Predigt zu Lukas 6,36-42: "Seid barmherzig" (27 ... - Kirche-bernitt.de
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Liebe Gemein<strong>de</strong>, ich möchte Ihnen <strong>de</strong>n Bericht eines Jungen<br />
weitergeben, <strong>de</strong>r einen Gast in ihrer Familie erlebt hat und was sich<br />
daraus entwickelte:<br />
Justus, 12 Jahre alt erzählt:<br />
Kolja kommt aus Saratow. Er ist 21 Jahre alt und studiert irgendwas mit<br />
Landwirtschaft. So genau weiß das keiner. Schließlich kann er ziemlich<br />
schlecht <strong>de</strong>utsch. Und wie soll man da herauskriegen, was er nun<br />
eigentlich studiert? Jetzt ist er für paar Monate in Deutschland und<br />
arbeitet bei uns im Garten mit.<br />
Mein Papa und meine Mama haben einen riesigen Garten. Dreimal in<br />
<strong>de</strong>r Woche verkaufen sie Obst auf <strong>de</strong>m Markt. Und weil das alles<br />
ziemlich viel Arbeit ist, haben sie eben Kolja; eigentlich eine gute Sache,<br />
so ein Helfer.<br />
Aber Mama ist von Kolja furchtbar genervt. Sie regt sich <strong>de</strong>n ganzen Tag<br />
auf. Dabei ist noch das kleinste Übel, dass er so wenig <strong>de</strong>utsch spricht.<br />
Wenn seine Arbeitszeit vorbei ist, geht er in sein Zimmer und kommt<br />
nicht wie<strong>de</strong>r heraus. Das fin<strong>de</strong>t Mama unhöflich. Auch, dass er nicht mit<br />
ihr frühstücken will, son<strong>de</strong>rn immer nur schnell <strong>de</strong>n Kaffee trinkt (Mama<br />
sagt, er schlürft, dass es ihr schlecht wird), ärgert sie. Und die Wäsche<br />
lässt er sich nicht waschen. Neulich hat Mama in sein Zimmer geschaut,<br />
als er nicht da war. Da hingen alle Socken <strong>zu</strong>m Trocknen über <strong>de</strong>r<br />
Hei<strong>zu</strong>ng. Mama meint, die hätte er doch in die Waschküche legen<br />
können.<br />
Und alles muss man ihm sagen, je<strong>de</strong> Arbeit. Von sich aus sieht er nichts.<br />
Aber das wun<strong>de</strong>rt Mama nicht. In Russland ist das eben so. Die arbeiten<br />
alle nicht richtig; <strong>de</strong>swegen geht es <strong>de</strong>nen auch so schlecht. (Zu meinen<br />
großen Schwestern sagt Mama allerdings auch immer, dass sie faul<br />
wären und die Arbeit nicht sehen wür<strong>de</strong>n...)<br />
Und neulich waren wir drei Tage nicht da. Da hat Mama Kolja Geld<br />
gegeben, damit er sich was <strong>zu</strong> essen kaufen kann. Als wir wie<strong>de</strong>rkamen,<br />
lag das Geld noch in <strong>de</strong>r Küche und Mama hat sich wie<strong>de</strong>r fürchterlich<br />
aufgeregt und gesagt: „Wahrscheinlich hat er irgendwo was geklaut, das<br />
machen die doch alle.“<br />
Ich weiß nicht, ob Mama recht hat. Aber ich habe überhaupt keine<br />
Probleme mit Kolja. Wir unterhalten uns oft und ehrlich gesagt: er<br />
versteht mich und ich verstehe ihn. Und wenn mal ein Wort fehlt, dann<br />
nehmen wir Arme o<strong>de</strong>r Beine.<br />
Ich weiß auch, dass er <strong>zu</strong> Hause an einem sehr breiten Fluss lebt: die<br />
Wolga. Kolja ist ein guter Schwimmer und kann von einem Ufer bis <strong>zu</strong>m<br />
an<strong>de</strong>ren schwimmen. Das glaube ich, <strong>de</strong>nn er war neulich mit mir an <strong>de</strong>r<br />
Kieskuhle, und ich habe selbst gesehen, dass er einen super Kraulstil<br />
hat.<br />
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Abends spielen wir manchmal Tischtennis o<strong>de</strong>r er singt mir russische<br />
Lie<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>r Gitarre vor. Am liebsten lasse ich mir von Russland<br />
erzählen. Da scheint alles ganz an<strong>de</strong>rs <strong>zu</strong> sein als hier. Kolja geht mit<br />
seinem Papa manchmal Enten schießen. In <strong>de</strong>n Ferien ist er früher mit<br />
seinen Eltern an das Schwarze Meer gefahren. Das ist viel wärmer als<br />
die Ostsee. Das Leben in großen Städten, sagt Kolja, ist schwer, weil<br />
Russland ein armes Land ist. Viele Leute versuchen selbst auf <strong>de</strong>m<br />
Balkon etwas an<strong>zu</strong>bauen o<strong>de</strong>r Tiere <strong>zu</strong> halten, damit sie nicht hungern<br />
müssen.<br />
Wenn er erzählt, merke ich ganz <strong>de</strong>utlich, dass er Heimweh hat. Mama<br />
