Musterbeispiel Gedichtinterpretation - Praktikum macht Schule
Musterbeispiel Gedichtinterpretation - Praktikum macht Schule
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Dr. Stefan Winkelmann (OStR) Bremen, den 21.09.2008<br />
Karlsbader Str. 03<br />
27749 Bremen<br />
Tel: 04221-68922222<br />
Mail: Winkelmann38@freenet.de<br />
Unterrichtsentwurf zur Unterrichtsbesichtigung im Fach Deutsch<br />
<strong>Schule</strong>: Gymnasium an der Rheinstraße, Bremen<br />
Klasse: 6d<br />
Raum: A 208<br />
Datum: 28. September 2008<br />
Zeit: 10.35-11.20 Uhr<br />
Thema der Stunde: Die Bedeutung offener Leerstellen am Beispiel des Gedichtes<br />
„Meeresstille“ von Heinrich Heine<br />
Thema der Unterrichtseinheit: Von der Konkretisation zur Interpretation am Beispiel<br />
lyrischer Texte von Heinrich Heine<br />
1. Anmerkungen zur Lerngruppe<br />
Seit August 2005 unterrichte ich die Klasse 6d im Fach Deutsch. In der Klasse lernen acht Schülerinnen<br />
und neunzehn Schüler. Zwei Schüler, Herbert und Josef, sind nach Umzügen neu in der Klasse.<br />
Das Interesse der 6d am Deutschunterricht ist hoch und zeigt sich in motivierter Mitarbeit, meist sorg-<br />
fältig erledigten Hausaugaben sowie einer großen Neugierde. Besonders engagierte Schülerinnen und<br />
Schüler wie Pia, Dominik M., Manfred, Pascal und Joshua scheuen sich z.B. nicht, Fragen zu stellen,<br />
Widersprüche zu thematisieren oder Ergebnisse zu präsentieren und befördern auf diese Weise die<br />
ohnehin lebendige Lernatmosphäre. Die insgesamt positive Einschätzung der Einstellung der Klasse<br />
korrespondiert auch mit dem Umstand, wonach in der 6d nur ein Schüler ohne Gymnasialempfehlung<br />
lernt (Dennis T.).<br />
Die pragmatischen Kompetenzen der meisten Schülerinnen und Schüler entsprechen denen Gleichaltriger:<br />
Auf der einen Seite konnten bisher selten kommunikative Hemmschwellen beobachtet werden,<br />
auf der anderen Seite waren für fast alle durchschnittliche sprachliche Anlagen zu vermerken. Lediglich<br />
die vier Schülerinnen mit einem Migrationshintergrund - Andrea, Celine, Marta und Sophia - zei-<br />
gen dann und wann kleinere Verständnis- und Formulierungsschwächen.<br />
Bereits seit der 5. Klasse sind die Schülerinnen und Schüler mit verschiedenen Ritualen vertraut ge<strong>macht</strong><br />
worden. Dies zeigt sich sowohl bei der Begrüßung, als auch bei der zügigen Verteilung von<br />
Arbeitsmaterialien und der Einhaltung von Gesprächsregeln.<br />
Überdies hat die Klasse mehrere methodische Routinen kennen gelernt. So sind die Schülerinnen und<br />
Schüler an die verschiedenen Sozialformen, an Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit gewöhnt. In der<br />
Gruppenarbeitsphase etwa ist es üblich, dass die unterschiedlichen Funktionen - Moderator, Sprecher,<br />
Gestalter, Zeitmanager - abwechselnd aufgeteilt werden und die hierfür notwendige Sitzordnung hergestellt<br />
wird. Zu den methodischen Selbstverständlichkeiten gehören zudem die problemorientierten<br />
Zugänge, z.B. das Aufwerfen von Leitfragen, aber auch die Arbeit mit kleineren Folienpräsentationen.<br />
Verstärkt werden muss in diesem Bereich weiter die Arbeit mit Textbelegen und Zeilenangaben.<br />
Das Leistungsvermögen der Schülerinnen und Schüler der 6d ist vor allem im Umgang mit literarischen<br />
Texten unterschiedlich entwickelt. Beispielsweise sind sie in der Lage, Inhalte wiederzugeben<br />
und zum Teil bereits zusammenzufassen. Allerdings sind hier verschiedene Techniken der Reduktion<br />
zu vermerken: Während ein Teil der Klasse Texte bereits ohne wortwörtliche Übernahme der vorliegenden<br />
Daten verdichten kann, paraphrasieren einige Schülerinnen und Schüler, u.a. Andrea, Sophia,<br />
Dennis T. und Steffen, die sprachlichen Vorgaben noch im Sinne einer Precis.<br />
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Sehr gut entwickelt erscheint unter den Schülerinnen und Schülern die Bereitschaft anspruchsvollere<br />
Textprobleme, etwa paradoxe Ordnungen und offene Fragen, anzugehen. Auch wenn hier noch nicht<br />
von einer Kompetenz gesprochen werden kann, sind Ehrgeiz und Interesse der Schülerinnen und<br />
