattung übergingen, sank nach<br />

5 Uber die Technik der Presselenkung informiert umfassender und<br />

systematischer als Haie Karl-Dietrich Abel, Presselenkung im NS-Staat.<br />

Wie bei Haie erfährt man freilich auch hier nichts darüber, wie eine Reglementierung<br />

der Presse nach der Machtübernahme möglich war.


Der Propagandaapparat des NS-Staates 315<br />

der Machtübernahme der Informationsstand, insbesondere über das<br />

Geschehen im Ausland, erheblich ab. Der VB selbst unterhielt nur<br />

ganz wenige Auslandskorrespondenzen. In dieser Hinsicht waren die<br />

Überbleibsel der bürgerlichen Presse: die frankfurter Zeitung< und<br />

später »Das Reich< besser ausgestattet, was sich auch im Redaktionsprogramm<br />

niederschlug. So ist es nicht verwunderlich, daß diese<br />

Blätter gerade von Nazigrößen gelesen, geschätzt und dementsprechend<br />

mit einigem Respekt behandelt wurden, wozu gewiß auch die<br />

gegenüber dem VB nach den Normen des Bildungsbürgertums gehobene<br />

Sprache beitrug. Dennoch: die Auflage des VB stieg von Jahr<br />

zu Jahr, bis sie schließlich 1941 die Millionengrenze überschritt. An<br />

diesem Blatt wird nun dreierlei sichtbar. Erstens steht im VB die<br />

propagandistische Auswertung des Tagesgeschehens im Vordergrund.<br />

Darin gleicht er der bürgerlichen Sensationspresse weitaus mehr als,<br />

den Parteiorganen sozialistischer Länder mit ihren vielen Grundsatzartikeln,<br />

wovon sich diejenigen, die so sdinell mit der Gleichung<br />

„rot = braun" bei der Hand sind, durch einen Blick etwa in >Die<br />

Welt< bzw. in >Neues Deutschland< überzeugen mögen. Zweitens wird<br />

am VB deutlich, daß die NS-Partei niemals von ihren wenigen, überhaupt<br />

konkret faßbaren Zielsetzungen abgewichen ist und auch nicht<br />

sehr viel hinzugefügt hat. So heißt es etwa in einem 1928 erschienenen<br />

Artikel über die Frage des Lebensraumes: „Mit denselben Mitteln,<br />

mit denen sie (die Polen) heute unser Volk quälen, gehören sie<br />

weit nach Osten wieder dorthin zurückgedrängt, woher ihre Vorfahren<br />

gekommen sind", und: „Eine zweite Pestbeule, die den Deutschen<br />

den Boden wegnimmt, sind die Tschechen 6 ". Jedem auch nur halbwegs<br />

aufmerksamen Beobachter mußte schon vor 1933 klar sein, daß<br />

der Kurs der NSDAP auf Judenmord und Krieg zusteuerte. Dies gilt<br />

es zu bedenken, wenn über ehemalige Parteigenossen, Steigbügelhalter<br />

und Kollaborateure zu urteilen ist, die in der Bundesrepublik,<br />

heute noch entscheidende Positionen besetzt halten. Drittens schließlich<br />

stellt man an Hand des Querschnitts durch den VB leicht fest,<br />

daß die „Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei" weder eine)<br />

sozialistische noch eine Arbeiterpartei war. Es gab vor allem vor der<br />

Machtübernahme antikapitalistische Züge, aber nur, soweit es um<br />

jüdisches Kapital, die existenzbedrohenden Warenhäuser und die<br />

„Zinsknechtschaft" ging, unter der die Bauern litten. 1933 wurden<br />

die Unternehmerverbände und die Gewerkschaften aufgelöst und in<br />

einer „Deutschen Arbeitsfront" zusammengefaßt; dabei fiel dem Unternehmer,<br />

dessen Eigentum und Profitansprüche nicht angetastet<br />

wurden, getreu dem Führerprinzip die Rolle des „Betriebsführers"<br />

seiner „Gefolgschaft" zu, die er gewiß nicht ungern übernommen<br />

haben wird 7 . Die Partei machte sich im übrigen wenig eigene Gedanken<br />

über Fragen der Wirtschaftsordnung und der Wirtschaftspolitik,<br />

sondern stützte sich lieber auf die Erfahrungen und den Rat<br />

der „Wirtschaft", insbesondere der Großindustriellen, die sich ja be-<br />

6 Völkischer Beobachter, S. 78 f.<br />

7 Vgl. Wolfram Fischer, Deutsche Wirtschaftspolitik 1918—1945, S. 81.


316 Rainer Kretschmer und Helmut J. Koch<br />

reits als „schöpferische Unternehmer" bewährt hatten 8 . Dieses Desinteresse,<br />

das besser als alles andere die Interessengemeinschaft zwischen<br />

Nationalsozialismus und Kapital beleuchtet, spiegelt sich deutlich<br />

auch im VB wider, der zu wirtschaftlichen Fragen selten und in<br />

der Regel nur in propagandistischer Absicht (gegen Dawes- und<br />

Young-Plan, gegen Warenhäuser) oder zur Verherrlichung der bäuerlichen<br />

Lebensweise Stellung nahm. Unter diesen Umständen ist leicht<br />

zu verstehen, daß die Arbeiter der „Arbeiterpartei" lange Zeit fernblieben.<br />

Noch am 2. März 1933 stimmten bei Betriebsratswahlen bei<br />

der Bewag in Berlin von 3320 Arbeitern nur 83 für einen Nationalsozialisten<br />

9 . Die NSDAP war hinsichtlich ihrer nach außen hin vertretenen<br />

vagen Programmatik und hinsichtlich ihrer Wähler eine<br />

Mittelstands- und Bauernpartei; später wandelte sie sich dank des<br />

wirtschaftlichen Aufschwungs zur Volkspartei, was ihr bei ihrem<br />

konfusen Programm auch ideologisch keine Sorgen machte, zumal<br />

dies im Hintergrund schon immer ihr Selbstverständnis gewesen<br />

war. Diese Entwicklung ist im VB gut zu verfolgen. Daß sie sich nach<br />

dem Krieg unter positiv christlichem statt negativ jüdischem Vorzeichen<br />

wiederholte, wird niemand bestreiten.<br />

Mit Einleitung und Erläuterungen zum Querschnitt durch den VB<br />

haben sich die Herausgeber wenig Mühe gegeben. Die Einleitung<br />

wiederholt im wesentlichen die Angaben und Interpretationen von<br />

Haie und fügt noch einige Details hinzu. In den Erläuterungen werden<br />

Namen und Tatsachen ohne theoretische Verallgemeinerung<br />

durch Hinweis auf andere Tatsachen oder gewisse Regelmäßigkeiten!<br />

erklärt. So wird etwa zum Bericht über den Machtwechsel 10 die alte<br />

Mär von den „braven Konservativen" im Kabinett aufgetischt, die<br />

„von Hitlers vorwärtsdrängender Politik in kurzer Zeit überrannt<br />

werden sollten" und die dann offenbar so enttäuscht waren, daß, wie<br />

man im nächsten Satz erfährt, der bürgerliche Postminister Freiherr<br />

v. Eltz-Rübenach noch „1937 als einziges Kabinettsmitglied die Annahme<br />

des Goldenen Parteiabzeichens verweigerte". Vorher wird<br />

natürlich mit Zitat belegt, daß Hindenburg den „österreichischen Gefreiten"<br />

noch 3 Tage vor der Regierungsbildung nicht mochte. Geradezu<br />

tölpelhaft ist der gelegentliche Versuch der Herausgeber, nationalsozialistisches<br />

Pathos ironisch ins Lächerliche zu ziehen: das lenkt<br />

nur ab. Übrigens kannten auch die Faschisten die Waffe der Ironie<br />

und vor allem die des Zynismus, was viele Beispiele vor allem in der<br />

Zeitschrift für die SS >Das Schwarze Korps< zeigen.<br />

>Das Schwarze Korps< wurde erst 1935 von dem jungen SS-Mann<br />

Gunter d'Alquen im Einvernehmen mit Himmler und Goebbels geschaffen<br />

und war, da seine Gönner sich für die Zeitschrift nicht sonderlich<br />

interessierten, praktisch bis zum Kriegsende das Werk dieses<br />

Mannes. Da sie in der Auswahl der Themen nicht im engen Rahmen<br />

eines Vereinsblattes blieb, aufreizend geschrieben und reich bebil-<br />

8 Fischer, a.a.O., S. 79.<br />

9 Frankfurter Zeitung, S. 165.<br />

10 Völkischer Beobachter, S. 126 f.


Der Propagandaapparat des NS-Staates 317<br />

dert war, wurde sie nicht nur in der SS gelesen und ihre Auflage<br />

stieg bald auf über 500 000 Exemplare. Gelegentliche — heute kaum<br />

noch erkennbare — vorsichtige Kritik am eigenen Lager richtete sich<br />

gegen Randphänomene. Die Leser des SK waren aufgefordert, die<br />

Redaktion durch Zuschriften bei der Arbeit zu unterstützen. Daraus<br />

entstand ein für manche außerordentlich gefährliches Denunziantentum,<br />

das sich nur teilweise in den Spalten des SK widerspiegelte 11 .<br />

Das besondere Interesse des Blattes galt außer Juden Homosexuellen,<br />

Mißständen in der katholischen Kirche, dem nationalen Kitsch<br />

und den Freimaurern, die mit einem beispiellosen Zynismus angegriffen<br />

wurden. Dem wurde gegenübergestellt das Bild einer reinen<br />

„Blut-, Zucht- und Sippengemeinschaft" 12 . In dieser Zeitschrift findet<br />

man dann auch die rührenden Geschichten von Tierliebe und<br />

Naturverbundenheit, die auf solchem Hintergrund den Charakter der<br />

faschistischen Moral nur noch deutlicher zeigen. Lesenswert ist vor<br />

allem ein vom SK abgedruckter und kommentierter Brief von Tucholsky<br />

an Arnold Zweig 13 im Vergleich zu einem Artikel der Redaktion<br />

im April 1945 zum letzten Geburtstag des Führers 14 .<br />

Die Hetze gegen die Juden war von Anfang bis Ende beinahe täglich<br />

Thema der Parteipresse. Ohne viel Rücksicht auf Konfession und<br />

Rasse wurde allerdings praktisch allem, was es zu bekämpfen galt,<br />

die Marke „jüdisch" angehängt: neben den echten Juden gab es die<br />

„amerikanischen Finanzjuden", die „jüdische Plutokratie in England",<br />

die „jüdischen Bolschewisten", die „weißen Juden in der Wissenschaft"<br />

usw. Die Brutalität, mit der der NS-Staat gegen Juden<br />

vorging, hatte den Sinn, durch das Faktum der Gewalt, die sich als<br />

Strafe ausgab, die Schuld noch zu beweisen und so Lücken in der<br />

Abwehrbereitschaft zu schließen. So fiel dann der Parteipresse die<br />

Aufgabe zu, in möglichst breiter Form über Maßnahmen gegen Juden<br />

zu berichten und solche Maßnahmen anzudrohen. Die stilistisch<br />

anspruchsvollere, nicht parteioffizielle Presse hielt sich dagegen in<br />

der Hetzkampagne gegen die Juden zurück 15 . An die Stelle der Juden<br />

traten hier die — auch von der Parteipresse natürlich nicht vergessenen<br />

— „Bolschewisten".<br />

Die »Frankfurter Zeitung< wurde 1866 von Leopold Sonnemann,<br />

einem politischen Gegner Bismarcks und Vertreter rechtsstaatlicher<br />

und wirtschaftsliberalistischer Prinzipien gegründet, 1943 verboten<br />

und nach dem Krieg unter neuem Namen als „Frankfurter Allgemeine<br />

Zeitung" weitergeführt. Keine andere deutsche Zeitung kann,<br />

über einen so langen Zeitraum hinweg auf soviel Tradition in Form,<br />

11 Ein Teil der Zuschriften wurde an interessierte Stellen im Parteiund<br />

Staatsapparat, wie z. B. dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA), weitergeleitet.<br />

12 So die Herausgeber des Querschnitts durch das Schwarze Korps.<br />

13 Das Schwarze Korps, S. 76 f.<br />

14 Das Schwarze Korps, S. 204—207.<br />

15 Der Leitartikel von Goebbels in >Das Reich< von 1941 (S. 98 f.) ist<br />

allerdings ein lehrbuchreifes Beispiel für Volksverhetzung. Zu dem Verhältnis<br />

zwischen Goebbels und >Das Reich< siehe weiter unten.


318 Rainer Kretschmer und Helmut J. Koch<br />

und Inhalt zurückblicken wie dieses Blatt, durch das der Begriff und<br />

die Geschichte des politischen Bürgertums in Deutschland während<br />

der letzten 100 Jahre beschrieben wird. Nach dem Erstën Weltkrieg<br />

unterstützte die FZ den Aufbau der Republik unter sozialdemokratischer<br />

Führung. Sie war während der Weimarer Zeit, in der sie<br />

wegen ihres ausgedehnten Informationsnetzes und wegen ihrer anspruchsvollen<br />

Analysen zum Weltblatt aufstieg, dann auch immer<br />

darum bemüht, auf die Gefahr hinzuweisen, die der Republik von<br />

links- und rechtsradikaler Seite drohe. Im Bewußtsein der Gefährlichkeit<br />

nationalsozialistischer Herrschaft, aber mit einigen Illusionen<br />

hinsichtlich der Widerstandskraft des Bürgertums, des Katholizismus,<br />

der Arbeiterschaft und schließlich selbst der Kommunisten<br />

setzte sich die FZ Anfang der dreißiger Jahre dafür ein, Hitler den<br />

Eintritt in die Regierung zu verwehren. Im März 1933 gab sie die<br />

auch für den nicht eingeweihten Leser erkennbare Opposition auf.<br />

Kurz darauf ging der Verlag in das Eigentum einer Gruppe über, die<br />

eng mit dem IG-Farben-Konzern verbunden war. Als die FZ 1943<br />

aus Anlaß eines ironisierenden Porträts eines alten Kämpfers verboten<br />

wurde, war ihre Auflage auf 30 000 Exemplare gesunken. Zu<br />

dieser Zeit bestand allerdings schon 3 Jahre lang ein auf die Mentalität<br />

bürgerlicher Schichten zugeschnittener Ersatz in der Wochenzeitschrift<br />

>Das ReichDas Reich< haben ohne<br />

Zweifel viel dazu beigetragen, die bürgerlichen Ästheten mit den<br />

groben Sitten der Faschisten zu versöhnen und auch ihre politischen)<br />

Bedenken zu zerstreuen. Natürlich war die Tonart anders als in der<br />

Parteipresse. Man sendete eben auf der Frequenz, auf der das Bürgertum<br />

für nationalsozialistische Vorstellungen empfänglich war,<br />

und insofern war die politische Funktion dieser Blätter, auf einen<br />

anderen Leserkreis abgestimmt, die gleiche wie die der Parteipresse:<br />

Werbung für den NS-Staat. Das hatte Goebbels erkannt und genutzt,<br />

und es fällt schwer zu glauben, daß die klugen Köpfe in den<br />

Redaktionen es anders gesehen hätten. Das soll nicht heißen, daß<br />

nicht tatsächlich, wie vor allem die Herausgeberin des Querschnitts<br />

durch die FZ bei jeder Gelegenheit behauptet, die meisten Redakteure<br />

und Mitarbeiter dem NS-Staat mit großer Zurückhaltung ge-<br />

16 Weitere Einzelheiten zu >Das Reich< findet man außer in der Einleitung<br />

zum Faksimile Querschnitt auch im dritten Kapitel des Buches<br />

von Abel.


Der Propagandaapparat des NS-Staates 319<br />

genüberstanden. Nur muß diese Tatsache im richtigen Zusammenhang<br />

gesehen werden. Kennzeichnungen des NS-Staates nämlich<br />

haben die gleichen Redakteure und Mitarbeiter in der Nachkriegszeit<br />

von wichtigen Positionen aus selbst festlegen und publizieren können,<br />

und sie kamen dabei natürlich nicht auf den Gedanken, ihre<br />

eigenen Fundamente zu untergraben. So wurde denn auch immer<br />

übersehen, daß sich die Ideologie der Herrenrasse mit den Herrschaftsansprüchen<br />

des Kapitals im Dritten Reich sehr vorteilhaft zu<br />

einer Einheit verband, ohne die die Existenz dieses Staates kaum zu<br />

erklären ist. Die Hetze gegen den Bolschewismus und die Werbung<br />

für ein von Deutschland geführtes „freies Europa" waren wesentliche<br />

Bestandteile dieser Existensgrundlage, und gerade sie haben — im<br />

Fall der Europaidee auf einen Mitwirkungsanspruch reduziert — mit<br />

ihren Protagonisten in der bürgerlichen Presse nicht nur das Kriegsende<br />

überlebt, sondern die politische Geschichte des Nachfolgerstaates<br />

Bundesrepublik entscheidend mitbestimmt.<br />

Schon 1921 hatte die FZ die noch heute weithin akzeptierte Generallinie<br />

in der Beurteilung des Bolschewismus formuliert: „Sie [die<br />

Moskauer Gewalthaber] werden nüchtern, beharrlich und mit der<br />

rücksichtslosen, auch in der Wahl der Mittel nicht gehemmten Energie,<br />

die man an ihnen kennt, weiter auf ihr Ziel losgehen, die Welt zu<br />

revolutionieren, sofern nicht der Mißerfolg im eigenen Lande, die<br />

Unfähigkeit, mit ihrem System in Rußland eine Wirtschaft aufzurichten<br />

und die daraus entsprungene völlige Verelendung einen Zusammenbruch<br />

von innen heraus bewirken" 17 . Während der Weimarer<br />

Zeit sah die bürgerliche Presse in den Kommunisten vor allem den<br />

innenpolitischen Gegner. Für die Nationalsozialisten wurde er auf<br />

dem Hintergrund ihrer Lebensraumpolitik zum außenpolitischen<br />

Feind. Die Restbestände der bürgerlichen Presse im Dritten Reich<br />

schlössen sich dieser Beurteilung, wonach „der Bolschewismus die<br />

Grundlage aller europäischen und menschlichen Kultur bedroht" 18 ,<br />

nicht nur an, sondern machten sie zum Herzstück ihrer politischen<br />

Agitation. Das wird besonders deutlich an der Zeitschrift >Das Reichs<br />

wo in den Kriegsberichten das Bild des verarmten, unterdrückten<br />

und im Grunde nicht lebensfähigen „Iwan" gezeichnet wurde, und<br />

wo die Sowjetunion schließlich zum Feind des Abendlandes und der<br />

ganzen zivilisierten Welt erklärt wurde. Das ist keineswegs nur als<br />

Kriegspropaganda zu verstehen; denn die westlichen Alliierten wurden<br />

stets mit sehr viel mehr Respekt behandelt und am Ende sogar<br />

von Goebbels indirekt um gemeinsames Vorgehen gegen die Gefahr<br />

aus dem Osten gebeten 19 . Erschreckend ist, daß die damals systematisch<br />

ausgestreuten Hetzgeschichten inzwischen als längst gesicherte<br />

Wahrheiten ausgegeben werden, die unreflektiert einen festen Rah-<br />

17 Frankfurter Zeitung, S. 110.<br />

18 Frankfurter Zeitung, S. 201.<br />

19 Wozu in England wie in den USA durchaus nicht strikte Abneigung<br />

herrschte. Vgl. den Aufsatz von John Bagguley in D. Horowitz, ed.: Containment<br />

and Revolution, London 1967.


320 Rainer Kretschmer und Helmut J. Koch<br />

men sowohl für die Aufnahme neuer Informationen, z. B. über die<br />

Sowjetunion, als auch für politische Stellungnahmen und Entscheidungen<br />

bilden. Noch immer kann ein sonst nicht viel beachteter Präsident<br />

eines Kinderschutzbundes in den bürgerlichen Zeitungen verkünden,<br />

daß antiautoritäre Kinderläden die Kinder „systematisch zu<br />

bolschewisieren" versuchen 20 . Noch immer warnt Barzel vor der Gefahr<br />

einer „sowjetrussischen Hegemonie" 21 , um sich die der USA zu sichern.<br />

Beinahe täglich sind neue Beispiele für diese Art von Kontinuität<br />

zum Dritten Reich in den Zeitungen zu finden. Dem Wunsch<br />

nach Vernichtung des Bolschewismus entsprach der Wunsch nach<br />

einer Neuordnung Europas unter Führung Deutschlands. Wie sehr<br />

die Neuordnung Europas in der Nachkriegszeit Kapitalinteressen<br />

diente, möge man bei Ernest Mandel, „Die EWG und die Konkurrenz<br />

Europa — Amerika" nachlesen. Interessant ist, daß die FZ und >Das<br />

Reich< von Beginn des Krieges an die politisch-wirtschaftliche Einigung<br />

des „balkanisierten Kontinental-Europa" ins Auge faßten und<br />

immer wieder — wenn auch vage — als Kriegsziel beschrieben. Darin<br />

mag gewiß auch ein Appell zur Solidarität der angesprochenen Län-j<br />

der im militärischen Kampf gegen die Alliierten stecken 22 . Das Überleben<br />

dieser Idee und ihre weitgehende Realisierung in der Nachkriegszeit<br />

bestätigen jedoch, daß die Politik des Dritten Reiches wirtschaftlichen<br />

Interessen, insbesondere der Großindustrie, stark entgegenkam.<br />

Die bürgerliche Presse als Sprachrohr dieser Interessen<br />

hat nicht zum militärischen Kampf um ihre Durchsetzung aufgerufen,<br />

aber sie hat, nachdem der Kampf einmal entbrannt war, ihm<br />

einen Sinn gegeben und ihn damit gerechtfertigt. Theodor Heuß,<br />

Nickolas Benckiser, Margret Boveri, Friedrich Sieburg, Paul Sethe,<br />

Walter Henkels, Hicks, Werner Höfer, Benno Reifenberg, Manfred<br />

Hausmann, Joachim Fernau, Karl Korn, W. E. Süßkind, das sind nur<br />

einige wenige Namen von früheren Mitarbeitern der FZ oder der<br />

Zeitschrift >Das ReichDas Reich< belegen, die zugleich Musterbeispiele sind für die für<br />

diese Zeitschrift typische infame propagandistische Verzerrung unter<br />

dem Deckmantel einer zurückhaltenden, „sachlichen" Sprache.<br />

20 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. 4. 1970.<br />

21 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. 4. 1970.<br />

22 Für diesen Zweck gab es in der ausschließlich im Ausland und den<br />

eroberten Gebieten vertriebenen Illustrierten >Signal< ein spezielles Propagandamedium.


Der Propagandaapparat des NS-Staates 321<br />

E. P. Neumann, CSU-Bundestagsabgeordneter und Ehemann der<br />

Frau Noelle aus Allensbach, schrieb 1941 unter dem Pseudonym Hubert<br />

Neun in einem Stimmungsbericht über Warschau zum Judenghetto:<br />

„Es läßt sich nicht exakt angeben, ob in diesem Bezirk vierhundert-<br />

oder fünfhunderttausend Juden leben. Diese Frage ist auch<br />

nur für den Ältestenrat interessant, jene <strong>Institut</strong>ion, die selbständig<br />

und von den Ghettobewohnern gewählt für Betreuung und Organisation<br />

des Judenviertels zuständig ist. Man überläßt es ihm, um Ruhe<br />

und ausreichende Versorgung des jüdischen Bezirks bemüht zu bleiben.<br />

Man muß sich in den Gassen und Straßen des Ghettos aufgehalten<br />

haben, — dann kann man ermessen, warum es der Warschauer<br />

Verwaltung unumgänglich schien, so rasch als möglich eine Trennung<br />

zwischen den Juden und den anderen Stadtbewohnern zu ziehen.<br />

Auf den engeren Platz beschränkt, prägt sich die anarchische Lebensweise<br />

dieser Hunderttausende mit spukhafter Anschaulichkeit<br />

ein; es mag wohl kaum einen Ort des Kontinents geben, der einen so<br />

plastischen Querschnitt durch die Disziplinlosigkeit und Verkommenheit<br />

der semitischen Masse vermittelt. Mit einem Blick kann man die<br />

ungeheure abstoßende Vielfalt aller jüdischen Typen des Ostens<br />

überschauen; eine Versammlung des Asozialen, so flutet es aus<br />

schmutzigen Häusern und schmierigen Läden, straßauf und straßab,<br />

und hinter den Fenstern setzt sich die Reihe der bärtigen, bebrillten<br />

Rabbinergesichter fort — ein grausiges Panorama" 23 . Das Parteimitglied<br />

Schwarz van Berk, einflußreiches Mitglied der Redaktion, beschrieb<br />

im März 1945 die Erlebnisse der „deutschen Soldaten und Offiziere<br />

in den Jahren des Ostfeldzuges" so: „Sie stießen auf Völker,<br />

die in ihrem Lebenszuschnitt wie in ihrem Denken straff aber stur,<br />

in größter Breite, aber ohne Tiefe, auf eine einzige Norm zurechtgeschliffen<br />

waren. 25 Jahre ohne Kontakt mit der Welt leben, heißt<br />

weltfremd werden. Wie hätte die Jugend von einem anderen Glück<br />

träumen können, da sie nur das Glück in den eigenen schäbigen vier<br />

Wänden kannte? Wie hätte jemand Sehnsucht nach einem besseren<br />

Leben empfinden sollen, da alles, was war und geschah, als das einzig<br />

mögliche Leben gepriesen war. Die Götter Marx, Lenin und Stalin<br />

hatten die Welt erschaffen, und auch den Menschen dazu nach<br />

ihrem Bilde — und siehe da, es war sehr gut. Also predigten sie von<br />

den roten Kanzeln des Diesseits" 24 . Abel rechnet Neumann und<br />

Schwarz van Berk zu den Journalisten, die „über die bloße Schilderung<br />

von Frontereignissen hinaus das .Antlitz des Krieges' in einer<br />

oft ungewöhnlich realistischen, von den sonst üblichen Klischees<br />

weitgehend freien Manier zeichneten", und weist als Beleg dafür<br />

ausdrücklich auf den Artikel Schwarz van Berks hin, aus dem das<br />

Zitat stammt 25 . Abels Buch liegt seine Dissertation bei Emil Dovivat<br />

zugrunde; ein lobendes Vorwort schrieb namens der Historischen<br />

Kommission zu Berlin Hans Herzfeld.<br />

Helmut J. Koch<br />

23 Das Reich, S. 68.<br />

24 Das Reich, S. 205.<br />

25 Abel, S. 90.


322<br />

Peter Römer<br />

Vom totalen Staat<br />

zur totalen bürgerlichen Gesellschaft<br />

Einige Erwägungen anhand neuerer Analysen der Carl-Schmitt-Schule<br />

In einer neueren Analyse der Bundesrepublik finden wir folgende<br />

Ausführungen:<br />

Die Bedeutung des Grundgesetzes: Wer das Verfassungsgefüge der<br />

Bundesrepublik analysierend beschreiben will, tut gut daran, nicht von<br />

den verbalen Gegebenheiten des Grundgesetzes auszugehen. Zwar geschieht<br />

das vielfach und ein kaum noch übersehbares Schrifttum orientiert<br />

sich an den Stichworten Demokratie, Parteien, Parlamentarismus<br />

und Wahlrecht. Auf diesem Wege läßt sich jedoch die Realität des Verfassungsgefüges<br />

der Bundesrepublik nicht erschließen.<br />

Die neue Realität: Die große Veränderung, welche die Technik über die<br />

Welt gebracht hat, stellt immer deutlicher erkennbar die moderne Industriegesellschaft<br />

wie den Staat unter neue Bedingungen. Mit der fortschreitenden<br />

Durchtechnisierung der Produktion und des Handels verdichten<br />

sich die Interdependenzen. Die unternehmerische Entscheidung ist,<br />

ohne ganz zu verschwinden, der Datenauswertung gewichen. Das Ergebnis<br />

ist bei den wirtschaftlichen Vorgängen größeren Stils nicht mehr eine<br />

punktuelle Entscheidung, sondern ein Plan, an dessen Zustandekommen<br />

eine Mehrzahl von Experten mitwirkt. Die Daten, die der Berechnung<br />

zugrundeliegen, greifen mehr und mehr aus und umfassen auch nichtwirtschaftliche<br />

Fakten wie Außenpolitik (Entwicklungshilfe), Raumordnung<br />

(Industrieansiedlung), Bildungspolitik (Nachwuchs von Arbeitskräften)<br />

und vieles andere mehr. Beispiel Stabilitätsgesetz: zu behaupten,<br />

daß damit der Staat seine Suprematie über Wirtschaft und Gesellschaft<br />

bekräftigt habe, wäre voreilig. Denn das, was mit dem Gesetz angestrebt<br />

wird, entspricht ebenso den Interessen der Wirtschaft (die insoweit nicht<br />

mehr Wirtschaft im überkommenen Sinne ist) wie des Staates (der insoweit<br />

nicht mehr Staat im überkommenen Sinne ist). Vielleicht befinden<br />

wir uns in einer Entwicklung..., die den Blick in eine Zukunft eröffnet,<br />

in welcher Staat, Wirtschaft, Soziales, Kultur usw. in einer neuen, heute<br />

noch nicht benennbaren Einheit zusammenwachsen. Der große Motor<br />

einer solchen Entwicklung ist die Technik. Der amerikanische Soziologe<br />

Galbraith hat dieser, den Staat und alle gesellschaftlichen Denominationen<br />

überwölbenden Einheit, bereits einen Namen gegeben. Er nennt sie die<br />

Technostruktur, die er in den Vereinigten Staaten in wesentlichen Hinsichten<br />

bereits verwirklicht sieht. Jedenfalls sind auf diese Weise Wirtschaft<br />

und Staat weithin zu einer Funktionseinheit geworden.<br />

Staatliche Willensbildung: Die klassischen Regeln der parlamentarischen<br />

Demokratie, nach denen der Regierung eine Opposition als wirkliche<br />

Alternative gegenübersteht, gelten heute nicht mehr. Die Opposition bedeutet<br />

heute nicht mehr eine auf das Grundsätzliche der staatlichen Selbstorientierung<br />

bezogene Alternative, sondern lediglich eine Positionsvariante<br />

innerhalb des Gesamtsystems. Das System der parlamentarischdemokratischen<br />

Willensbildung (ist)... eng an die Struktur des sozialen


Vom totalen Staat zur totalen bürgerlichen Gesellschaft ' 323<br />

Ganzen angepaßt... Das gilt zunächst für die Parteien. Aber auch für die<br />

Verbände. Noch ist die aus der Weimarer Zeit stammende Auffassung<br />

nicht erloschen, daß es sich hier um eine pluralistische Zersetzung des<br />

Staates handle. Sie entspricht aber nicht mehr den heutigen Gegebenheiten.<br />

Denn ... der Staat (ist) auf die Verbände angewiesen. Wesentlich<br />

aber ist, daß das reibungslose Funktionieren und schließlich vielleicht<br />

sogar der Bestand des sozialstaatlichen Ganzen von der Bereitschaft der<br />

Menschen (abhängt), sich ihm ganz anzupassen.<br />

Möglichkeit einer Fundamentalopposition: Eine besondere Lage ist hinsichtlich<br />

einer strategischen, das sozialstaatliche System und seine Verfassung<br />

grundsätzlich angreifenden Opposition entstanden. Sie ist auf<br />

staatlicher Seite durch den Mangel an Argumenten gekennzeichnet. Wenn<br />

das, was der Staat leistet, von solchen, welche die Adaption verweigern<br />

oder welche diese Leistungen als selbstverständlich hinnehmen, nicht<br />

anerkannt wird, ist die Auseinandersetzung zu Ende. Der Staat ist auch<br />

nicht in der Lage, solchen prinzipiellen Gegnern Konzessionen zu machen,<br />

da das sozialstaatliche System mit seinen Implikationen nicht nennenswert<br />

verändert werden kann. Die relative Stabilität der öffentlichen Zustände<br />

beruht nicht auf der Überzeugungskraft der Staatlichkeit, sondern auf der<br />

sozialen Ausgeglichenheit, die ihren wirksamsten Verteidiger in der Arbeiterschaft<br />

hat. Wo es recht eigentlich um das geistige Profü des Staates<br />

geht, bei den Universitäten, genügte eine aktive Minderheit, um den staatlichen<br />

Offenbarungseid auszulösen. Dieser Fall war nicht vorgesehen in<br />

dem Konzept eines Gemeinwesens, das seine Verwirklichung in einer bestimmten<br />

Sozialordnung suchte und bis heute fand. Die Opposition, die<br />

sich einem alle Lebensbereiche umfassenden System gegenübersieht, steht<br />

vor der Alternative, sich außerhalb der Wirklichkeit zu formulieren und<br />

utopisch zu werden oder sich in der politischen Realität in der Weise zu<br />

verorten, daß sie sich in eine der Weltbürgerkriegsfronten — Moskau,<br />

Peking, Kuba — eingliedert. Damit fehlt es von vornherein an den Voraussetzungen<br />

für eine fruchtbare politische Auseinandersetzung mit<br />

systemtranszendenten Gegnern, die eine Alternative anbieten.<br />

Gesamtsystem und Ideologie: Die Leistungen dieser Funktionseinheit<br />

(von Wirtschaft und Staat) sind bedeutend. Sie gewährleistet einen hohen<br />

Grad der Beschäftigung, der der Vollbeschäftigung nahekommt, Sicherheit<br />

des Arbeitsplatzes, sozialen Aufstieg für jedermann, breite Streuung des<br />

Sozialprodukts, Unfall- und Altersversorgung und Sozialhilfe in Fällen<br />

individueller Bedürftigkeit. So rundet sich das Bild zu einem sozialen<br />

Ganzen von rational einsichtiger Struktur, in dem noch ideologische Fragmente<br />

früherer Zeiten herumgeistern, ohne — jedenfalls bis heute —<br />

ernsthafte Störungen hervorzurufen. Dieses Gefüge ist in hohem Maße<br />

durchrationalisiert, in seinem Aufbau und in dem Ineinandergreifen seiner<br />

Funktionen von einsehbarer Logik und deshalb auch analysierbar und in<br />

der Tat häufig analysiert. Zu keiner Zeit war die Gesellschaft, insbesondere<br />

die Wirtschaft, so durchorganisiert, bot sie sich der Öffentlichkeit in<br />

Macht und Machtanwendung so sichtbar dar, wie das heute der Fall ist.<br />

Ernst Forsthoff als Kritiker<br />

Manchen Betrachter der obigen Umrisse einer Realanalyse der Bundesrepublik<br />

-mag, insbesondere wenn er die gesellschaftliche und politische<br />

Entwicklung in der BRD vorwiegend aus ihrer Darstellung<br />

durch „links" gerichtete Interpreten kennt, ein Gefühl der Verwirrung<br />

und des Unbehagens überkommen. Vieles kommt ihm bekannt<br />

vor, und eine Anzahl von Details könnten wohl auch Marcuse, Habèr-


324 Peter Römer<br />

mas, Agnoli, Kirchheimer, vielleicht sogar Abendroth zugeschrieben<br />

werden; andere wiederum lassen sich mit einer solchen Urheberschaft<br />

nur schwer oder gar nicht vereinbaren. In Wirklichkeit handelt es<br />

sich um eine Zitatenzusammenstellung aus dem Aufsatz von Ernst<br />

Forsthoff „Verfassung und Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik"<br />

1 . Dieser Aufsatz ist in gewisser Weise die Fortsetzung eines<br />

berühmt gewordenen anderen desselben Autors: „Die Bundesrepublik<br />

Deutschland, Umrisse einer Realanalyse" 2 . Er unterscheidet sich von<br />

dem früher geschriebenen vor allem in zwei Punkten: Während Forsthoff<br />

1960 noch der Meinung war, die Bundesrepublik als Staat sei<br />

zur Funktion der Gesellschaft geworden 3 , betont er neuerdings die<br />

Tendenz zur Verschmelzung von Staat und Gesellschaft zu einer<br />

funktionalen Einheit; eine Veränderung des Standpunktes hat Forsthoff<br />

auch in der Frage der Möglichkeit einer innenpolitischen Krise<br />

vollzogen.<br />

Die Verschmelzung von Staat und Gesellschaft wird von Forsthoff<br />

konstatiert, aber nicht gutgeheißen. Das kommt in seinen rechtswissenschaftlichen<br />

Schriften, insbesondere in seiner Polemik gegen die<br />

Umdeutung der Grundrechte klar zum Ausdruck. Die Grundrechte<br />

werden von ihm nicht als Werte, die das gesamte staatliche und gesellschaftliche<br />

Leben strukturieren, aufgefaßt, sondern als liberale<br />

Abwehrrechte gegen den Staat 4 ; allein ein starker Staat könne dem<br />

Chaos wehren und die Freiheit bewahren, die in einer totalitären<br />

Gesellschaft in Gefahr sei, vernichtet zu werden.<br />

Gegenstand dieser Bemerkungen soll jedoch nicht das Staats- und<br />

Verfassungsverständnis Forsthoffs sein und auch nicht sein Ausspielen<br />

des Rechtsstaates gegen die Demokratie und beider gegen den<br />

Sozialstaat. Einer umfassenderen, beabsichtigten Untersuchung muß<br />

auch vorbehalten bleiben, wie die Veränderung im Verhältnis von<br />

Staat und Gesellschaft in der Rechts- und Verfassungstheorie in der<br />

BRD widergespiegelt wird. Vielmehr soll die Skizze der Realanalyse<br />

Forsthoffs, des Carl-Schmitt-Verehrers, des „Erfinders" des Begriffs<br />

der Daseinsvorsorge, des Verfassers des Standardlehrbuchs des Verwaltüngsrechts,<br />

des meistzitierten Autors des Bundesverwaltungsgerichts,<br />

des Bewunderers des nationalsozialistischen Staates 5 mit<br />

Erkenntnissen und Positionen verglichen werden, die von den Theo-<br />

1 Merkur, H. 5, Mai 1968, S. 401 ff. Bei dem hier wiedergegebenen Text<br />

handelt es sich um eine aus wörtlichen Zitaten zusammengestellte Kurzfassung<br />

dieses Aufsatzes. —• Klammern und Hervorhebungen von P. R.<br />

2 Abgedruckt in: Rechtsstaat im Wandel, Verfassungsrechtliche Abhandlungen<br />

1950—1964, 1964, S. 197 ff.<br />

3 Vgl. Rechtsstaat im Wandel, S. 201.<br />

.4 Vgl. die Umbildung des Verfassungsgesetzes, abgedruckt in: Rechtsstaat<br />

im Wandel, S. 147 ff. Siehe dazu auch Hollerbach, Auflösung der<br />

rechtsstaatlichen Verfassung? Archiv des öffentlichen Rechts, 1960, S. 241 ff.<br />

Siehe auch die neueste Äußerung Forsthoffs zu diesem Problembereich:<br />

Zur heutigen Situation einer Verfassungslehre, in: Epirrhosis, Festgabe<br />

für Carl Schmitt, Bd. 1, 1968, S. 185 ff.<br />

5 Vgl. Forsthoff, Der totale Staat, 1933.


Vom totalen Staat zur totalen bürgerlichen Gesellschaft ' 325<br />

retikern der „Linken", der sogenannten APO, erarbeitet worden sind.<br />

In zunehmendem Maße neigt — zumindest die studentische — APO<br />

nämlich dazu, sich in ihren <strong>Diskussion</strong>en abzukapseln; was sich nicht<br />

zuletzt in der Bildung einer eigenen, für Außenstehende oft nur noch<br />

schwer verständlichen Terminologie zeigt. Damit nimmt man sich<br />

nicht nur die Möglichkeit, den wissenschaftlichen Grundsatzopponenten<br />

im Detail zu widerlegen, die soziale Funktion seiner Position aufzuzeigen,<br />

man verkennt auch, daß die führenden Theoretiker des Establishments,<br />

außer einer ideologischen und herrschaftsrechtfertigenden<br />

Funktion auch die weitere haben, der Selbstverständigung der Herrschenden<br />

zu dienen und ihnen Orientierungshilfen zu liefern. Diese<br />

zweite Funktion läßt sich aber nur erfüllen, wenn die gesellschaftliche<br />

Realität und ihre Entwicklungstendenzen — zumindest partiell —<br />

zutreffend beschrieben werden. Daß aber gerade Carl Schmitt und<br />

seine Anhänger einen recht beachtlichen Spürsinn für künftige Entwicklungen<br />

gezeigt haben, läßt sich schwerlich bestreiten.<br />

<strong>Faschismus</strong> und NPD<br />

Es ist eine auf den ersten Blick verblüffende Tatsache, daß Forsthoff<br />

in seinem Aufsatz von 1968 mit keinem Wort explizit auf die<br />

NPD eingeht; seine Beschreibung der Bundesrepublik scheint hier<br />

eine Leerfläche zu haben. Es liegt nahe, in der eigenen nationalsozialistischen<br />

Vergangenheit Forsthoffs und ihrer „Bewältigung" die Ursache<br />

dafür zu sehen, daß dies offensichtlich wesentliche innenpolitische<br />

Problem nicht behandelt worden ist. Eine solche Vermutung ist<br />

jedoch in doppelter Hinsicht unzutreffend. Zum einen hat sich Forsthoff<br />

keineswegs geniert, den Nationalsozialismus auch nachträglich<br />

noch in einem gewissen Maße zu rechtfertigen, indem er in seiner<br />

Schrift „Rechtsfragen der leistenden Verwaltung" erklärte, der Staat<br />

sei in der Weimarer Republik in der Gefahr gewesen, dem gesellschaftlichen<br />

Pluralismus zum Opfer zu fallen, und habe sich dagegen<br />

— für diese Zeit folgerichtig — durch autoritäre und totalitäre Ausweitungen<br />

zu schützen versucht 6 . Zum anderen ergibt sich aus seinen<br />

Ausführungen über die neue Technostruktur und die tendenzielle<br />

Verschmelzung von Staat und Gesellschaft implizit, daß er einen<br />

neuen <strong>Faschismus</strong> nicht für wahrscheinlich hält. Sowohl aus dem<br />

vorstehenden Zitat als auch aus seiner Schrift über den totalen Staat<br />

geht klar hervor, daß für Forsthoff von <strong>Faschismus</strong> nur gesprochen<br />

werden kann, wenn ein starker, autoritärer Staat besteht, der, wenn<br />

ihm auch die Tendenz zum totalen, auch die Bereiche der Wirtschaft<br />

umfassenden Staat innewohnt, dennoch von der Gesellschaft geschieden<br />

bleibt. „Aber gerade diejenigen Bezirke, die erst jetzt neu in die<br />

Obhut des nunmehr totalen Staates genommen worden sind, wie die<br />

Wirtschaft und die Kultur, dürften durchweg für eine bürokratische<br />

Leitung nicht geeignet sein" 7 . In sie kann also der Staat allenfalls<br />

6 Forsthoff, Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, 1959, res publica<br />

Bd. 1, S. 14.<br />

7 Forsthoff, Der totale Staat, S. 35.


326 Peter Römer<br />

mit Maßnahmen, nicht aber auf Grund eigenständiger genereller<br />

Regelung eingreifen. Für Forsthoff ist der reine Rechtsstaat, d. h. der<br />

Staat, der sich existentiell in der Rechts- und Ämterordnung erschöpft,<br />

eine „Gemeinschaft ohne Ehre und Würde". Begrüßt wird<br />

der Nationalsozialismus, weil er das bürgerliche Zeitalter mit rücksichtsloser<br />

Entschlossenheit liquidiere und den Staat wiederherstelle,<br />

der nach der Abschaffung der Monarchie dem Spiel der gesellschaftlichen<br />

Kräfte ausgeliefert worden sei, und mit ihm das Politische, das,<br />

von seinem legitimen Ort vertrieben, sich in der Gesellschaft selbst<br />

angesiedelt habe 8 . Die Verselbständigung der Staatsgewalt, das Zurücknehmen<br />

des Politischen in das Staatliche, ist also für Forsthoff ein<br />

wesentliches Kennzeichen eines jeden faschistischen Systems. In der<br />

Perspektive einer funktionellen Einheit von Staat und Gesellschaft<br />

kann deshalb das <strong>Faschismus</strong>- und NPD-Problem nicht mehr in den<br />

Blick kommen, weil für Forsthoffs <strong>Faschismus</strong>theorie Staat und Gesellschaft<br />

grundsätzlich geschieden sind.<br />

Die Verselbständigung des Staates und seines Apparates ist in den<br />

<strong>Theorien</strong> über den <strong>Faschismus</strong> 9 vor allem von August Thalheimer<br />

in Anlehnung an die Schrift von Marx „Der Achtzehnte Brumaire des<br />

Louis Bonaparte" untersucht und als Charakteristikum des <strong>Faschismus</strong><br />

herausgestellt worden 10 . Dieser Ansatz Thalheimers 11 ist von<br />

Griepenburg und Tjaden mit Recht „als der begrifflich differenzierteste<br />

und am ehesten noch historisch bestätigte" 12 bezeichnet worden.<br />

Er unterscheidet sich von dem Ansatz der Totalitarismustheorien<br />

durch die Ablehnung der Formel „rot gleich braun" und vor allem durch<br />

die Erkenntnis, daß der Staat eine von der Gesellschaft abgetrennte<br />

Existenz besitzt, sich dieser gegenüberstellt und mithin auch als<br />

„totalitärer" doch Staat bleibt, indes erst der Vereinigung von Staat<br />

und Gesellschaft der Begriff Totalitarismus adäquat sein könnte.<br />

Deshalb ist auch das Nebeneinander von Norm und Maßnahme für<br />

den faschistischen Staat typisch 13 ; weil Staat und Gesellschaft sich<br />

nicht decken und deshalb staatliche und wirtschaftliche Planungen in<br />

8 Forsthoff, Der totale Staat, S. 26.<br />

9 Vgl. den informativen Überblick bei Nolte (Hrsg.), <strong>Theorien</strong> über den<br />

<strong>Faschismus</strong>, Neue Wissenschaftliche Bibliothek, 1967, S. 15 ff.<br />

10 Dieses Merkmal fehlt bei Kühnl, Deutschland zwischen Demokratie<br />

und <strong>Faschismus</strong>, Reihe Hanser, 1969, S. 143 ff. als selbständiges Merkmal<br />

des <strong>Faschismus</strong>; zu Kühnls <strong>Faschismus</strong>theorie vgl. auch Herkommer, NPD<br />

in der „formierten Gesellschaft", Das Argument 48, 10. Jg. 1968, H. 4/5,<br />

S. 309 ff.<br />

11 Vgl. Thalheimer, Uber den <strong>Faschismus</strong>, in: Bauer, Marcuse, Rosenberg<br />

u. a., <strong>Faschismus</strong> und Kapitalismus, <strong>Theorien</strong> über die sozialen Ursprünge<br />

und die Funktion des <strong>Faschismus</strong>, Hrsg. von Wolfgang Abendroth,<br />

1967, S. 19 ff.; vgl. zu Thalheimer: Tjaden, Struktur und Funktion<br />

der „KPD-Opposition" (KPO), Marburger Abhandlungen zur Politischen<br />

Wissenschaft, Hrsg. Wolfgang Abendroth, Bd. 4, 1964, S. 271 ff.<br />

12 Griepenburg-Tjaden, <strong>Faschismus</strong> und Bonapartismus, Das Argument<br />

41, 8. Jg. 1966, H. 6, S. 461.<br />

13 Vgl. Fraenkel, The dual State, 1941.


Vom totalen Staat zur totalen bürgerlichen Gesellschaft ' 327<br />

Konflikt geraten können, muß mit Einzelmaßnahmen — entweder<br />

durch die Führer des exekutivischen Apparates oder durch die Führer<br />

der Wirtschaft — eine gegenseitige Anpassung ermöglicht und die<br />

Entscheidung zwischen divergierenden Zielen wirtschaftlicher oder<br />

bürokratischer Gruppen getroffen werden. Planung im Rahmen der<br />

neuen „Technostruktur", bei Verschmelzung von Staat und Gesellschaft,<br />

umfaßt alle Lebensbereiche menschlicher Tätigkeit, läßt keinen<br />

Raum für Maßnahme und Dezisionismus, sondern kennt nur noch den<br />

Vollzug 14 . Das Festhalten Thalheimers an der Selbständigkeit der<br />

Exekutive unterscheidet seine <strong>Faschismus</strong>theorie von der bekannten<br />

Interpretation des XIII. Plenums des Exekutivkomitees der Kommunistischen<br />

Internationale und von der Dimitroffs, wonach der <strong>Faschismus</strong><br />

„die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten,<br />

chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals"<br />

15 ist. Die Absonderung des Staates bezeichnet im Gegenteil<br />

den Tatbestand, daß das Finanzkapital nicht offen und unmittelbar<br />

mit Hilfe des willenlosen Werkzeugs Exekutive herrscht, sondern sich<br />

einen partiell verselbständigten Staatsapparat schafft, der auf Grund<br />

dieser relativen Verselbständigung die Funktion übernehmen kann,<br />

Gemeinschaftsideologien zu produzieren und mit dem Schein von<br />

Richtigkeit zu bekleiden, die dem kapitalistischen System die Zustimmung<br />

der Mittelschichten und sogar von Teilen der Arbeiterklasse<br />

sichern, und der in der Lage ist, widersprüchliche Interessen der einzelnen<br />

wirtschaftlichen Gruppen zum Ausgleich zu bringen. Der kommunistischen<br />

<strong>Faschismus</strong>theorie ist aber ungeachtet dieser Einschränkung<br />

zuzugestehen, daß sie das Wesentliche des <strong>Faschismus</strong> zutreffend<br />

beschreibt. Nach dem von Czichon u. a. vorgelegten Material 16 kann<br />

der bestimmende Einfluß von Industrie und Banken bei der Aufrichtung<br />

des Nationalsozialismus und bei der Festlegung der Richtlinien<br />

seiner Politik nicht mehr ernstlich in Abrede gestellt werden. Andererseits<br />

muß auch Czichon zugeben: „Es bleibt unbestritten, daß<br />

gegenüber der Wirtschaft ein politischer Bereich mit relativierter Gesetzmäßigkeit<br />

existiert" 17 . Das Faktum des bestimmenden Einflusses<br />

des am meisten imperialistischen Teils des Kapitals darf deshalb<br />

nicht dazu verführen, die Frage nach den Formen und der Art und<br />

Weise, wie dieser Einfluß sich geltend macht, zu vernachlässigen und<br />

die von Marx und Engels nie bestrittene, vielmehr eingehend unter-<br />

14 Vgl. H. J. Arndt, Die Figur des Plans als Utopie des Bewahrens, in:<br />

Säkularisation und Utopie, Ebracher Studien, Festschrift für E. Forsthoff,<br />

1967, S. 119 ff.<br />

15 Vgl. Pirker, Komintern und <strong>Faschismus</strong> 1920—1940, Dokumente zur<br />

Geschichte und Theorie des <strong>Faschismus</strong>, Schriftenreihe der Vierteljahreshefte<br />

für Zeitgeschichte, Nr. 10, S. 187.<br />

16 Czichon, Der Primat der Industrie im Kartell der nationalsozialistischen<br />

Macht, Das Argument 47, 10. Jg. 1968, H. 3, S. 168 ff.; ders.: Wer<br />

verhalf Hitler zur Macht? Zum Anteil der deutschen Industrie an der<br />

Zerstörung der Weimarer Republik, 1967, jeweüs mit weiteren Nachweisen.<br />

17 Czichon, Das Argument 47, S. 186.


328 Peter Römer<br />

suchte relative Selbständigkeit des politischen, staatlichen und rechtlichen<br />

Uberbaus und seiner Rückwirkungen auf die ökonomische<br />

Basis in Abrede zu stellen. Dies muß bei der Erklärung des Nationalsozialismus<br />

schon deshalb zu fehlerhaften Ergebnissen führen, weil<br />

das deutsche Kapital sich diese Form der politischen Herrschaft keineswegs<br />

freiwillig, sondern durch seine geschichtliche Lage in der<br />

Krise gezwungenermaßen und in Abwehr gegen den Sozialismus gewählt<br />

hat 18 . Es bedarf keiner weiteren Ausführungen, daß Forsthoff<br />

sich über das Verhältnis von faschistischem Staatsapparat und Industrie<br />

wohlweislich ausschweigt; anderes von ihm zu erwarten, wäre<br />

abwegig. Und dennoch ist sein Standpunkt für die Gegenwart höchst<br />

interessant und aufschlußreich, weil er an die Selbststabilisierung<br />

des Systems nicht recht zu glauben vermag und deshalb den Verlust<br />

der Staatlichkeit und der Legalität beklagt, „der auf den Abbau der<br />

Schutzdämme gegen den Bürgerkrieg" 18 hinauslaufe. Der offene<br />

Bürgerkrieg, nicht der <strong>Faschismus</strong>, ist ihm die Gefahr, falls das<br />

System in dem Staat und Gesellschaft verschmolzen sind, in eine<br />

Krise geraten sollte.<br />

Die unterschiedliche Beurteilung des Entscheidungsspielraumes und<br />

der Verselbständigung der Exekutive im Nationalsozialismus durch<br />

die nichtbürgerlichen, auf Marx sich berufenden <strong>Faschismus</strong>-Theoretiker<br />

hat zu einer grundsätzlich verschiedenen Einschätzung der Gefahr<br />

eines neuen <strong>Faschismus</strong> in der Bundesrepublik, insbesondere also<br />

der Chancen der NPD, und zu einer unterschiedlichen Beurteilung<br />

der Möglichkeit einer Fundamentalopposition geführt 20 . Gemeinsamer<br />

Ausgangspunkt ist die Veränderung im kapitalistischen System, die<br />

von den Theoretikern in der DDR als das System des staatsmonopolistischen<br />

Kapitalismus beschrieben 21 und von Forsthoff und anderen<br />

bürgerlichen Autoren unter den Begriff der neuen Technostruktur<br />

gefaßt wird. Ungeheure Konzentration in der Wirtschaft, Abschaf-<br />

18 Vgl. zum Ganzen mit weiteren Nachweisen neuestens: Bracher, Die<br />

deutsche Diktatur, Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus,<br />

Studienbibliothek, 1969. Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei betont,<br />

daß keineswegs beabsichtigt ist, den Begriff des <strong>Faschismus</strong> zu bestimmen;<br />

lediglich ein Merkmal, die partielle Verselbständigung der Staatsgewalt,<br />

ist als dem <strong>Faschismus</strong> wesentlich herausgestellt worden, weil dies<br />

im hier behandelten Kontext (dem sich verändernden Verhältnis von Staat<br />

und Gesellschaft) bedeutsam ist — und damit zugleich für jede politologische<br />

Analyse, die das <strong>Faschismus</strong>problem nicht nur mit den in der Weimarer<br />

Republik entwickelten Kategorien analysieren will.<br />

19 Forsthoff, Der introvertierte Rechtsstaat und seine Verortung, in:<br />

Rechtsstaat im Wandel, S. 213 ff., S. 226.<br />

20 Vgl. die Schlußbemerkungen von Czichon, Das Argument 47, S. 191 f.,<br />

und Mason, Primat der Industrie — ? — Eine Erwiderung, Das Argument<br />

47, S. 193 ff., S. 209.<br />

21 Vgl. Hemberger, Maier, Petrak, Reinhold, Schwank (Autorenkollektiv),<br />

Imperialismus heute, Der staatsmonopolistische Kapitalismus in Westdeutschland,<br />

4. Aufl. 1967.


Vom totalen Staat zur totalen bürgerlichen Gesellschaft ' 329<br />

fung des Konkurrenz- und Marktprinzips, umfassende Planung und<br />

Formierung allen menschlichen Handelns und aller menschlichen Bedürfnisse<br />

entsprechend den Verwertungszwängen des Monopolkapitals<br />

sind die wesentlichen Kennzeichen dieses neuen Systems. Die Vertreter<br />

der Dimitroffschen <strong>Faschismus</strong>interpretation haben verständlicherweise<br />

keine Bedenken, auch unter den Bedingungen des staatsmonopolistischen<br />

Kapitalismus, wenn weitere Voraussetzungen hinzukommen,<br />

einen neuen <strong>Faschismus</strong> für denkbar und für möglich zu<br />

halten. Dies ist folgerichtig, wenn im Nationalsozialismus die offene<br />

Diktatur des Finanzkapitals erblickt und im staatsmonopolistischen<br />

Kapitalismus in Westdeutschland nur die Fortsetzung einer Entwicklung<br />

gesehen wird, die 1919 begann und im Nationalsozialismus bereits<br />

eine entscheidende Verstärkung erfuhr 22 .<br />

Die Verschmelzung von Staat und Gesellschaft muß hingegen denjenigen,<br />

die im <strong>Faschismus</strong> eine partielle Verselbständigung der<br />

Staatsgewalt sehen, diesen als historisches Zwischenspiel erscheinen<br />

lassen, dessen Ursache die Unfähigkeit des Großbürgertums zur politischen<br />

Herrschaft war. Die Fähigkeit der Selbststeuerung dieses<br />

kapitalistischen Systems — vor allem durch Vergeudungs- und Rüstungswirtschaft<br />

— und zur Manipulierung der seinen sublimen<br />

Zwängen unterworfenen Menschen wird als derart groß angesehen,<br />

daß jede Veränderung sowohl in Richtung auf den <strong>Faschismus</strong> als<br />

auch in Richtung auf sozialistische Gesellschaftsformen als utopisch<br />

erscheint.<br />

Ob es dem Kapitalismus gelungen ist oder es ihm gelingen wird,<br />

seine Grundwidersprüche zu überwinden, ob insbesondere in der<br />

BRD die funktionale Einheit von Staat und Gesellschaft soweit verwirklicht<br />

und stabilisiert ist, daß eine erneute Verselbständigung der<br />

Staatsgewalt ausgeschlossen ist, kann hier nicht weiter untersucht<br />

werden; ist aber füglich zu bezweifeln. Völlig unbestritten ist' aber<br />

von rechts bis links, daß die Tendenz zur Bildung einer funktionalen<br />

Einheit von Staat und Gesellschaft besteht; fraglich ist nur, in welchem<br />

Maße diese funktionale Einheit in der BRD bereits verwirklicht<br />

ist. Forsthoff jedenfalls spricht ausdrücklich und mit Recht nur von<br />

einer tendenziellen Entwicklung zur Technostruktur, die erst in den<br />

USA ein höheres Maß an Reife erreicht habe. Die Besonderheit seiner<br />

Position ist in der Tatsache zu erblicken, daß er (vorausgesetzt, die<br />

prognostizierte Entwicklung zur funktionalen Einheit von Staat und<br />

Gesellschaft werde eintreten bzw. sich verstärken) keineswegs die<br />

Ansicht Marcuses und seiner Anhänger teilt, dieses neue System sei<br />

endgültig selbststabilisiert und könne nur noch von außen oder von<br />

Randgruppen in Frage gestellt werden. Forsthoff gehört also weder<br />

uneingeschränkt zu den Ideologen der nivellierten Mittelstandsgesellschaft,<br />

noch überträgt er vereinfachend Erfahrungen und Begriffe<br />

aus der Weimarer Republik auf die Verhältnisse in der BRD und<br />

deren voraussichtliche Entwicklung.<br />

22 Vgl. Czichon, Das Argument 47, S. 171.


330 Peter Römer<br />

Die Möglichkeit einer Fundamentalopposition<br />

Setzt sich die Tendenz zur Einheit von Staat und Gesellschaft fort,<br />

so ist also eine Wiederholung des Nationalsozialismus immer weniger<br />

zu befürchten. Die Bemühungen derjenigen Linken, die im Herrschaftssystem<br />

der BRD — in Vorwegnahme eines zukünftigen Zustandes<br />

— diese Einheit bereits weitgehend verwirklicht sehen, dieses<br />

neue System dennoch als faschistisch, sei es neofaschistisch, faschistoid<br />

oder präfaschistisch zu charakterisieren, haben eher denunziatorisehen<br />

als erkenntnismäßigen Charakter und sind deshalb nicht geeignet,<br />

das gefährliche Neue angemessen beschreiben zu können.<br />

Diese Begriffe lassen sich sinnvoll überhaupt nur dann anwenden,<br />

wenn man — im Ergebnis zutreffend, was vorliegend jedoch nicht<br />

abgehandelt werden kann — davon ausgeht, daß die unzweifelhaft<br />

vorhandene Tendenz zur Verschmelzung von Staat und Gesellschaft<br />

in der BRD nicht zu deren wirklicher funktionalen Einheit führt, weil<br />

die Differenzen innerhalb der herrschenden Klasse die partielle Verselbständigung<br />

der Staatsgewalt auch in Zukunft erfordern werden.<br />

Bedeutet die funktionale Einheit von Staat und Gesellschaft, gesetzt<br />

den Fall, sie wäre nicht nur als Tendenz vorhanden, aber die<br />

Unmöglichkeit jeder Fundamentalopposition und die unaufhebbare<br />

Selbststabilisierung des Systems? Forsthoff gibt darauf zwei —<br />

scheinbar — widersprüchliche Antworten. Einerseits ist er der Auffassung,<br />

Opposition könne nur noch eine taktische, eine Positionsvariante,<br />

oder utopisch sein, andererseits durchzieht sein ganzes Werk<br />

die Forderung nach dem starken, dem Bürgerkrieg und dem Klassenkampf<br />

wehrenden Staat, sieht er also die Gefahr der „existentiellen<br />

Krise". Die Entwicklung der SPD, die „über das Godesberger Programm<br />

in der Richtung der Herausbildung einer solchen Positionsvariante"<br />

28 verlaufen sei, erscheint ihm deshalb als durchaus folgerichtig.<br />

Über die Veränderungen innerhalb der staatlichen Willensbildung,<br />

insbesondere über den Funktionswandel des Parlaments, ist<br />

man sich von Forsthoff bis Agnoli im klaren. Es ist unmittelbar einsichtig,<br />

daß bei dem Trend zur Zusammenfassung von Staat und Gesellschaft<br />

in ein Gesamtsystem, das an den Verwertungsbedürfnissen<br />

des Monopolkapitals ausgerichtet ist, die noch bestehenden staatlichen<br />

<strong>Institut</strong>ionen in zunehmendem Maße ungeeignet werden, ein Mittel<br />

zur Durchsetzung einer echten Alternative zu sein. Die Hoffnungen<br />

der Revisionisten aller Art, mit Hilfe der Exekutive, z. B. mit Hilfe<br />

des Monarchen, oder mittels des Zauberstabes der 51 % im Parlament<br />

eine Alternative durchzusetzen, müssen endgültig begraben werden.<br />

Sie hatten — und haben — nur bei einer Trennung von Staat und<br />

Gesellschaft den Schein von Berechtigung, weil die partielle Verselbständigung<br />

der Staatsmacht, die von der Fundamentalopposition<br />

taktisch ausgenutzt werden konnte, den Irrtum hervorzurufen vermochte,<br />

der Staat sei tatsächlich vollkommen von den gesellschaftlichen<br />

Kräften unabhängig und nicht das Produkt der herrschenden<br />

Klasse. Zieht aber Forsthoff, wie manche Linke in der Bundesrepu-<br />

23 Forsthoff, Merkur, 1968, S. 406.


Vom totalen Staat zur totalen bürgerlichen Gesellschaft ' 331<br />

blik, daraus den Schluß, das System werde also immer unangreifbarer?<br />

Sehr zutreffend — und im Unterschied zu gängigen Ansichten<br />

innerhalb der linken Opposition — weist Forsthoff darauf hin, daß<br />

das System insoweit empfindlicher geworden ist, als es in zunehmendem<br />

Maße außerstande ist, Konzessionen zu machen, vorübergehend<br />

zurückzuweichen. Die Richtigkeit dieser Behauptung ergibt sich aus<br />

der Notwendigkeit umfassender, alle Lebensbereiche erfassender Planung,<br />

in die sowohl aus technischen Gründen als auch wegen der<br />

Erwartungen und den Verhaltensdispositionen der anderen Beteiligten<br />

nicht nennenswert eingegriffen werden kann. Das System kann<br />

mit einem Kreisel verglichen werden, der sich mit hoher Geschwindigkeit<br />

dreht und der den Eindruck zu erwecken vermag, er könne in<br />

alle Zukunft mit Sicherheit, Genauigkeit und Beständigkeit seine<br />

Kreise ziehen, und der doch als Ganzes, je höher seine Geschwindigkeit<br />

wird, durch eine geringfügige Umverlagerung der Kräfte in seinem<br />

Inneren oder durch einen Anstoß von außen aus der Bahn geworfen<br />

werden kann. Forsthoff diagnostiziert durchaus richtig, daß<br />

die Tendenz zur größeren Empfindlichkeit des Systems geht, daß die<br />

existentielle Freund-Feind-Unterscheidung früher und im umfassenderen<br />

Maße eintritt und daß deshalb für eine Fundamentalopposition<br />

ein starker Zwang zur Einordnung und Entscheidung für eines der<br />

großen gesellschaftlichen und politischen Alternativsysteme zum<br />

kapitalistischen (Moskau, Peking, Kuba) besteht; Forsthoff spricht in<br />

diesem Zusammenhang von den Weltbürgerkriegsfronten. Rüdiger<br />

Altmann, dessen Analysen denen Forsthoffs sehr verwandt sind,<br />

äußert sich noch drastischer. Der Verlust der manipulierten Gesellschaft<br />

an Staatsfähigkeit birgt seiner Ansicht nach „Elemente des<br />

Katastrophalen", die „Rückseite des Fortschritts" zeigt „apokalyptische<br />

Symbole". „Mit Sozialtechniken und Globalsteuerungen, auch<br />

mit der weiteren Steigerung ihrer Produktivkräfte kann die manipulierte<br />

Gesellschaft dieser Gefahr nicht begegnen, wenn sie dabei<br />

ihren Willen zur Geschichte verliert" 24 . Der Wille zur Geschichte ist<br />

nach Altmann der Wille, den Zerfall der Welt aufzuhalten, was nur<br />

dem „Staat als Bewahrer des Fortschritts, als aufhaltende(r) Kraft"<br />

gelingen könne 25 . Der Wille zur Geschichte, zum Staat ist im Altmannschen<br />

Kontext, soviel ist klar, der Wille zum Imperialismus,<br />

zur gewalttätigen Aufrechterhaltung des Systems. Wird damit aber<br />

der objektiv-richtige Gehalt der Analysen Forsthoffs, Altmanns u. a.<br />

entwertet? Ist der Hinweis auf die Leviathane, die die Welt im zunehmenden<br />

Maße bevölkern, wissenschaftlich verbrämtes Imponierund<br />

Angstgehabe? Die prügelnden Polizisten in Chikago und Berlin,<br />

der Vietnamkrieg vor allem, zeigen eindeutig, mit welcher Rücksichtslosigkeit,<br />

Härte, Grausamkeit und brutaler Offenheit bereits<br />

dann reagiert wird, wenn auch nur in Randzonen gegen das System<br />

opponiert wird. Welche Formen die Auseinandersetzung annehmen<br />

24 Altmann, Späte Nachricht vom Staat, Merkur, 1968, H. 1, S. 5 ff.,<br />

S. 10.<br />

25 Altmann, Merkur, 1968, S. 11.


332 Peter Römer<br />

würde, wenn es wirklich um die Gesamtexistenz ginge, wagt man<br />

sich kaum auszudenken. Die Schmittianer sind, auch als die Theorie<br />

von der Überfluß- und der nivellierten Mittelstandsgesellschaft in<br />

voller Blüte stand, dieser Harmonisierungsideologie nie aufgesessen,<br />

im Gegensatz zu manchen Linken. Ihre Entscheidung für den autoritären<br />

und gegebenenfalls auch den nationalsozialistischen Staat —<br />

dies muß man zugeben, gerade wenn man diese Entscheidung ablehnt<br />

— enthält jedenfalls mehr und exakte Beobachtung der gesellschaftlichen<br />

und politischen Wirklichkeit und mehr Folgerichtigkeit als die<br />

Mao-Zitatspielereien der studentischen APO angesichts der sich abzeichnenden<br />

Gefahr einer Weltbürgerkriegssituation. Die Arbeiter in<br />

der Bundesrepublik beweisen sehr viel richtigen Klasseninstinkt,<br />

wenn sie Versuche, ausgerechnet in der Bundesrepublik mit ihren<br />

Grenzen und ihrer Vergangenheit die Revolution als Happening zu<br />

veranstalten, gar nicht zur Kenntnis nehmen.<br />

Gegen die Forsthoffsche apokalyptische Vision der Möglichkeit<br />

eines Bürgerkrieges könnte allerdings eingewandt werden, eine solche<br />

Situation verlange den stärksten Einsatz staatlicher Machtmittel, von<br />

Polizei und Armee — damit werde aber die prognostizierte Einheit<br />

von Staat und Gesellschaft wieder aufgehoben und der Staat restauriert.<br />

Ein solcher Einwand kann nur wegen der Unklarheit des Staatsbegriffs<br />

erhoben werden 26 . Die funktionale Einheit von Staat und<br />

Gesellschaft im Kapitalismus bedeutet nicht die Auflösung der normativen<br />

Zwangsordnung — insoweit bleibt der Staat notwendigerweise<br />

erhalten —, bedeutet nicht die Aufhebung der Herrschaft über<br />

die Menschen und ihre Ersetzung durch die Verwaltung von Sachen<br />

und die Regelung von Produktionsabläufen; dies ist nur im Sozialismus<br />

möglich. Polizei, exekutive Gewalt verschwinden in der Einheit<br />

von Staat und Gesellschaft nicht. Gemeint ist vielmehr, daß der Staat<br />

in seinem „Gegensatz" zu Gesellschaft zu existieren aufhört, und<br />

zwar sowohl in seiner „wirklichen Realität", in seiner relativen und<br />

partiellen Verselbständigung gegenüber der Gesellschaft, als auch in<br />

seiner bloß scheinbaren Realität (die, wenn auch nur als Schein, dennoch<br />

im liberalen, noch nicht staatsmonopolistischen Kapitalismus<br />

wirksam war), in der er als Vertreter des Gemeinwohls und des<br />

Kollektivinteresses auftrat. Die Verschmelzung von Staat und Gesellschaft<br />

im Monopolkapitalismus bedeutet also nicht das Absterben des<br />

Staates, sondern die Übernahme des „staatlichen" Apparates und der<br />

„staatlichen" Aufgaben in die unmittelbare, eigene Regie der herrschenden<br />

Klasse. Der Staat ist dann nichts als der führende Teil der<br />

Privatwirtschaft selbst' 27 . Dann aber kann er seine frühere, teils reale,<br />

26 Einen guten Überblick über die Staatsbegriffe gibt noch immer<br />

Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, Kritische<br />

Untersuchung des Verhältnisses von Staat und Recht, 2. Aufl. 1928.<br />

27 Vgl. zu dieser Rolle des Staates: Hofmann, Notstand der Demokratie,<br />

Referate, <strong>Diskussion</strong>sbeiträge und Materialien vom Kongreß am<br />

30. Oktober 1966 in Frankfurt am Main, Sammlung res novae, Bd. 34,<br />

S. 99 ff., insbes. S. 101, und ders., Die Krise des Staates und des Rechts,<br />

Kritische Justiz, H. 1, 1968, S. 1 ff.


Vom totalen Staat zur totalen bürgerlichen Gesellschaft ' 333<br />

teils ideologisch-scheinbare Rolle als Vermittler zwischen den Klasseninteressen<br />

nicht mehr spielen, so daß, wenn es zu dem Konflikt<br />

kommt, die Bürgerkriegslage, die Forsthoff befürchtet, eintritt.<br />

Ein Bürgerkrieg in den hochindustrialisierten Staaten würde, wenn<br />

er in einer Situation begonnen werden würde, in der eine der Parteien<br />

nicht so stark ist, daß sie in relativ kurzer Zeit den Sieg erringen<br />

kann, einen entsetzlichen Rückfall in äußerste Barbarei bedeuten,<br />

von der sich selbst die fortschrittliche und demokratische Partei, falls<br />

sie gewinnen sollte, erst nach langer Zeit erholen könnte; die Greuel<br />

eines solchen Krieges würden alles, was während des Zweiten Weltkrieges<br />

in der Welt und danach in Algerien, Indonesien, Vietnam und<br />

anderswo an Greueln geschehen ist, noch in den Schatten stellen;<br />

man denke z. B. nur an die Weiterentwicklung der chemischen und<br />

biologischen Waffen. Weite Kreise der Linken in den westlichen,<br />

hochindustrialisierten Staaten, insbesondere unter den Intellektuellen,<br />

sind derart auf die Suche nach dem „revolutionären Subjekt" fixiert,<br />

haben die Fähigkeit des Systems zur Manipulation der Beherrschten<br />

in einem solchen Maße übersteigert (Religion, Chauvinismus waren<br />

schließlich auch recht beachtliche Manipulationsinstrumente), daß<br />

jede längerfristige Perspektive fehlt, was denn für eine Strategie<br />

einzuschlagen sei, wenn Krisen im staatsmonopolistischen Kapitalismus<br />

auftreten und die „unteren Schichten" nicht mehr in der alten<br />

Weise weiterleben wollen. Das hat sich im Mai 1968 in Frankreich<br />

sehr deutlich gezeigt; in der Euphorie darüber, daß sich in Teilen der<br />

Bevölkerung, vor allem unter den Jugendlichen, eine revolutionäre<br />

Stimmung ausbreitete, wurde jede konkrete Analyse der tatsächlichen<br />

Machtverhältnisse unterlassen, und man war bereit, sich in Abenteuer<br />

zu stürzen, die mit Sicherheit zu einer völligen Niederlage und Zerschlagung<br />

aller fortschrittlichen Kräfte geführt hätte, weil die Armee<br />

hinter de Gaulle stand und ein großer Teil der Bevölkerung, insbesondere<br />

das gesamte Bürgertum, sich, wenn es zum offenen Kampf gekommen<br />

wäre, für die „Partei der Ordnung" entschieden hätte. In<br />

dieser Situation meinten viele dem roten Banner des Marxismus zu<br />

folgen — und stolperten in Wirklichkeit nur dem roten Schopf eines<br />

beredten Studenten nach. Lenin hat zutreffend festgestellt, die Revolution<br />

könne nur siegen, wenn die „unteren Schichten" nicht mehr in<br />

der alten Weise weiterleben wollen und die „oberen Schichten" es<br />

nicht mehr können. Die zweite Voraussetzung muß auch gegeben sein;<br />

das heißt nicht, man solle einfach abwarten, bis der Kapitalismus<br />

zusammenbricht. Die „unteren Schichten" müssen vielmehr selbst die<br />

Unfähigkeit der oberen, die Macht zu behalten, bewirken. Die Auseinandersetzung<br />

darf aber erst dann aufgenommen werden, wenn die<br />

objektive Situation dazu drängt. Der Grundwiderspruch des Kapitalismus,<br />

der Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter<br />

der Produktion und dem privaten der Produktionsverhältnisse, demgemäß<br />

das gesellschaftlich Produzierte privat angeeignet wird 28 , muß<br />

28 Vgl. Basso, Zur Theorie des politischen Konflikts, edition suhrkamp<br />

308, S. 9 mit weiteren Nachweisen.


