Piraten und Pest im Gruselkeller Jochen Brenner - Henri-Nannen ...
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<strong>Henri</strong>-<strong>Nannen</strong>-Journalistenschule Seite 1 von 2<br />
<strong>Piraten</strong> <strong>und</strong> <strong>Pest</strong> <strong>im</strong> <strong>Gruselkeller</strong><br />
<strong>Jochen</strong> <strong>Brenner</strong><br />
Scharf unterhalb Christians linkem Auge furcht eine blutige Narbe auf, zieht sich klaffend<br />
an seiner Nase vorbei <strong>und</strong> endet, leicht nässend, knapp über seinem M<strong>und</strong>winkel. Er lacht,<br />
die Narbe hüpft, Zigarettenrauch qualmt aus seinem M<strong>und</strong>. Rauchpause <strong>im</strong> Kerker. Der<br />
Vier<strong>und</strong>zwanzigjährige ist Schauspieler <strong>im</strong> „Hamburg Dungeon“, einem unterirdischen<br />
Kerkerverlies mitten in der Hamburger Speicherstadt. Was dort gespielt wird? „Den<br />
dunklen Seiten aus 1000 Jahren Hamburger Geschichte hauchen wir Leben ein“,<br />
werbetextet er.<br />
Christian ist in der Historien-Schau an diesem Sonntag ein wilder Pirat. Deshalb die<br />
Narbe. „Hämbörg Dannschen“ sagt er, wenn von seiner Arbeit die Rede ist, „Hamburch<br />
Dungscheong“ so hört man´s von den meisten in der schier endlosen Schlange vor der<br />
Tür. „Det heeßt Drache“, weiß Ach<strong>im</strong>, der extra aus Berlin angereist ist <strong>und</strong> seit vierzig<br />
Minuten in der Schlange steht. „Kerker“ ist die richtige Übersetzung.<br />
Das Konzept für die Historien-Schau <strong>im</strong> Keller kommt aus dem angelsächsischen Raum.<br />
Am Anfang stand das „London Dungeon“, seit ein paar Jahren ist auch Deutschland dran,<br />
Hamburg <strong>im</strong> Jahr 2000 zuerst, andere Städte sollen folgen. Die britische Entertainment-<br />
Gruppe „Merlin“ ist mit ihrer Idee der „lebendigen Geschichte“ auf weltweitem<br />
Expansionskurs – mit wachsendem Erfolg. Allein <strong>im</strong> ersten Jahr sahen r<strong>und</strong> 350 000<br />
Besucher das Historien-Spektakel unter Speicher D in Hamburg – so viele Eintrittskarten<br />
wurden in allen Hamburger Museen <strong>im</strong> gleichen Jahr nicht verkauft.<br />
In neunzig Minuten spielen Christian <strong>und</strong> seine Kollegen tausend Jahre Hamburger<br />
Geschichte nach – vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Die Schwerpunkte „<strong>Pest</strong>“,<br />
„Inquisition“ <strong>und</strong> „Störtebeker“ laufen unter Mittelalter, „Großer Brand von Hamburg<br />
1842“ <strong>und</strong> „Weihnachtssturmflut von 1717“ unter Neuzeit. „Das ist historisch sicher<br />
etwas flexibel eingeordnet“, gesteht Christian, der mit der Schauspielerei <strong>im</strong> „Dungeon“<br />
sein Studium finanziert <strong>und</strong> schon bald als Geschichtslehrer an einem Hamburger<br />
Gymnasium unterrichten wird, „aber besser das, als gar nichts wissen.“
<strong>Henri</strong>-<strong>Nannen</strong>-Journalistenschule Seite 2 von 2<br />
Insgesamt erleben die Besucher acht Stationen auf ihrem Weg durch ein ganzes<br />
Jahrtausend – verteilt auf gigantische 1400 Quadratmeter. Chronologisch ist deren Folge<br />
jedoch nicht, auch inhaltlich besteht kein Zusammenhang. Maßstab für die einzelnen<br />
Abschnitte scheinen die Themen gewesen zu sein, die aufgeweckten Achtjährigen zum<br />
Mittelalter einfallen: Folter, <strong>Pest</strong>, <strong>Piraten</strong>stories. Die Guido-Knoppisierung des Nationalsozialismus<br />
<strong>im</strong> deutschen Fernsehen findet hier ein trauriges Pendant: Störtebekers Helfer<br />
– live <strong>und</strong> in Farbe. Trivial nennen das die einen, gefährlich die anderen, auf jeden Fall<br />
aber ist die Sache unterhaltsam, urteilen viele der Sonntagsausflügler, die sich zu jeweils<br />
dreißigst durch die Katakomben schieben. Kinderaugen leuchten, wenn Störtebeker „die<br />
Mannschaft“ auf sein Schiff einlädt <strong>und</strong> alle das Lied mit der „Buddel voll Rum“ singen.<br />
Kleine Hände schieben sich in große, wenn dreißig „Hamburger“ durch ein Flammeninferno<br />
den Weg nach draußen suchen <strong>und</strong> auch der letzte Zauderer juchzt kurz auf, wenn<br />
die rettende Jolle von der Sturmflut erfasst wird <strong>und</strong> hinterrücks einen kleinen Wasserfall<br />
hinabstürzt. So aufregend können eintausend Jahre <strong>im</strong> Erlebnis-Park vorbeigehen.<br />
Bei einem „blutigen Steak“ <strong>und</strong> Tomatensaft <strong>im</strong> Restaurant des „Hamburg Dungeon“<br />
erholen sich viele Besucher von den neunzig Minuten Schrecken <strong>und</strong> Dunkelheit. Der<br />
neunjährige Max aus Nürnberg erzählt, während er Pommes frites um Pommes frites in<br />
seinen M<strong>und</strong> befördert, dass ihn das „Hand-Abhacken“ <strong>im</strong> Folterkeller am meisten<br />
beeindruckt hat. Seine Eltern schauen ein wenig besorgt. Für Christian geht um sechs<br />
seine <strong>Piraten</strong>schicht zu Ende. Vierzig Gruppen wird er dann das Fürchten gelehrt haben,<br />
vierzig Mal seine Narbe ins schwache Licht der Schiffslaterne gehalten haben, vierzig Mal<br />
das „Rum-Buddel-Lied“ angest<strong>im</strong>mt haben. „Manchmal zieh ich dann mit meinen<br />
<strong>Piraten</strong>kollegen nach der Arbeit noch um die Häuser“, verrät er <strong>und</strong> lächelt ein wenig<br />
verschmitzt. Die Narbe hüpft. Sie bleibt natürlich dran.