Schüler der 6d angesichts schwieriger Konstellationen, jenseits einer einfachen Sichtweise (gut und<br />
böse), beachtlich. Dies zeigt sich auch in der den Schülerinnen und Schülern vertrauten Fachtermino-<br />
logie. Zu den in der 5. Klasse in den Unterrichtseinheiten Die versteckte Ordnung der Märchen und<br />
Die Bausteine einer Ballade eingeführten Fachbegriffen gehören u.a.: Plot, Zäsur, Pointe, Figur und<br />
Person, Fiktion und Wirklichkeit, Prosa und Lyrik, Strophe, Vers, Metrum (Jambus und Trochäus),<br />
Reim (Paarreim, umarmender Reim und Kreuzreim), Märchen, Fabel, Ballade, das lyrische Ich, orale<br />
und literarische Vermittlung, Klimax und Antiklimax, Moral und Leerstelle.<br />
2. Einordnung der Stunde<br />
Seit Beginn des neuen Schuljahres wurde bereits eine Unterrichtseinheit zu den Konjugationsregeln<br />
von Verben abgeschlossen. Die zweite Unterrichtseinheit Von der Konkretisation zur Interpretation<br />
am Beispiel lyrischer Texte von Heinrich Heine umfasst dreizehn Stunden. Im Zentrum dieser Einheit<br />
stehen die unterschiedlichen Erscheinungsformen einer Leerstelle. Am Beispiel von sechs Gedichten<br />
von H. Heine 1 sollen eindeutige, zweideutige und mehrdeutige Strukturen und deren Gewicht für das<br />
Textverständnis kennen gelernt und diskutiert werden. Dabei sollen die Schülerinnen und Schüler den<br />
Wechsel von einer eher unwillkürlichen Konkretisation zu einer bewussten Interpretation vollziehen 2 .<br />
Im Allgemeinen folgt die Unterrichtseinheit also dem Prinzip zunehmender Komplexität. Zugleich<br />
sind die einzelnen Stunden induktiv angelegt: Aus einem konkreten Beispiel sollen jeweils Gesetzmäßigkeiten<br />
abgeleitet werden.<br />
Mit der Wahl des Themas wird zum einen den Curricularen Vorgaben zur Erschließung literarischer<br />
Texte, der Forderung nach einem Wissen über Inhalte, Strukturen und ästhetische Wirkungsaspekte<br />
entsprochen 3 . Die Schülerinnen und Schüler lernen eine rezeptionsästhetische Kategorie kennen, mit<br />
der die Offenheit literarischer Texte, der subjektive Tenor einer jeden Lektüre, verständlich und analytisch<br />
fassbar ge<strong>macht</strong> werden kann. Im Zentrum stehen dabei zwei Unterscheidungen, die Trennung<br />
von Rezeptionsvorgabe (Textseite) und Rezeption (Leserseite), sowie die Differenz von unreflektierter<br />
und reflektierter Leerstellenfüllung. Zum anderen kann mit der Wahl der Texte an bisherige Wissens-<br />
bestände und Kenntnisse der Schülerinnen und Schüler angeschlossen werden: So wurden Textbei-<br />
spiele von H. Heine ausgewählt, die inhaltlich an die romantischen, märchenhaften Muster anknüpfen,<br />
wie sie bereits in der 5. Klasse thematisiert wurden (mit „Aus alten Märchen winkt es“, „Es war ein<br />
alter König“, „Der Asra“). Zudem wurden Beispiele gesucht, die in ihrer literarischen Form an die<br />
Balladen, die ebenfalls in Klasse 5 besprochen wurden, erinnern.<br />
Die Lehrprobenstunde findet sich in der zweiten Hälfte dieser Unterrichtseinheit. Nachdem bisher<br />
monoseme und binäre Textanlagen ermittelt und diskutiert wurden, geht es nun um polyseme Strukturen.<br />
Damit wird auch der (lern-)methodische 4 Anspruch des Unterrichts gesteigert: Die Schülerinnen<br />
und Schüler müssen nicht mehr nur Leerstellen ermitteln und bewusst füllen, sondern mögliche Variationen<br />
einer solchen Füllung bedenken: Interpretieren heißt insofern operationalisieren. Der Lernfort-<br />
schritt, der mit der Unterrichtseinheit angestrebt wird, betrifft also nicht nur Kenntnisse über Text-<br />
strukturen und deren begriffliche Bezeichnung, sondern kann zur weiteren Entwicklung eines differenzierten<br />
Umgangs mit literarischen Texten, zum Verständnis einer Pluralität von Lesarten beitragen.<br />
3. Sachanalyse<br />
Die Widersprüchlichkeit und Offenheit in den Schriften von H. Heine (1797-1856) wurde von der<br />
Forschung wiederholt thematisiert und als spezifisches Merkmal seiner Modernität herausgestellt:<br />
„Ordnung, Dauer, Struktur, ein zusammenhängendes Bild oder vielmehr ein fester Standpunkt, all dies<br />