334 Peter Römer<br />

deshalb sehr stark zugespitzt und offenkundig sein, ehe eine Veränderung<br />

der Produktionsverhältnisse konkret verwirklicht werden<br />

kann. Es ist unzweifelhaft, daß dieser Widerspruch in den kapitalistischen<br />

Staaten immer stärker wird (übrigens in Frankreich, trotz planification<br />

noch nicht so groß ist wie in den USA und in der BRD),<br />

weil die Konzentration des Kapitals ständig und in immer beschleunigterem<br />

Maße zunimmt, die „staatliche" Regulierung von Produktion<br />

und Distribution immer größere Bedeutung gewinnt. Fraglich ist<br />

aber, ob dieser Widerspruch auch den von ihm Betroffenen bewußt<br />

wird. Forsthoff und andere Schmittianer beantworten diese Frage,<br />

wie ausgeführt, im Gegensatz zu zahlreichen Linken, dahin, daß die<br />

Gefahr des Konflikts besteht; sie beklagen die „staatsideologische<br />

Unterbilanz", eben weil sie unausgesprochen befürchten, daß dieser<br />

Widerspruch erkannt und deshalb die Forderung auf seine Aufhebung<br />

erhoben wird, ohne daß dieser Forderung entgegengehalten<br />

werden kann, der Staat besorge das Gemeinwohl und der „Wirtschaft"<br />

müsse, in gewissen Grenzen, das Recht gewährt werden, sich<br />

nach ihren eigenen „Gesetzen", denen des Marktes, zu richten.<br />

Manipulation und Ideologie<br />

Forsthoff und Altmann zeigen zwar die „Gefahr" auf und stützen<br />

insoweit nicht die Beschwichtigungsideologie der klassenlosen nivellierten<br />

Mittelstandsgesellschaft. Aber die reale Ursache der „Gefahr"<br />

können sie, ohne ihren Standpunkt aufzugeben, nicht benennen. Altmann<br />

betont vielmehr, entgegen dem geradezu überwältigenden<br />

Augenschein, der Verlust an Staatlichkeit sei kein Sieg der Wirtschaft<br />

oder wirtschaftlicher Interessen, sondern die Durchsetzung technologischer<br />

Methoden, „abgestützt durch Ökonometrie und Verhaltensforschung"<br />

29 . Und auch Forsthoff behauptet, die „soziale Ausgeglichenheit"<br />

habe ihren wirksamsten Verteidiger in der Arbeiterschaft.<br />

Es lohnt kaum die Mühe, darauf hinzuweisen, daß bei zunehmender<br />

Konzentration der Produktionsmittel in den Händen einer winzigen<br />

Schicht von sozialer Ausgeglichenheit schlechterdings nicht die Rede<br />

sein kann. Andererseits ist aber die Feststellung, daß bei den Arbeitern<br />

in der BRD keine revolutionäre Stimmung herrsche, nicht unrichtig.<br />

Woher also die „Elemente des Katastrophalen in der Dynamik<br />

von Wirtschaft und Gesellschaft" kommen sollen, bleibt bei Altmann<br />

unerklärt. Als bedeutsam ist nur festzustellen, daß die Schmittianer<br />

von Altmann bis Werner Weber der Stabilität der zur neuen Technostruktur<br />

zusammengewachsenen Einheit von Staat und Gesellschaft<br />

im Rahmen des Kapitalismus nicht trauen und dem starken, autoritären<br />

Staat nachtrauern. Und dies, so ist zu ergänzen, wegen des immer<br />

offenkundiger werdenden kapitalistischen Grundwiderspruchs<br />

von ihrem Standpunkt aus zu Recht.<br />

Der Einwand, dieser Widerspruch ließe sich trotz seiner objektiven<br />

Zuspitzung der Arbeiterschaft nicht mehr vermitteln, greift nicht<br />

29 Altmann, Merkur, 1968, S. 9.


Vom totalen Staat zur totalen bürgerlichen Gesellschaft ' 335<br />

durch 80 . Der mit „der privatwirtschaftlichen Kapitalverwertung nach<br />

wie vor in die Struktur der Gesellschaft eingebaute Konflikt" ist nach<br />

Habermas 31 derjenige, „der mit der relativ größten Wahrscheinlichkeit<br />

latent" bleibe, denn der staatlich geregelte Kapitalismus lege<br />

durch eine Konfliktvermeidungspolitik den Klassenkampf still. Die<br />

These, der Grundwiderspruch des Kapitalismus manifestiere sich<br />

nicht mehr in einzelnen konkret erfahrbaren Krisen, die dann den<br />

von ihnen Betroffenen auch in ihren Ursachen und ihrem Gesamtzusammenhang<br />

mit der Organisation des Systems theoretisch<br />

vermittelbar sind, wird m. E. zutreffend von zahlreichen marxistischen<br />

Theoretikern bestritten. Dies Problem kann im vorliegenden<br />

Zusammenhang nicht vertieft werden, jedoch sei darauf hingewiesen,<br />

daß die Rezession in der Bundesrepublik und die Art ihrer Behebung<br />

zwar einerseits die Habermassche These von der Selbststabilisierung<br />

stützt, andererseits aber den Konzentrationsprozeß beschleunigt, die<br />

„Formierung" der Gesellschaft vorangetrieben und damit den Grundwiderspruch<br />

verstärkt hat; vor allem hat sich gezeigt, daß Vollbeschäftigung,<br />

die man braucht, will man die Arbeiter für sich gewinnen,<br />

nur bei hohen Profiten gewährleistet werden kann; diese hohen<br />

Profite aber waren bei gleichzeitiger Stagnation der Löhne und der<br />

Massenkaufkraft nur durch eine günstige außenwirtschaftliche Lage<br />

und durch Export zu erzielen. Nur dadurch war es möglich, daß die<br />

hohe Zuwachsrate der Produktion und die stagnierende effektive<br />

innere Nachfrage nicht zu einer neuen, noch stärkeren Krise geführt<br />

haben.<br />

Radikaler, d. h. die Wurzeln des Marxismus angreifend, als die<br />

These von der Latenz des kapitalistischen Grundwiderspruchs ist<br />

folgende Behauptung von Habermas: „Wenn sich die Gesellschaft<br />

nicht mehr ,autonom' — und das war das eigentlich Neue an der kapitalistischen<br />

Produktionsweise — als eine dem Staat voraus- und<br />

zugrunde liegende Sphäre selbstregulierend erhält, stehen Staat und<br />

Gesellschaft nicht länger in einem Verhältnis, das die Marxsche<br />

Theorie als das von Basis und Überbau bestimmt hatte. Dann aber<br />

kann eine <strong>kritische</strong> Theorie der Gesellschaft auch nicht mehr in der<br />

ausschließlichen Form einer Kritik der Politischen Ökonomie durchgeführt<br />

werden. Eine Betrachtungsweise, die die ökonomischen Bewegungsgesetze<br />

methodisch isoliert, kann nur so lange beanspruchen,<br />

den Lebenszusammenhang der Gesellschaft in seinen wesentlichen<br />

Kategorien zu erfassen, als Politik von der ökonomischen Basis abhängig<br />

ist und diese nicht umgekehrt auch schon als eine Funktion<br />

von Staatstätigkeit und politisch ausgetragenen Konflikten begriffen<br />

30 Vgl. Abendroth, Demokratisch-liberale oder revolutionär-sozialistische<br />

Kritik? in: Die Linke antwortet Jürgen Habermas, res novae provokativ,<br />

S. 131 ff., s. auch ders., Zum Problem der Rolle der Studenten und<br />

der Intellektuellen in den Klassenauseinandersetzungen der spätkapitalistischen<br />

Gesellschaft, Das Argument, H. 45, Dez. 1967, S. 409 ff.<br />

31 Habermas, Technik und Wissenschaft als „Ideologie", edition suhrkamp<br />

187, S. 84.


336 Peter Römer<br />

werden muß. Kritik der Politischen Ökonomie war, Marx zufolge,<br />

Theorie der bürgerlichen Gesellschaft nur als Ideologiekritik. Wenn<br />

aber die Ideologie des gerechten Tausches zerfällt, kann das Herrschaftssystem<br />

auch nicht mehr an den Produktionsverhältnissen unmittelbar<br />

kritisiert werden" 32 . Bereits Abendroth 33 hat zutreffend<br />

darauf hingewiesen, daß es wenig überzeugend ist, eine Theorie und<br />

ihre Fragestellung abzulehnen, weil eben dies, was diese Theorie —<br />

und nur diese — vorausgesagt hat, auch tatsächlich eingetreten ist:<br />

die Tendenz zum das Marktprinzip aufhebenden Monopolkapitalismus.<br />

War aber im übrigen jemals Politik nur 34 ein Überbauphänomen?<br />

War nicht stets, auch in der Hochblüte des Liberalismus, die<br />

ökonomische Basis auch zugleich eine Funktion von Staatstätigkeit<br />

und politisch ausgetragenen Konflikten? Und haben nicht gerade<br />

Marx und Engels diese Wechselbeziehungen zwischen ökonomischer<br />

Basis und politisch-rechtlichem Überbau auf das exakteste beschrieben?<br />

Ist es nicht nur der platteste Vulgärmarxismus gewesen, der in<br />

dem Überbau bloße Widerspiegelung der Basis und sonst nichts gesehen<br />

hat? Hat denn die angebliche Autonomie der Gesellschaft und<br />

ihrer kapitalistischen Produktionsweise jemals realiter bestanden?<br />

Liegt hier nicht ein von der tatsächlichen geschichtlichen Entwicklung<br />

35 abstrahiertes Modelldenken vor, das eher liberalistische Ideologien<br />

als marxistische Theorie reproduziert?<br />

Obwohl Habermas die Verschmelzung von Staat und Gesellschaft<br />

konstatiert, verwendet er weiter die überkommenen, dem neuen<br />

staatsmonopolistischen Kapitalismus nicht mehr adäquaten Begriffe<br />

von „staatlicher" Intervention und von „politischer Herrschaft", die<br />

nach neuer Legitimation verlange. In dieser Hinsicht sehen die<br />

Schmittianer klarer: mit der Entwicklung zum Monopolkapitalismus<br />

wächst die Tendenz zur Abschaffung von Staat und staatlich-politischer<br />

Herrschaft. Das heißt nicht, wie die Ideologen der neuen „Technostruktur"<br />

behaupten, daß Herrschaft überhaupt aufhöre und alles<br />

nur nach den Regeln technischer Rationalität ablaufe. Wohl aber hört<br />

Herrschaft als eine durch den Staat, seine allgemeinen Gesetze und<br />

seine dezisionistischen Maßnahmen vermittelte auf. Je stärker die<br />

Entwicklung zu einem „Welttrust der Monopole" (Lenin) wird, in<br />

um so stärkerem Maße wird — vielleicht hinter einer noch aufrechterhaltenen<br />

staatlichen Fassade — die staatliche Gesetzgebung durch<br />

die Planaufstellung der wissenschaftlichen Stäbe der Monopole ersetzt<br />

werden, wird an die Stelle staatlicher Streitentscheidung, staatlicher<br />

Polizei, staatlicher Fürsorge die Betriebsjustiz, der Betriebs-<br />

32 Habermas, Technik und Wissenschaft als „Ideologie", S. 75—76 —<br />

Hervorhebungen von J. H.<br />

33 Abendroth, Demokratisch-liberale oder revolutionär-sozialistische<br />

Kritik? S. 135.<br />

34 Habermas, Technik und Wissenschaft, S. 75 (Sperrung von J. H.).<br />

35 Vgl. zur historischen Entwicklung in Deutschland, Conze (Hrsg.),<br />

Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815—1848, Industrielle<br />

Welt Bd. 1, Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte,<br />

dort insb. Koselleck, Staat und Gesellschaft in Preußen 1815—1848, S. 79 ff.


Vom totalen Staat zur totalen bürgerlichen Gesellschaft ' 337<br />

Selbstschutz und Betriebsfürsorge der Monopole treten. Herrschaft<br />

läßt sich dann nur noch an den Produktionsverhältnissen unmittelbar<br />

kritisieren; gerade das Gegenteil der Habermasschen These ist richtig.<br />

Wo, wenn nicht an den Produktionsverhältnissen, könnte Kritik noch<br />

ansetzen, wenn der Kapitalismus alles, seinen eigenen Überbau, selbst<br />

Staat und Recht zerschlagen und das gesamte menschliche Leben unmittelbar<br />

seinen Verwertungsbedürfnissen unterworfen hat?<br />

Die Tendenz zur unmittelbaren, nicht mehr politisch-staatlichrechtlich<br />

vermittelten Herrschaft der Monopole, die sich auf alle Lebensbereiche,<br />

nicht mehr nur auf die Produktionsverhältnisse allein<br />

erstreckt, läßt einerseits den Grundwiderspruch des Kapitalismus<br />

offenkundiger werden, andererseits aber ist an die Stelle früherer<br />

Ideologie, die die „opake Gewalt der Verblendung" besaß, eine neue<br />

„eher gläserne Hintergrundideologie" 36 getreten, die die Wissenschaft<br />

zum Fetisch macht. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt hat,<br />

wie Habermas und Marcuse zuzugeben ist, Legitimationsfunktion für<br />

den Kapitalismus übernommen. Unter der — wie ausgeführt, keineswegs<br />

gesicherten — Voraussetzung, es gelänge dem kapitalistischen<br />

System mit Hilfe technisch-wissenschaftlicher Systemsteuerung, Sicherheit<br />

und bestimmte Wohlstandsminima konstant zu gewährleisten,<br />

besteht allerdings die Gefahr, daß durch die Nutzbarmachung technisch-wissenschaftlicher<br />

Rationalität für die Irrationaliät des Gesamtsystems<br />

der Eindruck entsteht, die Aufhebung des Gesamtsystems<br />

müsse auch zur Aufhebung der in ihm scheinbar unlösbar enthaltenen<br />

technisch-wissenschaftlichen Rationalität führen. Der Eindruck der<br />

Unablösbarkeit des technischen Fortschritts von dem Kapitalismus<br />

hat seine Ursache in der Unfähigkeit einer an bloßer Zweckrationalität<br />

ausgerichteten Wissenschaft, den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang<br />

zu reflektieren oder gar zu transzendieren. Hinzu kommt,<br />

daß der technisch-wissenschaftliche Fortschritt, unabhängig in welchem<br />

gesellschaftlichen System er sich entfaltet, in der Tat bestimmte<br />

Formen der Produktion, bestimmte Formen der Organisation des<br />

menschlichen Zusammenlebens zwingend vorschreibt. Aufgabe linker<br />

Kritik kann es bei einer solchen Sachlage nur sein, den ideologiehaften<br />

Charakter, den Wissenschaft und Technik angenommen haben,<br />

zu zerstören, indem sie aufzeigt, was an Organisation, Zwang, Unterdrückung,<br />

Leistung gemäß dem Stand der Wissenschaft wirklich zur<br />

Entwicklung und Befriedigung menschlicher Bedürfnisse erforderlich<br />

und was zusätzliche Unterdrückung ist, die ihre Ursache in der kapitalistischen<br />

Produktionsweise hat. Eine Kritik von links indes, die<br />

die — unvermeidlichen — Rückwirkungen der Technik auf das gesellschaftliche<br />

System zur eindimensionalen Technostruktur hypostasiert<br />

und den bestimmenden Charakter der Produktionsverhältnisse<br />

leugnet, trägt zur Verdinglichung des — partiell — ideologischen<br />

Charakters von Technik und Wissenschaft bei.<br />

Die Arbeiter haben in den hochindustrialisierten kapitalistischen<br />

Staaten mehr zu verlieren als nur ihre Ketten. Die Behauptung,<br />

36 Habermas, Technik und Wissenschaft, S. 88.


338 Peter Römer<br />

Forsthoffs, das System habe seinen wirksamsten Verteidiger in der<br />

Arbeiterschaft selbst, bleibt richtig, wenn es nicht gelingt, die spezifische<br />

Irrationalität kapitalistischer Produktionsweise aufzuzeigen.<br />

Die generelle und undifferenzierte Ablehnung jedes Leistungsprinzips,<br />

jeder Organisation, aller Warenproduktion, wie sie in einem<br />

erschreckend zunehmenden Maße von sich als links stehend empfindenden<br />

Studenten, Künstlern und Intellektuellen verkündet wird,<br />

vermag nicht nur wegen der Manipulationsmaschinerie der Herrschenden<br />

bei den Arbeitern kein revolutionäres Bewußtsein zu schaffen.<br />

Ist nicht vielmehr die Vorstellung, das Leistungsprinzip könne<br />

bereits bei dem gegenwärtigen Stand der Produktivkräfte aufgehoben<br />

werden, allzu offenkundig utopisch? Ist nicht vielleicht allzu leicht<br />

einsehbar, daß diese Behauptung bestürzend inhuman und egozentrisch<br />

ist angesichts des ungeheueren Elendes, in dem die große Mehrheit<br />

der Erdbevölkerung lebt und das nur durch kollektive, intensive<br />

langandauernde Anstrengung auch bei Aufhebung des Kapitalismus<br />

beseitigt werden könnte? Ist denn ernsthaft zu bestreiten, daß die<br />

Weiterentwicklung der Produktivkräfte ohne umfassende langfristige<br />

Planung, die notwendigerweise die Spontaneität und die Freiheit<br />

zugunsten des Planvollzugs einschränken muß, unmöglich ist? Was<br />

gar soll man zu der Behauptung sagen, daß den im Monopolkapitalismus<br />

produzierten Waren jeder Gebrauchswert abzusprechen sei? Das<br />

fing mit der Kritik von Warenhauskatalogen an (Enzensberger), steigerte<br />

sich zu Brandlegung im Kaufhaus und äußert sich nunmehr wie<br />

folgt: „In dem Maße, wie das gesellschaftliche Verhältnis der Warenproduzenten<br />

zum Produkt ihrer Tätigkeit in den Waren selbst gegenständlich,<br />

sinnlich wird, muß die Aneignung der Produkte durch die<br />

Produzenten zur Zerstörung dieses ihres Warengesichts werden. Die<br />

Autos, die auf den Pariser Barrikaden brannten, zeigten eine erste<br />

Anwendung des Gebrauchswertes Auto unter den Bedingungen des<br />

Spätkapitalismus" S7 . Mit Recht hat der Verfasser dieser These aus der<br />

Hand des <strong>Berliner</strong> Regierenden Bürgermeisters einen Staatspreis erhalten,<br />

denn kein bezahlter Agitator hätte besser die Behauptung<br />

stützen können, mit der Zerstörung des Kapitalismus werde notwendigerweise<br />

auch alles zerstört, was er objektiv an Fortschritten im<br />

wissenschaftlich-technischen Bereich und in der Weiterentwicklung<br />

der Produktivkräfte geleistet habe.<br />

Die Aufgabe der Intelligenz 88 besteht demgegenüber in der klaren<br />

Abtrennung der Widersprüche und Irrationalismen, die durch die<br />

kapitalistische Produktionsweise verursacht sind, von den — zweifellos<br />

ebenfalls nicht zu vernachlässigenden — Problemen, die der wissenschaftlich-technische<br />

Fortschritt als solcher, also auch in der ersten<br />

37 Schneider, Die Phantasie im Spätkapitalismus und die Kulturrevolution,<br />

Kursbuch, H. 16, März 1969, S. 1 ff., S. 26, vgl. auch S. 14.<br />

38 Vgl. auch Abendroth, Klassenauseinandersetzungen in der spätkapitalistischen<br />

Gesellschaft — Die Rolle der Intelligenz, in: Revolution gegen<br />

den Staat? Die außerparlamentarische Opposition — die neue Linke. Hrsg.<br />

von Dollinger, S. 14 ff.


Vom totalen Staat zur totalen bürgerlichen Gesellschaft ' 339<br />

Phase einer sozialistischen Gesellschaft, erzeugt. Wird diese Arbeit<br />

geleistet, ist kein Anlaß zur Resignation gegeben und zur Befürchtung,<br />

die Bewußtseinsmanipulation sei so groß, daß trotz des im Monopolkapitalismus<br />

immer offenkundiger werdenden Grundwiderspruchs<br />

des Kapitalismus dieser dennoch verschleiert werden könnte. Der<br />

Manipulationsapparat ist nicht nur Ausdruck der Fähigkeit des Kapitalismus,<br />

in höchst subtiler und vervollkommneter Form das Bewußtsein<br />

zu beeinflussen. Er zeigt zugleich eine Schwäche des Systems an,<br />

das diesen Apparat lebensnotwendig braucht, weil es die Zustimmung<br />

der Massen benötigt, die gerade nicht, wie bürgerliche Ideologie es<br />

weismachen will, selbstverständlich ist, sondern auf immer schwierigerem<br />

und kostspieligerem Weg erst hergestellt werden muß.


340<br />

Marios Nikolinakos<br />

Materialien zur kapitalistischen Entwicklung<br />

in Griechenland<br />

(2. Teil)<br />

III. Die Periode der Industrialisierung<br />

Der Periode nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gebührt<br />

eigentlich eine eingehende Analyse, die im Rahmen dieser Abhandlung<br />

nicht unternommen werden kann. Aus diesem Grunde wie auch<br />

aus der Tatsache heraus, daß die vorhandene Literatur ausreichend<br />

ist, werden wir uns hier auf die Hauptlinien der kapitalistischen Entwicklung<br />

beschränken. Für eine materialreiche Studie des Entwicklungsstandes<br />

Griechenlands am Anfang der 60er Jahre verweisen wir<br />

auf unseren gleichnamigen Aufsatz von 1967 218 .<br />

Der Krieg hinterließ Griechenland fast verwüstet. Die Industrie<br />

produzierte nur V3 ihrer Vorkriegsnorm, Arbeitslosigkeit herrschte<br />

in großem Maße, die Löhne waren 70—85 % niedriger als vor dem<br />

Krieg. Das Straßen- und Bahnnetz war zum großen Teil zerstört, die<br />

Einnahmen des Staates deckten knapp 40 % der nötigen Ausgaben.<br />

Die Inflation gärte und dreimal in kurzer Zeit wurde der Versuch<br />

unternommen, die Drachme zu stabilisieren 219 . Die Agrarproduktion<br />

war zwischen 20 und 70 % zurückgegangen, 70 % der Kraftfahrzeuge,<br />

73 % der Schiffstonnange standen nicht mehr zur Verfügung, 100 000<br />

Wohnungen waren völlig und 50 000 zum Teil zerstört 220 . Der Handel<br />

ging erheblich zurück. Im Jahre 1944 beliefen sich die Importe auf<br />

218 Siehe M. Nikolinakos: Der Entwicklungsstand Griechenlands, in<br />

„Hellas", Zeitschrift des Deutsch-griechischen Vereins, Bonn, Nr. 18, Bd. 6,<br />

Sept. 1967, S. 29—49.<br />

219 Der Index der Industrieproduktion im März 1946 sah folgendermaßen<br />

aus: 1939 = 100<br />

Metallbau 22 Papier 40<br />

Maschinenbau 10 Tabak 108<br />

Wohnungsbau 30 Holz 10<br />

Textilien 41 Bergbau 12<br />

Chemieindustrie 40 Elektrizität 87<br />

Gerbeindustrie 10<br />

Der Preisindex bewegte sich von 4,9 im Nov. 1944 auf 168,1 im April<br />

1946. Siehe Angelopoulos : I elliniki oikonomia... (Die griechische Wirtschaft<br />

...), a.a.O., S. 20 und Fußn. 15 und 16 auf S. 39. Siehe weiter N. G.<br />

Sideris: I elliniki viomichania (Die griechische Industrie), Athen 1950,<br />

insb. S. 6—9, 186 ff.<br />

220 Evelpidis: Oikonomiki kai koinoniki istoria .. .(Wirtschafts- und<br />

Sozialgeschichte ...), a.a.O., S. 71—73. Munkman (American Aid to Greece,<br />

a.a.O., S. 46) gibt folgende Angaben:


Materialien zur kapitalistischen Entwicklung 341<br />

nur 286 000 Tonnen, die Exporte auf 33 000 Tonnen. Die entsprechenden<br />

Zahlen für das Jahr 1936 waren 2 586 000 Tonnen und 985 000<br />

Tonnen 221 . Der nach dem Krieg erfolgte Bürgerkrieg 1946—49 hatte<br />

weitere Zerstörungen und eine Verzögerung des Wiederaufbaus zur<br />

Folge. Die Kapitalien, mit denen Griechenland von den Verbündeten<br />

versorgt wurde, halfen dazu, daß sich ab 1950 die Wirtschaft dem im<br />

Jahre 1939 erreichten Entwicklungsniveau anzunähern begann.<br />

Die Hauptfrage nach dem Krieg war die Frage der Industrialisierung<br />

Griechenlands. Seit je herrschte in Griechenland die Meinung,<br />

daß das Land nicht über die nötigen Rohstoffe verfüge und demzufolge<br />

die Industrialisierung nicht möglich sei. Man hat sogar von einer<br />

„künstlichen Industrialisierung aus außenwirtschaftlichen Gründen"<br />

gesprochen 222 . Von diesen Überlegungen war auch die Industriepolitik<br />

in der vorigen Periode beherrscht 223 . Stefanidis, Zolotas und Charitakis<br />

haben in ihren Schriften mit Recht die Meinung vertreten, daß<br />

das Fehlen von Rohstoffen und Energiequellen kein ausreichender<br />

Grund dafür ist, daß in Griechenland keine Industrie existieren<br />

könne 224 . Charitakis nennt als Beispiel Italien und das Gebiet um<br />

Produktion in Tonnen 1938 1947<br />

Weizen 768 000 578 000<br />

Korinthen 158 000 76 000<br />

Fleisch 111 000 88 000<br />

Milch 705 000 441 000<br />

Industrieproduktion (Index) 100 (1939) 67<br />

Züge im Dienst 412 134<br />

Lastwagen 6 725 2 036<br />

Zahl der Handelsschiffe 607 270<br />

Vgl. weiter Sweet-Escott: Greece, a.a.O., S. 94 f.<br />

221 Siehe Sweet-Escott: Greece, a.a.O., S. 95 f.<br />

222 Kienitz schreibt: „Auch in Zukunft sind namentlich dem Aufbau<br />

einer Schwerindustrie allein schon wegen der Armut des Landes an Energiequellen<br />

— Steinkohle und Erdöl mangeln gänzlich, ausnutzbare Wasserkräfte<br />

sind nur in geringem Maße vorhanden — relativ enge, so gut<br />

wie unübersteigbare Grenzen gesetzt." Kienitz: Existenzfragen ..., a.a.O.,<br />

S. 11. In bezug auf die Länder Südeuropas bemerkt er, daß sie „in jüngster<br />

Zeit unter dem Druck der politischen Verhältnisse und der damit<br />

zusammenhängenden ideologischen Gedankengänge einen tiefgreifenden<br />

wirtschaftlichen Strukturwandel" durchmachen und behauptet, daß „in<br />

Griechenland aus den verschiedensten hier nicht weiter zu erörternden<br />

Gründen alle Voraussetzungen zu einer solchen künstlichen Industrialisierung"<br />

fehlen. Ebenda. Siehe Kritik im Text und in dem Besprechungsteil<br />

dieses Heftes.<br />

223 Siehe z. B. Stefanidis: I thesis tis viomichanias ... (Die Stellung der<br />

Industrie...), a.a.O., S. 25 f., 37 f. Siehe auch vorige Fußn. Es herrschte<br />

die Meinung, daß „die Zukunft Griechenlands nicht in der Produktion<br />

materieller Güter, sondern im Handel und in der Auswanderung" liege.<br />

Siehe Stefanidis, a.a.O., S. 41.<br />

224 Stefanidis, a.a.O., S. 15 f., 45 f., 47. Zolotas: I Ellas is to stadion tis<br />

ekviomichaniseos (Griechenland auf dem Wege zur Industrialisierung),<br />

a.a.O., S. 116. Charitakis: I elliniki viomichania (Die griechische Industrie),<br />

a.a.O., S. 61 ff. Die Bemerkungen in Fußn. 60 beziehen sich auf die Industrialisierung<br />

in der ersten Periode.


342 Marios Nikolinakos<br />

Paris, die industrialisiert wurden, ohne daß sie über Steinkohle verfügten<br />

225 . Das Beispiel Japans ist in diesem Zusammenhang ebenfalls<br />

erwähnenswert 226 . Auf der anderen Seite hat sich die Meinung, Griechenland<br />

verfüge über keine Rohstoffe und Energiequellen als falsch<br />

erwiesen. Erst in dieser Periode hat man festgestellt, daß nicht nur<br />

verschiedene Mineralien vorhanden sind, die als Rohstoffe der Industrie<br />

gelten, sondern daß Griechenland auch über Wasserfälle verfügt,<br />

die, richtig genutzt,, das Energieproblem Griechenlands hätten<br />

lösen können 227 .<br />

Sofort nach dem Krieg bestand das Problem darin, die Bevölkerung<br />

mit Lebensmitteln zu versorgen, das Verkehrs- und Verbindungsnetz<br />

wiederaufzubauen und der Industrie einen Auftrieb zu<br />

geben 228 . Dafür waren Kapitalien nötig. Infolge der Unfähigkeit Englands,<br />

Griechenland dabei zu unterstützen 229 , übernahmen die Vereinigten<br />

Staaten im Sinne der Truman-Doktrin und durch den Marshall-Plan<br />

diese Rolle. Folgende Tabelle zeigt die Höhe der in Form<br />

der Hilfe eingeführten amerikanischen Kapitalien, wodurch sich Griechenland<br />

dem amerikanischen Imperialismus unterwarf 230 .<br />

225 Charitakis, a.a.O., S. 64 f.<br />

226 Siehe dazu K. Hax: Japan, Wirtschaftsmacht des fernen Ostens,<br />

Köln und Opladen 1961, S. 76.<br />

227 Siehe dazu Charitakis, a.a.O., S. 65 und S. 239 ff. Vgl. auch Stefanidis,<br />

a.a.O., S. 47 f. Kalitsounakis: Efirmosmeni politiki oikonomia (Angewandte<br />

Politische Ökonomie), a.a.O., S. 144—148, 222. Siehe auch die<br />

Sonderausgabe der Wirtschaftszeitung „Oikonomikos Tachydromos" (Wirtschaftskurier)<br />

über die Mineralien Griechenlands und ihre industrielle<br />

Ausarbeitung, Heft 762, vom 28. 11. 1968.<br />

228 Siehe dazu Sweet-Escott: Greece, a.a.O., S. 103. Siehe auch die<br />

kleine Schrift von A. Angelopoulos : Ta prota metra gia tin anasyngrotisi<br />

(Die ersten Maßnahmen für den Wiederaufbau), Athen 1946.<br />

229 Wie listig die Rolle Englands in dieser kurzen Periode zwischen<br />

Ende des Weltkrieges und der Truman-Doktrin gewesen ist, ist aus der<br />

wirtschaftlichen Vereinbarung vom 21. 1. 1946 zu ersehen, nach der der<br />

Geldumlauf mit 25 Mio. Pfund zu decken war, wovon 15 Mio. Pfund von<br />

den Gold- und anderen Reserven der Bank von Griechenland zur Verfügung<br />

gestellt werden sollten. 10 Mio. Pfund würde die britische Regierung<br />

Griechenland als Anleihe zur Verfügung stellen. Dieser Vereinbarung<br />

zufolge wurden drei Kommissionen zur Überwachung der Wirtschafts-<br />

und Finanzpolitik der Regierung gebildet. Der Kommission über<br />

monetäre Fragen gehörten ein Engländer und ein Amerikaner als gleichberechtigte<br />

Mitglieder an. Dazu wurden „britische Berater" bei einigen<br />

Ministerien eingestellt. Siehe Angelopoulos: I elliniki oikonomia... (Die<br />

griechische Wirtschaft...), a.a.O., S. 24 f. „... this was the first occasion<br />

on which actual executive control had been in the hands of foreigners",<br />

bemerkt Sweet-Escott, selbst ein Endländer (Greece, a.a.O., S. 102).<br />

230 Siehe dazu T. A. Couloumbis: Greek Political Reaction to American<br />

and NATO influences, New Haven and London 1966, S. 39. Vgl. dazu<br />

W. H. McNeill: Greece — American aid in action, 1947—1956, New York<br />

1957, insb. S. 229; W. Wapenhans: Griechenland, Untersuchungen über die<br />

Wirtschaft eines kontinentaleuropäischen Entwicklungslandes, Glessen<br />

1960, S. 74—78 und Sweet-Escott: Greece, a.a.O., S. 104—118.


Materialien zur kapitalistischen Entwicklung 343<br />

Wirtschaftliche Hilfe 1946—1964<br />

davon Anleihen<br />

Hilfe<br />

Militärische Hilfe<br />

insgesamt 1 089,7 Mio. Dollar<br />

127,3 Mio. Dollar<br />

962,4 Mio. Dollar<br />

insgesamt 1 720,6 Mio. Dollar<br />

Wie ersichtlich, waren knapp 2 /s der eingeführten Kapitalien Militärhilfe<br />

und dem Land wirtschaftlich nicht von Nutzen. Es würde<br />

den Rahmen dieser Abhandlung sprengen, wenn man die Problematik<br />

der amerikanischen Hilfe im einzelnen hier behandeln wollte. Wir<br />

verweisen diesbezüglich auf die vorhandene Literatur 231 .<br />

In dieser Periode setzte sich der Prozeß der Urbanisierung fort,<br />

wie aus folgender Tabelle hervorgeht 232 :<br />

Zuwachs in %<br />

1940 1951 1961 1940—51 1951—61<br />

Athen 1124 109 1 378 586 1 852 709 22,6 34,4<br />

u. Umgebung<br />

Thessaloniki 278 145 297 164 378 444 6,8 27,4<br />

u. Umgebung<br />

Patras 83 283 93 037 102 244 11,7 9,9<br />

Heraklion 44 684 58 285 69 983 30,4 20,1<br />

Volos 54 919 65 090 67 424 18,5 3,6<br />

Larissa 32 686 41 016 55 391 25,5 35,0<br />

Kavalla 49 667 42 102 44 517 —15,2 5,7<br />

Chania 28 168 33 211 38 467 17,9 15,8<br />

Jannina 21 877 32 315 34 997 47,7 8,3<br />

Katerini 16 938 24 605 28 046 45,3 14,0<br />

Agrinion 15 934 20 048 24 763 25,8 23,5<br />

Eleusis 9 154 11190 15 527 22,2 38,8<br />

Naoussa 12 556 12 584 15 492 0,2 23,1<br />

Ptolemais 7 719 8 816 12 747 14,2 44,6<br />

Sparta 7 271 7 900 10 412 8,7 31,8<br />

231 Außer dem in der vorigen Fußnote zitierten Buch von McNeill,<br />

siehe auch das schon öfters oben zitierte Buch von Munkman: American<br />

Aid to Greece, a.a.O., insb. S. 76. Siehe auch A. D. Sismanidis: Foreign<br />

Capital Investment in Greece, in „Balkan Studies", Bd. 8, Nr. 2, Thessaloniki<br />

1967, insb. S. 340. Über die amerikanische Hilfe in Form von überflüssigen<br />

Agrarprodukten siehe die Studie: G. Coutsoumaris-R. M. Westebbe-D.<br />

Psilos-A. Michalakis-N. Xanthakis: Analysis and Assessment of<br />

the Economic Effects of the U. S. PL 480 program in Greece, Athens 1965.<br />

Die Höhe der Gesamthilfe für die Zeit 1946—1963 wird in dieser Studie<br />

mit 3148,5 Mio. Dollar beziffert, wovon 1347,7 Mio. Dollar militärische<br />

Hilfe waren (S. 20).<br />

232 National Statistical Service of Greece: Statistical Yearbook of<br />

Greece, 1964, Athens, S. 43—45. Der sogenannte Urbanisierungsindex (d. h.<br />

das Verhältnis in % zwischen Gesamt- und städtischer Bevölkerung) lag<br />

nach der Volkszählung von 1961 bei 37,4. Zum Vergleich sei erwähnt, daß<br />

derselbe Index war: für die Bundesrepublik 47,6, für Frankreich 42, für<br />

Italien 41,2, für Belgien 42,5, für Holland 46,8, für die Schweiz 33,7, für


344 Marios Nikolinakos<br />

Daraus ist zu ersehen, daß die Bewegung nach den Verwaltungszentren,<br />

wie auch nach den sich formierenden Industriezentren (wie<br />

z.B. Eleusis, Ptolemais) geht. Aus der nachstehenden Tabelle 233 geht<br />

hervor, daß die proletarischen Massen die aus der Landwirtschaft<br />

nach den Städten umziehen, hauptsächlich in Industrie und Handwerk,<br />

im Handel und in parasitären Berufen Beschäftigung finden.<br />

Dies wird durch die Tatsache bestätigt, daß die Bezeichnung „Andere<br />

Dienste" einen so hohen Prozentsatz aufweist, was darauf schließen<br />

läßt, daß die Statistik unter diese Kategorie wie auch unter „Handel"<br />

zum großen Teil kleine Straßenhändlei gefaßt hat. Eine wichtige<br />

Aussage der folgenden Tabelle besteht darin, daß im Großraum<br />

Athen, wo sich zum großen Teil die Industrie bis jetzt konzentriert<br />

hat, der Prozentsatz der „Einwanderer" in der Industrie größer ist<br />

als der dort Wohnenden, während er in den Provinzen kleiner ist.<br />

Der Prozentsatz, der „Einwanderer" im Wohnungsbau und in der<br />

Kategorie „Andere Dienste" ist sowohl im Großraum Athen wie in<br />

den Provinzen größer als derjenige der Ansässigen.<br />

Beschäftigte<br />

Großraum Athen Andere Städte<br />

. .. . Ein- . .. . Ein-<br />

Ansassige<br />

ö<br />

, Ansässige ,<br />

wanderer wanderer<br />

Zahl der Beschäftigten<br />

in 000 534,5 112,7 514,9 82,5<br />

davon in %<br />

Landwirtschaft usw. 1,0 1,1 17,9 11,4<br />

Bergbau 0,4 (0,3) 0,4 (0,4)<br />

Industrie/Handwerk 28,8 29,6 27,0 21,5<br />

Wohnungsbau usw. 7,9 11,7 7,5 12,1<br />

Elektrizität usw. 1,6 1,0 1,1 1,3<br />

Handel usw. 17,9 10,5 15,0 7,6<br />

Verkehrswesen 9,5 5,8 8,3 6,9<br />

Andere Dienste 25,0 31,0 16,5 32,5<br />

Sonstige Zweige 2,8 4,4 5,2 2,0<br />

Neue Arbeitskräfte 3,2 3,8 4,3 4,2<br />

Interessant ist auch zu bemerken, daß die Einwanderer in der Kategorie<br />

„Neue Arbeitskräfte", wobei es sich um die jungen, arbeitssuchenden<br />

Kräfte handelt, stärker im Großraum Athen als in den<br />

Provinzen im Vergleich zu den ansässigen, zum ersten Mal Beschäftigung<br />

suchenden Arbeitskräften vertreten sind.<br />

Kanada 39,4. Siehe S. Hadjoglou: I apascholisis ton esoterikos metanastevonton<br />

(Die Beschäftigung der in die Stadt Ziehenden) in „Oikonomikos<br />

Tachydromos" (Wirtschaftskurier), Heft 502 vom 28. 11. 63, S. 806 (10),<br />

Tabelle V. Vgl. auch S. Agapitidis: Internal migration (with special reference<br />

to rural-urban movements) in UNO: World Population Conference<br />

1965, Bd. IV, New York 1967, S. 471—474.<br />

233 Hadjoglou, a.a.O., S. 805 (9), Tabelle IV.


Materialien zur kapitalistischen Entwicklung 345<br />

Der Urbanisierungsprozeß kann nur aus der Lage in der Landwirtschaft<br />

als „push-out"-Faktor und aus den Entwicklungen im industriellen<br />

Sektor als „pull-in"-Faktor erhellt werden. Wir wollen zuerst<br />

der Reihe nach einen Blick auf den Akkumulationsprozeß, auf<br />

den Prozeß der Industrialisierung und auf die Lage in der Landwirtschaft<br />

werfen.<br />

In der Tabelle auf S. 346 f. sind Angaben des Amtes für Volkswirtschaftliche<br />

Gesamtrechnungen für die Zeit 1948—1965 enthalten 234 .<br />

Man kann daraus den Kapitalbildungs- und -akkumulationsprozeß erkennen.<br />

Die Bruttoanlageinvestitionen, d. h. die Investitionen ohne<br />

Berücksichtigung der Vorräte und der dem Ausland gewährten Kredite,<br />

bewegten sich von knapp 13 % im Jahre 1948 auf 17 % im Jahre<br />

1950, 26 % im Jahre 1960, 23,2 % im Jahre 1965 und, nach anderen<br />

Angaben 235 knapp 23% im Jahre 1967 des Brutto-Nationalproduktes.<br />

Damit hat Griechenland das Verhältnis der Anlageinvestitionen zum<br />

Nationalprodukt, das auch sogenannte entwickelte Länder verzeichnen,<br />

erreicht 238 . Was jedoch die Verteilung dieser Anlageinvestitionen<br />

betrifft, so soll bemerkt werden, daß diese Anlageinvestitionen im<br />

„Wohnungsbau" und im Zweig „Verkehr" stattgefunden haben. Prozentual<br />

verteilten sich die Investitionen in den vier wichtigsten Zweigen<br />

folgendermaßen:<br />

1950 1960 1965<br />

Landwirtschaft 11,0 12,5 11,5<br />

Verarbeitung 15,2 7,4 13,8<br />

Verkehrswesen 24,5 41,0 22,0<br />

Wohnungsbau 31,9 21,2 31,8<br />

Es ist daraus ersichtlich, daß mehr als 50 % der Investitionstätigkeit<br />

in der Nachkriegszeit den oben erwähnten zwei Zweigen gewidmet<br />

waren 237 . Die Investitionen in der Landwirtschaft haben keinen<br />

Zuwachs zu verzeichnen, während sie in der Industrie sogar zurückgegangen<br />

sind. Die Kapitalakkumulation fand also zum großen Teil<br />

in unproduktiven Anlagen und zum Teil in der Infrastruktur statt.<br />

Vieles wurde in dieser Periode für den Straßenbau, die Nachrichten-<br />

234 Siehe Ypourgeion Syntonismou (Koordinationsministerium) : National<br />

Accounts of Greece, 1948—1965, Nr. 16, Athens 1967, S. 34—35, 42—43,<br />

98—99, 100—101.<br />

235 Siehe Bank of Greece: Monthly Statistical Bulletin, February 1970,<br />

S. 84.<br />

236 Siehe Trapesa tis Ellados (Bank von Griechenland) : I elliniki oikonomia<br />

kata to etos 1966 (Die griechische Wirtschaft im Jahre 1966), Athen<br />

1967, S. 13. Danach lag dieses Verhältnis bei 22% in Griechenland, bei<br />

26% in der BRD, bei 17% in England, bei 24% in Schweden, bei 20%<br />

in Belgien usw.<br />

237 Vgl. auch A. Papandreou: A Strategy for Greek Economic Development,<br />

Athen 1962 (gr. Ausgabe), S. 23—24. S. I. Geronymakis: Oikonomiki<br />

anaptyxis kai idiotiki katanalosis (wirtschaftliche Entwicklung und Privatkonsum),<br />

Athen 1961, S. 6, 14. Siehe weiter H. Ellis u. a.: Industrial Capital<br />

in Greek Development, Athens 1964, S. 199 ff.


346 Marios Nikolinakos<br />

In Mrd. Drachmen<br />

1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954<br />

A. Brutto-Nationalprodukt<br />

21,0 27,6 32,6 39,3 41,1 54,1 62,7<br />

Brutto-Anlageinvestitionen<br />

2,7 3,4 5,5 5,4 5,4 6,8 9,2<br />

wovon<br />

1. Landwirtschaft 0,18 0,36 0,61 0,71 0,52 0,51 0,76<br />

2. Bergbau 0,01 0,00 0,06 0,18 0,12 0.09 0,09<br />

3. Verarbeitung 0,32 0,40 0,83 0,80 0,80 0,78 0,92<br />

4. Energie-Bewässerungsanlagen<br />

10,03 0,09 0,14 0,52 0,41 0,72 0,91<br />

5. Verkehrswesen 1,20 0,84 1,35 0,82 0,78 0,66 1,88<br />

wovon Schiffe 0,59 0,12 0,10 0,13 0,22 0,19 0,98<br />

6. Wohnungsbau 0,77 1,15 1,75 1,82 1,98 2,93 3,38<br />

7. Verwaltung 0,07 0,23 0,34 0,04 0,26 0,30 0,21<br />

8. Sonstiges 0,12 0,34 0,48 0,55 0,57 0,79 1,09<br />

Finanzierung der gesamten Brutto-Investitionen<br />

1. Staat -0,64 -1,28 -1,32 -0,83 -0,95 0,39 0,36<br />

2. Private -0,14 3,39 2,97 3,83 3,47 7,07 4,86<br />

3. Ausland 3 ) 3,23 3,17 4,56 4,25 3,06 1,52 2,93<br />

wovon Netto-<br />

Kapitaleinfuhr 1,93 3,02 4,34 4,35 1,88 1,21 1,73<br />

a) Netto-Kapitaleinfuhren und Netto-Kreditgewährung des Auslandes<br />

an Griechenland<br />

Übermittlung, das Bahnnetz, die Häfen, den Energiesektor wie auch<br />

für den Tourismus getan. Genau die obige Verteilung der Investitionen,<br />

insbesondere ihre Konzentration im Wohnungsbau, wobei es<br />

hauptsächlich um Luxusappartements in Athen und noch einigen Großstädten<br />

geht, ist der Hauptgrund der langsameren Industrialisierung<br />

des Landes. Man kann jedoch nicht verkennen, daß der Ausbau der<br />

Infrastruktur die Grundlage für eine schnelle Industrialisierung geschaffen<br />

hat. So waren im Jahre 1949 18 694 kni Straßen vorhanden<br />

und im Jahre 1952 20 071 km 238 . Im Jahre 1960 gab es 44 259 km<br />

Straßen, wovon 7732 km dem sogenannten „Nationalnetz" und 30 427<br />

dem sogenannten „Provinzennetz" gehörten 239 . Im Jahre 1965 war<br />

ein Straßennetz von insgesamt 39150 km geplant, wovon nur 4350 km,<br />

238 Kalitsounakis: Efirmosmeni politiki Oikonomia (Angewandte politische<br />

Ökonomie), a.a.O., S. 575.<br />

239 Als „national" werden die Straßen bezeichnet, die die großen<br />

Städte untereinander verbinden, als „Provinzennetz" dagegen die Straßen,<br />

die Provinzstädte und Dörfer untereinander verbinden. Siehe Pentaetes<br />

Programma oikonomikis anaptyxeos (Fünfjahresplan wirtschaftlicher<br />

Entwicklung) in „Archeion oikonomikon kai koinomikon epistimon"


Materialien zur kapitalistischen Entwicklung 347<br />

zu laufenden Preisen<br />

1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 b ><br />

72,1 84,0 90,4 94,1 97,8 105,3 119,7 127,4 140,9 157,6 176,3<br />

10,4 13,1 13,4 17,9 21,2 27,8 27,7 27,9 27,8 36,1 41,0<br />

0,81 1,10 1,67 2,33 2,66 3,49 3,69 3,48 3,84 4,33 4,72<br />

0,07 0,16 0,21 0,24 0,10 0,10 0,14 0,19 0,33 0,36 0,49<br />

1,04 1,38 1,69 2,01 2,04 2,06 2,61 3,34 3,34 4,26 5,66<br />

0,98 1,43 0,82 1,15 1,64 1,49 1,44 1,96 1,83 2,81 3,54<br />

1,65 2,35 2,91 4,64 6,62 11,45 9,78 7,50 5,21 8,19 8,62<br />

0,66 1,18 1,21 2,02 3,99 7,67 5,55 2,74 0,31 1,85 1,72<br />

4,33 4,97 4,52 5,68 5,40 5,91 6,78 7,82 9,02 11,26 13,06<br />

0,22 0,22 0,23 0,09 0,20 0,27 0,23 0,22 0,25 0,22 0,18<br />

1,28 1,51 1,36 1,78 2,52 3,01 3,06 3,43 3,95 4,67 4,76<br />

1,35 0,89 2,15 2,45 1,83 2,38 3,82 4,38 4,07 4,06 1,48<br />

8,52 11,09 11,75 11,00 13,82 13,68 18,65 19,40 24,82 28,47 34,03<br />

1,49 3,24 3,12 5,03 5,76 10,22 8,15 5,56 3,02 8,17 12,11<br />

1,81 2,11 0,67 0,91 1,88 2,04 2,56 2,45 1,52 1,31 0,46<br />

b) Provisorische Daten<br />

d. h. 11,1 % schon gebaut waren 240 . Im Eisenbahnwesen hat keine bedeutende<br />

Änderung stattgefunden. War die Gesamtlänge der Bahnlinien<br />

im Jahre 1938 2557 km, so war sie im Jahre 1966 2573 km 241 .<br />

Besonderen Aufschwung hat die Schiffahrt in dieser Periode erlebt,<br />

(Archiv für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften), Jg. 40 (1960), S. 242,<br />

Tabelle 31.<br />

240 Dies bezieht sich auf das gesamte Straßennetz. Von den geplanten<br />

„nationalen Straßen" von einer Länge von 8150 km waren schon im Jahre<br />

1965 2350 km, d.h. 34,7% gebaut worden. Siehe Kentron Programmatismou<br />

kai Oikonomikon Erevnon (Zentrum für Planung und Wirtschaftsforschung):<br />

Schedion programmatos oikonomikis anaptyxeos tis Ellados<br />

(1966—1970) (Entwurf eines Planes der wirtschaftlichen Entwicklung Griechenlands),<br />

Athen Dez. 1965, S. 377.<br />

241 National Statistical Service of Greece: Statistical Yearbook of<br />

Greece 1967, Athens, S. 291. Die Eisenbahn ist in eine große Krise geraten,<br />

die daraus zu erklären ist, daß nicht alle Linien dieselbe Spurweite haben<br />

und daß alle Linien einspurig sind. Es ist nicht verwunderlich, daß die<br />

griechische Eisenbahn mit großem Defizit arbeitet. Siehe dazu Stefanidis:<br />

Mathimata emborikis politikis (Vorlesungen über Handelspolitik), a.a.O.,<br />

S. 154—159.


348 Marios Nikolinakos<br />

dank der sehr günstigen Gesetzgebung 242 . So stieg die Gesamtzahl<br />

der Schiffe von 607 im Jahre 1938 auf 1739 Ende 1966, mit einer<br />

Gesamttonnage von 7,8 Mio. Tonnen. Davon waren 1395 Cargo-<br />

Schiffe 243 . Großen Aufschwung hat auch der Flugverkehr 244 , die<br />

Fernsprechverbindung 245 und der Straßenverkehr in dieser Periode<br />

erlebt 248 . Schließlich soll hier die Entwicklung auf dem Energiesektor<br />

erwähnt werden. In dieser Periode sind große Anstrengungen unternommen<br />

worden, das Elektrizitätsnetz zu erweitern und die Elektrizitätserzeugung<br />

zu vermehren. Elektrizitätswerke auf Braunkohlen-<br />

242 Siehe dazu E. A. Georgantopoulos: I elliniki naftiliaki politiki,<br />

1931—1961 (Die griechische Schiffahrtspolitik) in „Spoudai" (Studien), Bd.<br />

12 (1962—63), S. 2—27, 128—156, 330—344, 650—686. Auch Wapenhans:<br />

Griechenland, a.a.O., S. 61—63, 109—112. Die Junta hat der griechischen<br />

Schiffahrt weitgehende Steuervorteile gewährt, die sogar in der Verfassung<br />

verankert wurden. Den Reedern wird die Finanzierung bis zu 80 %<br />

für in Griechenland gebaute Schiffe zu einem Zinssatz von 5,8 % gewährt<br />

und eine Garantie des Staates bis zu 30'% der Anleihe. Finanzierungsmöglichkeiten<br />

sind auch Reedern gewährt, die ihre Schiffe im Ausland<br />

bauen lassen, unter der Voraussetzung, daß sie sie unter die griechische<br />

Flagge stellen. Siehe dazu: The Achievements of the National Government<br />

in the Economic Field, April 1967—April 1969, Athens 1969, S. 54 ff.<br />

Eine Schiffbauindustrie ist jetzt im Entstehen begriffen. Siehe unten<br />

Fußn. 257. Unter der neuen Gesetzgebung wurden neue Schiffe in Griechenland<br />

registriert. Ende März 1969 betrug die Zahl der Schiffe 2006 mit<br />

einer Gesamttonnage von 9,7 Mio. Tonnen. Dazu haben sich bis Ende<br />

März 1969 126 Schiffahrtsgesellschaften in Griechenland niedergelassen.<br />

Ebenda, S. 58.<br />

243 National Staistical Service of Greece: Statistical Yearbook of<br />

Greece 1967, a.a.O., S. 297.<br />

244 Siehe dazu National Statistical Service of Greece: Statistical Yearbook<br />

of Greece 1967, a.a.O., S. 302—303. Der Flugverkehr war anfangs ein<br />

staatliches Monopol, das jetzt an den Reeder Onassis verkauft worden ist.<br />

Großes Aufsehen hat die sehr skandalöse Revidierung des Olympic Airways-Vertrages<br />

erregt. Dafür hat Onassis einen anderen Vertrag abgeschlossen<br />

(Dekret 477/1970), nach dem er eine Investition in Höhe von<br />

600 Mio. Dollar (!) vornehmen wird. Siehe weiter Fußn. 260.<br />

245 Die Zahl der Fernsehapparate stieg von 100 575 im Jahre 1952 auf<br />

579 076 im Jahre 1966. Siehe National Statistical Service of Greece: Statistical<br />

Yearbook of Greece, 1967, a.a.O., S. 305.<br />

246 Die Zahl der Fahrzeuge entwickelte sich folgendermaßen:<br />

Lastwagen<br />

Autobusse<br />

Personenwagen<br />

Motorräder<br />

Insgesamt<br />

1954 1956 1961 1964 1965<br />

18 821<br />

5 415<br />

15 110<br />

7 585<br />

46 931<br />

21 540 40 030<br />

5 653 6 981<br />

22 700 48 834<br />

12 051 33 303<br />

61 944 129 148<br />

57 657 64 930<br />

8 176 8 485<br />

81 617 104 814<br />

44 471 49 439<br />

191 921 227 111<br />

Für die ersten drei Jahre National Statistical Service of Greece: Statistical<br />

Yearbook of Greece 1962, Athens 1963, Tab. XIII: 6, S. 279, für 1964<br />

und 1965 derselbe: Statistical Yearbook of Greece 1967, a.a.O., S. 293.


Materialien zur kapitalistischen Entwicklung 349<br />

basis (Aliveri, Ptolemais, St. Georg) und Wasserkraftwerke (Dämme<br />

von Agra, Ladon, Louros, Tavropos, Acheloos) wurden errichtet 247<br />

und neue sind im Aufbau (Acheloos, Megalopolis, St. Georg, Aliveri,<br />

Kremasta, Kastraki, Polyfytos-Aliakmon, Lavrion) 248 . Die Entwicklung<br />

auf dem Energiesektor kann man in der folgenden Tabelle ablesen<br />

249 :<br />

%<br />

1952 1962 1962 :1952 1966 1968<br />

Vorhandene Kapazität<br />

(000 kwh) 213,3<br />

Produktion (Mio. kwh) 814,0<br />

Verteilungsnetz (km) 119,0<br />

Pro-Kopf-Konsum (kwh) 110<br />

613,0 165 1417 1880<br />

2721,0 234 5448 7120<br />

2226,0 1771 — —<br />

286,0 160 — —<br />

Aus den obigen Ausführungen geht hervor, daß eine große Kapitalakkumulation<br />

in der Infrastruktur und dem Energiesektor stattgefunden<br />

hat. Dieser Prozeß hat bis fast 1960 gedauert. Damit sind die<br />

Grundlagen für eine beschleunigte Industrialisierung Griechenlands<br />

in den 60er Jahren gelegt. Hätte sich die Investitionstätigkeit in der<br />

Periode bis 1960 nicht im Wohnungsbau konzentriert, wäre der Industrialisierungsprozeß<br />

viel schneller gewesen.<br />

Bei der oben skizzierten Investitionstätigkeit ist die Rolle des Staates<br />

sehr maßgebend gewesen 250 . Man rechnet, daß 33,4 % der Brutto-<br />

Anlageinvestitionen in der Zeit 1954—63 vom Staat durchgeführt<br />

worden sind. Dies ist „kennzeichend für eine Phase der griechischen<br />

Wirtschaft, während derer die Durchführung von Projekten in der<br />

Infrastruktur die wichtigste Seite der Bestrebungen zur wirtschaft-<br />

247 Siehe dazu G. E. Apostolakis: Epitevgmata tou elliknikou exilektrismou<br />

kai symvoli avtou is tin anaptyxin tis ethnikis mas oikonomias<br />

(Errungenschaften der griechischen Elektrifizierung und ihr Beitrag zur<br />

Entwicklung unserer Nationalwirtschaft) in „Archeion Oikonomikon kai<br />

koinomikon epistimon" (Archiv für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften),<br />

Bd. 42 (1962), Heft 2, S. 363—385. Siehe auch „Nea Oikonomia" (Neue<br />

Wirtschaft), Heft 3/1962, S. 248.<br />

248 Siehe dazu The Achievements of the National Government...,<br />

a.a.O., S. 75 f.<br />

249 Ethnikis Trapesis tis Ellados (Nationalbank von Griechenland):<br />

Oikonomikai exelixeis (Wirtschaftsentwicklungen), Jg. 4, Heft 13—14,<br />

S. 15, Tab. 10. Für 1966 und 1968: The Achievements of the National<br />

Government..., a.a.O., S. 175. Siehe auch Kentron Programmatismou kai<br />

Oikonomikon Erevnon (Zentrum für Planung und Wirtschaftsforschung):<br />

Schedion Programmatos (Entwurf eines Planes ...), a.a.O., S. 353, 354.<br />

250 Vgl. dazu die Rolle des Staates in der ökonomischen Entwicklung<br />

in Baran: The Political Economy of Growth, a.a.O., S. 92 f. Vgl. dazu das<br />

erhellende Kapitel „Capital Accumulation and Mercantilism" in Dobb:<br />

Studies in the Development of Capitalism, a.a.O., S. 177 ff. Vgl. auch oben<br />

Fußn. 91.


350 Marios Nikolinakos<br />

liehen Entwicklung war" 251 . Dies kommt um so mehr in Erscheinung,<br />

wenn man daran denkt, daß etwa 50 % der Privatinvestitionen im<br />

Wohnungsbau durchgeführt wurden 252 . Folgende Tabelle gibt Aufschluß<br />

über die Investitionstätigkeit des Staates und der Privaten in<br />

verschiedenen Zweigen in vier Jahren dieser Periode 253 .<br />

Anlageinvestitionen in %<br />

zu festen Preisen gerechnet a)<br />

1958 1959 1960 1961<br />

Staat Priv. Staat Priv. Staat Priv. Staat Priv.<br />

1. Landwirtschaft 18,8 14,4 15,5 15,9 22,6 15,4 25,2 12,3<br />

2. Bergbau 0,4 1,7 0,3 0,7 0,2 0,6 0,3 0,7<br />

3. Verarbeitung 0,9 20,3 0,4 16,7 4,2 10,3 7,4 9,8<br />

4. Energie, Bewässerungsanlagen<br />

24,5 1,3 25,8 1,9 18,6 2,1 16,9 0,8<br />

5. Verkehrswesen, Nachrichtenübermittlung<br />

32,1 10,6 33,9 10,9 37,7 17,1 35,7 19,3<br />

6. Wohnungsbau 8,8 41,4 7,9 42,1 3,8 41,3 2,3 42,6<br />

7. Verwaltung 5,6 — 6,0 — 5,8 — 4,4 —<br />

8. Sonstiges 8,9 10,3 10,2 11,8 7,1 13,2 7,8 14,5<br />

Insgesamt 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0<br />

a) In den Privatinvestitionen sind die Investitionen in der Schifffahrt<br />

nicht einbegriffen.<br />

Die Angaben sprechen für sich. Was noch erwähnt werden soll, ist<br />

der Einfluß des ausländischen Kapitals in dieser Periode. Die Tabelle<br />

auf S. 346 f. zeigt, wie der Trend und die Höhe der Kapitaleinfuhren<br />

gewesen sind. Wir haben oben auch Angaben über die amerikanische<br />

Hilfe gegeben. Nach vorhandenen Angaben betrug die Höhe der von<br />

1953 bis 1965 eingeführten Privatkapitalien unter dem Dekret 2687/<br />

1953, das die ausländischen Investitionen begünstigt, 281,5 Mio. Dol-<br />

251 Vasilikon Idryma Erevnon (Königliche Forschungsstiftung): Makrochronioi<br />

prooptikai tis ellinikis oikonomias (Langfristige Perspektiven<br />

der griechischen Wirtschaft), Athen 1967, S. 71. Die staatliche Investitionstätigkeit<br />

wurde durch die Militärdiktatur weiter intensiviert. Siehe dazu:<br />

The Achievements of the National Government..., a.a.O., S. 64—74 und<br />

Ypourgeion Syntonismou (Koordinationsministerium): Programma oikonomikis<br />

anaptyxeos tis Ellados 1968—1972 (Plan der wirtschaftlichen Entwicklung<br />

Griechenlands), Athen, Febr. 1968, S. 117—122.<br />

252 Siehe Vasilikon Idryma Erevnon (Königliche Forschungsanstalt):<br />

Makrochronioi prooptikai... (Landfristige Perspektiven ...), a.a.O., _S. 72.<br />

253 Ypourgeion Syntonismou (Koordinationsministerium) : National<br />

Accounts of Greece 1958—1961, Nr. 11, Athen 1962, S. 20—21.


Materialien zur kapitalistischen Entwicklung 351<br />

lar 254 . Die Gesamthöhe der eingeführten Kapitalien in den 60er Jahren<br />

betrug nach Angaben der Bank von Griechenland 255 :<br />

1960 70,2 Mio. Dollar 1965 224,6 Mio. Dollar<br />

1961 120,9 Mio. Dollar 1966 250,0 Mio. Dollar<br />

1962 99,7 Mio. Dollar 1967 226,5 Mio. Dollar<br />

1963 114,7 Mio. Dollar 1968 285,4 Mio. Dollar<br />

1964 178,7 Mio. Dollar 1969 a > 326,5 Mio. Dollar<br />

a) Januar—November.<br />

Viele große Investitionen fanden besonders nach 1960 statt und<br />

andere werden z. Z. durchgeführt 256 . Das betrifft die Ölraffinerie bei<br />

Athen 257 , das Kombinat Pappas (Gesamtinvestition 195 Mio. Dollar)<br />

254 Die Höhe der genehmigten Kapitaleinfuhren in der Zeit 1953—1966<br />

betrug 711,5 Mio. Dollar. Folgende Tabelle gibt Aufschluß über die Verteilung<br />

nach Zweigen und über die Nationalität dieser Genehmigungen.<br />

Millionen Dollar<br />

Zweig USA Frankr. Schweiz BRD England Sonst. Insges.<br />

Industrie 173,8 167,7 32,4 16,5 3,1 150,8 544,3<br />

Schiffbau — — — —<br />

1,1 49,9 51,0<br />

Bergbau 21,5 1,9 1,1 7,9 8,2 9,1 49,7<br />

Fremdenverkehr<br />

0,3 1,6 3,6 2,1 0,6 12,4 20,6<br />

Fluglinien — — — — — 4,5 4,5<br />

Fischerei<br />

(Atlantik) — — 1,3 0,6 0,5 1,1 3,5<br />

Verschiedenes 32,3 0,9 0,2 — 0,8 3,7 37,9<br />

229,0 172,1 38,6 27,1 13,2 231,5 711,5<br />

Sismanidis: Foreign Capital Investment in Greece, a.a.O., S. 346, 347.<br />

Etwa 32 °/o der Gesamteinfuhr ausländischen Kapitals ist nun amerikanisch.<br />

Von dem in der Industrie angelegten Kapital waren 32 % amerikanisch<br />

und 30 % französisch.<br />

255 Bank of Greece: Monthly Statistical Bulletin, March 1967, S. 66,<br />

und Febr. 1970, S. 65.<br />

256 Für die Zeit vor 1960 muß man die Werft von Niarchos bei Athen<br />

erwähnen. Im Jahre 1969 wurde bei Eleusis noch eine Werft vom Bankier<br />

Andreadis errichtet. Der Reeder Goulandris ist dabei, die kleine Werft<br />

auf der Insel Syros zu erweitern und eine Gesamtinvestition von 15 Mio.<br />

Dollar vorzunehmen. Siehe den Artikel von Th. Vokos in der Beilage<br />

über Griechenland der englischen Zeitung „Financial Times" vom 9. 3.<br />

1970, S. 17. Vgl. oben Fußn. 243.<br />

257 Die Ölraffinerie von Aspropyrgos, deren Kapazität 1,8 Mio. Tonnen<br />

öl pro Jahr beträgt, gehört dem Staat und war verpachtet worden. Nach<br />

Presseinformationen soll sich der Reeder Niarchos mit % an der Ölraffinerie<br />

von Aspropyrgos beteiligen und eine Investition in Höhe von 200<br />

Mio. Dollar zu ihrer Erweiterung vornehmen. Die Kapazität der Ölraffinerie<br />

Aspropyrgos soll danach auf 4,5 Mio. Tonnen erhöht werden. Der<br />

Vertrag mit Niarchos sieht auch die Gründung einer Werft, eine Maschinenbaufabrik,<br />

Beteiligung an dem vom Staat geplanten großen Hüttenwerk<br />

und anderen kleineren Objekten vor. „Naftemboriki", vom 10. 3. 70.


352 Marios Nikolinakos<br />

bei Thessaloniki 258 , das Aluminum-Werk von Pechiney (Gesamtinvestition<br />

130 Mio. Dollar) in der Nähe von Korinth, die Hüttenwerke bei<br />

Athen und unter dem Militärregime das Kombinat Nevros bei Missolongi,<br />

den Bau der Egnatia-Straße von der MacDonald Co. (Gesamtaufwand<br />

150 Mio. Dollar), eine Fabrik zur Autoherstellung, die erste<br />

in Griechenland (Gesamtwert 60 Mio. Dollar) 259 und zuletzt die große<br />

Investition von Onassis in Höhe von 600 Mio. Dollar 260 .<br />

Wenden wir uns jetzt kurz dem industriellen Sektor zu. Einige Informationen<br />

über die Investitionstätigkeit in diesem Bereich sind<br />

schon oben angegeben worden. Die erzielten Fortschritte in Richtung<br />

Industrialisierung können aus folgenden Angaben erschlossen werden.<br />

Die Daten der folgenden Tabelle geben nur ein Bild der Gesamtentwicklung<br />

261 .<br />

Pro-Kopf-Konsum in kg<br />

1952 1962<br />

Stahl 22,7 a > 68,0<br />

Zement 65,5 214,8<br />

Brennöl 76,9 110,2<br />

Dieselöl 41,3 89,2<br />

Elektrizitätsstrom<br />

für die Industrie (kwh) 43,3 134,5<br />

Braunkohle 34,9 295,8<br />

a) für 1953.<br />

258 Siehe dazu kurz in Nikolinakos: Griechenland auf dem Weg zur<br />

Industrialisierung, a.a.O., S. 21, Fußn. 38. Wie dort erwähnt, umfaßte die<br />

Investition von Pappas den Bau einer zweiten Ölraffinerie mit einer Gesamtkapazität<br />

von 2 Mio. Tonnen pro Jahr. Siehe weiter A. Angelopoulos:<br />

I koini agora, i ekviomichanisi kai i symvasi Thomas Pappas (Die EWG,<br />

die Industrialisierung und der Vertrag Thomas Pappas), in „Nea Oikonomia"<br />

(Neue Wirtschaft), Heft 2/1963.<br />

259 Siehe den Text des Vertrages in „Oikonomikos Tachydromos" vom<br />

26. 2. 1970.<br />

260 Siehe: The Achievement of the National Government ..., a.a.O.,<br />

S. 41 f. und „Naftemboriki" vom 10. 3. 70. Onassis wird eine dritte Ölraffinerie<br />

mit einer Gesamtkapazität von 7,5 Mio. Tonnen Petroleum bei<br />

Megara, ein Aluminiumwerk, ein Elektrizitätswerk und eine Reihe von<br />

sogenannten petrochemischen Industrien gründen. Vgl. auch oben Fußn.<br />

244. Bemerkenswert ist dabei, daß Onassis der erste Privatunternehmer<br />

ist, der das Privileg eines eigenen Elektrizitätswerkes besitzt, zumal die<br />

Elektrizität ein staatliches Monopol ist. Es ist auch bemerkenswert, daß<br />

beiden Kontrahenten, nämlich Niarchos und Onassis, aufgrund des Vertrages<br />

das Recht eingeräumt wird, ihre Ölraffinerien mit eigenem öl zu<br />

versorgen, was große Gewinne bedeutet, zumal die Reeder das öl mit<br />

eigenen Tankern befördern werden.<br />

261 Aus Ethnikis Trapesis tis Ellados (Nationalbank von Griechenland) :<br />

Oikonomikai Exelixeis (Wirtschaftsentwicklungen), Jg. 4, Heft 13—14,<br />

Tab. 9 auf S. 14.


Materialien zur kapitalistischen Entwicklung 353<br />

Nach Hadjoglou lag der „Industrialisierungs-Index" (d. h. das Verhältnis<br />

zwischen Gesamtzahl der Beschäftigten und der Zahl der im<br />

industriellen Sektor Beschäftigten) nach der Volkszählung von 1961<br />

bei 19,0 %. Zum Vergleich sei angeführt, daß dieser Index 48,7 für<br />

Deutschland, 36,9 für Frankreich, 39,3 für Italien, 32,3 für Holland,<br />

49,7 für die Schweiz, 35,0 für Kanada betrug 282 . Aufschluß für den<br />

Entwicklungsstand der Industrie in Griechenland gibt besonders das<br />

schon am Anfang dieser Abhandlung zitierte Buch von Prof. Coutsoumaris.<br />

Hiernach beschäftigten, worauf wir schon andeutungsweise<br />

hinwiesen, 94,7 % der Betriebe weniger als 10 Personen. Die Gesamtzahl<br />

der Betriebe nach der statistischen Erhebung von 1958 betrug<br />

109 236. Davon beschäftigten nur 5804 Betriebe, d. h. 5,3 % der Gesamtzahl,<br />

mehr als 10 Personen. Diese letzte Gruppe bezeichnet Coutsoumaris<br />

als „proper industry" 263 . Innerhalb dieser Gruppe beschäftigten<br />

nur 14,3 % der Betriebe mehr als 50 Personen. Zu der Gruppe<br />

der „proper industry" gehörten hauptsächlich die Tabak-, Textile<br />

Druck- und Papierindustrie wie auch die Zweige der Kohle- und Ölprodukte<br />

und die sogenannten „Basic metal industries" 264 . Aus vorhandenen<br />

Angaben für das Jahr 1963 geht hervor, daß die Gruppe<br />

der „proper industry", also die Gruppe der Betriebe mit mehr als 10<br />

Beschäftigten, nur 4,7% der Gesamtzahl der Betriebe ausmachte 265 .<br />

Interessant ist, daß die erzielten Fortschritte in der industriellen Produktion<br />

viel mehr auf den Zuwachs der Gesamtzahl der Betriebe als<br />

auf die Erweiterung der Produktionsanlage zurückzuführen sind 266 .<br />

69 % der Gesamtzahl der Betriebe „have still to rely entirely upon<br />

man-power and handtools", schreibt Coutsoumaris. Nur 31,1 % der<br />

Betriebe waren maschinell ausgerüstet 267 . Der manufakturelle Charakter<br />

der Industrie ist demzufolge klar. Aus einer schon zitierten<br />

Untersuchung des Produktivitätszentrums Griechenlands entnehmen<br />

wir folgende Tabelle, die maßgebend für die obige Feststellung ist.<br />

262 Hadzoglou: I apascholisis ton esoterikos metanastevonton (Die Beschäftigung<br />

der in die Stadt Ziehenden), a.a.O., S. 806 (10), Tab. V.<br />

263 Coutsoumaris: The Monopoly of Greek Industry, a.a.O., S. 36, 39.<br />

264 Coutsoumaris, a.a.O., Tabellen auf S. 38 und 40.<br />

265 Siehe National Statistical Service of Greece: Statistical Yearbook<br />

of Greece 1967, a.a.O., S. 212. Siehe auch P. Stratoudakis: Ta stelechi tis<br />

elinikis viomichanias (The executives in the Greek industries), Athen 1967<br />

(mit einer Zusammenfassung in Englisch), S. 40.<br />

266 Siehe Coutsoumaris, a.a.O., S. 46 und Fußnote.<br />

267 Coutsoumaris, a.a.O., S. 48 und Tab. auf S. 50—51. Die PS pro<br />

Beschäftigten war in der Industrie 1,2 im Jahre 1930, 1,03 im Jahre 1950<br />

und 1,8 im Jahre 1958. Ebenda, S. 49, Fußnote. Coutsoumaris hat eine Verlagerung<br />

des Verhältnisses der elektrischen Kraft seit 1930 feststellen<br />

können. Macht die elektrische Kraft 28,1 % der Gesamtkraft der Industrie<br />

im Jahre 1930 aus, so war sie im Jahre 1958 auf 68,7 gestiegen. Ebenda,<br />

S. 49 und Tabelle auf S. 52—53. Der Prozentsatz der ohne jegliche maschinelle<br />

Kraft arbeitenden Betriebe ging von 68,8 % im Jahre 1958 auf 56,3 %<br />

im Jahre 1963 zurück. Siehe Stratoudakis: Ta stelechi ... (The executives<br />

....), a.a.O., S. 41.


354 Marios Nikolinakos<br />

Diese Untersuchung bezeichnet als „Handwerk" Betriebe mit weniger<br />

als 25 Beschäftigten 268 .<br />

Handwerksbetriebe<br />

als % der<br />

Gesamtzahl der<br />

industr. Betriebe<br />

Beschäftigte im<br />

Handwerk als % der<br />

Gesamtbeschäftigten<br />

im industr. Sektor<br />

Lebensmittel 98,4 68,3<br />

Getränke 98,6 63,9<br />

Tabak 87,0 19,5<br />

Textilien 92,4 31,7<br />

Schuh- und Bekleidung 99,6 88,2<br />

Holz 99,5 89,9<br />

Möbel 99,4 87,1<br />

Papier 88,8 30,5<br />

Druck 95,2 57,4<br />

Leder 97,3 72,2<br />

Reifen 93,5 42,2<br />

Chemie 91,8 30,3<br />

Ölprodukte 90,5 26,3<br />

Metallkunde 61,5 4,2<br />

Maschinenbau 95,6 61,1<br />

Elektro-Geräte 96,4 45,7<br />

Verkehrsmittel 97,9 46,9<br />

Insgesamt werden 92,1 % der Betriebe von dieser Studie als Handwerk<br />

bezeichnet, bei dem 60,4% der im industriellen Sektor Arbeitenden<br />

beschäftigt sind. Aus der folgenden Tabelle 268 geht hervor,<br />

daß 55 % der industriellen Produktion im Jahre 1959 aus Betrieben<br />

mit weniger als 50 Beschäftigten stammt, wobei hervorgehoben werden<br />

muß, daß 42 % der Produktion aus den Manufakturen (Betrieben<br />

mit weniger als 20 Beschäftigten) herkommen.<br />

Größe der Betriebe<br />

nach Zahl der<br />

Beschäftigten<br />

%<br />

der Gesamtzahl<br />

der Betriebe<br />

%<br />

der Netto-<br />

Produktion<br />

%<br />

der<br />

Beschäftigten<br />

bis 10<br />

10—19<br />

20—49<br />

über 50<br />

94,5<br />

3.3<br />

1.4<br />

0,8<br />

33 a ><br />

9<br />

13<br />

45<br />

a) Die handwerkliche Produktion ist nicht mitgerechnet.<br />

55<br />

9<br />

9<br />

27<br />

Aus der Gesamtzahl der 5804 industriellen Betriebe („proper industry",<br />

Betriebe also mit mehr als 10 Beschäftigten) hatten im Jahre<br />

268 Mit Ausnahme des Zweiges der Tabakbearbeitung, wo Betriebe<br />

mit weniger als 50 Beschäftigten als Handwerk bezeichnet werden. Siehe<br />

Hinweise in Fußn. 6. Die Tabelle stammt aus S. 23.<br />

269 Coutsoumaris, a.a.O., S. 62.


Materialien zur kapitalistischen Entwicklung 355<br />

1958 nur 417 die Form einer Aktiengesellschaft und 115 die Form<br />

einer GmbH. Gerechnet nach der Gesamtzahl der Betriebe überhaupt<br />

waren nur 0,5 % Aktiengesellschaften, 9,8 % Handels- bzw. Kommanditgesellschaften<br />

und die übrigen 85,7 % Betriebe waren in persönlichem<br />

Besitz 270 . Interessant ist zu bemerken, daß nach Coutsoumaris<br />

nur V4 der Aktiengesellschaften mehr als 15 Aktionäre hatte<br />

271 . Wie aus der Tabelle auf S. 345 f. ersichtlich, sind die Industrie-<br />

Investitionen in der Nachkriegsperiode zurückgegangen. Coutsoumaris<br />

kommt zum gleichen Ergebnis. Er stellt fest, daß die Anlageinvestitionen<br />

in der Industrie von 19 % der Gesamt-Anlageinvestitionen<br />

in der Zeit 1948—52, auf 12,3% in der Zeit 1953—57, auf<br />

11,1 % in der Zeit 1958—61 und sogar auf 9% in den Jahren 1960—61<br />

zurückgegangen sind 272 . Ergebnis davon ist die Unfähigkeit der Industrie,<br />

neue Kräfte zu absorbieren. Coutsoumaris benutzt dafür einen<br />

„coefficient of industrial absorption", mit dem er zu dem Ergebnis<br />

kommt', daß die Industrie viel weniger neue Arbeitskräfte in der Nachkriegs-<br />

als in der Vorkriegszeit aufnimmt. Dieser Absorptions-Koeffizient<br />

ist nämlich in der Nachkriegszeit zurückgegangen 273 . Folge davon<br />

ist die große Auswanderung, von der wir noch im folgenden sprechen<br />

werden. Es wird gerechnet, daß insgesamt 484 400 Personen im<br />

Jahre 1961 in der Industrie tätig waren 274 . Es soll auch erwähnt werden,<br />

daß die Wachstumsrate der industriellen Produktion in der Nachkriegszeit<br />

nachgelassen hat. Von 9,5% in den Jahren 1948-—52 ging<br />

270 Coutsoumaris, a.a.O., S. 191.<br />

271 Ebenda. S. 195. Siehe weiter Ellis: Industrial Capital in Greek<br />

Development, S. 117—120. Kennzeichnend ist dazu, daß nur 7 Aktien an<br />

der Athener Börse 62 % des Gesamtwertes der an der Börse verhandelten<br />

Aktien darstellten und daß der Börsenwert der Aktien der Nationalbank<br />

von Griechenland V3 des Gesamtwertes aller Aktien an der Börse ist. Von<br />

den 78 an der Aktienbörse gehandelten Aktien gehören nur 5 Gesellschaften<br />

mehr als 1100 Aktionären und nur 20 mehr als 100 Aktionären. Siehe<br />

„Oikonomiki Poreia" (Wirtschaftszweig), Heft 19—20, Okt. 1969, S. 440 f.<br />

272 Coutsoumaris, a.a.O., Tab. auf S. 245, 248. Vgl. auch oben die Hinweise<br />

in Fußn. 237. Siehe auch Ellis: Industrial Capital in Greek Development,<br />

a.a.O., S. 42 ff.<br />

273 Der „coefficient of industrial absorption" ist das prozentuale Verhältnis<br />

zwischen dem jährlichen Zuwachs der in der Industrie Beschäftigten<br />

und dem Bevölkerungs- bzw. dem Zuwachs der Zahl der Beschäftigten.<br />

Dieser Koeffizient war 7,4 für 1928—1934, 6,0 für 1935—1938, 2,8 für<br />

1948—1952 und 4,4 für 1950—1961 (in bezug auf den Bevölkerungszuwachs),<br />

und 16,8, 17,0, 7,0 und 7,1 entsprechend in bezug auf den Zuwachs der<br />

Beschäftigten. Coutsoumaris, a.a.O., Tabelle auf S. 245. Coustoumaris<br />

führt dies auf die Tatsache zurück, daß sich die Struktur der Betriebe in<br />

Umwandlung von kleinen handwerklichen Betrieben zu Fabriken befindet,<br />

wobei die industrielle Expansion mit Arbeitskräften aus diesen sich<br />

auslösenden kleinen Betrieben, als mit neuen Arbeitskräften stattgefunden<br />

hat. Ebenda, S. 247 f.<br />

274 Siehe Coutsoumaris, a.a.O., S. 368. Die durchschnittliche Jahresbeschäftigung<br />

wurde mit 413 639 im Jahre 1958 und mit 471 564 im Jahre<br />

1963 beziffert. Siehe Nat. Statistical Service of Greece: Statistical Yearbook<br />

of Greece, 1967, a.a.O., S. 206. Siehe auch weiter im Text.