erzählt er nie von seinem Land. Wenn sie auftaucht, verschwin<strong>de</strong>t er.<br />
Eigentlich wür<strong>de</strong> ich gern mal nach Russland fahren, aber Mama ist<br />
bestimmt dagegen. Sie fährt lieber in Län<strong>de</strong>r, in <strong>de</strong>nen sie <strong>de</strong>utsch<br />
sprechen kann, sagen wir mal Österreich, Mallorca o<strong>de</strong>r so.<br />
Ich fin<strong>de</strong> es scha<strong>de</strong>, dass Koljas Zeit bei uns bald <strong>zu</strong> En<strong>de</strong> ist. Papa sagt<br />
das auch. Denn mir fehlt ein Freund und meinen Eltern die Hilfe.<br />
Außer<strong>de</strong>m sagt Papa: „Wenn Kolja weg ist, über wen soll sich Mama<br />
dann aufregen!!!“<br />
Noch einmal möchte ich Ihnen einige Verse aus <strong>de</strong>m <strong>Predigt</strong>text<br />
vorlesen:<br />
»Wer<strong>de</strong>t barmherzig, so wie euer Vater barmherzig ist!<br />
Verurteilt nicht an<strong>de</strong>re, dann wird Gott auch euch nicht verurteilen. Sitzt<br />
über niemand <strong>zu</strong> Gericht, dann wird Gott auch über euch nicht <strong>zu</strong><br />
Gericht sitzen. Verzeiht, dann wird Gott euch verzeihen.<br />
Schenkt, dann wird Gott euch schenken; ja, er wird euch so überreich<br />
beschenken, dass ihr gar nicht alles fassen könnt. Darum gebraucht<br />
an<strong>de</strong>ren gegenüber ein reichliches Maß; <strong>de</strong>nn Gott wird bei euch<br />
dasselbe Maß verwen<strong>de</strong>n.«<br />
Warum kümmerst du dich um <strong>de</strong>n Splitter im Auge <strong>de</strong>ines Bru<strong>de</strong>rs o<strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>iner Schwester und bemerkst nicht <strong>de</strong>n Balken in <strong>de</strong>inem eigenen?<br />
Wir sind, wie wir sind, je<strong>de</strong>r von uns ist an<strong>de</strong>rs. Die Kunst besteht genau<br />
darin, sich gegenseitig aus<strong>zu</strong>halten und: sich selbst aus<strong>zu</strong>halten.<br />
Das ist manchmal min<strong>de</strong>stens genauso schwer.<br />
Wir sind wie wir sind, wir haben es oft nicht leicht miteinan<strong>de</strong>r. Nicht<br />
immer fin<strong>de</strong>n wir uns gegenseitig anregend, son<strong>de</strong>rn mitunter fin<strong>de</strong>n wir<br />
es nur noch aufregend. Aber wir sind wie wir sind. Und wir sind es <strong>de</strong>n<br />
an<strong>de</strong>ren schuldig, mit ihnen barmherzig um<strong>zu</strong>gehen, großherzig,<br />
tolerant, interessiert. Wir sind wie wir sind. Und wir haben es verdient,<br />
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dass mit uns barmherzig umgegangen wird, großherzig, tolerant,<br />
interessiert. Das könnte dann vielleicht so klingen:<br />
Ach, so bist du? Und auf diese Art lebst du <strong>de</strong>in Leben? Das macht mich<br />
neugierig. O<strong>de</strong>r: „Erzähl mir doch mal, wie du darüber <strong>de</strong>nkst.“<br />
Schön, dass es uns gibt. Das sollten wir uns immer einmal wie<strong>de</strong>r sagen:<br />
Es müssen keine weitschweifigen Liebeserklärungen sein. Es reicht ein<br />
ehrliches Lächeln, eine bewun<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Miene, ein herzlicher Hän<strong>de</strong>druck,<br />
eine aufrichtige Nachfrage. Wir sind, wie wir sind. Gott hat uns lieb.<br />
Kin<strong>de</strong>r können diesen Satz eher glauben.<br />
Und wir brauchen manchmal einen Schubs, um <strong>zu</strong> begreifen, wir sind<br />
damit gemeint.<br />
Es ist so gut, dass wir verschie<strong>de</strong>n sind, und es tut so gut, wenn man<br />
merkt, dass man verschie<strong>de</strong>n sein darf. Ich wünsche uns, dass wir uns<br />
selber mögen und großherzig mit uns und an<strong>de</strong>ren sein können, <strong>de</strong>nn<br />
dann wer<strong>de</strong>n sich neue Welten eröffnen, und Wege möglich sein, die wir<br />
gar nicht gegangen wären und kennen wür<strong>de</strong>n, wenn unser Herz nicht<br />
frei schlagen wür<strong>de</strong> und <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Menschen nicht als Bereicherung<br />
sehen könnte. Wir sind, wie wir sind und wir dürfen so sein und uns auch<br />
so sein lassen.<br />
Da<strong>zu</strong> verhelfe uns <strong>de</strong>r überaus barmherzige Gott. Amen<br />
Elisabeth Lange, <strong>27</strong>. Juni 2010<br />
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