scheint Heine so fremd wie nur irgendeinem Autor zu sein.“ 5 Auch in dem lyrischen Text „Meeresstil-<br />
1 Folgende Texte von H. Heine sollen in dieser Reihenfolge behandelt werden: „Aus alten Märchen winkt es“, „Es<br />
war ein alter König“, „Ein Jüngling liebt ein Mädchen“, Der Asra“. Nach der Ballade „Meeresstille“ wird diese<br />
Unterrichtseinheit abgeschlossen durch das Gedicht „Die Botschaft“.<br />
2 Vgl. Frommer, 1988, S.12.<br />
3 Niedersächsisches Kultusministerium, 2004, S.12f.<br />
4 Vgl. zur Dreiteilung des hier verwendeten Methodenbegriffes: Menzel, 2000, S.7.<br />
5 Fairley, 1965, S.165. Vgl. Reich-Ranicki, 2001, S.14f. Scholz, 1983, S.7 u. 24f.<br />
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le“ lässt sich dieser Befund zeigen. Die Ballade 6 findet sich im „Buch der Lieder“ (1827) im ersten<br />
Zyklus „Die Nordsee“ und hier an neunter Stelle. In der gesichteten Forschungsliteratur wird auf diesen<br />
Text nicht explizit eingegangen. Im Folgenden soll er unter zwei (fach-)methodischen Prämissen<br />
betrachtet werden: Zum einen der strukturalistischen Perspektive von R. Jakobson. Er vermutete in<br />
seinem Aufsatz „Die Dominante“ u.a., dass es eine Hierarchie von bedeutsamen Strukturen gibt, und<br />
nicht alle Textbausteine für eine Interpretation in gleicher Weise prägend sind. Zum anderen soll die<br />
rezeptionsästhetische Sichtweise, wie sie von W. Iser erschlossen wurde, Beachtung finden. Damit<br />
steht im Blickfeld nicht nur die Textstruktur, sondern auch ihre Bedeutung für den Rezeptionsakt 7 .<br />
Wesentlich für die Wahrnehmung der Ballade ist das offene Plotschema. Nachdem in der ersten Stro-<br />
phe ein idyllischer Naturzustand 8 auf dem Ozean beschrieben und hierfür sowohl visuelle, als auch<br />
auditive und taktile Reize geliefert werden, wendet sich der Fokus in der zweiten und dritten Strophe<br />
den Ereignissen und sozialen Konflikten an Bord eines Schiffes zu: Während der Bootsmann schläft,<br />
arbeitet der Schiffsjunge „segelflickend“. Warum er dabei „wehmütig“ und „schmerzlich“ aufblickt,<br />
wird mit der vierten Strophe geklärt: Vor ihm steht der Kapitän des Schiffes und beschuldigt ihn roh,<br />
einen Hering aus seiner Tonne gestohlen zu haben. Danach bricht das Geschehen ab, der Blick wendet<br />
sich mit der fünften Strophe wieder der Wasseroberfläche zu, wo ein „kluges Fischlein“ glücklich<br />
schwimmt. In der abschließenden sechsten Strophe wird dieses Fischlein von einer Möwe gefasst und<br />
- so lässt sich vermuten - wenig später verspeist.<br />
Schwierig ist der Plot zu rekonstruieren, weil er durch wenigstens zwei Leerstellen ‚gebrochen’ wird:<br />
Zum einen ist die Zäsur zwischen der vierten und der fünften Strophe zu diskutieren, denn wie gehö-<br />
ren die beiden Abschnitte zusammen? Sind sie Teil ein und derselben Geschichte, nur mit wechselnden<br />
Perspektiven? Geht es zunächst um einen Disput zwischen Kapitän und Schiffsjungen, um die<br />
Frage nach dem Verbleib des fehlenden Fisches? Und wird dieser Handlungsstrang schlicht mit dem<br />
Blick über die Rehling auf die ruhige Wasseroberfläche und die Tierwelt relativiert und beendet? Oder<br />
werden zwei Geschichten parallel dargestellt, der soziale Konflikt um einen Diebstahl und der natürli-<br />
che Nahrungserwerb unter Tieren? Infolgedessen wäre die Frage nach der Beziehung dieser beiden<br />
narrativen Schemata zu beantworten.<br />
Zum anderen wird eine Leerstelle mit dem Vorwurf des Kapitäns eröffnet. Tatsächlich lässt sich die<br />
Frage nach dem fehlenden Hering nicht eindeutig beantworten. Die Textbasis erlaubt verschiedene<br />
Thesen. Diese werden entweder durch semantische Felder im Text angeregt oder über das allgemeine<br />
Wissen des Lesers gestützt: Hat der Bootsmann den Fisch verspeist, immerhin wird sein „Bauch“ erwähnt<br />
und darauf verwiesen, dass er schläft (womöglich zur Verdauung). Oder hat doch der Junge den<br />
Hering gegessen? Mit den Wortfeldern „Maul“ und den (zuckenden) „Wangen“ wird eine solche Variante<br />
zumindest nahe gelegt. Oder hat sich der Fisch selbst (reflexartig) befreit und wird deshalb als<br />