356 Marios Nikolinakos<br />

sie auf 5,3 % in den Jahren 1958—61 zurück 275 . In der Periode nach<br />

1960 ist eine Steigerung der Wachstumsrate der industriellen Produktion<br />

zu bemerken, die auf die Inbetriebnahme neuer, großer industrieller<br />

Einheiten zurückzuführen ist 276 . Nachstehende Tabelle gibt<br />

ein Bild der Struktur der griechischen Industrie (Betriebe mit mehr<br />

als 10 Beschäftigten, 1958) 277 .<br />

Bruttowert Nettowert (Value added)<br />

% %<br />

1. Konsumgüter 64,0 56,3<br />

2. Halbfabrikate 21,8 24,9<br />

3. Kapitalgüter 11,5 14,9<br />

4. Sonstige (z. B. Druck) 2,7 3,9<br />

100,0 100,0<br />

Immer noch bleibt bis Ende der 50er Jahre die griechische Industrie<br />

auf Konsum- und leichte Kapitalgüter gerichtet 278 . Eine Änderung ab<br />

1960 in Richtung der Kapitalgüterzweige ist jedoch vorhanden 279 .<br />

Ein anderes Merkmal der griechischen industriellen Entwicklung<br />

ist ihre regionale Konzentration. Auch in dieser Periode versammelt<br />

275 Coutsoumaris, a.a.O., auf Tabelle 245.<br />

276 So war z. B. die Zuwachsrate der Industrieproduktion 10,6 % 1964,<br />

8,0% 1965, 15,4% 1966. Siehe Trapesa tis Ellados (Bank von Griechenland)<br />

: I elliniki oikonomia kata to etos 1966 (Die griechische Wirtschaft im<br />

Jahre 1966), a.a.O., S. 26 f. Nach Angaben der Militärregierung (The Achievements<br />

of the National Government..., a.a.O., S. 52) war die Zuwachsrate<br />

5 % 1967 und etwa 8 % 1968.<br />

277 Coutsoumaris, a.a.O., S. 59.<br />

278 Coutsoumaris schreibt: „Evidently consumer and certain light producer<br />

goods make up the largest part of the relatively largescale establishments.<br />

Nearly two thirds of the output coming from such establishments<br />

is represented by foods, beverages, tobacco and chemicals", a.a.O.,<br />

S. 59. Nach neuesten Angaben, betreffend die Betriebe mit mehr als 150<br />

Beschäftigten, ist zwischen 1963 und 1967 ein Zuwachs von 16 % in bezug<br />

auf deren Zahl und 22,8 % in bezug auf die Beschäftigung in ihnen festzustellen.<br />

Die Zuwachsraten sehen folgendermaßen aus :<br />

Zahl der Betriebe Beschäftigte<br />

1963—1967 1963—1967<br />

1. Konsumgüter 10,1 % 15,1 %<br />

2. Halbfabrikate 28,0 % 21,7 %<br />

3. Kapitalgüter 22,2 % 37,4 %<br />

16,0 % 22,8 %<br />

Siehe „Oikonomikos Tachydromos" (Wirtschaftskurier), Heft 761, vom<br />

21. 11. 1968.<br />

279 In Anbetracht der Zielsetzung der vorliegenden Untersuchung<br />

verzichten wir hier auf eine Analyse der Kapitalstruktur der griechischen<br />

Industrie. Wir verweisen diesbezüglich auf Coutsoumaris, a.a.O., S. 150 ff.<br />

M. Kritikos: Oikonomika charaktiristika tis ellinikis viomichanias (Wirtschaftliche<br />

Merkmale der griechischen Industrie) in „Nea Oikonomia"<br />

(Neue Wirtschaft), Heft 6/1963, und Ellis: Industrial Capital in Greek<br />

Development, a.a.O., S. 47 ff.


Materialien zur kapitalistischen Entwicklung 357<br />

sich der größte Teil der Industrie im Raum Athen und Umgebung.<br />

Im Jahre 1958 waren 47 % der Gesamtzahl der Betriebe und 53 %<br />

der Gesamtzahl der Beschäftigten in der Umgebung Athens ansässig.<br />

Im Jahre 1963 stiegen diese Prozentsätze auf 50,4 % und 54,8 %. Die<br />

Beteiligung der Umgebung Athens an dem gesamten Industrieprodukt<br />

stieg von 45,9% im Jahre 1958 auf 56,8% im Jahre 1962 2S0 . Nach<br />

der Untersuchung von Ward lag der Prozentsatz der Beschäftigten in<br />

dem Bereich Athen und Umgebung in den verschiedenen Industriezweigen<br />

zwischen 20,5 und 74,4 % 281 . Bei den in Athen ansässigen<br />

Betrieben handelt es sich hauptsächlich um die größeren Betriebe wie<br />

auch um die Betriebe der schwereren Industrie, während die kleinen<br />

Betriebe, etwa der Lebensmittel-, Tabak-, Getränke- oder Lederindustrie,<br />

mehr auf das ganze Land verteilt sind 282 . Als Gründe dieser<br />

geographischen Konzentration werden die Marktgröße, die Rohstoffkosten<br />

und der infrastrukturelle Unterbau angeführt 283 . Durch<br />

neue große Investitionen (Gruppe Esso-Pappas, Kombinat Nevros)<br />

werden in Zukunft neue Investitionszentren in anderen Gegenden<br />

(Mazedonien z. B.) gebildet.<br />

Erwähnenswert auch in diesem Zusammenhang ist die schon<br />

zitierte Studie von Alexander über die griechischen Unternehmer.<br />

Nach seiner Untersuchung rekrutieren sich die griechischen Unternehmer<br />

(Betriebe mit mehr als 50 Beschäftigten) hauptsächlich aus<br />

Handwerkern und Kaufleuten. Etwa 30 % der Unternehmer sind)<br />

Söhne von Industriellen 284 .<br />

280 Siehe Kentron Programmatismou kai Oikonomikon Erevnon (Zentrum<br />

für Planung und Wirtschaftsführung) : Schedion Programmatos ...<br />

(Entwurf eines Planes...), a.a.O., S. 173. Vgl. auch Stratoudakis: Ta<br />

stelechi ... (The executives ...), a.a.O., S. 42.<br />

281 Siehe B. Ward: Problems of Greek Regional Development (griechische<br />

Ausgabe), Athens 1963, S. 49 ff., insb. Tabellen auf S. 51, 53, 57.<br />

Vgl. auch S. Geronymakis: Periferiaki katanomi tou ethnikou mas eisodimatos<br />

(Regionale Verteilung unseres Nationaleinkommens) in „Spoudai"<br />

(Studien), Jg. 13 (1962—63), Heft 2, insb. Tab. 2 auf S. 241. Nach dem Planentwurf<br />

des Zentrums für Planung und Wirtschaftsforschung (siehe vorige<br />

Fußnote, a.a.O.) erstreckten sich 65% des Zuwachses der Zahl der Betriebe<br />

und 85% der Zahl der Beschäftigten zwischen 1958—63 auf die<br />

Umgebung Athens. Die besten und modernsten Fabriken haben sich im<br />

Raum Athen niedergelassen. Es ist wichtig darauf zu verweisen, daß die<br />

meisten der oben erwähnten großen Investitionen (Siehe S. 350 f.) in der<br />

Nähe von Athen durchgeführt worden sind oder werden.<br />

282 Siehe Coutsoumaris, a.a.O., S. 120 und Tabelle auf S. 118—119,<br />

Ward, a.a.O., S. 56.<br />

283 Siehe Coutsoumaris, a.a.O., S. 128 ff., Ward, a.a.O., S. 49 f. Stratoudakis<br />

(a.a.O., S. 133) nennt auch die Konzentration der Bürokratie in<br />

Athen als einen weiteren Grund der industriellen Konzentration in Athen<br />

und Umgebung. Vgl. dazu G. Langrod: Reorganisation of Public Administration<br />

in Greece, OECD, Paris 1965, S. 25 f.<br />

284 Siehe Alexander: Greek Industrialists, a.a.O., S. 44—53, 126 ff.,<br />

insb. Tabelle 3.1 auf S. 45. Vgl. die Ausführungen von Dobb (Studies in the<br />

Development of Capitalism, a.a.O., S. 279 f.) in diesem Zusammenhang.


358 Marios Nikolinakos<br />

Es sei schließlich auf den Monopolisierungsgrad in der griechischen<br />

Industrie hingewiesen. Nach Angaben der Zeitschrift „Nea Oikonomia"<br />

(Neue Wirtschaft) für 1966 waren folgende Zweige von höchstens<br />

fünf Unternehmen beherrscht: Gummiwaren (1), Aluminium (1),<br />

öl (2), Stahl und Eisen (2), Bier (3), Düngemittel (3), Elektrogeräte (4),<br />

Papier (4), Automobilkarosserien (4), Zigaretten (4), Zement (5) 285 . Die<br />

meisten oben erwähnten Zweige waren bis vor kurzem monopolistisch<br />

und erst neuerdings werden sie zu Oligopolen umgewandelt.<br />

Die Werft von Niarchos z. B. bei Athen ist bis jetzt noch ein Monopol<br />

286 . Ellis erwähnt auch die Ortsmonopole, die öfters in der Lebensmittelindustrie<br />

herrschen 287 . Von Bedeutung ist auch der Einfluß der<br />

Banken auf dem industriellen Sektor. Folgende Tabelle zeigt die<br />

Bankenbeteiligung an Industrieunternehmen 288 .<br />

Zahl der Unternehmen<br />

Höhe der Beteiligung in % 100% 50—99% 25—49%<br />

Bank f. Industr.Entwicklung 9 6 5<br />

Nationalbank v. Griechenland-<br />

Gruppe — 4 12<br />

Commerzbank-Gruppe a) 1 3 —<br />

a) Auch die Ionische- und Volksbank gehören dazu.<br />

bis 24 %<br />

12<br />

Diese Banken beherrschen einen hinreichenden Teil der Industrie.<br />

Andreadis z. B., der Leiter der Commerzbank und der ihr angeschlossenen<br />

Banken ist Vorsitzender bei fünfzehn großen Aktiengesellschaften<br />

289 . In Anbetracht der kleinen Zahl der großen Unternehmen,<br />

weist dies auf die Konzentration des Kapitals hin. Aufgrund der<br />

oben erwähnten Verträge werden die Gruppen Esso-Pappas, Onassis<br />

und Niarchos 289 , zusammen mit den sich in Griechenland selbst for-<br />

285 „Nea Oikonomia" (Neue Wirtschaft), Heft 1/1966, S. 45. Siehe auch<br />

C. T. Aris: Klassenanalyse, in J. Meynaud: Bericht über die Abschaffung<br />

der Demokratie in Griechenland, Berlin 1969, S. 122 f.<br />

286 Vgl. auch oben Fußn. 256.<br />

287 Ellis: Industrial Capital in Greek Development, a.a.O., S. 177f.<br />

Zum Kartell-Wesen schreibt Ellis (ebenda, S. 179): „A small-scale, ingrown<br />

pattern of industrial production inevitably results in the ossification of<br />

market relations, even wihtout secret or public agreements among the<br />

entrepreneuers." Ellis erwähnt zwei Beispiele dafür, daß solche Monopole<br />

durch Beziehungen zu politischen Personen errichtet bzw. erhalten werden.<br />

Niarchos z. B. verhinderte durch die Drohung, er würde seine Werft<br />

nach Tanger verlegen, die Errichtung einer neuen Werft. Siehe Ellis,<br />

ebenda, S. 185, Fußn. 8. Wie aus den in Fußn. 257 erwähnten Informationen<br />

ersichtlich ist, zielt Niarchos darauf ab, den Zweig „Schiffbau" monopolistisch<br />

zu beherrschen.<br />

288 Vasos: Die Beziehungen zwischen Banken und Industrie in Griechenland,<br />

a.a.O., S. 139, 143, 149, und Tabelle auf S. 189—191. Vgl. auch<br />

Aris: Klassenanalyse, a.a.O., S. 122.<br />

289 Vasos, a.a.O., S. 158.<br />

290 Siehe die Hinweise in Fußnoten 256 bis 260. Vgl. ähnliche Entwicklungen<br />

in der kapitalistischen Entwicklung der europäischen Länder und<br />

der Vereinigten Staaten in Mandel: Traité d'économie marxiste, Bd. II,<br />

15<br />

2


Materialien zur kapitalistischen Entwicklung 359<br />

mierenden Konzernen, in Zukunft große Teile der Wirtschaft beherrschen.<br />

Die Monopolstellung des ausländischen Kapitals haben wir<br />

schon oben an geeigneter Stelle angedeutet.<br />

Will man nun den Stand der Industrialisierung des Landes zusammenfassen,<br />

so muß man mit der Feststellung anfangen, daß bis 1960<br />

keine großen Fortschritte in dieser Hinsicht gemacht worden waren.<br />

Der Zollschutz, unter dem die griechische Industrie immer gestanden<br />

hat 281 , hat dazu beigetragen, daß hauptsächlich kleine, marginale<br />

Betriebe entstehen bzw. bestehen, während auf der anderen Seite ein<br />

großer Monopolisierungstrend seitens der Großunternehmungen zu<br />

beobachten ist. Wenigstens bis 1960 blieb Griechenland immer noch<br />

ein Land der „predominantly agricultural, shipping and trading<br />

economy" 292 . Der Prozentsatz der industriellen Produktion hatte<br />

1959—60 18,7% des Brutto-Sozialproduktes erreicht 293 . Nur 28,1%<br />

der aktiven Bevölkerung waren im industriellen Sektor im Jahre<br />

1961 beschäftigt 294 . Erst durch die Erweiterung der Infrastruktur in<br />

der Periode 1950—60, die Vergrößerung des Marktes durch die Verbindung<br />

der Lokalmärkte, die Steigerung der Einkommen und die<br />

Akkumulation von Kapital 295 und die Assoziierung mit der EWG<br />

wurden die Grundlagen für eine beschleunigte Industrialisierung<br />

geschaffen. Ab 1960 hat Griechenland eine Phase angetreten, in der<br />

die Industrialisierung und die Umwandlung der Wirtschaft mit großen<br />

Schritten vorangeht. Dies zeigt sich zunächst in der Investitionsa.a.O.,<br />

S. 8 ff., 21 ff., 26 ff. Unter dem Title „Les empires des groupes<br />

financiers" führt Mandel Beispiel aus dem Konzentrationsprozeß in anderen<br />

Ländern an. Ebenda, S. 31 ff. „Les groupes financiers qui le contrôlent<br />

(les secteurs de la production) sout également les maîtres de banques, de<br />

compagnies d'assurances, de sociétés industrielles, commerciales et de<br />

transport, qui portent les noms les plus divers, et dont rien ne laisse<br />

supposer, à première vue, qu'elles sont reliées les unes aux autres." Mandel,<br />

a.a.O., S. 31. Andreadis ist die repräsentative Figur dafür in Griechenland.<br />

291 Siehe dazu Ellis, a.a.O., S. 254 ff., 333 ff.<br />

292 F. C. Mason: Greece, Economic and Commercial Conditions in<br />

Greece, London 1956, S. 1.<br />

293 Im Jahre 1948—49 war dieser Prozentsatz 15,1%. Siehe Coutsoumaris,<br />

a.a.O., S. 56. Vgl. Ellinikon Kentron Paragogikotitos (Griechisches<br />

Produktivitätszentrum) : Provlimata tis viotechnias... (Probleme des<br />

Handwerks ...), a.a.O., S. 55 ff. Der Prozentsatz liegt bei 30—35 % in den<br />

Vereinigten Staaten, England, Dänemark, Italien usw. Siehe Ellis, a.a.O.,<br />

S. 19.<br />

294 Nach OECD: Manpower policy and problems in Greece, Paris 1956,<br />

S. 23 f. Wohlgemerkt, in diesem Prozentsatz sind auch die Selbständigen<br />

mitgerechnet. Vgl. auch Kabanas, a.a.O., S. 83—85.<br />

295 Die Steigerung der Einkommen und die Wiederherstellung des<br />

Vertrauens zur Drachme nach der Währungsreform von 1953 haben die<br />

Sparfähigkeit und den Sparwillen gefördert. Die Spareinlagen der Privaten<br />

bei den Banken stiegen von 2,1 Mrd. Drachmen Ende 1953 auf 87,0<br />

Mrd. Drachmen Ende 1969. Siehe Bank of Greece: Monthly Statistical<br />

Bulletin, December 1963, S. 22, March 1970, S. 22.


360 Marios Nikolinakos<br />

tätigkeit in der Industrie, die wir vorher angeschnitten haben, wie<br />

auch in der Struktur der Handelsbilanz und besonders der Exporte,<br />

von denen wir im folgenden sprechen werden.<br />

Der oben geschilderte Prozeß hat hauptsächlich zu Lasten der<br />

Arbeiter und der Agrarbevölkerung stattgefunden. Aus vorhandenen<br />

Angaben über die Einkommensverteilung zwischen 1951 und 1958<br />

geht hervor, daß sich das Durchschnittseinkommen pro Jahr der drei<br />

wichtigsten Gruppen folgendermaßen entwickelt hat 296 :<br />

Bauern<br />

Arbeitnehmer<br />

Unternehmer a ><br />

1951<br />

7 964 Drachmen<br />

11 871 Drachmen<br />

19 038 Drachmen<br />

a) Auch die nicht verteilten Gewinne sind mitgerechnet.<br />

1958<br />

16 327 Drachmen<br />

25 973 Drachmen<br />

37 657 Drachmen<br />

Das Einkommen der Bauern war im Jahre 1951 um 3907 Drachmen<br />

niedriger als das Einkommen der Arbeitnehmer und um 11074<br />

Drachmen als das der Unternehmer. Die Unterschiede haben sich im<br />

Jahre 1958 verschärft. In diesem letzten Jahr war das Einkommen<br />

der Bauern um 9646 Drachmen niedriger als das Einkommen der<br />

Arbeitnehmer und um 21 330 Drachmen als das Einkommen der<br />

Unternehmer. Das Einkommen der Arbeitnehmer war um 7167<br />

Drachmen im Jahre 1951 und um 11 684 Drachmen im Jahre 1958<br />

niedriger als das Einkommen der Unternehmer. Zwischen beiden<br />

Jahren stieg das Durchschnittseinkommen der Bauern um 8363 Drachmen,<br />

der Arbeitnehmer um 14 102 Drachmen und das der Unternehmer<br />

um 18 619 Drachmen. Nimmt man das Jahr 1951 als Basis<br />

( = 100), dann ist der Zuwachs im Jahre 1958 219 für die Unternehmer,<br />

205 für die Bauern und 193 für die Arbeitnehmer 297 . Wenn man<br />

daran denkt, daß in dieser Zeit das Preisniveau gestiegen ist, dann<br />

kommt man zu dem Ergebnis, daß die Bauern und die Arbeitnehmer<br />

die „Last der Entwicklung" getragen haben 298 . Nach einer Unter-<br />

296 G. Geronymakis: Katanomi tou ethnikou eisodimatos kai tis apascholiseos<br />

en Elladi (Verteilung des Nationaleinkommens und der Beschäftigung<br />

in Griechenland) in „Archeion oikonomikon kai koinonikon<br />

epistimon" (Archiv für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften), Bd. 42<br />

(1962), Heft 4, Tabelle V, auf S. 805.<br />

297 Geronymakis, a.a.O., Tab. 7 auf S. 806.<br />

298 Der Großhandelsindex stieg von 100 im Jahre 1952 auf 150,6 im<br />

Jahre 1956, auf 147,8 im Jahre 1958, auf 150,2 im Jahre 1959, auf 162,6 im<br />

Jahre 1963 und auf 184,5 im Jahre 1969. Siehe Bank of Greece: Monthly<br />

Statistical Bulletin, January 1964, S. 90, 95, March 1970, S. 92. Der Durchschnittszuwachs<br />

des Großhandelsindex in der Zeit 1954—57 beträgt 7,2 %,<br />

in der Zeit 1958—61 0,8%. Siehe Bank von Griechenland: I elliniki oikonomia<br />

kata to etos 1961 (Die griechische Wirtschaft im Jahre 1961), a.a.O.,<br />

S. 53—54. Nach G. Mylonas (Neai Katefthinsis oikonomikis kai koinonikis<br />

politikis [Neue Richtlinien einer Wirtschafts- und Sozialpolitik] in „Ellinika<br />

Themata" [Griechische Themen], Athen 1959, S. 11—12) bekam die<br />

Agrarbevölkerung im Jahre 1957 etwa V3 des Gesamteinkommens, während<br />

sie etwa 62% der Gesamtbevölkerung ausmachte. Im bergigen Teil


Materialien zur kapitalistischen Entwicklung 361<br />

suchung des Zentrums für Planung und Wirtschaftsforschung stiegen<br />

die Löhne in der Industrie in der Zeit 1958—61 weniger als die Produktivität.<br />

Während die Durchschnitts-Zuwachsrate pro Jahr der<br />

Löhne 6,49 % betrug, lag die durchschnittliche Jahreszuwachsrate<br />

der Produktivität zwischen 8,9 % und 9,5 % 299 . Aus anderen Angaben<br />

geht hervor, daß der Konsumpreisindex zwischen 1953 und 1963 um<br />

150 % gestiegen ist und die Nominalhöhe um 91 %. Es ergibt'<br />

sich daraus, daß die Reallöhne um 24% zurückgingen 300 . Dagegen<br />

war die Profitrate (in bezug auf das Gesamtkapital) im Jahre 1961<br />

45 % für die Nationalbank, 94 % für die Kommerzbank, 42 % für die<br />

Ölraffinerie von Aspropyrgos, 75 % für die Zement-Fabrik Titan und<br />

510 % für die Aktiengesellschaft Importex 301 . Aus einer Untersuchung<br />

des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes für 1960 wurde ein Defizit für<br />

eine vierköpfige Arbeiterfamilie von 940 Drachmen festgestellt, wobei<br />

die Gesamtausgaben mit 3000 Drachmen und das Einkommen (Löhne<br />

des Mannes und der Frau) mit 2060 Drachmen beziffert wurden. Im<br />

Jahr 1963 hatte sich das Defizit auf 1270 Drachmen vergrößert 302 .<br />

Über die Wohnverhältnisse braucht man hier nicht auf Einzelheiten<br />

einzugehen 303 . Man muß schließlich die Struktur des Steuersystems<br />

erwähnen, das sich auf die indirekten Steuern stützt 304 und hauptdes<br />

Landes lebte V3 der Agrarbevölkerung und bekam nur Vs des Agrareinkommens.<br />

Dazu muß man erwähnen, daß die Durchschnitts-Bauernfamilie<br />

aus 4,2 Personen besteht.<br />

299 Siehe „Oikonomikos Tachydromos" (Wirtschaftskurier), Heft 505,<br />

vom 19. 12. 1962, S. 845 (1) und 860 (16). Auch Kanabas, a.a.O., S. 139 f.<br />

Interessant sind auch in diesem Zusammenhang die Ergebnisse der Untersuchung<br />

von J. Crockett: Consumer Expenditures and Incomes in Greece,<br />

Athens 1967, insb. S. 93 ff. und Tabelle auf S. 96, betreffend die Einkommensskala.<br />

300 Kabanas, a.a.O., S. 149—152. Nach einer neuesten Untersuchung<br />

wurden im Jahre 1967 die höchsten Löhne in den Zweigen der sogenannten<br />

schweren Industrie (Metallbau, Kohle- und ölprodukte) bezahlt. Dieser<br />

Befund wird hier als ein Hinweis auf die Dynamik dieser Zweige und<br />

die Vergrößerung ihrer Rolle erwähnt. Siehe S. M. Hadjoglou: I diarthrosis<br />

tis amivis ergasias ton misthoton is tin viomichanian-viotechnian kata<br />

ta eti 1965—1967 (Die Struktur des Arbeitsentgelts der Arbeitnehmer in<br />

der Industrie und im Handwerk in den Jahren 1965—67) in „Spoudai",<br />

Bd. 9 (1969), Heft 2, S. 310 f.<br />

301 Siehe Bank of Greece: Monthly Statistical Bulletin, January 1964,<br />

S. 43—47. D. S. Goûtas: Misthoi kai imeromisthia stin koini agora kai stin<br />

Ellada (Gehälter und Löhne in der EWG und in Griechenland), Athen<br />

1962, S. 9.<br />

302 Kabanas, a.a.O., S. 153—155.<br />

303 Siehe dazu Kabanas, a.a.O., S. 190 ff., auch E. Romanos: Ai stegastikai<br />

synthikai is tin Ellada (Die Wohnverhältnisse in Griechenland) in:<br />

„Nea Oikonomia" (Neue Wirtschaft), Heft 10/1963.<br />

304 Siehe dazu G. D. Konstantinou: Episkopisis tou ellinikou forologikou<br />

systimatos (Übersicht des griechischen Steuersystems). Athen 1960,<br />

G. F. Break — R. Turvey: Studies in Greek Taxation, Athens 1964, insb.<br />

S. 102 ff. Die indirekten Steuern machen etwa 80 % der Gesamteinnahmen<br />

aus.


362 Marios Nikolinakos<br />

sächlich die Konsumenten, nämlich Bauern und Arbeitnehmer belastet<br />

305 .<br />

Die kleinen Fortschritte in der Industrialisierung zeigen sich hauptsächlich<br />

in der Arbeitslosigkeit und dem Ausmaß der Auswanderung<br />

in dieser Periode.<br />

Die Arbeitslosigkeit betrug im Jahre 1961 238 900 Personen bei<br />

einer Gesamtzahl von 2 799 500 Beschäftigten, d. h. 6,5 %. Wenn man<br />

dann die Unterbeschäftigten, d. h. diejenigen, die nur teilbeschäftigt<br />

sind, dazu rechnet, die auf 624 700 Personen, d. h. 17,1 % der Beschäftigten<br />

geschätzt werden, dann kommt der Prozentsatz der Arbeitslosen<br />

und Unterbeschäftigten auf 23,6 %, gerechnet nach der Gesamtzahl<br />

der Beschäftigten 306 . In der Industrie betrug die Zahl der Arbeitslosen<br />

8,6 %. Der größte Arbeitslosen-Prozentsatz war in der Getränke-<br />

und Tabakindustrie (46,4%) und im Wohnungsbau (11,3%)<br />

zu bemerken 307 . Der Prozentsatz der Arbeitslosen war größer in den<br />

Provinzstädten als in Athen. Der Prozentsatz der Unterbeschäftigten<br />

war größer in der Landwirtschaft (24,3 %) 308 .<br />

305 Die Steuerhinterziehung hat in Griechenland legendären Ruf erhalten.<br />

Folgende Tabelle ist aufschlußreich in dieser Hinsicht. Sie gibt in<br />

% die Verteilung der Steuerpflichtigen für die Einkommenssteuer verschiedener<br />

Kategorien nach der Einkommenshöhe im Jahre 1960 an.<br />

Ein- Beziehers) Kaufkommen<br />

von festen leute Arbeit- Bauern Freie Rentner<br />

in Ein- Indu- nehmer Berufe<br />

Drachmen kommen strielle<br />

bis 30 000 51,6 49,8 35,8 45,0 16,0 28,3<br />

30—100 000 42,2 44,5 55,4 52,5 67,2 67,7<br />

100—400 000 5,5 5,1 8,6 2,5 16,3 4,0<br />

üb. 400 000 0,7 0,6 0,2 — 0,5 —<br />

100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0<br />

a) Mieten, Grundrechte, Zinsen, Dividenden.<br />

Siehe E. Roukis: I forologia tou eisodimatos (Die Einkommensbesteuerung)<br />

in: „Nea Oikonomia" (Neue Wirtschaft), Heft 9/1961, S. 588. Es ist ersichtlich,<br />

daß die Bezieher von festen Einkommen und die Kaufleute und Industriellen<br />

am stärksten in der untersten Einkommensschicht vertreten sind.<br />

Dagegen sind in der danach folgenden Stufe die Arbeitnehmer, die Bauern,<br />

die Rentner, zusammen mit den freien Berufen am stärksten vertreten.<br />

Auffallend ist, daß der Prozentsatz der Arbeitnehmer, die ein Einkommen<br />

zwischen 100—400 000 Drachmen angegeben haben, höher als derjenige<br />

der Kaufleute und Industriellen und der Bezieher von festen Einkommen<br />

liegt!<br />

306 Siehe dazu „Oikonomikos Tachydromos" (Wirtschaftskurier), Heft<br />

444 vom 18. 10. 1962, S. 715 (11), OECD: Manpower policy ..., a.a.O.,<br />

S. 26 f., und Kabanas, a.a.O., S. 170 f.<br />

307 OECD: Manpower policy ..., a.a.O., S. 27, Kabanas, a.a.O., S. 172 f.<br />

308 Siehe „Oikonomikos Tachydromos" (Wirtschaftskurier), Heft 444<br />

vom 18. 10. 1962, a.a.O., S. 715 (11). S. Hadjoglou: I anergia is tin Ellada<br />

(Die Arbeitslosigkeit in Griechenland) in: „Oikonomikos Tachydromos"


Materialien zur kapitalistischen Entwicklung 363<br />

Diese Arbeitslosen, die weder in der Landwirtschaft beschäftigt<br />

noch von der Industrie aufgenommen werden konnten, fanden einen<br />

Ausweg in der Auswanderung. In der Nachkriegszeit erleben wir<br />

wieder eine große Auswanderungswelle, die sich zuerst nach Amerika,<br />

Kanada und Australien, später nach europäischen Ländern und<br />

besonders nach Deutschland wandte. Die erste Auswanderungswelle<br />

begann im Jahre 1954 und richtete sich nach Belgien. Erst ab 1959<br />

kommt die Bundesrepublik an erster Stelle als Aufnahmeland von<br />

griechischen Auswanderern, „Gastarbeiter" genannt 309 . Nachstehende<br />

Tabelle 310 gibt Aufschluß über die Entwicklung der Auswanderung<br />

in dieser Periode, woraus die Verlagerung von den überseeischen zu<br />

den europäischen Ländern klar zum Ausdruck kommt.<br />

Gesamtzahl Überseeische Europäische<br />

der Aus- Länder Länder<br />

wanderer Zahl % Zahl %<br />

1955 28 787 19 766 66,4 6 068 20,4<br />

1956 35 349 23 147 65,5 7 780 22,0<br />

1957 30 428 14 783 48,6 13 046 42,9<br />

1958 24 521 14 842 60,5 6 567 26,8<br />

1959 23 684 13 871 58,6 6 713 28,3<br />

1960 47 768 17 764 37,2 26 927 56,4<br />

1961 58 837 17 336 29,5 39 564 67,2<br />

1962 84 054 21 959 26,1 60 754 72,3<br />

1963 100 072 24 459 24,4 74 236 74,2<br />

1964 105 569 25 327 24,0 79 489 75,3<br />

1965 117 167 29 036 24,8 87 242 74,5<br />

1966 86 896 33 093 38,1 53 050 61,0<br />

1967 42 730 26 323 61,6 15 658 36,6<br />

1968 50 866 25 891 50,8 23 501 46,2<br />

Nach einem Rückgang im Jahre 1967 wegen der Rezession in<br />

Deutschland setzt sich der Auswanderungstrend immer fort. Nach<br />

neuesten Angaben für die Zeit Januar—Juli 311 , hat die Auswande-<br />

(Wirtschaftskurier), Heft 465 vom 14. 3. 1963, S. 184 (8), OECD: Manpower<br />

policy ..., a.a.O., S. 27, 29. Nach Angaben von Kabanas, a.a.O., S. 168, war<br />

44,4 °/o der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft überflüssig.<br />

309 Siehe B. Filias: I metanastefsi Ellinon ergaton stin Germania kai oi<br />

synepies tis (Die Auswanderung griechischer Arbeiter in die Bundesrepublik<br />

und ihre Rückwirkungen) in: „Koinoniologiki skepsi" (Soziologisches<br />

Denken), Heft 1/1966, Athen, S. 177 ff., und S. Valsamidis: Die griechischen<br />

Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland, Athen 1964, S. 11 f.<br />

310 Aus X. Zolotas: International Labor Migration and Economic<br />

Development, Athens 1966, S. 34. Für 1966, Trapesa tis Ellados (Bank von<br />

Griechenland) : I elliniki oikonomia kata to etos 1966 (Die griechische Wirtschaft<br />

im Jahre 1966), a.a.O., S. 48—50, und National Statistical Service of<br />

Greece: Statistical Yearbook of Greece 1967, a.a.O., S. 47—48. Für 1967<br />

und 1968 National Statistical Service of Greece: Monthly Statistical Bulletin,<br />

January 1970, S. 6.<br />

311 „Oikonomikos Tachydromos" (Wirtschaftskurier), Heft 829 vom<br />

12. 3. 1970, S. 6.


364 Marios Nikolinakos<br />

rung im Jahre 1969 um 120,9 % im Vergleich zu 1968 zugenommen.<br />

Interessant ist die Bemerkung, daß ein großer Teil der Auswanderer<br />

(24%) Arbeitslose gewesen sind 312 . Mehr als die Hälfte der Auswanderer<br />

(nämlich 52 %) waren Bauern und ungelernte Arbeiter 313 . Dazu<br />

muß man erwähnen, daß etwa 80—90 % der Auswanderer im produktiven<br />

Alter von 15—44 Jahren sind 314 . Schließlich muß bemerkt<br />

werden, daß der größte Prozentteil der Auswanderer aus den unterentwickelten,<br />

zurückgebliebenen Bezirken stammt (Mazedonien 40 %,<br />

Epirus 8,5 %, Thrazien 8,3 %, Peloponnes 8,5 %) 315 . Eine große <strong>Diskussion</strong><br />

entstand in den Jahren 1963—65 über die Auswirkungen der<br />

312 24% der Auswanderer waren arbeitslos bzw. nie in produktiver<br />

Arbeit in Griechenland beschäftigt. Siehe Valsamidis, a.a.O., S. 36. Nach<br />

dem Statistischen Amt haben sich die Prozentsätze zwischen den in der<br />

Zeit vor ihrer Auswanderung einen Beruf Ausübenden und den keinen<br />

Beruf Ausübenden folgendermaßen entwickelt:<br />

1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966<br />

Mit Beruf 63,6 63,3 71,9 74,8 60,9 55,3 46,3<br />

Ohne Beruf 36,4 36,7 28,1 25,2 39,1 44,7 53,7<br />

100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0<br />

zitiert in: Bank von Griechenland: I elliniki oikonomia kata to etos 1966<br />

(Die griechische Wirtschaft im Jahre 1966), a.a.O., S. 49. Es ist ersichtlich,<br />

daß mit der Zeit, für diejenigen, die einen Beruf erlernt hatten, Beschäftigungsmöglichkeiten<br />

geschaffen wurden, so daß sich ihr prozentualer<br />

Anteil-an der Gesamtzahl der Auswanderer verringert hat. Siehe weiter<br />

im Text.<br />

313 Siehe Valsamidis, a.a.O., S. 36. Die Prozentsätze der angelernten<br />

und ungelernten Auswanderer waren für vier Jahre:<br />

Ungelernte Angelernte<br />

in % in %<br />

1959 82 18<br />

1960 64 36<br />

1961 54 46<br />

1962 44 56<br />

Siehe P. Joka: Thetiki simia apo tin metanastevsi (Wirklicher Schaden aus<br />

der Auswanderung) in: „Oikonomikos Tachydromos" (Wirtschaftskurier),<br />

Heft 490 vom 5. 9. 1963, S. 610 (6). Siehe auch „Nea Oikonomia" (Neue<br />

Wirtschaft), Heft 12/1963, S. 1004. Vgl. OECD: Manpower policy ..., a.a.O.,<br />

S. 33.<br />

314 Die größten Ballungen sind in den Altersstufen 20—24 und 25—29<br />

zu beobachten. Siehe dazu Nat. Statistical Service of Greece: Statistical<br />

Yearbook of Greece 1962, a.a.O., S. 39. Derselbe: Statistical Yearbook of<br />

Greece, 1967, a.a.O., S. 52.<br />

315 Obwohl auch der Prozentsatz in Attika, dem am stärksten industrialisierten<br />

Bezirk, hoch liegt (8,9%). Siehe Valsamidis, a.a.O., S. 27.<br />

Daraus ist zu entnehmen, daß die Auswanderung die Arbeitslosen in die<br />

Städte und die Unterbeschäftigten in die Landwirtschaft gezogen hat.<br />

Uber die Gründe der Auswanderung siehe „case-studies" aus verschiedenen<br />

Bezirken in: „Nea Oikonomia" (Neue Wirtschaft), Heft 4—5/1966,<br />

S. 302—331.


Materialien zur kapitalistischen Entwicklung 365<br />

Auswanderung auf die Bevölkerungsstruktur und den Bevölkerungszuwachs,<br />

wie auch auf die wirtschaftliche Entwicklung des Landes 31 ®.<br />

Kommen wir jetzt kurz auf die Lage in der Landwirtschaft zu sprechen.<br />

Wie schon bemerkt (Argument 57, S. 191), wurde durch die Bodenreform<br />

in der vorigen Periode der Großgrundbesitz aufgelöst. Die am<br />

Ende des Zweiten Weltkrieges noch in Händen des Großgrundbesitzes<br />

befindliche Fläche wurde auf 150—160 000 Hektar geschätzt 317 . Nach<br />

amtlichen Schätzungen betrug die Fläche des Großgrundbesitzes im<br />

Jahre 1951 178 700 Hektar, wovon 85 000 Hektar Privatbesitz, 32 000<br />

Hektar Besitz von <strong>Institut</strong>ionen des öffentlichen Rechts, 28 000 Hektar<br />

Besitz der Kirche und von Klöstern waren. Die Zahl der Besitzlosen<br />

bzw. Kleinbauern, denen dieses Land zugeteilt werden sollte,<br />

wurde mit 100 000 bis 125 000 Personen beziffert, wovon 76825 Besitzlose<br />

und die restlichen Zwergbauern waren 318 . Durch Art. 102 der<br />

Verfassung von 1952 und Gesetz 2185/1952 wurde die Auflösung des<br />

Großgrundbesitzes und die Ansiedlung von Besitzlosen weiter getrieben<br />

319 . Das Problem der Besitzverhältnisse in dieser Periode<br />

erscheint nun vielmehr als Problem der Größe der landwirtschaftlichen<br />

Betriebe und der Zersplitterung der Äcker. Folgende Tabelle<br />

gibt die Verteilung des Ackerbaus nach Größe im Jahre 1950 an 320 :<br />

Größe der<br />

landw. Betriebe<br />

Zahl der<br />

Betriebe<br />

bis 1 Hektar 286 806 28,51<br />

1— 5 Hektar 573 198 56 94<br />

5— 10 Hektar 114 327 11,35<br />

10— 20 Hektar 25 912 2,57<br />

20— 50 Hektar 5 361 0,53<br />

50—100 Hektar 651 0,06<br />

über 100 Hektar 382 0,04<br />

1 006 637 100,0<br />

316 Siehe dazu Zolotas, a.a.O., S. 40 ff. A. Angelopoulos : Anatomia tis<br />

ellinikis metanastevseos (Anatomie der griechischen Auswanderung) in:<br />

„Nea Oikonomia" (Neue Wirtschaft), Heft 4—5/1966, S. 298—302. A. Damaskinidis:<br />

To provlima tis exoterikis metanastevseos ton ellinon ergasomenon<br />

(Das Problem der Auswanderung der griechischen Arbeitnehmer),<br />

Thessaloniki 1967 (Sonderdruck), insb. S. 366 ff. Siehe G. Triantis: Population,<br />

emigration and economic development in UNO: World Population<br />

Conference 1965, New York 1967, Bd. IV, S. 244—248. OECD: Manpower<br />

policy ..., a.a.O., S. 34 ff.<br />

317 Siehe oben Fußn. 117.<br />

318 Siehe Stefanidis: Mathimata Agrotikis Politikis (Vorlesungen über<br />

Agrarpolitik), a.a.O., S. 109, Fußn. 1.<br />

319 Siehe Kalitsounakis: Efirmosmeni politiki oikonomia (Angewandte<br />

politische Ökonomie), a.a.O., S. 115. McNeill: Greece, a.a.O., S. 82 f., erwähnt,<br />

daß diese Gesetzgebung den Besitz über 40 Hektar betraf. Danach<br />

wurden etwa 50 000 Hektar verteilt, oft jedoch rechtswidrig.<br />

320 N. Christodoulon: Geniki episkopisis tis ellinikis georgias (Allgemeine<br />

Ubersicht der griechischen Landwirtschaft), in „Spoudai" (Studien),<br />

Bd. 12 (1961—62), Heft 11—12, S. 2, Fußn. 2.<br />

%


366 Marios Nikolinakos<br />

Im Jahre 1961 stieg der Prozentsatz der Betriebe infolge der Bodenreform<br />

nach 1952 zwischen 10—50 Hektar von 59,94 % im Jahre 1950<br />

auf 58,3% zu Lasten der größeren Betriebe. Im allgemeinen sind<br />

etwa 85 % der Gesamtzahl der landwirtschaftlichen Betriebe kleiner<br />

als 5 Hektar. Etwa 37 % der Betriebe im Jahre 1960 waren kleiner<br />

als 1 Hektar und machten 7 % der Gesamtfläche des bebaubaren<br />

Ackers aus. Die Durchschnittsgröße der Betriebe betrug 3,6 Hektar 321 .<br />

Nach Klimis betrug die Durchschnittszahl der Äcker pro landwirtschaftlichem<br />

Betrieb im Jahre 1950 5,6 Hektar 322 . Der Staat hat versucht,<br />

durch entsprechende Maßnahmen die Zersplitterung der Äcker<br />

weitgehend zu beseitigen 323 . Durch die Meliorations- und Bewässerungswerte,<br />

die in der Landwirtschaft nach dem Krieg durchgeführt<br />

wurden, durch die Erweiterung des Straßenbaus und durch eine Politik<br />

zur Förderung der intensiven Bebauung hat sich die Landwirtschaft<br />

weiter kapitalisiert und sich fast völlig dem kapitalistischen<br />

Markt angeschlossen. Die bebaute Fläche betrug 1961 3,67 Mio. Hektar,<br />

wovon 11 % bewässert wurden 324 . Der Verbrauch von Düngemitteln<br />

stieg von 48 000 Tonnen in der Zeit 1948/49—1952/53 (Juni/Juli) auf<br />

128 800 Tonnen im Jahre 1959/60 und auf 140 700 Tonnen im Jahre<br />

1960/6 1 325 . Die Versorgung der Landwirtschaft mit aller Art land-<br />

321 Siehe A. Kellas: I elliniki georgia entos tis koinis agoras (Die<br />

griechische Landwirtschaft innerhalb der EWG), in: „Oikonomikos Tachydromos<br />

(Wirtschaftskurier), Heft vom 29. 3. 1962, S. 224—225 (8—9). S.<br />

P. Panagos: I agrotiki oikonomia mas sta plaisia tis koinis agoras (Unsere<br />

Agrarwirtschaft im Rahmen der EWG), in: „Nea Oikonomia" (Neue Wirtschaft),<br />

Heft 1/1962, S. 84. A. N. Klimis: I agrotiki oikonomia (Die Agrarwirtschaft),<br />

Athen 1961, S. 22, 27. Kienitz: Existenzfragen des griechischen<br />

Bauerntums, a.a.O., S. 42.<br />

322 Klimis, a.a.O., S. 27.<br />

323 Siehe dazu die Untersuchung von K. Thomson: Form fragmentation<br />

in Greece, Athens 1963, die wir nicht einsehen konnten. Nach Angaben<br />

des Abteilungsleiters für Ansiedlungspolitik des Landwirtschaftsministeriums<br />

N. Katsoulis, umfaßte die neue Verteilung des Bodens zwischen<br />

1953—1962 zwecks Minderung der Zersplitterung 164 Dörfer, 38 444 Bauern<br />

und nur 107 463 Hektar Land. Aus 418 401 Äckern wurden nach der Neuverteilung<br />

51 893. Siehe N. Katsoulis: I exelixis tou agrotikou anadasmou<br />

is tin Ellada (Die Entwicklung der landwirtschaftlichen Neuverteilung in<br />

Griechenland), in: „Oikonomikos Tachydromos" (Wirtschaftskurier), Heft<br />

469 vom 11. 4. 1963, S. 241 (1) und A. Kellas: O agrotikos anadasmos (Die<br />

landwirtschaftliche Neuverteilung). Ebenda, Heft 508 vom 9. 1. 1964, S.<br />

23 (7). Die Ergebnisse werden von Katsoulis als „unbefriedigend" bezeichnet.<br />

Nach 1960 betrifft die neue Zwangsverteilung des Bodens die Hälfte<br />

der Ackerfläche und mehr als die Hälfte der Besitzer. Siehe Katsoulis,<br />

ebenda, Tabelle 2.<br />

324 Die bewässerte Fläche stieg von 340 000 Hektar im Jahre 1956 auf<br />

410 000 Hektar im Jahre 1960. Siehe F AO: Production Yearbook 1961,<br />

Tab. 2, S. 8. Über den Investitionsanfang in der Landwirtschaft, siehe<br />

oben die Tabelle auf S. 346 f.<br />

325 Stickstoff-, Kali- und Phosphordüngemittel. FAO: Production<br />

Yearbook 1961, Tab. 98, 99, 100 auf S. 257, 260, 263.


Materialien zur kapitalistischen Entwicklung 367<br />

wirtschaftlicher Maschinen wurde weiter betrieben 326 . Die staatliche<br />

Politik hat auch während dieser Periode den Anbau von der Getreide-<br />

auf die Produktion von sogenannten Industriepflanzen zu verlagern<br />

versucht, ohne Erfolg jedoch, zumal die Schutzpolitik der Getreideproduktion<br />

beibehalten wurde und andere Voraussetzungen,<br />

wie die Ausbildung der Bauern, infrastrukturelle Grundlagen, Anreize<br />

zur Umwandlung in neue Produktionen nicht geschaffen wurden<br />

327 . Folgende Tabelle gibt ein Bild der Produktionsstruktur der<br />

Landwirtschaft in der Nachkriegszeit 328 .<br />

Landwirtschaftliche Produktion zwischen 1950'—1965<br />

A. Bebaute Fläche in 1000 Hektar<br />

Weizen Reis Baumwolle Tabak Gemüse<br />

1950 867 10 77 103 49<br />

1955 1040 18 166 129 72<br />

1960 1142 14 165 94 91<br />

1965 1258 24 136 132 105<br />

B. Produktion in 1000 Tonnen<br />

1950 850 32 79 58 736<br />

1955 1337 61 189 97 922<br />

1960 1666 55 184 64 1 136<br />

1965 2672 104 228 126 1 140<br />

C. Durchschnittsertrag (kg/Hektar)<br />

1950 980 3298 1026 580 27 921<br />

1955 1286 3476 1139 754 27 800<br />

1960 1457 3928 1115 680 27 642<br />

1965 1647 4333 1676 954 25 996<br />

Wie ersichtlich nimmt immer noch etwa V3 der bebauten Gesamtfläche<br />

die Weizenproduktion in Anspruch 329 . Die Zahlen weisen auf<br />

326 Die Zahl der Zugmaschinen stieg z. B. von 8950 im Jahre 1955 auf<br />

49 093 im Jahre 1965, der Drescher von 750 auf 3763. Siehe Nat. Statistical<br />

Service of Greece: Statistical Yearbook of Greece, 1962, a.a.O., S. 178, und<br />

Statistical Yearbook 1967, a.a.O., S. 181.<br />

327 Siehe zu diesem Thema in: „Oikonomikos Tachydromos" (Wirtschaftskurier),<br />

Heft 504 vom 12. 12. 1963, S. 835 (7). Siehe Valsamidis: Stasimotis<br />

paragogis kai meiosis eisodimatos (Stagnation der Produktion und<br />

Minderung des Einkommens), ebenda, Heft vom 12. 4. 1962, S. 262 f. (10 f.)<br />

und N. Xanthakis: I anadiarthrosis ton kalliergeion kai i anaptyxis tis<br />

ktinotrofias (Die Umwandlung des Anbaus und die Entwicklung der Viehzucht),<br />

ebenda, Heft 507 vom 2. 1. 1964, S. 1, 12.<br />

328 Nat. Statistical Service of Greece: Statistical Yearbook of Greece<br />

1967, S. 178—180.<br />

329 Die vorhandenen Angaben weisen in der Zeit 1950—1965 auf eine<br />

Minderung der Anbaufläche der übrigen Getreidesorten hin. Siehe den<br />

Hinweis in der vorigen Fußnote.


368 Marios Nikolinakos<br />

eine Steigerung der Produktivität hin, die bei den Industriepflanzen<br />

viel höher liegt als bei dem Weizenbau 330 .<br />

Es läßt sich nun sagen, daß die griechische Landwirtschaft sich in<br />

einem Umwandlungsprozeß befindet, der jedoch langsam vorangeht.<br />

Die mono- bzw. oligokulturellen Verhältnisse werden graduell abgebaut.<br />

Der Tabak behält immer noch eine zentrale Stellung in den<br />

Exporten, die Stellung der Korinthen jedoch ist zurückgetreten. Die<br />

Getreideproduktion stellt noch weiterhin den größten Teil der landwirtschaftlichen<br />

Produktion dar, die kapitalistischen Verhältnisse<br />

sind jedoch weitgehend in die Landwirtschaft eingedrungen. Ein großer<br />

Teil der Agrarproduktion kommt auf den Markt. Der Industriezweig<br />

der Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte hat begonnen<br />

an Bedeutung zu gewinnen 331 . Obwohl diese Entwicklungen mehr<br />

ansatzweise als vollständig vorhanden sind, gehen sie so langsam<br />

voran, daß die Agrarbevölkerung darunter leidet. Die Überbevölkerung<br />

in der Landwirtschaft fand in der Urbanisierung und in der<br />

Auswanderung einen Ausweg 332 . Die Agrarbevölkerung ist immer<br />

noch der Ausbeutung des Privathandels und des Industriekapitals<br />

ausgesetzt, was auf die Ohnmacht der Genossenschaften und das<br />

330 Der Vergleich mit der Vorkriegszeit macht den Unterschied klarer:<br />

Der Durchschnittsertrag in kg pro Hektar war:<br />

Weizen<br />

Mais<br />

Baumwolle<br />

Kartoffeln<br />

Reis<br />

Vorkriegszeit<br />

576—694<br />

976<br />

715<br />

6930<br />

2020<br />

Nachkriegszeit<br />

1400<br />

1440<br />

1320<br />

11 030—11 480<br />

3 492—4 095<br />

Siehe Christodolou, a.a.O., S. 4. Xanthakis kommt zu der Schlußfolgerung,<br />

daß in der Zeit 1953—60 die griechische Landwirtschaft durch eine sehr<br />

niedrige (die niedrigste in Europa) Produktivitäts-Zuwachsrate (2 % jährlich)<br />

gekennzeichnet wird und daß keine Kapitalisierung in ihr (im Sinne<br />

einer Ersetzung der Arbeitskraft durch Kapital) stattgefunden hat. Siehe<br />

N. Xanthakis: I paragogikotis tis ellinikis georgias (Die Produktivität der<br />

griechischen Landwirtschaft), in: „Epitheorisis oikonomikon kai politikon<br />

epistimon" (Rundschau der Wirtschafts- und politischen Wissenschaften),<br />

Bd. 1962, Heft 3/4, S. 263 f., 255.<br />

331 Siehe dazu das umfangreiche Material in der Sonderausgabe der<br />

Wochenzeitung „Oikonomikos Tachydromos" (Wirtschaftskurier), Heft 797,<br />

vom 31. 7. 1969 unter dem Titel: Georgikai Viomichaniai (Agrarindustrien).<br />

332 Siehe oben im Text. Siehe auch zu diesem Thema A. A. Pepelasis-<br />

P. A. Yotopoulos: Surplus Labour in Greek Agriculture, 1953—1960,<br />

Athens 1962, was wir nicht einsehen konnten. Vgl. „La surpopulation<br />

agraire est, dans l'agriculture des pays capitalistes, l'exédent de la population<br />

qui résulte de la ruine des grandes masses de la paysannerie; cette<br />

population ne peut être que partiellement occupée dans la production<br />

agricole et ne trouve pas à s'employer dans l'industrie". Académie des<br />

Sciences de l'URSS: Manuel d'Economie Politique, a.a.O., S. 157.


Materialien zur kapitalistischen Entwicklung 369<br />

Fehlen der Organisation der Bauern zurückzuführen ist 335 . Folgende<br />

Übersicht untermauert die obige Behauptung 334 :<br />

Industriezweig der Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte<br />

Private<br />

Genossenschaften<br />

Milchindustrie 95% 5%<br />

Käse (Qual. A) 3% 95%<br />

(üblich) 99% 1%<br />

Butter 70% 30%<br />

Milchkondensierung 30% 70 % (mit Agrarbank)<br />

Weichkäse 95% 5 % (mit Agrarbank)<br />

Wein 30% 70%<br />

Obst und Gemüse 84% 16%<br />

Olivenöl 77% 23%<br />

Kernölproduktion 73% 27%<br />

Unterkühlung 82% 18 % (mit Agrarbank)<br />

Futter 75% 25 % (mit Agrarbank)<br />

Wurstfabrikation u. a. 100 °/o —<br />

Die Abhängigkeit von Handel und Industrie, in die die Bauern<br />

unter diesen Umständen geraten, wird weitgehend durch den großen<br />

Einfluß der Agrarbank verstärkt, die den Agrarkredit kontrolliert.<br />

V3 der Kredite an die Landwirtschaft besteht aus kurzfristigen Anleihen,<br />

der Zinssatz liegt bei 5—6% 335 . Dieser Zustand hat zu einer<br />

großen Verschuldung der Bauern geführt, die in den letzten Jahren<br />

die Agrarbevölkerung schwer belastete 336 . Es sei schließlich bemerkt,<br />

daß wenig in Richtung der Ausbildung der Bauern in dieser Periode<br />

unternommen worden ist 337 .<br />

Die Entwicklungen der griechischen Wirtschaft lassen sich auch in<br />

der Struktur der Handels- bzw. Zahlungsbilanz ablesen. Die Ausfuhren<br />

machten 1957 immer noch nur 41,8 % der Einfuhren aus. Etwa<br />

80% der Ausfuhren bestanden um 1960 aus Agrarprodukten 33S . Der<br />

333 Siehe Nikolinakos: Die ländlichen Genossenschaften in Griechenland,<br />

a.a.O. Auch einen interessanten Artikel in einer in Paris erscheinenden<br />

hektographierten Zeitschrift „Kinima gia ti laiki exousia stin Ellada"<br />

(Mouvement pour le pouvoir du peuple en Grèce) (c/o éditions Maspéro),<br />

Heft 3, Januar 1968, unter dem Titel „To laiko antifaschistiko kinima kai<br />

oi ellines agrotes" (Die antifaschistische Volksbewegung und die griechischen<br />

Bauern), Verfasser D. Z. L., insbes. S. 24—29.<br />

334 Siehe den Hinweis in Fußn. 331, S. 7 (1071).<br />

335 Bank of Greece: Monthly Statistical Bulletin, March 1970, S. 36, 44.<br />

336 Die Militärregierung hat einen Teil dieser Schulden gestrichen.<br />

Siehe The Achievements of the National Government ..., a.a.O., S. 48.<br />

337 Vgl. in diesem Komplex A. Grigorogiannis : I oikonomiki anaptyxis<br />

tis Ellados (Die wirtschaftliche Entwicklung Griechenlands), Athen 1959,<br />

S. 73—86, auch Kalitsounakis, a.a.O., S. 130 f.<br />

338 Im Jahre 1965 machten die Ausfuhren von Nahrungsmitteln 23,6 %,<br />

von Getränken und Tabak 36%, von Roh- und Hilfsstoffen 29,1% der<br />

Gesamtausfuhren aus. Siehe Wapenhans: Griechenland, a.a.O., S. 33.


370 Marios Nikolinakos<br />

Tabak beherrschte auch in dieser Periode die Ausfuhren, obwohl sich<br />

sein Anteil an den Gesamtausfuhren graduell vermindert. Er betrug<br />

immer noch etwa 34 % im Jahre 1961 33B . Bemerkenswert ist die Steigerung<br />

der Anteilnahme von Baumwolle (6 % 1957, 11 % 1961, 16 %<br />

1962) an der Gesamtausfuhr. Die Rohstoffe und die Halbfabrikate<br />

zusammen mit der Ausfuhr der unverarbeiteten Erze und Mineralien<br />

machten etwa 14—16 % (1957, 1962) der Gesamtausfuhr aus. Dagegen<br />

betrug der Prozentanteil der Industrieprodukte etwa 5—6 %. Erst ab<br />

1965 durchbrach die Industrieausfuhr die 10 %-Grenze an der Gesamtausfuhr.<br />

Danach steigerte sich kontinuierlich ihr Prozentanteil auf<br />

13 % im Jahre 1966, auf 17 % im Jahre 1967, auf 23 % im Jahre 1968<br />

und auf 32% im Jahre 1969. Erst in diesem letzten Jahr wird die Industrieausfuhr<br />

in absoluten Zahlen der erste Posten in der Gesamtausfuhr.<br />

Dies ist Ergebnis der nach 1960 durchgeführten großen Investitionen.<br />

Aluminium, Nickel, Metallfabrikate, Textilien und chemische<br />

wie auch pharmazeutische Erzeugnisse sind die wichtigsten industriellen<br />

Ausfuhrprodukte 340 . Die Einfuhr besteht aus Industrieprodukten<br />

(26—28 %), Lebensmitteln (15—16%), Rohstoffen (etwa 22%) und<br />

Kapitalgütern (24—27%) 341 . Die Handelsbilanz zeigt ein immer größer<br />

werdendes Defizit, das hauptsächlich aus dem Fremdenverkehr 342 ,<br />

der Schiffahrt 343 , den Geldüberweisungen der Auswanderer 344 und<br />

der Kapitaleinfuhr in Form von Anleihen oder der Wirtschaftshilfe<br />

339 Im Jahre 1957 machten die Tabakausfuhren 39% der Gesamtausfuhren<br />

aus. Im Jahre 1961 verringerte sich dieser Prozentsatz auf<br />

34 % und im Jahre 1962 auf 28 %. Im Jahre 1963 erreichte dieser Prozentsatz<br />

43%, im Jahre 1968 22% und im Jahre 1969 sogar 17—18%! Siehe<br />

Bank of Greece: Monthly Statistical Bulletin, Dec. 1963, S. 18 und March<br />

1970, S. 70.<br />

340 Bank of Greece: Monthly Statistical Bulletin, March 1970, S. 69,<br />

70—71. Siehe auch Wapenhans: Griechenland, a.a.O., S. 38 ff.<br />

341 Bank of Greece, ebenda, S. 74—75. Vergleicht man diese Prozentsätze<br />

mit solchen aus vorigen Jahren, so stellt man eine Verlagerung der<br />

Einfuhren von Konsum- und Lebensmittelgütern auf Rohstoffe und Kapitalgüter,<br />

was auf die fortschreitende Industrialisierung hinweist. So<br />

machten z. B. im Jahre 1956 die Importe von Nahrungsmitteln 20,6 %, von<br />

Rohstoffen 12,1 %, von Industrieerzeugnissen 20,8 %, von Kapitalgütern<br />

28,3 % aus. Im Jahre 1961 liegen die obigen Prozentsätze bei 17 %, 25 %,<br />

31% und 18% entsprechend. Siehe Wapenhans: Griechenland, a.a.O.,<br />

S. 33 und 51 ff.<br />

342 Dem Fremdenverkehr wird eine große Rolle für die wirtschaftliche<br />

Entwicklung beigemessen. So waren die Einnahmen aus dem Fremdenverkehr<br />

41,7 Mio. Dollar im Jahre 1959, und 149,4 Mio. Dollar im Jahre<br />

1969. Siehe Bank of Greece: Monthly Statistical Bulletin, Dec. 1963, S. 56,<br />

March 1970, S. 67.<br />

343 Die Einnahmen aus der Schiffahrt betrugen 60,3 Mio. Dollar im<br />

Jahre 1958 und 242 Mio. Dollar im Jahre 1969, ebenda.<br />

344 Die Geldüberweisungen der Auswanderer stiegen von 105 Mio.<br />

Dollar im Jahre 1969 auf 276,9 Mio. Dollar im Jahre 1969. Ebenda. Auch<br />

„Oikonomikos Tachydromos" (Wirtschaftskurier), Heft 503 vom 5. 12. 1963,<br />

S. 816 (4).


Materialien zur kapitalistischen Entwicklung 371<br />

gedeckt wird 845 . Als Hauptlieferanten Griechenlands gelten die Bundesrepublik<br />

(20,3 % 1958) bzw. die EWG-Länder (46 % 1962) und die<br />

Vereinigten Staaten (13,7% 1958). Als Hauptabnehmer der griechischen<br />

Ausfuhr gelten wieder die zwei oben genannten Länder 346 .<br />

Aus den bisherigen Ausführungen geht hervor, daß sich Griechenland<br />

bis 1960 auf einer Vorbereitungsstufe befunden hat und seitdem<br />

bemüht ist, die rückständige Agrarstruktur zu beseitigen und die<br />

Industrialisierung zu forcieren. Noch 1961 machte die in der Landwirtschaft<br />

tätige Bevölkerung 56 % der Gesamtzahl der Beschäftigten<br />

aus 347 . Der Beitrag der Landwirtschaft am Brutto-Nationaleinkommen<br />

machte 22,7% im Jahre 1965 (er lag bei 27,2% im Jahre<br />

1958) aus 348 . Noch ist das Land von der Landwirtschaft abhängig.<br />

Bemerkenswert ist die Abhängigkeit der Wachstumsrate des Bruttosozialprodukts<br />

und der Industrieproduktion von der jeweiligen<br />

Wachstumsrate der landwirtschaftlichen Produktion, wie aus der<br />

folgenden Tabelle ersichtlich ist 349 .<br />

345 Uber die amerikanische Hilfe siehe oben im Text am Anfang dieses<br />

Kapitels. Uber die Dienstleistungsbilanz siehe Wapenhans, a.a.O., S. 56 ff.<br />

Die Militärregierung hat große Anleihen kurzfristigen Charakters zur<br />

Deckung des Devisendefizits gemacht, die an die verrückte Politik der<br />

früheren Zeiten erinnern. Die Anleihen in den letzten Jahren sehen<br />

folgendermaßen aus, in Mio. Dollar:<br />

Anleihen der Banken<br />

Anleihen des Staates<br />

Anleihen öffentl. Unternehmen<br />

1966 1967 1968 1969<br />

13,6 21,1 63,3 98,7<br />

83,3 38,2 42,0 50,6<br />

6,7 32,3 25,9 25,6<br />

Die Zinsauszahlungen und die Tilgung der früheren Anleihen entwickelten<br />

sich von 20,8 im Jahre 1966 auf 76 Mio. Dollar im Jahre 1969. Bank of<br />

Greece: Monthly Statistical Bulletin, March 1970, S. 65. Schon vor dem<br />

Putsch hatte man auf die Gefahr der Uberschuldung Griechenlands im<br />

Ausland hingewiesen. Siehe: I yperchreosis tis Ellados enanti tou exoterikou<br />

(Die Uberschuldung Griechenlands gegenüber dem Ausland), in: „Nea<br />

Oikonomia" (Neue Wirtschaft), Heft 5/1962, S. 363—365, und A. Angelopoulos:<br />

To provlima tou dimosiou chreous (Das Problem der öffentlichen<br />

Schulden), in der Zeitung TO BHMA vom 16. 6. 1962.<br />

346 Siehe Wapenhans, Griechenland, a.a.O., S. 34. Mason: Greece,<br />

a.a.O., S. 56 f.<br />

347 Trapesa tis Ellados (Bank von Griechenland): I elliniki oikonomia<br />

kata to etos 1962 (Die griechische Wirtschaft im Jahre 1962), Athen 1963,<br />

S. 31. Nach anderen Angaben betrug dieser Prozentsatz 53,4 %. Siehe<br />

S. Papaspiliopoulos : Structures sociopolitiques et développement économique<br />

en Grèce, in: „Les Temps Modernes", Jg. 25 (1969), No. 276, S. 41.<br />

348 National Accounts of Greece, 1948—65, a.a.O., S. 9.<br />

349 Bank von Griechenland: I elliniki oikonomia kata to etos 1961 (Die<br />

griechische Wirtschaft im Jahre 1961), a.a.O., Tabelle 13 des Anhangs, für<br />

die Jahre 1957—1961, National Accounts of Greece 1948—1965, a.a.O.,<br />

S. 8, 11 für 1962—1965. Die Abhängigkeit der Industrieproduktion von der<br />

Wachstumsrate der landwirtschaftlichen Produktion des vorigen Jahres<br />

soll besonders hervorgehoben werden. Eine Minderung dieser Abhängig-


372 Marios Nikolinakos<br />

Wachstumsraten der Produktion zu festen Preisen<br />

1957 1958 1959 1960<br />

Brutto-<br />

Sozialprödukt<br />

8,5 3,0 4,7 3,5<br />

Industrie 6,2 9,2 2,6 8,1<br />

Landwirtschaft<br />

11,5 -7,5 4,9 -6,9<br />

a) Brutto-Nationaleinkommen.<br />

1961 1962 1963 1964 1965<br />

10,8 2,8 a > 8,0 a > 8,6 a > 7,2 a ><br />

7,4 — 10,9 9,6 9,0<br />

17,6 -7,3 7,8 6,3 2,5<br />

Die Assoziierung mit der EWG muß als Versuch verstanden werden,<br />

die Marktgrenzen zu erweitern, die Verflechtung der kapitalistischen<br />

Verhältnisse mit Westueropa zu vertiefen und die Industrialisierung<br />

durch Abschaffung des Zollschutzes und durch die Einfuhr<br />

ausländischen Kapitals zu forcieren. Dabei spielen selbstverständlich<br />

auch andere Faktoren eine Rolle. Der amerikaniche Imperialismus<br />

wird Griechenland, wo er durch seine politische und wirtschaftliche<br />

Präsenz stark vertreten ist, als Stützpunkt benutzen, um auch von<br />

dieser Seite das europäische Kapital anzugreifen 350 . Es ist von vielen<br />

Seiten die Gefahr unterstrichen worden, daß durch die Assoziierung<br />

eine weitere Industrialisierung des Landes gefährdet wird 351 . Diese<br />

schon in früheren Jahren betonte Gefahr hat sich nicht als stichhaltig<br />

erwiesen. Vielmehr scheint es, daß die Industrialisierung fortschreitet<br />

352 . Die andere Gefahr, auf die auch oft hingewiesen wurde, nämlich<br />

die Gefahr der Beherrschung der griechischen Wirtschaft von fremdem<br />

Kapital kann nicht verneint werden. Im Gegenteil, das ausländische<br />

Monopolkapital der Großkonzerne und insbesondere das amerikanische<br />

Kapital werden die griechische Wirtschaft in den Griff bekommen.<br />

Dies ist jedoch ein allgemeiner Zug des heutigen Kapitalismus.<br />

Die Entwicklungen in Frankreich, auf die Servan-Schreiber hinkeit<br />

in den letzten Jahren ist jedoch bemerkbar, die vielleicht auf eine<br />

„strukturelle Verbesserung der Nationalproduktion" hinweist. Nat. Accounts<br />

of Greece 1948—65, a.a.O., S. 7 f.<br />

350 Siehe dazu Th. Vardas: Eisagogikes simioseis sto oikonomiko<br />

provlima tis Ellados (Einführende Notizen zum wirtschaftlichen Problem<br />

Griechenlands), in: „Poreia" (Weg), in Paris erscheinende Zeitschrift der<br />

Exilstudenten, Heft 8, April—Juni 1968, S. 33 f.<br />

351 Siehe dazu N. Kitsikis (Hrsg.): I thyella tis Koinis Agoras (Der<br />

Sturm der EWG), Athen 1962, S. 50 ff., und S. G. Triantis: Common Market<br />

and Economic Development, Athen 1965, der den Assoziierungsvertrag<br />

„an unfavourable arrangement" bezeichnet, S. 228.<br />

352 Vgl. dazu S. M. Theofanidis: Ai epiptoseis tis EOK epi ton makrooikonomikon<br />

megethon tis ellinikis oikonomias (Die Wirkungen der EWG<br />

auf die makroökonomischen Größen der griechischen Wirtschaft), Athen<br />

1967, D. J. Delivanis: Problèmes spéciaux découlant de l'Association avec<br />

la Communauté Economique Européenne, Thessaloniki 1965 (Sonderdruck),<br />

Coutsoumaris: The morphology of Greek Industry, a.a.O., S. 341—353.<br />

E. Harald: Die griechische Entwicklungspolitik und das Problem der Assoziierung<br />

Griechenlands an die EWG, Diss. Köln 1963, S. 110 ff.


Materialien zur kapitalistischen Entwicklung 373<br />

gewiesen hat, sind beispielhaft in diesem Zusammenhang 353 . Dies ist<br />

aber eine Entwicklung, die den kapitalistischen Entwicklungsprozeß<br />

begleitet. Die Assoziierung mit der EWG ist ein natürliches Ergebnis<br />

des politischen Kurses Griechenlands nach dem Krieg und des Fortschritts<br />

des Kapitalismus im Lande. Die kapitalistischen Verhältnisse<br />

werden durch die Assoziierung zementiert und erweitert. Die griechische<br />

Wirtschaft wird dadurch Teil des großen kapitalistischen Bereichs<br />

des Westens 354 .<br />

Die Entwicklungen in der Nachkriegsperiode gehen zusammen mit<br />

einem Anwachsen der Arbeiterklasse. Erst durch die Urbanisierung<br />

und die Auswanderung, besonders durch die letzte, formiert sich in<br />

Griechenland eine Arbeiterklasse, die selbstbewußt wird. Sollte sich<br />

der schon angebahnte Industrialisierungsprozeß fortsetzen, dann wird<br />

Griechenland in den nächsten 10—20 Jahren so weit sein, daß es kein<br />

Auswanderer-Produzent mehr sein wird 355 . Auf jeden Fall hat die<br />

Organisierung der Arbeiterklasse in dieser Periode nicht mit der Entwicklung<br />

Schritt halten können. Die staatliche Einmischung, die besonders<br />

mit der Diktatur von 1936 eingeleitet wurde, ist nach dem<br />

Krieg wiederaufgenommen worden. Durch diese Entwicklung war<br />

die Arbeiterklasse dem Druck der herrschenden Klasse ausgesetzt,<br />

ohne sich dagegen wehren zu können 356 . Die in dieser Periode verfolgte<br />

Politik wurde, wie schon erwähnt, zu Lasten der Arbeiter und<br />

der Bauern durchgeführt. Durch niedrige Löhne und niedrige Agrarpreise<br />

wurde die Geldstabilität erreicht und die Sparfähigkeit' der<br />

mittleren Schichten und der Kapitalistenklasse gefördert 357 . Der Mili-<br />

353 J. J. Servan-Schreiber: Le défi américain, Paris 1967.<br />

354 Die marxistische Analyse des Assoziierungsabkommens läßt noch<br />

auf sich warten. Das Problem ist viel komplizierter und die Perspektiven<br />

viel weitgehender als diese Sätze erkennen lassen. Eine solche eingehende<br />

Analyse kann in diesem Rahmen nicht unternommen werden.<br />

355 Dies scheint um so mehr plausibel, als die Zuwachsrate der Bevölkerung<br />

sehr gering ist. Siehe dazu N. Polysos: Evolution démographique<br />

en Grèce, a.a.O., S. 440—445. Derselbe: Artikel in: „Nea Oikonomia" (Neue<br />

Wirtschaft), Heft 1/1964 und in: „Oikonomikos Tachydromos" (Wirtschaftskurier),<br />

Heft 458 vom 24. 1. 1963, S. 39 (7). Siehe auch B. S. Valaoras:<br />

I fthora kai i anaparagogi tou plithismou tis Ellados (Das Verderbnis und<br />

die Reproduktion der Bevölkerung Griechenlands), in der Zeitung TO<br />

BHMA vom 22. 4. 1962.<br />

356 Siehe dazu Jecchinis: Trade Unionism in Greece, a.a.O., S. 150 ff.,<br />

160 f. Jecchinis bemerkt folgendes: „In a way the year 1965 marked the<br />

closing of a cycle of developments that brought the movement in many<br />

respects back to the starting point of the efforts made for its reconstruction<br />

since the end of World War II". Ebenda, S. 158. Vgl. auch Kabanas,<br />

a.a.O., S. 203—206.<br />

357 Wie schwach die Arbeiter waren, um sich gegen diese Entwicklungen<br />

zu wehren, zeigt eine Analyse der Streikbewegung in dieser Periode.<br />

Nach vorhandenen Angaben fanden zwischen 1958 und 1961 463 Streiks<br />

statt. Davon waren nur 34 erfolgreich und 291 (53%) völlig erfolglos.<br />

6 endeten mit „Erfüllung einiger Forderungen" und 36 mit „teilweiser<br />

Erfüllung der Forderungen". Siehe Kabanas, a.a.O., S. 208 ff., insb. S. 214.


374 Marios Nikolinakos<br />

tärputsch von 1967 darf nicht als ein isoliertes politisches Ereignis<br />

betrachtet werden, sondern er hat seine eigentliche Bedeutung auf<br />

dem wirtschaftlichen Sektor. Er ist der Versuch des einheimischen<br />

Finanz- bzw. Handelskapitals, in Zusammenarbeit mit ausländischem<br />

Kapital den Industrialisierungsprozeß zu beherrschen und zu bestimmen<br />

858 . Die Militärdiktatur ist die Form, die die Interessen der Oligarchie<br />

bei der Umwandlung des Finanz- bzw. Handelskapitals in<br />

Industriekapital wahrnehmen soll 359 .<br />

358 Siehe dazu Aris, a.a.O., S. 121 ff. Nikolinakos: Griechenland auf<br />

dem Weg zur Industrialisierung, a.a.O., S. 23 f. C. Tsoucalas: La lutte des<br />

classes et le régime de colonels, in: „Les Temps Modernes", 25. Jg. (1969),<br />

Nr. 276, S. 148 f. Vgl. auch die unzureichende und oberflächliche Analyse<br />

der Oberschichten in McNeill: Greece, a.a.O., S. 163—167. Erhellend ist in<br />

diesem Zusammenhang folgender Satz von Baran: It (Economic Development)<br />

has always been marked by more or less violent clashes, has<br />

proceeded by starts and spurts, suffered setbacks and gained new terrain<br />

— it has never been a smooth, harmonious process unfolding placidly over<br />

time and space". Baran: The Political Economy of Growth, a.a.O., S. 4.<br />

359 Diese Studie beansprucht keine Vollständigkeit für sich. Sie stellt<br />

nur einen Versuch dar, die Hauptlinien der kapitalistischen Entwicklung<br />

in Griechenland festzustellen. Aus diesem Grunde weist sie viele Lücken<br />

auf. Sie hat auch nicht eine tiefgreifende Analyse des vorhandenen Materials<br />

bezweckt. Sie ist deshalb weder analytisch befriedigend noch hinreichend<br />

kritisch, sondern beides nur in geringem Maße. Aus diesem<br />

Grunde soll sie nur als eine Einführung in die Problematik und als Anregung<br />

verstanden werden.