„kluges Fischlein“ apostrophiert? Auch die Möwe kommt als potenzielle Kandidatin, nämlich als<br />
Wiederholungstäterin in Frage.<br />
Diese Offenheit (Polyvalenz) hat wenigstens zwei Konsequenzen: Einerseits widersetzt sich der Text<br />
einer einfachen, vorschnellen Wertung. Der Leser wird vor eine Fülle von denkbaren Konstellationen<br />
gestellt. Andererseits wird die Verantwortung für den Plot und seine moralische Bedeutung auf den<br />
Leser übertragen. Er wird zum Teilhaber des Erzählvorganges und seiner ethischen Implikationen.<br />
Beispielsweise kann er das Gedicht im Sinne einer Parallelität (oder eines Kontrastes) von Zivilisation<br />
und Natur lesen, aber auch als kriminalistische Verwicklung, er kann die Ballade als Abbildung eines<br />
herrschaftlichen Konfliktes zwischen Kapitän und Schiffsjungen verstehen, aber auch als Kritik an<br />
einer monokausalen Weltsicht. Doch um diese möglichen Lesarten geht es in der anstehenden Lehr-<br />
probenstunde nicht. Vielmehr sollen die für diese Deutungsansätze grundlegenden Strukturen er-<br />
schlossen werden. Damit stehen zunächst der Plot und seine Leerstellenmuster im Zentrum der Analyse.<br />
Der weitere formale Aufbau des Gedichtes (sechs Strophen á vier Verse, reimlos, vierhebige Trochäen,<br />
präsentisches Erzählen, fehlendes lyrisches Ich, Wiederholung des Schlüsselwortes „Meeresstille“)<br />
kann ebenso als zweitrangig betrachtet werden, wie seine Beziehung zu benachbarten Texten 9 .<br />
4. Didaktische Überlegungen<br />
6 Vgl. zur begrifflichen Unterscheidung von Ballade und Romanze: Giese, 1994, S.31. Scholz, 1983, S.35f.<br />
7 Vgl. Jakobson, 1987, S.258-264. Iser, 1975, S.228-252.<br />
8 Vgl. zur kontrastiven Bedeutung der Natur in Heines Lyrik: Giese, 1994, S.19-21.<br />
9 Vgl. zur Makrostruktur der Gedichtsammlung ebd. S.29f.<br />
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Die Lehrprobenstunde soll verschiedenen didaktischen Prinzipien folgen: Im Zentrum steht das<br />
Bestreben, die Schülerinnen und Schüler zu einem selbstständigen, eigenverantwortlichen Lernen zu<br />
erziehen. So sollen sie den Text rezipieren (rezitieren und lesen 10 ), eigenständig den Plot der Ballade<br />
von H. Heine wiedergeben, das grundlegende Rezeptionsproblem selbst erkennen und in einer Leitfra-<br />
ge formulieren, in Gruppen Antworten auf diese Frage diskutieren, dabei miteinander Lesarten gene-<br />
rieren, verifizieren und falsifizieren, diese im Anschluss selbst präsentieren und abschließend theoretisch<br />
abstrahieren. Überdies soll die Stunde problemorientiert gestaltet werden. Der Grundkonflikt,<br />
vor den die Klasse mit dem ausgewählten Text gestellt wird, offenbart sich in der Unmöglichkeit den<br />
Handlungsverlauf sicher bestimmen zu können. Obwohl die Datenmenge des Gedichtes „Meeresstille“<br />
(Text, Ort, Figurenkonstellation, zeitlicher Rahmen) überschaubar erscheint, lässt sich nicht eindeutig<br />
sagen, inwieweit die Rüge des Kapitäns in der vierten Strophe berechtigt ist. Tatsächlich lassen sich<br />
mehrere Hypothesen über den Verbleib des fehlenden Herings vermuten. Die Geschichte und ihr kritischer<br />
Ansatz (auch wenn dieser nicht Gegenstand der Prüfungsstunde ist) verschieben sich also je<br />
nach Disposition des Lesers. An dieser Stelle wird der wissenschaftspropädeutische Anspruch der<br />
Stunde greifbar. Denn die Ursache für die Offenheit des Gedichtes lässt sich mit einem Textbaustein<br />
erklären, der so erst Ende der sechziger Jahre mit den Studien von R. Ingarden und W. Iser in das<br />
Blickfeld der Literaturwissenschaft geriet und seitdem eine große Karriere durchlebt hat, die Leerstelle<br />
11 . Bezeichnet wird mit ihr ein wesentliches Umschaltelement zwischen Text und Leser, eine Passage,<br />
die ungeklärt erscheint und erst durch den Leser gefüllt wird. In der Lehrprobenstunde eröffnet<br />
diese rezeptionsästhetische Kategorie den Schülerinnen und Schülern zugleich die Möglichkeit mit<br />
ihrer Phantasie die Freiräume der Ballade spielerisch zu präzisieren und sich dieser Freiräume bewusst<br />