375<br />

Uta Stolle<br />

Die Ursachen der Studentenbewegung<br />

im Urteil bürgerlicher Öffentlichkeit<br />

1969 hat den Abschluß einer ersten, „antiautoritären" Entwicklungsphase<br />

der als Studentenprotest beginnenden sozialistischen Bewegung<br />

in der BRD gebracht. Damit ist ein sinnvoller Zeitpunkt gegeben<br />

sowohl für die Beurteilung der Bewegung und ihrer möglichen<br />

Strategien selbst als auch für die Einschätzung der Reaktion und<br />

Problemverarbeitung der bürgerlichen Öffentlichkeit, die Gegenstand<br />

der folgenden Übersicht sein soll<br />

Außer in der aktuellen Presseberichterstattung vollzog sich die<br />

literarisch-wissenschaftliche „Bewältigung" der Protestbewegung bisher<br />

auf zweierlei Weise: Nachdem zunächst Soziologie und empirische<br />

Sozialforschung die Studentenbewegung nicht vorherzusehen imstande<br />

waren und z. T. noch die studentischen Einstellungen konstant<br />

als konformistisch, apolitisch, vergnügungs- und karriereorientiert<br />

gekennzeichnet hatten, als der Studentenprotest von West-Berlin auf<br />

die gesamte BRD übergriff 2 , sollten zahlreiche Einstellungsuntersuchungen<br />

von Meinungsforschungsinstituten das Phänomen „in den<br />

Griff bekommen". Deren Auftragscharakter wirkt sich jedoch in offenkundig<br />

herrschaftsorientierten Fragestellungen und Interpretationen<br />

aus, die die studentischen Einstellungen auf Ansatzpunkte zu<br />

notwendigen notdürftigen Retouschen gesellschaftlicher Schönheitsfehler<br />

(z. B. Hochschulstruktur, Parlamentsreformen) und auf mögliche<br />

realitätsgerechte Teilungs- und Isolierungsstrategien hin durchleuchten,<br />

eben damit aber eine eklatante Unfähigkeit garantieren, die<br />

tatsächlichen studentischen Intentionen, geschweige denn deren<br />

Gründe angeben zu können 3 .<br />

Im folgenden sollen jedoch die gleichzeitig entstandenen größtenteils<br />

essayistischen Deutungsversuche behandelt werden, die trotz des<br />

1 Berücksichtigt wurde dabei die wesentliche, seit Beginn der allgemeinen<br />

<strong>Diskussion</strong> entstandene Buchliteratur der BRD; vgl. dazu: Bibliographie<br />

Studentenunruhen, zsgest. v. Gerlinde Seidenspinner, hrsg. v.<br />

Dt. Jugendinstitut München als Beilage zu Heft 2/68 von: Jugendforschung,<br />

Jugendhilfe, Jugendpolitik; sowie: Die studentische Opposition in<br />

der Bundesrepublik (Auswahlbibliographie), hrsg. v. Wiss. Abt. d. dt.<br />

Bundestages, Bibliographien, Nr. 18, Juni 1968; Annotierte Zusammenstellung:<br />

Uta Stolle, Literatur zum studentischen Widerstand, in: Blätter f.<br />

dt. u. intern. Pol. 3/69, S. 36—48.<br />

2 So z. B. der Spiegel im Herbst 1967 aufgrund einer Allensbacher<br />

Untersuchung vom Winter 1966/67.<br />

3 Vgl. dazu die Analyse (mit weiteren Literaturangaben) von: Ulf<br />

Kadritzke, Rezeption und Interpretation der Studentenbewegung in der<br />

empirischen Sozialforschung, in: Sozialistische Politik 2/69, S. 36—48.


376 Uta Stolle<br />

hohen Anteils von Hochschullehrern unter den Autoren selten beanspruchen<br />

können (und es z. T. auch nicht tun), wissenschaftliche<br />

Arbeiten zu sein. Die unterschiedslose Behandlung wissenschaftlicher<br />

und publizistischer Versuche rechtfertigt sich durch die Tatsache, daß<br />

beide Sparten sich in der BRD bislang kaum unterscheiden. Ein<br />

Grund dafür ist, daß die primär in Frage kommenden Sozialwissenschaftler<br />

als Professoren meist selbst derart an der Auseinandersetzung<br />

beteiligt sind, daß sie, statt Versuche zu theoretisch-empirischen<br />

Deutungen zu machen, auf der Ebene der politisch kurzschlüssigen<br />

Abwehrpolemiken stehenbleiben. Die Verunsicherung durch die erstmalige<br />

Formierung system<strong>kritische</strong>r Opposition in der BRD schlägt<br />

sich nieder in beträchtlicher Konfusion und Heterogenität der Argumentation,<br />

die oft immergleiche, schon an sich zweifelhafte Kritikund<br />

Erklärungsbruchstücke in zufällige, wechselnde Zusammenhänge<br />

bringt: „Das Phänomen ist undeutlich." Dies im wesentlichen aber<br />

nicht, wie Habermas interpretiert, „weil die empirischen Anhaltspunkte<br />

unsystematisch und schwach" 4 sind, sondern weil, wie sich<br />

zeigen wird, eine gewisse „Undeutlichkeit" den herrschenden Interessen,<br />

soweit sie öffentlich reden, günstig ist.<br />

Der folgende Überblick konzentriert sich auf die für die Entstehung<br />

der Studentenbewegung angegebenen Ursachen, weil damit die<br />

Chance gegeben ist, unterhalb der Ebene der Heterogenität und<br />

„Undeutlichkeit" die gemeinsamen Interessen aufzuzeigen, die die<br />

partielle Unbegreiflichkeit des zu Begreifenden bedingen 43 .<br />

Allgemeine gesellschaftlich-politische Ursachen<br />

Die von einer Reihe von Autoren für die Entstehung des Studentenprotests<br />

angegebenen Erklärungen reflektieren Tendenzen gesamtgesellschaftlicher<br />

Involution, wie sie sich in der BRD seit dem Ende<br />

der Rekonstruktionsperiode deutlich zeigen; zum großen Teil geschieht<br />

dies jedoch in Abstraktionen, die die sich verschärfenden Widersprüche<br />

verschleiern oder als unaufhebbare Normalkonflikte verharmlosen.<br />

So Rüegg: „Die studentische Revolte gegen die Gesellschaft<br />

(!) entspringt der Empörung über die Inkongruenz der Normen<br />

dieser Gesellschaft mit den durch sie vermittelten Erfahrungen."<br />

Die zutreffende Interpretation dieses Satzes, die die wachsende Unerfüllbarkeit<br />

liberaldemokratischer Normen mit der Entwicklung des<br />

spätkapitalistischen Produktionsprozesses begründen würde, wird<br />

sofort ausgeschlossen durch den Hinweis, die Revolten in den soziali-<br />

4 Jürgen Habermas, Protestbewegung und Hochschulreform, Frankfurt<br />

1969, S. 14.<br />

4a vgl. auch: Gerhard Haupt/Walter Kreipe, Die Lehren des Mai, in:<br />

Dokumente 5/6 1969, bes. 1/2 1970, 3 1970. Der Artikel analysiert anhand<br />

französischer Literatur die wesentlichen Aspekte des Mai 68 auf dem<br />

Hintergrund der in Gesellschaft und Hochschule aufbrechenden Widersprüche,<br />

erörtert in diesem Zusammenhang die Interpretationen der Rolle<br />

der französischen Studentenbewegung und ihrer Funktion in der Mairevolte<br />

und kommt z. T. zu ähnlichen Ergebnissen wie die folgende Übersicht.


Die Ursachen der Studentenbewegung 377<br />

stischen Gesellschaften Osteuropas bewiesen, daß dieser Widerspruch<br />

keineswegs nur der bürgerlichen Gesellschaft eigne. Damit werden<br />

die „jedem institutionellen System anhaftenden Härten und Unstimmigkeiten"<br />

5 zur Protestursache gemacht. In ähnlicher Weise werden<br />

als Bedingungen angegeben: das Sosein der „pluralistischen Demokratie",<br />

der als Organisation der „offenen Gesellschaft" Dahrendorfs<br />

der permanente Konflikt und natürlich auch sachgebotene technokratische<br />

Lenkung und bürokratische Organisation innewohnen 6 ; oder:<br />

der time-lag zwischen stagnierenden politischen <strong>Institut</strong>ionen und<br />

steigender <strong>kritische</strong>r Rationalität gesellschaftlichen Bewußtseins im<br />

20. Jahrhundert, der sich angeblich durch ständigen Anpassungsprozeß<br />

aufhebe 7 .<br />

Die Funktion dieser von rechts bis liberal prinzipiell gleichen Schemata<br />

ist deutlich: die Erklärung, daß tatsächlich auf Aufhebung drängende<br />

Widersprüche „gesund und unaufhebbar" seien, soll die Angst<br />

der von möglicher Veränderung Bedrohten beruhigen, wie sie durch<br />

Suggestion prinzipieller Unmöglichkeit die Hoffnung derer abtöten<br />

soll, deren Handeln sich an der Aufhebbarkeit dieser Widersprüche<br />

orientiert. Demgegenüber leiten die linken bis liberalen Kritiker die<br />

Studentenbewegung aus der „Krise der Demokratie" oder jedenfalls<br />

deren augenblicklichen Mängeln ab. Hier wird angeführt: das „Fehlen<br />

eines kritisch-konstruktiven Gegenprogramms der SPD als Oppositionspartei"<br />

bei Ausgang des „Wirtschaftswunders", „die Große<br />

Koalition, die keine neue Politik mit einer radikalen und deutlich<br />

erkennbaren Distanzierung zur früheren" ermöglicht habe 8 , während<br />

der im übrigen auch der „Parlamentarismus einmal nicht funktionierte"<br />

9 , sowie die „klerikal-konservative, in letzter Zeit zunehmend<br />

faschistische Tendenzen aufweisende Restauration" 10 ; Bütow macht<br />

vor allem eine Auffassung von Demokratie als Zustand statt als<br />

prozeßhaft zu verwirklichender verantwortlich, die Parteien wie Gesellschaft<br />

in der BRD durchdringe und innerhalb derer das Versagen<br />

der parlamentarischen Opposition nur ein Symptom unter vielen<br />

sei u , von Hentig nennt u. a. die Konfliktverdrängungspraxis<br />

und das verworrene Verhältnis zur Macht in der BRD na .<br />

Während die bisher referierten Erklärungsansätze die bundesrepublikanische<br />

Entwicklung reflektieren, wie verzerrt auch immer, gibt<br />

es nur äußerst spärliche Hinweise auf die universalgeschichtliche Entwicklung.<br />

Hierzu finden sich so wolkige wie technologisch bornierte<br />

Hinweise wie der auf den „Übergang zum atomaren und kybernetischen<br />

Zeitalter" 12 sowie die abstruse Theorie, die die Protestbewe-<br />

5 Rüegg, S. 9.<br />

6 Lummer, S. 5—13.<br />

7 Burichter, in: Schoeps/Dannenmann, S. 70 f.<br />

8 Ortlieb, S. 16.<br />

9 Flach, in: Dollinger, S. 210.<br />

10 Engelmann, in: Dollinger, S. 179 f.<br />

11 Bütow, bes. Kap. I.<br />

IIa Hentig, Die große Beschwichtigung, in: Glaser/Stahl, S. 163 ff.<br />

12 Wolfgang Leonhard, in: Dollinger, S. 154.


378 Uta Stolle<br />

gung „begreift" als sich selbst unbewußte Reaktion auf die amerikanische<br />

Ostpolitik („Wandel durch Annäherung"), die für die BRD<br />

Verzichtpolitik und Auslieferung an den „Osten" bedeute 13 . Die Einwirkung<br />

der revolutionären Befreiungsbewegungen der Dritten Welt,<br />

besonders der Vietnams wird, abgesehen von einigen verstreuten<br />

Hinweisen 14 , völlig ignoriert, obwohl sich die Studentenbewegung<br />

gerade durch sie besonders deutlich definiert hatte.<br />

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die ohnehin spärlichen Erklärungen<br />

aus (oder zumindest auch aus) allgemeinen gesellschaftlichen<br />

Strukturen, die die eigentlich ausschlaggebenden sein müßten,<br />

nicht nur apologetisch sind, sondern der nationalen Nabelschauperspektive<br />

fast' völlig verhaftet bleiben, einer Perspektive, die weder<br />

den Kampf der „Dritten Welt" noch die in anderen spätkapitalistischen<br />

Gesellschaften gleichlaufenden Involutionsprozesse in den Blick<br />

geraten läßt, welche ein Verständnis der bundesrepublikanischen<br />

Symptome erst ermöglichen würden. Zudem bleibt bei diesen Erklärungshinweisen,<br />

die zu Recht versuchen, den gesamtgesellschaftlichen<br />

Rahmen zumindest einzubeziehen, stets die Tatsache zufällig, daß der<br />

Protest massenhaft gerade an den Universitäten aufbrach. Da löst<br />

dann einfach, politisch freischwebend, „die studentische Opposition<br />

die der Intellektuellen und Schriftsteller" 15 ab.<br />

Hier hätte zum einen berücksichtigt werden müssen, daß „Herrschaftsverhältnisse<br />

und politische Entscheidungen einem institutionsspezifischen<br />

Legitimationszwang der Hochschulen unterliegen, der es<br />

insbesondere den in das System der Berufsrollen, der sanktionierten<br />

Leistungen und Belohnungen noch nicht voll integrierten Studenten<br />

erlaubt, diffuse Interessenlagen zu strukturieren, gesellschaftliche<br />

Widersprüche in ihrem wesentlichen Gehalt zu verschärfen und durch<br />

Alternativpositionen zu artikulieren" 16 . Zum andern, und das ist'<br />

ausschlaggebend, hat die Tendenz zur Entpolitisierung und Funktionalisierung<br />

der Hochschulen für die Studenten die Folgen von administrativ<br />

durchgesetzter und kapitalorienter Fremdbestimmung direkt<br />

erfahrbar gemacht. Durch die analytische Verarbeitung dieser unmittelbaren<br />

Erfahrungen können im übrigen gesamtgesellschaftliche Prozesse<br />

wie z. B. der Verfall des Parlamentarismus in ihrem strukturellen<br />

Zusammenhang begriffen werden.<br />

Hochschulstrukturelle Ursachen<br />

Die Hochschulsituation, die zu erwähnen natürlich kaum ein Autor<br />

vergißt, stellt nur noch für eine geringe Zahl von Autoren die zentrale<br />

13 Schrenck-Notzing, S. 259 f.<br />

14 z.B. bei Hermann, S. 25; häufiger sind aber Zeugnisse verständnisloser<br />

Abwehr, die angesichts der Che- und Maotransparente fragen, ob die<br />

sonst so heilsame Unruhe „vielleicht nur Teil einer internationalen Modewelle<br />

..." sei (Paczensky, in: Dollinger, S. 197), oder es wird hier „Romantik,<br />

Erlösungsmystik, Irrationalität, ,Weltgeist' in seiner verworrensten<br />

und verwirrensten Form" (Flach, in: Dollinger, S. 216) konstatiert.<br />

15 in: Dollinger, S. 205.<br />

16 Negt, in: Baier, S. 27.


Die Ursachen der Studentenbewegung 379<br />

Ursache dar: diese wird mehr und mehr in der „Unruhe der Jugend"<br />

gesehen. Wenn aber die Hochschulstruktur als wesentlich verursachender<br />

Faktor angegeben wird, dann fast ausschließlich so, daß<br />

ihre Mängel als Rückstand hinter der Entwicklung der fortgeschritteneren<br />

spätkapitalistischen Wissenschaftsinstitutionen, z. B. denen<br />

der USA, beschrieben werden. Genannt wird die Überfüllung der<br />

Hochschulen, deren Ausbau dem Anstieg der Studentenzahlen nicht<br />

standgehalten habe 17 , die damit verbundene Verlängerung der Studienzeiten<br />

18 , die inhaltliche Rückständigkeit und Nichtaktualität des<br />

Lehrangebots 19 sowie die „autoritäre Selbstherrlichkeit gewisser<br />

Ordinarien" 20 .<br />

Diese technokratische Rückstandshypothese läßt jedoch, selbst wenn<br />

man zunächst noch von der studentischen Selbstinterpretation absieht,<br />

Ort und Zeitpunkt des entstehenden Protests unerklärlich werden:<br />

in der BRD brachen die Konflikte, wie es sich paradigmatisch<br />

am Fall Berlin aufzeigen ließe 21 , dann auf, als der Druck von Ministerial-<br />

und Wirtschaftsbürokratien, gerichtet auf verstärkte und effizientere<br />

Produktion qualifizierter Arbeitskräfte, die Studenten als<br />

„Reformbewegung" erreichte, als zunächst die Studienzeiten verkürzt,<br />

die Studiengänge reglementiert und die völlige Funktionalisierung<br />

von Wissenschaft durch die Absorption jeglicher politischer Aktivität<br />

organisierter Studenten eingeleitet und durchgesetzt werden sollte.<br />

Damit wird deutlich, daß die Protestursache typischerweise nicht die<br />

alte, sondern nur die Durchsetzung der neuen Hochschule sein kann.<br />

Selbst da, wo sich der Protest an der „Ordinarienuniversität" festmacht,<br />

trifft er auf die entscheidenden Elemente: Fremdbestimmung<br />

und Entpolitisierung, die aber erst in dem Maße kritisierbar wurden,<br />

wie die Massenausbildung die harmonisierenden persönlichen Student-Dozent-Beziehungen<br />

auflöste. Der protestverursachende Ausschluß<br />

sowohl von Lernenden (Lehrenden) wie der Masse der Forschenden<br />

von der Bestimmung über Mittel und Ziele von Forschung<br />

und Lehre nimmt in den Tendenzen zu den neuen Lehr- und Forschungsinstitutionen<br />

eine neue Qualität an, die sich für die ihr Unterworfenen<br />

in der immer deutlicheren Erfahrung persönlicher Sinnlosigkeit<br />

der fremdbestimmten Arbeit zeigt und die in der direkten<br />

Funktionalisierung von Forschung und Lernen für den spätkapitalistischen<br />

Produktionsprozeß besteht 22 . Diese Funktionalisierung be-<br />

17 z. B. Schlaffke, S. 24, Leonhardt, S. 69.<br />

18 Stoltenberg, S. 14/15: die Studenten empfinden ihren sozialen Sonderstatus<br />

einer „festgehaltenen Kindersituation dadurch noch schärfer als<br />

zuvor" und dann: Die Ausbüdungs- und Studienzeiten müssen verkürzt<br />

werden.<br />

19 Leonhardt, S. 65, Schlaffke, S. 25.<br />

20 Schlaffke, S. 24.<br />

21 Siehe Ulf Kadritzke, a.a.O.<br />

22 Mit dem amerikanischen Hochschulökonomen James O'Conner (The<br />

University and the Political Economy, in: Leviathan, March 1969, S. 14—18)<br />

lassen sich die Funktionen der Hochschule im Rahmen und als wesentliches<br />

Mittel staatlicher Regulierung privatkapitalistischer Ökonomie begreifen;


380 Uta Stolle<br />

deutet im Hinblick auf Zugang zur Verfügung über gesellschaftliche<br />

Macht- und Produktionsmittel die tendenzielle Proletarisierung 23 der<br />

Masse der Forschenden und Lernenden, eine Aufnahme ins Top-<br />

Management für eine Minderheit an der Spitze.<br />

Wenn diese Zusammenhänge, die von den Studenten immer wieder<br />

mehr oder minder deutlich aufgezeigt wurden, wenn solche Selbstinterpretation<br />

der Handelnden konsequent nicht zur Kenntnis genommen<br />

wird, obwohl damit sofort neue und endgültige Unerklärlichkeiten<br />

auftauchen müssen, sondern an der Rückständigkeitshypothese<br />

festgehalten wird, so erfüllt dies andere als Erklärungsfunktionen:<br />

Beschriebe man die Protestursache als die tendenzielle Proletarisierung,<br />

die sie ist, läge die Strukturähnlichkeit mit anderen Gesellschaftssegmenten<br />

auf der Hand und könnte, wenn auch nicht allein,<br />

das von den Hochschulen bereitgestellte technische und administrative<br />

Wissen ist ein zentraler Faktor für Produktion (1), Absatz (2), staatsbürokratische<br />

Abwehr systembedrohender Bewegungen (3) und die Durchsetzung<br />

imperialistischer Herrschaft (4).<br />

(1) Die spätkapitalistische Produktion ist zunehmend angewiesen auf die<br />

Ersetzung einfacher durch technisch-wissenschaftlich qualifizierte Arbeitskraft<br />

und auf die Erstellung neuer Technologien. Wegen des hohen finanziellen<br />

Risikos kann beides nicht zureichend von den Einzelunternehmen<br />

geleistet werden, die deshalb die Kosten für die privaten Profit garantierende<br />

technologische Innovation und Erziehung sozialisieren. „Colleges<br />

and universities are thus not merely integral to the production process,<br />

but constitute another point of production, incraysingly controlled, while<br />

not owned, by the corporate bourgeoisie as a whole" (15).<br />

(2) Die staatliche Universität stützt den Absatz von Gebrauchsgütern<br />

(deren Nachfrage stagniert, weil die mit steigender Produktivität erwirtschafteten<br />

Profite nicht in Form von Löhnen an die Arbeiterklasse weitergegeben<br />

werden) durch die Entwicklung nachfrageerhöhender Techniken<br />

hinsichtlich Verpackung, Mode- und Stilwechsel, Produktdifferenzierung<br />

und forcierter Produktalterung.<br />

(3) Die oben (1) skizzierte, für die Unternehmen profitable Verbindung<br />

technisch-wissenschaftlicher Arbeitskraft mit kapitalintensiven Technologien<br />

tendiert (Bsp. USA) zur Schaffung einer ständig wachsenden Schicht<br />

unausgebildeter Arbeiter, die, politisch in Bewegung geraten, eine Bedrohung<br />

des Systems darstellt (Bewegung d. amerikanischen Schwarzen).<br />

Eine weitere Bedrohung, das ist hier hinzuzufügen, entstand bis jetzt als<br />

Studentenrevolte an dem Widerspruch zwischen einer privatkapitalistisch<br />

begrenzten und einer dem Stande der Produktivkräfte nach möglichen und<br />

erforderlichen Massenausbildung: diesen „Gefahren" gegenüber übernehmen<br />

besonders die universitären Sozialwissenschaften Aufgaben der Stabilisierung<br />

sozialer Kontrolle, d. h. der Konfliktverhinderung und -eindämmung.<br />

(4) Im Rahmen der staatlichen Ermöglichung von Kapitalakkumulation<br />

im Ausland (Rohstofferwerb, Kapitalausfuhr, Absatzmärkte) ist es Aufgabe<br />

der Universitäten, neue Instrumente lokaler, nationaler und internationaler<br />

sozialer und finanzieller Kontrolle zu schaffen.<br />

23 Zur fortbestehenden Privilegierung der wissenschaftlichen gegenüber<br />

den manuellen Arbeitern infolge der Arbeitsteilung, vgl. Joscha<br />

Schmierer, Zur Analyse der Studentenbewegung, in: Rotes Forum 5/1969,<br />

S. 5—14.


Die Ursachen der Studentenbewegung 381<br />

doch zusammen mit anderen Faktoren, analoge Handlungsmodelle<br />

und Kooperationsstrategien der segmentierten Gruppen nahelegen.<br />

Die erste Funktion der Rückstandshypothese ist demnach die, das<br />

Problem als eines des isolierten Sektors Hochschule zu bezeichnen;<br />

damit soll durch Verfestigung und Erweiterung parzellierter Bewußtseinsstruktüren<br />

die Isolation der Protestierenden garantiert und eine<br />

Solidarisierung mit ihnen verhindert werden. Die zweite, noch wichtigere<br />

Funktion der beschriebenen Etikettierung des Problems besteht<br />

darin, der organisierten „Indienstnahme" der Wissenschaftsinstitution<br />

Universität nach außen hin eine studentische Legitimationsgrundlage<br />

zu fingieren, die die inner- und außeruniversitären<br />

Durchsetzungsschwierigkeiten verringern helfen soll 24 . Das zeigt sich<br />

beispielhaft, wenn z. B. Rüegg eine Äußerung des Berkeleystudenten<br />

Mario Savio gegen die „entpersönlichte, verantwortungslose Bürokratie",<br />

die sich hinter ihren Vorschriften verstecke, als Bestätigung<br />

der Dringlichkeit einer radikalen Rationalisierung der unproduktiven<br />

Universitätsverwaltung verwendet, die genau das amerikanische Vorbild<br />

(Präsidialverfassung und Partialinteressen vertretendes Kuratorium)<br />

kopieren soll, an dem sich der zitierte Protest entzündete 25 .<br />

Während nun allerdings Wirtschafts- und Staatsbürokratien, zu<br />

denen z. T. auch schon die Rektoren zu rechnen sind, die „berechtigte<br />

Unruhe" dazu benutzen, die dysfunktional gewordene Autonomie<br />

auch der Dozenten abzubauen, versuchen diese, sie mit dem gleichen<br />

Mittel soweit als möglich zu retten: ein Beispiel hierfür ist Helmut<br />

Schelsky. Schelsky hält die „Grundfragen, die die Opposition der<br />

Studenten heute der Professorenschaft als ganzer stellt... für berechtigt<br />

und bedenkenswert... Wie erwehrt sich der Professor (!) der<br />

ihm aufgedrungenen ,Entfremdung', die in der Verschulung und<br />

Reglementierung der akademischen Ausbildung und Lehre liegt... ?<br />

Geht er nicht zu unbedenklich und zu unkritisch ein auf die Anforderungen,<br />

die ihm die .Leistungsgesellschaft', das sich stabilisierende<br />

Industrie- und Bürokratiesystem in Üer Lehre und mehr und mehr<br />

auch in der Forschung ansinnt?" Schelsky schlägt dann als Lösung<br />

vor: „Um es simpel zu sagen: Man übergebe einen großen Teil der<br />

Verwaltungs- und Organisationsaufgaben der Universität an speziell<br />

dafür ausgebildete wissenschaftliche Verwaltungsbeamte und lasse<br />

diese die Organisation der Ausbildung gegenüber den Studenten verantworten"<br />

2B . Um es noch simpler zu sagen: Man entgehe den lästigen<br />

Demokratisierungsforderungen der Studenten, indem man sie, auf<br />

eigenen Wunsch und im eigenen Interesse selbstverständlich, direkt<br />

in staatlichen Gewahrsam nimmt; man versuche den eigenen Besitz-<br />

24 vgl. Jacobsen/Dollinger, die ihre Dokumentation zuschneiden auf<br />

eine Hochschulreform à la Stoltenberg und Biedenkopf, und sie mit dem<br />

Titel „Die deutschen Studenten" versehen, denn: „Ihnen kann die Rolle<br />

des Katalysators in diesem Prozeß nicht streitig gemacht werden, wenngleich<br />

dies natürlich noch nichts über die Stichhaltigkeit ihrer Argumente<br />

aussagt." (12)<br />

25 Rüegg, S. 11.<br />

26 Schelsky, in: Baier, S. 108/109.


382 Uta Stolle<br />

stand vor dem staatlich-wirtschaftlichen Funktionalisierungsdruck<br />

durch rituelle Opferung der Studenten zu retten.<br />

Die Rückstandshypothese würde nun allerdings Studenten erwarten<br />

lassen, die nach Modernisierung verlangen, sie gerät aber in Widerspruch<br />

zu der tatsächlich existierenden und dominanten, sich sozialistisch<br />

verstehenden Bewegung, die die Gefahr gerade in der Bestimmung<br />

der reorganisierten Hochschule durch den Kapitalverwertungsprozeß<br />

sieht und daraus die Konsequenz der Notwendigkeit radikaler<br />

gesellschaftlicher Veränderung zieht. Der eine Ausweg aus dem<br />

offenkundigen Widerspruch von Erklärungsansatz und realem studentischen<br />

Verhalten besteht darin, die Hochschulsituation als verursachenden<br />

Faktor überhaupt fallenzulassen 27 , sie durch Identitätskrisen-<br />

oder Generationenkonflikttheoreme zu ersetzen, zu denen<br />

dann als Zusatzbedingungen die technischen Möglichkeiten treten,<br />

die die Hochschule bietet; angeführt werden hier die (tatsächlich<br />

wichtige) „numerische Konzentration" 28 oder der vorhandene Stab<br />

von „Assistenten, Schreibkräften, Vervielfältigungsmaschinen und<br />

Telefonen" 29 . Der andere „Ausweg" besteht darin, einerseits den<br />

dominierenden sozialistischen Teil der „studentischen Unruhe" als<br />

ideologisch verblendete, zudem fachlich eingrenzbare 30 „kleine, radikale<br />

Minderheit" zu diffamieren, andererseits die gemäßigt reformerischen<br />

Studenten als die wahren Repräsentanten studentischen<br />

Unbehagens emporzustilisieren.<br />

Zu dieser letzteren Taktik, die allgemein mit auffällig geringerem<br />

Energieaufwand als ihr Gegenstück, die Minderheitenjagd, betrieben<br />

wird, ist kurz zu sagen, daß keine Gründe für die Annahme plausibel<br />

gemacht werden können, das Bewußtsein dieser Gruppe reflektiere<br />

zutreffend die tatsächlichen Ursachen der Bewegung, sowie daß die<br />

regelmäßige Radikalisierung der jeweils als typisch gemäßigt in Anspruch<br />

Genommenen auf die Übergangsqualität des verabsolutierten<br />

bornierten Bewußtseins hindeutet.<br />

Ein gutes Beispiel für die korrespondierende Taktik, die Eliminierung<br />

des sozialistischen Protests als den einer irregeleiteten Minderheit,<br />

bietet das Theorem vom Protest des absteigenden Bildungs-<br />

27 Besonders typisch dafür Scheuch, Bürgerkrieg 22: „Sicherlich sollten<br />

wir sie (die veralteten Universitäten, U. S.) schleunigst reformieren.<br />

Hier wird lediglich behauptet, daß die Universitätsstruktur konkret nichts,<br />

nichts, nichts zu tun hat mit den wirklichen Ursachen des studentischen<br />

Protests..." Der Beweis: „Bezeichnend ist ja auch, daß die sich als Revolutionäre<br />

verstehenden Studenten nicht Reform nach dem Kriterium optimaler<br />

Leistungsfähigkeit fordern, sondern etwas, was sie mit dem Wort<br />

Demokratisierung' belegen."<br />

28 Scheuch, Bürgerkrieg, S. 25, 26.<br />

29 Schrenck-Notzing, S. 134.<br />

30 Den Trend zur Abqualifizierung einer durch fachliche Klassifizierung<br />

gewonnenen „kleinen Minderheit" spiegelt auch die Sorte „Erklärungen",<br />

die den Protest als die in Gebrüll umgesetzte Angst von 3000 Soziologie-<br />

und Politologie-Adepten ohne klaren Berufsweg begreift (in: Winkler,<br />

S. 53).


Die Ursachen der Studentenbewegung 383<br />

bürgertums: die falsche Alternative alte contra neue Universität<br />

wird ersetzt durch die ebenso falsche: absteigende bildungsbürgerliche<br />

Geisteswissenschaftler contra aufsteigende Erfahrungswissenschaftler.<br />

Danach besteht der „Wurzelgrund der studentischen Rebellion"<br />

darin, daß die Anwartschaft auf einen elitären gesellschaftlichen<br />

Status von den Human- auf die Naturwissenschaftler übergegangen<br />

sei, weshalb lediglich die absteigenden Humanisten „im<br />

revolutionären Gewand ..., im Grunde der Einheit der alten bürgerlichen<br />

Bildungsgesellschaft" nachtrauern, „die mit den beiden Weltkriegen<br />

untergegangen ist" 31 . Falsch ist diese Gegenüberstellung, weil<br />

es nicht um den Abstieg der einen und den Aufstieg der anderen<br />

Fachwissenschaftler geht, sondern um eine Polarisierung als Folge<br />

der Funktionalisierung, die die einen so gut wie die anderen betrifft<br />

und die Fachbereichsgrenzen horizontal durchschneidet. Ihren Ausgangspunkt<br />

in der Realität hat die These vom untergehenden Bildungsbürgertum<br />

zweifellos darin, daß der Entzug von Privilegien<br />

und liberalen Freiheiten als Folge der Kapitalisierung der Wissenschaft<br />

am deutlichsten und fühlbarsten in den universitären philosophischen<br />

Fakultäten vor sich ging, im Gegensatz z. B. zu den technischen<br />

Universitäten, die schon von Anfang an in den Verwertungsprozeß<br />

integriert waren. Das Ausschlaggebende an der durch<br />

einen solchen „Proletarisierungsruck" geförderten Studentenbewegung<br />

ist aber gerade, daß sie ihre Privilegien nicht, wie die revoltierenden<br />

Mittelschichten in der Weimarer Republik, die dadurch<br />

den <strong>Faschismus</strong> ermöglichten, durch ein Rückwärtsdrehen der gesellschaftlichen<br />

Entwicklung zu erhalten versucht. Man hat einsehen<br />

gelernt, daß eine den Interessen der Lernenden gerecht werdende<br />

Ausbildung nicht dadurch möglich wird, daß man die geschichtliche<br />

Entwicklung der Integration von Wissenschaft in den Produktionsprozeß<br />

zu bremsen oder zu ignorieren versucht, sondern dadurch,<br />

daß man die Ausrichtung der Produktionsorganisation auf private<br />

Profiterwirtschaftung aufhebt. Genau dies, der entscheidende Bewußtwerdungsprozeß<br />

in der Studentenbewegung, die Überwindung<br />

ständischer und kleinbürgerlicher Borniertheit, wird von den Ideologen<br />

der Gegenseite unterschlagen.<br />

Eine der seltenen Ausnahmen, die die Hochschulkrise nicht als<br />

Problem technokratischer, sondern mehr demokratischer Rückständigkeit<br />

auffaßt, bildet die Studie Friedeburgs u. a.; die Frage, „warum<br />

die Studentenbewegung in Deutschland von der Freien Universität<br />

Berlin ihren Ausgang nahm" 32 , wird beantwortet mit der „Diskrepanz<br />

zwischen den Erwartungen der hochschulpolitisch aktiven Studenten",<br />

die eine überdurchschnittliche, demokratisch orientierte<br />

31 Kernig, in: Schwan/Sontheimer, S. 120; ebenso sehr ausführlich<br />

Scheuch, Aspekte, S. 11—15; vgl. dagegen Schmierers (a.a.O.) berechtigten<br />

Versuch einer Relativierung der Theorie von der Produktivkraft Wissenschaft<br />

in Hinsicht auf die Entstehung der Studentenbewegung im „verrottetsten<br />

Winkel der Ideologie der Bourgeoisie" (6), nämlich an der Phü.<br />

Fak.<br />

32 Friedeburg, S. 8.


384 Uta Stolle<br />

Handlungsbereitschaft auszeichnete, und der universitären Verfassungswirklichkeit,<br />

gekennzeichnet durch Entpolitisierungsversuche<br />

(z. B. Kampf um das politische Mandat), sukzessive Einschränkung<br />

studentischer Mit- und Selbstverwaltung sowie Widersprüche in der<br />

Struktur universitärer Willensbildungsprozesse. Der Mangel eines<br />

allgemeinen Erklärungsrahmens (oder eines Versuches dazu), ohne<br />

den auch die <strong>Berliner</strong> Entwicklung nicht zu deuten ist, läßt diesen<br />

richtigen Ansatz jedoch völlig unzureichend erscheinen: nicht nur<br />

werden Konfliktursachen wie spätkapitalistische Involutionstendenzen<br />

nicht problematisiert, der Einfluß der Sozialrevolutionären Befreiungsbewegungen<br />

der „Dritten Welt" auf die Studentenbewegung<br />

nahezu völlig ausgeblendet, sondern auch die innere Hochschulproblematik<br />

wird nur höchst unzulänglich in Beziehung gesetzt zum<br />

Funktionswandel von universitärer Berufsbildung und Forschung.<br />

Die Darstellung, zudem organisationssoziologisch eingeschränkt, bleibt<br />

so auf der Ebene der Abschilderung der Senats-, Rektorats- bzw. Lehrkörperinteressen<br />

stehen und verliert sowohl den diese Ebene transzendierenden<br />

Interessenzusammenhang aus dem Auge wie auch die<br />

daraus resultierende Situation der ihm Unterworfenen, die unter<br />

zunehmendem Konkurrenz- und Leistungsdruck entfremdete Arbeit<br />

leisten sollen.<br />

Jugendspezifische Ursachen<br />

In den Beurteilungen des Studentenprotests zeigt sich ein zunehmender<br />

Konsensus, die in den Universitäten beginnende sozialistische<br />

Bewegung als „Proteste der Jugend" 323 zu definieren. Ausschlaggebend<br />

für die steigende Beliebtheit des Jugendtopos ist nicht sein<br />

möglicher empirischer Gehalt, sondern seine scheinbare Eignung zur<br />

Verdrängung des Problems von der politischen 33 und hochschulpolitischen<br />

Ebene 34 , sowie damit einhergehend zur psychologischen Relativierung<br />

studentischer Selbstinterpretation. Charakteristischen Ausdruck<br />

erhält diese doppelte Funktion in den Thesen Scheuchs, der,<br />

obwohl er kaum die Spur einer Theorie von „Jugendprotest" aufweisen<br />

kann, von den Vorteilen, die ihr Vorhandensein haben könnte,<br />

exzessiven Gebrauch macht: „Einige wie Sozialismus klingende Aussagen<br />

und einige provokante Verhaltensweisen werden nun von den<br />

32a Siehe Glaser/Stahl, S. 159 ff.<br />

33 „Der Rhythmus dieses Kommens und Gehens (der Jugendbewegungen,<br />

U. S.) steht in keiner deutlichen Beziehung zur manifesten politischen<br />

Geschichte." (Kuhn, S. 55.)<br />

34 Z. B. hält Kuhn seinen Generationenproblemansatz für nötig, um die<br />

„Heldenlegende von der dt. Studentenrevolte" zu zerstören, die, wie er<br />

fälschlicherweise annimmt, ihr Entstehen mit der Reformfeindlichkeit der<br />

dt. Ordinarien begründet und folgerichtig auf deren Entmachtung hinauslaufe.<br />

Wenn, wie er versucht, nachgewiesen werden kann, daß die Ursache<br />

der Unruhe mit der Universität nichts, aber alles mit dem Generationenkonflikt<br />

zu tun hat, ist die Universität mitsamt ihrem „vorinstitutionellem<br />

Faktum", dem „Lehrer, um den sich spontan Hörer versammeln"<br />

(7/8) gerettet.


Die Ursachen der Studentenbewegung 385<br />

Aktivisten und mit Hilfe der Massenmedien als Themen, der Jugendkultur<br />

stilisiert. Anti-Vietnam-Proteste haben für viele Beteiligte den<br />

gleichen politischen Gehalt wie Schockfarben oder eine abweichende<br />

Haartracht: nämlich keinen" 35 .<br />

Die Problemverdrängung durch den Jugendtopos geschieht auf<br />

zweierlei Weise: einmal durch Verschiebung dar Protestursache auf<br />

andere Instanzen, nämlich die primärer (und sekundärer) Sozialisation,<br />

die damit zu Sündenböcken ernannt werden, zum andern, indem<br />

überhaupt jede objektive Grundlage (und auch jede Berechtigung)<br />

des Protests hinwegpsychologisiert wird. Die Psychologisierungstaktik<br />

(strukturell gleich der der Pathologisierung und Kriminalisierung)<br />

löst protestbedingende gesellschaftliche Widersprüche<br />

und deren Artikulation auf in die nur-psychische Befindlichkeit der<br />

Protestierenden, denen durch die Kennzeichnung als unreif und unzurechnungsfähig<br />

vorab jede politische Legitimation entzogen werden<br />

soll 353 . Angeführt wird hier etwa: das immer und überall auftretende<br />

abweichende Verhalten einiger Jugendlicher 36 , in mißbräuchlicher<br />

Anlehnung an Erikson: die schlechthinnige Identitätskrise der jungen<br />

Menschen um zwanzig 37 .<br />

Die im folgenden skizzierten Versuche, die Protestursache auf der<br />

Erfahrung von Gesellschaft und Hochschule (zeitlich) vorgeordnete<br />

Sozialisationsinstanzen zu verschieben, stützen sich in keiner Weise<br />

auf wissenschaftliche oder sozialisationstheoretische Ansätze (und<br />

können es auch nicht, da es in der BRD bisher so gut wie keine Sozialisationsforschung<br />

gab). Sie sind dementsprechend so aphoristisch<br />

formuliert, daß nicht einmal zwischen den Funktionen der einzelnen<br />

Instanzen (Familie, Schule) differenziert, sondern der Sozialisationsprozeß<br />

pauschal verantwortlich gemacht wird. Denn: die Funktion des<br />

Jugendtopos ist wichtig, die „theoretischen" Begründungen, die ihm<br />

nachgeschickt werden, sind es nicht.<br />

Einmütig wird hier die besondere historische Situation der BRD<br />

nach dem 2. Weltkrieg verantwortlich gemacht, gekennzeichnet als<br />

Freiheit vom <strong>Faschismus</strong>, allgemeiner Aufbautätigkeit und wachsendem<br />

Wohlstand 38 . Alle diese Faktoren wirken zusammen zu einem im<br />

Vergleich zu vorangehenden Zeitabschnitten größeren Ausmaß an<br />

Repressionslosigkeit. Diese „Freiheit" jedoch, und das ist wichtig, wird<br />

35 Scheuch, Aspekte, S. 18/19.<br />

35a Hier läßt sich auch die häufig zustimmend zitierte große moralische<br />

Rüge von George Kennan einordnen, der die amerikanischen Radikalen<br />

als „Kinder einer durch einen allzu plötzlichen und für das menschliche<br />

Anpassungsvermögen allzu übereilten technologischen Prozeß desorientierten<br />

Generation Menschen erkennen" möchte. Kennan, S. 162.<br />

36 Schoek, in: Schoeps/Dannenmann, S. 154: „Es hat noch nie eine gesellschaftliche<br />

Umwelt gegeben und es kann grundsätzlich auch keine<br />

geben, in der nicht einige, meist jüngere Menschen sich mißverstanden,<br />

falsch behandelt, zu wenig beachtet oder gewürdigt fühlen. Selbst Naturvölker<br />

haben in vielen Fällen ,entfremdete' Mitglieder aufzuweisen" (156).<br />

37 Schrenck-Notzing, S. 167.<br />

38 So z. B. Scheuch, Aspekte, S. 20.


386 Uta Stolle<br />

fast ausnahmslos 39 negativ bewertet: hinsichtlich der primären Sozialisation,<br />

der Beeinflussung durch die Familie wird hier hingewiesen<br />

auf die Vernachlässigung der Kinder durch die mit dem Wiederaufbau<br />

beschäftigten Eltern 40 oder, und das vor allem, auf den Mangel<br />

an Autorität in Familie und Gesellschaft 41 , der vor allem auf die<br />

NS-Belastung oder die Arbeitsamkeit der Väter zurückgeführt wird.<br />

Nach dem allgemeinen Tenor geht also der Protest zurück auf eine<br />

Veränderung vor allem in der familiären Sozialisation, die begriffen<br />

wird als ein Übermaß an Freiheit der Erziehung, für das die Schuld<br />

der spezifischen historischen und nationalen Situation angelastet wird.<br />

Nachdem die Behauptung des prinzipiellen Widerspruchs zwischen<br />

familiärer Sozialisation und sozialer Umwelt, wie sie in der BRD<br />

Grundlage von Schelskys „Skeptischer Generation" gewesen war 42 ,<br />

abgelöst wurde durch die Einsicht in die Vorbereitungsfunktionen der<br />

familiären Motivationserziehung für eine durch Leistungs- und Konkurrenzprinzip<br />

charakterisierte Gesellschaft (Parsons), war die internationale<br />

Studentenrevolte für amerikanische Forscher Anlaß, nach<br />

übersehenen Diskontinuitäten zwischen familiären Erziehungspraktiken<br />

und Sozialstruktur zu suchen.<br />

So hebt Flacks 43 in bezug auf die Sozialstruktur die Trends des<br />

auch in Schule und Hochschule zunehmenden Leistungs- und Konkurrenzdrucks<br />

sowie die zunehmende Einengung von Berufsperspektiven<br />

auf Laufbahnen innerhalb bürokratischer Hierarchien hervor<br />

und kontrastiert diese mit der Durchsetzung neuer Sozialisationsmuster,<br />

die von upper-middle-class-Familien ausgehen, aber prinzipiell<br />

nicht auf diese beschränkt sind. Flacks kennzeichnet sie (1) durch<br />

39 Ein Autor läßt gelten, „daß nun Kinder heranwachsen..., denen<br />

in ihrer frühen Jugend das Rückgrat nicht gebrochen wurde..." (Leonhardt,<br />

S. 27).<br />

40 Ortlieb, S. 17, Schlaffke, S. 23, Leonhardt, S. 27.<br />

41 Klaus Harpprecht, Revolutions jähr 1968, Sendung des SFB, Reihe<br />

„Das Thema", Manuskript S. 41: „Wir haben ihnen, eben weil wir aus<br />

einer verstörten Generation stammen, keine Autorität zu bieten vermocht,<br />

nicht in der Familie, nicht in der Gesellschaft, nicht im Staat."<br />

42 So löst Schelsky das heutige „Studentenproblem" ungerührt durch<br />

den Hinweis auf das, was „wir bereits ... in unserer Analyse der deutschen<br />

Jugend ,Die skeptische Generation' festgestellt haben". Danach besteht der<br />

Gegensatz von Familie und einer „familienfremden, wenn nicht gar familienfeindlich<br />

strukturierten sozialen Umwelt" als „epochale Sozialstruktur"<br />

im Gegensatz von beständigen, intimen, personbezogenen Verhaltenserwartungen<br />

und -formen in der Familie und der auf Funktionalisierung,<br />

hohe Dynamik und soziale Mobilität ausgerichteten Gesamtgesellschaft"<br />

(in: Baier, S. 111).<br />

43 Richard Flacks, The liberated Generation: An Exploration of the<br />

Roots of Student Protest, in: J. soc. Issues, Bd. 23 (1967), H. 3, S. 52—75;<br />

Kenneth Keniston, Young Radicals, Notes on Committed Youth, New York<br />

1968, bestätigt Flacks durch die 1967 vorgenommene Untersuchung (6—8-<br />

stündige Interviews, Interaktionsbeobachtungen) von 17 führenden „Young<br />

Radicals", die er anhand des Flacksschen Ansatzes und eines modifizierten<br />

Adoleszenskrisentheorems (Erikson) interpretiert.


Die Ursachen der Studentenbewegung 387<br />

Akzentuierung des demokratisch-egalitären Charakters zwischenmenschlicher<br />

Beziehungen (2) durch eine sowohl permissive wie<br />

selbständigkeitsfördernde Erziehung (3), durch Betonung expressiver<br />

oder politischer, d. h. nicht nur leistungsorientierter Wertcanones. So<br />

erzogene Menschen sind disponiert, sich institutioneller und hierarchischer<br />

Repression zu widersetzen und — dank der Herkunft — materielle<br />

oder statusmäßige Kompensation zurückzuweisen. Vorausgesetzt,<br />

dieser Zusammenhang zwischen sich ändernden Sozialisationsmustern<br />

und Protestdipostion ließe sich erhärten, so muß doch gewarnt werden<br />

vor einer restriktiven Interpretation, vor allem aber vor der Fehleinschätzung<br />

der Reichweite dieses Ansatzes. Bezüglich der Interpretation<br />

darf nicht vergessen werden, daß die bezeichneten Veränderungen<br />

der Sozialisationsmuster, also auch das durch sie definierte Protestpotential,<br />

sich nicht auf die upper-middle-class beschränken, sondern<br />

dort nur besonders deutlich sind. Zur Reichweite des Ansatzes<br />

ist anzumerken: a) Es ist fraglich, ob die von Flacks/Keniston bezeichnete<br />

Gruppe die für den Studentenprotest allein typische oder ihn<br />

hauptsächlich tragende ist. b) Für andere, weniger privilegierte gesellschaftliche<br />

Gruppen sind Politisierungschancen nicht etwa von der<br />

Durchsetzung der beschriebenen Sozialisationsmuster abhängig, sondern<br />

können unter gänzlich anderen Bedingungen entstehen.<br />

Die Gefahr der Verabsolutierung jugendspezifischer Protestbedingungen<br />

wird ganz deutlich in dem Ansatz Hollsteins. Nicht nur begründet<br />

der Autor die starke Reaktion junger Menschen auf die — mit<br />

Marcuseschen Begriffen definierten — spätkapitalistischen Involutionsprozesse<br />

mit der „vorzüglich biologischen Notwendigkeit nach<br />

Freiheit und Ungebundenheit des Heranwachsenden" 44 , ein Konflikt,<br />

der sich in den sich ausdehnenden <strong>Institut</strong>ionen sekundärer Sozialisation<br />

aktualisiere; Hallstein begrüßt den so schon fragwürdig begründeten<br />

Jugendprotest noch dazu als alleinigen Nachfolger der angeblich<br />

unwiderruflich integrierten Arbeiterklasse: „An die Stelle eines<br />

Klassenbewußtseins tritt das Generationsbewußtsein jugendlicher Rebellen<br />

und erwachsener Verteidiger der Ordnung" 4ä .<br />

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß sowohl die verschiedenen<br />

bundesrepublikanischen Ressentiments wie die zum Vergleich<br />

zitierten Untersuchungen von Flacks/Keniston hindeuten auf ein<br />

durch Veränderung in der primären Sozialisation gefördertes Potential<br />

an subjektiver Disposition zur Wahrnehmung und Bekämpfung<br />

gesellschaftlicher Widersprüche. Der wesentliche Unterschied besteht<br />

in der Weise der Auflösung der festgestellten Diskrepanz zwischen bestehender<br />

Gesellschaft und den damit konfligierenden artikulierten<br />

Bedürfnissen der in ihr Heranwachsenden. Anders als bei Flacks/<br />

Keniston läßt sich für die BRD feststellen, daß statt der als sachgesetzliche<br />

Notwendigkeit tabuierten, bürokratisch vermittelten Fremdbestimmung,<br />

das Versagen der Primärgruppe angegriffen wird, die<br />

Heranwachsenden jener Bestimmung entsprechend abzurichten. Aller-<br />

44 Hollstein, S. 19.<br />

45 Hollstein, S. 22.


388 Uta Stolle<br />

dings, das scheinbar so fungible „Jugendprotesttheorem" enthält, das<br />

zeigen die Überlegungen Flacks/Kenistons, neue Bedrohung: die für<br />

potentiell systemsprengend gehaltenen Wert- und Verhältensdiskontinuitäten,<br />

die durch die „Jugendlichkeit" ihrer Träger verharmlost<br />

werden sollten, sind ja, wenn sie zum Teil auf veränderte Sozialisationsmuster<br />

zurückgehen, nicht beliebig aufhebbar, sondern stellen ein<br />

sich ausbreitendes „Übel" dar. Demgegenüber bleibt nur die zweifelhafte<br />

Hoffnung auf den Rückzug des Protests in die Subkultur 46<br />

oder die Wiederbelebung des Rechts auf Not und Prügel 47 .<br />

Hinzuweisen ist noch auf die Versuche, die Sozialisationsinstanz<br />

Schule für die Protestbewegung (mit-)verantwortlich zu machen. An<br />

ihnen wird deutlich, daß es hier ähnlich wie in der Universität darum<br />

geht, dysfunktionale Anachronismen zugunsten lückenloser Anpassungssysteme<br />

auszumerzen. Hier richtet sich die Anklage vor allem<br />

gegen den politischen Unterricht und lautet auf Vermittlung demokratischer<br />

Idealvorstellungen, die der Wirklichkeit nicht entsprechen;<br />

möglicherweise hat tatsächlich die politische Bildungsarbeit, verstärkt<br />

durch die reeducation programs liberal-demokratische Demokratieideale<br />

verbreitet und ein idealistisches, moralisches Engagement für<br />

Politik geweckt, das mit autoritären Familien-, Schul- und Hochschulstrukturen<br />

kollidieren und Einsichten in Funktion und Unerfüllbarkeit<br />

dieser Ideale im Spätkapitalismus provozieren konnte. Eben dieser<br />

Wertmaßstab, der unverfälschte demokratische Ideale bei ihrem<br />

Wort zu nehmen erlaubte, soll durch die Forderung nach einem Unterricht<br />

gebrochen werden, der Interessen- und Herrschaftsstrukturen<br />

nicht mehr ausklammert, sondern sie als Sachgesetzlichkeiten deklariert,<br />

beziehungsweise in ihrer eigentlichen Form ins 19. Jahrhundert<br />

verweist 48 .<br />

46 So schreibt Scheuch (Bürgerkrieg, S. 50), daß vielleicht „die Distanz<br />

zu den Werten der Erwachsenenwelt, insbesondere zur Leistungsgesellschaft<br />

... und zum sozialen Aufstieg, zur Ernährung im Wettbewerb ...<br />

durchaus nicht so unangemessen sei" angesichts der Tatsache, daß es kaum<br />

mehr Stellungen geben werde, in denen Wettbewerb vernünftig und die<br />

physisch und psychisch erträglich seien. Scheuch fährt dann fort: „Nicht<br />

angemessen selbstverständlich ist die Feindschaft einiger ideologischer<br />

Gruppen gegenüber dem Prinzip der Industriegesellschaft, in die diese<br />

Distanz jetzt umformuliert wird."<br />

47 Im Anschluß an die Klage über Mangel an Autorität in Staat und<br />

Gesellschaft fährt Harppredit fort: „Jede Generation hat ihr Anrecht auf<br />

Glück. Und auf ihr; Unglück ... Wir haben das Recht auf Melancholie und<br />

Verzweiflung unterschätzt" (41). Mit dem Ideal zureichender Ichbildung<br />

getarnt, sagt Scheuch das gleiche; im Anschluß an eine gefärbte Darstellung<br />

von Ergebnissen Kenistons fragt er: „Führt die von einem Mißverstehen<br />

Freuds inspirierte Erziehung dazu, daß einerseits die Antriebselemente<br />

unreflektierter Art ermutigt werden ..., andererseits das Über-<br />

Ich partiell stark ausgebildet ist, wogegen die Konfrontation des Individuums<br />

mit Restriktionen der Umwelt nicht ausreichend erfolgte." (Bürgerkrieg,<br />

S. 19).<br />

48 z. B. Leonhardt, S. 44.


Die Ursachen der Studentenbewegung 389<br />

Zur Erklärung studentischer Ideologie<br />

Aufgabe einer Analyse der Studentenbewegung wäre es, daß „artikulierte<br />

Inhalte jugendlicher und studentischer Opposition an den Bedingungen<br />

und Widersprüchen ihrer Sozialisation und ihrer Umweltsituation<br />

in Hochschule und Gesellschaft gespiegelt werden", um „die<br />

Besonderheiten der neuen radikalen Verhaltensweisen als Momente<br />

zu erfassen, die dem gesellschaftlichen status quo entspringen und<br />

gleichzeitig zu seinem Wandel beitragen" 49 . Das Vehikel der interessenbedingten<br />

Blindheit gegenüber den Ursachen des Protests ist jedoch,<br />

wie deutlich werden sollte, die konsequente Zertrennung der<br />

Dialektik zwischen „objektiven" Bedingungszusammenhängen des<br />

Protests und der „subjektiven" Selbstinterpretation der Protestierenden<br />

50 . Einerseits führt das zu willkürlich konstruierten Ursachenzusammenhängen,<br />

die alles erklären können, außer der tatsächlichen<br />

Ziel- und Handlungsrichtung des Protests, die doch Erklärungsgegenstand<br />

war, zum anderen zur Erfindung neuer „Ursachen" und Zusammenhänge<br />

für die unerklärlich gewordene artikulierte Selbstinterpretation<br />

des Protests.<br />

Drei solche ersatzweise verwandte Bezugsrahmen treten immer<br />

wieder auf: der verführungs„theoretische", der geistesgeschichtliche<br />

und die Rückführung auf den Machtwillen einer elitären Minderheit.<br />

Im Bereich des ersten Bezugsrahmens, der Erklärung durch<br />

Verführung, werden angegeben: Massenmedien und Kulturindustrie<br />

51 , die linken Professoren 58 oder „philosophische Scharlatane"<br />

der Hegel/Marx-Nachfolge wie Marcuse 53 , Adorno, Habermas, von<br />

Friedeburg. Der (erstaunlich häufige) Hinweis auf die Verführer<br />

„löst" das Problem des Zustandekommens sozialistischer „Ideologie",<br />

indem er es unter der Hand jeweils weiter verschiebt, wenn die Frage<br />

nach der „Verführung der Verführer" gestellt wird. Die geistesgeschichtliche<br />

Interpretation, der zweite Erklärungsrahmen, unterscheidet<br />

sich von der Verführungserklärung lediglich durch die geringere<br />

49 Kadritzke, a.a.O., S. 48.<br />

50 Typisch dafür Scheuch (Aspekte, S. 6): „Dennoch ist es für die Erklärung<br />

des sogenannten studentischen Protests unsinnig, die vom SDS<br />

vorgebrachten Argumente ernsthaft als Aussagen über die Gesellschaft<br />

zu diskutieren. Und: „Protestverhalten und dessen Deutung sind wie auch<br />

sonst bei der Analyse sozialer Phänomene zunächst nur Rohmaterial, dessen<br />

symptomatische Bedeutung zu erschließen ist" (7).<br />

51 Massenmedien (Leonhardt, S. 28), die „moderne Literatur" (Ortlieb,<br />

S. 18), der Spiegel (Winkler, S. 61), das ganze Manipulationsnetz liberaler<br />

Verlagshäuser, Bühnen, Film-Studios und Sender (Schrenck-Notzing,<br />

S. 176 f.).<br />

52 Rüegg, S. 12, weist auf das „reich dotierte <strong>Institut</strong> für Sozialforschung"<br />

als ideologische und taktische Basis der SDS-Studenten hin,<br />

ebenso Schrenck-Notzing (110, 150), der zudem noch die Amerikaemigranten<br />

auf den Lehrstühlen für politische Wissenschaft benennt; Schelsky<br />

(Baier, S. 107) verweist auf die „einseitige Betonung der Macht- und Herrschaftssoziologie"<br />

in der neueren BRD-Entwicklung.<br />

53 Kuhn, S. 55 ff.: „die marxistische Reuse".


390 Uta Stolle<br />

Betonung der persönlichen Dolosität und die Thematisierung der<br />

„Verführung der Verführer" durch die Einbeziehung der historischen<br />

Ahnenreihe der „Verführer". So spricht Nolte vom „Wiederaufleben<br />

des letzten politischen Glaubens, den es in Europa gegeben hat, nämlich<br />

des Marxismus, unter besonderer Hervorhebung seiner anarchistischen<br />

Momente" 54 .<br />

Ein besonders eklatantes Beispiel für die bornierenden Konsequenzen<br />

des geistesgeschichtlichen Ansatzes bietet Ernst Topitsch: er reduziert<br />

die europäische Geschichte seit Anfang des 19. Jahrhunderts auf<br />

einen Gespensterkampf zwischen „modernen", die „Industriegesellschaft"<br />

bejahenden Denkweisen, worunter er im wesentlichen den<br />

wertfreien Positivismus begreift, und den „archaischen", vorindustrieller<br />

Zeit entstammenden Denkweisen mit „antimodernem Affekt".<br />

Die Archaika beginnen mit Hegel, enden vorläufig mit der Ideologie<br />

des studentischen Protests und umfassen gleichermaßen die geisteswissenschaftliche<br />

deutsche Universitätsideologie, die konservative Revolution,<br />

den <strong>Faschismus</strong>, den Marxismus und den Stalinismus. Absicht<br />

dieser wissenschaftstheoretisch verbrämten Rot = Braun-Theorie<br />

ist es, jegliche systemtranszendierende Kritik als vorindustriell abzuwerten<br />

und durch die Behauptung der strukturellen Ähnlichkeit<br />

faschistischer und sozialistischer Denkweise in einem Zuge den Sozialismus<br />

zu diffamieren und den Positivismus reinzuwaschen. Das konstituierende<br />

Prinzip ist hierbei die sich historisch tarnende Ahistorizität:<br />

alle oben genannten politischen Tendenzen werden aus der jeweiligen<br />

historischen Klassensituation heraus- oder von ihren sozialen<br />

Substraten losgerissen. Das Neuarrangement, die strukturelle<br />

Gleichsetzung von tatsächlich Unvereinbarem, erfolgt gemäß einem<br />

einzigen Kriterium, nämlich der „nicht wertenden Wissenschaft"<br />

(= Positivismus), dessen Willkürlichkeit unter dem „historischen" Anstrich<br />

als „moderne", „industriegesellschaftliche" etc. Denkweise verborgen<br />

werden soll. Die Quasihistorizität dieses Kriteriums zeigt sich<br />

darin, daß dessen historischer Anspruch, der Industriegesellschaft<br />

adäquat zu sein, gerade hinreicht, seine politisch-wissenschaftlichen<br />

Widersacher „historisch" zu diskriminieren, daß aber zugleich der<br />

Zusammenhang zwischen Positivismus und Industrialisierung, eben<br />

konkret: der der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise,<br />

geleugnet werden muß. Einen Höhepunkt dieser quasihistorischen<br />

Methode bildet der Versuch, durch Zitate von Angriffen faschistischer<br />

Theoretiker gegen die voraussetzungslose, wertfreie Wissenschaft die<br />

letztere, zum natürlichen Hauptwidersacher des Faschichmus zu stilisieren<br />

und dabei die faktische Verfolgung des revolutionären Sozialismus<br />

schlicht nicht zu erwähnen. Anschließend versucht Topitsch die<br />

strukturelle Ähnlichkeit von Rot und Braun zu suggerieren, indem er<br />

faschistische und marxistische Äußerungen über die beiden eigene<br />

Erkenntnis der Unmöglichkeit gesellschaftslosgelöster und voraussetzungsloser<br />

Wissenschaft nebeneinanderstellt und dabei den ausschlaggebenden<br />

historischen Unterschied bagatellisiert: daß nämlich<br />

54 Nolte, S. 48.


Die Ursachen der Studentenbewegung 391<br />

im <strong>Faschismus</strong> die faktische Klassenabhängigkeit von Wissenschaft<br />

zur Abhängigkeit von „Rasse" und „völkischem Lebensganzen" verfälscht<br />

wurde, eine Fiktion, die genau wie die Ideologie von der gesellschaftlichen<br />

Neutralität des Positivismus der Funktionalisierung<br />

der Wissenschaft für die Klasse der Herrschenden dient.<br />

Die dritte Version schließlich sieht studentische Ideologie unter dem<br />

Aspekt der Propaganda für einen ihr äußerlichen Zweck: den gesellschaftlichen<br />

Umsturz bzw. den „Machtwillen der neuen Elite" (Ahlberg,<br />

Scheuch). Der konkrete Nachweis der hier vorausgesetzten Zusammenhanglosigkeit<br />

von Realität und der auf sie gerichteten Kritik<br />

müßte allerdings von einer Kritik der verwendeten Denkweise<br />

und einer schlüssigen alternativen Realitätsinterpretation ausgehen;<br />

zu beidem aber zeigen sich die wenigen, die den Versuch der ideologischen<br />

Auseinandersetzung überhaupt machen, einmütig außerstande.<br />

Die Kritik der Methode, wie sie typisch im Beitrag Watrins „Spätkapitalismus?"<br />

zum Ausdruck kommt 55 , erledigt eigens dazu verfertigte<br />

Pappkameraden (den in starren Geschichtsgesetzen denkenden<br />

materialistischen Determinismus) mit einer ebenso pappenen Rüstung<br />

(hier der Popperschen Marxismuskritik) 58 .<br />

Auch die Kritik auf der Basis einer artikulierten Gegenposition findet<br />

praktisch nicht statt: es gibt keine Gegeninterpretation der sich<br />

verschärfenden Widersprüche in der BRD, der Imperialismustheorie<br />

57 , des Vergeudungs- und Rüstungskapitalismus, der Funktionalisierung<br />

der Wissenschaft etc. Statt dessen findet sich ein wildes Konglomerat<br />

an Injurien, Verkürzungen und tauben Wiederholungen kritisierter<br />

Positionen. Die solcherweise verdrängten konkreten gesellschaftlichen<br />

Widersprüche machen nicht nur die Artikulation einer<br />

schlüssigen Gegenposition unmöglich, sie kehren heimlich wieder als<br />

Projektion des eigenen technokratischen Herrschaftswillens auf studentische<br />

Gruppierungen. Am deutlichsten ist dies bei Scheuch, selbst<br />

Mitglied und eindeutiger Befürworter 58 technokratischer Eliten: er<br />

zitiert Dutschke, der auf die Diskrepanz zwischen dem Anspruch von<br />

Demokratie als einer Herrschaft des Volkes und der faktischen Besetzung<br />

der gesellschaftlichen Schlüsselstellungen durch eine unglaublich<br />

kleine Minderheit hinweist, und kommentiert dies wie folgt: „Herr-<br />

55 in: Scheuch, Wiedertäufer, S. 104 ff.<br />

56 Interessanterweise zieht ein anderer Autor des gleichen Bandes<br />

(Wiedertäufer) von marxistischer Position aus gegen die Leugnung jeglicher<br />

geschichtlicher Notwendigkeit, gegen den „Voluntarismus" der<br />

„Neuen Linken" zu Felde (Klaus Reblin, S. 168 ff.).<br />

57 Ahlberg klammert den konkreten Imperialismus aus und beschränkt<br />

sich darauf, die seit Lenin zweifellos erfolgte Funktionsveränderung des<br />

Staates unter Berufung auf die sozialdemokratische Tradition als seine<br />

tendenzielle Eigentumsneutralität lediglich zu behaupten. Ebenso originell<br />

beweist Ahlberg, der dem studentischen Sozialismus „Epigonenhaftigkeit"<br />

attestiert, die Falschheit der „Klassentheorie" durch den Hinweis auf die<br />

internationale wissenschaftliche <strong>Diskussion</strong> und die faktische Integration<br />

der Arbeiterklasse.<br />

58 Wiedertäufer, S. 109/110.


392 Uta Stolle<br />

schaft des Volkes ist dann, wenn die Zustimmung der Bürger (wie<br />

angeblich bei Dutschke, U.S.), nicht maßgeblich sein soll, eine Leerformel<br />

für den Anspruch auf eigene Herrschaft. Und „Politik" als Wort<br />

wird von der „Neuen Linken" benutzt, um Agitation für den Umsturz<br />

zu betreiben" 59 . Scheuch, der in demselben Beitrag dafür eintritt,<br />

„plebiszitären Elementen" eine periphere Rolle zuzuordnen, da sie<br />

„wegen der begrenzten Qualifikation der Bürger nur als Schiedsinstanz<br />

im Sinne einer Friedensordnung und nicht als Instanz einer<br />

inhaltlich richtigen Entscheidung über Sachfragen dienen" 80 können,<br />

der also selbst „eine Leerformel, für den Anspruch auf eigene Herrschaft",<br />

die Technokratie, vorbetet, projiziert diesen elitären Herrschaftsanspruch<br />

auf den, der auf der Herrschaft des Volkes verbal<br />

und praktisch insistierte. Was Scheuch und seinesgleichen von der<br />

„Neuen Linken" behaupten, trifft vielmehr diese selbst: „Das Glasperlenspiel<br />

... mit den Scherben vergangener Ideologien hat vornehmlich<br />

eine Funktion: Verhüllung des eigenen Herrschaftsanspruchs"<br />

61 .<br />

Literaturverzeichnis<br />

Ahlberg, René: Die politische Konzeption des Sozialistischen<br />

Deutschen Studentenbundes, Schriften der Bundeszentrale<br />

für politische Bildung, Bonn (zuerst in: Aus Politik und<br />

Zeitgeschichte, Beilage zu „Das Parlament", B 20/68 vom 15. Mai 1968,<br />

31 S.).<br />

Baier, Horst (Hrsg.): Studenten in Opposition. Beiträge zur<br />

Soziologie der deutschen Hochschule. Bertelsmann-Universitäts-Verlag<br />

1968 (237 S., kart., 25,— DM).<br />

Benedict, Hans-Jürgen, u. Theodor Ebert: Macht von unten. Furche<br />

Verlag, Hamburg 1968 (207 S., Pb., 12,80 DM).<br />

Bütow, Helmut G.: Radikale Demokratie oder Demokratie<br />

der Radikalen. Außerparlamentarische Opposition heute. Colloquium<br />

Verlag, Berlin 1969 (144 S., kart., 9,80 DM).<br />

Dollinger, Hans: Revolution gegen den S t a a t ? Die außerparlamentarische<br />

Opposition — die neue Linke. Rütten und Loening Verlag,<br />

Bern/München/Wien 1968 (263 S., kart., 14,80 DM).<br />

Friedeburg, Ludwig von, Jürgen Horlemann, Peter Hübner, Ulf Kadritzke,<br />

Jürgen Ritsert, Wilhelm Schümm: Freie Universität und politisches<br />

Potential der Studenten. Über die Entwicklung<br />

des <strong>Berliner</strong> Modells und den Anfang der Studentenbewegung in<br />

Deutschland. Luchterhand Verlag, Neuwied/Berlin 1968 (600 S., kart.,<br />

15,— DM).<br />

Glaser, Hermann, u. Karl Heinz Stahl (Hrsg.): Opposition in der<br />

BRD. Nürnberger Gespräch 1968. Verlag Rombach, Freiburg 1968<br />

(222 S., kart., 14,— DM).<br />

Herrmann, Kai: Die Revolte der Studenten. Christian Wegner<br />

Verlag, Hamburg 1967 (152 S., kart., 7,80 DM).<br />

59 Ebenda, S. 111.<br />

60 Wiedertäufer, S. 110.<br />

61 Ebenda, S. 123.


Die Ursachen der Studentenbewegung 393<br />

Hollstein, Walter: Der Untergrund. Zur Soziologie jugendlicher<br />

Protestbewegungen. Luchterhand Verlag, Berlin/Neuwied 1969 (179 S.,<br />

kart., 8,80 DM).<br />

Jacobsen, Hans Adolf, u. Hans Dollinger (Hrsg.): Die deutschen<br />

Studenten. Verlag Desch, München 1968 (415 S., Ln., 19,80 DM).<br />

Kennan, George F.: Die Rebellen ohne Programm. Goverts<br />

Verlag, Stuttgart 1968 (171 S., br., 10,— DM).<br />

Kuhn, Helmut: Rebellion gegen die Freiheit. Über das Generationsproblem<br />

und die Jugendunruhen unserer Zeit. Reihe Lebendiges<br />

Wissen. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1968 (78 S., kart., 4,80 DM).<br />

Leonhardt, Fritz: Studentenunruhen. Ursachen — Reformen. Ein<br />

Plädoyer für die Jugend. Seewald Verlag, Stuttgart 1968 (164 S., kart.,<br />

12,80 DM).<br />

Lummer, Heinrich: Unsere Demokratie und ihre Kritiker.<br />

Eine Denkschrift zu den Ursachen und Problemen studentischer und<br />

intellektueller Kritik an Staat und Gesellschaft unter bes. Berücksichtigung<br />

Berlins. Hrsg. v. Studienkreis f. staatsbürgerliche Arbeit, Berlin<br />

1967.<br />

Nolte, Ernst: Sinn und Widersinn der Demokratisierung<br />

in der Universität. Verlag Rombach, Freiburg 1968 (77 S.,<br />

kart., 5,— DM).<br />

Ortlieb, Heinz-Dietrich: Die mißverstandene Revolte. Gesellschaftsreform,<br />

Hochschulreform und Studentenrevolte. Hamburger<br />

Hefte für Wirtschaft- und Gesellschaftspolitik Nr. 2/3, Verlag Weltarchiv,<br />

Hamburg 1968 (90 S., kart., 9,80 DM).<br />

Rüegg, Walter: Die studentische Revolte gegen die bürgerliche<br />

Gesellschaft. Schriftenreihe zu aktuellen Problemen<br />

aus Politik und Wirtschaft. Hrsg. v. Schweizerischen <strong>Institut</strong> für Auslandsforschung.<br />

Eugen Rentsch Verlag, Erlenbach-Zürich, Stuttgart<br />

1968 (21 S., geh., 4,50 DM).<br />

Scheuch, Erwin K.: Soziologische Aspekte der Unruhe unter<br />

den Studenten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage<br />

zu „Das Parlament" v. 4. 9. 1968.<br />

Ders.: Bereiten die Studenten den Bürgerkrieg vor?<br />

Zur Problematik der Umfrageforschung als Frühwarnsystem. Vorträge<br />

zur Marktforschung 5/6. Verlag Hansen & Hansen, Itzehoe 1968 (52 S.,<br />

kart., 8,— DM).<br />

Ders. (Hrsg.): Die Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft<br />

— eine <strong>kritische</strong> Untersuchung der „Neuen<br />

Linken" und ihrer Dogmen. Markus Verlag, Köln 1968<br />

(224 S., kart., 9,80 DM).<br />

Schlaffke, Winfried: Die studentische Linke. Motive, Gruppen<br />

und Ziele. Deutsche Industrieverlagsgesellschaft, Köln 1968 (56 S.,<br />

kart., 6,50 DM).<br />

Schoeps, Hans Julius, Christoph Dannemann (Hrsg.): Die rebellischen<br />

Studenten. Elite der Demokratie oder Vorhut eines linken<br />

<strong>Faschismus</strong>? Bechtle Verlag, München, Eßlingen/Neckar 1968 (179 S.,<br />

kart., 9,80 DM).<br />

Schwan, Alexander, Kurt Sontheimer (Hrsg.): Reform als Alternative.<br />

Hochschullehrer antworten auf die Herausforderung der Studenten.<br />

Westdeutscher Verlag, Köln/Opladen 1969 (168 S., kart., 9,80 DM).


394 Uta Stolle<br />

Schrenck-Notzing, Caspar Freiherr von: Zukunftsmacher. Die neue<br />

Linke in Deutschland und ihre Herkunft. Seewald Verlag, Stuttgart<br />

1968 (310 S., Ln., 22,— DM).<br />

Stoltenberg, Gerhard: Studenten und Politik, in: ders., Hochschule,<br />

Wissenschaft, Politik. Ullstein Verlag, Frankfurt/Berlin 1968<br />

(155 S., kart., 2,60 DM).<br />

Topitsch, Ernst: Die Freiheit der Wissenschaft und der<br />

politische Auftrag der Universität. Luchterhand Verlag<br />

Neuwied, Berlin 1968 (60 S., kart., 5,80 DM).<br />

Winkler, Hans-Joachim: Das Establishment antwortet der<br />

A P O. C. W. Leske Verlag, Opladen 1968 (177 S., kart., 9,80 DM).