zu werden. Da die Lerngruppe in den bisherigen Stunden der Unterrichtseinheit bereits ein- und zweideutig<br />
angelegte Leerstellen kennen gelernt hat, sollte es ihr über einen Vergleich mit dieser Erfahrung<br />
möglich sein, die offenen Plotstrukturen des Gedichtes zu erkennen und als mehrdeutige Leerstellen<br />
zu benennen. Wiederholt wird also die Trennlinie zwischen Textdaten (statisch) und Leserleistung<br />
(dynamisch) überschritten. Die Schülerinnen und Schüler vollziehen dabei den Schritt von einer spontanen<br />
Rezeption (Konkretisation) zu einer bewussten Textwahrnehmung (Interpretation) 12 . Ein solches<br />
Training sprachlicher Reflektion wird auch von den Curricularen Vorgaben des Landes Niedersachsen<br />
gefordert 13 . Deutlich wird an dieser Stelle, dass das fachliche Ziel der Stunde zunächst darin besteht,<br />
dass die Schülerinnen und Schüler am Beispiel der Ballade „Meeresstille“ mit verschiedenen Arbeits-<br />
techniken vertraut ge<strong>macht</strong> werden: Sie lernen mit der Offenheit und Widersprüchlichkeit literarischer<br />
Texte umzugehen, unterschiedliche Lesarten zu entwerfen, sie abzuwägen, und mit Strukturmodellen<br />
(hier dem Leerstellenbegriff) theoretisch zu erklären 14 . Darüber hinaus werden allgemeine Kompetenzen<br />
geübt, die nicht nur das Fach Deutsch betreffen, sondern alle Disziplinen: Diskurstechniken (u.a.<br />
in der Gruppenarbeitsphase) sowie Präsentationstechniken (in der Auswertungsphase).<br />
Die Wahl des Textes lässt sich vor dem Hintergrund der bisher gesetzten Prämissen begründen. Es<br />
geht nicht zuerst darum, die Schülerinnen und Schüler mit dem literarischen Werk H. Heines vertraut<br />
zu machen 15 . Auch die große Präsenz seiner Gedichte in diversen Schul- und Lesebüchern spielt eher<br />
eine untergeordnete Rolle 16 . Vielmehr verfügt das ausgesuchte Gedicht über eine Textordnung, anhand<br />
der die Klasse die gewünschte Auseinandersetzung mit offenen Strukturen trainieren kann.<br />
Am Anfang der Stunde soll die Ballade „Meeresstille“ von einer Schülerin oder einem Schüler der 6d<br />
frei vorgetragen werden. Da bereits zu Beginn der Unterrichtseinheit sämtliche Texte mit der Option<br />
auf eine freiwillige Rezitation ausgeteilt wurden und viele Kinder in der Lerngruppe bislang sehr engagiert<br />
mitgearbeitet haben, erscheint eine solche Erwartung nicht unbegründet. Der Vorteil eines<br />
solchen Einstieges liegt auf der motivationalen Ebene: Denn der Ausgangspunkt für die gesamte Stun-<br />
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Vgl. zu den kognitiven Teilfähigkeiten, die beim Lesen zu aktivieren sind: Baurmann, Müller, 2005, S.6.<br />
11<br />
Vgl. Ingarden, 1975, S.44ff. Iser, 1975, S.248f.<br />
12<br />
Vgl. Frommer, 1988.<br />
13<br />
Vgl. Niedersächsisches Kultusministerium, 2004, S.6f.<br />
14<br />
Vgl. zur „Didaktik der Methode“ und den Teiloperationen beim Interpretieren: Menzel, 2000, S.7f. u. S.11.<br />
15<br />
Die Texte von H. Heine sind bereits aus verschiedensten Perspektiven in der Literaturwissenschaft betrachtet<br />
worden, als romantischer Schlusspunkt, als ironisches Beispiel, als politisches Zeugnis, als biographische Spur<br />
eines Juden, „dessen Assimilation letztlich doch missglückt war“, literatursoziologisch, aber auch rezeptionsästhetisch.<br />
Einen Überblick gibt: Fingerhut, 1997, S.5-18.<br />
16<br />
Zuletzt wurde die Ballade „Meeresstille“ in einem Buch des Bayerischen Schulbuchverlages publiziert, hier<br />
erstaunlicherweise im Rahmen von jahreszeitlichen Gedichten: Gigl, 2000, S.185.<br />
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de wird durch die Sichtweise und die Arbeitseinstellung der Klasse geprägt. Nur wenn kein Schüler<br />
eine Rezitation des Gedichtes vorbereitet haben sollte, ist der Text vom Lehrer vorzutragen.<br />
Nach dem Vortrag bekommt die Lerngruppe die Möglichkeit, die Ballade nochmals leise zu lesen. Sie<br />
wird als Folie neben der Tafel an die Wand projiziert. Zum einen kann damit die Gefahr von Ver-<br />
ständnisschwierigkeiten, die aus der Rezitation resultieren könnten, verringert werden, zum anderen<br />
wird die zunächst auditive Rezeption visuell unterstützt.<br />
Im Anschluss haben die Schülerinnen und Schüler den Handlungsverlauf der Ballade mit eigenen<br />
Worten wiederzugeben. Die in der Sachanalyse herausgestellte Offenheit des Gedichtes gilt es dabei<br />
zu bewahren und als Ausgangspunkt einer differenzierten, den subjektiven Eindrücken am Text nach-<br />
spürenden Wahrnehmung fruchtbar zu machen. Davon, dass die Ballade Gefühle der Irritation und des<br />
Zweifels auslöst, sich einem raschen und vor allem unzweideutigen Verständnis verweigert und dadurch<br />
zum textnahen Lesen herausfordert, ist auszugehen. Die verschiedenen Betrachtungsweisen der<br />
Schülerinnen und Schüler sollen stichwortartig festgehalten werden. Allerdings ist an dieser Stelle<br />
eine Einschränkung zu treffen: Denn es muss davon ausgegangen werden, dass die Wortmeldungen<br />
aus der Klasse vorrangig das in der „Sachanalyse“ als zweite Leerstelle ausgewiesene Strukturelement<br />
problematisieren, mithin den Konflikt um den verlorenen Fisch ansprechen. Die Zäsur zwischen der<br />
vierten und der fünften Strophe, die auf einer Metaebene die Möglichkeit eröffnet, dass zwei narrative<br />
Schemata in einem lyrischen Text nebeneinander gestellt wurden, erscheint als zu kompliziert und<br />
ungewöhnlich, als dass sie in dieser Alterstufe bereits entdeckt wird. Am Ende dieser Phase - es ist<br />
davon auszugehen, dass die Ballade von den Schülerinnen und Schülern u.a. als Geschichte einer har-<br />
ten Bestrafung, als Geschichte eines Irrtums oder als Geschichte eines klugen und zugleich leichtsinnigen<br />
Fisches wiedergegeben wird - soll die Lerngruppe aus dem Konflikt der so unterschiedlichen<br />
Wahrnehmungen eine Problemfrage (im Sinne einer Leitfrage oder eines „Prüfauftrages“) für den<br />
weiteren Unterricht entwickeln und formulieren. Einer schwierigen Situation lässt sich hier voraus-<br />
schauend begegnen: Sollten die Schülerinnen und Schüler keine divergierenden Positionen über den<br />
Handlungsverlauf der Ballade entwerfen, lässt sich der Konflikt für eine Leitfrage auch über fingierte<br />
gegensätzliche Aussagen, die als Zitate auf einer Folie fixiert sind (s. Anhang), provozieren. Auch das<br />
gegenteilige Problem muss in Rechnung gestellt werden: Danach ist darauf zu achten, dass nicht zu<br />
viele verschiedene Deutungen bereits in dieser Phase geäußert werden. Tatsächlich sollte für die Ent-<br />
wicklung einer Problemstellung schon eine Differenz von zwei Positionen genügen.<br />
Im nachfolgenden Abschnitt gilt es für die Schülerinnen und Schüler in Gruppen, ihre bisherigen Thesen<br />
am Text zu überprüfen, zu verfeinern, zu diskutieren und mögliche Antworten in einem kleinen<br />
Vortrag zu bündeln. Dabei können sie sich auch an den schon im Unterricht in Klasse 5 erarbeiteten<br />
Strukturkenntnissen (etwa zum Plot, zur Figurenkonstellation, zur Zäsur, zur Leerstelle, zur Pointe)<br />
und Arbeitstechniken (z.B. zur Herstellung von Schaubildern) orientieren.<br />
In der anschließenden Auswertungsphase haben die Gruppen dann ihre Ergebnisse in einem kleinen<br />
Vortrag vor der Klasse (von vorn) zu präsentieren. Die Resultate sind zu sammeln, zu hinterfragen und<br />
zu vergleichen. In jedem Fall erkennen die Schülerinnen und Schüler, dass sich die Ballade einer definitiven<br />
Aussage über den Handlungsverlauf entzieht, und verschiedene Lesarten offeriert. Ob alle<br />
Gruppen in dieser Phase zu Wort kommen, hängt davon ab, inwieweit bis zum Ende neue inhaltliche<br />
Akzente gesetzt werden können und ob sämtliche Teams auf eine Vorstellung drängen. Überdies muss<br />
auf einen zeitlichen Spielraum für den Abschluss der Stunde geachtet werden.<br />
Im folgenden Unterrichtsgespräch gilt es die Konsequenzen aus den präsentierten empirischen Befunden<br />
zu ziehen. Über die Konfrontation mit den bislang erarbeiteten Fachbegriffen und hier insbesonde-<br />
re dem in den vorangegangenen Stunden ausdifferenzierten Leerstellenbegriff (eindeutig / zweideutig)<br />
sollten die Schülerinnen und Schüler die Mehrdeutigkeit der Leerstelle als grundlegendes Textordnungsprinzip<br />