395<br />

Besprechungen<br />

Philosophie<br />

MacPherson, Crawford B.: Die politische Theorie des Besitzindividualismus.<br />

Von Hobbes bis Locke. Suhrkamp<br />

Verlag, Frankfurt/M. 1967 (346 S., Ln., 28,— DM).<br />

Unter dem Begriff „Besitzindiviualismus" vereinigt MacPherson<br />

vier Studien zu einem zentralen Aspekt in den sozialphilosophischen<br />

Entwürfen von Hobbes, den Levellers, Harrington und Locke, deren<br />

gemeinsamer Ausgangspunkt die Konzeption eines autonomen Individuums<br />

ist. Autonomes politisches Subjekt ist für sie ein über Eigentum<br />

an seiner Person, Arbeitskraft und „materiellen Gütern" verfügendes<br />

Individuum, das, in einer Reihe von Marktbeziehungen zu<br />

anderen autonomen Individuen stehend, sich mit ihnen zu einem<br />

Staatsverband zusammenschließen muß, um Sicherheit und optimale<br />

Bedingungen für die Vermehrung von Eigentum, also „friedliche"<br />

Kapitalakkumulation, zu gewährleisten. Als vollgültige, über politische<br />

Rechte verfügende Individuen kommen nur solche Eigentümer<br />

in Betracht; Differenzen zwischen den Theoretikern bestehen vorwiegend<br />

darin, wo die Grenze zwischen Eigentümern und Nichteigentümern<br />

anzusetzen sei. Innerhalb dieses Rahmens gelangt MacPherson<br />

zu Bewertungen, die häufig von denen traditioneller Literatur<br />

abweichen: entgegen Bernsteins Interpretation der Levellers als Radikaldemokraten<br />

charakterisiert er sie als eigentumsbewußte kleinbürgerliche<br />

Mittelschicht, die für die Bewahrung von Freiheit und Eigentum<br />

ihrer durch die Kapitalakkumulation bedrohten Klasse kämpft.<br />

Locke wird als Apologet der kapitalistischen Appropriation begriffen.<br />

MacPherson analysiert, wie er, vom gleichen Recht aller auf Eigentum<br />

ausgehend, zum Anwalt der kapitalistischen Akkumulation wird,<br />

„darin sehr genau die Ambivalenz des aufsteigenden Bürgertums<br />

(widerspiegelnd), das formale Gleichheit der Rechte forderte, aber substantielle<br />

Ungleichheit der Rechte brauchte" (227). Damit wird auch<br />

Lockes Rolle als Ahnherr des Konstitutionalismus richtiggestellt; er<br />

begreift Macht, wie alle frühliberalen Theoretiker, rein funktional,<br />

ohne moralische Legitimation. Ihre Träger, absoluter Monarch oder<br />

Parlament, können je nach politischer Konstellation wechseln.<br />

Bedauerlich ist, daß die Arbeit, die sich in ihren Ergebnissen durchaus<br />

von der apologetischen Forschung unterscheidet, den methodischen<br />

Ansprüchen materialistischer Analyse nicht genügt. MacPherson<br />

will die durch den historischen Erfahrungshorizont der einzelnen<br />

Autoren determinierten Denkprämissen ermitteln, die für die Theorie<br />

des Besitzindividualismus konstitutiv sind. Dies soll möglich werden


396 Besprechungen<br />

durch einen Vergleich der in den <strong>Theorien</strong> implizierten Gesellschaftsmodelle<br />

mit dem Modell der zeitgenössischen englischen Gesellschaft.<br />

An die Stelle der sozialhistorischen Analyse des zumindest für Hobbes,<br />

die Levellers und Harrington wichtigsten Zeitraumes von 1640<br />

bis 1660 tritt die Untersuchung ihrer theoretischen Äußerungen auf<br />

der Folie idealtypischer Modelle einer „traditionsgebundenen oder<br />

ständischen Gesellschaft", einer „einfachen Marktgesellschaft" und<br />

einer „Eigentumsmarktgesellschaft". Einerseits sollen diese Modelle<br />

zwar „charakteristische Mérkmale" hervorheben, andererseits genügen<br />

sie „den Anforderungen einer allgemeinen historischen oder soziologischen<br />

Untersuchung nicht" (62). Leider genügen sie gar keinen!<br />

Das Modell der „traditionsgebundenen oder ständischen Gesellschaft"<br />

subsumiert unter sich so verschiedene Gesellschaftsformationen wie<br />

„antike Imperien, Feudal- und Stammesgesellschaften"; das Modell<br />

der „einfachen Marktgesellschaft" dient nicht zur Bestimmung „irgendeiner<br />

historischen Gesellschaft", sondern als „analytisches Hilfsmittel"<br />

zur „Erklärung gewisser Züge der vollentwickelten Marktgesellschaft".<br />

Es geht aus von über Produktionsmittel verfügenden<br />

Kleinproduzenten, die ihre Waren auf dem Markt tauschen. Das Modell<br />

der „Eigentumsmarktgesellschaft" schließlich unterstellt Universalität<br />

der Marktbeziehungen, d. h. einen freien Markt für Arbeitskräfte<br />

und Boden, also die allgemeinsten Voraussetzungen kapitalistischer<br />

Produktion. Die Funktion dieser Modelle besteht nicht so<br />

sehr in der Analyse der sozialen Realität als vielmehr in der Typologisierung<br />

der Gesellschaftsformationen nach Statik und Bewegung.<br />

Den beiden ersten statischen Modellen wird im dritten Bewegung<br />

und universale Konkurrenz als gesellschaftliche Grundbeziehung gegenübergestellt.<br />

Erklärt wird der Übergang durch zwei unspezifische<br />

Bestimmungen: 1. „Einige Individuen streben nach mehr Macht und<br />

Vermögen, als sie haben." 2. „Einige Individuen haben mehr Kraft,<br />

Geschick und Besitz als andere" (69). So schlägt Mac Pherson zwar die<br />

Brücke zum mechanischen Materialismus des Hobbes, um den Preis<br />

jedoch, daß er dessen Erkenntnisstand nicht wesentlich überschreitet<br />

und keinen Begriff davon bekommt, was dessen Theorie an sozialer<br />

Realität abschneidet. Die zerstörerische Seite und die Opfer der Klassenkämpfe<br />

verschwinden bei ihm in der Idylle, wenn er schreibt, daß<br />

die „Eigentumsmarktgesellschaft" freie Konkurrenz auf dem Markt<br />

unterstellt, in der Menschen, „die entweder einen als Kapital verwendbaren<br />

größeren Besitz ... oder überragende Energie und Begabung<br />

haben", Reichtum akkumulieren, während die anderen Produzenten<br />

ruiniert werden und sich „einverstanden erklären", Proletarier<br />

zu werden. Die Unkenntnis der Kämpfe, als deren Ergebnis sich<br />

das Kapitalverhältnis in allen Sphären des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses<br />

durchsetzte, prägt auch MacPhersons Aussage, daß<br />

alles darauf hindeute, „daß die englische Gesellschaft des 17. Jh. in<br />

ihrem Wesen zu einer Eigentumsmarktgesellschaft geworden ist" (78).<br />

Gerade die entscheidenden Veränderungen der Sozialstruktur in dieser<br />

Epoche, deren wichtigste sich in der großen Revolution vollziehen<br />

und die in den folgenden Jahrzehnten zur Kapitalisierung aller Sphä-


Philosophie 397<br />

ren führen, bekommt er nicht in den Griff. Aus zwei Gründen leisten<br />

seine Modelle nichts zur Erkenntnis der Prozesse, die in den von ihm<br />

untersuchten Sozialtheorien verarbeitet werden:<br />

1. Die Widersprüchlichkeit der gesellschaftlichen Entwicklung wird<br />

nicht erfaßt, denn bis zur Revolution prägten Momente aller drei Modelle<br />

die Realität, wobei das qualitativ Neue der Entwicklung der<br />

letzten einhundert Jahre die Herausbildung kapitalistischer Produktion<br />

im Osten und Süden Englands war, während sich ein einheitlicher<br />

kapitalistischer Markt auch für den Westen und Norden erst im<br />

Gefolge der Revolution herausbildete. Gleichzeitig wurden erst durch<br />

die Enteignung royalistischen und klerikalen Grundbesitzes sowie<br />

durch die Agrargesetzgebung der Revolution die Weichen für die ökonomische<br />

und politische Liquidierung der agrarischen Kleinproduzenten<br />

gestellt, die das militärische Rückgrat des Kampfes der kapitalistischen<br />

Gentry und Bourgeoisie gegen die Krone und den Feudaladel<br />

des Nordens und Westens gebildet hatten. Erst durch diese Entwicklung<br />

wird die Herrschaft der oligarchischen Parlamente nach<br />

1688 erklärbar.<br />

2. Die freie Konkurrenz ist keineswegs schon charakteristisch für<br />

„die englische Gesellschaft des 17. Jahrhunderts" (78). Ein wesentliches<br />

Moment des Kampfes gegen die Krone war die Existenz von<br />

Monopolen, die die ökonomische Konkurrenz über den Markt verhinderten<br />

und an ihre Stelle die Konkurrenz um die Gunst des Hofes<br />

setzten. Gerade die Verteuerung von Lebenshaltungs- und Produktionskosten,<br />

die Verhinderung des freien Fließens von Kapital waren<br />

entscheidende Gründe für den Kampf gegen den Eingriff der Krone<br />

in den ökonomischen Reproduktionsprozeß. Wiederum schaffte erst<br />

die Revolution durch Beseitigung der Inlands- und Industriemonopole<br />

Voraussetzungen für freie Konkurrenz auf dem englischen Markt.<br />

Demgegenüber interpretiert MacPherson die Eingriffe der Stuarts<br />

folgendermaßen: „Eine solche extensive staatliche Regulierung war<br />

gerade deswegen erforderlich, weil die eigentumsbedingten Marktbeziehungen<br />

die Gesellschaft entscheidend prägten ... Die Regierungsmaßnahmen<br />

im 17. Jahrhundert setzten eine Eigentumsmarktgesellschaft<br />

voraus" (77/78). Bezeichnend ist, daß MacPherson eine formale<br />

Identität zwischen Eingriffen der frühen Stuarts und staatsmonopolistischen<br />

Regulierungen unterstellt, ohne den völlig verschiedenen<br />

sozialen Inhalt solcher Eingriffe zu erkennen.<br />

Da die strukturelle Kategorie der Eigentumsmarktgesellschaft der<br />

einzige analytische Begriff bleibt, mit dessen Hilfe die Interdependenz<br />

zwischen der Unterwerfung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses<br />

unter das Kapitalverhältnis und einer bestimmten Art von<br />

Theoriebildung sichtbar gemacht werden soll, kommt es notwendig<br />

— besonders deutlich im Hobbes-Kapitel — zur idealistischen Version<br />

des klassischen Zirkels, dem jeder Parallelen-Soziologismus verfällt,<br />

und alles läuft auf das Hin- und Herwenden ein und derselben Tautologie<br />

hinaus: Hobbes' ökonomischen Erfahrungshorizont gewinnt Mac-<br />

Pherson im wesentlichen durch Abstraktion aus den Hobbes-Texten<br />

selbst, montiert dann diese Sammlung von schlechten Allgemeinheiten


398 Besprechungen<br />

zum alles übergreifenden und nichts erklärenden Modell der Eigentumsmarktgesellschaft<br />

zusammen und triumphiert schließlich, wenn<br />

sich herausstellt, daß Hobbes' Staatsphilosophie dessen Struktur kommensurabel<br />

ist. Worin die behandelten sozialphilosophischen Entwürfe<br />

von den gesellschaftlichen Kämpfen ihrer Entstehungszeit geprägt<br />

sind — nicht nur wofür sie explizit Partei nehmen, sondern wie<br />

auch bereits in der Art und Weise, in der Soziales in sie eingeht, ihr<br />

Klassencharakter durchscheint —, vor solche Fragen, in denen allein<br />

erst die Problemstellung der historisch-materialistischen Aufarbeitung<br />

von <strong>Theorien</strong> bezeichnet wäre, sieht sich MacPherson nirgends<br />

gestellt. Ihre sozialgeschichtliche Aufschlüsselung wird — auch wenn<br />

die Einleitung sich umständlich gegen einen solchen Verdacht verwahrt<br />

— durch die Überprüfung ihrer logischen Stimmigkeit ersetzt.<br />

Wenn dabei Hobbes attestiert wird, daß er auf sehr stringente, für<br />

seine Zeitgenossen allerdings unangenehm radikale Weise politische<br />

Pflichten — die unbedingte Einfügung in das durch Staatsgesetze<br />

garantierte System des „friedlichen Wettbewerbs" — aus Fakten —<br />

der Wolfsnatur der „Menschen des Marktes" (124) — deduziert habe,<br />

so muß zu diesem Befund, in dem sich Hellsichtigkeit und Beschränktheit<br />

des Buches eigentümlich paaren, zweierlei angemerkt werden.<br />

Radikal ist die Hobbessche Philosophie in der Tat; McPhersons<br />

Charakteristik dieses Radikalismus bleibt jedoch an der Oberfläche,<br />

trifft nur auf dasjenige an ihm, was schon Hobbes' Zeitgenossen und<br />

die liberaleren unter seinen späteren Rezipienten befremdete: so<br />

scheint ihm vor allem Hobbes' Postulat der sich selbst verewigenden<br />

Souveränität (der Herrscher bestimmt persönlich seinen Nachfolger)<br />

über die Anforderungen rationaler Herrschaftsausübung in einer<br />

Eigentumsmarktgesellschaft hinauszuschießen. Lockes Berichtigung<br />

dieses Irrtums in Richtung auf die Konstitutivfunktion des Parlaments<br />

verarbeite konsequenter, daß eine unter der Kontrolle der<br />

herrschenden Klasse stehende souveräne Körperschaft, für die in der<br />

Theorie des Hobbes auf Grund der fehlenden Analyse von Klassengegensätzen<br />

und Klassenzusammenhalt kein Platz sei, die der Eigentumsmarktgesellschaft<br />

angemessene Organisationsform politischer<br />

Herrschaft darstelle, die man nach dem Machtwechsel von 1688<br />

schließlich auch mit großem Erfolg praktiziert habe. Es ist aber zu<br />

fragen, ob nicht Hobbes' Radikalabsolutismus, alles andere als ein<br />

Relikt aus Feudalzeiten, gerade dasjene Moment ist, in dem sich seine<br />

Theorie am deutlichsten als auf der Höhe ihrer Zeit stehend erweist.<br />

Eine detaillierte Analyse der ökonomischen Antagonismen hätte Mac-<br />

Pherson darauf geführt, daß in den 1640er Jahren von der Kontrolle<br />

einer herrschenden Klasse über eine souveräne Körperschaft noch<br />

keine Rede sein konnte. Das Parlament selbst war — wie eine Untersuchung<br />

der wechselnden Klassenbündnisse im Verlaufe der Revolution<br />

lehrt— ein Ort, an dem verschiedene Klasseninteressen aufeinanderprallten.<br />

In dieser Situation hätte der Hobbessche Souverän<br />

— gleichsam als „ideeller Gesamtkapitalist" — die Funktion eines 1<br />

Geburtshelfers für das Kapital, dem sich die einzelnen Partikularinteressen<br />

unterordnen müssen. Hier liegt auch ein Hinweis zur Er-


Philosophie 399<br />

klärung der Faszination, die diese autoritäre Staatstheorie stets dann<br />

auf die Forschung ausgeübt hat, wenn in den Parlamenten an die<br />

Stelle „friedlichen Interessenausgleichs" der Klassenkampf zu treten<br />

drohte: zumal die faschistischen Autoren der späten 20er und dér<br />

30er Jahre holten angesichts der Drohung des „nicht mehr" mit Vorliebe<br />

den Theoretiker aus der Versenkung, der das „noch nicht" des<br />

Kapitalismus, die Kämpfe am Beginn seines Siegeszuges mit dem Entwurf<br />

einer Staatskonstruktion beantwortet hatte, in der die Bedingungen<br />

für eine ungehindert sich entfaltende Kapitalakkumulation<br />

konsequent und alle möglichen Antagonismen umgreifend berücksichtigt<br />

zu sein schienen. Der Vorwurf der fehlenden Klassenanalyse,<br />

den MacPherson Hobbes macht, fällt so auf ihn selbst zurück: erst die<br />

Untersuchung der vorrevolutionären Situation und der einzelnen Stadien<br />

des revolutionären Prozesses selbst hätte eine stringente Historisierung<br />

der Hobbesschen Souveränitätslehre ermöglicht.<br />

Deren Konstruktionsprinzip freilich wird von MacPherson richtig<br />

als das Ableiten politischer Pflichten aus „Fakten" (gemeint ist Hobbes'<br />

„homo homini lupus "-Anthropologie) unter Berufung auf das<br />

Evidenzprinzip beschrieben. Die Sphäre des Gesellschaftlichen ist in<br />

dieser Theorie sozialer Herrschaft, die in einer Zeit größter gesellschaftlicher<br />

Umwälzungen entstand, nirgends ausdrücklich thematisiert.<br />

Sie kennt kein Moment von Bewegung; Bedürfnisse, Interessen,<br />

Produktion etc. sind für sie keine dem historischen Prozeß unterworfenen<br />

Größen. Der erste Punkt, an dem das Leben der dissoziierten<br />

Individuen als gesellschaftlich vermittel gedacht werden muß (und<br />

daß er bloß so gedacht werden muß, betont Hobbes ausdrücklich), ist<br />

derjenige, an dem mit der Anerkennung der abstrakten Autorität der<br />

Sprung aus dem Naturzustand in den des Staates vollzogen wird.<br />

Erst jetzt scheint Gesellschaft möglich. In diesem Denkbild des Naturzustandes,<br />

in dem auch MacPherson das Modell einer Gesellschaft<br />

(eben der „Eigentumsmarktgesellschaft") entdeckt, sind mit der Abstraktion<br />

von aller gesellschaftlichen Vermittlung quasi labormäßig<br />

reine Bedingungen angestrebt, unter denen dann der Mensch als derjenige<br />

sichtbar wird, als den ihn Hobbes in seiner Anthropologie<br />

zeigt, um anschließend aus der „Natur des Menschen" eine Theorie<br />

abstrakt funktionaler Herrschaft zu deduzieren, die sich den Anschein<br />

des wahren Allgemeinen zu geben vermag. Weit entfernt davon, in<br />

dieser Strategie des Eskamotierens von Gesellschaft, die man als einen<br />

Versuch, Produktion ohne Produktionsverhältnisse zu denken, charakterisieren<br />

kann, einen Index des Klasencharakters solchen Denkens<br />

zu erkennen, läßt sich MacPherson in seinen abschließenden<br />

Ausführungen über „eine autonome Theorie der politischen Pflichten"<br />

offenbar die eigene Problemstellung und -lösung von Hobbes<br />

diktieren: Voraussetzung für dessen Deduktion absoluter Herrschaft<br />

bildet negative Egalität, die sich, unter Abstraktion von der jeweiligen<br />

Klassenzugehörigkeit, in der Furcht aller vor dem Tode äußerte.<br />

Indem MacPherson die konkreten Erscheinungsweisen des allgemeinen<br />

Widerspruchs von Lohnarbeit und Kapital sowie die Interessenantagonismen<br />

der einzelnen Kapitalfraktionen übergeht, behauptet


400 Besprechungen<br />

auch er für die Eigentumsmarktgesellschaft des 17.—19. Jahrhunderts<br />

eine Egalität, die sich in der Fähigkeit der einzelnen Individuen geäußert<br />

habe, „sich als gleich zu betrachten, und zwar in einer Hinsicht,<br />

die wichtiger ist als jede, in der sie ungleich sind" (305). Diese<br />

Integration durch das Bewußtsein „der offenkundig zwangsläufigen<br />

Unterwerfung eines jeden unter die Gesetze des Marktes" (305) zusammen<br />

mit dem durch das Zensuswahlrecht gesicherten Machtmonopol<br />

der „herrschenden Klasse" habe die Basis für eine verbindliche<br />

Theorie politischer Pflichten in der Eigentumsmarktgesellschaft gebildet.<br />

Mit der Erkämpfung des allgemeinen Wahlrechts durch das<br />

industrielle Proletariat sei einerseits das Machtmonopol einer Klasse<br />

gebrochen worden, andererseits betrachteten sich „die Menschen"<br />

nicht länger „als fundamental gleich in ihrem Unterworfensein unter<br />

die Gesetze des Marktes" (306). Zwar bestände die Eigentumsmarktgesellschaft<br />

noch, jedoch aufgrund der Differenz zwischen der ökonomischen<br />

Struktur und den Interessen der Mehrheit der Gesellschaft<br />

besitze sie keinerlei moralische Legitimation mehr, so „daß wir eine<br />

gültige Theorie politischer Pflichten heute in einer Eigentumsmarktgesellschaft<br />

nicht erwarten dürfen" (308). Hieraus folgert MacPherson<br />

nicht etwa die Notwendigkeit der Realisierung von materieller Egalität,<br />

sondern es geht ihm darum, „einen Ersatz für jenes Bewußtsein<br />

einer fundamentalen Gleichheit zu finden" (308). Wie bei Hobbes soll<br />

negative Egalität in der Form der Furcht aller vor dem Tod als Integrationsmittel<br />

fungieren, dieses Mal jedoch als eine Art technokratisch<br />

gewendeter Existentialienlehre, als fundamentale Gleichheit<br />

aller angesichts des drohenden Atomtodes. „Es mag für uns beruhigend<br />

sein", daß die Marktgesellschaft zuvor verschwinden muß, aber<br />

da die sozialen Klassen vom atomaren Blitz geblendet' zur Regungslosigkeit<br />

erstarrt sind, ist ihre Abschaffung nicht das Werk des revolutionären<br />

Kampfes, sondern die Marktgesellschaft wird „aufgegeben"<br />

aufgrund eines „Grades von Vernünftigkeit", „den man schon<br />

immer für jegliche moralische Theorie politischer Pflichten hat postulieren<br />

müssen. Ist dieser Grad von Vernünftigkeit gegeben, so wird<br />

das auf sein eigenes Interesse bedachte Individuum, was immer sein<br />

Besitz und seine Bindung an die Eigentumsmarktgesellschaft sein<br />

mögen, erkennen können, daß die Beziehungen der Marktgesellschaft<br />

aufgegeben werden müssen zugunsten der alles überragenden Forderung,<br />

daß (mit Overtons 1 Worten, die nun neue Bedeutung erhalten)<br />

,Menschliche Gesellschaft, das Zusammenleben oder Dasein der<br />

Menschen ... vor allen irdischen Dingen verteidigt werden muß!"'<br />

(309). Hans-Otto Riethus und Klaus Schulte (Berlin)<br />

Euchner, Walter: Naturrecht und Politik bei John<br />

Locke. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt/M. 1969 (319 S.,<br />

brosch., 22,— DM/Ln., 30,— DM).<br />

1 Richard Overton, Pamphletist der Levellers (£L 1642—1663).


Philosophie 401<br />

In seinem Vorwort zur Buchausgabe von Walter Euchners Dissertation<br />

schreibt Iring Fetscher, die Untersuchung mache „deutlich,<br />

daß die gewissenhafte Analyse des Gesamtwerkes von John Locke<br />

mit, der sorgfältigen Ableitung von dessen Grundtheoremen aus den\<br />

Bedingungen des Zeitalters des frühbürgerlichen Konkurrenzkapitalismus<br />

übereinstimmt" (<strong>VI</strong>II). Es wäre mit einer solchen Ableitung —<br />

wie immer sie konkret aussähe — erst ein Teil der historisch-materialistischen<br />

Analyse einer Theorie geleistet. Dazu gehörte nämlich<br />

etwa die Frage, inwiefern sich der Klassencharakter einer Theorie<br />

gerade darin zeigt, daß sie bestimmte Elemente der in sie eingegangenen<br />

sozialen Realität ausspart (so unterschlägt z. B. Lockes Lehre<br />

vom Staat als Zusammenschluß freier Individuen — „frei" bedeutet<br />

im Sprachgebrauch der Zeit: besitzend — die Tatsache, daß im 17.<br />

Jahrhundert 50 % der englischen Bevölkerung unter dem Existenzminimum<br />

lebten). Doch muß man leider feststellen, daß Euchners<br />

Arbeit selbst den von Fetscher formulierten Ansprüchen nicht genügt.<br />

Euchner selbst faßt sein Ziel bescheidener und ambitionierter zugleich:<br />

„Die vorliegende Arbeit versucht, die einzelnen Lehrstücke<br />

des Lockeschen Naturrechts auf ihre Zugehörigkeit zur Tradition<br />

oder zur modernen bürgerlichen Sozialphilosophie zu befragen und<br />

somit das naturrechtliche Denken Lockes zu rekonstruieren; sie versteht<br />

sich als ein Beitrag zur Erhellung der Genese des bürgerlichen/<br />

politischen und sozialen Weltbildes" (13).<br />

Die geistesgeschichtliche Einordnung sowie die höchst umfangreiche<br />

Zusammenstellung der Lockeschen Äußerungen zum Naturrecht<br />

und eingehende Überprüfung der logischen Stringenz der<br />

Lockeschen Theoreme nimmt fast den gesamten Raum ein. Doch<br />

scheint auch Euchner unter dem Begriff der „Erhellung der Genese"<br />

mehr zu verstehen als geistesgeschichtliche Ableitung, aber wo er auf<br />

den sozialen Zusammenhang eingeht, dem Lockes Theorie entstammt<br />

und den sie zu beeinflussen versuchte, ersetzen vage Allgemeinheiten<br />

die erforderliche sozialhistorische Untersuchung.<br />

Euchner bezeichnet es als „thema probandum" seiner Arbeit (9) zu<br />

zeigen, wie Locke mit Theoremen des klassischen Naturrechts ansetzt<br />

und sie dann im Verlauf seiner Argumentation aushöhlt. Er kann<br />

aber die Funktion des formalen Festhaltens am traditionellen, stoischscholastischen<br />

Naturrecht im Hinblick auf die ideologische Verbrämung<br />

einer Theorie, die — wie Euchner selbst pauschal feststellt —<br />

zur „Sicherung der Eigentumsrechte der Bourgeoisie" (216) beitragen<br />

soll, nicht deutlich machen. Die tatsächliche Wirkung der Lockeschen<br />

Sozialphilosophie auf die englische Geschichte des 17. und frühen 18.<br />

Jahrhunderts wäre erst durch eine detaillierte historische Analyse<br />

zu klären. Da diese fehlt, bleibt die Beschreibung der Entwicklungsstadien<br />

der Lockeschen Naturrechtslehre bloße Philologie.<br />

Schon das Referat der Ergebnisse der neueren Locke-Forschung<br />

und der philosophiegeschichtliche Abriß über „Traditionelles und<br />

modernes Naturrecht" (14), den Euchner im Hinblick auf die Zuordnungskriterien<br />

als Exkurs einfügt, sind fixiert auf die Fragestellung:


402 Besprechungen<br />

Ist Lockes Lehre dem traditionellen oder dem modernen Naturrecht<br />

zuzuordnen? Dadurch bleiben der Forschungsansatz und die politische<br />

Stellung der verschiedenen Autoren ebenso im Dunkeln wie<br />

der historische Zusammenhang, in dem sich die Entwicklung vom<br />

traditionellen zum modernen Naturrecht vollzieht.<br />

Im Hauptteil des Buches referiert Euchner die Lockesche Naturrechtslehre<br />

auf ihren verschiedenen Entwicklungsstufen in bezug<br />

auf die Aussagen über die Ordnung des Universums und die Funktion<br />

des Gottesbegriffes in diesem System sowie die Natur und Aufgabe,<br />

die Locke dem Menschen zuschreibt. Er geht dann auf Lockes<br />

naturrechtliche Erkenntnistheorie und die Verbindlichkeit des natürlichen<br />

Gesetzes für das menschliche Handeln ein. Schließlich untersucht<br />

er den Einfluß der Lockeschen Naturrechtskonstruktion auf<br />

dessen Staatslehre. Es mag hier genügen, Euchners Vorgehen an<br />

einigen zentralen Punkten zu verdeutlichen.<br />

Seine Beschreibung der Lockeschen Anthropologie begnügt sich mit<br />

der Abwehr ihres überhistorischen Anspruchs durch die Feststellung,<br />

daß Locke „das Gesamtbild des bürgerlichen, vom Streben nach<br />

Eigentum und Gewinn motivierten Menschen" (109) wiedergebe. Anstatt<br />

die objektiven Zwänge der Kapitalentfaltung, die die Herausbildung<br />

des frühbürgerlichen Sozialcharakters bedingten, zu analysieren,<br />

schließt Euchner sich kritiklos dem Lockeschen Psychologismus<br />

an, der ein nicht weiter begründetes „Streben" als Ursache sozioökonomischer<br />

Entwicklung annimmt. Lockes Kategorien werden ungeprüft<br />

übernommen, ohne die Frage zu stellen, inwieweit sie wirklich<br />

für den frühbürgerlichen Sozialcharakter spezifisch sind: „Das<br />

kompetitive Verhalten mit allen seinen Auswüchsen war bei allen<br />

Klassen der Gesellschaft zu erkennen (bei den Besitzenden in noch<br />

stärkerem Maße als bei den Besitzlosen) — deshalb konnte Locke<br />

Selbstsucht, Ehrgeiz, Parteilichkeit und Rachsucht zu einer allgemeinen<br />

Charaktereigenschaft der Menschen erklären" (79). Damit stellt<br />

Euchner den Kampf um die Erhaltung der bloßen Existenz mit dem<br />

Kampf der Besitzenden um den Anteil am Mehrprodukt auf eine<br />

Stufe.<br />

In der <strong>Diskussion</strong> der Lockeschen Staatslehre stellt sich Euchner<br />

der traditionellen Apologie Lockes als Verkünder der menschlichen<br />

Freiheit entgegen, indem er betont: „Lockes Staat ist der Staat der<br />

Eigentümer; nur sie sind Vollbürger" (204) und als von der Lockeschen<br />

politischen Philosophie intendierten Staatszweck „die Sicherung<br />

der gesellschaftlichen Reproduktion auf der Basis bürgerlicher<br />

Verkehrsverhältnisse" (199) angibt. Doch wie bei der Untersuchung<br />

der Lockeschen Anthropologie vermag Euchner auch hier nicht über<br />

richtige, aber beschränkte Einsichten Lockes selbst hinauszugelangen.<br />

Er spricht abstrakt von den „Bedürfnisse(n) des aufstrebenden Bürgertums"<br />

(221) und weist auf das Interesse des Bürgertums an gesicherten<br />

Verhältnissen in der Zirkulationssphäre hin. An keiner<br />

Stelle dringt er jedoch bis zu einer Analyse der Produktionsverhältnisse<br />

vor, geschweige denn zu einer umfassenden Klassenanalyse.<br />

Seine Aussagen bleiben so allgemein, daß sie weder die historische


Philosophie 403<br />

Entwicklung Englands im 17. Jahrhundert noch die Stellung der<br />

Lockeschen Sozialphilosophie zu erfassen vermögen.<br />

Bezeichnend ist, daß die englische Revolution, die die Durchsetzung<br />

des Kapitalverhältnisses in ganz England und in allen Sphären der<br />

gesellschaftlichen Reproduktion erst ermöglichte und so die Voraussetzung<br />

für die Lockesche Konzeption der Herrschaft oligarchischer<br />

Parlamente schuf, bei Euchner nur als die „Wirren des Bürgerkrieges"<br />

(200, 205, 218) erscheint, die das „wirtschaftliche Leben" gelähmt<br />

hätten und unter deren Eindruck Locke daher in seinen Jugendschriften<br />

zu etatistischen Fassungen des Staatszwecks und zur Zubilligung<br />

unbegrenzter Vollmachten an die Staatsgewalt gekommen sei. Die<br />

gloriose Revolution von 1688 jedoch, in der nach Fraktionskämpfen<br />

innerhalb der Kapitalistenklasse die siegreichen Fraktionen des Industrie-,<br />

Handels- und Finanzkapitals die Dynastie auswechselten,<br />

scheint Euchner als wirkliche Revolution zu betrachten: „Der von<br />

Locke gemeinte Träger der Revolution gegen eine willkürliche Obrigkeit<br />

war vielmehr die aufstrebende Klasse der vorwiegend protestantischen<br />

und insbesondere puritanischen Bankiers, Unternehmer<br />

und Kaufleute, deren Sekurität, die unabdingbare Voraussetzung für<br />

das Gedeihen von Handel und Gewerbe, in der Zeit vor der ,Glorious<br />

Revolution' von der Politik der Stuarts ständig gefährdet worden<br />

war" (217 f.). Den verschiedenen Fraktionen des englischen Kapitals<br />

ging es bis 1688 keineswegs nur um Sekurität. Vielmehr gelang es<br />

ihnen während der Großen Revolution, die Krone in blutigen Kämpfen<br />

zur Aufgabe der Praxis des Verkaufs von Monopolen zu zwingen,<br />

die der Kapitalisierung hinderlich waren, während die Opposition<br />

gegen die späten Stuarts (nach 1688) keinen Gegensatz zwischen ver-i<br />

schiedenen Klassen ausdrückt, sondern sich gegen die zoll- und<br />

steuerpolitische Bevorzugung des Agrarkapitals richtete, die 1688<br />

beseitigt wurde. Das Agrarkapital erscheint bei Euchner nur in den<br />

wenigen Bemerkungen zu Lockes Biographie, in denen er erwähnt,<br />

daß Locke im Dienst der „gentry" gestanden habe, die in der Hauptsache<br />

von kapitalistischer Grundrente lebte. Ansonsten bleibt Lockes<br />

Biographie unberücksichtigt. Die Folge ist, daß Euchner kommentarlos<br />

von dem Pathos berichten kann (209), mit dem sich Locke —<br />

immerhin Aufsichtsratsmitglied einer Sklavenhandelsgesellschaft —<br />

gegen die Sklaverei aussprach.<br />

Hanns-Werner Heister und Wolf Kaiser (Berlin)<br />

Sieyês, Emmanuel: Abhandlung über die Privilegien.<br />

Was ist der dritte Stand? Hrsg. v. Rolf Hellmut Foerster.<br />

Sammlung insel Bd. 42, Insel Verlag, Frankfurt/Main 1968<br />

(144 S., Ln., 6,— DM).<br />

Die der feudal-monarchischen Verkümmerung und politischen Unfähigkeit<br />

von seiten der praktisch gewordenen Aufklärungsbewegung<br />

entgegengehaltene Spannkraft der Bourgeoisie zum utopischen<br />

Entwurf, zur Anstrengung der Theorie der Gesellschaft, die „um der


404 Besprechungen<br />

richtigen Gesellschaftsordnung willen" eine „Wissenschaft von der<br />

Gesellschaft" (Sieyès) entwickelt, Vernunft und allgemeinem Interesse<br />

sich verpflichtet weiß und somit zu ihrem klarsten theoretischen<br />

Ausdruck findet — dieser mächtige geistige Aufschwung trug auch<br />

den Prälaten Sieyès weit über die engen Grenzen seiner Diözese, weit<br />

auch über seine eingefleischten sozialen Vorurteile hinsichtlich der<br />

unteren Volksklassen, zu denen er nach der Eroberung der politischen<br />

Macht durch die Bourgeoisie freilich schnell wieder zurückfand.<br />

Wie urteilte er doch selbst über die Fraktionskämpfe zwischen den<br />

heruntergekommenen Landjunkern und dem Hochadel: „Die Menschen<br />

neigen im allgemeinen dazu, alles, was über ihnen steht, zur<br />

Gleichheit zurückzuführen, sie erweisen sich dann als Philosophen.<br />

Dieses Wort wird ihnen erst in dem Augenblick verhaßt, da sie die<br />

gleichen Prinzipien bei den unter ihnen Stehenden bemerken" (97).<br />

So konnte Walter Markov vom Standpunkt seines Roten Priesters<br />

(W. Markov, Die Freiheiten des Priesters Roux, Akademie-Verlag,<br />

Berlin 1967) und der Enragés den Traktat über den Dritten Stand als<br />

Bürgerfibel abtun. In der Tat stand Sieyès während der Revolutionszeit<br />

immer auf der äußersten Rechten des bürgerlichen Lagers: von<br />

seiner Mitgründung des lafayettistischen „Clubs von 1789", seinem<br />

Ausschluß aus dem Jakobinerclub (Mai 1791) und seiner Mitläuferrolle<br />

bei den Girondisten über die ideologische (seine Rede gegen den<br />

„31. Mai" im März 1795) und praktische (Einbringung eines Polizeigesetzes<br />

gegen die Germinal-Aufständischen, das alle gewaltsam in<br />

den Convent Eindringenden mit der Todesstrafe bedrohte) Teilnahme<br />

am Weißen Terror der Thermidorianer, seine annexionistische<br />

Politik als Mitglied des Wohlfahrtausschusses gegenüber den Niederlanden,<br />

bis hin zur Mitwirkung an der Direktorialverfassung und zur<br />

Vorbereitung des bonapartistischen Staatsstreiches.<br />

Insofern kann man durchaus von einer folgerichtigen Entwicklung<br />

sprechen. Anfang 1789 standen die Zeichen für die Bourgeoisie auf<br />

Sturm, die Waffen wurden geschliffen für den ersten Gang, der die<br />

Zerschlagung der ständischen Gliederung an der Spitze der Gesellschaft<br />

bringen sollte.<br />

Diesen Prozeß hat Sieyès mit seinen beiden zuerst anonym herausgegebenen<br />

Schriften gewaltig vorangetrieben. Die im November 1788<br />

erschienene „Abhandlung" orientierte sich an Vernunft, Gleichheit<br />

und Gesetz und zeigte die Nutzlosigkeit wie Gemeingefährlichkeit<br />

des Privilegs: „Vergebens fordern die Landwirtschaft, die Fabriken,<br />

der Handel und alle Künste einen Teil des unermeßlichen Kapitals<br />

zurück, das sie zusammengetragen haben, um sich zu erhalten und<br />

auszudehnen und den allgemeinen Wohlstand zu erhöhen. Die Privilegierten<br />

verschlingen das Kapital und die Personen, alles wird auf<br />

Nimmerwiedersehn der privilegierten Sterilität zugeschanzt" (50).<br />

Das Pamphlet über den Dritten Stand erwies zunächst die während<br />

der Wahlkampagne zu den Generalständen erhobenen drei<br />

Hauptforderungen der Bourgeoisie (Wahl der Repräsentanten des<br />

Dritten Standes nur aus den Angehörigen des Dritten Standes;<br />

Gleichheit der Zahl der Repräsentanten des Dritten Standes mit der


Philosophie 405<br />

zusammengenommenen Zahl der Vertreter der beiden anderen Stände;<br />

Abstimmung nach Köpfen) als unzureichend, fegte dann alle königlichen<br />

Präventivmaßnahmen von Calonne bis Necker vom Tisch<br />

und gipfelte in dem vom Selbstbewußtsein der aufsteigenden sozialen<br />

Klasse getragenen Satz, daß der Dritte Stand sich zur Nationalversammlung<br />

erklären werde.<br />

Dem Herausgeber, der die beiden Texte recht gut neuübertragen<br />

hat, ist die oben angedeutete Rolle Sieyès in der Revolution allerdings<br />

verschlossen geblieben. Er faßt Anfang und Ende der politischen<br />

Laufbahn Sieyès ins Auge und folgert: „Der Weg vom Aufstand<br />

gegen eine etablierte Macht zur Etablierung einer Diktatur war<br />

gradlinig" (7). Sieyès' Fehler habe darin bestanden, belehrt Foersterj<br />

uns weiter, daß er von allgemeinen Wahrheiten und dem Gemeinwillen<br />

ausgegangen sei. Wer von solchen „Fiktionen" und „Ideologien"<br />

ausgehe, nun, der lande eben bei Eliten, bei einem neuen Mythos,<br />

und das gelte prinzipiell in gleicher Weise für den sowjetischen Kommunismus<br />

wie für den Gaullismus, ja offenbar auch für die studentische<br />

Bewegung unserer Tage.<br />

Es ist auffallend, daß diese ungeschichtliche Betrachtungsweise<br />

nicht mehr, wie bislang üblich, an Robespierre oder Marat, sondern<br />

bereits an gemäßigt-bourgeoisen Geistern, genauer: an der kurzen<br />

Phase, in der selbst die Sieyès, Condorcet, Lafayette & Co ad majorem<br />

societatis civilis gloriam revolutionär-militant wurden, entfaltet<br />

wird. Zu diesem Zeitpunkt nämlich bildeten die von Foerster zu Fiktionen<br />

herabgewürdigten „allgemeinen Wahrheiten", die der feudalen<br />

Absonderung entgegengehalten wurden, und der rousseauistische<br />

Gemeinwille, der die Nation erst möglich machte, die wirksamsten,<br />

weil das Volk politisierenden, Waffen der Bourgeoisie. Zur Fiktion<br />

wurde der Gemeinwille erst, als die Bourgeoisie ihre Privatinteressen<br />

gegenüber dem mobilisierten Volk durchsetzen mußte, als sie im<br />

Namen der volonté générale Zensuswahlrecht und Nationalgarde gegen<br />

die revoltierenden Massen aufbot.<br />

Da Foerster auch dieser Zusammenhang entgangen ist, hält er<br />

Sieyès vor, dieser habe sich „mehr als andere ... auf pure Agitation"<br />

(17) eingelassen und seine „Abhandlung" stelle eine „Verhöhnung<br />

des Adels" dar. Das „aristokratische Prinzip" der Montesquieuschen<br />

Gewaltenteilung habe Sieyès verworfen. Etwas besonderes Neues sei<br />

ihm auch nicht eingefallen: von Rousseau den Gemeinwillen, von<br />

England die Repräsentation, von Montesquieu die Gewaltenteilung.<br />

Schließlich habe die Bourgeoisie an Stelle der alten nur eine neue<br />

Herrschaft begründet. Erlösung aus diesem fatalen Zirkel (Aufstand<br />

gegen etablierte Macht — Etablierung einer neuen Macht) könne nur<br />

die „pluralistische(n), parlamentarische(n) Demokratie ursprünglich<br />

englischer Provenienz" bringen, „die ungleich schwieriger zu handhaben,<br />

ungleich labiler und sichtbarer der Korruption ausgesetzt ist",<br />

die aber „den wirklichen Zustand der Gesellschaft ohne Fiktionen"<br />

(20 f.) widerspiegelt. Vor einer derart platten Theoriefeindlichkeit<br />

kann nur eindringlich gewarnt werden.<br />

Dietfrid Krause-Vilmar (Marburg/Lahn)


406 Besprechungen<br />

Fourier, Charles: Theorie der vier Bewegungen und<br />

der allgemeinen Bestimmungen. Hrsg. von Theodor<br />

W. Adorno. Eingeleitet von Elisabeth Lenk. Europäische Verlagsanstalt<br />

Frankfurt und Europa Verlag Wien 1966 (388 S., kart.,<br />

18,— DM/Ln., 26,— DM).<br />

Claude-Henri de Saint-Simon und Charles Fourier: „Die providentielle<br />

Armut dieser großen Sozialisten war es, wodurch die Welt bereichert<br />

wurde, bereichert mit einem Schatze von Gedanken, die uns<br />

neue Welten des Genusses und des Glückes eröffnen. In welcher<br />

gräßlichen Armut Saint-Simon seine letzten Jahre verbrachte, ist<br />

allgemein bekannt. ... Auch Fourier mußte zu den Almosen der<br />

Freunde seine Zuflucht nehmen, und wie oft sah ich ihn, in seinem<br />

grauen, abgeschabten Rocke, längs den Pfeilern des Palais Royal<br />

hastig dahinschreiten, die beiden Rocktaschen schwer belastet, so daß<br />

aus der einen der Hals einer Flasche und aus der andern ein langes<br />

Brot hervorguckten." So Heinrich Heine in seiner Lutetia.<br />

In Deutschland hat es lange gedauert, bis man daranging, zumindest<br />

einige große Stücke aus dem „Schatz von Gedanken" zu heben.<br />

Für 1970 plant der Hamburger Merlin Verlag die Herausgabe eines<br />

Saint-Simon-Sammelbandes, der in deutscher Übersetzung u. a. die<br />

Lettres d'un habitant de Genève à ses contemporains, den Nouveau<br />

Christianisme sowie Teile der Introduction aux travaux scientifiques<br />

du XIXe siècle und des Mémoire sur la science de l'homme enthalten<br />

soll. (Zur jüngsten Saint-Simon-Ausgabe in Frankreich vgl. Das Argument<br />

45, 9. Jg. 1967, H. 5/6, S. 493—495). Die angezeigte Fourier-<br />

Edition bringt erstmalig in Deutschland eines der Hauptwerke des<br />

französischen Präsozialisten ungekürzt. Ältere Fourier-Übersetzung<br />

gen beschränken sich stets auf kleinere Stücke aus dem Gesamtwerk.<br />

Charles Fourier (1772—1837) veröffentlichte die Théorie des quatre<br />

mouvements et des destinées générales 1808 auf eigene Kosten in<br />

Lyon. Zur Täuschung der Zensur wurden als Verfasser „Charles"<br />

und als Druckort Leipzig genannt. Theorie der vier Bewegungen und<br />

der allgemeinen Bestimmungen — dieser Titel ist so reizlos, daß er<br />

das Interesse schlafen läßt. Er verbirgt den Charakter dessen, was er<br />

überschreibt. „Gibt es etwas, das wahrer ist als die Ansichten des<br />

Christoph Kolumbus, mit dem ich mich gerne vergleiche? Er kündigte<br />

eine neue materielle Welt an, ich eine neue gesellschaftliche. Ich<br />

spreche wie er jene Wahrheit aus, die in den Augen der Voreingenommenen<br />

nicht wahrscheinlich ist. Man wird mich, wie ihn, als Phantasten<br />

verschreien, weil man aus den heutigen Mitteln auf die zukünftigen<br />

Ergebnisse schließt. Man glaubt, der soziale Mechanismus<br />

sei auf die dürftigen Hilfsmittel der Zivilisation angewiesen" (245).<br />

Absage an die Zivilisation, sprich die bürgerliche Gesellschaft:<br />

„Diese Gesellschaft ist immer hassenswert, und ihre vier Phasen<br />

unterscheiden sich nur graduell in ihrer Tücke und Ungerechtigkeit,<br />

die immer vorherrschen. ... Wenn wir in vollen Zügen das Wohlleben<br />

der neuen Gesellschaftsordnung genießen, dann können wir<br />

nach Herzenslust über die Gebrechen der Zivilisation und deren Ab-


Philosophie 407<br />

hilfe diskutieren. Sie wird uns wie der Krieg scheinen, nämlich:<br />

schön, wenn wir aus ihm zurückkommen. Dann wird man sich darin<br />

gefallen, die Arbeitsweise der Zivilisation zu analysieren, die seltsamste<br />

von allen, denn in ihr ist das Zusammenspiel der Kräfte am<br />

kompliziertesten. Jetzt aber handelt es sich darum, aus ihr herauszukommen,<br />

ohne sie zu studieren und zu verbessern. Darum werde<br />

ich nicht müde, die Nutzlosigkeit halber Maßregeln zu predigen"<br />

(287, 345).<br />

Erniedrigung der Frauen in der bürgerlichen Gesellschaft: „Wenn<br />

es unter der barbarischen Ordnung nötig ist, die Frauen abzustumpfen<br />

und ihnen einzureden, sie hätten keine Seele, damit sie sich auf<br />

dem Markt verkaufen und in einen Harem einschließen lassen, so ist<br />

es in der zivilisierten Ordnung nötig, die Frauen von Kind auf zu<br />

verdummen, um sie dem philosophischen Dogma der Knechtschaft<br />

in der Ehe anzupassen, und um sie der Herrschaft eines Gatten gefügig<br />

zu machen, dessen Charakter dem ihren vielleicht entgegengesetzt<br />

ist. ... Die Frauen sollten keine Autoren hervorbringen, sondern<br />

Befreier, einen politischen Spartakus, Genies, die Mittel ersinnen<br />

sollten, die Frauen aus ihrer Erniedrigung zu befreien. Auf den<br />

Frauen lastet die Zivilisation; Sache der Frauen wäre es, sie anzugreifen"<br />

(208 f.).<br />

Zügellosigkeit des Handels: „Was ist der Handel? Er ist die Lüge,<br />

mit ihrem ganzen Rüstzeug: Bankrott, Spekulation, Wucher und Betrug<br />

aller Art. ... Trotz der Schandtaten des Handels, die alle ehrlichen<br />

Leute mit Abscheu erfüllen, trotz der Vernunftbeweise, die<br />

uns in der Funktion des Handels eine parasitäre, niedrige und zerrüttende<br />

Wirkung zeigen, haben die Modernen doch den Handel auf<br />

den Thron erhoben. Das mußte so sein, denn die Zivilisation neigt<br />

zur Treulosigkeit. Durch den Einfluß des Handels strebt sie einem<br />

noch hassenswerteren und abscheulicheren System zu" (296, 334 f.).<br />

Diese für das Werk bezeichnenden Proben sprechen mit guter Aussicht<br />

auf Zusagen die Einladung zu Fourier aus, die der Titel des<br />

Werkes von 1808 nur den sog. Kennern nicht vorenthält. Selten,<br />

beachtet: Marx und Engels — stets sparsam mit Beifall — unterstützen<br />

die Einladung nachdrücklich. Marx feiert Fouriers „meisterhafte"<br />

Charakteristik der bürgerlichen Ehe und betont empfehlend, der<br />

<strong>kritische</strong> Teil Fouriers sei der wichtigste. Engels: „Fourier deckt die<br />

Heuchelei der respektablen Gesellschaft, den Widerspruch zwischen<br />

ihrer Theorie und ihrer Praxis, die Langeweile ihrer ganzen Existenzweise<br />

unerbittlich auf. ... Die mit dem Niedergang der Revolution<br />

emporblühende Schwindelspekulation ebenso wie die allgemeine<br />

Krämerhaftigkeit des damaligen französischen Handels schildert er<br />

ebenso meisterhaft wie ergötzlich." Der „deutsche theoretische Sozialismus"<br />

werde seine Herkunft von Saint-Simon, Fourier und Owen<br />

nie vergessen. Bei aller Phantasterei und bei allem Utopismus gehörten<br />

sie zu den „bedeutendsten Köpfen aller Zeiten"; sie hätten<br />

„zahllose Dinge" genial antizipiert, „deren Richtigkeit wir jetzt wissenschaftlich<br />

nachweisen" (vgl. MEW 2/208, 608; 3/498; 18/516;<br />

19/196).


408 Besprechungen<br />

Die deutsche Ausgabe der Théorie des quatre mouvements verdient<br />

Anerkennung. Gertrud von Holzhausen hat das schwierige<br />

Übersetzungsproblem geschickt gelöst. (Wann werden die Verlage<br />

— oder die Herausgeber — sich angewöhnen, den Übersetzer, der<br />

die Hauptlast der Arbeit trägt, auf dem Titelblatt zu nennen?) Die<br />

Einleitung von Elisabeth Lenk ist ein selten gescheiter Beitrag zur<br />

Interpretation Fouriers. Ein Vorwurf am Rande: Es wäre sinnvoll<br />

gewesen, der Edition zumindest eine Auswahl-Bibliographie beizugeben.<br />

Ein unentbehrliches Hilfsmittel von großer Zuverlässigkeit<br />

ist die von Giuseppe Del Bo besorgte Bibliographie aus dem Istituto<br />

Giangiacomo Feltrinelli: Charles Fourier e la Scuola Societaria (1801<br />

—1922). Il Socialismo Utopistico Bd. 1, Mailand 1957 (S. 5—10 chronologisch<br />

geordnetes Verzeichnis der Werke Fouriers; S. 84 f. und<br />

vor allem S. 90—96 Fourier-Literatur). Aus der älteren Fourier-Literatur<br />

ist bis heute grundlegend: Bourgin, Hubert. Fourier. Contribution<br />

à l'étude du socialisme français. Paris 1905.<br />

Seit Mitte der 50er Jahre sind an wichtigeren Textausgaben und<br />

Interpretationen u. a. erschienen: Fourier, Charles. Oeuvres complètes.<br />

12 Bde. Paris 1967. — Debout-Oleszkiewicz, Simone (Hg.). „Charles<br />

Fourier. Textes inédits". Revue internationale de Philosophie<br />

[RlPh] Bd. 16 (1962), 147—175. — Apelt, Walter. Die Pädagogik Charles<br />

Fouriers im Rahmen seiner philosophischen, psychologischen und<br />

politischen Ansichten. Habil.-Schrift Halle 1958. — Bloch, Ernst.<br />

„Föderative Utopien im neunzehnten Jahrhundert: Owen, Fourier",<br />

Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt 1959, 647—654. — Dautry, Jean.<br />

„La notion de travail chez Saint-Simon et Fourier". Journal de<br />

psychologie normale et pathologique Bd. 52 (1955), 59—76. — Ders.<br />

„Fourier et les questions d'éducation". RlPh Bd. 16 (1962), 234—260.<br />

— Debout-Oleszkiewicz, Simone. „L'analogie ou ,Le poème mathématique'<br />

de Charles Fourier". RlPh Bd. 16 (1962), 176—199. — Debout,<br />

Simone. „La Terre permise ou l'analyse selon Charles Fourier<br />

et la théorie des groupes". Les Temps Modernes Bd. 22 (1966), Nr.<br />

242. 1—55. — Ders. „Le désir et la boussole: le système sociétaire de<br />

Charles Fourier". Cahiers internationaux de Sociologie Bd. 43 (Juli<br />

bis Dez. 1967), 159—168. — Desroche, Henri. „Fouriérisme ambigu:<br />

socialisme ou réligion?". RlPh Bd. 16 (1962), 200—220. — Lehouck,<br />

Emile. „Psychologie et morale dans l'œuvre de Charles Fourier (1772<br />

bis 1837)". Revue des Sciences Humaines Bd. 27 (1962), 423—437. —<br />

Ders. Fourier, aujourd'hui. Paris 1966. — Poulat, Emile. Le séjour de<br />

Fourier en Bugey, 1816—1821. Belley 1956. — Ders. Les cahiers<br />

manuscrits de Fourier. Etude historique et inventaire raisonné. Introduction<br />

(6—36): Desroche, Henri. Fouriérisme écrit et Fouriérisme<br />

pratiqué. Notes sur les études fouriéristes contemporaines. Paris<br />

1957. — Ders. „Ecritures et traditions fouriéristes". RlPh Bd. 16<br />

(1962), 221—233. — Ramm, Thilo. „Charles Fourier (1772—1837)", Die<br />

großen Sozialisten als Rechts- und Sozialphilocophen. Stuttgart 1955,<br />

315—383 [Bibliographie der Fourier-Literatur S. 316 f.]. — Riasanovsky,<br />

Nicholas V. „L'emploi de citations bibliques dans l'œuvre del<br />

Charles Fourier". Archives de Sociologie des Religions Bd. 10/Nr. 20


Philosophie 409<br />

(Juli—Dez. 1965), 31—43. — Schlanger, Judith E. „Bonheur et musique<br />

chez Fourier". Revue de Métaphysique et de Morale Bd. 70<br />

(1965), 226—239. — Zilberfarb, Johanson. „Les études sur Fourier et<br />

le fouriérisme, vues par un historien". RlPh Bd. 16 (1962), 261—279.<br />

— Ders. Sozialnaja filosofija Scharlja Furje i ejo mesto w istorij<br />

sozialistitscheskoj misli perwoj polowinj XIX weka. Moskau 1964<br />

[mit umfangreicher Bibliographie]. Manfred Hahn (Gießen)<br />

Walch, Jean: Bibliographie du Saint-Simonisme. Avec<br />

trois textes inédits. Librairie Philosophique J. Vrin, Paris 1967<br />

(132 S., geb., 13,50 F).<br />

Die Forschung zur (prä-)sozialistischen Dogmengeschichte scheint<br />

viel zu leisten, so jedenfalls läßt die Literaturfülle vermuten. Doch der<br />

Eifer täuscht: die deutliche Mehrheit der Autoren treibt indifferente<br />

Dogmenarchäologie, sie will lediglich Erinnerung an <strong>Theorien</strong>, die<br />

angeblich reine Vergangenheit sind. Solange sich hier nicht Entscheidendes<br />

ändert, die dogmengeschichtliche Forschung also weiterhin —<br />

nach Hegels Diktum — die Kollektion von Mumien vergrößert, ist<br />

verständlich, daß sie nicht nur bei Soziologen im Ruf der Altertümelei<br />

steht.<br />

Das angezeigte Werk versucht einen der interessantesten, freilich<br />

auch problematischsten Ausschnitte (prä-)sozialistischer Dogmengeschichte<br />

bibliographisch zu erschließen. Es ersetzt endgültig Henri<br />

Fournels Bibliographie saint-simonienne von 1833. „Tout ce qui est<br />

actuellement encore utilisable dans cet ouvrage a été repris dans la<br />

présente bibliographie" (15). Jean Walch notiert eingangs Literatur<br />

zum geschichtlichen Kontext, anschließend Archivmaterial und gedruckte<br />

Quellen zur Geschichte des Saint-Simonismus. Es folgen Literatur<br />

über Saint-Simon und über den Saint-Simonismus sowie —<br />

mit eingeschobenen Hinweisen auf Spezialuntersuchungen — Verzeichnisse<br />

der Schriften einzelner Saint-Simonisten. Unter dem Titel<br />

Les aspects du Saint-Simonisme sind Monographien zusammengestellt<br />

z. B. über Geschichtsphilosophie oder politische Ökonomie der Saint-<br />

Simonisten, über deren praktische Unternehmungen (Eisenbahnbau,<br />

Suezkanal, Crédit Mobilier usf.), über die Beziehungen des Saint-<br />

Simonismus etwa zum Positivismus, zum Marxismus oder zu Proudhon.<br />

Der bibliographische Schlußteil erfaßt Untersuchungen zum<br />

Einfluß des Saint-Simonismus in Frankreich, im übrigen Europa sowie<br />

in einigen überseeischen Ländern. Ein Autorenregister erleichtert<br />

die Benutzung der über tausend Nummern zählenden Bibliographie.<br />

Walch gibt keine räsonierende Bibliographie, d. h. er ordnet vorhandene<br />

Literatur, ohne zur Orientierung des Benutzers kommentierend<br />

und urteilend einzugreifen. Bleibt dem Rezensenten die Frage,<br />

wie zuverlässig das Verzeichnis ist. Walch macht ausdrücklich alle<br />

Arbeiten kenntlich (vgl. S. 13), die nicht im Besitz der Pariser Bibliothèque<br />

Nationale sind. Das meint bei einem gewissenhaften Bibliographen:<br />

die übrige Literatur konnte ich zur Kontrolle meiner Anga-


410 Besprechungen<br />

ben einsehen. Stichproben in den auf Saint-Simon konzentrierten Abschnitten<br />

der Bibliographie erweisen, daß Walch von dieser Selbstverständlichkeit<br />

nicht sonderlich viel gehalten hat. Falsche Band- und<br />

Jahreszahlen — zumal bei Zeitschriften — sowie ungenaue und unvollständige<br />

Seitenangaben wecken erste Bedenken (Beispiele: S. 45/<br />

Nr. 165 und 171, S. 46/Nr. 187 und 203 [Bd. 3 des Standardwerkes von<br />

Gouhier wird nicht verzeichnet: Auguste Comte et Saint-Simon, 1941],<br />

S. 47/Nr. 218, S. 48/Nr. 234). Nichts entschuldigt die falschen Buch-,<br />

Aufsatz- oder Zeitschriftentitel. So heißt Maxime Leroys wichtige<br />

Biographie von 1925 nicht La Vie du Comte de Saint-Simon (S. 48/<br />

Nr. 220), sondern La vie véritable du ... . Das ist keine kleinliche<br />

Anmerkung: nur der korrekte Titel betont die Absage an die biographischen<br />

Legenden der Saint-Simonisten. Gustav Eckstein nennt seinen<br />

Aufsatz nicht Der alte und der neue Saint-Simonismus (S. 91/<br />

Nr. 857), sondern Der alte und der neue Saint-Simon. Der falsche Titel<br />

suggeriert, Eckstein befasse sich mit dem französischen Néo-Saint-<br />

Simonisme bürgerlich-konservativen Zuschnitts. Die beiden Arbeiten<br />

von William Stark (S. 49/Nr. 251 f.) sind nicht im Journal of the<br />

History of Ideas erschienen, sondern im Journal of Economic History.<br />

Und dann diese Groteske: Walch notiert gleich fünf (!) Arbeiten, die<br />

gar nicht von Claude-Henri de Saint-Simon handeln, sondern vom<br />

Duc de Saint-Simon (1675—1755), dem Verfasser der berühmten<br />

Mémoires (S. 45/Nr. 167 und 169, S. 49/Nr. 248, S. 89/Nr. 840, S. 103/<br />

Nr. 995).<br />

Derart grobe Schnitzer finden sich bereits in früheren Spezialbibliographien,<br />

die Walch nachweislich benutzt hat. Gegen deren Ausbeutung<br />

ist gar nichts einzuwenden, aber als sorgfältiger Bibliograph —<br />

der er anscheinend nicht ist — hätte Walch möglichst jede Angabe<br />

prüfen müssen, statt nur abzuschreiben. Eine übertriebene Forderung?<br />

Wer nie auf unzuverlässige Bibliographien angewiesen war,<br />

mag das behaupten. Der Verfasser eines Werkes, das der Forschung<br />

auf Jahrzehnte ein zuverlässiges bibliographisches Fundament geben<br />

soll, kann sich auf diese leichte Art nicht retten. Er kann auch nicht<br />

die Lücken seiner Bibliographie rechtfertigen. Gegenwärtig bedeutendster<br />

Saint-Simon-Interpret Frankreichs ist der Marxist Jean<br />

Dautry. Walch nennt — und kennt? — außer einer Edition (S. 41/<br />

Nr. 155) nur zwei Arbeiten von ihm (S. 46/Nr. 188 f.). Selbst bei frühem<br />

„Redaktionsschluß" hätte er wenigstens vier weitere aufnehmen<br />

können, die zwischen 1949 und 1960 erschienen sind. In der Rubrik<br />

Saint-Simonisme et Marxisme (99) fehlt ausgerechnet die bisher<br />

konzentrierteste Arbeit zum Thema: Georges Gurvitch, „Saint-Simon<br />

et Karl Marx", Revue internationale de Philosophie Bd. 14 (1960),<br />

399—416. Der Aufsatz steht nebenbei gesagt im Sonderheft der Zeitschrift<br />

zum 200. Geburtstag Saint-Simons. Walch nimmt es merkwürdigerweise<br />

nicht zur Kenntnis, denn er notiert keinen der zahlreichen<br />

Beiträge. Nicht berücksichtigt sind weiterhin so wichtige<br />

Monographien wie z. B. Paul E. Martins Aufsatz über Saint-Simons<br />

Lettre d'un habitant de Genève à l'Humanité (Zeitschrift für Schweizerische<br />

Geschichte Bd. 5, 1925, 477—497), W. P. Wolgins Untersu-


Philosophie 411<br />

chung zur historischen Stellung Saint-Simons (Marx-Engels-Archiv<br />

Bd. 1, 1926, 82—118), Winfried Schröders Leipziger Dissertation von<br />

1958 (Das geschichtliche Weltbild des utopischen Sozialisten Claude-<br />

Henri de Saint-Simon), schließlich Enrico Vidais Saint-Simon e la<br />

scienza politico von 1959.<br />

Fazit: die Forschung zur (prä-)sozialistischen Dogmengeschichte ist<br />

um ein unentbehrliches Hilfsmittel reicher, das künftige Arbeit wesentlich<br />

erleichtert — und dem Benutzer zur Abwechslung böse<br />

Streiche spielt.<br />

Manfred Hahn (Gießen)<br />

Mill, John Stuart: Über Freiheit. Aus dem Englischen übertragen<br />

und mit einem Anhang versehen von Achim v. Borries. Europäische<br />

Verlagsanstalt, Frankfurt/M. 1969 (165 S., kart., 15,— DM).<br />

In der bürgerlichen ideengeschichtlichen Tradition gilt Mill als<br />

Apostel der individuellen Freiheit. Deswegen ist es kein Zufall, daß<br />

im Jahr des nationalsozialistischen Zusamenbruchs eine erneute<br />

deutschsprachige Ausgabe seines vielseitig zitierten Essays „On Liberty"<br />

erschien (Zürich 1945), die A. Grabowsky seinerzeit mit einer<br />

über 100 Seiten starken Einleitung herausgab, in der er die liberale<br />

Freiheitsidee zu restaurieren versuchte. Seitdem vergaß man Mill<br />

wieder, bis er — angeregt durch den Mill-Abschnitt in Habermas'<br />

Studie zur bürgerlichen Öffentlichkeit — wieder diskutiert wurde,<br />

allerdings in engem Rahmen. Die vorliegende neue Übersetzung von<br />

Mills Essay über Freiheit ist zweifellos eine verlegerische Reaktion<br />

auf die breite Vergegenwärtigung Mills durch Marcuses Aufsatz über<br />

„repressive Toleranz", in dem Mill neu rezipiert wird. Ursprünglich<br />

war diese neue Mill-Ausgabe mit einer Einleitung des Herausgebers<br />

angekündigt, die offensichtlich nicht zustande kam. Der Anhang des<br />

Herausgebers (Kurzbiographie Mills, Exzerpte aus anderen Mill-<br />

Schriften, Zeittafel und Bibliographie) ist zwar brauchbar, kann eine<br />

Einleitung indes nicht ersetzen. Ohne diese, die eine neue Mill-<strong>Diskussion</strong><br />

hätte aufnehmen können, wird die Neuauflage des Essays<br />

„On Liberty" fragwürdig, zumal die Grabowsky-Ausgabe im Nachdruck<br />

erhältlich ist (Wissenschaftliche Buchgemeinschaft, Darmstadt).<br />

Auch vermißt man einige nötige editorische Notizen. So sagt der<br />

Herausgeber nicht, ob er sich bei seiner Übersetzung auf die Grabowskys<br />

stützt. Beim Vergleich einiger Pasagen beider Ausgaben stellte<br />

der Rezensent fest, daß Grabowskys Übersetzung streckenweise präziser<br />

ist; auch enthält sie einen umfangreichen Anmerkungsapparat.<br />

Bekanntlich zitiert Marcuse in seinem Toleranz-Aufsatz einige Passagen<br />

aus der Millschen Freiheitsschrift, in denen Mill intellektuelle<br />

Reife als Voraussetzung für die Wahrnehmung der Freiheitsrechte<br />

nennt. Marcuse will damit die „reine Toleranz" im Spätkapitalismus<br />

kritisieren, mit der unter dem Deckmantel der Freiheit selbst verbrecherische<br />

Meinungen toleriert werden. Jedoch betrachtet Marcuse<br />

diese Passagen nicht in der Totalität der Millschen Theorie. Es entgeht<br />

ihm, daß Mills Argumentation, wonach nur reife Menschen Freiheit


412 Besprechungen<br />

genießen können, gegen das Proletariat sich wendet, das eine „Gefahr"<br />

für die <strong>Institut</strong>ionen der bürgerlichen Öffentlichkeit darstellte.<br />

Das räsonierende Publikum, das nicht mehr rein bürgerlich zu sein<br />

droht, besteht nun für Mill „aus wenigen Weisen und vielen Toren"<br />

(cf. 29). Auch die Wahrheit, die noch für Mills radikal-liberalen Vorgänger<br />

Bentham absolut, weil bürgerlich sein konnte, existiert für<br />

Mill nurmehr in einer relativierten Form, so daß er für einen Pluralismus<br />

plädiert, der im Zustande des Fehlens einer absoluten Wahrheit<br />

die Meinungsfreiheit garantiert (cf. 27, 63). Für diese Ansichten,<br />

die den Zustand reflektieren, in dem das Proletariat in die Sphäre<br />

der bürgerlichen Öffentlichkeit' vordringt, mußte Mill den Frühliberalismus,<br />

den er von seinem Vater James Mill und dessen Freund<br />

Bentham rezipierte, gründlich revidieren, und zwar auf drei Ebenen:<br />

der der politischen Ökonomie, der Regierungslehre und der Erkenntnistheorie<br />

(so die Kritik der „absoluten Wahrheit"). Hierbei spielt für<br />

Mill die Bekanntschaft mit Tocqueville und dessen Werk eine zentrale<br />

Bedeutung, was in einem Aufsatz, in dem Mill Tocquevilles<br />

Demokratie-Schrift würdigt (Edinburgh Review, Okt. 1840), besonders<br />

klar hervortritt.<br />

In Mills Regierungslehre finden seine Ansichten über Freiheit ihre<br />

praktische Anwendung. So wird z. B. für das allgemeine, allerdings<br />

abgestufte Wahlrecht plädiert. Als Maßstab für die Abstufung gilt<br />

der Grad der Intelligenz: „Ein Arbeitgeber ist durchschnittlich intelligenter<br />

als ein Arbeiter" (zit. nach Grabowsky, Einleitung, op. cit.,<br />

p. 69). Aber selbst dieses pervertierte allgemeine Stimmrecht war für<br />

das damalige Bürgertum unannehmbar. Mit seiner Revision des Liberalismus<br />

wollte Mill eine theoretische Konzeption formulieren, die<br />

garantiert, daß einerseits das erwachende Proletariat berücksichtigt<br />

wird — weshalb er auch das allgemeine Wahlrecht forderte —, ohne<br />

andererseits die bürgerliche Gesellschaft zu gefährden. Die bisher<br />

prägnanteste Charakterisierung des Millschen Denkens stammt von<br />

einem Zeitgenossen: „Männer, die noch wissenschaftliche Bedeutung<br />

beanspruchten, und mehr sein wollten als bloße Sophisten und Sykophanten<br />

der herrschenden Klassen, suchten die politische Ökonomie<br />

des Kapitals in Einklang zu setzen mit den jetzt nicht länger zu ignorierenden<br />

Ansprüchen des Proletariats. Daher ein geistloser Synkretismus,<br />

wie ihn John Stuart Mill am besten repräsentiert" (Marx,<br />

MEW, Bd. 23, p. 21).<br />

Bassam Tibi (Frankfurt/M.)<br />

Tocqueville, Alexis de: Das Zeitalter der Gleichheit. Auswahl<br />

aus Werken und Briefen. Übersetzt und hrsg. von Siegfried<br />

Landshut. Klassiker der Politik, Bd. 4. Westdeutscher Verlag, Köln<br />

und Opladen 2 1967 (266 S., br., 19,— DM/Ln., 26,— DM).<br />

Feldhoff, Jürgen: Die Politik der egalitären Gesellschaft.<br />

Zur soziologischen Demokratie-Analyse bei Alexis de<br />

Tocqueville. Beiträge zur soziologischen Forschung, Bd. 1. Westdeutscher<br />

Verlag, Köln und Opladen 1968 (212 S., kart., 22,— DM).


Philosophie 413<br />

Als Landshut die erste Auflage (Stuttgart 1954) der hier anzuzeigenden<br />

Tocqueville-Auswahl plante, konnte er nur schwer einen<br />

Verlag dafür interessieren (cf. XIV). Inzwischen kann man auch in<br />

Deutschland von einer Tocqueville-Renaissance sprechen. In Frankreich<br />

erscheint, herausgegeben von J. P. Mayer, eine historisch-<strong>kritische</strong><br />

Tocqueville-Gesamtausgabe, auf der die ebenso von Mayer<br />

besorgte deutsche Gesamtausgabe fußt (Stuttgart 1959 ff.), welche<br />

noch nicht abgeschlossen ist. Landshuts Textauswahl genügt durchaus,<br />

will man nicht über spezielle Problemstellungen bei Tocqueville arbeiten;<br />

sie umfaßt die wichtigsten Schriften Tocquevilles: ,De la<br />

démocratie en Amérique' (unvollständig),,L'ancien régime et la révolution'<br />

sowie die Abhandlung über „Die gesellschaftlichen und politischen<br />

Zustände in Frankreich vor und nach 1789". Die letzten 35<br />

Seiten bieten eine repräsentative Auswahl aus den Reden, Briefen<br />

und Tagebuchnotizen. In seiner allgemein gehaltenen Einleitung vermittelt<br />

Landshut dem Leser einen umfassenden Überblick über<br />

Tocquevilles Leben und Werk sowie dessen Rezeption. Er würdigt<br />

Tocqueville als einen Denker von der Größe Marx'.<br />

Feldhoff verdeutlicht seine Forschungsintention am Stand der Tocqueville-Literatur.<br />

Die breite Rezeption der ,Démocratie en Amérique'<br />

— schon zu seinen Lebzeiten — flaut bald nach Tocquevilles Tod<br />

ab. Erst wieder mit dem durch den II. Weltkrieg entstandenen Interesse<br />

an politischer Philosophie, um den <strong>Faschismus</strong> ideengeschichtlich<br />

fassen zu können, wuchs auch das Interesse an Tocqueville. Die Tocqueville-Renaissance<br />

wird von zwei deutschen Emigranten, J. P.<br />

Mayer und A. Salomon, eingeleitet. Seither gibt es eine schwer zu<br />

bewältigende Literaturfülle über Tocqueville. Feldhoff bemängelt an<br />

dieser Literatur zu Recht, daß sie bezugslos nebeneinander steht und<br />

Tocquevilles Werk zum „Zitatschatz" pervertiert, den man zur Untermauerung<br />

der eigenen Positionen heranzieht. Um diese Situation zu<br />

überwinden, unternimmt Feldhoff eine strenge Textanalyse; seine<br />

Arbeit begreift sich als ein Stück Tocqueville-Philologie, worin ihr<br />

Wert liegt. Allerdings vermag eine solche Prozedur wichtige Tatbestände<br />

an den Stellen nicht adäquat zu erfassen, wo das Operieren<br />

mit Belegstellen zur Interpretation nicht mehr ausreicht. Das zeigt<br />

sich an Feldhoffs Kritik von Habermas' Tocquëville-Interpretation.<br />

Das mindert den Wert der Arbeit Feldhoffs jedoch nicht, zumal der<br />

Autor neben seiner gründlichen Textanalyse eine intensive Verwertung<br />

der Tocqueville-Literatur in dem umfangreichen Anmerkungsapparat<br />

leistet. Tocqueville wird hier von vielen verbreiteten Vorurteilen<br />

entlastet.<br />

Die zentrale Aufgabe Feldhoffs ist, Tocquevilles Grundproblem: die<br />

Möglichkeiten der Freiheit in einer egalitären Gesellschaft, zu untersuchen.<br />

Im Zentrum der Analyse steht die ,Démocratie en Amérique';<br />

sonstige Schriften, Reden, Briefe und Tagebücher werden nur komplementär<br />

herangezogen. Feldhoff teilt seine Aufgabe in drei Etappen<br />

ein: Im ersten Kapitel untersucht er die Grundkategorien Tocquevilles,<br />

im zweiten stellt er die Grundzüge der Theorie der Demokratie<br />

dar, im letzten Kapitel reflektiert er über Tocquevilles Methode. Die-


414 Besprechungen<br />

ses Vorgehen beabsichtigt zugleich eine Systematisierung der Tocquevillschen<br />

Theorie; Tocqueville selbst intendierte keine systematische<br />

Theoriebildung und stellte auch keine methodischen Reflexionen an,<br />

sondern entfaltete seine Gedanken aus der Beobachtung historischer<br />

Ereignisse seiner Zeit. Die systematische Erfassung Tocquevilles erfordert<br />

daher die Herteilung eines Abstraktionsniveaus, auf dem<br />

Feldhoff überzeugend nachweisen kann, daß Tocquevilles Theorie<br />

einen systematischen Charakter hat und implizit auf einer Methode<br />

beruht.<br />

Tocquevilles Untersuchungsgegenstand ist das Stadium des Übergangs<br />

von der ,aristokratischen' zur demokratischen' Gesellschaft, das<br />

,egalitäre' Tendenzen auslöst, herkömmliche Privilegien aufhebt. Mit<br />

Demokratie bezeichnet Tocqueville, wie Feldhoff zeigt, nicht ein Regierungssystem<br />

— und darin wird er oft mißverstanden —, sondern<br />

vielmehr einen état social. Demokratie meint hier égalité des conditions<br />

(cf. 17). Tocqueville verfährt materialistisch, wenn er die jeweils<br />

vorhandene politische Herrschaft (état politique) aus den herrschenden<br />

sozialen Strukturen (état social) ableitet (cf. 19, 38). So unterscheidet<br />

sich Tocquevilles politische Theorie von modernen, bürgerlichen<br />

dadurch, daß sie die Topoi der Volkssouveränität, Repräsentation,<br />

Demokratie etc., die sie in sich aufnimmt, nicht isoliert betrachtet,<br />

sondern in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang<br />

einordnet (19).<br />

Wenn Tocqueville schreibt, daß die mit dem Untergang des Feudalismus<br />

entstandenen sozialen Strukturen Gleichheit mit sich bringen,<br />

so meint er damit keineswegs — wie eine weit verbreitete Interpretation<br />

es will — ökonomische Gleichheit, sondern lediglich, daß der<br />

bürgerlichen Gesellschaft total wirkende nivellierende Tendenzen<br />

immanent sind, die eine Entdifferenzierung der Normsysteme und der<br />

damit verbundenen Verhaltensmuster verursachen und somit Konformität<br />

erzeugen. Es gibt keine durch Geburt erlangten und institutionell<br />

ewig gesicherten Privilegien mehr; im Rahmen einer steten Aufwärts-<br />

und Abwärtsmobilität kann nun jedermann Eigentum erwerben<br />

und verlieren (43 ff.). Gleichheit besteht in den Chancen und vor<br />

dem Gesetz; sie ist nichts als die damals schon naturrechtlich verankerte<br />

Gleichheit der Individuen, wie sie bereits bei Hobbes fundiert<br />

ist. Der Tatbestand, daß hinsichtlich der Eigentumsverhältnisse keine<br />

Gleichheit vorhanden ist, steht für Tocqueville nicht im Widerspruch<br />

zu seiner Gleichheitsthese. Denn für ihn ist die Gleichheit im Produktionsbereich<br />

völlig sekundär, zumal jeder durch die égalité des conditions<br />

in der Lage ist, Eigentum zu erwerben. Diese Position kann<br />

Tocqueville einnehmen, weil er keinen Zusammenhang zwischen<br />

Eigentum und Herrschaft herstellt. Feldhoff arbeitet an dieser Stelle<br />

die grundlegende Differenz des Tocquevillschen und des Marxschen<br />

Eigentumsbegriffes heraus. „Tocqueville macht hier keinen Unterschied<br />

zwischen dem Eigentum als Mittel und Zweck des sozialen Aufstiegs<br />

in einer demokratischen Gesellschaft und dem großen Finanzkapital,<br />

mit dem Produktionsmittel erworben und somit Verfügungsgewalt<br />

über menschliche Arbeitskraft gewonnen wird. Ganz im Ge-


Philosophie 415<br />

gensatz zu Karl Marx begreift er das Privateigentum nicht als Herrschaftsinstrument,<br />

gilt es ihm doch als Mittel der Emanzipation aus<br />

wirtschaftlicher Abhängigkeit ... Der Kapitalismus der großindustriellen<br />

Welt blieb Tocqueville letztlich ebenso unverständlich, wie<br />

die revolutionäre Situation des Industrieproletariats" (68). Die Pauperisierung<br />

des Industrieproletariats muß Tocqueville so als eine „unheilvolle<br />

Ausnahme" (67) erscheinen.<br />

Feldhoffs wertvolle Arbeit leidet, wie angedeutet, darunter, daß sie<br />

sich nicht mit dem Erkenntnisinteresse Tocquevilles befaßt; diesem<br />

ist Habermas nachgegangen (Strukturwandel der Öffentlichkeit,<br />

243 ff.). Er zeigt, daß das Problem des Durchdringens der <strong>Institut</strong>ionen<br />

der bürgerlichen Öffentlichkeit durch nichtbürgerliche soziale<br />

Kräfte den Hintergrund der Tocquevillschen Theorie bildete. Tocquevilles<br />

Untersuchungen egalitärer Tendenzen der bürgerlichen Gesellschaft<br />

an ihrem ausgebildeten Modell USA standen stets in diesem<br />

Kontext. Die von Tocqueville vorgeschlagene Vereinigung der Bürger<br />

zu politischen Gruppierungen, die als intermediäre politische Kräfte<br />

wirken sollen, kann nach Habermas nur im Zusammenhang mit dem<br />

Zerfall liberaler Öffentlichkeit und dem Reaktionärwerden des Bürgertums<br />

adäquat verstanden werden. Feldhoff hält diese Interpretation<br />

für ein „bezeichnendes Mißverständnis", welches darauf beruht,<br />

daß Habermas „ganz unbedenklich" das Schema der reaktionären<br />

Wendung des Bürgertums auf Tocqueville anwendet. Zwei Belegstellen<br />

sollen diese Behauptung untermauern (cf. 181, Anm. 242). Nach<br />

Feldhoff haben die corps intermédiaires bei Tocqueville lediglich die<br />

Funktion „der Sicherung einer relativen Autonomie der Glieder eines<br />

politischen Systems gegenüber der zentralen Machtinstanz" (91). Daß<br />

diese „Glieder" bei Tocqueville sich aus dem Bürgertum konstituieren,<br />

geht Feldhoff nicht ein. Es seien hier nur zwei Stellen von<br />

Tocqueville zitiert. „Die Mitglieder der Kammern (waren) in den<br />

ersten Zeiten der Republik viel hervorragendere Leute ... als heute.<br />

Sie gehörten fast alle jener Schicht von Eigentümern an, die mit<br />

jedem Tag mehr verschwindet. Jetzt hat das Land keine so ,glückliche<br />

Hand' mehr" (Landshut-Ausgabe, 248). Die corps intermédiaires sollen<br />

gerade diesen Zustand abwehren, denn „in einer Aristokratie besteht<br />

immer die Gewähr, daß inmitten der Freiheit eine gewisse Ordnung<br />

erhalten bleibt. Da die Regierenden viel zu verlieren haben, ist<br />

die Ordnung für sie von großem Interesse" (ibid., 44).<br />

Trotz gelegentlich auftauchender Interpretationsschwächen und apodiktisch<br />

formulierter, obgleich fragwürdiger Thesen wie der obigen<br />

bleibt es Feldhoffs Verdienst, Tocquevilles Werk aus der mißlichen<br />

Situation des „Zitatschatzes" und der „Prophetie des Massenzeitalters"<br />

befreit und als wichtigen Beitrag zur politischen Soziologie<br />

dargestellt zu haben.<br />

Bassam Tibi (Frankfurt/Main)<br />

Sorel, Georges: Überdie Gewalt. Nachwort von George Lichtheim.<br />

Reihe „Theorie 1". Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1969<br />

(396 S., br., 12,— DM).