der Ballade von H. Heine erkennen und benennen können. Denkbar ist an dieser Stelle<br />
auch die Option, den diskutierten Sachverhalt an der Tafel graphisch darstellen zu lassen. Die Schülerinnen<br />
und Schüler könnten die Leerstelle z.B. im Sinne eines sich öffnenden Gleises skizzieren.<br />
Am Ende der Stunde steht zur Sicherung die Zusammenfassung der wichtigsten Arbeitsschritte und<br />
Resultate an. Zur weiteren Vertiefung der Ergebnisse sollen die Schülerinnen und Schüler zu Hause<br />
den Plot aus der Sicht des Schiffsjungen nacherzählen. Damit wird die Möglichkeit eingeräumt, aus<br />
veränderter Perspektive das Geschehen produktiv zu überdenken und aus den in der Stunde erschlossenen<br />
Lesarten die glaubhafteste Version auszuwählen. Dies wiederum setzt einen kritischen Ver-<br />
gleich voraus. - Für den Fall, dass der geplante Unterrichtsverlauf nicht in der Zeit von 45 Minuten zu<br />
bewältigen ist, weil beispielsweise die Präsentationen zu lange dauern, lässt sich die Hausaufgabe<br />
auch als Stundenabschluss vor der Phase der begrifflichen Abstraktion stellen. Für den Fall, dass die<br />
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Unterrichtsstunde zu früh ihre Reibung verliert und eine didaktische Reserve zwingend wird, ließen<br />
sich weitere Punkte thematisieren: So wäre zu erfragen, wer über die Richtigkeit einer Leerstellenfüllung<br />
entscheidet? Der Autor? Der Lehrer? Der Schüler? Die Schüler? Die Zeit? Im Anschluss könnten<br />
die Folgen einer offenen Leerstelle für den Leser diskutiert werden.<br />
5. Lernziele<br />
Die Schülerinnen und Schüler sollen sich mit der Ballade „Meeresstille“ von H. Heine auseinandersetzen,<br />
verschiedene Lesarten entwickeln und prüfen, sowie als Ursache für die Vielzahl von Interpretationsansätzen<br />
die mehrdeutige Leerstelle erarbeiten.<br />
� Sie sollen den Handlungsverlauf des Gedichtes nach einer ersten Rezeption mit eigenen Worten wie-<br />
dergeben.<br />
� Sie sollen aus den gegensätzlichen Wahrnehmungsweisen eine Problemfrage für den weiteren Unterricht<br />
entwickeln, die auf eine intensive Textarbeit zielt.<br />
� Sie sollen den Text konzentriert lesen und sich mit seinem Inhalt kritisch auseinandersetzen.<br />
� Sie sollen in Gruppen mögliche Varianten des Handlungsverlaufes entwickeln, diskutieren und am<br />
Text prüfen.<br />
� Sie sollen ihre Befunde in kurzen Referaten der Klasse präsentieren. (Minimalziel)<br />
� Sie sollen die erarbeiteten Plotmuster theoretisch erklären und auf das Strukturmodell einer mehrdeutigen<br />
Leerstelle zurückführen. (Maximalziel)<br />
6. Methodik<br />
Wenigstens zwei (unterrichts-)methodische Schwerpunkte sind für die Lehrprobenstunde wesentlich:<br />
Dazu gehört zum einen die Offenheit des Unterrichts. Nicht nur die thematische Ausrichtung, der Versuch<br />
eine mehrdeutige Leerstelle als solche zu fassen, muss dazu gezählt werden. Es kann beispiels-<br />
weise auch nicht mit letzter Sicherheit vorausgesagt werden, ob sich eine Schülerin oder ein Schüler<br />
zur freien Rezitation der Ballade „Meeresstille“ melden wird. Auch die nachfolgende Wiedergabe des<br />
Plots kann nur bedingt prognostiziert werden. Assoziationen aufgrund persönlicher Erfahrungen, aber<br />
auch Konkretisationen anderer Unbestimmtheiten sind nicht völlig auszuschließen. Hier ist die behutsame<br />
Lenkung durch den Lehrer gefragt. Der Vorteil eines solchen offenen Stundenkonzeptes liegt im<br />
Bereich der Motivation: Die Schülerinnen und Schüler können vor dem Hintergrund ihrer eigenen<br />
Wahrnehmungen und Irritationen Problemstellungen formulieren, eine bewusste Arbeit am Text fordern<br />
und selbst praktizieren.<br />
An diese Prämisse schließt sich die Entscheidung für einen induktiven Lernweg an: Der Unterrichtsprozess,<br />
der sich in fünf Phasen gliedert, beginnt mit dem Zuhören und stillen Lesen und wird fortge-<br />
setzt (im Sinne einer spontanen Konkretisation) mit der Wiedergabe des Plots durch die Klasse. Die zu<br />
erwartenden widersprüchlichen Aussagen - sie werden an der Tafel zur Unterstützung auch graphisch<br />