416 Besprechungen<br />

Berding, Helmut: Rationalismus und Mythos. Geschichtsauffassung<br />

und politische Theorie bei Georges Sorel. Abhandlungen<br />

der Forschungsabteilung des Historischen Seminars der Universität<br />

Köln, Bd. 2. R. Oldenbourg Verlag, München 1969 (157 S., Ln.,<br />

28,— DM).<br />

Sorel, der „Metaphysiker des Syndikalismus" (J. Jaurès), entwickelte<br />

seine Theorie der Gewalt, die in seinen früheren Veröffentlichungen<br />

bereits anklingt, voll in einer Aufsatzserie, die 1906 in der<br />

Zeitschrift „Mouvement Socialiste" erschien und 1908 in Buchform<br />

unter dem Titel „Réflexions sur la violence" publiziert wurde. Die<br />

erste deutsche Übersetzung besorgte Ludwig Oppenheimer 1928. Sie<br />

wird hier unverändert wieder vorgelegt. In der neuen Ausgabe wurde<br />

die inzwischen überholte Einleitung von G. Salomon durch ein überlegenes,<br />

umfangreiches Nachwort von G. Lichtheim ersetzt; das Nachwort<br />

des Sorel-Schülers E. Berth zur ersten Ausgabe wurde nicht aufgenommen.<br />

Sorel geht in seiner Schrift von einer auf zwei Fronten geführten<br />

Polemik aus: gegen das ihm verhaßte Bürgertum und gegen die von<br />

ihm verachteten parlamentarischen Sozialisten. Beide sind für ihn<br />

Stützen des Bestehenden: das Bürgertum auf Grund seiner — das<br />

proletarische Klassenbewußtsein lähmenden — Sozialpolitik, die<br />

parlamentarischen Sozialisten wegen des von ihnen praktizierten sozialen<br />

Friedens. Sorel erweist sich hier als treuer Schüler Proudhons,<br />

der in seinem „La Guerre et la Paix" den Krieg als Motor der Geschichte<br />

betrachtet, wenngleich Proudhon im Stadium der bürgerlichen<br />

Demokratie ein Ende des Krieges sieht. Sorel haßt das Bürgertum<br />

gerade deshalb, weil es nicht mehr kriegerisch und daher entartet sei.<br />

„Die Rasse der kühnen Führer, die die Größe der modernen Industrie<br />

begründet hatten, verschwindet, um einer im Übermaß gesittigten<br />

Aristokratie Platz zu machen, die wünscht, in Frieden zu leben" (90).<br />

Die Sozialpolitik der bürgerlichen Republik ist für Sorel Ausdruck<br />

dieser „Entartung"; sie dokumentiere die „Furchtsamkeit" (77) des nun<br />

„feige" gewordenen Bürgertums und sei ein Symptom der Dekadenz:<br />

„Eine auf der Feigheit des Bürgertums beruhende Sozialpolitik, die<br />

darin besteht, stets vor der Drohung mit Gewalttätigkeiten zurückzuweichen,<br />

muß unfehlbar die Idee erzeugen, daß das Bürgertum zum<br />

Tode verurteilt und sein Verschwinden nur noch eine Frage der Zeit<br />

sei" (79). Auf diesem Hintergrund entfaltet Sorel seine „Apologie der<br />

Gewalt", denn nur durch Gewalt kann alles „noch gerettet werden,<br />

... sie steht im Dienste der zutiefst begründeten Interessen der Zivilisation"<br />

(106 f.).<br />

Nach Sorel muß die Ausübung der „proletarischen Gewalt" durch<br />

eine strategische Konzeption untermauert werden. Eine rationale Begründung<br />

könnte nur dazu führen, „jede handelnde Rolle aufzugeben<br />

und lediglich in Worten Revolutionär zu sein" (35). Sorel, der durch<br />

seine ganze Schrift hindurch versichert, Marxist zu sein, wirft Marx<br />

vor, an „hochkonzentrierten Formeln" in Anknüpfung an die Hegelsche<br />

Philosophie Geschmack gefunden zu haben, so daß er über wenig


Philosophie 417<br />

Erfahrungen verfügte, die ihm Einsichten über die „Verwendung<br />

konkreter Formeln" (161) hätten vermitteln können. Sorel will einen<br />

Beitrag zum Marxismus liefern, der diesen praktikabel werden läßt.<br />

Im „revolutionären Syndikalismus" glaubt er die gesuchte praktische<br />

Gestalt des Marxismus gefunden zu haben. Zunächst geht es ihm darum,<br />

die Marxsche Theorie von dem — von ihm verächtlich als „intellektualistische<br />

Philosophie" bezeichneten — Rationalismus zu filtrieren,<br />

insbesondere von dessen — von Sorel als spezifisch deutsch ausgemachten<br />

— „schwerfällige(m) und zerbrechliche(m) Apparat" (150),<br />

der den Marxismus belaste.<br />

Sorels Syndikalismus beruht auf dem Mythos des Generalstreiks.<br />

Einen Mythos hält Sorel für notwendig, weil man die Proletariermassen<br />

nur durch Glaubensbekenntnisse und nicht durch rationale <strong>Theorien</strong><br />

in Bewegung bringen könne. Schließlich lasse sich der Mythos<br />

nicht analysieren und damit nicht in widerlegbare Teile zerlegen.<br />

„Sobald man sich auf dieses Feld der Mythen stellt, ist man gegen<br />

jede Widerlegung gedeckt" (43). Durch die Entlehnung des Begriffes<br />

Intuition aus der irrationalistischen Lebensphilosophie Bergsons<br />

glaubt er, eine Synthese zwischen Marx und Bergson herstellen zu<br />

können. So basiere der Generalstreik auf einer Gesamtheit von Bildern,<br />

die durch Intuition hervorgerufen werden können und der Analyse<br />

nicht zugänglich sind (cf. 138). Demzufolge ist der Generalstreik<br />

ein Mythos, „in dem der Sozialismus ganz und gar beschlossen ist: das<br />

heißt eine Ordnung von Bildern, die imstande sind, unwillkürlich alle<br />

die Gesinnungen herauszurufen, die den verschiedenen Kundgebungen<br />

des Krieges entsprechen, den der Sozialismus gegen die moderne<br />

Gesellschaft aufgenommmen hat" (14 ). Sozialismus in der Interpretation<br />

Sorels ist eine permanente Gewaltausübung, ein Bürgerkrieg in<br />

Form eines Generalstreiks. Durch den Syndikalismus werden „die sozialen<br />

Konflikte den Charakter eines reinen Kampfes, ähnlich dem<br />

von Armeen im Felde, annehmen" (130). In dieser kriegerischen Auseinandersetzung<br />

prallen zwei Formen von Gewalt aufeinander: die<br />

etablierte Staatsgewalt (force), die den Status quo verficht, und die<br />

revolutionäre, proletarische Gewalt (violence), die den Staat zerstören<br />

will (203). Marx soll diese Unterscheidung unbekannt gewesen sein<br />

(cf. 211), so daß Sorel es als seinen Beitrag ansieht, zwischen diesen<br />

beiden Typen von Gewalt differenziert zu haben. Der violence schreibt<br />

er eine Moralität zu (213 ff.) und sieht sich zu einer Apologie der proletarischen<br />

Gewalt veranlaßt (339 ff.). Bereits Lukäcs hat darauf hingewiesen,<br />

daß das, was bei Sorel proletarisch heißt, „nichts weiter als<br />

eine abstrakte Verneinung aller Bürgerlichkeit ohne irgendeinen konkreten<br />

Inhalt" ist 1 . Weiter zeigt Lukäcs, daß die Verherrlichung der<br />

Gewalt bei Sorel auf dem von Bergson entliehenen Begriff der „durée<br />

réelle" beruht, so daß es Sorel bei der Gewaltausübung auf die Dauer<br />

der vom Mythos des Generalstreiks geleiteten Massenbewegung ankommt<br />

und nicht mehr auf das gesteckte Ziel. Zwar ist Sorel seinem<br />

Selbstverständnis nach kein Faschist, doch machte die Struktur des<br />

1 G. Lukas: Die Zerstörung der Vernunft, Werke Bd. 9, Neuwied 1962,<br />

p. 33.


418 Besprechungen<br />

von ihm gepredigten Mythos es Mussolini leicht, die Sorelsche Theorie<br />

in seinen Dienst zu stellen 2 .<br />

Lichtheim analysiert in seinem Nachwort die Sorelsche Theorie stets<br />

unter Verweis auf den historischen Kontext, in dem sie entstanden ist.<br />

In dem damals zugleich von französischen Sozialisten und Royalisten<br />

gegen die bürgerliche Republik geführten Kampf findet Lichtheim<br />

die Erklärung für die eigenartige Mischung linker und rechter Ideen<br />

bei Sorel. Auch Sorels beispielloser Eklektizismus führte zu dieser<br />

Mixtur. Lichtheim zeigt, wie Sorel seine Argumente aus entgegengesetzten<br />

Quellen klaubte, ohne im geringsten auf die Intention ihrer<br />

Autoren sich einzulassen (379). Wenn Lichtheim auf die Vermengung<br />

linker und rechter Gedanken in Sorels Werk eingeht, so verfällt er<br />

keineswegs der geläufigen, insbesondere von E. Nolte vertretenen<br />

These von der Strukturkonvergenz des Marxismus und des <strong>Faschismus</strong>,<br />

die am Beispiel Sorels und Mussolinis behauptet wird. Für<br />

Lichtheim ist die Behauptung, Mussolini sei Marxist gewesen, ebenso<br />

eine Legende (388, Anm.) wie die vom Marxisten Sorel. Das gilt auch<br />

für die Jahre von 1893 bis 1905, in denen Sorel als angeblicher Marx-<br />

Interpret debütierte (357). Von Hegel hatte Sorel nicht die geringste<br />

Ahnung; sein geschichtsphilosophischer Ansatz stammt von Vico (367).<br />

Und die vielzitierte Begeisterung Sorels für Lenin beruht auf einem<br />

groben Mißverständnis (369) 3 .<br />

Berdings Sorel-Monographie ist eine gründliche Dissertation aus<br />

der Schule des Kölner Historikers Th. Schieder. Die Arbeit berücksichtigt<br />

das Gesamtwerk Sorels und verarbeitet die internationale Sorel-<br />

Literatur. In seiner Einleitung, die über die Sorel-Literatur berichtet,<br />

zeigt Berding, wieviel Verwirrung über Sorels Werk herrscht, in dem<br />

Positivismus, Pragmatismus, Lebensphilosophie, konservative Zivilisationskritik<br />

und nicht zuletzt der Marxismus unvermittelt nebeneinanderstehen.<br />

Eine Reihe von Interpreten überbetonen je einen Aspekt<br />

der Sorelschen Theorie und werden Sorel damit kaum gerecht.<br />

Und wo der Versuch unternommen wurde, Sorels Werk bruchlos zu<br />

interpretieren, mündet er in der stupiden These „rot gleich braun" —<br />

so etwa bei J. J. Roth, demzufolge Sorel die „gemeinsamen Elemente<br />

im Extrem von Links und Rechts erkannte" und sich deren Verschmelzung<br />

zur Aufgabe gemacht habe (cf. 11). Berding versucht eine<br />

Gesamtdarstellung des Sorelschen Werkes zu geben, wobei er es immanent<br />

interpretiert und zugleich seine historische Bedingtheit untersucht.<br />

Ausgehend von Hegels Diktum aus der Phänomenologie, wonach<br />

„die Wahrheit der Absicht nur die Tat selbst" sei (20), will Ber-<br />

2 Mussolini schreibt: „Georges Sorel verdanke ich am meisten ... Für<br />

mich ist die Gewalt moralisch ..., moralischer als Kompromisse und Verhandlungen<br />

... Der <strong>Faschismus</strong> wird sorelianisch sein." Z. n. R. Bertelé,<br />

ed., Panorama des zeitgenössischen Denkens, Frankfurt 1961, p. 295.<br />

3 Lenin selbst distanzierte sich von Sorel: es gebe Leute, „die nur Unsinn<br />

denken können. Zu diesen Leuten gehört auch der bekannte Konfusionsrat<br />

Georges Sorel". Zit. nach G. Eisermann, G. Sorel. Der geistige<br />

Vater des <strong>Faschismus</strong>, Mythos und Gewalt. In: Göttinger Uni-Zeitung, Jg.<br />

1948, Nr. 13, p. 9.


Philosophie 419<br />

ding sodann die Hauptlinien der Sorelschen Theorie anhand von deren<br />

Wirkung und nicht der Intentionen Sorels erfassen.<br />

Sieht man von der Sorelschen Mythoslehre und der in sie eingebauten<br />

Gewalttheorie ab, so finden sich in Sorels Schriften kaum originäre<br />

Gedankengänge. In der Literatur wurde Sorels Werk zu Recht<br />

Rezensionscharakter zugeschrieben, wobei die diversen zeitgenössischen<br />

Ansätze teils zustimmend, teils ablehnend, ohne weitere Reflexion<br />

und Begründung und ungetreu dazu referiert werden. Der<br />

stärkste Einfluß kommt wohl von Proudhon. Schon in Sorels Erstlingswerk<br />

„Le Procès de Socrate" kann Berding diesen Einfluß nachweisen<br />

(23 ff.). Nur hatte Sorel an Proudhon zu kritisieren, daß dieser<br />

„noch zu sehr im Banne der Hegeischen Metaphysik philosophiert"<br />

(24) und somit noch ein Stück Rationalismus rette, ohne zu erkennen,<br />

daß dieser Rationalismus gerade die Ursache der „Kulturkrise der<br />

Gegenwart" sei. Auch wird in diesem Erstlingswerk die Grundintention<br />

Sorels deutlich: nämlich Moralisierung der Zeitprobleme und moralische<br />

Belebung der sozialen Kräfte der Gegenwart zur Überwindung<br />

der Kulturkrise. Sorel haßt das Bürgertum — nicht, weil es als<br />

arrivierte Klasse reaktionär geworden ist, sondern einmal, weil es<br />

nicht mehr kämpferisch ist, und zum anderen, weil es diejenige soziale<br />

Kraft ist, die den modernen Rationalismus hervorgebracht hat.<br />

Berding zeigt, wie sich Sorel der Marxschen Ideologiekritik bedient<br />

(35 ff.), um die Philosophie der Aufklärung als Ideologie einer Klasse,<br />

des Bürgertums, zu dechiffrieren, wobei Berding leider nicht deutlich<br />

genug herausarbeitet, daß diese Sorelsche „Ideologiekritik" nur<br />

scheinbar und rein formal der Marxschen ähnelt. Denn Sorel kritisiert<br />

nicht die nicht eingelösten Ansprüche des frühbürgerlichen Denkens,<br />

sondern dieses Denken überhaupt, das er als Gesamtheit verbal<br />

ablehnt. Dem Proletariat, das Sorel gegen das Bürgertum mobilisieren<br />

und zum Träger seiner Theorie machen will, spricht er nur das<br />

eine Ziel zu: das Kämpferische als moralisch-ästhetisches Moment<br />

wiederherzustellen; nicht aber geht es Sorel um die Emanzipation<br />

des Proletariats. Die Eskamotierung der emanzipativen Gehalte des<br />

Marxismus wird am deutlichsten in der „lebensphilosophischen Umdeutung<br />

des historischen Materialismus" (65 ff.), bei der Sorel die<br />

Marxsche Theorie ihres Inhalts entleert und sie mit Bergsonscher<br />

Substanz füllt, so daß letztlich — wie Berding im einzelnen nachweist<br />

— vom Marxismus, unter dem Deckmantel der Bekämpfung der orthodoxen<br />

Marxisten mit Marx selber, nur der Name bleibt.<br />

Nachdem Berding die Sorelsche Gewalttheorie ausführlich in dem<br />

dritten und letzten Kapitel (94 ff.) analysiert hat, behandelt er deren<br />

Auswirkung auf den italienischen <strong>Faschismus</strong>. Die Sorelsche Theorie,<br />

die ihrer Intention nach „gegen totale Herrschaft, Staatsomnipotenz,<br />

Demagogie und Unterdrückung gerichtet" war (143), wird — ohne daß<br />

ihr Zwang angetan werden muß — zum ideologischen Instrument des<br />

<strong>Faschismus</strong>. Sorels entwissenschaftlichter und mythologisierter „Marxismus"<br />

und dessen historische Wirkung bestätigten die immer aufs<br />

neue aktualisierte Erkenntnis: „Der Sozialismus ist wissenschaftlich<br />

oder er ist nicht" (Haug).<br />

Bassam Tibi (Frankfurt/M.)


420 Besprechungen<br />

Gehlen, Arnold: Moral und Hypermoral. Eine pluralistische<br />

Ethik. Athenäum Verlag, Frankfurt/M.-Bonn 1969 (193 S., geb.,<br />

22,— DM).<br />

Der Titel ist irreführend und das gleich doppelt: Wer im Vertrauen<br />

auf den so anspruchsvoll wie beruhigend akademisch-wissenschaftlich<br />

formulierten Untertitel einen Begründungszusammenhang erwartet,<br />

aus dem Bestimmungsgründe und Beurteilungskriterien von<br />

Handeln abzuleiten wären, trifft auf ein gebildetes Pamphlet über<br />

den Verfall der Sitten. Wer von dem Spezifikum des Titels „pluralistisch"<br />

angezogen wird, sieht sich konfrontiert mit der Propaganda<br />

nur einer Tugend, der des Staates. Zur Illustration des Sittenverfalls<br />

hält Gehlen Schnappschüsse wie diesen bereit: „... Kleindifferenzierungen<br />

(gelten) als untragbar, die seit Jahrhunderten niemandem aufgefallen<br />

waren, oder es wird ein mühsames Geschäft, sie zu behaupten.<br />

So wurde es im September 1967 zu einem Problem, ob Putzfrauen<br />

mit Generalen denselben Fahrstuhl benutzen sollten, und ein<br />

Staatssekretär entschied den Sieg der ersteren" (66). Der Ekel, Bürger<br />

eines Staates solcher Staatssekretäre zu sein, durchtränkt das<br />

Buch. Verantwortlich für diesen „Vorrang des Sozialen vor der Politik<br />

der Größe" (68) ist die Moral des „Massenlebenswertes" (66). Gegen<br />

den von ihr in Gang gesetzten „Automatismus der Glücksgefräßigkeit"<br />

(64) richtet Gehlen seinen ethischen Pluralismus, um Platz<br />

zu schaffen für die eigentliche Absicht des Buches, eine, wie er sagt,<br />

„in deutscher Sprache reichlich paradoxe und unzeitgemäße Apologie<br />

der Macht" (116). Zu befürchten ist aber, daß die Aufnahme des<br />

Buches unter der Regie des Schlagwortes Pluralismus ablaufen wird,<br />

als ob im Pluralismusprogramm des Buches sein sachlicher Gehalt<br />

läge, im Plädoyer für das Ethos der Macht jedoch nur das abstreifbare<br />

Vorurteil des Autors. Nehmen wir deshalb die Pluralismusthese<br />

des Buches beim Wort.<br />

Gehlen unterscheidet vier ethische Verhaltensweisen mitsamt den<br />

dazugehörigen Programmen:<br />

„1. Das aus der Gegenseitigkeit entwickelte Ethos.<br />

2. Eine Mehrzahl instinktiver, verhaltensphysiologisch greifbarer<br />

Regulationen, einschließlich der Ethik des Wohlbefindens und des<br />

Glücks (Eudaimonismus).<br />

3. Das familienbezogene ethische Verhalten samt der daraus ableitbaren<br />

Erweiterungen bis zum Humanitarismus und<br />

4. das Ethos der <strong>Institut</strong>ionen, einschließlich des Staates" (47).<br />

Allesamt sollen diese voneinander unabhängigen Formen des Ethos<br />

ihre Herkunft in verschiedenen „triebartigen Anlagen" (38) haben.<br />

Gehlen spricht deshalb von „Sozial-Regulationen" (38). Aber offensichtlich<br />

haben diese Regulationen im Verhältnis untereinander nicht<br />

den gleichen Status bzw. ihr Abstand, ihr Verhältnis zur biologischen<br />

Grundlage ist verschieden. Das wird nicht erklärt, nicht einmal erörtert;<br />

ebensowenig die Frage, warum und wie es zur Unterscheidung<br />

gerade dieser vier Ethosformen komme und ob sie überhaupt<br />

vollständig sei. Aber wichtiger ist die Frage: Wie sind die Ansprüche


Philosophie 421<br />

der verschiedenen, unabhängigen ethischen Instanzen zu vereinbaren?<br />

Gehlen sagt: gar nicht; im Normalfall leben die Menschen im<br />

„Durcheinander mittlerer Tugendhaftigkeit" (26), die Unvereinbarkeit<br />

der ethischen Instanzen wird nicht bemerkt. Erst in krisenhaften<br />

Situationen — Revolutionen, Niederlagen —, die „extreme<br />

Lösungen erfordern" (26), wird die Unvereinbarkeit ethischer<br />

Normen erlebt und wird die Vereinbarkeit der Normen zur ethischen<br />

sehen Forderung. Das aber ist ein Lösungsversuch, der selber Symptom<br />

der Krise ist, gegen die er Abhilfe schaffen soll. Eine Ethik,<br />

die aus der Bewältigung krisenhafter Situationen das Maß<br />

ihrer Forderungen ableitet, wird im Überschreiten der natürlichen<br />

Grenzen zwischen den Instanzen „hypertroph" und aggressiv.<br />

Nach Gehlen ist also das Problem der Vereinbarkeit unabhängiger<br />

ethischer Instanzen nicht ein Problem seines ethischen Pluralismus,<br />

sondern ein Problem der „Hypermoral". Damit ist aber Gehlen das<br />

Problem keineswegs los. Denn die Geschichte, gerade auch wie Gehlen<br />

sie selber bemüht, besteht aus solchen Krisensituationen. Ihnen<br />

gegenüber erweist sich sein ethischer Pluralismus als Konstrukt, besser<br />

geeignet zu taktisch-rhetorischen als zu analytischen Zwecken.<br />

Folgerichtig, wenn auch unvermerkt, reduziert sich sein Pluralismus<br />

auf die Polarität zweier ethischer Programme, von denen aber nur<br />

eines das Recht der Wahrheit für sich in Anspruch nehmen kann: Gegenüber<br />

stehen sich die „humanitär-masseneudaimonistische Gesinnungsmoral"<br />

(149) auf der einen Seite und das Ethos der <strong>Institut</strong>ionen,<br />

angeführt vom Staat, auf der anderen Seite. Die erstere entstammt<br />

elementaren Schutz- und Pflegereaktionen, die aus ihrer Einbettung<br />

in die Familie in das Bezugssystem Menschheit „erweitert"<br />

wurden. Ihre Tugenden sind pazifistisch und anarchistisch, ihr Bild<br />

vom Glück ist die „Lämmerweide", der „friedliche Naturzustand des<br />

Grasens" (18), die von ihr legitimierte Haltung zum Wert ist „Anspruch",<br />

ihre Grundeinstellung „parasitär". Die endgültigen Niederlagen<br />

von Klassen bzw. Staaten, ihre Einverleibung in größere soziale<br />

und politische Einheiten, sind ihre Blütezeiten und die Situationen<br />

ihrer schubweisen Verbreitung. Als Demutshaltung der Besiegten<br />

verdrängt sie, von den Siegern gefördert, das Ethos der unterlegenen<br />

<strong>Institut</strong>ionen, als Ressentiment der Umwertung der Werte<br />

zersetzt sie aber auch die alten Tugenden der Sieger, verbreitet sich<br />

in der „Eroberung der Eroberer" (30). Ihr Siegeszug reicht in Gehlens<br />

Buch von der Niederlage Athens im peleponnesischen Krieg über<br />

Hellenismus, Christentum, Aufklärung und französische Revolution<br />

bis hin zur Kapitulation des deutschen Imperialismus. Allein die verbliebenen<br />

Großmächte verhindern in ihrem Kampf um die absolute<br />

Macht einstweilen noch den totalen Sieg der „Hypermoral", die das<br />

„Reich der verkehrten Welt" (185) aufrichten will, in der der Antichrist<br />

die „Maske des Erlösers" (185) trägt. Träger und Nutznießer<br />

dieser Entwicklung sind die Intellektuellen. Denn die politische Realität<br />

hinter der Moral des Massenglücks und der allgemeinen Gleichheit<br />

ist der Anspruch der Intellektuellen auf Alleinherrschaft. Die<br />

vom Absolutheitsanspruch der humanitären Moral freigesetzte Ag-


422 Besprechungen<br />

gressivität liefert ihnen die Waffen, die sie um so hemmungsloser —<br />

von der Kritik bis zum Terror — einsetzen, je weniger sie als „privilegierte<br />

Klasse", als „Gegenaristokratie", die „Folgen ihrer Agitation<br />

zu verantworten haben" (150).<br />

Dagegen steht das „Ethos der <strong>Institut</strong>ionen", eine Moral, „die man"<br />

nach Gehlen „überzeugend nur von oben her, aus der Herrschaftslage<br />

darstellen kann" (116). Geführt von der Staatsraison, hat sie ihr Maß<br />

in den Notwendigkeiten der „Gefahrengemeinschaft" (112), „denn<br />

für ganze Nationen gibt es oberhalb der Selbsterhaltung kein Gebot"<br />

(119). Das Fundament dieser Moral sind nicht die Wünsche der<br />

Menschen, sondern die „Wahrheit, daß Leben von Leben zehrt" (108),<br />

ihre Rationalität gewinnt sie aus dem „Bewußtsein des Ausgeliefertseins"<br />

(58). Wo sie herrscht, ist die Haltung des Individuums zum<br />

Wert nicht Anspruch, sondern Opfer, sind ihre Tugenden die des asketischen<br />

Dienstes. So sind auch „Verdun und Stalingrad" für Gehlen<br />

„eben doch Siegeszeichen" (120) und werden es bleiben, denn der<br />

Kampf der Mächte geht weiter. Aus ihm gibt es kein Entrinnen: „Das<br />

Schwert, das man aus der Hand legt, ergreift ein anderer." Diese<br />

Wahrheit ist nur bei den auf „moralische Krankenkost" (120) gesetzten<br />

endgültig Besiegten wie den bundesrepublikanischen Deutschen<br />

nicht mehr in Ansehen. Sie haben „abgeschnallt" (146) und richten<br />

sich „in der Lüge ein" (185). Gehlen zieht in gelehrter Zweideutigkeit<br />

das Fazit: „Es lohnt sich nicht, die Griechen zu retten, sondern essen<br />

soll man und Wein trinken" (69).<br />

Regie führt in diesem Buch eine zynische Strategie der Enttäuschung,<br />

der Pluralismus ist nur die Fassade dafür. Ziel ist, die Enttäuschung<br />

über die Ohnmacht der Moral so unerträglich zu machen,<br />

daß die Enttäuschung zur Triebkraft des Verzichts auf die täuschenden<br />

Hoffnungen wird und umschlägt in die Anerkennung der Übermacht<br />

der Macht. Dann kann der Schluß heißen: Wenn schon das<br />

Ethos der Humanität unvermeidlich in Aggressivität mündet, warum<br />

dann nicht von vornherein die Anerkennung der Aggresivität im<br />

Ethos der Macht. Wenn das Gewissen nur das „Erlebnis der Ausweglosigkeit"<br />

(175) ist, kann die Inanspruchnahme durch „institutionelle<br />

Haftung" (99), die nach Gehlen gerade auch dann anzuerkennen ist,<br />

wenn kein eigenes Verschulden besteht, als Befreiung erscheinen.<br />

Offenbar ist die von Gehlen propagierte Ethik alles andere als<br />

pluralistisch. Schon die Reduktion der absoluten Moral auf Machtinteressen<br />

zeigt, wer in diesem Pluralismus das Kommando führt.<br />

Pluralistisch ist diese Ethik nur insofern, als sie eine Vielzahl von<br />

Gruppen zuläßt, die alle die gleiche Ethik anerkennen; pluralistisch<br />

kann hier nur heißen, im Zeichen der einen anerkannten Ethik nicht<br />

vereinigt, sondern getrennt zu sein zum Kampf um ein und dasselbe:<br />

die Macht. Wo Gehlens Pluralismus herrscht, ist die Moral eines<br />

Glücks im Leben mit anderen nur im Abseits der machtgeschützten<br />

Innerlichkeit und Intimität geduldet und auch nur auf Zeit, so lange<br />

nämlich, wie es die <strong>Institut</strong>ionen der Macht gutdünkt.<br />

Nach demselben Gutdünken ist die These von der Erweiterung<br />

ursprünglich instinktartiger Sozialregulationen konstruiert. Lediglich


Philosophie 423<br />

die in die Familie eingebetteten Schutz- und Pflegereaktionen sind<br />

davon betroffen; so können auch nur sie hypertroph werden! Gehlen,<br />

spricht nur von der Rolle der kosmopolitischen Ideologen bei der humanitären<br />

Erweiterung der Familiensolidarität. Daß die als Staaten<br />

entstehenden größeren sozialen Einheiten sich der Erweiterbarkeit<br />

des Familienethos zu Integrations- und Legitimationszwecken immer<br />

bedient haben — und das auch gerade gegen die Tendenz des Familienverhaltens<br />

zu Autarkie und Isolation —, verschweigt er. Offenbar<br />

liegt hier für ihn kein ethisches Problem. Solange die Reichweite des<br />

Staates das Maß der Erweiterung der Familiensolidarität ist, Staatsethos<br />

also Familienethos dominiert, ist für ihn nichts zu diskutieren.<br />

Ein erstaunlicher ethischer Pluralismus, der mit dem ethischen Monopol<br />

des Staates steht und fällt, und für den an den Staatsgrenzen die<br />

Moral aufhört und die Hypermoral anfängt!<br />

Hier stößt man auch auf den Hauptwiderspruch des Buches. Obwohl<br />

die Erweiterbarkeit der instinktartigen Sozialregulationen für<br />

Gehlen unter die existenzerhaltenden Merkmale der Spezies Mensch<br />

gehört und obwohl Erweiterung der Sozialregulationen auch für ihn<br />

den Leitfaden der Geschichte abgibt, registriert er die Entstehung<br />

größerer sozialer und politischer Einheiten als Niederlage der früheren<br />

autochthonen Gebilde und verrechnet die „Moral der Erweiterung",<br />

den Humanitarismus, unter die Merkmale der Dekadenz. In<br />

diesen mißlichen Widerspruch gerät Gehlen, weil er die Triebkraft<br />

hinter der Erweiterung der ethischen Dispositionen und der <strong>Institut</strong>ionen,<br />

die Entwicklung der Produktivkräfte, aus seinem Urteil verdrängt.<br />

Stehengeblieben bei einem friderizianischen Staatsbegriff,<br />

wird ihm zum Maß der Erweiterung moralischer Verkehrsformen der<br />

Staat, der selber von der Entwicklung der Produktivkräfte betroffen<br />

ist und dessen Veränderungen nur im Zusammenhang mit ihr begriffen<br />

werden können. So kommt es, daß Gehlen einen Kampf unter<br />

falschen Titeln führt. Der Staat, dessen moralische Souveränität Gehlen<br />

wiederherstellen möchte, hat an Macht durch seine Verflechtung<br />

mit der Produktionssphäre so zugenommen, daß er eines eigenen<br />

distanzierenden Ethos nur sehr eingeschränkt mehr bedarf. Gehlens<br />

Ideal der Politik einer askesewilligen, distanzierten Elite von Staatsfunktionären<br />

ist gemessen an der Realität spätkapitalistischer Politik<br />

reaktionär; reaktionärer als Nixons CDU es erlaubt. Kaum wird sie<br />

Gehlens Reserveoffiziersethik für Springers Bildzeitung eintauschen.<br />

Die Vorschläge des Ultrakonservativen sind nicht effektiv genug.<br />

Er verkennt Funktion und Wirkungsgrad dessen, was er als<br />

familiarisierende Verbiederung der Politik bekämpft; denn damit<br />

hat er nicht die Eroberung der Politik durch Ausgleichs- und Befriedungsvorstellungen<br />

familienbezogener Moral vor sich, sondern die<br />

Eroberung der Privatheit durch die Politik — und das gerade zu<br />

Zwecken, denen auch sein Buch verpflichtet ist, nämlich zur Abwehr<br />

kollektiver Veränderung der herrschenden Produktionsverhältnisse.<br />

Weil Gehlen die Welt nicht mehr versteht, interpretiert er sie von<br />

der Niederlage des NS-Reiches her. Die von ihm unter dem Titel<br />

„Aufklärung" schon immer bekämpften Positionen erscheinen erst-


424 Besprechungen<br />

mais ausdrücklich in der Perspektive der Niederlage des NS-Reiches.<br />

Das ist das Neue und Gravierende an diesem Buch Gehlens. Das Vae<br />

victis des Geschlagenen bestimmt den Affekt, aus dem die Sätze dieses<br />

Buches ihre Beredsamkeit gewinnen. (Gehlen ist so sehr von der<br />

„Niederlage" fixiert, daß er sogar den Studentenprotest von ihr her<br />

interpretiert. Vgl. 172.) Die Hypermoral und ihr Staat — der zur<br />

Milchkuh umfunktionierte Leviathan (110) — erscheinen nur mehr<br />

als Fortsetzung der militärischen Niederlage mit anderen Mitteln. Sie<br />

haben dem Verlust der äußeren den Verlust der inneren Souveränität<br />

hinzugefügt. In seinem Lamento über die Niederlage des deutschen<br />

Imperialismus kommt Gehlen an dessen Untaten nicht vorbei;<br />

ihren Schatten beschwört er aber nur, um damit den Humanitarismus<br />

und die verhaßten Intellektuellen zu treffen: Die den Deutschen nicht<br />

verziehene „mechanische Massentötung von Wehrlosen" war „tiefer<br />

gesehen" „auch ein geistiger Mordversuch", ebendasselbe, was Hypermoral<br />

und Intellektuelle heute dem deutschen Volk antun, indem<br />

sie es von seiner Geschichte abtrennen und entehren — „geistiger<br />

Genocid" (185)! Was fixiert Gehlen so auf die „Niederlage"? Ist ihm<br />

seine Ehre erst mit oder nach der Niederlage abhanden gekommen?<br />

Eher treibt ihn wohl die Furcht, seine Konstruktion des Humanitarismus<br />

als Eroberung der Eroberer könnte sich bewahrheiten; haben<br />

sich doch in der von ihm konstruierten Geschichte die Sieger immer<br />

wieder totgesiegt. Fast sieht es so aus, als wollte Gehlen, um ein solches<br />

diesmal zu verhindern, die deutsche Staatstugend aus der Konkursmasse<br />

der Niederlage retten, um sie den ohnehin von humanitärer<br />

Aufweichung bedrohten kapitalistischen Großmächten für ihren<br />

Endkampf gegen das moralisch noch intaktere sozialistische Lager<br />

zur Verfügung zu stellen. Jedenfalls ist diese Konsequenz mit Gehlen<br />

denkbar. Ja, ohne diese Konsequenz wäre sein Buch bei aller Anstrengung<br />

nur so etwas wie die „Betrachtung eines Unpolitischen",<br />

der ästhetisch Distanz zum Zeitgeist nimmt. Wahrscheinlich ist es so.<br />

Wo seine Vorgänger noch zur Offensive rüsteten, herrscht bei Gehlen<br />

der verächtliche Zynismus dessen, dem die Helden davongelaufen<br />

sind.<br />

Peter Furth (Berlin)<br />

Soziale Bewegung und Politik<br />

Hohson, John Atkinson: Der Imperialismus. Verlag Kiepenheuer<br />

und Witsch, Köln und Berlin 1968 (312 S., kart., 26,— DM).<br />

Im Zuge der Wiederbelebung der Imperialismusdiskussion wurde<br />

endlich eine deutsche Übersetzung von Hobsons „Imperialismus"<br />

vorgelegt, Sechsundsechzig Jahre nach dessen erstem Erscheinen.<br />

Trotz seines Alters hat dieses Buch Aktualität als einer der wenigen<br />

ernsthaften Versuche einer Imperialismustheorie von bürgerlichliberaler<br />

Seite. Seine Auffassungen machten zunächst Schule im angelsächsischen<br />

Raum (Moon, Nearing/Freemann), bis dann in den<br />

50er Jahren durch Winslow und andere jeder Versuch einer ökono-


Soziale Bewegung und Politik 425<br />

mischen Erklärung des Imperialismus von Bord der bürgerlichen<br />

Wissenschaft geworfen wurde. Bekannt ist Hobson jedoch vor allem<br />

durch seinen Einfluß auf Lenins Imperialismustheorie. Als Untersuchungsobjekt<br />

bietet das Buch interessante Aufschlüsse über den<br />

Zusammenhang von Liberalismus und faschistischer Ideologie, ebenso<br />

liefert es Belege für die These, daß optimistische Systemaffirmationen<br />

und kulturpessimistische abstrakte Negation nur zwei Seiten<br />

derselben bürgerlichen Münze sind, treten doch hier noch beide Aspekte<br />

in einer Abhandlung auf.<br />

Unbestritten hat Hobson das Verdienst als erster — vor allen<br />

marxistischen Untersuchungen — den Imperialismus zum Gegenstand<br />

einer <strong>kritische</strong>n Analyse gemacht und die Frage nach seinen<br />

ökonomischen Wurzeln aufgeworfen zu haben. Hobsons Intention<br />

ist diktiert von seiner politischen Position: Als Intellektueller aus<br />

dem kleinbürgerlich-demokratischen Lager ist er beherrscht von der<br />

Vorstellung des friedlichen Wettstreits demokratischer Nationen zum<br />

Wohl und Fortschritt der „Weltzivilisation", auf einer Basis von parlamentarischer<br />

Demokratie im Innern, Freihandel und Völkerbund<br />

in den internationalen Beziehungen. Da der Imperialismus, als unfriedlich<br />

und „unvernünftig" für ihn in allem das Gegenteil ist, versucht<br />

er den Nachweis seiner Überflüssigkeit für das Funktionieren<br />

der kapitalistischen Gesellschaft. Gleichwohl leugnet er keineswegs<br />

eine ökonomische Wurzel des Imperialismus, die er weniger im<br />

Handel als vielmehr in der Möglichkeit des Kapitalexports sieht: das<br />

Einkommen aus Auslandsinvestitionen sei bereits fünfmal so hoch<br />

wie das aus dem Außenhandel (51 f.). Dies dient ihm als Basis, um<br />

herauszufinden, welche Kreise trotz der Unvernünftigkeit des Imperialismus<br />

„an sich" dennoch ein Interesse an ihm haben könnten.<br />

Neben Rüstungsindustriellen und deren Zulieferern, Großproduzenten<br />

bestimmter Exportwaren und dem Militär nennt er vor allem die<br />

Investoren, Finanziers und Banken, die er unter dem Namen der<br />

„Plutokratie" zusammenfaßt (74 f.). Da es für Hobson ausgemacht ist,<br />

daß es sich dabei um eine kleine Minderheit handelt (obwohl er an<br />

anderer Stelle bekennt, fast alle organisierten Kräfte des Kapitals<br />

seien am Imperialismus interessiert, 104), tritt für ihn das Problem<br />

in den Vordergrund, wie eine solche Gruppe zu Einfluß auf die staatliche<br />

Gesamtpolitik gelangen könne, wie sie es erreicht habe, „daß<br />

die moderne Außenpolitik Großbritanniens ein Kampf um gewinnbringende<br />

Investitionsmärkte ist" (73). An dieser Frage scheitert er;<br />

er flüchtet zu der Auskunft, eine „intelligente Laissez-faire-Demokratie,<br />

welche allen Wirtschaftsinteressen in ihrer Politik ein richtig<br />

zugemessenes Gewicht zubilligte" (73, Hervorh. U. M.), hätte dies<br />

verhindert: Imperialismus oder nicht wird so zur Frage der mentalen<br />

Qualität eines potentiell als vernünftiges Individuum mißverstandenen<br />

Staates. Garant solcher Vernunft sollte die „Volksregierung"<br />

sein, in Gestalt eines repräsentativen Parlaments. Im Kontext resignierter<br />

Anmerkungen über den Niedergang des Liberalismus<br />

(Hobson war selbst Mitglied der Liberalen Partei) trifft er dann<br />

durchaus das Richtige, wenn er feststellt, das Bürgertum sei Freund


426 Besprechungen<br />

der Freiheit und der Volksherrschaft nur so lange gewesen, als es<br />

selbst den Adel habe bekämpfen müssen (140 f.).<br />

Imperialismus erscheint als die Nasführung des Staates durch eine<br />

raffinierte Clique von Finanzjobbern: Hobson konzipiert eine Verschwörertheorie.<br />

Die Begriffslosigkeit, die die „vernünftigen", demokratischen<br />

Kräfte gegen diese dämonische Schar mobilisieren will,<br />

scheut dann auch nicht den Hinweis, diese gehörten fast alle „einer<br />

Rasse" an (75). Die Hilflosigkeit der Analyse schafft so plötzlich im<br />

Text eines liberalen, demokratisch-pazifistischen Intellektuellen unvermittelt<br />

dem Rassismus Platz. Zwar macht Hobson immer wieder<br />

Anmerkungen, die das Interesse nicht nur kapitalistischer Kreise,<br />

sondern sogar das Einverständnis aller konservativen Kreise aus innenpolitischen<br />

Gründen aufweisen (302, 139). Er erkennt jedoch nicht<br />

die notwendige Entwicklung des Kapitalismus zum Imperialismus; so<br />

stellt er auch im Gegensatz zu Hilferding und Lenin in der Analyse<br />

keinen Zusammenhang zwischen der Macht des an Anlagesphären<br />

interessierten Finanzkapitals und der zunehmenden Kapitalkonzentration<br />

her. Selbst die ökonomische Analyse der Schwierigkeit, Kapital<br />

profitabel anzulegen, übergeht die Frage nach den kapitalistischen<br />

Produktionsverhältnissen. Vielmehr erweist Hobson sich als energischer<br />

Verfechter einer Unterkonsumtionstheorie vom Rodbertusschen<br />

Typus: die Konsumkraft sei nicht entsprechend dem Konsumbedürfnis<br />

verteilt, das Übel also liege in der „verkehrte(n) Verteilungswirtschaft"<br />

(97). Auf der Grundlage dieser Distributionsverhältnisse führt<br />

er den Klassenbegriff ein: Kapitalist und Arbeiter unterscheiden sich<br />

ihm (wie den Revisionisten) bloß durch die Höhe ihres Einkommens.<br />

Die Lösung ist dementsprechend zu suchen in „Sozialreform" (96).<br />

Dem Beharren in der Distributionssphäre entspricht ein rein politisch-institutionelles<br />

Lösungsmodell: Der Eingriff des vernünftig gewordenen<br />

Staates beseitigt die Unterkonsumtion, läßt alle Investitionsgelder<br />

dem Binnenmarkt zufließen und macht so den Imperialismus<br />

überflüssig. Um dies zu erreichen, appelliert Hobson an die <strong>kritische</strong>n<br />

Intellektuellen und Liberalen, sich mit den Gewerkschaften<br />

(als den „natürlichen" Feinden des Imperialismus, weil ihre Interessen<br />

auf Konsumkrafterhöhung der Arbeiter gerichtet seien, 99) zu verbünden.<br />

Hobson zeigt sich der Wirkungslosigkeit solcher moralischen<br />

Appelle bewußt, wenn sein Aufklärer- und Kritikerpathos resignativ<br />

umschlägt in krudesten Kulturpessimismus, der ihn die Vision eines<br />

parasitären Europas heraufbeschwören läßt, das — wie das späte<br />

römische Reich — moralisch und physisch zerrüttet, am Ende von den<br />

unterdrückten Rassen überrannt wird (304). Partiell richtige Einsichten<br />

in die Ausbeutung der kolonialen Völker führen hier in konsequentem<br />

Übersehen der Klassenantagonismen im Kapitalismus zu<br />

Spenglerschen Untergangsvisionen.<br />

Bemerkenswert sind einige historische und sozialpsychologische<br />

Beobachtungen; so konstatiert Hobson bereits den Niedergang des<br />

Parlamentarismus und die steigende Macht der Exekutive in England<br />

(141). Auch zeigt er vorzüglich die Manipulation durch die teils im<br />

Besitz der Plutokratie befindliche, andernteils vom Anzeigengeschäft


Soziale Bewegung und Politik 427<br />

abhängige Presse im Sinne imperialistischer Interessen (77, 193).<br />

Gleichwohl verbindet er diese Feststellung mit einer Haltung elitärer<br />

Massenverachtung; die Massen nämlich bestehen ihm aus solchen, die<br />

„keine zwei Argumente zugleich prüfen können" und daher von den<br />

herrschenden Cliquen mühelos (und gleichsam „zu Recht") betrogen<br />

werden. In diesem Zusammenhang entwickelt er auch die von Lenin<br />

übernommene These von der Bestechung eines Teils der Arbeiterschaft<br />

durch den Imperialismus. Ein wesentliches Moment des Imperialismus<br />

sieht er auch in dessen innenpolitischer Stabilisierungsfunktion:<br />

Ablenkung der Massen von ihren Interessen durch heroische<br />

Außenpolitik; er zieht dabei einen sozialpsychologisch interessanten<br />

Vergleich zur Funktion des Sports, dessen passiv zuschauender<br />

Genuß ähnliche Bedürfnisse befriedige, die Hobson auf atavistische<br />

Antriebe zurückführt, die sich im „Stadtleben" nicht austoben<br />

könnten (193). Allerdings verwechselt er hier häufig die Ideologie<br />

mit den Interessen, denen sie dient, und gibt dann einen solchen am<br />

Sport orientierten aggressiven Nationalismus als Ursache des Imperialismus<br />

an.<br />

Die vom Standpunkt einer abstrakten Vernunft vorgebrachte Kritik<br />

an der ökonomischen und politischen Praxis des Imperialismus,<br />

die auch die „Verschwendung" großer Summen für Rüstung, Reklame<br />

etc. beklagt (95) — als gäbe es nicht die Rationalität der Profitmaximierung<br />

—, vor allem die Hoffnung auf Aufklärung, die umschlagen<br />

kann in resignierte Totalnegation, geben als Parallele zu bestimmten<br />

Theoremen der Studentenbewegung in ihrer Anfangsphase<br />

dem Text noch mehr Aktualität, als ihm von der Sache her schon<br />

zukommt.<br />

Ulrich Müller (Heidelberg)<br />

Küntzel, Ulrich: Der Dollar-Imperialismus — Die Gefahr<br />

des dritten Weltkriegs. Soziologische Essays. Luchterhand Verlag,<br />

Berlin und Neuwied 1968 (176 S., kart., 9,80 DM).<br />

Bürgerlichen Untersuchungen des US-Imperialismus fehlt die marxistische<br />

Methode, jene im „Ostblock" lassen die „Grundlage einer<br />

marxistischen Analyse" vermissen. „Ich wurde durch das allgemeine<br />

Unverständnis genötigt, meine Studie über die Kapitalausfuhr der<br />

USA ,Der Dollar-Imperialismus' zu nennen." 1 So Küntzel über die<br />

Dringlichkeit seines Unternehmens.<br />

Was sich solcherart epochemachend ankündigt, beschränkt sich denn<br />

auch nicht auf Analyse der nordamerikanischen Kapitalausfuhr; der<br />

Essay ist vielmehr als Versuch anzusehen, auf 108 Seiten Text und in<br />

einem 73 Seiten starken Anmerkungsteil dem Imperialismus in allen<br />

seinen Erscheinungsformen den entscheidenden theoretischen Schlag<br />

zu versetzen. Dem weltweiten Zusammenhang des Kapitals auf der<br />

Spur, setzt Küntzel zu einer Generalabrechnung mit dem System an.<br />

1 Ulrich Küntzel: Lenin, ein toter Hund, in: ad lectores, Neuwied und<br />

Berlin 1969, S. 90.


428 Besprechungen<br />

Das Inhaltsverzeichnis läßt die Fülle des Themenkatalogs nicht ahnen:<br />

Die Hintergründe des Mordes an J. F. Kennedy, die derzeitige Lage<br />

des sozialistischen Weltsystems unter besonderer Berücksichtigung der<br />

Sowjetunion und der VR China, die Maiunruhen in Frankreich und<br />

Positionen der KPF, die gesellschaftliche Rolle der Kunst in Südamerika,<br />

politische Ökonomie des deutschen <strong>Faschismus</strong>, das westdeutsche<br />

Hochschulsystem, Studentenrevolte und schließlich die politische<br />

Berichterstattung des „Spiegel" sind einige Fragen, längst nicht<br />

alle, zu denen des Autors Meinung vorliegt.<br />

Die konsequente Bearbeitung wenigstens einiger Themenbereiche<br />

wird durch den enzyklopädischen Anspruch des Aufsatzes beträchtlich<br />

behindert. Das Kapitel „Die Bedeutung von Lenins Werk über den<br />

Imperialismus" z. B. ist zum größten Teil einer Kritik der Anschauungen<br />

C. W. Mills vorbehalten; als wesentliche Information aus den<br />

Lenins Imperialismustheorie gewidmeten Sätzen verbleibt: seine Analyse<br />

des Monopolkapitals treffe noch heute grundsätzlich und besonders<br />

auf die USA zu, ohne schematisch übertragbar zu sein (19, 23).<br />

Die Überlastung des Essays mit ineinander übergehenden Exkursen<br />

führt zur tendenziellen Einebnung des Unterschiedes zwischen Textund<br />

Anmerkungsteil. Erschwert wird dadurch vor allem die Konzentration<br />

des Lesers auf das (überwiegend deskriptiv verarbeitete) empirische<br />

Material, wobei insbesondere die Darstellung der institutionellen<br />

und personellen Verbindung von politischer und ökonomischer<br />

Herrschaft im Erdöl- und Rüstungsgeschäft der USA und der Abschnitt<br />

über die Klassenlage zur Zeit der „New-Deal"-Politik erwähnenswert<br />

sind.<br />

Das Interesse des Verfassers ist es, den Klassenkampf des Proletariats<br />

voranzutreiben. Dem Unbeteiligten, so sein begründeter Hinweis,<br />

sei Objektivität nicht möglich: „Im Kriege kann nur überleben<br />

und weiterkämpfen, wer die eigene und die Feindlage einigermaßen<br />

objektiv erfaßt" (17), jeder Irrtum könne da tödlich sein. Um so schwerer<br />

zu begreifen ist deshalb Küntzels oft kurzschlüssiges Hantieren an<br />

allen Fronten des Klassenkampfes, einschließlich denen, die er selbst<br />

errichtet. Beispielsweise gelten ihm Anarchisten neben den Marxisten<br />

als die einzigen konsequenten Kämpfer für die „klassenlose Zukunftsgesellschaft"<br />

(121) und als gleichberechtigte „Richtung" einer „soziale(n)<br />

Erneuerungskraft", auch in „kommunistischen Gesellschaften"<br />

(122). Die Sowjetunion wird vorgestellt als „Klassengesellschaft mit<br />

schroffer Ausbeutung und Unterdrückung und der Arbeiterbureaukratie<br />

als herrschender Klasse" (14), damit beschäftigt, „freie <strong>Diskussion</strong>"<br />

zu unterdrücken, den „sozialistischen Geist" zu ersticken (18)<br />

oder auch damit, einen „Angriff (!) ihrer arabischen Schützlinge auf<br />

Israel im Frühjahr 1967" (5) zu veranlassen — wobei letztere Behauptung<br />

besonders deutlich macht, wie manche Weltbilder die Verkehrung<br />

der Wirklichkeit fördern. Die Politik der UdSSR seit Beginn<br />

der Stalinschen Regierung ist Küntzel generell unter dem Stichwort<br />

„Sowjetimperialismus" (34) geläufig, wenn auch dieser von der „Struktur"<br />

her streng vom finanzkapitalistischen Gegenstück unterschieden<br />

werden müsse (132). Wen kanns da noch wundern, wenn es das „Prin-


Soziale Bewegung und Politik 429<br />

zip Hoffnung" ist, das „dem Sozialismus trotz seines utopischen Elements<br />

historische Notwendigkeit verleiht" (122), und daß die „letzten<br />

bedeutenden revolutionär-proletarischen Bewegungen... sich gegen<br />

den Sowjetimperialismus (richteten): Die Revolte des 17. Juni in der<br />

DDR sowie die polnische und ungarische Revolution von 1956" (34).<br />

Besonders in Ländern, wo der Sozialismus noch nicht Nahziel ist,<br />

werden die scheinbar revolutionärsten Bücher zuweilen denen ähnlich,<br />

die zu bekämpfen sie geschrieben sind. Dieter Krause (Berlin)<br />

Bosch, Juan: Der Pentagonismus — oder die Ablösung<br />

des Imperialismus? Mit einem Nachwort von Sven G.<br />

Papcke. Rowohlt Verlag, Hamburg 1969 (140 S., TB, 2,20 DM).<br />

Der ehemalige Präsident der Dominikanischen Republik hat das, wofür<br />

er den Namen Pentagonismus erfunden hat, ausgiebig am eigenen<br />

Leibe zu spüren bekommen. Nach 25 Exil jähren kam der liberale Intellektuelle<br />

1962 als gewählter Präsident in seiner Heimat zur Macht.<br />

Kaum hatte er mit den Sozialreformen begonnen, von welchen er in<br />

der Verbannung träumte, wurde er durch einen Militärputsch Typ CIA<br />

gestürzt. Als er 1965 zum zweitenmal von der Mehrheit des Volkes<br />

zum Präsidenten gewählt wurde, scheiterte seine Rückkehr an der<br />

militärischen Intervention der US-Marines. Daß all dies das Pentagon<br />

gemacht hat, ist gewiß. Aber auch nach der Lektüre des gut lesbaren<br />

Büchleins bleibt die Frage: Ist die menschenfreundliche Tätigkeit des<br />

Pentagons in fremden Ländern, die Korrektur unerwünschter Wahlergebnisse,<br />

die Verhinderung einer Volksbefragung, Sturz und Einsetzung<br />

von Königen und Präsidenten „Pentagonismus" — oder<br />

schlicht Imperialismus?<br />

Juan Bosch bemüht sich mit Eifer, wenn auch ohne Erfolg, zu beweisen,<br />

„daß an die Stelle des Imperialismus der Pentagonismus getreten<br />

ist". Nur aus „geistiger Trägheit" behaupten wir nach wie vor,<br />

es gebe den Imperialismus; in Wirklichkeit existiere er nicht mehr.<br />

Folgt man der Beweisführung des Verfassers, so ist der Pentagonismus<br />

ein Produkt des „überentwickelten Kapitalismus". Er habe fast alle<br />

Eigenschaften des Imperialismus übernommen, vor allem jene, die besonders<br />

zerstörerisch und grausam sind, aber er stelle eine fortgeschrittene<br />

Spielart dar, die sich zum Imperialismus verhält, wie der<br />

überentwickelte Kapitalismus zu dem industriellen Kapitalismus des<br />

19. Jahrhunderts. Diese Definition ergibt im Grunde nicht mehr, als<br />

daß der Pentagonismus ein größerer, stärkerer, modernerer Imperialismus<br />

ist; etwas Neues ist er damit noch immer nicht.<br />

Der Verfasser glaubt, dieses Neue darin zu finden, daß der Pentagonismus<br />

im Gegensatz zum Imperialismus keine Kolonien ausbeute,<br />

sondern das eigene Volk. Man führe Krieg nicht um Kolonialgebiete<br />

zu erobern, sondern Machtpositionen im eigenen Land und um das<br />

Rüstungsgeschäft in Schwung zu halten. „Man sucht den Profit dort,<br />

wo die Waffen produziert werden, nicht wo sie angewendet werden".<br />

Das angegriffene Gebiet sei bloß der Bestimmungsort für den Ver-


430 Besprechungen<br />

brauch des technischen und menschlichen Kriegsmaterials. Diese<br />

scheinbar bestechende Argumentation erweist sich bei näherem Zusehen<br />

als Sophisma. In Wirklichkeit ist die Machtposition im fremden<br />

Land ebenfalls profitbringend, sei es als Markt, sei es als Rohstoffquelle.<br />

Juan Bosch gibt selber zu, „daß eine kleine Gruppe von Bankiers,<br />

Industriellen, Geschäftsleuten, Generalen und Politikern Krieg<br />

führt mit dem Ziel, schnell zu mannigfachen Profiten zu gelangen,<br />

die sich in Kapitalakkumulation umsetzen und insofern zu neuen Investitionen<br />

führen". Das ist im Grunde eine holprige Umschreibung<br />

des imperialistischen Prozesses. Pentagonismus ist also ein neues Wort<br />

für Neo-Kolonialismus. Die sprachliche Neuschöpfung kann zur Quelle<br />

neuer Konfusion werden.<br />

Bruno Frei (Wien)<br />

Horowitz, David: Kalter Krieg. Hintergründe der US-Außenpolitik<br />

von Jalta bis Potsdam. 2 Bände. Mit Chronologie und Bibliographie.<br />

Aus dem Englischen von Wilfried Sczepan. Rotbuch 13 und<br />

14. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1969 (237 u. 207 S., kart., je<br />

6,50 DM).<br />

Horowitz ist maßgebender Mitarbeiter der Zeitschrift „Ramparts"<br />

(San Francisco), die vor drei Jahren durch den Nachweis berühmt<br />

wurde, daß viele „linke" Organisationen in aller Welt, beispielsweise<br />

der nordamerikanische Studentenverband, von der CIA subventioniert<br />

waren. In dieser Arbeit faßt er die diplomatische Geschichte des<br />

Kalten Krieges etwa von 1945 bis 1963 zusammen. In erster Redaktion<br />

hat er dies in einem Penguin-Taschbuch 1967 getan, die zweite<br />

Fassung ist auf den mehr als dreifachen Umfang erweitert, um eine in<br />

der ersten Fassung nicht mögliche Vollständigkeit zu erreichen. Der<br />

Text der zweiten Redaktion besteht ungefähr zur Hälfte aus Zitaten,<br />

durch die eine dem deutschen Leser sonst kaum zugängliche Literatur<br />

erschlossen wird. Horowitz stützt sich namentlich auf Schriftsteller,<br />

die schon 1947 (Walter Lippmann, „Cold War"), 1952 (I. F. Stone,<br />

„Hidden History of the Korean War") und 1957 (George Kennan) auf<br />

Grund amerikanischen Materials die Legende durchlöcherten, derzufolge<br />

der Kalte Krieg durch die Sowjetregierung vom Zaun gebrochen<br />

worden sei. Vorwiegend zitiert Horowitz offizielle Dokumente der<br />

USA, Biographien und Memoiren maßgebender Staatsmänner der<br />

USA, Werke hoher US-Beamter wie W. W. Rostow sowie wenige, aus<br />

den Quellen gearbeitete historische Werke wie G. Alperovitz, „Atomic<br />

Diplomacy: Hiroshima and Potsdam" (London 1965). Horowitz weist<br />

zwingend nach, daß die USA den Kalten Krieg entfesselten, und zwar<br />

weil ihre Führer sich nach F. D. Roosevelts Tod dank wirtschaftlicher<br />

Überlegenheit und Atombombe in der Lage wähnten, die Grenzen des<br />

sowjetischen Machtbereichs „zurückzurollen", und daß ihnen dies im<br />

Iran 1946 tatsächlich gelang. Horowitz zeigt, daß 1945 und danach in<br />

Osteuropa bürgerliche Koalitionsregierungen mit kommunistischer<br />

Teilnahme regierten, und glaubt beweisen zu können, Stalin habe sie<br />

erst durch rein kommunistische Regierungen ersetzt, um Wieder-


Soziale Bewegung und Politik 431<br />

holungen des iranischen Beispiels auszuschließen. Er deckt die Pikanterie<br />

auf, daß die USA 1954 bei dem CIA-Überfall auf Guatemala<br />

die Zuständigkeit der Vereinten Nationen bestritten und sie der Organisation<br />

amerikanischer Staaten, also einer Regionalorganisation vorbehielten:<br />

genau das, was sie 1956 der Sowjetregierung in Ungarn<br />

vorwarfen.<br />

Bedauerlich ist die Vernachlässigung wirtschaftlicher Aspekte, von<br />

denen Horowitz gelegentlich merkwürdige Ansichten hegt, z. B. wenn<br />

er behauptet, der Morgenthauplan sei schon 1945 aufgegeben worden.<br />

Das gilt doch nur, wenn man den Terminus „Morgenthauplan" ganz<br />

eng versteht; tatsächlich ist bis in das Jahr 1949 Morgenthaupolitik<br />

in Form von Produktionsverboten und Demontagen geübt worden.<br />

Der Übersetzer beweist souveräne Verachtung für sachliche Richtigkeit,<br />

sprachliche Nuancen, logische Schärfe und die consecutio temporum.<br />

Er bringt es fertig zu schreiben: „Russische Truppen ... lagen<br />

(1948) in den Außenbezirken Hamburgs... in Garnison." Man kann<br />

erraten, welcher englische Terminus hier fälschlich mit „Außenbezirke"<br />

wiedergegeben ist. Trotz dieser Mängel hat die deutsche Ausgabe<br />

für den deutschen Leser den Wert eines sonst nicht vorhandenen<br />

Nachschlagewerks. Um so bedauerlicher ist, daß ein Register fehlt.<br />

Ulrich Küntzel (Göttingen)<br />

Horowitz, David (Hrsg.): Containment and Revolution.<br />

Western Policy towards Social Revolution from 1917 to Vietnam.<br />

Verlag Anthony Blond, London 1967 (256 S., Ln., 35 S/Pb., 15 S.).<br />

Deutsch: Strategie der Konterrevolution. März<br />

Verlag, Darmstadt 1970 (320 S., Pb., 12,— DM / Ln., 25,— DM).<br />

Der vorliegende Sammelband aus der vom Bertrand Russell Centre<br />

for Social Research herausgegebenen Reihe „Studies in Imperialism<br />

and the Cold War" enthält sieben hinsichtlich Thematik und Interpretationsansatz<br />

voneinander unabhängige Beiträge verschiedener<br />

Autoren zur konterrevolutionären Strategie des Imperialismus seit<br />

1917. W. A. Williams analysiert die US-Intervention in Rußland 1917<br />

bis 1920 und ihre ökonomischen und politischen Ursachen. Das Prinzip<br />

der „Open Door", d. h. die Möglichkeit zu schrankenloser ökonomischer<br />

Expansion amerikanischen Kapitals durch Arrangements mit<br />

der jeweiligen nationalen Kompradoren-Bourgeoisie, Erpressung und<br />

Gewalt war durch die Oktoberrevolution ernstlich gefährdet. Um die<br />

„Chancengleichheit im Welthandel" nicht durch diejenigen zerstören<br />

zu lassen, die sich daranmachten, sie erst herzustellen, mußte der<br />

Liberalismus — freies Unternehmertum = Wohlstand = Demokratie<br />

— reale Gewalt und die USA selbst dieser „freie Unternehmer" werden,<br />

der auf dem Weg zum Monopol die Konkurrenten gewaltsam<br />

ausschaltete. Selten ist die Imperialismustheorie Lenins mit größerer<br />

Evidenz demonstriert worden, als in den hier mitgeteilten Dokumenten<br />

der Geheimdiplomatie, Depeschen und weltanschaulichen Bekenntnissen<br />

amerikanischer Politiker. Sie zeugen von der Belang-


432 Besprechungen<br />

losigkeit des „fürchterlichen moralischen Konflikts" zwischen „christlicher<br />

Ethik" und Liberalismus, dem Präsident Wilson sich anscheinend<br />

ausgesetzt sah.<br />

Isaac Deutscher und John Bagguley untersuchen am Beispiel der<br />

Kriegführung (1941—1944) gegen die faschistischen Achsenmächte<br />

und der gegen die SU gerichteten Konferenzpolitik (Yalta, Teheran)<br />

der westlichen Alliierten die langfristigen Ziele des Imperialismus<br />

zur Niederschlagung sozialer Revolution. Isaac Deutschers Rede über<br />

„Die Mythen des Kalten Krieges", gehalten anläßlich des teach-ins<br />

über Vietnam in Berkeley 1965, setzt sich mit Propagandathesen der<br />

„freien Welt" auseinander und deckt ihre Hintergründe und Motive<br />

auf. John Bagguley legt dar, daß der II. Weltkrieg kein allgemeiner<br />

Kampf der Nationen, sondern ein „deutsch-sowjetischer Krieg" mit<br />

militärischen Operationen der Briten und Amerikaner an dessen<br />

Peripherie war. Die Westmächte rechneten mit dem Zusammenbruch<br />

der Sowjetunion spätestens im dritten Kriegsmonat und verlegten<br />

dementsprechend ihre militärischen Aktionen vor allem in Gebiete,<br />

die sie sich als ökonomische und strategische Einflußzone erhalten<br />

oder erst erschließen wollten. Die Verzögerungstaktik beim Aufbau<br />

einer zweiten Front bis 1944 und der schleppende Vormarsch in Italien<br />

beweisen ihr Interesse an der Zerschlagung des sozialistischen<br />

Rußland auch um den Preis eines Pyrrhus-Sieges der Faschisten. Die<br />

verdächtige Eile der Befreier nach der russischen Offensive, die Kette<br />

westalliierter Vertragsbrüche seit 1945 machen deutlich, daß der Gegner<br />

seit 1917 unverändert die Sowjetunion gewesen ist. Von geringerem<br />

historischen Interesse ist der Aufsatz H. W. Bergers über Senator<br />

Taft als bürgerlichen Kritiker der US-Interventionspolitik zur Zeit<br />

der Truman-Administration.<br />

Als einführende Studie in die Zusammenhänge aktuell-politischer<br />

und ideologischer Probleme ist John Gittings „The Origins of China's<br />

Policy" eine wertvolle Hilfe. Gittings Aufsatz stellt die Belastungen<br />

dar, der die Beziehungen zwischen der VR China und der UdSSR<br />

durch Stalins China-Politik und später durch das unnachgiebige Bestehen<br />

der SU auf der Erfüllung der für China ungünstigen Wirtschaftsverträge,<br />

ungeachtet seiner katastrophalen ökonomischen Situation,<br />

sowie Kompensationsforderungen für Hilfsleistungen während<br />

des Korea-Krieges, der die Ursache für die nahezu vollständige<br />

wirtschaftliche Abhängigkeit Chinas von der SU gewesen ist, ausgesetzt<br />

waren.<br />

Der Beitrag „Counter-Insurgency: Myth and Reality in Greece"<br />

stammt von einem der Führer der US-Studentenbewegungen, von<br />

Todd Gitlin, Mitglied der „Students for a Democratic Society" (SDS).<br />

Die Bedeutsamkeit der griechischen Ereignisse besteht für Gitlin in<br />

der Analogie zu Vietnam: „Greece was the Vietnam of the 1940s in<br />

more than a rhetorical sense. She was the first major battlefield of<br />

anti-communist containment" (141). Gitlin arbeitet im folgenden sieben<br />

zentrale Propagandamärchen zur Rechtfertigung der imperialistischen<br />

Politik in Griechenland heraus und konfrontiert sie mit der<br />

Realität. Das erste Märchen (myth) ist, daß die griechische Wider-


Soziale Bewegung und Politik 433<br />

standsfront EAM eine kommunistische Organisation unter Kontrolle<br />

Stalins war und ihre Armee ELAS eine Bande hartgesottener Terroristen,<br />

„a fifth column for his (Stalins) expansionist aims" (142). Tatsächlich<br />

bestand die EAM aus der KP Griechenlands (KKE), den<br />

(sozialistischen) Volksdemokraten, der Sozialistischen Partei, der Vereinigten<br />

Sozialistischen Partei, den Agrariern und vielen Parteilosen.<br />

Die Gesamtmitgliedschaft der EAM gegen Kriegsende betrug 0,5—2<br />

Millionen. Die ELAS hatte nach konservativen Schätzungen 40 000<br />

Mann unter Waffen. Gegen Kriegsende kontrollierte die EAM 4 /s von<br />

Griechenland. Ihre Ziele für die Zeit nach der Befreiung waren:<br />

a) Bildung einer Regierung aus allen Kräften des Widerstandes,<br />

b) sofortige Herstellung von Presse-, Rede- und Versammlungsfreiheit.<br />

Eine Generalamnestie, c) sofortige Durchführung von Wahlen zu<br />

einer Konstituante, die die zukünftige Regierungsform festlegt (144).<br />

Die britischen ,Befreier' honorierten diese Forderungen dadurch, daß<br />

sie eine reaktionäre Regierung einsetzten und am 3. 12. 1944 eine<br />

friedliche Demenstration der EAM mit Frauen und Kindern in Athen<br />

zusammenschössen. Dies war der Beginn des Bürgerkriegs. Das zweite<br />

Märchen besagt, daß die „Kommunisten den Bürgerkrieg angezettelt<br />

hätten, um die totale Macht im Staat an sich zu reißen" (154). Tatsächlich<br />

kontrollierten ELAS und EAM nach 3 Wochen Bürgerkrieg „all<br />

of Greece, save for a patch of land in the centre of Athens, another<br />

stretch along the bay of Phaleron, and two small zones in Salonika<br />

and Patras" (157). Dennoch akzeptierten sie im Februar 1945 das Abkommen<br />

von Varkiza unter relativ ungünstigen Bedingungen: 1. Auslieferung<br />

der Waffen der ELAS; 2. legale Betätigung von KKE und<br />

EAM; 3. Wahlen und Plebiszit über die künftige Staatsform. Die<br />

EAM hielt sich an die Abmachungen — im Gegensatz zur Gegenseite.<br />

Die Wahlen fanden unter massivem Terror und unter Bedingungen<br />

statt, die außer der EAM noch 4 Parteien zum Wahlboyeott veranlaßten,<br />

der den Royalisten die Mehrheit brachte. Unter dem sich verstärkenden<br />

Terror der Rechten flammte der Bürgerkrieg wieder auf.<br />

Mit' dem Märchen Nummer drei versuchte man den Kommunisten die<br />

Schuld am erneuten Ausbruch des Bürgerkriegs in die Schuhe zu<br />

schieben. Tatsache ist, daß sich diese Organisationen dem unter Terror<br />

der Rechten entstandenen bewaffneten Kampf nachträglich anschlössen.<br />

Nach Märchen Nummer vier ging es den USA bei ihrer Einmischung<br />

1947 um die Etablierung einer Reformregierung, die die<br />

sozialen Ursachen der Rebellion ,wegreformiert'. Dies bedarf kaum<br />

einer Widerlegung, da das griechische Regime in Brutalität und reaktionärer<br />

Zielsetzung den Nazibesatzern in nichts nachstand, was die<br />

USA nicht davon abhielten, diese im Rahmen der „Truman-Doktrin"<br />

mit allen Mitteln zu unterstützen. Die Unnachgiebigkeit der Aufständischen<br />

gegenüber großzügigen Versöhnungsgesten der Regierung ist<br />

der Inhalt von Märchen Nummer fünf. Tatsächlich bot' die Regierung<br />

Soufoulis im September 1947 allen Überläufern Straffreiheit an; die<br />

politischen Forderungen der EAM waren nicht Gegenstand dieses<br />

Angebots. Aber nicht einmal die den Überläufern angebotenen Vergünstigungen<br />

wurden eingehalten; die wenigen, die diesem Angebot


434 Besprechungen<br />

trauten, mußten dies mit Tod, Mißtrauen oder jahrelanger Haft<br />

büßen. Das sechste Märchen schließlich ist aus Vietnam hinreichend<br />

bekannt: ,die Aggression aus dem Norden' (hier: Jugoslawien, Albanien,<br />

Bulgarien). Tatsächlich trifft der Vorwurf von ganz anderer<br />

Seite, Stalin habe die griechische Revolution verraten, viel eher; soweit<br />

überhaupt Hilfe geleistet wurde, war sie gering. So brach die<br />

Partisanenbewegung Anfang 1949 unter massivem Einsatz amerikanischer<br />

Waffen — begünstigt durch schwere strategische Fehler der<br />

KKE-Führung — zusammen. Die Entwicklung Griechenlands bis<br />

heute widerlegt schließlich das letzte Märchen: daß nämlich durch die<br />

Vernichtung des Kommunismus der wirtschaftliche Aufschwung möglich<br />

werde. Die gegenwärtigen Zustände in Griechenland ersparen<br />

jeden Kommentar. Gitlin charakterisiert die Ziele der Counter-Insurgency-Politik<br />

nicht nur in Griechenland. „... not to contain foreign<br />

aggression but domestic revolution; not to bring democracy but to<br />

maintain its absence; not to avoid violence but to thwart radical<br />

change by violence if necessary; not to bring freedom, but bases" (180).<br />

Die ideologischen Beschönigungen solcher Politik sind „clever words<br />

that promise paradise and burn villages, but do not always keep<br />

suffering men from standing up and shouting: Enough" (180)!<br />

Der letzte Beitrag „Revolution and Intervention in Vietnam" von<br />

R. Morrock stellt — wenn auch in prägnanter und informativer Weise<br />

— lediglich die bereits bekannten Fakten der Entwicklung Vietnams<br />

1946—64 dar. Interessant ist allerdings die Schlußfolgerung: Süd-<br />

Vietnam war der erste Fall, in dem die Großmächte übereinkamen,<br />

ein Land in freien Wahlen entscheiden zu lassen, ob es den kapitalistischen<br />

oder den sozialistischen Weg gehen wolle; seine Geschichte<br />

seit 1956 beweist die Unmöglichkeit des .friedlichen Übergangs'. „If<br />

peaceful transition to socialism proved to be impossible in a country<br />

where the United States, England and France had already .committed'<br />

themselves not to prevent it, then it is heardly likely that it will be<br />

possible anywhere else" (247).<br />

Jürgen Behrens (Berlin) und Erhard Sanio (Marburg)<br />

Agnoli, Johannes, und Peter Brückner: Die Transformation<br />

der Demokratie. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt/M.<br />

1968 (194 S., kart., 12,— DM).<br />

Die 1967 erstmals im Voltaire Verlag veröffentlichten Arbeiten zur<br />

Transformation der Demokratie (Agnoli) und des demokratischen<br />

Bewußtseins (Brückner) sind Versuche, die Erfahrungen des außerparlamentarischen<br />

Kampfes für Demokratie in der Bundesrepublik<br />

zu systematisieren als Beitrag zu einer Theorie nachfaschistischer<br />

bürgerlicher Herrschaftsbedingungen.<br />

Agnoli orientiert sich in der Hauptsache an der innenpolitischen<br />

Entwicklung Westdeutschlands, die ihm beispielhaft erscheint für<br />

eine Grundtendenz im Spätkapitalismus: Nach dem Übergang von<br />

der freien Konkurrenz zu monopolistischen Wirtschaftsformen be-


Soziale Bewegung und Politik 435<br />

müht sich die Bourgeoisie, den „Staat den technischen und wirtschaftlichen<br />

Erfordernissen der heutigen Zeit entsprechend zu transformieren"<br />

(8). Störungsfreiheit der Wirtschaft und sozialer Frieden,<br />

vom <strong>Faschismus</strong> terroristisch aufrechterhalten, soll nunmehr mit<br />

„angemesseneren", manipulativen Mitteln so garantiert werden, „daß<br />

gerade die Abhängigen das System nicht nur akzeptieren, sondern<br />

auch verteidigen, das sie in Abhängigkeit hält" (21). Das formale<br />

Konkurrieren von zumindest zwei großen „pluralistischen" Parteien,<br />

die von ihrer gesellschaftlichen (Klassen-)Basis getrennt, zu „staatspolitischen<br />

Vereinigungen" (33) werden, erhält die Wählerillusion<br />

des freien Wettbewerbs erfolgreich aufrecht. In Wahrheit fungieren<br />

alle Parteien „als Klassenorgan der Konservation" (34), da nach wie<br />

vor einseitig die Abhängigen der politischen Artikulationsmöglichkeit<br />

beraubt sind. Das Parlament erfüllt — bei scheinbarem Funktionsverlust<br />

— eine wichtige Aufgabe als „Instrument der Veröffentlichung<br />

von Herrschaft" (66), indem Entscheidungen von Oligarchien<br />

der Bevölkerung als Beschlüsse ihrer eigenen Vertretung zur Kenntnis<br />

gegeben werden. Innerhalb des Systems stehen allein noch Führungskonflikte",<br />

d. h. „Konkurrenzkämpfe zur Ablösung der jeweiligen<br />

Führungsgruppe" zur Debatte, nicht mehr „Herrschaftskonflikte"<br />

zur Durchsetzung einander ausschließender Ziele (30 f.). Erst<br />

„wenn alle konstitutionellen Führungsgruppen das Vertrauen der<br />

Massen verlieren, die sodann — sofern sie ... keine Emanzipationsbewegung<br />

hervorbringen können — ihre Hoffnungen auf Gegenoligarchien<br />

setzen" (23), sind die friedlichen Mittel erschöpft; die herrschende<br />

Klasse kann unter diesen Umständen eine faschistische<br />

„Wachablösung" als Maßnahme gegen die Krise betrachten. Um der<br />

letzten Konsequenz zu entgehen, werden in vertrauensfördernden<br />

Hochkonjunkturphasen weitreichende notstandsrechtliche Machtsicherungen<br />

eingeführt, die sich so als „Krönung des Wohlstandsstaates,<br />

keineswegs als dessen Verneinung" (53) erweisen.<br />

1917, bei vergleichsweise unentwickelten Manipulationstechniken,<br />

konnte Lenin, an Marx' Analyse des bürgerlichen Parlaments erinnernd,<br />

bereits notieren, „auch in den allerdemokratischsten Republiken"<br />

bestünde „das wirkliche Wesen des Parlamentarismus" nur<br />

in der periodisch zu treffenden Entscheidung, „welches Mitglied der,<br />

herrschenden Klasse das Volk im Parlament niederhalten und zertreten<br />

soll..." 1 . Die Leitlinie, die Agnoli für eine systemsprengende,<br />

organisierte „Fundamentalopposition" (38, 73 f., 81) entwickelt, ist<br />

erheblich weniger eindeutig. Das allgemeine ökonomische Fundament<br />

aller Staatsverfassungen, die den Antagonismus zwischen Lohnarbeit<br />

und Kapital zum Ausdruck bringen, ist bei ihm nur als gleichsam<br />

selbstverständliche Voraussetzung erkennbar und mit jenen besonderen<br />

Mechanismen, die heute „den Herrschafts- und Repressionscharakter<br />

der Gesellschaft verhüllen" (13), kaum noch notwendig<br />

verbunden. Der Verfasser sieht sich vielmehr einer „verdoppelten<br />

gesellschaftlichen Wirklichkeit" (23) gegenüber: Polarität „nach wie<br />

1 W. I. Lenin: Staat und Revolution, 9. Aufl., Berlin 1967, S. 49.


436 Besprechungen<br />

vor an der Basis der Gesellschaft", aber staatlich koordinierter „Pluralismus<br />

auf der Distributionsebene" (24). Letzterer sei etwa dadurch<br />

gekennzeichnet, daß „heutzutage" für Unternehmerverbände der<br />

Zwang bestehe, den Konsumenten gegenüber konkurrierend aufzutreten<br />

(Kohle — Erdöl), während sie der organisierten Arbeiterschaft<br />

als Einheit begegneten. Abgesehen davon, daß hier ein allgemeines<br />

Charakteristikum des Kapitalismus (nämlich Konkurrenzkämpfe<br />

zwischen Unternehmern oder deren Verbänden um profitrealisierende<br />

Marktanteile bei gleichzeitiger prinzipieller Einigkeit<br />

in der Methode der Mehrwertaneignung) als Spezifikum eines „Oligopolkapitalismus"<br />

auftritt, kommt die Analyse insgesamt in Schwierigkeiten<br />

beim Versuch, den der bürgerlichen Ideologie entlehnten<br />

Pluralismusbegriff kritisch gewendet dem eigenen Instrumentarium<br />

zuzuschlagen. Unbestreitbar nehmen die Interventionen des bürgerlichen<br />

Staates zugunsten von „Gruppeninteressen" (gezwungenermaßen<br />

die proletarischen bereichsweise eingeschlossen) zu. Die klassenspezifischen<br />

Unterschiede ihrer Größenordnung erlauben jedoch<br />

noch immer, Verteilungsverhältnisse als „wesentlich identisch mit...<br />

(den) Produktionsverhältnissen" oder „als eine Kehrseite derselben" 2<br />

zu definieren.<br />

Gelänge der Kunstgriff einer pluralistischen, gleichwohl kapitalistischen<br />

Distribution, wäre die „Verhüllung" der Produktionsverhältnisse<br />

in der Tat perfekt, eine Neuauflage des offenen <strong>Faschismus</strong><br />

kaum absehbar. Die verdoppelte Wirklichkeit erschiene selbst<br />

als manipulierendes Subjekt und, über jeden Versuch der konkreten/<br />

Veränderung von Machtverhältnissen triumphierend, nurmehr als<br />

Ganzes bekämpfbar.<br />

Den Verfall des demokratischen Bewußtseins im Spätkapitalismus<br />

untersucht Brückners Studie. Material findet er vor allem in öffentlichen<br />

und privaten Reaktionen auf die Westberliner Demonstrationen<br />

im Sommer 1967. Sein Motiv ist „Sorge um das Individuum" (95)<br />

in einem System, dessen Trennung von Arbeitszeit und passivem<br />

Konsum vorbehaltener Freizeit den Zustand befestigt, daß „Klassen<br />

nur noch in der sozialen Wirklichkeit, nicht mehr im Bewußtsein<br />

Vieler" (134) existieren. Die Unfähigkeit der Vielen, die fortdauernde<br />

„Differenz zwischen Glückserwartung und Erfüllung" (100) zu vermindern,<br />

beschleunigt ihre Bindung an im Dienste der Herrschaft<br />

unablässig propagierte Über-Ich-Ideale. Ihre Aggression richtet sich<br />

gegen Versuche, bestehende Autorität theoretisch oder praktisch in<br />

Zweifel zu ziehen: „die Demonstration funktioniert wie eine Sonde,<br />

die eine Eihaut abzieht, unter der, fertig und voll entwickelt, das<br />

faschistische Syndrom längst bereitliegt" (159).<br />

Der Verfasser kennzeichnet seine Methode als „Politische Psychologie",<br />

die sich „des Zusammenhangs zwischen der Lebensgeschichte<br />

der einzelnen Individuen und dem, was sie einander geschichtlich antun"<br />

(94), bewußt ist. Zuweilen scheint es aber, als ließe seine Vor-<br />

2 Karl Marx: Das Kapital, Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 3, in:<br />

MEW Bd. 25, S. 585.


Soziale Bewegung und Politik 437<br />

gehensweise nicht mehr die Unterscheidung zwischen gesteuerten<br />

Bewußtseinsvorgängen und der Realität selbst zu, so z. B. wenn sich<br />

an die These, ein Stereotyp des Antikommunismus sei mit der aus<br />

sexueller Repression herzuleitenden Berührungsangst verbunden, die<br />

Folgerung anschließt, „nur so" lasse sich die Hallstein-Doktrin verstehen<br />

(160) — welchem psychotherapeutischen Eingriff ist demnach<br />

die „neue Ostpolitik" zu verdanken?<br />

Eine Schwäche der Argumentation zeigt sich auch dort, wo die<br />

Therapie der Politischen Psychologie ins politische Credo des Autors<br />

mündet. Es war und ist sicher nicht falsch, daß in der studentischen<br />

Linken oft die „humanen Impulse jakobinischer Verfassungen" den<br />

Ausschlag geben, nur „modifiziert durch das Studium des Marxismus"<br />

(93); es mag auch entlarvend sein, die bestehenden Zustände am<br />

Ideal „einer wahren bürgerlichen Demokratie" (139) zu messen. Allzu<br />

unvermittelt heute Demokratisierungsforderungen einer „republikanischen<br />

Tradition" (171) zuzuordnen, bedeutet aber zumindest Verschweigen<br />

jener proletarischen Tradition, die seit mehr als einem<br />

Jahrhundert für die Einlösung des Versprechens auch der bürgerlichen<br />

Revolution steht, ohne sich freilich darin zu erschöpfen.<br />

Dieter Krause (Berlin)<br />

Haug, Wolfgang Fritz: Der hilflose Antifaschismus. Zur<br />

Kritik der Vorlesungsreihen über Wissenschaft und NS an deutschen<br />

Universitäten, (es 236) Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1967/3.,<br />

veränderte Auflage 1970 (159 S., kart., 4,— DM).<br />

Eingangs wird der Vorwurf der „aus dem Zusammenhang gerissenen<br />

Zitate" antizipiert: „Die Untersuchung isoliert die untersuchten<br />

Texte und interpretiert sie andererseits im Zusammenhang" (12). Der<br />

Zusammenhang ist ein neuer, einer des Gerichts, das der Autor an<br />

ihnen vollstreckt. Das Gericht ist die Konstruktion, die den Stellenwert<br />

der angeführten Zitate aufblitzen läßt: jäh werden einzelne Sätze<br />

aus ihrem Kontext — den 1964 bis 1966 an deutschen Universitäten<br />

abgehaltenen Vorlesungsreihen über das Verhältnis von Universität<br />

und <strong>Faschismus</strong> — herausgerissen, ins Licht geführt einer <strong>Diskussion</strong>,<br />

die die Texte von sich aus nicht meinten und nicht ertragen. Nicht das<br />

einfache Bekenntnis ihrer Ohnmacht wird den Texten abgezwungen,<br />

sondern dieser Ohnmacht wird auf den Grund gegangen, den es als<br />

den „gesellschaftlichen Ort" der Wissenschaft neuzubestimmen gilt:<br />

wenn Wissenschaft „sich nicht selbst aufgeben will" (14). Sie zitierend,<br />

ruft Haug die halbherzigen, begriffstutzigen und hilflosen Phrasen<br />

beim Namen; und auf der Basis dieser bei ihrem Namen genannten<br />

„Hilflosigkeit" (nicht nur die vergangene eines versäumten Antifaschismus!)<br />

kann eine sich ihres gesellschaftlichen Orts innegewordene Wissenschaft<br />

aufbauen. Damit überwindet die Schrift den „begrenzten<br />

Anlaß" einer „Inhaltsanalyse" und nimmt Züge an einer „Streitschrift"<br />

(12). Aber die Militanz dieser Streitschrift ist exemplarisch<br />

gerade darin, daß diese sich in engster Konnexion mit den unter-


438 Besprechungen<br />

suchten Texten entfaltet: als Ergebnis des vermittelnden Eingriffs in<br />

die untersuchten Vorlesungen. Nicht klaffen in der wissenschaftlichen<br />

Militanz des Eingriffs wissenschaftliche Analyse und politisches Bescheidwissen<br />

lax auseinander, die, wenn sie sich nicht verbinden, Kennzeichen<br />

der analysierten Ohnmacht sind. Haugs Wissenschaft spricht<br />

mit politischer Zunge, spricht weder die analytische Metasprache der<br />

politischen Abstinenz, noch ist sein politischer Standort mit bloßer Gesinnung<br />

gleichzusetzen. .„Gesinnungen' sind nicht unbedingt ein Forschungsgegenstand<br />

von zentralem Interesse" (116). Nicht werden die<br />

deutschen Professoren, deren Äußerungen Gegenstand der Untersuchung<br />

waren, auf ihre jeweilige „Gesinnung" befragt, die ohnehin<br />

die eines wie immer verkleideten Antifaschismus ist. Auf die Verkleidungen<br />

kommt es an — und auf das „Zusammenspiel sozialer<br />

Herrschaftsstrukturen und individueller Verhaltensdispositionen"<br />

(116), welches Gesinnung erst entstehen läßt. Im Arrangement von<br />

antifaschistischer Bekundung, Bewältigungsgerede und faschistoider<br />

Disposition stiftet Haug Verwirrung. Und die sozialistische Hand des<br />

Störenfrieds operiert mit einer Wissenschaftlichkeit, die — dem Spruch<br />

die Treue haltend vom Sozialismus, der wissenschaftlich sein wird oder<br />

nicht sein — das Gerippe der bürgerlich-wissenschaftlichen Argumentation<br />

wie mit dem Seziermesser bloßlegt. Die Analyse katalogisiert<br />

statt der Bekenntnisse ihre Herstellung und Struktur, ordnet Motivkomplexe<br />

und Stereotype anstatt nach vordergründiger <strong>Faschismus</strong>-<br />

Feindschaft zu fragen, demontiert die bürgerliche Wissenschaftssprache<br />

der <strong>Faschismus</strong>abwehr, um versteckter Affinität auf die Spur zu<br />

kommen, entdeckt Kontinuität, wo offiziell Brüche gemeldet werden,<br />

und setzt Geschichtliches an Stelle des postfaschistischen Naturzustands:<br />

dem wird die eigene Melodie vorgespielt und dessen steinerne<br />

Selbstverständlichkeit zum Tanzen gezwungen. Die Melodie ist die<br />

der „politikfeindlichen Diktion", die mit ,Politik' sogleich Faschistisches<br />

oder Totalitäres meint. Dieser „untergründig die Diktion beherrschenden<br />

Tendenz" wird der Kommentar beigegeben: „Daß der<br />

Nazismus das Wort („politisch") monopolisierte, während er alle politischen<br />

Regungen unterdrückte und systematisch desorganisierte,<br />

wirkt in vielen Texten noch darin nach, daß ihm auch heute noch das<br />

Wort uberlassen wird" (69/70). Repräsentativ ist dieser Kommentar<br />

nicht nur se.oem Sinn nach, er ist es auch in seiner Kürze, die — von<br />

Enthaltsamkeit gegenüber positiv gesetztem Sinn geprägt und auf<br />

Rückendeckung durch Sekundärliteratur verzichtend — im ganzen<br />

Buch vorherrscht.<br />

Die verzeichneten „antifaschistischen Gegennamen" bieten einen<br />

Überblick über die emotionalen oder distanzierenden Etikettierungen,<br />

die den Nationalsozialismus als „entartete Nachfrucht des 19. Jahrhunderts",<br />

„das große Unglück", „die ideologische Katastrophe", „die<br />

Zeit der Gewaltherrschaft", als „Rückfall in die Barbarei", als „dieses<br />

düstere Kapitel der Geschichte unseres Volkes" (29/30) beschwören<br />

und dessen analytische Durchdringung tabuieren. Das Panorama der<br />

in den hilflosen Benennungen etablierten Ohnmacht funktionierte der<br />

Autor zu einer negativen Fundgrube um, deren Plünderung mit ideo-


Soziale Bewegung und Politik 439<br />

logie- und sprach<strong>kritische</strong>r Immanenz ein Bild des nicht weiterhin<br />

hilflosen Antifaschismus abgeben sollte. Der Prozeß dieser immanenten<br />

Kritik, der eine überaus präzise Schlauheit eignet, könnte jetzt<br />

fast als allzu immanent erscheinen; die Schlauheit jedoch deutet an,<br />

welcher Anstalten es damals bedurfte, um einen Antifaschismus überhaupt<br />

zu denken, dem nicht die Hilflosigkeit an der Stirn geschrieben<br />

steht. Haugs Forderung nach einem analytischen Begriff von <strong>Faschismus</strong>,<br />

„der zugleich die historische Verflechtung der heute analysierenden<br />

Wissenschaft mit ihrem Gegenstand in die Analyse einbegreift"<br />

(33), wurde zu einer Zeit erhoben, als der radikal-demokratische Antifaschismus<br />

der Studentenbewegung sich noch nicht zur realen politischen<br />

Gewalt potenziert hatte. Als dies sich änderte, trug Haug dem<br />

Rechnung im Nachwort zur zweiten Auflage (1968), unter dem Titel:<br />

„Das Ende des hilflosen Antifaschismus", ein Ende, das dem hilflosen<br />

Antifaschismus nicht als immanente Naturkatastrophe zuwuchs, sondern<br />

mit den Mitteln des historischen Kampfs angesagt wurde. Eine<br />

Beurteilung von Haugs „Streitschrift" hat diese ihre Einbettung in<br />

der Geschichte des deutschen Antifaschismus zu berücksichtigen. Unfair,<br />

den Wert des Büchleins zur Irrelevanz einer solitären Position<br />

zu verdünnen, deren Überwindung im Nachwort der zweiten Auflage<br />

dokumentiert ist.<br />

Geradezu unüberholbar wirkt an der nüchternen Argumentation<br />

vor allem pädagogische Brauchbarkeit auch jetzt. Die in der Schrift<br />

enthaltenen nützlichen Anweisungen haben pädagogische Qualität<br />

nicht nur, weil sie es auf Umerziehung einiger älteren Erzieher abgesehen<br />

haben, sondern weil sie eine Theorie vorbereiten, die als Theorie<br />

des <strong>Faschismus</strong> zugleich dessen Abwehr einleiten will. Diese Abwehr<br />

ist nicht Sache des Geistes. Immer wieder daran zu erinnern, „daß<br />

der Kampf primär nicht um Ideen, sondern um Herrschaftspositionen<br />

im Prozeß sozialen Wandels geführt wird" (37), ist Herzstück der<br />

Arbeit, die einer falschen, idealistisch gewendeten und nicht umsonst<br />

gerade bei Wissenschaftlern beliebten <strong>Faschismus</strong>-Interpretation entgegenarbeitet.<br />

In der angestrengten oratio obliqua, die die idealistische<br />

Gegenposition unaufhaltsam anführt, verteidigt Haug den anti-idealistischen<br />

Standpunkt bis zur zentralen These von der „mittelbaren Bedeutung<br />

von Geistigem": „Wenn die fördernde Beziehung von Geistigem<br />

zum <strong>Faschismus</strong>, der Geistiges nur als Material kennt, untersucht<br />

werden soll, muß von der Voraussetzung ausgegangen werden,<br />

daß der <strong>Faschismus</strong> an Geistigem niemals direkt zu packen ist. Interessant<br />

ist also gerade die mittelbare Bedeutung von Geistigem für den<br />

<strong>Faschismus</strong>" (47). An anderer Stelle: „Man könnte zugespitzt sagen,<br />

daß das ,Direkte' theoretisch gerade uninteressant sei" (65). Mit,Ideologie',<br />

mit Ideen setzen die von Haug analysierten Texte den <strong>Faschismus</strong><br />

in direkten Bezug. „Indem Geistiges und Mentales ins Zentrum<br />

der Wesensbestimmung des <strong>Faschismus</strong> gestellt wird, schafft die Innerlichkeit<br />

sich ein Gegenstück nach ihrem Muster, wenn auch ein böses"<br />

(42). „An den untersuchten Texten läßt sich insgesamt ablesen, in<br />

welchem Ausmaß der Begriff ,Ideologie', quer durch die Fakultäten<br />

hindurch, in die allgemeine Wissenschaftssprache eingegangen ist. Wo


440 Besprechungen<br />

immer er auftaucht, ist Mißtrauen am Platz. Meist überdeckt er in<br />

begrifflicher Scheinpräzision eine diffuse Unsicherheit und Unverbindlichkeit"<br />

(43). Dem hält Haug entgegen, daß „nur die Benennung<br />

der Mechanismen und Interessen sozialer Herrschaft die adäquate<br />

Antwort gibt auf das Problem" (43), eine Benennung, die die herrschaftstechnische<br />

Funktionalität der faschistischen Ideologie in ihrer<br />

Widersprüchlichkeit enträtseln würde, statt <strong>Faschismus</strong> an der angeblichen<br />

Irrationalität seiner Ideologie zu messen. Kein theoretisches<br />

Gegenstück will der Autor zum <strong>Faschismus</strong>, sondern an die in ihm<br />

angelegten Widersprüche anknüpfen. Überhaupt ist der Autor mit<br />

,positiven' Ideen sparsam. Die Üntersuchung insgesamt ist als ein<br />

theoretisches ,Wegen Umbau geschlossen' zu charakterisieren; eine<br />

Theorie, geschweige denn eine Definition des <strong>Faschismus</strong> will sie nicht<br />

präsentieren, ohne zuvor die Überreste der älteren abgebaut zu haben.<br />

Die Funktion auch dieses Abbaus mag die des pädagogischen Effekts<br />

der Schrift gewesen sein: sie schafft den geschiehtsästhetischen Wahn<br />

aus der Welt, „ein Führer sei plötzlich erschienen und habe mit einer<br />

Handvoll .Rabauken' ohne Mitwirkung von Interessierten und ohne<br />

sogenannten gruppenspezifischen, also klassenmäßigen Nutzeffekt<br />

ein ganzes Volk samt Finanzkapital und Schwerindustrie unterjocht"<br />

— um eine Formulierung von Agnoli zu verwenden, die die abgegriffene<br />

Romantik einer wahnhaften <strong>Faschismus</strong>-Auffassung kritisiert.<br />

Der Abbau dieses vielgestaltigen Wahns setzt eine neue, noch zu entwickelnde<br />

materialistische Gegentheorie erst frei. Im Insistieren auf<br />

die bei den kritisierten Professoren als entscheidend gewertete „Unfähigkeit,<br />

das Interessenfundament sozialer Kämpfe zu erkennen"<br />

(40), die Unfähigkeit, „gesellschaftliche Vorgänge als solche zu analysieren"<br />

(63), „die beteiligten Begriffe in der Sprache sozialer Interessen<br />

und Interessenkonflikte zum Sprechen zu bringen" (65), „gesellschaftliche<br />

Prozesse wissenschaftlich wahrzunehmen" (87), sichert<br />

Haug den Rahmen für die bessere Einsicht ab. Quer durch ein dichtgewobenes<br />

Zitaten-Netz weisen viele Sätze des Büchleins den Weg<br />

dorthin, die, herausgelöst, einen Katalog materialistischer Sprüche<br />

ergeben würden, der faschistoide Dispositionen energisch durchbricht.<br />

Eine Definition enthalten sie negativ: „Der Geist des <strong>Faschismus</strong> war<br />

nicht der einzige Geist der Zeit" (86) — den anderen — antifaschistischen<br />

— versuchte Haugs Analyse zu retten, keineswegs als bloßen<br />

positiven Wert, sondern als Geist, der die konkreten Interessen der<br />

Arbeiterklasse decken möchte. Dies hätte die damalige Geisteswissenschaft<br />

als Blamage gewertet, reduzierte sie sich doch „auf die Produktion<br />

und Einübung von Abwehrhaltungen gegen Materialismus, Aufklärung,<br />

Demokratie und zumal gegen Arbeiterbewegung und Sozialismus"<br />

(47), während umgekehrt gerade das Bündnis der Ideen mit<br />

derart konkreten Interessen die einzige Chance ist für die Intelligenz,<br />

sich nicht zu blamieren. Ihn variierend, zitiert Haug einen Satz von<br />

Marx, der den Punkt trifft: „Die Ideen blamieren sich (...) in der<br />

Geschichte überall dort mit Notwendigkeit, wo nicht kräftige soziale<br />

Interessen sich in ihnen ausdrücken" (106). Dem in ihrer Ideenproduktion<br />

auszuweichen, stempelt die Mehrzahl der kritisierten Vorlesungen


Soziale Bewegung und Politik 441<br />

zur Ideologie, die vielfalls schon bloßes Zitieren als solche demaskieren<br />

konnte. Die weitere Demaskierung lieferte Haugs differenzierte Wissenschaftskritik:<br />

nicht auf den Kraftakt einer Abfertigung des Professorenverstands<br />

zielte sie ab; nicht wird es den armseligen Wissenschaftlern<br />

angelastet, daß Wissenschaft den „Rückzug in unpolitische<br />

und überzeugungsfreie Wertlosigkeit und damit in den Dezisionismus<br />

der Anpassung" (81) weiterhin praktiziert. „Der Akzent liegt ganz auf<br />

der autonomen Seite von Gedanken" (83). Daß sie die Ursachen der<br />

analysierten Hilflosigkeit zugleich als die Hilflosigkeit der Wissenschaft<br />

überhaupt aufdeckte, ist eine weitere Qualität der Schrift und<br />

eine pädagogische wiederum. Klassizität darf das Büchlein beanspruchen<br />

gerade wegen dieser pädagogischen Nützlichkeit.<br />

Michel van Nieuwstadt (Nijmegen)<br />

Dahle, Wendula: Der Einsatz einer Wissenschaft. Eine<br />

sprachinhaltliche Analyse militärischer Terminologie in der Germanistik<br />

1933—1945. Verlag H. Bouvier u. Co., Bonn 1969 (309 S., kart.,<br />

44,—DM).<br />

Die Arbeit trennt sich in einen theoretischen Teil und eine reichhaltige<br />

Dokumentation, die „sämtliche Zitate aus Einzelschriften,<br />

Sammelbänden und Zeitschriften (auf)führt, die dem theoretischen<br />

Teil der Arbeit als Material zugrunde liegen" (141) und samt Quellennachweis<br />

und Bibliographie den größten Teil des Buches ausmacht.<br />

Ein Schlagwortregister' und ein ,Alphabetisches Autorenverzeichnis<br />

mit biographischen Angaben' komplettieren den Dokumentationsteil.<br />

Die ,Schlagworte' sind die der Germanistik 1933—1945, die alphabetisch<br />

verzeichneten Autoren ihre damaligen Verwender. „Das<br />

Schlagwortregister im ganzen ist geeignet, einen Überblick darüber zu<br />

geben, auf welche Weise und in welchem Umfang Wissenschaftler sich<br />

einer in Wortwahl und Metaphorik normierten Sprache bedienten, mit<br />

der sie teils offen nationalsozialistische Ideologie und Politik propagierten,<br />

teils jeweils nur einzelne Elemente dieser Ideologie aufnahmen,<br />

die sich jedoch einem für den nationalsozialistischen Staat konstitutiven<br />

komplexen System inhärenter Wertungen widerspruchslos<br />

einfügten" (143). Worüber das ,Schlagwortregister' bloß den Überblick<br />

bietet, das sucht der erste, theoretische Teil auf den <strong>kritische</strong>n Begriff<br />

zu bringen.<br />

Am Versuch Wendula Dahles, die Frage nach der auch sprachlichen<br />

Nachweisbarkeit eindeutiger Komplizenschaft der germanistischen<br />

Professoren und des Deutschunterrichts 1933—1945 mit dem Nationalsozialismus<br />

zu beantworten, fällt zunächst auf, daß ihre Arbeit theoretisch<br />

über den Beleg dieser Komplizenschaft, die handgreiflich ist und<br />

der weiteren Belege wohl nicht mehr bedürfte, kaum hinausgelangt;<br />

neu an der Untersuchung allerdings ist, daß sie es möglich macht, das<br />

Bild der genannten Komplizenschaft dahingehend auszuweiten, daß<br />

jetzt auch anhand von sprachlichen Übereinstimmungen — des Wortschatzes<br />

etwa — das generelle Bild einer gleichgeschalteten' Germani-


442 Besprechungen<br />

stik festgestellt ist. Hier interessiert jedoch weniger dies thema probandum,<br />

sondern vielmehr wäre die Relevanz gerade dieses Teilthemas<br />

zu befragen, wären Methode und Kriterium, kurz: die Beweisführung<br />

selbst zu prüfen.<br />

Die Blickrichtung der Arbeit nun ist die einer sich mit der eigenen<br />

Vergangenheit kritisch beschäftigenden, aber doch traditionellen Germanistik,<br />

die als ihr Ideal eben die Autonomie setzt, deren sie in der<br />

NS-Zeit verlustig gegangen war und deren Verfall als ein Charakteristikum<br />

ihrer damaligen Entwicklung studiert wird. Das Leitbild der<br />

autonomen Germanistik zeichnet sich nur hintergründig ab, — eine<br />

zentrale Stelle der Arbeit jedoch hätte ohne dieses Leitbild nicht folgendermaßen<br />

formuliert werden können: zu den ,nicht soldatischen<br />

Bereichen', „in die der Wortschatz des militärischen Feldes eingedrungen<br />

war ... gehörte auch die Germanistik im Dritten Reich. Man kann<br />

feststellen, daß Begriffe wie Kampf, Held, Einsatz, Haltung, Front,<br />

Schlacht, Krieg u. a. m. von vielen Vertretern dieses Faches offensichtlich<br />

in der Absicht verwendet wurden, den direkten Bezug zum<br />

militärischen Bereich herzustellen; das wird besonders in den Fällen<br />

deutlich, in denen Bilder und Termini des militärischen Feldes in Zusammenhängen<br />

auftauchen, die den Gebrauch militärischer Wendungen<br />

nicht erfordern" (29). So zehrt, wenn sie sich festmacht an einem<br />

.Einbruch' militärischer Terminologie in die Germanistik, die Beweisführung<br />

doch von der zweifelhaften Vorstellung, faschistische Inhalte<br />

seien von außen in die damalige Germanistik eingedrungen. Faschistische<br />

Prädispositionen, die die Germanistik oder einzelne Wissenschaftler<br />

vor 1933 aufbereiteten, werden kaum beachtet; vom ,militarisierten'<br />

Rahmen des vorfaschistischen Schul- und Hochschulunterrichts<br />

nicht gesprochen. Im wesentlichen kritisiert die Untersuchimg<br />

nichts anderes als „die ,illegitimen Übertragungen' militärischer Terminologie<br />

auf Gegenstand und Methode germanistischer Arbeiten" (65).<br />

Unterstellt wird die ,neutrale' Wissenschaftssprache der vorfaschistischen,<br />

bürgerlichen Germanistik. Bei den vier Wörtern ,Kampf',<br />

,Held',,Einsatz', .Haltung', die die Autorin einer detaillierten Inhaltsanalyse<br />

(vgl. 30—62) unterzogen hat, wird notiert: „Es handelt sich<br />

um Ausdrücke, deren Bezug zum kämpferischen bzw. soldatischen Bereich<br />

nie gelöst wurde; sie wurden ... als ausdrücklich positive Werte<br />

verstanden, da sie einen Bereich repräsentierten, der für das menschliche<br />

Verhalten und für die Ordnung gesellschaftspolitischer Komplexe<br />

als beispielhaft galt. Diese Begriffe ... drückten normierte Mentalitätsinhalte<br />

aus. Durch die erneute Reduzierung auf ihre ursprüngliche<br />

Bedeutung standen diese Wörter nicht mehr im ,bedeutungsfreien<br />

Bereich'" (29 f.). Und an anderer Stelle: „Bei den vier in dieser<br />

Arbeit untersuchten Begriffen ... handelt es sich um Sprachmaterial,<br />

das durch die Militarisierung aller Lebensgebiete im Dritten Reich<br />

seine Neutralität (!) verloren hatte" (62). Zu ihrem Zweck hatte die<br />

Autorin den etwas faden Versuch zu unternehmen, zwischen normalem<br />

civil fall-out des militärischen Wortschatzes in der ,zivilen' Sprache<br />

und einer Überschreitung der Grenzen dieses Normalen zu unterscheiden<br />

(23—30). — In der .Einleitung' rangiert „die sonst für Wissenschaft-


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Soziale Bewegung und Politik 459<br />

„eine ausreichende Sachkenntnis und fundierte Unterlagen fehlten"<br />

(<strong>VI</strong>II). Damit aber wird Objektiv von vornherein auf die Lösung des<br />

Problems der Willensbildung verzichtet und auch die Strukturuntersuchung<br />

in ihrer Zielstellung wesentlich eingeschränkt.<br />

Das nationalsozialistische Machtsystem ist eine hochgradig formierte<br />

und staatsmonopolistisch strukturierte Gesellschaft, in der<br />

nicht nur das Monopolkapital mit dem Staat engmaschig verflochten<br />

ist, sondern wo sich die Exekutivorgane des Staates gegenüber der<br />

Legislative verselbständigen und es dabei zu einer engen Verflechtung<br />

zwischen Großindustrie, faschistischer Partei und diesen Exekutivorganen<br />

kommt. Um diese komplizierte Struktur und ihre<br />

Funktion und dazu noch in den einzelnen Entwicklungsetappen ihrer<br />

Herausbildung zu verstehen, kann sie in ihrer jeweiligen historischen<br />

Situation nur komplex analysiert werden. Doch Diehl-Thiele konnte<br />

sich zu einer derartigen historischen Analyse nicht durchringen. Er<br />

geht von der Totalitarismus-Doktrin Buchheims aus (27 f.) und findet<br />

so mit seiner Konzeption nicht den Ansatz der eigentlichen Tiefenproblem-Stellung.<br />

Damit liefert das Buch nur in Detailuntersuchungen<br />

bemerkenswerte Ergebnisse, ohne jedoch diese ausnutzen zu<br />

können, um zu einer fundierten Machtanalyse des Nationalsozialismus<br />

vorzudringen. Das ist eigentlich sehr zu bedauern, da sich der<br />

Autor durchaus als Sachkenner der Materie auszuweisen vermag.<br />

Die nationalsozialistische Partei, die durch einen Kompromiß beider<br />

Hauptmonopolgruppen Schwer- und Chemieindustrie und infolge -<br />

der Schwäche der demokratischen Kräfte die politische Macht in<br />

Deutschland übernehmen konnte, vermochte den Rivalitätskampf<br />

zwischen den beiden großindustriellen Konzeptionen und Machtgruppierungen<br />

niemals zu egalisieren. Bei der nach 1933 rasch zunehmenden<br />

Verflechtung von Großindustrie, Staat und Partei kam<br />

diese Rivalität bald zum Ausbruch. Da aber Diehl-Thiele diesen gesellschaftlich<br />

tragenden Hintergrund nicht zu erkennen vermochte,<br />

blieb ihm die ganze Strukturdynamik zwischen Partei und Staat und<br />

ihre jeweilige Gewichtung im Gesamtherrschaftssystem unverständlich.<br />

Er mußte das ganze Problem aufgrund seiner Totalitarismus-<br />

Konzeption statisch sehen und als einen Machtkampf zwischen Partei<br />

und Staat deuten. Damit aber reduziert er den ganzen vielschichtigen<br />

Prozeß auf einige vordergründige Erscheinungen und verschiebt damit<br />

die ganze Problematik der inneren Machtstruktur. Infolgedessen<br />

vermag der Autor einige dieser Tiefenstruktur-Probleme und Machtkämpfe<br />

auch gar nicht zu erkennen. Unbeantwortet muß daher bleiben,<br />

warum sich bestimmte Rivalitäten entwickelten und welche<br />

Auswirkungen sie hatten, sowohl in der Willensbildung als auch in<br />

der ihr dienenden Machtstruktur. Da überhaupt nicht angedeutet<br />

wird, daß es zwischen den beiden stärksten Gruppen der Industrie<br />

einen Rivalitätskampf um die Führung in der Gesellschaft gab, der<br />

1934 erst zugunsten der Schwerindustrie, 1936 schließlich zugunsten<br />

der Chemieindustrie entschieden wurde, bleiben die einzelnen Kapitel,<br />

so materialreich sie auch sind, ohne inneren Zusammenhang.<br />

Selbst in den einzelnen Kapiteln, wo Diehl-Thiele Hitlers Taktik und


460 Besprechungen<br />

Technik der Herrschaftsausübung (prinzipiell in der Einleitung, an<br />

verschiedenen konkreten Beispielen in den folgenden sechs Kapiteln)<br />

zu belegen sucht, trennt er nicht scharf Ursächliches von Abhängigem.<br />

Das trifft besonders dort zu, wo sich die großindustriellen Rivalitäten<br />

innerhalb der Partei selbst vollzogen oder sogar als Gegensatz<br />

zwischen Partei und Staat erscheinen. Freilich, der Gesamtprozeß<br />

ist tief gestaffelt und widerspruchsvoll, und es ist sehr kompliziert,<br />

hier hineinzuleuchten. Außerdem mag eingewandt werden,<br />

daß sich ja Diehl-Thiele von vornherein abgegrenzt hat, wozu also<br />

derart hohe Anforderungen stellen. Hier muß aber gesagt werden,<br />

daß gerade diese Abgrenzung den Widerspruch des Rezensenten provoziert,<br />

denn die Akribie Diehl-Thieles hätte im Interesse der Lösung<br />

des angeschnittenen Problems diese Abgrenzug nicht zulassen<br />

dürfen. Der Historiker kann sich eben von der Untersuchung primärer<br />

Gewichtungen nicht befreien, wenn er zur historischen Realität<br />

und zur lebenswahren Dynamik vordringen will, er darf nidit<br />

ausweichen und sich in eigene Konstruktionen zurückziehen.<br />

Unter Berücksichtigung dieser prinzipiellen Einwände soll vor<br />

allem auf den hohen Informationsgehalt des sechsten Kapitels verwiesen<br />

werden. Doch auch hier bleiben wichtige Quellen ungenutzt<br />

(wie es der Autor überhaupt verschmähte, das Material der Nürnberger<br />

Prozesse gründlich auszuwerten) und damit wesentliche Zusammenhänge<br />

unklar. Das Ausweichen in storyhafte Details und<br />

bildhafte Vergleiche kann diese Schwächen weder ausgleichen noch<br />

vertuschen. Daß Diehl-Thiele sich dem konservativen Literatur-Kartell<br />

unterordnet und nicht wagt, marxistische Literatur anzugeben<br />

und sich mit ihr auseinanderzusetzen, hat letztlich seiner Arbeit nur<br />

geschadet. Insgesamt kann man die Arbeit nur wegen ihrer Materialfülle<br />

heranziehen.<br />

Eberhard Czichon (Berlin)<br />

Mommsen, Hans: Beamtentum im Dritten Reich. Mit<br />

ausgewählten Quellen zur nationalsozialistischen Beamtenpolitik.<br />

Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Nr. 13.<br />

Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1966 (246 S., Pb., 9,80 DM).<br />

Sowohl grundsätzliche Vorzüge als auch Fragwürdigkeiten dieser<br />

Publikation lassen sich schon andeutungsweise erkennen, wenn man<br />

ihre deklarierte Ausgangsposition bedenkt. Der Verf. will die inneren<br />

Probleme des „Dritten Reiches" untersuchen, deren Erforschung<br />

er angesichts einer immer noch gängigen pauschalen Totalitarismus-<br />

Theorie zu Recht als mangelhaft bezeichnet. Dabei schickt er voraus,<br />

daß der NS-Staat „kein monolithisch strukturiertes, von einheitlichem<br />

politischen Willen durchströmtes Herrschaftsgebilde" (18) gewesen<br />

sei. Vielmehr habe er ebenso auf traditionalen Elementen beruht,<br />

wie er diese auch parasitär ausnützte und zersetzte (ebd.). Somit<br />

wird das wachgerufene Interesse an der Anatomie des herrschenden<br />

deutschen <strong>Faschismus</strong> abstrakt auf „Elemente" und kon-


Soziale Bewegung und Politik 461<br />

kurrierende Machtgruppen fixiert, welche dann in die Kategorien<br />

Staat und Partei gefaßt werden, ohne daß ihr materialer Gehalt,<br />

ihre sozio-ökonomischen Hintergründe und Vermittlungen diskutiert<br />

oder erwähnt würden.<br />

Anhand von ca. 50 ungedruckten, nur intern zugänglich gewesenen<br />

Aktenstücken breitet M. den steten Kleinkrieg zwischen der höheren<br />

Reichs- und preußischen Ministerialbürokratie einerseits und der<br />

NSDAP — hier besonders vertreten durch die Dienststelle des<br />

„Stellvertreters des Führers", später die Parteikanzlei Martin Bormanns<br />

— andererseits aus. Die Ansprüche letzterer auf personalpolitische<br />

Kontrolle der Beamtenschaft, bevorzugte Behandlung von<br />

ihr angehörenden Staatsbediensteten und zahlreiche Kompetenzkonflikte<br />

bezeichnet Verf. als Ausfluß mangelnden Sinns des NS für<br />

staatliche Ordnung und Organisation sowie Bürokratie überhaupt<br />

(20, 64). Desgleichen hätten das a-staatliche Denken Hitlers (121),<br />

dazu sein und der Partei Desinteresse an definitiven Kompetenzfestlegungen<br />

(98 f.), zu einer institutionellen Verwilderung geführt,<br />

die sich leistungsmindernd auswirken sollte (31). Dies ist im Sinne<br />

formeller Rationalität sicher nicht falsch; doch bleibt hier zu fragen,<br />

ob der auf dem Beamtentum beruhende Anstaltsstaat preußischer<br />

Prägung mit seiner für die Verwaltungskontinuität erforderlichen<br />

Bindung an selbstgesetzte rechtliche Normen nicht gerade zum.<br />

Hemmnis für das deutsche Monopolkapital in der damaligen Situation<br />

geworden war und vielmehr irrationalistischer Dezisionismus<br />

seinem politischen Überbau besser entsprach. (Vgl. Franz Neumann,<br />

Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft<br />

in: Demokratischer und autoritärer Staat, Frankfurt/M., 1967,<br />

S. 67 ff.) Die von M. betonte „fortschreitende Zersetzung des überkommenen<br />

Obrigkeitsstaates" (13) unterm <strong>Faschismus</strong> beruht wohl<br />

auch auf dieser Dialektik.<br />

So blieb die Beamtenschaft ein Stabilitätsfaktor, zumal verschiedene<br />

den öffentlichen Dienst regelnde Gesetze ihre Struktur kaum<br />

veränderten (59), und die Geschichte ihrer „Selbstbehauptung" (15)<br />

bestand darin, daß sie Vollstrecker und partiell Gegenspieler sein<br />

konnte; letzteres nur in dem Maße, wie sie manche selbstzerstörerische<br />

Tendenzen des Regimes hemmte und somit wieder ihre herkömmliche<br />

Pflicht erfüllte. Hitlers Befürchtungen auf Sabotage (146)<br />

blieben unbegründet. Der Verfasser meint, das im Liberalismus verwurzelte<br />

traditionelle Berufsbeamtentum sei in der pluralistischen<br />

Industriegesellschaft schon vor 1933 überholt gewesen (24). Hätte er<br />

statt dessen von der antagonistischen Klassengesellschaft gesprochen,<br />

so wäre die Problematik wohl offenkundiger. Immerhin macht diese<br />

nützliche Veröffentlichung unausgesprochen deutlich, daß die Integration<br />

von Staat und Gesellschaft im <strong>Faschismus</strong> nicht mittels eines<br />

homogenen Beamtentums erfolgte, wie konservative Ideologen hofften<br />

(vgl. die Schulenburg-Denkschriften 137 ff., 146 ff.); dies schon<br />

aus dem Grunde, weil die gesellschaftliche Reproduktion kaum auf<br />

primär politisch-institutionellem Wege erfolgt.<br />

Michael-Viktor Graf Westarp (Berlin)


462 Besprechungen<br />

Conway, John S.:DienationalsozialistischeKirchenpolitik<br />

1933 — 1945. Christian Kaiser Verlag, München 1969<br />

(383 S., geb., 32,— DM/Ln., 35,— DM).<br />

Es handelt sich um die erste Gesamtdarstellung des Themas. Der<br />

Autor, Historiker in Vancouver (Kanada), vermeidet viele apologetische<br />

Geschichtsfälschungen, wie sie bisher üblich waren. Er gibt zu,<br />

daß es den Kirchen fast nur um kirchliche Interessen ging (104 f.), daß<br />

selbst Gegner der NS-Kirchenpolitik Anhänger Hitlers waren und<br />

daß sich auch die Bekennende Kirche oft sehr faschismusloyal verhielt<br />

(22). Conway nimmt Rücksicht auf innere Widersprüche in der<br />

NS-Führung (Ribbentropp, Goebbels und Rosenberg auf dem gemäßigten,<br />

Himmler, Heydrich und Bormann auf dem radikalen Flügel<br />

in Fragen der Kirchenpolitik). Der Kampf gegen die Kirchen habe<br />

1936/37 seinen Höhepunkt ereicht (160). Dieser Kampf (176—180),<br />

vor allem in der Form von Sittlichkeitsprozessen und Pressekampagne,<br />

scheint mehr Gewicht zu haben als die Ermordung von Tausenden<br />

von Geistlichen und Kirchenmitgliedern in den seit 1939 besetzten<br />

Gebieten. Wie wenig erfolgreich die NS-Kirchenpolitik war,<br />

ließe sich daraus sehen, daß auch 1939 95 % der Deutschen sich als<br />

eingeschriebene Mitglieder der christlichen Kirchen bekannten (247).<br />

Widersprechende Reste der älteren Forschung blieben erhalten: die<br />

Bekennende Kirche sei der NS-Tyrannei unerschütterlich entgegengetreten<br />

(12) und Hitler habe für die Kirchenpolitik ein klares Konzept<br />

gehabt (116 f.; die Leugnung dieser These, 121). Auch sind viele<br />

Lücken geblieben. Keine Spur von sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen,<br />

von Großindustrie und Banken. Unterstützung erfährt der<br />

NS nur durch die Wähler (31), natürlich nicht durch das Kapital. Der<br />

<strong>Faschismus</strong> entspringt direkt Hitlers Kopf. Eine Begründung für den<br />

Antisemitismus, den Nationalismus, den Antiklerikalismus fehlt, die<br />

vom Himmel in das Blickfeld des erstaunten Archivars fallen. Die<br />

religiöse Nabelschau Conways geht so weit, daß er die Selbstauflösung<br />

der katholischen Gewerkschaft am 3. Mai 1933 erwähnt (82),<br />

ohne die Mitteilung, daß die nichtchristlichen Gewerkschaften am<br />

Tag vorher durch die Faschisten zerschlagen worden waren. Conway<br />

unterschlägt den radikalen Flügel in der Bekennenden Kirche, z. B.<br />

die Kirchlich-theologische Sozietät in Württemberg, und bleibt auf<br />

die Märtyrer Bonhoeffer, Niemöller u. a. fixiert (siehe das theologische<br />

Loblied auf die Märtyrer, 352). Es fehlt eine angemessene Berücksichtigung<br />

der faschistischen Theologieprofessoren, die durch die<br />

Erziehung des Nachwuchses von großer Bedeutung waren (vgl.<br />

Braune Universität, Deutsche Hochschullehrer gestern und heute.<br />

Hrsg. von Rolf Seeliger. 6 Hefte. München 1964—68). Ein weiterer<br />

Mangel ist die fehlende Differenzierung nach den Regionalverhältnissen.<br />

Insgesamt bleibt unklar, warum die Geschichte der NS-Kirchenpolitik<br />

so und nicht anders verlaufen ist. Sie lief eben so. Hier<br />

rächt sich, daß Conway den Zusammenhang der Kirchenpolitik mit<br />

der allgemeinen Entwicklung des NS aus dem Blick verlor.<br />

Den roten Faden der Darstellung bildet eine kirchentreue, apologetische<br />

Haltung. Der Kirdienkampf richtete sich nach Conway gegen


Soziale Bewegung und Politik 463<br />

eine Elite (10). Die Barmer Erklärung aus dem Jahr 1934, die übrigens<br />

im Entwurf Karl Barth alleine schrieb (vgl. 15), sei „zum theologischen<br />

Rettungsanker in der stürmischen See" geworden (104).<br />

Das Widerstandszeugnis weniger Kirchenmänner habe die Kirchen<br />

vor dem gänzlichen Abfall bewahrt (194). Conway interessiert sich<br />

nicht für Widerstandskämpfer aus den untersten Schichten der<br />

Kirchen. „Ihr (Bonhoeffers und Delps, HGH) Schicksal und das vieler<br />

anderer Christen, die nach dem 20. Juli 1944 hingerichtet worden<br />

sind, ist ein stichhaltiger Beweis für die unversöhnliche Feindschaft<br />

des NS gegen die Kirchen" (304). Das genügt Conway. Seine Apologetik<br />

findet ihre Unterstützung in der Ideologie der herrschenden<br />

Klasse. Der Tod der Soldaten im Ersten Weltkrieg war ein „tragisches<br />

Opfer" (26). Dann kam mit Hitler genau der Richtige: „Als nun<br />

Adolf Hitler in Deutschland mit einem Programm und Versprechungen<br />

auftrat, die darauf ausgerichtet waren, bei den Gescheiterten und<br />

Entmutigten Anklang zu finden, war die Zeit reif dafür, ihm Vertrauen<br />

zu schenken ..." (27). Aber mehr als die Hälfte des deutschen<br />

Volkes war anderer Meinung als Conway. Nur gibt es für ihn keine<br />

Bedürfnisse und Hoffnungen auf der Linken. Es versteht sich, daß<br />

der NS durch und durch revolutionär war (41, 47, 51, 62, 110, 122, 136<br />

usw.). Seine Kirchenpolitik habe die Hebertisten, den militant-atheistischen<br />

Flügel der französischen Jakobiner, zum Vorbild gehabt<br />

(344 f.). Durch keine Quelle ist diese Theorie zu stützen. Jakobinermütze<br />

gleich Braunhemd, so hat mans gerne bei der herrschenden<br />

Klasse. — Weiter wollte Hitler die alte Gesellschaftsordnung stürzen,<br />

die freilich ohne ökonomische Fundierung gewesen zu sein<br />

scheint. Hitler war getrieben von Machthunger (61, 89, 118) und<br />

schuf eine neue deutsche Volksgemeinschaft (87), die in den Nationalsozialisten<br />

Vorkämpfer eines neuen weltanschaulichen Machtfaktors<br />

in der europäischen Kultur gehabt hätte (160). Hitler sei vergöttlicht<br />

worden (161), der NS eine Ersatzreligion, ein Götzendienst usw.; nur<br />

sei die NS-Führung zu echter Hingabe an Hitler nicht fähig gewesen<br />

(166).<br />

Conways Buch ist dünnpfiffig. Eine historische Arbeit kann man<br />

dieses Theologisieren nicht nennen. Selbst die Darstellung der NS-<br />

Weltanschauung (161—176) ist untauglich. Es fehlen Quellen- und<br />

Literaturverzeichnis. Der Abdruck von bisher unveröffentlichten Dokumenten<br />

(364—379) verbessert dieses Buch kaum.<br />

Hellmut G. Haasis (Tübingen)<br />

Deschner, Karlheinz: Kirche und <strong>Faschismus</strong>. Jugenddienst-<br />

Verlag, Wuppertal 1968 (94 S., brosch., 6,80 DM).<br />

Der Titel der Broschüre — es handelt sich um eine Kurzfassung<br />

von Deschners „Mit Gott und den Faschisten" (Stuttgart 1965; dort<br />

mit Quellenverweisen) — müßte eher „Vatikan und <strong>Faschismus</strong>" lauten,<br />

denn von der protestantischen Kirche erfährt man fast nichts.<br />

Die Arbeit bietet viel Material, vor allem Zitate, die die vatikanische


464 Besprechungen<br />

Duldung und Rechtfertigung der Ermordnung von Millionen Menschen<br />

belegen. Freilich bleibt diese Anklage gegen die Kumpanei von<br />

.<strong>Faschismus</strong> und Kirche politisch ohnmächtig, da die Darstellung sich<br />

fast ausschließlich auf faschistische Äußerungen, nicht aber auf die<br />

gesellschaftliche Interessenidentität von <strong>Faschismus</strong> und Kirche<br />

stützt; sie ermöglicht so auch nicht, die heutigen Friedenspredigten<br />

des Vatikans auf die Fortdauer der Interessenidentität von Kirche<br />

und Kapitalismus bzw. Imperialismus zu beziehen.<br />

Deschners Arbeitsweise (Auszüge aus Reden, Schriften und Briefen)<br />

fixiert das Problem auf Personen, besonders auf die Päpste<br />

Pius XI. und Pius XII., was das Problem ebenso verharmlost wie die<br />

Definition des <strong>Faschismus</strong> als Cliquenbildung politischer Berufsverbrecher.<br />

Zudem können viele der Zitate die persönliche Beteiligung<br />

nicht einmal beweisen, da auch gegenteilige Äußerungen beigebracht<br />

werden können. Die Kirche setzt immer auf mehrere Pferde, damit<br />

sie auf jeden Fall vorne bleibt. Deschner fehlt jegliche sozialwissenschaftliche<br />

Fundierung. Unerklärt bleibt bei ihm, was den <strong>Faschismus</strong><br />

ermöglichte und welche Voraussetzungen der christlichen Religion<br />

zur Haltung des Vatikans führen konnten. So sehr Deschner die<br />

Kirche anklagt, kommt diese doch noch einmal glimpflich davon, da<br />

ihre gesellschaftliche Grundlage und die dazu passende religiöse Konzeption<br />

im Dunkeln bleiben. Deschner erkennt wohl, daß der Spanische<br />

Bürgerkrieg kein Religionskrieg war (25), verschweigt aber, was<br />

er sonst war. Solange die Empörung über den <strong>Faschismus</strong> und dessen<br />

religiöse Kollaborateure nicht über persönliche Vorwürfe und Rechtskategorien<br />

zu sozialwissenschaftlichen Analysen vordringt, können<br />

beide, <strong>Faschismus</strong> und Kirche, notfalls in einer modernisierten Form,<br />

fortexistieren.<br />

Hellmut G. Haasis (Tübingen)<br />

Brandenburg, Hans-Christian: Die Geschichte der HJ. Verlag<br />

Wissenschaft und Politik, Köln 1968 (348 S., Ln., 24,— DM).<br />

In der hier vorliegenden Studie versucht Brandenburg nicht nur<br />

„eine <strong>kritische</strong> Geschichte der HJ vorzulegen" (11), sondern „darüber<br />

hinaus ... die Entwicklung der jungen Generation zwischen den beiden<br />

Kriegen (zu) skizzier(en)" (11). Dies ist aber insofern unzutreffend,<br />

als er sich fast ausschließlich mit den organisierten Teilen der Jugend<br />

beschäftigt. Welchen Teilen der Jugendbewegung neben der HJ dabei<br />

seine besondere Aufmerksamkeit gilt, verdeutlicht ein Blick auf das<br />

Inhaltsverzeichnis: Der „bündischen Jugend" widmet er 44 Seiten, den<br />

konfessionellen Jugendverbänden 20 Seiten und der Studentenschaft<br />

mit 12 Seiten immer noch eine Seite mehr als den Organisationen der<br />

Arbeiterjugend. Dies steht fast im umgekehrten Verhältnis zur organisatorischen<br />

Stärke und politischen Bedeutung der angeführten Jugendorganisationen.<br />

Noch deutlicher wird dieses Mißverhältnis, wenn<br />

er über den Widerstand gegen das NS-Regime schreibt: Der „bündische<br />

Widerstand" füllt 24 Seiten, der der Arbeiterjugend 3 (!) Seiten. „Eine<br />

eindeutig feindliche Einstellung zur HJ und zum Streifendienst" (212)


Soziale Bewegung und Politik 465<br />

oder das Singen verschiedener Lieder wie: „Rübezahl, Dir will ich's<br />

klagen: / Land und Volk sind nicht mehr frei. / Schwingt die Keulen<br />

wie in alten Tagen, / Macht die bündische Jugend frei!" (304) als Widerstandshandlungen<br />

zu klassifizieren, zeigt ein bemerkenswertes Ausmaß<br />

an Realitätsverlust. Da ihm die politischen Implikationen der verschiedenen<br />

Jugendverbände analytisch nicht zugänglich sind und er<br />

nur das „Sendungsbewußtsein der jungen Generation" (17), die „Ablehnung<br />

alles Alten" (17), kurz, den sogenannten Generationskonflikt<br />

sieht, erscheint ihm auch Hitler als „moderner Rattenfänger von Hameln"<br />

(21), der die „Einsatzbereitschaft" (21) der Jugendlichen mißbrauchte.<br />

Den Unterschied zwischen der HJ und der „bündischen<br />

Jugend" kann Brandenburg daher nur in formalen Kategorien, nämlich<br />

der Abhängigkeit und der Unabhängigkeit von Parteien, „alten<br />

Herren" etc., fassen. Somit wird 1926 für ihn zum entscheidenden<br />

Datum, das den Übergang der HJ „vom freien Jugendbund zur doktrinären<br />

Parteijugend" (30) markiert, da damals die Befehls- und Entscheidungsgewalt<br />

an die NSDAP überging.<br />

Da Brandenburgs <strong>Faschismus</strong>begriff der des Totalitarismus ist (z. B.<br />

119, 139) tauchen nicht nur alle längst bekannten Stereotypen westdeutscher<br />

Historiographie, wie „Führerpersönlichkeit" (20), „Dämonie"<br />

(132) * der „Mißbrauch der Vaterlandsliebe" (177) und schließlich<br />

das große Wundern, wie denn das alles so kam (141) auf, sondern<br />

kann er auch die wesentlichen Probleme der HJ, wie Struktur<br />

Funktion und Ideologie dieser Bewegung, nicht thematisieren.<br />

Die Bilanz, die Brandenburg zieht, sieht auch danach aus: „Sie (die<br />

HJ) hatte als Kampfjugend des Jung-Nationalsozialismus (!) begonnen,<br />

die nach der Machtübernahme Hitlers zur Staatsjugend wurde<br />

und die Freiheit (!) an die Macht verkaufte" (234).<br />

Karl Unger (Marburg/Wien)<br />

Müller, Klaus-Jürgen: Heer und Hitler. Armee und nationalsozialistisches<br />

Regime 1933—1940 (Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte<br />

Bd. 10). Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart 1969 (700 S.,<br />

Ln., 38,— DM).<br />

Die materialreiche und methodisch reflektierte Untersuchung versteht<br />

sich als Beitrag zur Geschichte des militärischen Widerstands im<br />

<strong>Faschismus</strong> (vgl. insbes. Kap. V—<strong>VI</strong>II, 205—377). Sie bemüht sich um<br />

den Abbau des Rankenwerks von Fehlinterpretationen und Legenden,<br />

die eine weitgehend apologetische Literatur um die faschistische<br />

Wehrmacht und insbesondere Figuren wie Beck und Fritsch gewunden<br />

hat I . Die eingehende Analyse der innermilitärischen Befehls- und<br />

* Zu „Führerpersönlichkeit" und „Dämonie" vgl. die betreffenden<br />

Exkurse in „Das Argument" 33, S. 7—10 bzw. 13—17.<br />

1 Symptomatisch dafür ist das mehrfach wiederaufgelegte Buch von<br />

Wolf gang Foerster, Ein General kämpft gegen den Krieg: Aus nachgelassenen<br />

Papieren des Generalstabschefs Ludwig Beck, München 1949.


466 Besprechungen<br />

Machtstruktur (143 ff., 205 ff.), die freilich die Spannungen zwischen<br />

Heeres- und Wehrmachtsführung überbewertet, und die Interpretation<br />

der Denkschriften Becks aus den Jahren 1937 und 1938 (222 ff.,<br />

301 ff.) fördern Einsichten zutage, wie sie eine unvoreingenommene<br />

Lektüre der Quellen ohnehin hätte nahelegen müssen. Zugestanden<br />

wird, daß die Ablehnung der faschistischen Expansionspolitik durch<br />

das Militär nicht „prinzipieller, sondern relativer Natur" (236) war;<br />

daß Opposition dergestalt auf „Opposition aus Opportunität" (251)<br />

sich beschränkte. Im Hinblick auf Beck konstatiert Müller „prinzipielle<br />

Übereinstimmungen mit einigen Vorstellungen Hitlers" (250),<br />

eine vorbehaltlose Anerkennung der „Notwendigkeit und Berechtigung<br />

einer Revisionspolitik, mehr noch: einer nationalstaatlichen Expansions-<br />

und Machtpolitik"; Becks Vorbehalte beschränkten sich auf<br />

die derzeitige „Durchführbarkeit" und „Opportunität" einer solchen<br />

Politik (251). Auch für den vagen Plan einer kollektiven Rücktrittsdrohung<br />

der Generalität im Sommer 1938 gilt: „Die Person des<br />

Staatsoberhaupts war für Beck damals bei aller unverhohlenen, heftigen<br />

Kritik noch unantastbar ... Es ging für ihn ... nicht um das<br />

politische System überhaupt, sondern um die Reform dieses Systems"<br />

(328). Müller charakterisiert denn auch die Pläne Becks euphemistisch<br />

und ohne Gespür für die Dialektik seiner Argumentation als „Reformprogramm"<br />

(329). Und in der Tat bleibt der Verfasser auch für die<br />

Folgezeit den Nachweis tatsächlichen „Widerstandes" schuldig (345 bis<br />

573 für den Zeitraum von 1938 bis Anfang 1940). Bezeichnend für die<br />

Methode dieser sublimen Form wissenschaftlicher Apologetik ist dabei,<br />

daß es ihr dennoch gelingt, der Reflexion über den Sinn der<br />

eigenen Fragestellung auszuweichen. Die Tatsachendarstellung enthüllt<br />

sich deshalb bei näherem Zusehen als Produkt einer methodischen<br />

Defensivstrategie, die beständig Teilwahrheiten für die ganze<br />

Wahrheit verkauft. Im einzelnen lassen sich vier Argumentationsebenen<br />

unterscheiden.<br />

1. Die Kritik der offenkundigsten Schwächen. Hierzu zählt in erster<br />

Linie das Staats- und Gesellschafts„ideal" des Militärs. Müller läßt<br />

keinen Zweifel daran, daß er das „Wunschbild eines starken, straff<br />

autoritär geführten, nationalistischen Machtstaates" (41) verurteilt<br />

und keinerlei Sympathie für die Neigung des Militärs zum „autoritär<br />

strukturierte(n) Obrigkeitsstaat" (21) hegt. Die prinzipielle Verwandtschaft<br />

solcher Vorstellungen mit faschistischen wird nicht geleugnet.<br />

2. Die Konstruktion einer „defensiven Mentalität" des Militärs.<br />

Dadurch soll der Eindruck einer aktiven Teilhabe des Militärs am<br />

Aufbau der faschistischen Gesellschaftsordnung abgeschwächt werden.<br />

Hierher gehört der durchaus kritisch gemeinte Hinweis auf die „offenkundige<br />

Hilflosigkeit (des Militärs) gegenüber totalitären Praktiken,<br />

die Blindheit gegenüber der sich verändernden Machtkonstellation,<br />

das nahezu widerspruchslose Zurückstehen, wenn .politische' Argumente<br />

ins Spiel gebracht wurden, ebenso auch das Reagieren und<br />

Handeln ausschließlich aus organisatorisch-technischen Denkkategorien<br />

heraus gegenüber Problemen von höchster politischer Tragweite<br />

..." (273). Eng damit verbunden ist


Soziale Bewegung und Politik 467<br />

3. die Mißverständnisthese. Sie beruft sich auf das angeblich gescheiterte<br />

Konzept der „Machtteilhabe durch Öffnung gegenüber dem<br />

Nationalsozialismus" (Reichenau, Blomberg 52 ff.) bzw. der „Machtteilhabe<br />

durch Abschirmung der Armee" (Fritsch 57). In diesem Zusammenhang<br />

weist Müller entschuldigend auf die „Verkennung des<br />

Wesens des nationalsozialistischen Staates", die „Fehlinterpretation<br />

des totalitären Einparteiensystems" (581) durch das Militär hin, auf<br />

„illusionäre Lagebeurteilung, irreale Hoffnungen und eine den machtpolitischen<br />

Erfordernissen unangemessene Geisteshaltung" (421). So<br />

wichtig der Nachweis des Zusammenhangs von Fehleinschätzung,<br />

Selbsttäuschung und Kooperationswilligkeit der bürgerlichen und militärischen<br />

Machteliten im <strong>Faschismus</strong> ist, so fragwürdig erscheint indes<br />

eine Kritik dieses Verhaltens, die statt auf spezifische Klasseninteressen<br />

auf abstrakte Normen (aufgeklärten) politischen Verhaltens<br />

zurückgreift. Gerade die Beurteilung des Konzepts der „Machtteilhabe"<br />

kann nicht auf die Analyse des militärisch-ökonomischen<br />

Macht- und Interessenbündnisses verzichten 2 . Eine solche Analyse<br />

hätte die Fragwürdigkeit des Müllerschen Widerstandskonzepts deutlich<br />

gemacht. Statt dessen überhöht Müller<br />

4. den „Spitzengliederungskonflikt" innerhalb des militärischen<br />

Sektors zum grundlegenden Konflikt zwischen der „dynamische(n)<br />

Methode Reichenaus" (OKW) und der „statische(n) primär abschirmende^)<br />

der Heeresleitung" (Beck, Fritsch, Halder; 576, vgl. 142 ff.,<br />

215 ff.). Zwar weist Müller wiederholt darauf hin, daß dieser Gegensatz<br />

„im taktischen und methodischen Bereich" liege (577; vgl. 132 f.),<br />

doch setzt sich die Konzeption, die auf den Nachweis von „Widerstand"<br />

festgelegt ist, gegen den Verfasser durch. Erst vor dem Hintergrund<br />

des zielbewußten Handelns Reichenaus und Blombergs im<br />

Sinne einer konsequenten Faschisierung der Armee können die taktischen<br />

und zögernden Einspruchsmanöver Fritschs, Becks und Halders,<br />

die stillschweigend mit der Armee oder deren „besserem" Teil<br />

gleichgesetzt werden, den Anschein von Widerstandshandlungen beanspruchen.<br />

Nur so kann schließlich der Eindruck aufrechterhalten<br />

werden, die Armee sei dem faschistischen Experiment zögernd und<br />

widerwillig gefolgt. Wie verkehrt dieser Eindruck ist, wie fragwürdig<br />

auch die Mißverständnisthese, hat die gleichzeitig erschienene Untersuchung<br />

von Manfred Messerschmidt gezeigt 3 .<br />

Die Zeit der offenen Apologien ist auch in der militärgeschichtlichen<br />

wissenschaftlichen Widerstandsliteratur vorüber; die sublimeren, die<br />

sie ablösen, erfüllen ihre Aufgabe nicht schlechter.<br />

Lutz Winckler (Würzburg)<br />

2 Die grundlegende Untersuchung von Arthur Schweitzer, Big Business<br />

in the Third Reich, Bloomington 1965 2 ist Müller offensichtlich unbekannt.<br />

3 Die Wehrmacht im nationalsozialistischen Staat, „Ideologie und Innere<br />

Führung" ; Hamburg 1969. Vgl. die Besprechung von R. Kühnl in diesem<br />

Heft, S. 262.


468 Besprechungen<br />

Förster, Gerhard: Totaler Krieg und Blitzkrieg. Militärhistorische<br />

Studien 10. Neue Folge. Hrsg. Deutsche Akademie der<br />

Wissenschaften zu Berlin, <strong>Institut</strong> für Geschichte, Abtlg. Militärgeschichte.<br />

Deutscher Militärverlag, Berlin/DDR 1967 (256 S., Pb.,<br />

15,60 MDN).<br />

Einen im Zusammenhang mit der <strong>Faschismus</strong>-<strong>Diskussion</strong> seltener<br />

behandelten Aspekt greift die vorliegende militärhistorische Arbeit<br />

aus der DDR auf: sie will „die Kontinuität des deutschen Militarismus"<br />

gerade auf dem Gebiet militärtheoretischen Denkens zeigen<br />

und darüber hinaus nachweisen, daß auch die Militärdoktrin Hitler-<br />

Deutschlands die Ursachen seiner „gesetzmäßigen Niederlage" widerspiegele<br />

(7 f.). Ausgehend von der auch nach 1918 weiterentwickelten<br />

Schlieffen-Doktrin, deren besondere Relevanz als militärtheoretischer<br />

Ausdruck deutschen imperialistischen Expansionsstrebens F.<br />

betont (25, 60 ff.), untersucht er die Wurzeln der <strong>Theorien</strong> von totalem<br />

Krieg und Blitzkrieg. Die sogleich 1933 einsetzenden Kriegsvorbereitungen<br />

hätten die Funktion gehabt, tiefe Widersprüche zwischen<br />

ökonomischer Macht und tatsächlicher Einflußsphäre des deutschen<br />

Kapitalismus zu lösen (18), wobei man seit dem 1. Weltkrieg<br />

die Bedeutung moralischer Faktoren — wie z. B. der notwendigen<br />

ideellen Einheit des eigenen Volkes — erkannt habe (12). Hier wird<br />

nun auch die Definition Dimitroffs vom <strong>Faschismus</strong> eingeführt, dessen<br />

Machtergreifung fast als Punkt einer bruchlosen Linie (17) erscheint.<br />

Dies hält der Autor wohl für um so einleuchtender, je mehr<br />

er die ideologische Übereinstimmung führender Militärs mit dem<br />

<strong>Faschismus</strong> konstatieren kann (23 ff.), wirkt aber so doch etwas mechanistisch.<br />

Mutet die Zurückführung der Theorie des totalen Krieges<br />

auf die „weitere(n) Zuspitzung der imperialistischen Widersprüche<br />

im Gefolge der allgemeinen Krise des kapitalistischen Systems"<br />

und die ungeheure Entwicklung der Produktivkräfte (67 f.)<br />

etwas schematisch und wenig konkret an, so wird treffend geschildert,<br />

wie die tatsächliche totale kriegswirtschaftliche Mobilisierung<br />

erst ab 1942/1943 einsetzte. Vorher stand die Furcht vor einem Stimmungseinbruch<br />

unter der deutschen Bevölkerung im Wege (98). An<br />

diesem Punkte auch gewann vorher die Blitzkriegstheorie ihre Notwendigkeit:<br />

schnelle Eroberung mangelnder Rohstoffbasen (101 f.)<br />

und moralische Überrumpelung der Bevölkerung überfallener Länder<br />

(189 ff.) wie auch des eigenen (105 f.) war die conditio sine qua non<br />

des Erfolges. „Alles oder Nichts" hieß die Parole des faschistischen<br />

va banque-Spieles (Vgl. Argument 33, S. 24 ff.).<br />

Wie der Verfasser schreibt, haben oft gerade die extremsten Vertreter<br />

dem modernen Krieg technisch angemessenere Vorstellungen<br />

entwickelt als konservativere Militärs (51), die sich wie z. B. Generaloberst<br />

Beck gegen den totalen Krieg sperrten (77 ff.) in der Illusion,<br />

diesen gleichwohl als imperialistischen führen zu können (80).<br />

Diese interessante Studie sollte westdeutsche Autoren anregen, die<br />

Grundlagen des so katastrophal gescheiterten deutschen „Möchtegern-Imperialismus"<br />

in seinen diversen Ausprägungen näher zu


Soziale Bewegung und Politik 469<br />

untersuchen. Daß dieser kein historisch erledigtes Phänomen sein<br />

muß, erhellt aus der noch nicht erfolgten Überwindung hochgradiger<br />

Irrationalität von ökonomischer Basis und spezifischen Ideologien,<br />

hier am Beispiel der Militärdoktrin widergespiegelt. F.'s Schluß<br />

allerdings, wonach die <strong>Theorien</strong> vom totalen und Blitzkrieg die geschichtliche<br />

Perspektivlosigkeit des deutschen Imperialismus offenbart<br />

hätten (210, 213) scheint in der theoretischen Behandlung des<br />

Materials nicht so zwingend wie aufgrund der Betrachtung im Nachhinein.<br />

Michael-Viktor Graf Westarp (Berlin)<br />

Jahnke, Karl-Heinz: Weiße Rose contra Hakenkreuz. Der<br />

Widerstand der Geschwister Scholl und ihrer Freunde. Röderberg-<br />

Verlag, Frankfurt/M. 1969 (96 S., brosch., 3,— DM).<br />

Obwohl es schon zahlreiche Darstellungen über den antifaschistischen<br />

Widerstand der Münchner Studenten gibt, ist diese neue Darstellung<br />

besonders zu empfehlen. Sie informiert knapp und präzis<br />

über die bisherigen Forschungsergebnisse, wertet aber auch bisher<br />

unbekannte Gerichtsakten aus und bietet eine Wirkungsgeschichte<br />

der Gruppe (55—67). Im Anhang wird ein Flugblatt des Nationalkomitees<br />

Freies Deutschland erstmals veröffentlicht, das zur Ermordung<br />

der Münchner Studenten Stellung nimmt (86—89).<br />

Jahnke, Historiker an der Universitäts Greifswald, vertuscht im<br />

Gegensatz zur bürgerlichen Geschichtswissenschaft (z. B. Rothfels,<br />

Ritter) die Widersprüche in der Gruppe und die allmähliche Radikalisierung<br />

nicht. So wollte Prof. Huber im letzten Flugblatt u. a. folgende<br />

Sätze verbreiten: „Studenten, Studentinnen. Ihr habt Euch der<br />

deutschen Wehrmacht an der Front und in der Etappe, vor dem<br />

Feind, in der Verwundetenhilfe, aber auch im Laboratorium und am<br />

Arbeitsplatz restlos zur Verfügung gestellt. Es kann für uns alle kein<br />

anderes Ziel geben als die Vernichtung des russischen Bolschewismus<br />

in jeder Form. Stellt Euch weiterhin geschlossen in die Reihen unserer<br />

herrlichen Wehrmacht" (50). Hans Scholl strich diesen Abschnitt.<br />

Sowohl der Werdegang jedes einzelnen Widerstandskämpfers als<br />

auch die Entwicklung der ganzen Gruppe werden nur durch die Korrelation<br />

mit der politischen Entwicklung verständlich. Zu Recht betont<br />

Jahnke, daß die Erfahrungen des Krieges in Rußland und Gespräche<br />

mit Hitlergegnern in den Studenten den Entschluß zum aktiven<br />

Widerstand heranreifen ließen (21). Hier liegt der Grund für die<br />

Aufrufe zum Handeln und für das Überschreiten der rein humanistischen<br />

Kritik. Solange aber die Rußland-Erfahrungen entpolitisiert<br />

werden, wie es in der bürgerlichen Forschung geschieht, erscheint die<br />

Radikalisierung als nur. irrational und so der bürgerlichen Humanitätsideologie<br />

angepaßt. Die Schlacht von Stalingrad und öffentliche<br />

Angriffe der SS auf Münchner Studenten schlug sich in verschärfter<br />

Erkenntnis nieder, wie Flugblätter vom Januar 1943 zeigen:<br />

„Glaubt nicht der nationalsozialistischen Propaganda, die Euch den<br />

Bolschewistenschreck in die Glieder gejagt hat." Die Gruppe äußerte


470 Besprechungen<br />

sich für die Ausrottung des imperialistischen Machtgedankens und<br />

gegen den preußischen Militarismus. Die Arbeiterschaft sollte durch<br />

„einen vernünftigen Sozialismus" aus ihrem Zustand niedrigster<br />

Sklaverei befreit werden (43).<br />

Vorzüglich ist bei Jahnke auch die Wirkungsgesdiichte dargestellt,<br />

die vor allem Münchner Studenten, die „Hamburger Weiße Rose",<br />

die englische Emigration, das Nationalkomitee Freies Deutschland<br />

und sogar das KZ Auschwitz umfaßt. Zu Unrecht wurde bisher vernachlässigt,<br />

daß auch viele dieser Nachfolger hingerichtet oder zu<br />

Tode gefoltert wurden. Insgesamt vermeidet Jahnkes Arbeit die isolierende<br />

Fixierung auf die Geschwister Scholl.<br />

! Hellmut G. Haasis (Tübingen)<br />

Jecchinis, Christos: Trade Unionism in Greece. A study in<br />

Political Paternalism. Labor Education Division, Roosevelt University,<br />

Chicago 1967 (205 S., Pb., 2,95 $).<br />

Man muß dem Verfasser zustimmen, wenn er in seinem Vorwort<br />

behauptet, daß eine ernsthafte Untersuchung der Gewerkschaftsbewegung<br />

in Griechenland bisher vernachlässigt wurde. Seit dem<br />

Buch des Historikers Jannis Kordatos „Geschichte der griechischen<br />

Arbeiterbewegung" ist dies erst die zweite Studie über die Entwicklung<br />

der griechischen Gewerkschaften. Man muß jedoch betonen, daß<br />

es sich mehr oder weniger um eine bloße Geschichte der griechischen<br />

Gewerkschaften, nicht um eine Analyse der Gewerkschaftsstruktur,<br />

der Gesetzgebung, der Effektivität der Gewerkschaften, der Mitgliederstruktur<br />

usw. handelt. Die Studie gibt jedoch einen Einblick in<br />

die Faktoren, die die Gewerkschaftsbewegung in Griechenland beeinflußt<br />

bzw. bestimmt haben und schildert den „background", der<br />

für eine tiefgreifende Analyse der Gewerkschaftsstruktur Voraussetzung<br />

ist. Die Analyse selbst fehlt jedoch immer noch.<br />

Man muß dem Verfasser zustimmen, wenn er behauptet, daß die<br />

Form, die soziale <strong>Institut</strong>ionen erhalten, vom speziellen historischen<br />

Rahmen, in dem sie entstehen, beeinflußt wird (Vorwort). Es ist deshalb<br />

richtig festzustellen (176), daß Makris, der langjährige Generalsekretär<br />

des GSEE (Griechischer Allgemeiner Gewerkschaftsbund),<br />

nicht „the creator of circumstances but the creation of circumstances"<br />

gewesen ist. Das Buch von Jecchinis, der selbst Gewerkschaftler<br />

gewesen ist, bringt das Zusammenspiel „between the forces of national<br />

history and temperament, economic geography, political manipulation,<br />

and intervention from abroad" (Vorwort) klar zum Ausdruck.<br />

Die Schwäche der griechischen Gewerkschaftsbewegung hängt eng<br />

mit der langsamen Industrialisierung des Landes zusammen. Die enge<br />

Korrelation der Arbeiterbewegung mit dem jeweiligen Entwicklungsstand<br />

der Wirtschaft fällt jedoch bei Jecchinis nur kurz aus. Der<br />

Gewerkschaftler, der Gesellschafts- bzw. Sozialpolitiker mag das


Soziale Bewegung und Politik 471<br />

Gebotene ausreichend finden; der Ökonom oder der Sozialwissenschaftler<br />

muß unbefriedigt bleiben.<br />

Wenn man nun von dem ökonomischen Paktor absieht und auf der<br />

Ebene des Autors, der Ebene der politischen Geschichte bleibt, findet<br />

man, daß die Lahmlegung der Gewerkschaften mit der Metaxas-Diktatur<br />

(1936—1940) anfängt, während der die Gewerkschaften staatlich<br />

kontrolliert waren (56 f.). Die Zeit zwischen der Gründung des Allgemeinen<br />

Gewerkschaftsbundes (1918) und dem Kriegsausbruch (1940)<br />

ist zwar eine Zeit von Spaltungen, politischen Intrigen u. a. mehr<br />

(53), spiegelt jedoch die bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsverhältnisse<br />

unter der Einwirkung des Weltkriegs, der Flüchtlingsfrage,<br />

der Weltwirtschaftskrise und der Industrialisierung wider. Es<br />

ist eine höchst unstabile Periode, während derer 25 Regierungen an<br />

die Macht kamen, 8 Aufstände und Putsche stattfanden und 3 Diktaturen<br />

versucht wurden. Daß auch die Entwicklung auf dem Gewerkschaftssektor<br />

unstabil war, kann niemanden wundern.<br />

Interessant ist die Lage nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.<br />

Man sieht, wie der „Kommunismus-Komplex" die wichtigste Rolle<br />

in der Gewerkschaftsentwicklung gespielt hat. Die Rechte hat unter<br />

dem Vorwand der „kommunistischen Gefahr" versucht und erreicht,<br />

die Gewerkschaftsbewegung zu kontrollieren und sie in ihrem Interesse<br />

zu manipulieren. Dabei ist die Rolle zentral, welche die Engländer,<br />

die Amerikaner und die ICFTU (Internationaler Bund Freier<br />

Gewerkschaften) gespielt haben (70 ff., 120 ff.). Der im Buch beschriebene<br />

Besuch von Gewerkschaftsvertretern beim britischen Botschafter<br />

am 10. 1. 1945, die sich im Namen der Arbeiter (!) bei ihm für die<br />

Befreiung von „the tyranny of the Communist party" bedankten (76),<br />

ist ein beschämendes Beispiel von Servilität. Über die Einmischung<br />

des ICFTU-Vertreters in Griechenland, Brown, schreibt Jecchinis, daß<br />

die Gründe für sein Verhalten „can be found perhaps in his preoccupation<br />

with the possible communist revival in the Greek labor movement<br />

and less in his desire for the democratization and reform of the<br />

movement" (165). Die Unterwerfung der Gewerkschaften unter den<br />

Staat wird unter Arbeitsminister Gonis (1952—1954), einem ehemaligen<br />

Kommunisten — es würde sich eine psychologische Studie lohnen,<br />

wie sich ehemalige Kommunisten zu Faschisten wandeln, ein<br />

Phänomen, das auch unter dem jetzigen Militärregime zu beobachten<br />

ist — und dem juristischen Berater gleichzeitig der Gewerkschaften<br />

und der Arbeitgeberverbände, erreicht, der seine Unterwerfungspolitik<br />

durch politische und juristische Maßnahmen durchsetzte (153 ff.).<br />

Nur unter dem Druck der ICFTU und der Amerikaner, „who by then<br />

had realised that Gonis' policies were pushing the workers into the<br />

hands of the communists" (sic), wurde Gonis gezwungen, zurückzutreten<br />

(157). Die Staatskontrolle über die Gewerkschaften erreichte<br />

ihren Höhepunkt unter Karamanlis (1956—1963), als Dimitratos, der<br />

Arbeitsminister des Metaxas-Regimes, erneut Arbeitsminister wurde<br />

(161 ff.). In dieser Periode spalten sich die Gewerkschaften. Diese<br />

„chaotic trade union situation" (163) erlaubte der ERE-Regierung die<br />

Löhne herunterzudrücken. Das Buch berücksichtigt die Periode bis


472 Besprechungen<br />

zum Versuch der Zentrumsregierung unter Papandreou, neue Verhältnisse<br />

zu schaffen (169 ff.). Danach und unter dem jetzigen Regime<br />

erleben wir noch einmal eine völlige Unterwerfung der Gewerkschaften<br />

unter den Staat.<br />

Merkwürdig ist das Vertrauen, das Jecchinis den Schriften Churchills<br />

in bezug auf die Ehrlichkeit der Absichten der britischen Politik<br />

nach dem Krieg schenkt, wo doch sogar die Labour Party und die<br />

britischen Gewerkschaften gegen die britische Einmischung in Griechenland<br />

protestierten (71 f.). Die Frage des Kommunismus innerhalb<br />

der Gewerkschaften behandelt Jecchinis, der selbst kein Kommunist<br />

ist, mit Realismus. Man spürt jedoch durch die Zeilen hier und da<br />

eine antikommunistische, wenn auch nicht doktrinäre Haltung hindurch.<br />

Es fragt sich, ob Jecchinis sein Buch heute noch so schreiben<br />

würde. Ebenso ist fraglich, ob man noch glauben kann, daß die Evolutionstheorie,<br />

wie er sie vertritt, die griechischen Probleme tatsächlich<br />

lösen kann bzw. wird.<br />

Marios Nikolinakos (Köln)<br />

Tsakonas, Demetrios: Geist und Gesellschaft im neuen<br />

Griechenland. 2. verbesserte Auflage. H. Bouvier & Co. Verlag,<br />

Bonn 1968 (190 S., kart., 12,80 DM).<br />

„Eine harmonische Ordnung der neugriechischen Welt kann nur<br />

durch eine Besinnung auf die Tradition erreicht werden." Dies ist der<br />

vorletzte Satz aus dem Buch des ehemaligen Lektors für neugriechische<br />

Sprache an der Universität Bonn, der von den Obristen als<br />

Professor und Staatssekretär beim Ministerpräsidenten nach Athen<br />

berufen wurde. Dieser Satz faßt seine Gedanken zusammen, die „die<br />

gemeinschaftlichen Traditionen" als „Voraussetzungen eines neuen<br />

Verwaltungssystems" (130) — welche in Byzanz wurzeln („koinobistische<br />

Auffassung der Gesellschaft") (11) — betrachten und den tiefsten<br />

„Grund dafür, daß Griechenland nach über hundertjährigem Leben<br />

in dem neuen Staat noch immer nicht eine ihm gemäße Ordnung gefunden<br />

hat", „in der Zerstörung des Geistes, der die Kämpfer für die<br />

Unabhängigkeit hervorgebracht hatte" (130) finden. Den Blick rückwärts<br />

gerichtet, blickt Tsakonas in die Zukunft. Er bedauert, daß der<br />

Staat „die Tradition der geschlossenen agrarischen Struktur und die<br />

selbständigen vorkapitalistischen Sozialgebilde" (129) aufgegeben<br />

hat. Er stellt mit Recht fest, daß Griechenland wahrscheinlich „mit<br />

einer eigenen sozialen Form in die Neuzeit eingetreten" wäre, „wenn<br />

nicht die verschiedenen ausländischen Interventionen die Nation von<br />

ihrem Wege abgebracht hätten" (129), zieht jedoch keine Schlußfolgerungen<br />

daraus. Er untersucht auch nicht diese Intervention der<br />

Ausländer, die immanente Präsenz des Imperialismus in Griechenland<br />

seit 1821 bis heute, die eigentlich die Verantwortung für die langsame<br />

Entwicklung des Landes trägt. Er unternimmt keine soziologische<br />

und wirtschaftliche Analyse der heutigen griechischen Gesellschaft.<br />

Sogar seine kärglichen Gedanken über den „Konservatismus in Griechenland"<br />

— 22 Zeilen — (122 f.) sind fehl am Platz. Denn mit zwei


Soziale Bewegung und Politik 473<br />

Sätzen, nach denen „der neugriechische konservative Idealtyp" „an die<br />

Notwendigkeit staatlicher Macht" glaubt und „sie zur gleichen Zeit<br />

beklagt" und der „Glaube an die Nation seine ursprüngliche Stärke"<br />

verloren habe, kommt er zur Schlußfolgerung: „Die neugriechische<br />

Wirklichkeit bietet daher das Bild einer völligen Zersplitterung und<br />

die Splitter sind die Parteien". So verwechselt er Inhalt mit Form,<br />

schiebt die species an die Stelle des genus, gleicht eine partielle Erscheinung<br />

einem allgemeinen Zustand an, den er festzustellen glaubt.<br />

Er wiederholt ein Wort von Pfeffer, indem er sagt: „Die Griechen<br />

haben in ihrer Mehrheit noch kein Verständnis für die soziale Funktion<br />

der Arbeit und denken primär in der wirtschaftlichen Kategorie<br />

des Erfolges" (124). Was ist jedoch diese „soziale Funktion der Arbeit"?<br />

Darauf bekommt der Leser keine Antwort. Keine Antwort bekommt<br />

er auch über Fragenkomplexe, die während des Lesens in<br />

bezug auf das Agrarproletariat, die Auswanderung, die Urbanisierung,<br />

die nach 1960 zu beobachtende Jugendbewegung, die neuen<br />

Wendungen in der Musik durch Theodorakis und Hadjidakis usw.<br />

entstehen. Der Verfasser wagt nicht einmal eine Klassenanalyse, er<br />

vermeidet sogar den Begriff „Klasse" und spricht von „Gruppen"<br />

(33). Im Kapitel über die „Suche nach einem autonomen griechischen<br />

Weg" wird über faschistische Bewegungen, die „die koinobistische<br />

Tradition des Volkes", christliche und sozialistische Ideale bezwecken,<br />

ohne jegliche Analyse berichtet (119). Die Geschichte wird verfälscht,<br />

indem behauptet wird, die Widerstandsbewegung während des Zweiten<br />

Weltkrieges war in eine kommunistische und eine nationale<br />

Gruppe gespalten, „die aber auch soziale Ziele verwirklichen wollte"<br />

(119); bekanntlich war die nationale Gruppe schlicht reaktionär.<br />

Schließlich wird von einem revolutionären Charakter des orthodoxen<br />

Denkens gesprochen (120), was wiederum nicht stimmt, zumal die<br />

orthodoxe Kirche immer diejenige gewesen ist, die ihren Blick auf<br />

den Himmel und nicht auf diese Erde gerichtet und jegliche Erneuerung<br />

als Abweichung von der Tradition verurteilt hat. Mit ein bißchen<br />

Geschichte, ein bißchen Politik, ein bißchen Literaturgeschichte<br />

und ein bißchen Soziologie hat Tsakonas den heutigen Hellenismus<br />

zu beschreiben versucht. Geworden ist daraus eine fragmentarische<br />

Selbstdarstellung der faschistoiden Auffassungen des Obristenregimes.<br />

Marios Nikolinakos (Köln)<br />

Aujourd'hui la Grèce... „Les Temps Modernes", 25 e Année,<br />

No. 276 bis, Paris 1969.<br />

Jean-Paul Sartre hat zwei Nummern seiner Zeitschrift Griechenland<br />

gewidmet. Der Band enthält im ersten Teil Aufsätze griechischer<br />

Wissenschaftler und Politiker, die sich mit den sozialen, wirtschaftlichen,<br />

kulturellen und politischen Problemen Griechenlands auseinandersetzen.<br />

Der zweite Teil umfaßt Beiträge ausländischer Mitarbeiter<br />

über die Unterdrückung durch das Militärregime Griechenlands.<br />

Im dritten Teil werden Dokumente veröffentlicht, während der vierte


474 Besprechungen<br />

Teil aus einer Anthologie griechischer Schriftsteller besteht. Diesen<br />

Band sollte jeder lesen, der sich ernsthaft mit den Problemen Griechenlands<br />

beschäftigen will. Wir können in diesem Rahmen besonders<br />

der Beiträge des ersten Teils nicht gerecht werden, obwohl man vielen<br />

Beiträgen gegenüber kritisch Stellung nehmen müßte. Insbesondere<br />

möchten wir auf den Beitrag von Dimos Anastasiou über das<br />

Bildungswesen in Griechenland, auf denjenigen von Andreas Papandreou<br />

über die Politik der Blocks, den Interventionismus und die<br />

Freiheit der <strong>Institut</strong>ionen, auf den Beitrag von Marios Ploritis über<br />

die Monarchie und schließlich auf den Beitrag von Prof. Vegleris über<br />

die Juntaverfassung hinweisen.<br />

Marios Nikolinakos (Köln)<br />

Gstrein, Heinz (Hrsg.): Zum Beispiel Griechenland. Reihe<br />

Disput. Delp Verlag, München 1969 (172 S., Ln., 12,— DM).<br />

Die verschiedene politische Einstellung der Autoren dieses Bandes,<br />

die in keinen Disput untereinander mündet, und die journalistische<br />

Oberflächlichkeit, mit der jeder von ihnen sein Thema anpackt, enttäuschen.<br />

So ist zwischen dem Beitrag von Tsakonas über das „Entstehen<br />

des griechischen Nationalstaates" und den übrigen Artikeln<br />

kein Zusammenhang herzustellen. Es finden sich in diesem Buch<br />

ungeheuerliche Behauptungen, etwa: die Meinung des pro-Junta<br />

Mitarbeiters der Zeitung „Handelsblatt", Mergl, der ausführt, „die<br />

gegenwärtige Regierung habe eine Revolutionierung der griechischen<br />

Außenpolitik", im Sinne einer angeblichen Lockerung der „Bindungen<br />

zum Westen", die durch eine Volksfrontregierung unter Andreas<br />

Papandreou und der EDA „mit großer Wahrscheinlichkeit" aus den<br />

Wahlen des 28. Mai 1967 entstanden wäre, verhindert (104 f.); die<br />

Behauptung „eines entlassenen Stabsoffiziers" über einen „griechischen<br />

Sozialismus (agrarisch, national-religiös und autoritär)", der angeblich<br />

in den ersten Tagen nach dem 21. April 1967 „kräftig vorherrschte"<br />

(91); weiter die Meinung, der frühere Informationschef,<br />

„der Sozialist Stamatopoulos", habe Papadopoulos „mit den Ideen der<br />

russischen Agrarsozialisten des Narodnitschestvo vertraut" gemacht<br />

(89), oder schließlich die These eines „griechischen Sozialdemokraten",<br />

die Ära Papandreou habe „den Arbeitern die Augen darüber geöffnet",<br />

daß „der Kommunismus, in den sie von den Rechtsregierungen<br />

getrieben wurden, keinen Fortschritt darstelle und daß eine Lösung<br />

nur in sozialer, wirtschaftlicher und politischer Demokratie zu suchen<br />

ist" (25).<br />

Die Meinung von Mergl ist eine unbegründete Unverschämtheit, die<br />

Behauptung über den „Sozialismus" der Obristen ist aus der Luft<br />

gegriffen, da die Putschisten noch bis heute kein konkretes ideologisches<br />

Programm angeboten haben. Stamatopoulos, einen langjährigen<br />

CIA-Agenten als „Sozialisten" zu bezeichnen, nur weil er jahrelang<br />

seine Tätigkeit durch die Mitgliedschaft im „Sozialistischen Club"<br />

getarnt und seinen in marxistischer Theorie unbewanderten Bruder<br />

eine angeblich sozialistische, in Wirklichkeit aber antikommunistische


Soziale Bewegung und Politik 475<br />

Zeitschrift herausgeben ließ, verrät nur die Unwissenheit und die<br />

reiche Phantasie des Autors.<br />

Der Beitrag des Herausgebers über die Obristen-Verfassung befaßt<br />

sich mit allen möglichen Artikeln der Verfassung, ob sie nun die<br />

Menschenrechte, das Parlament oder die Stellung der Armee zum<br />

Inhalt haben, nur mit einem nicht: Der Artikel 23, nach dem dem ausländischen<br />

Kapital Privilegien erteilt werden, die seine Monopolstellung<br />

im Land festigen, wird auch nicht einmal erwähnt! Auf Propaganda<br />

zielende Sätze, wie „ehemalige Kommunisten und Bürgerkriegskämpfer<br />

der extremen Linken" (51, 91) seien in die Militärregierung<br />

eingetreten, stimmen insofern nicht, als es sich bei diesen<br />

Leuten zwar um ehemalige Kommunisten handelt, die zuvor jedoch<br />

zum <strong>Faschismus</strong> übergetreten waren. Alles in allem, wem es um eine<br />

wirkliche Analyse der griechischen Lage und nicht um bloße Floskeln<br />

geht, der braucht dieses Buch nicht zu lesen.<br />

Marios Nikolinakos (Köln)<br />

Marceau, Marc: La Grèce des colonels. Verlag Robert Laffont,<br />

Paris 1968 (280 S., geb., 16,— Fr.).<br />

Mathiopoulos, Basil P.: Athen brennt. Schneekluth Verlag,<br />

Darmstadt 1967 (224 S., kart., 12,80 DM).<br />

Cervi, Mario: Dove va la Grecia? Verlag U. Mursia & C.,<br />

Milano 1968 (224 S., geb., 2800 L).<br />

Seyppel, Joachim: Geburt einer Tyrannis. Verlag L. Blanvalet,<br />

Berlin 1968 (240 S., kart., 9,80 DM/Ln., 14,80 DM).<br />

Skriver, Ansgar: Soldaten gegen Demokraten. Kiepenheuer<br />

& Witsch, Köln 1968 (197 S., br., 10,— DM).<br />

Koch, Erwin Erasmus: Griechenland im Umbruch. Verlag<br />

Maindruck, Frankfurt/M. 1968 (nicht im Buchhandel).<br />

Bei diesen sechs Büchern handelt es sich um Chroniken, geschrieben<br />

von Journalisten, die Kenner Griechenlands sein sollen und von<br />

denen einige als Korrespondenten ausländischer Zeitungen in Griechenland<br />

tätig gewesen sind. Die Chroniken sind nur auf der Ebene<br />

journalistischer Geschicklichkeit und mehr oder minder oberflächlicher<br />

Information zu bewerten. Fast alle bezwecken eine „spannende"<br />

Widergabe der Ereignisse des 21. April 1967, manche in einem<br />

historischen Rahmen, manche in Form eines Reiseberichts (Seyppel).<br />

Sie sympathisieren entweder mit dem Regime, wie Marceau, der<br />

auch der oberflächlichste von allen ist, sind „objektiv" wie Cervi, der<br />

für sein Buch den Journalistenpreis „Campione d'Italia" 1968 erhielt,<br />

vermutlich weil es seinerzeit das einzige Buch über Griechenland in<br />

italienischer Sprache war, oder sind dem Militärregime gegenüber<br />

feindlich eingestellt (Mathiopoulos, Seyppel, Skriver). Insgesamt kann<br />

man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß es den Autoren mehr um<br />

bloße Aktualität und möglichst leichte Erfüllung des Informations-


476 Besprechungen<br />

anspruchs der öffentlichen Meinung ging als um eine nüchterne Analyse<br />

der Ereignisse des 21. April und der neuesten Geschichte Griechenlands.<br />

Gerechtigkeitshalber muß das Buch von Skriver von dieser Beurteilung<br />

ausgeschlossen werden. Es enthält ausreichende sachliche Informationen<br />

über die letzten Jahre vor dem Putsch wie auch über<br />

die Ziele und Methoden der Putschisten. — Das Buch von Koch<br />

schließlich ist im Auftrag der griechischen Botschaft in Bonn geschrieben<br />

und gedruckt worden. Erfreulich zu sehen ist, daß ein reaktionärer<br />

Journalist, der bezahlt wird, ein solches Buch zu schreiben,<br />

mehr nicht zustande bringt als Beweise für die Dummheit von Diktatoren,<br />

die Engstirnigkeit von Journalisten und schlechteste, d. h.<br />

mühelos durchschaubare Propaganda. Marios Nikolinakos (Köln)<br />

Ökonomie<br />

Pfeffer, Karl Heinz, und Irma Schaafhausen: Griechenland<br />

Grenzen wirtschaftlicher Hilfe für den Entwicklungserfolg<br />

(Schriften des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archiv,<br />

Nr. 9). Verlag Weltarchiv GMBH, Hamburg 1959<br />

(139 S., kart., 12,— DM).<br />

Dieser Bericht, vor mehr als zehn Jahren erschienen, ist zumindest<br />

in bezug auf die Information, die er über die soziale, ökonomische<br />

und politische Struktur Griechenlands und deren Auswirkungen gibt,<br />

heute noch durchaus brauchbar. Der Gesichtspunkt der Verfasser ist<br />

wohl nicht erst nach heutigen Kriterien und Maßstäben als konservativ<br />

zu bezeichnen, was aber angesichts ihrer Bemühung um fundierte<br />

Information und objektive Analyse als nebensächlich erscheint.<br />

Zuerst wird die Frage beantwortet, ob Griechenland ein Entwicklungsland<br />

sei. Dabei wird festgestellt, daß der Begriff der Entwicklung<br />

nur im technisch-wirtschaftlichen Sinn zu verstehen ist und<br />

nichts „über die Kulturhöhe oder den Zivilisationsanspruch, die historische<br />

Bedeutung oder die gegenwartsnahe Gesinnung eines Volkes"<br />

aussagt (S. 10). In diesem Sinn gibt es freilich „Entwicklungsgebiete"<br />

mitten in hochindustrialisierten Staaten.<br />

Charakteristika der Entwicklungsländer sind: geringe Industrialisierung,<br />

unzureichende technische Ausstattung, mangelndes Kapital<br />

zur Änderung dieser Situation; ferner: die Wirtschaftsstruktur eines<br />

Entwicklungslandes ermöglicht ihm nicht, das benötigte Kapital aus<br />

eigener Kraft aufzubringen. Dies alles trifft für Griechenland zu, somit<br />

ist Griechenland ein Entwicklungsland. — Der Bericht soll an<br />

Hand des griechischen Beispiels die Problematik der Entwicklungshilfe<br />

überhaupt aufzeigen. Es liegt auf der Hand, daß bei gleichen<br />

Grundstrukturen gleiche Situationen vorherrschen. Die Analyse der<br />

Verfasser bezieht sich jedenfalls speziell auf Griechenland, und ledig-


Ökonomie 477<br />

lieh sporadisch werden vergleichbare Länder und Situationen erwähnt.<br />

Der Bericht ist die Explikation einer Arbeitshypothese, die sich aus<br />

folgenden Punkten zusammensetzt: a) die von außen — USA und<br />

internationale Organisationen des Westens — für die Entwicklung<br />

geleistete Hilfe hat den erwünschten Eintritt in eine Entwicklung<br />

zum sogenannten Rapid Social Change nicht gebracht; b) jede Hilfeleistung<br />

von außen bleibt in Griechenland notwendig wirkungslos,<br />

solange die Situation in Griechenland selbst sich nicht von Grund auf<br />

ändert; c) die nichtwirtschaftlichen Voraussetzungen der wirtschaftlichen<br />

Entwicklung müssen unbedingt beachtet werden, will man die<br />

wirtschaftlichen Entwicklungsprobleme eines Landes richtig und in<br />

ihrem ganzen Umfang erkennen.<br />

Im I. Teil des Berichts werden die wirtschaftlichen Gegebenheiten<br />

untersucht. Dabei wird gezeigt, daß eine Entwicklung nur bruchstückhaft<br />

stattgefunden hat, die lediglich darin bestand, der Wirtschaft zu<br />

helfen, sich von den Folgen aus Krieg und Bürgerkrieg zu erholen.<br />

Von einer Neugestaltung der Wirtschaftsstruktur kann nicht die Rede<br />

sein, sie war offenbar auch nicht angestrebt. Ein solches Ziel würde<br />

aber überhaupt den Maßstab setzen, an dem man den Erfolg der Entwicklungsbemühungen<br />

messen könnte. Die Entwicklungsbemühungen,<br />

die im Lauf der Zeit erfolgt sind, hatten — sofern sie sich nicht einander<br />

widersprachen — keine eindeutige Richtung, ihr Ziel war<br />

nebelhaft. Zudem wechselte allzu oft der Aspekt, unter dem sie erfolgten,<br />

je nach den Bedürfnissen der amerikanischen Globalstrategie.<br />

Ferner werden im I. Teil die Quellen und Grundlagen, der Zustand<br />

und die Möglichkeiten der griechischen Nationalökonomie analysiert.<br />

Der Hinweis auf die äußerste Empfindlichkeit der griechischen Wirtschaft<br />

gegenüber weltwirtschaftlichen Störungen genügt, um den<br />

extrem unsicheren Grund der griechischen Wirtschaft zu offenbaren.<br />

Teil II des Berichts befaßt sich mit den nichtwirtschaftlichen Faktoren<br />

der griechischen Wirtschaftsentwicklung. Dabei zeigt sich auch<br />

rein quantitativ das Gewicht, das die Verfasser — mit Recht — diesen<br />

Faktoren beimessen: der Umfang dieses Teils ist mehr als doppelt so<br />

groß wie der des I. Teils. Besprochen wird die Sozial- und Staatsordnung<br />

Griechenlands in der neueren Geschichte. Die Hauptmerkmale<br />

dieser Ordnung — richtig erkannt, zum Teil aber falsch interpretiert<br />

— werden hervorgehoben: in der Gesellschaft etwa das Fehlen jeder<br />

herkömmlichen Hierarchie im Sinn einer strengen Geschlossenheit,<br />

dafür das Vorhandensein von fließenden Grenzen zwischen den<br />

Schichten, wobei der Maßstab für das Überschreiten dieser Grenzen<br />

der ökonomische Aufstieg bzw. Abstieg der Personen oder der Familien<br />

ist. Die Verfasser sprechen der bürgerlichen Klasse Griechenlands<br />

das Klassenbewußtsein ab: das griechische Bürgertum habe nie ein<br />

Klassenbewußtsein besessen, die bürgerliche Gesellschaft sei in Griechenland<br />

rudimentär geblieben. Das mag richtig sein, ebenso wie die<br />

Feststellung, daß in Griechenland die soziale Atmosphäre einer Gründerzeit<br />

andauert. Einen Widerspruch stellt aber die Behauptung dar,


478 Besprechungen<br />

daß die Produktionsmittel zwar in privater Hand liegen, aber dennoch<br />

„nicht zum ständigen Instrument der Herrschaft von Menschen<br />

über Menschen" geworden sind, weil sie oft den Besitzer wechseln<br />

(67 f.), während zugleich lapidar festgestellt wird, daß „die wirtschaftlich<br />

führende Schicht insgesamt aus vielleicht 500 Familien oder<br />

2000 Personen (besteht)" (63). Als Hauptmerkmal der staatlichen Ordnung<br />

wird richtig die Klientelherrschaft hervorgehoben und analysiert.<br />

Sie hat ihren Ursprung in der osmanischen Herrschaft und dem<br />

Unabhängigkeitskrieg und wurde bisher kaum abgeschwächt, geschweige<br />

denn abgeschafft; sie hat verhindert, daß jemals in Griechenland<br />

eine richtige politische Partei (ausgenommen die KP) gegründet<br />

wurde und funktioniert hat; sie hat die Korruption zum<br />

Prinzip erhoben; sie hat den sozialen und ökonomischen Fortschritt<br />

(fast) hoffnungslos gehemmt; sie hat das Land in einem kolonialen<br />

Zustand dahinvegetieren lassen. Der krasse Widerspruch zwischen<br />

Klientelherrschaft und moderner Organisation von Wirtschaft und<br />

Technik führt jeden Entwicklungsplan a priori zum Scheitern. Im II.<br />

Teil wird schließlich „Die internationale Ordnung als Rahmen und<br />

Wirkungsfeld der griechischen Wirtschaft" besprochen (117 ff.), das<br />

heißt die direkte Abhängigkeit griechischer Wirtschaft und Politik<br />

von anderen Ländern. Hier wird bald mehr bald weniger offen die<br />

totale Unterwerfung Griechenlands unter die Politik des Westens beschrieben.<br />

Angesichts der Gesamtsituation des Landes und zugleich<br />

der weltpolitischen Zusammenhänge ist freilich die Möglichkeit eines<br />

Alleingangs so gut wie ausgeschlossen. So ist das grundlegende Problem<br />

griechischer Politik überhaupt, das erniedrigende Satellitendasein<br />

qualitativ zu übersetzen in eine ebenbürtige Partnerschaft.<br />

Wie aber „Alleingang zur Revolution führen (müßte)" (128), lassen<br />

die Verfasser ebenso unerklärt wie die Behauptung: „Revolution aber<br />

will Griechenland nicht" (ebenda).<br />

In beiden Teilen des Berichts wird die eingangs aufgestellte Arbeitshypothese<br />

bestätigt. Bewiesen ist vor allem, was die Autoren<br />

nicht müde werden zu betonen, daß bloße technisch-wirtschaftliche<br />

Hilfe keine Entwicklung bringen kann im Sinn einer umfassenden<br />

und grundlegenden Änderung aller Faktoren, die die Existenz eines<br />

lebensfähigen Staats bestimmen. Daß bei der Gewährung von Entwicklungshilfe<br />

vor allem diese Faktoren berücksichtigt werden müssen,<br />

ist die Voraussetzung des Erfolgs der Hilfeleistung und zugleich<br />

der Maßstab für deren Ernsthaftigkeit. Bisher ist das in Griechenland<br />

— so geht aus dem Bericht hervor — nicht der Fall gewesen. — Fast<br />

überflüssig zu bemerken, daß bei der Explikation ihrer Thesen die<br />

Verfasser notwendig auf die Geschichte zurückgreifen. Das läßt den<br />

Bericht zu einem kurzen Repetitorium neugriechischer Geschichte!<br />

werden — allerdings konventionellen Stils.<br />

In der Einleitung unterstellen die Verfasser für einen Augenblick,<br />

daß man möglicherweise bei der Gewährung von Entwicklungshilfe<br />

in Griechenland „im Grunde nur eine politische Sicherung wünscht<br />

und darüber hinaus kaum eine Absicht verfolgt" (11). Sie stellen fest,<br />

daß solche Ziele mit „Entwicklung" kaum etwas zu tun haben, denn


Ökonomie 479<br />

„sie erschöpfen sich im Aufbau einer schlagkräftigen Landesverteididung,<br />

die den Alliierten die Benutzung des griechischen Staatsgebiets<br />

ermöglicht, in einer Mindestversorgung der griechischen Bevölkerung,<br />

in der Reparatur der Kriegsschäden und in der Verhinderung eines<br />

staats- oder nationalwirtschaftlichen Bankrotts gegenüber der Weltwirtschaft"<br />

(11 f.). Wäre es so, dann — so meinen die Verfasser —<br />

wäre eine <strong>Diskussion</strong> überflüssig. Der Versuch, diese Unterstellung<br />

ad absurdum zu führen, zeugt vom Konservativismus der Verfasser<br />

und droht zugleich den Bericht selbst ad absurdum zu führen. Denn<br />

aus der Lektüre des Berichts geht in summa nichts anderes hervor, als<br />

daß tatsächlich die einzigen Gründe, aus denen Griechenland bisher<br />

Entwicklungshilfe bekam, jene waren, die von den Verfassern für<br />

diskussionsunwürdig gehalten werden. Durch diese Art Entwicklungshilfe<br />

ist von den westlichen Alliierten — allen voran natürlich den<br />

USA — in Zusammenarbeit mit den korrupten einheimischen Klientelpolitikern<br />

das vorhandene Chaos konserviert und die Entwicklung<br />

gehemmt worden. Als es soweit war, daß die Masse zu begreifen anfing,<br />

wie es besser gehen könnte und ihr Recht vor allem auf freieres<br />

und aktiveres Leben verlangte, scheuten die edlen Entwicklungshelfer<br />

sich nicht — diesmal in Zusammenarbeit mit einer brutalen Offiziersclique<br />

—, dem Volk insgesamt, auch ihren früheren einheimischen<br />

Partnern, eine barbarische Diktatur aufzuerlegen, um den für sie<br />

günstigen chaotischen Zustand aufrechtzuerhalten — wobei sie mit<br />

nicht zu überbietendem Zynismus angaben, die Diktatur sei notwendig,<br />

um das Land vor dem Chaos und der Anarchie zu retten. Abermals<br />

ist die Entwicklung durch die „Entwicklungshelfer" gestoppt;<br />

die Korruption wird auf die Spitze getrieben, die Ausbeutung ist<br />

hemmungsloser denn je. Die Behauptung von Pfeffer und Schaafhausen,<br />

daß radikale Umgestaltung der sozialen und geistigen Gegebenheiten<br />

unabdingbare Voraussetzung einer wahrhaftigen Wirtschaf<br />

tsentwicklung ist, wurde durch den Coup d'état vom 21. April<br />

1967 für jedermann offenbar. Denn die kurze Periode der demokratischen<br />

Regierung Papandreou nach dem Sturz des halbfaschistischen<br />

Papagos-Karamanlis-Regimes (das von den Verfassern zwar nicht<br />

gerade gelobt wird, aber auch nicht als das bezeichnet wird, was es<br />

gewesen ist) hatte eine Entwicklung in der Richtung jenes sozialen<br />

und geistigen Umbruchs eingeleitet — und das war wohl das Alarmsignal<br />

für die Vorbereitung und Durchführung des Putsches.<br />

Georg Tsouyopoulos (München)<br />

Coutsoumaris, G., R. M. Westebbe, D. Psilos, A. Michalakis, N. Xanthakis:<br />

Analysis and Assessment of the Economic<br />

Effects of the U.S. PL 480 Program in Greece. Center<br />

of Planning and Economic Research, Special Studies Series 1,<br />

Athens 1965.<br />

Diese Untersuchung enthält eine Reihe Daten aus der griechischen<br />

Wirtschaft, die Aufschluß über die Abhängigkeit des Landes von den


480 B esprech.un.gen<br />

Vereinigten Staaten geben und dazu dienen, einiges über die Wirtschaftshilfe-Politik<br />

der amerikanischen Regierung zu erfahren. Nach<br />

der Truman-Doktrin (1947) wurde Griechenland dem amerikanischen<br />

Einflußbereich zugeordnet. Die Vereinigten Staaten gewährten seitdem<br />

Wirtschaftshilfe an Griechenland, die bis 1963 die Höhe von<br />

3285,5 Mio. Dollar erreichte. Davon waren 45,3 % Militärhilfe (19).<br />

Etwa 35 % der Wirtschaftshilfe bestand in Waren (41); dies ist besonders<br />

interessant, da es Aufschluß über das Ausmaß gibt, in dem die<br />

amerikanische Wirtschaft von der den dritten Ländern gewährten<br />

Wirtschaftshilfe profitiert. Die an Griechenland gewährte Hilfe in<br />

der Form von Überschuß-Agrarprodukten variierte ab 1955 zwischen<br />

46,25 % und 73,85 % (1963) (42). Das entspricht einem Durchschnitt<br />

von 52% für die Jahre 1955—1963; dabei ist die in den Jahren 1946<br />

—1954 geleistete Hilfe ausgeklammert, die keine Agrarüberschüsse<br />

enthielt.<br />

Das sogenannte PL 480 Program sieht unter Titel I den Verkauf<br />

von Überschuß-Agrarprodukten an die Abnehmerländer zur Verwendung<br />

der dafür bezogenen einheimischen Währung im Land selbst<br />

vor. Unter Titel II werden die Beihilfe für Notsituationen, unter Titel<br />

III die Nahrungsgeschenke aller Art (Schulmilch, Paketsendungen<br />

usw.), unter Titel IV der Verkauf von Produkten auf langfristiger<br />

Basis geregelt. Wie die Autoren bemerken, zielten die speziellen<br />

Exportprogramme der amerikanischen Regierung darauf, „to promote<br />

the disposal of farm surpluses" (47). Als ein anderes Beispiel<br />

dafür, wird eine der vorliegenden ähnliche Studie über die Rückwirkungen<br />

des PL 480 Programms in Kolumbien zitiert. Das oben erwähnte<br />

Ziel „appears to have dominated U. S. policy as a result of<br />

the impossibility of solving the export problem through regular marketing<br />

channels, especially for countries facing dollar shortages"<br />

(48 f.). Es ist nun nicht verwunderlich, daß dieses Programm nicht<br />

dazu beigetragen hat, der griechischen Landwirtschaft zu einer strukturellen<br />

Änderung zu verhelfen (64, 45) oder die Industrialisierung<br />

voranzutreiben (21 f.). Es ist weiter interessant festzustellen, daß die<br />

Einfuhr von amerikanischem Weizen auch dann fortgesetzt wurde<br />

(ab 1958), als die griechische Produktion die einheimische Nachfrage<br />

schon deckte, und im Jahre 1959 sogar eine Ausfuhr in Höhe von<br />

150 000 Tonnen stattfand (86 f.). Die Autoren meinen, daß trotzdem<br />

die Weizeneinfuhren dazu beitrugen, daß die griechischen Regierungen<br />

die Weizenpreise „at desirable levels" halten konnten, sie widerlegen<br />

jedoch gleich darauf diese Feststellung, indem sie bemerken,<br />

daß die Preise für Weizen und Brot von sozialen und wirtschaftlichen<br />

Kriterien bestimmt werden und demzufolge die griechischen Regierungen<br />

auch im Falle des Fehlens der Programme des PL 480 akzeptable<br />

Preise für Erzeuger und Konsumenten festgesetzt hätten (89).<br />

Die wahre Bedeutung der Programme, besonders des Titels I, wird<br />

dadurch enthüllt, daß durch den Erlös der Verkäufe die Tätigkeit<br />

der amerikanischen Mission in Griechenland finanziert wurde. „In<br />

this sense", stellen die Autoren fest, „the program represents actually<br />

a financing on the part of U. S. of its local expenses in kind in-


Ökonomie 481<br />

stead of dollars" (48). Zwar wurden 58,5 % des Erlöses aus den Verkäufen<br />

zwischen 1955—1962 in Höhe von 109,3 Mio. Dollar der griechischen<br />

Regierung als Anleihen in griechischer Währung zur Verfügung<br />

gestellt (141), jedoch liegt der Prozentsatz des von amerikanischer<br />

Seite in Anspruch genommenen Teils höher (31,8 %) als beim<br />

Durchschnitt für alle Länder (24 %) (142). Es wird später darauf hingewiesen<br />

(265), daß diese Anleihen bei kleinen Zinssätzen verlängert<br />

werden müssen, damit die Staatsfinanzen in dieser für die griechische<br />

Wirtschaft <strong>kritische</strong>n Phase nicht überlastet werden.<br />

Es ist schließlich wenigstens verwunderlich, daß aus dem Erlös des<br />

PL 480 Programms private Firmen in der Form von Anleihen finanziert<br />

wurden. Darüber hinaus wurden diese meistens kurzfristigen<br />

Anleihen mit hohen Zinssätzen belastet, und zwar, wie die Verfasser<br />

bemerken, diejenigen Investitionen, die von den Griechen als produktiv<br />

betrachtet werden (177). Erwähnenswert ist noch, daß die aus<br />

diesem Geld finanzierten Unternehmen in der Mehrheit ausländische<br />

Interessen vertreten (176). Der Beitrag dieser Anleihen zur Kapitalbildung<br />

und zur Wirtschaftsentwicklung überhaupt wird als minimal<br />

bewertet (260). Welches Gewicht das Programm des PL 480 für die<br />

amerikanische Wirtschaft hat, wird durch die Feststellung der Verfasser<br />

bestätigt, daß der amerikanische Marktanteil in Griechenland<br />

von den Verkäufen (auch in der Form der Hilfeleistung) der Agrarprodukte<br />

amerikanischer Herkunft abhängt (266). Es ist daraus ersichtlich,<br />

daß die PL 480 Programme der Entlastung der amerikanischen<br />

Wirtschaft und nicht der wirtschaftlichen Entwicklung der Abnehmerländer<br />

dienen. Soweit letzteres zutrifft, handelt es sich um<br />

eine sekundäre, zufällige Wirkung. Marios Nikolinakos (Köln)<br />

Alexander, Alec P.: Greek Industrialists. Center of Planning<br />

and Economic Research. Research, Monograph Series 12,<br />

Athens 1964 (182 S., Pb., 4,— $).<br />

Dies ist eine der besten Untersuchungen, die vom <strong>Institut</strong> für Planung<br />

und Wirtschaftsforschung zwischen 1963 und 1967 während der<br />

„demokratischen Periode" durchgeführt und herausgegeben wurde.<br />

Dieses <strong>Institut</strong>, das vom liberalen Politiker Prof. Andreas Papandreou<br />

gegründet wurde, war die erste <strong>Institut</strong>ion, die wissenschaftlich auf<br />

die Untersuchung verschiedener Aspekte der wirtschaftlichen Entwicklung<br />

Griechenlands einging. Seit dem Putsch herrscht wieder<br />

Dunkelheit auf dem Gebiet der Forschung, zumal die progressive<br />

griechische Intelligenz entweder in den Gefängnissen bzw. auf den<br />

Inseln vegetiert oder auswanderte.<br />

Die Untersuchung von Alexander ist in dem Sinne interessant, als<br />

sie einen Blick in die Klassenstruktur der griechischen Gesellschaft<br />

erlaubt und Herkunft und Bildung des Unternehmers in Griechenland<br />

analysiert. Dabei beschränkt sich die Untersuchung auf Betriebe<br />

mit mehr als 50 Beschäftigten (20), die 0,8 % der Gesamtzahl der


482 Besprechungen<br />

Betriebe ausmachen und 27 % der Gesamtzahl der Beschäftigten aufweisen<br />

bzw. 45 % des Netto-Wertes der industriellen Produktion betragen<br />

(30). Die Untersuchung bestätigt den schon bei der Entwicklung<br />

der ireutigen-Industrieländer beobachteten Prozeß, demzufolge<br />

sich die Unternehmer im industriellen, Sektor hauptsächlich aus den<br />

Kaufleuten und Handwerkern rekrutieren (TaEC^auf S. 45). Ähnliche<br />

Feststellungen hat Alexander selbst in der Türkei machen können,<br />

und ähnliches wurde auch bei einer anderen Untersuchung in Pakistan<br />

festgestellt (40—43). Interessant ist die Feststellung Alexanders,<br />

die übrigens auch immer wieder in den letzten Jahrzehnten in Griechenland<br />

gemacht wurde, daß die Unternehmer nicht den in sie gesetzten<br />

Hoffnungen zur Entwicklung einer Initiative für die Industrialisierung<br />

gerecht wurden, was Alexander auf die niedrige Profitrate,<br />

Kreditschwierigkeiten und auf spezielle Gründe, wie die Einfuhrfreiheit<br />

und die Assoziierung mit der EWG, zurückführt (67).<br />

Die Profitrate für Investitionen in der Industrie lag zwischen 5,3<br />

(1957) und 11,1 (1960) Prozent (AG und GmbH.) (67), während Profite<br />

im Handel mit 20,4% bis 22,8% zwischen 1958 und 1968 und in<br />

Immobilien mit 10 % beziffert wurden (68 f., 109 f.). Auf der anderen<br />

Seite ist erst ab 1960 ein Zuwachs der Sparanlagen bei den Banken<br />

zu beobachten, dem die Nachfrage nach Kapital seitens der Unternehmer<br />

nicht entspricht (73 f.). Die Assoziierung mit der EWG hat die<br />

Unsicherheit der griechischen Unternehmer verstärkt.<br />

Alexander glaubt, in Griechenland keine „sharp lines of demarcation<br />

between classes" zu finden. Er stellt im Gegenteil „a considerable<br />

degree of social mobility" fest (77, 128 f., 93). Zu solchen Folgerungen<br />

kommt er, weil er den Begriff „Klasse" mißversteht bzw.<br />

mißbraucht. Die Klasse braucht nicht homogen zu sein, im Sinne, daß<br />

die ihr Angehörenden der gleichen Herkunft sein müssen, wie Alexander<br />

zu behaupten scheint, wenn er schreibt, daß „the upper class<br />

in Greece today does not consist of a homogenous group such as<br />

aristocrats, businessmen or public officials", sondern „it is made up<br />

of individuals who have been successful in a variety of fields" (79).<br />

Um Lenin zu zitieren (Werke, Bd. 29, S. 410), wird die Klasse als<br />

Menschengruppe durch ihren Platz im System der gesellschaftlichen<br />

Produktion, durch ihr Verhältnis zu den Produktionsmitteln und<br />

durch ihre Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit<br />

gekennzeichnet. Es kommt letzten Endes darauf an, nach welcher Art<br />

sich eine Menschengruppe einen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum<br />

aneignet, wie auch auf die Größe dieses Anteils. Die soziale Mobilität<br />

spricht nicht für die Inexistenz der Klassen, sondern für die<br />

Phase, in der sich die griechische Gesellschaft befindet, eine Phase<br />

der verstärkten industriellen Umwandlung. Nicht die Gemeinsamkeit<br />

der Herkunft, sondern die Gemeinsamkeit der Interessen bestimmt<br />

vielmehr die Klassenstruktur in Griechenland. Die Tatsache, daß es<br />

in Griechenland keinen Adel gegeben hat bzw. gibt, führt viele zu<br />

der falschen Schlußfolgerung, die griechische Gesellschaft sei eine<br />

„klassenlose" Gesellschaft. Alexander findet nichts Merkwürdiges an<br />

der Feststellung, daß aus den Reihen der Bauern keine Industriellen


Ökonomie 483<br />

hervorgegangen sind (83). Auch frühere Arbeiter sind unter den heutigen<br />

Industriellen bzw. Unternehmern nicht zu finden (45). An diesen<br />

zwei „Gruppen", nach der Bezeichnung von Alexander, scheitert nun<br />

die „soziale Mobilität". Die Mobilität von den mittleren Schichten<br />

(Handwerker, Kleinhändler, freie Berufe) zu der oberen Schicht ist<br />

kein neues Phänomen in der kapitalistischen Entwicklung. Es ist auch<br />

nicht verwunderlich, daß aus Händlern und Kaufleuten Industrielle<br />

werden. Das ist bekannt seit der Zeit der bürgerlichen Klassiker und<br />

seit Marx und ist Voraussetzung und zugleich Begleiterscheinung der<br />

Umwandlung des Handels- bzw. Bank- in Industriekapital. Die Feststellungen<br />

von Alexander bestätigen nur diesen Prozeß.<br />

Darüber hinaus geht aus den vorhandenen Daten über den Bildungsstand<br />

der griechischen Industriellen (Tab. auf S. 95) hervor, daß<br />

die angedeutete Mobilität sehr stark mit dem Bildungsniveau korreliert.<br />

Der Prozentsatz der gebildeten Unternehmer liegt beträchtlich<br />

höher als derjenige der männlichen Bevölkerung. Von Interesse sind<br />

auch die Feststellungen von Alexander über die Beziehungen zwischen<br />

Industriellen und Arbeitern (116 f.). Die Stellung der Industriellen<br />

zu den Gewerkschaften bezeichnet er als häufig „one of<br />

open hostility". Weder Gewerkschaften noch der Staat sind imstande<br />

gewesen, „the violation by some employers of the labor legislation<br />

provisions" zu verhindern. Alexander findet, daß der Unternehmer<br />

westlichen Typs in Griechenland noch eine Ausnahme ist (123—25), er<br />

wird sich jedoch im Zuge der Assoziierung mit der EWG durchsetzen.<br />

Marios Nikolinakos (Köln)<br />

Triantis, S. G.: Common Market and Economic Development.<br />

Center of Planning and Economic Research, Research<br />

Monograph Series 14, Athens 1965.<br />

Das Buch von Triantis ist „the first systematic attempt to analyse<br />

and assess the effects which Greece's association with the European<br />

Economic Market may have on her economic development" (Coutsoumaris,<br />

Vorwort). Es ficht auf der Basis der bürgerlichen Ökonomie<br />

die Grundlagen des Assoziierungsabkommens Griechenlands mit der<br />

EWG an. Triantis, Wirtschaftsprofessor an der Universität von Toronto<br />

und gebürtiger Grieche, geht in seiner Untersuchung von zwei<br />

alternativ gestellten Entwicklungs-Lösungen für Griechenland aus,<br />

wobei bei der ersten „rein"-ökonomische Ziele, wie Wachstum des<br />

Pro-Kopf-Einkommens, Vollbeschäftigung und Minderung der Einkommensgleichheit,<br />

bei der zweiten politische Ziele, wie die Beibehaltung<br />

der griechischen Nation und demzufolge kleineres Wachstum<br />

des Pro-Kopf-Einkommens und Industrialisierung unter permanentem<br />

Schutz betrachtet werden (57—60).<br />

Triantis Präferenz gilt mehr der ökonomischen Lösung, obwohl<br />

seine Schlußfolgerungen mehr in Richtung der politischen Lösung<br />

liegen. Diese Betrachtungsweise isoliert jedoch die Probleme, abstrahiert<br />

von den tatsächlichen Verhältnissen und geht an den zentralen


484 Besprechungen<br />

Ursachen der Unterentwicklung vorbei. Dies kommt besonders im<br />

ersten Kapitel zum Ausdruck, wo Triantis über eine gleichmäßigere<br />

Verteilung des Einkommens als entwicklungspolitisches Ziel (33 f.)<br />

oder über die Faktorenmobilität spricht (29). Denn die Frage „wer<br />

übt die politische Macht aus", die entscheidend ist sowohl für realistische<br />

Verschiebungen in der Einkommensverteilung als Folge struktureller<br />

Änderungen in der Vermögensverteilung als auch für das die<br />

Entwicklung fördernde soziale Verhalten der Entwicklungsträger,<br />

wird nicht berührt. Daß Griechenland durch den Militärputsch ein<br />

eklatantes Beispiel der Insuffizienz dieser „ökonomistischen" Betrachtungsweise<br />

geworden ist, braucht nicht besonders hervorgehoben<br />

zu werden. Abgesehen davon bestätigt Triantis nach der Untersuchung<br />

der Assoziierung Griechenlands mit der EWG das schon bekannte<br />

Ergebnis, daß eine Assoziierung zwischen entwickelten Ländern<br />

Vorteile für beide hat, während eine solche Assoziierung zwischen<br />

entwickelten einerseits und wenig entwickelten Ländern (wie<br />

im Fall Griechenlands) andererseits, „of no value and very probably<br />

damaging" für die letzteren ist (88). Triantis findet z. B., daß die graduelle<br />

Abschaffung der Zollschranken keine symmetrischen Rückwirkungen<br />

haben wird: „The industries of the E.E.C. may gain very substantial<br />

ground in the Greek market, while Greek industry and agriculture<br />

gain very little in the E.E.C." (73). Nachdem er im einzelnen<br />

die Vorteile und Nachteile der Assoziierung untersucht hat, kommt<br />

er zum folgenden Ergebnis: „Generally, the association with the<br />

E.E.C. provides Greece with some short-run benefits of a rather<br />

modest dimension regarding her agriculturtural exports. But it affords<br />

little help for the long-term expansion of the country's visible<br />

and invisible exports, and it creates conditions which may compromise<br />

the long-term development of its economy. It exposes much of<br />

Greek industry to serious difficulties; it injects new uncertainties<br />

into Greek economy; it restricts the country's freedom to conduct<br />

autonomous and flexible economic policies; it may contribute to emigration<br />

of capital and skilled labour; and it may entail unbearable<br />

stresses on the Greek financial, administrative and economic structure"<br />

(85 f.). Wegen des Mangels an fruchtbarem Boden und Rohstoffen<br />

sieht Triantis für die Industrialisierung enge Grenzen (51 f., 58,<br />

186 und passim, 139). Dem Fremdenverkehr dagegen mißt der Verfasser<br />

große Bedeutung für die Entwicklung des Landes bei (167 ff.).<br />

Er stellt auch fest, daß die 22jährige Periode, in der nach dem Assoziierungsabkommen<br />

die Zollschranken abgebaut werden sollen, zu<br />

kurz und unzureichend für die Anpassung der griechischen Wirtschaft<br />

an diejenige der EWG ist (70, 89, 105). Vielmehr "it is quite<br />

possible that under the conditions created by the association<br />

the distance between Greece and the E.E.C. will increase<br />

rather than diminish" (105). Es würde 50 Jahre dauern, nach den Berechnungen<br />

von Triantis, bis Griechenland dasselbe Pro-Kopf-<br />

Einkommen wie die EWG-Staaten erreichte, vorausgesetzt, daß das<br />

griechische Pro-Kopf-Einkommen um 5—6 % jährlich und dasjenige<br />

der EWG um 3—4 % jährlich wächst, eine Hypothese, die kaum für


Ökonomie 485<br />

plausibel gehalten werden kann (105, Fußn. 1). Sehr interessant sind<br />

die Ausführungen über die Einfuhr ausländischen Kapitals nach<br />

Griechenland, mit der große Hoffnungen verknüpft wurden. Triantis<br />

findet, daß der Beitrag der ausländischen Investitionen vielmehr in<br />

der Einführung des Know-how als im Umfang des einzuführenden<br />

Kapitals zu suchen ist (186). Dazu meint er, daß trotz einer seit 1953<br />

bestehenden, dem ausländischen Kapital günstigen Gesetzgebung,<br />

keine großen Kapitalmengen nach Griechenland gezogen wurden. Es<br />

ist vielmehr zu befürchten, nach der schon bei anderen Ländern beobachteten<br />

Gesetzmäßigkeit, daß sich das Kapital von wenig entwickelten<br />

nach hochentwickelten Zentren verlagert (190, 197). Sehr<br />

einleuchtend ist die Analyse, warum die das ausländische Kapital<br />

begünstigende Gesetzgebung nicht ausreichend ist, um es in wenig<br />

entwickelte Gebiete zu locken (s. 199 ff.). Die Praxis der Militärregierung<br />

seit 1967 scheint diese Analyse zu bestätigen. Die großen ausländischen<br />

Investitionen, die unter dem Militärregime angekündigt<br />

worden sind, fließen nur als Preis der vertraglichen Zuschreibung<br />

spezieller Privilegien nach Griechenland und wickeln sich nicht im<br />

Rahmen der bestehenden Gesetzgebung ab. Es sollte schließlich die<br />

Feststellung hervorgehoben werden, welche Unklarheiten in offiziellen<br />

und inoffiziellen Kreisen Griechenlands über die Rückwirkungen<br />

des Assoziierungsabkommens auf die griechische Industrie<br />

bestehen (101, Fußn. 1) und wie nebulos und vage die Ziele der griechischen<br />

Regierung waren, die das Assoziierungsabkommen unterzeichnete<br />

(109 f.), was auch für alle bisherigen Regierungen ohne<br />

Ausnahme zutrifft.<br />

Das Buch von Triantis enthüllt, wie unvorbereitet Griechenland<br />

das Assoziierungsabkommen unterzeichnet hat und mit welchen falschen<br />

und unbegründeten Erwartungen die Assoziierung verbunden<br />

wurde. Abgesehen davon, daß nach dem Militärputsch von 1967 das<br />

Assoziierungsabkommen zum großen Teil auf Eis gelegt worden ist,<br />

deuten die vorhandenen statistischen Angaben darauf hin, daß durch<br />

das Assoziierungsabkommen Griechenland als Absatzmarkt für die<br />

EWG-Länder gewonnen wurde, während umgekehrt die EWG hauptsächlich<br />

als Abnehmer der traditionellen griechischen Agrarprodukte<br />

fungiert hat. Wichtige Kapitalbewegungen aus dem EWG-Raum nach<br />

Griechenland haben nicht stattgefunden. Der Touristenstrom nach<br />

Griechenland hängt keineswegs mit dem Assoziierungsabkommen zusammen.<br />

Marios Nikolinakos (Köln)<br />

Caves, Richard: American Industry. Structure, Conduct, Performance.<br />

2. ed., Verlag Prentice-Hall, Englewood Cliffs 1967<br />

(120 S., kart., 8,15 DM).<br />

Der Autor unternimmt mit diesem Buch den Versuch, eine einführende<br />

Erläuterung in die zentralen Probleme der Wirtschaft zu geben,<br />

die sich vornehmlich an Studenten der Anfangssemester eines<br />

wirtschaftswissenschaftlichen Studiums richtet. Mit den zentralen


486 Besprechungen<br />

Problemen ist hier fast ausnahmslos der Markt und das sich aus ihm<br />

entwickelnde Preisbildungssystem gemeint. Insofern wird der Inhalt<br />

des Buches dem Titel nicht gerecht, da aus letzterem eher der Eindruck<br />

entsteht, hier würde die Struktur der amerikanischen Industrie<br />

untersucht. Bei der Beschreibung dieses speziellen Gegenstands)<br />

kommt Caves — Inhaber eines Lehrstuhls für Wirtschaftswissenschaften<br />

an der Harvard-Universität — nicht über eine allgemeine<br />

Aussage hinaus: Unternehmer müßten nach dem Prinzip der Profitmaximierung<br />

verfahren (3 f.), und es gebe wohl monopolartige Strukturen<br />

des amerikanischen Marktes, die zumeist aber durch die Antitrust-Gesetzgebung<br />

unterbunden würden (15).<br />

Im einzelnen werden die Konzentrationsraten ausgewählter amerikanischer<br />

Industriezweige aufgeführt. Dabei wird beispielsweise<br />

ersichtlich, daß in der Flugzeugindustrie die 4 größten Unternehmen<br />

97 % aller Produkte dieser Branche herstellen, in der Seifenindustrie<br />

die 4 größten Unternehmen 90 % aller Waren liefern etc. (9). Abgesehen<br />

von dem Alter der Zahlen — sie stammen aus dem Jahre 1958<br />

und sollten aufgrund der sich rasch verändernden Konzentrationsraten<br />

moderner Volkswirtschaften in ein Werk aus dem Jahr 1967<br />

nicht mehr aufgenommen werden — weist die Tabelle mit Ausnahme<br />

der Flugzeugindustrie Industriekleinstzweige aus, die für die Gesamtkonzentration<br />

ohne jegliche Relevanz sind (Streichhölzer, Arbeitshemden,<br />

Pelzprodukte usw.). Die wichtigen und bestimmenden<br />

Industriezweige der Stahlerzeugung, der Ölindustrie, der Auto- und<br />

Elektroindustrie, die die modernen Volkswirtschaften heute entscheidend<br />

beeinflussen und es zukünftig noch stärker tun werden, werden<br />

ungenügend behandelt. Selbst bei einem internationalen Vergleich<br />

(19) und einem zeitlichen Vergleich (33) erscheint die Bedeutung der<br />

Konzentrationsrate auf die Korsett-, Regenschirm- und Alkoholikaherstellung<br />

beschränkt.<br />

Caves geht in seiner weiteren Untersuchung dann auf die Probleme<br />

der Oligopole, der Preisführerschaft und der Monopole ein. Er;<br />

erklärt hier viel zu allgemein, nach welchen Regeln Preise für Produkte<br />

unter diesen Marktbedingungen entstehen. Ebenso generell ist<br />

der Hinweis, daß es trotz der Antitrust-Gesetze Möglichkeiten zur<br />

Herausbildung von Monopolen gibt, und zwar infolge der „ökonomischen<br />

Gesetzmäßigkeit" der amerikanischen Wirtschaft (56 ff.). Sehr<br />

fragwürdig wird Caves dann, wenn er einen Teil der Antitrust-Gesetze<br />

ablehnt. Er meint, daß damit „trotz des generell bekundeten<br />

Glaubens der Amerikaner an den Wert der Konkurrenz" viele dieser<br />

Gesetze die Herausbildung der Konkurrenz gar nicht erst gestatten,<br />

sondern der Staat diese behindert (75).<br />

Infolge der Knappheit des mitgelieferten theoretischen Materials<br />

werden diese Aussagen zum Zeugnis einer völlig un<strong>kritische</strong>n, ja<br />

nebulosen Wiedergabe bestehender ökonomischer Verhältnisse. Von<br />

einer Hilfe für Studenten, wie im Vorwort erwähnt, kann gar keine<br />

Rede sein; hier wird weder populär noch wissenschaftlich aufgeklärt,<br />

sondern plump verschleiert und populär gerechtfertigt.<br />

Harry Gräser (Bremen)


Ökonomie 487<br />

Kolko, Gabriel: Besitz und Macht. Sozialstruktur und Einkommensverteilung<br />

in den USA. es 239, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main<br />

1967 (166 S., kart., 4,— DM).<br />

Kolkos Untersuchung kann sich auf bisher unveröffentlichtes Material<br />

des Federal Reserve Board und des Survey Research Center<br />

zur Einkommensverteilung stützen. Nach methodischer Bereinigung<br />

dieses Materials gelingt Kolko der Nachweis, daß entgegen bisheriger<br />

Statistiken — insbesondere von Kuznets — in den USA von einer<br />

Einkommensnivellierung zwischen den verschiedenen Einkommensklassen<br />

in den letzten zwanzig Jahren keine Rede sein kann.<br />

Zwar wurden z. B. 1957 etwa 91 % des gesamten privaten Geldeinkommens<br />

in den Einkommenssteuererklärungen angegeben; da<br />

der Fehlbetrag von 27,7 Milliarden Dollar jedoch fast ausschließlich<br />

auf die höheren Steuerklassen entfällt, liegt es auf der Hand,<br />

„daß die Außerachtlassung von Einkommen dieser Größenordnung<br />

— besonders wenn ein Großteil davon auf ein einziges Einkommenszehntel<br />

entfällt — die Ziffern über die Einkommensverteilung beträchtlich<br />

verzerren" (29). Gegen Galbraith, Riesman etc. kann er<br />

also nachweisen: „Die überwiegend wohlhabende Mittelstandsgesellschaft<br />

ist nichts als ein Wunschbild isolierter Akademiker" (115).<br />

Die Besteuerung der Einkommen ist allenfalls in der Theorie progressiv,<br />

in der Praxis hat sie „die fundamentale Ungleichheit in der Einkommensverteilung<br />

nicht verringert", sondern „die Ungleichheit<br />

noch einmal bestätigt, indem sie den unteren und mittleren Einkommensgruppen<br />

hohe Steuern auferlegte" (54). Eine Einkommensumverteilung<br />

hat jedoch tatsächlich stattgefunden, allerdings zugunsten<br />

der Konzerne, deren Konzentration auch durch eine Anti-Kartell-<br />

Gesetzgebung nicht aufzuhalten war (63 ff.). Zu Recht hält er der verbreiteten<br />

These, diese Giganten operierten heute unabhängig vom<br />

Profitmotiv, entgegen: „Es tut nichts zur Sache, wie sie die Macht<br />

(gebrauchen), ob für ihre Sonderinteressen oder im Sinne des Interesses<br />

der Gesamtgesellschaft. Über den philosophischen Gehalt ihrer<br />

Intentionen mag man streiten können; über die Anatomie ihrer<br />

Macht kann man es nicht" (64). Hier werden jedoch auch schon die<br />

Grenzen der Kolkoschen Kritik am amerikanischen Monopolkapitalismus<br />

deutlich. Wenngleich er die Logik der „Treuhänder-These"<br />

(Riesman bezeichnet die Manager der Großkonzerne als Treuhänder)<br />

durchbricht, übernimmt er implizite ihre Aussage. — Kolko ist überzeugt,<br />

daß die „bestehende Gesellschaftsordnung" es tatsächlich<br />

schaffen kann, „für Gleichheit der Chancen zu sorgen" (139).<br />

Sein Buch kann als eine umfassende Materialsammlung gelten,<br />

zumal es in einem weiten Bereich sehr genau nach Berufsklassen die;<br />

Einkommensverteilung über einen großen Zeitraum aufschlüsselt.<br />

Trotz seiner antimonopolistischen Einstellung ist es jedoch nicht als<br />

Kritik des Monopolkapitalismus anzusehen, da die Rolle des Monopols<br />

im kapitalistischen Produktionsprozeß weder formuliert noch<br />

auf ihren Begriff gebracht wird. Hubertus von Heynitz (Berlin)


488 Besprechungen<br />

Sweezy, Paul M.: Die Zukunft des Kapitalismus und<br />

andere Aufsätze zur politischen Ökonomie, es<br />

374. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1970 (132 S., kart., 4,— DM).<br />

Außer dem im Titel genannten Aufsatz sind in diesem Band folgende<br />

sieben Abhandlungen zusammengestellt, die alle im Zeitraum<br />

von 1951 bis 1967 geschrieben wurden: Ein Wirtschaftsprogramm für<br />

Amerika; Interessengruppen in der amerikanischen Wirtschaft; Zum<br />

Begriff der herrschenden Klasse; Exkurs über Wissenschaft, Marxismus<br />

und Demokratie; John Maynard Keynes; Notiz über einen entscheidenden<br />

Unterschied zwischen Kapitalismus und Sozialismus;<br />

Marx und das Proletariat.<br />

Einige der Aufsätze bilden in manchen Aspekten Vorarbeiten<br />

zu Sweezys letztem Buch „Monopolkapital", das er zusammen mit<br />

Baran verfaßt hat. Die in ihnen niedergelegten theoretischen Erkenntnisse<br />

reichen keineswegs über das hinaus, was aus unzähligen<br />

anderen Aufsätzen zahlreicher Autoren über den Nachkriegskapitalismus<br />

verbreitet worden ist. Interessant sind nur zwei Artikel. Erstens<br />

der über die Interessengruppen in Amerika, weil Sweezy dort<br />

aufschlußreiches Material ausbreitet, und zweitens seine Notiz über<br />

den Unterschied zwischen Kapitalismus und Sozialismus, in der er<br />

kurz und präzise die Reproduktionsbedingungen in beiden Systemen<br />

darlegt.<br />

Biographisch interessant ist auch die Abhandlung über Keynes, in<br />

der Sweezy sein Verhältnis zu dessen Schule erläutert. „... ich meine,<br />

daß die Arbeit seiner Schule einiges Licht auf die Funktionsweise<br />

der kapitalistischen Wirtschaft wirft. Es gibt Erkenntnisse bei Marx<br />

— besonders in den unvollendeten späten Bänden des Kapitals und<br />

in den <strong>Theorien</strong> über den Mehrwert —, die eine neue Bedeutung gewinnen<br />

und an die richtige Stelle rücken, wenn man sie unter dem<br />

Gesichtswinkel der Keynesschen Beiträge liest" (100). Kein Wunder,<br />

wenn viele Kritiker des „Monopolkapital" die Meinung vertreten,<br />

Baran und Sweezy seien von der marxistischen zur bürgerlichen<br />

Theorie abgerückt.<br />

In zwei weiteren Arbeiten: „Die Zukunft des Kapitalismus" und<br />

„Marx und das Proletariat" versucht Sweezy, die Methode einer<br />

Imperialismustheorie aus dem Zusammenhang von Entwicklung in<br />

den fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten und Unterentwicklung<br />

in den Ländern der Dritten Welt zu bestimmen und seine These<br />

zu begründen, warum die revolutionäre Initiative auf die Befreiungsbewegungen<br />

der unterentwickelten Länder übergegangen ist.<br />

Die restlichen Ausführungen sind belanglos. Zu einer Theorie des<br />

Spätkapitalismus, die sich in der <strong>Diskussion</strong> über bereits vorliegende<br />

theoretische Ansätze herausbilden müßte, trägt dieser Band insgesamt<br />

wenig bei.<br />

Wolfgang Schmidt (Göttingen)


III<br />

(Fortsetzung von Seite II)<br />

Sieyès, Emmanuel: Abhandlung über die Privilegien (Krause-<br />

Vilmar) 403<br />

Fourier, Charles: Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen<br />

Bestimmungen (Hahn) 406<br />

Walch, Jean: Bibliographie du Saint-Simonisme (Hahn) . . . 409<br />

Mill, John Stuart: Über Freiheit (Tibi) 411<br />

de Tocqueville, Alexis: Das Zeitalter der Gleichheit (Tibi) . . 412<br />

Feldhoff, Jürgen: Die Politik der egalitären Gesellschaft (Tibi) 414<br />

Sorel, Georges: Über die Gewalt (Tibi) 415<br />

Berding, Helmut: Rationalismus und Mythos (Tibi) 416<br />

Gehlen, Arnold: Moral und Hypermoral (Furth) 420<br />

Soziale Bewegung und Politik<br />

Hobson, John A.: Der Imperialismus (U. Müller) 424<br />

Küntzel, Ulrich: Der Dollar-Imperialismus (D. Krause) . . . . 427<br />

Bosch, Juan: Der Pentagonismus — oder die Ablösung des<br />

Imperialismus? (Frei) 429<br />

Horowitz, David: Kalter Krieg (Küntzel) 430<br />

Horowitz, David (Hrsg.): Containment and Revolution<br />

(Behrens/Sanio) 431<br />

Kühnl, Reinhard: Deutschland zwischen Demokratie und <strong>Faschismus</strong><br />

(Opitz) 281<br />

Agnoli, Johannes, u. Peter Brückner: Die Transformation der<br />

Demokratie (D. Krause) 434<br />

Haug, Wolf gang Fritz: Der hilflose Antifaschismus (Nieuwstadt) 437<br />

Dahle, Wendula: Der Einsatz einer Wissenschaft (Nieuwstadt) 441<br />

Werner, Karl F.: Das NS-Geschichtsbild und die deutsche Geschichtswissenschaft<br />

(Rürup) 444<br />

Nolte, Ernst: Der <strong>Faschismus</strong> in seiner Epoche (Saage) . . . . 292<br />

Nolte, Ernst: Die faschistischen Bewegungen (Saage) 292<br />

Nolte, Ernst (Hrsg.): <strong>Theorien</strong> über den <strong>Faschismus</strong> (Saage) . . 292<br />

Nolte, Ernst: Der <strong>Faschismus</strong> (Saage) 292<br />

Nolte, Ernst: Die Krise des liberalen Systems und die faschistischen<br />

Bewegungen (Saage) 292<br />

Weltgeschichte Bd. 9 u. 10, hrsg. von der Akademie der Wissenschaften<br />

der UdSSR (Kühnl) 271<br />

Paterna, Erich, u. a.: Deutschland von 1933 bis 1939 (Kühnl) 271<br />

Tyrell, Albrecht (Hrsg.): Führer befiehl... (Kühnl) 258<br />

Hildebrand, Klaus: Vom Reich zum Weltreich (Kühnl) . . . . 260<br />

Messer Schmidt, Manfred: Die Wehrmacht im NS-Staat (Kühnl) 262<br />

Hoffmann, Peter: Widerstand, Staatsstreich, Opposition (Kühnl) 265<br />

Hillgruber, Andreas (Hrsg.): Probleme des Zweiten Weltkriegs<br />

(Kühnl) 268<br />

Czichon, Eberhard: Der Bankier und die Macht (Kühnl) . . . 269<br />

Czichon, Eberhard: Hermann Josef Abs. Porträt eines Kreuzritters<br />

des Kapitals (Kühnl) 269


IV<br />

Bracher, Karl Dietrich: Die deutsche Diktatur (Winckler) . . . 446<br />

Maser, Werner: Die Frühgeschichte der NSDAP (Czichon) . . 447<br />

Jäckel, Eberhard: Hitlers Weltanschauung (Lüdtke) 448<br />

Fabry, Philipp W.: Mutmaßungen über Hitler (Voigt) . . . . 449<br />

Lange, Karl: Hitlers unbeachtete Maximen (Voigt) 449<br />

Domarus, Max: Hitler. Reden und Proklamationen 1932—1945<br />

(Voigt) 449<br />

Klöss, Erhard (Hrsg.): Reden des Führers (Voigt) 449<br />

von Kotze, Hildegard, u. a. (Hrsg.): „Es spricht der Führer"<br />

(Voigt) 449<br />

Burke, Kenneth: Die Rhetorik in Hitlers „Mein Kampf" (Voigt) 449<br />

Strasser, Otto: Mein Kampf (Czichon) 453<br />

Deuerlein, Ernst (Hrsg.): Der Aufstieg der NSDAP 1919—1933<br />

in Augenzeugenberichten (Westarp) 455<br />

Allen, William S.: „Das haben wir nicht gewollt!" (Herkommer) 456<br />

Heyen, Franz J. (Hrsg.): Nationalsozialismus im Alltag (Krause-<br />

Vilmar) 458<br />

Diehl-Thiele, Peter: Partei und Staat im Dritten Reich (Czichon) 458<br />

Mommsen, Hans: Beamtentum im Dritten Reich (Westarp) . . 460<br />

Conway, John S.: Die nationalsozialistische Kirchenpolitik<br />

1933—1945 (Haasis) 462<br />

Deschner, Karlheinz: Kirche und <strong>Faschismus</strong> (Haasis) . . . . 463<br />

Brandenburg, Hans-Christian: Die Geschichte der HJ (Unger) 464<br />

Müller, Klaus-Jürgen: Heer und Hitler (Winckler) 465<br />

Förster, Gerhard: Totaler Krieg und Blitzkrieg (Westarp) . . 468<br />

Völkischer Beobachter. Faksimile Querschnitt (Koch) 312<br />

Das Schwarze Korps. Faksimile Querschnitt (Koch) 312<br />

Signal. Faksimile Querschnitt (Koch) 312<br />

Das Reich. Faksimile Querschnitt (Koch) 312<br />

Frankfurter Zeitung. Faksimile Querschnitt (Koch) 312<br />

Hale, Oron J.: Presse in der Zwangsjacke 1933—1945 (Koch) . 312<br />

Abel, Karl Dietrich: Presselenkung im NS-Staat (Koch) . . . . 312<br />

Jahnke, Karl-Heinz: Weiße Rose contra Hakenkreuz (Haasis) 469<br />

Jecchenis, Christos: Trade Unionism in Greece (Nikolinakos) 470<br />

Tsakonas, Demetrios: Geist und Gesellschaft im neuen Griechenland<br />

(Nikolinakos) 472<br />

Aujourd'hui la Grèce ... (Nikolinakos) 473<br />

Gstrein, Heinz (Hrsg.): Zum Beispiel Griechenland (Nikolinakos) 474<br />

Marceau, Marc: La Grèce des colonels (Nikolinakos) 475<br />

Mathiopoulos, Basil P.: Athen brennt (Nikolinakos) 475<br />

Cervi, Mario: Dove va la Grecia? (Nikolinakos) 475<br />

Seyppel, Joachim: Geburt einer Tyrannis (Nikolinakos) . . . 475<br />

Skriver, Ansgar: Soldaten gegen Demokraten (Nikolinakos) . . 475<br />

Koch, Erwin E.: Griechenland im Umbruch (Nikolinakos) . . . 475<br />

Ahlberg, René: Die politische Konzeption des Sozialistischen<br />

Deutschen Studentenbundes (Stolle) 375<br />

Baier, Horst (Hrsg.): Studenten in Opposition (Stolle) 375<br />

Benedict, Hans-Jürgen, u. Theodor Ebert: Macht von unten<br />

(Stolle) 375

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