als Gegensätze festgehalten - implizieren eine unklare Textlage. Sie muss durch die Schülerinnen und<br />
Schüler bemerkt werden und konditioniert das Begehren nach einer Auflösung. Dieses Begehren sollte<br />
in einer Frage seinen Ausdruck finden, z.B.: Wie ist der Widerspruch zu klären? Was kann mit dem<br />
fehlenden Fisch passiert sein? Welche Deutung stimmt? Warum kommen wir zu so unterschiedlichen<br />
Wahrnehmungen? In der zweiten Phase des Unterrichts sollen die Schülerinnen und Schüler in Gruppen<br />
ihre bisherigen Lesarten überdenken und in einem kurzen Referat zusammenfassen. Damit wird<br />
der Schritt zu einer kritischen Textarbeit (im Sinne einer Interpretation) vollzogen. Nachdem die Arbeitsergebnisse<br />
in der dritten Phase vorgestellt und festgehalten wurden, gilt es in der vierten Phase die<br />
vorliegenden Ergebnisse auf einer abstrakteren Ebene zu erklären. Die bereits bekannten Fachbegriffe<br />
- sie können mit einer Overheadprojektion in Erinnerung gerufen werden - bieten schließlich die Möglichkeit,<br />
die Beobachtungen der Lerngruppe theoretisch zu beschreiben.<br />
Bei der Umsetzung dieses Stundenkonzeptes ist auf verschiedene methodische Einzelentscheidungen<br />
und organisatorische Probleme zu achten:<br />
Dazu gehört zum Ersten die Form, in der das Textmaterial ausgegeben wird. Es ist vollständig - um<br />
Zeit zu sparen, um den Schülerinnen und Schülern eine vorbereitende Mappenführung zu ermöglichen<br />
und um ihnen eine freiwillige Rezitation zu eröffnen - zu Beginn der Unterrichtseinheit ausgeteilt<br />
worden. Dabei wurde darauf Wert gelegt, dass die Texte mit Zeilenangaben und, wo es notwendig<br />
erschien, mit begrifflichen Erläuterungen versehen wurden. Zur Sicherheit und zentralen Orientierung<br />
soll der Text „Meeresstille“ überdies als Folie an die Wand projiziert werden.<br />
7
5<br />
10<br />
15<br />
20<br />
25<br />
30<br />
35<br />
40<br />
Lfd.<br />
Nr.<br />
1<br />
Zum Zweiten muss auf die zentrale Sozialform der Lehrprobenstunde, die Gruppenarbeit, eingegangen<br />
werden. Bereits in den „Anmerkungen zur Lerngruppe“ wurde darauf verwiesen, dass die Klasse im<br />
Umgang mit der Gruppenarbeit, und hier bei der Aufgabenverteilung erste Routinen entwickelt hat.<br />
Doch nicht nur diese allgemeine Form der Selbstorganisation erscheint aus pädagogischer Hinsicht<br />
wertvoll. Zugleich wird der Austausch von fachlichem Wissen und Lektüreerfahrungen, von Wahr-<br />
nehmungsmustern und Perspektiven und damit der für die Stunde wichtige Prozess eines Gedankenaustausches<br />
angeregt, der produktorientiert und nicht oberflächlich verlaufen soll. Überdies werden<br />
die soziale Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler trainiert. Die Klasse erkennt die Vorteile der<br />
Gruppenarbeit bereits an, muss es aber lernen, noch effektiver zu arbeiten. Deshalb wird zu Beginn<br />
dieser Arbeitsphase eine Zeitvorgabe von zwölf Minuten bekannt gegeben. Ferner wurde bereits auf<br />
die Zusammensetzung der Gruppen (sechs Gruppen mit je vier- bzw. fünf Mitgliedern) vor der Unterrichtseinheit<br />
durch den Lehrer eingewirkt. Damit sollte vermieden werden, dass sich Schülerinnen und<br />
Schüler zusammenfinden, die nicht gut zusammenarbeiten, sich ablenken bzw. paralysieren. Außerdem<br />
wurden die Leistungsstärkeren auf verschiedene Gruppen verteilt. Auch die Sitzordnung wurde<br />
zugunsten der gewählten Sozialform verändert (Gruppenarbeitstische, symmetrisch angeordnet).<br />
Die Betreuung der Gruppenarbeit soll sich vorrangig an den Ergebnissen der aktuellen Forschung orientieren<br />
17 . Dazu gehört insbesondere die Erteilung kombinierter Arbeitsaufträge (mündlich und<br />
schriftlich) sowie der Versuch, mögliche Lehrerinterventionen während der eigentlichen Gruppenarbeitsphase<br />
zu vermeiden.<br />
Zum Dritten muss auf die Präsentationsmodi der Klasse, vor allem auf deren bisherige Erfahrungen<br />
hingewiesen werden: Einerseits sind die Schülerinnen und Schüler der 6d den Umgang mit Folien<br />
gewohnt. Dabei ist es häufig so, dass die Ergebnisse nicht nur verbal, sondern auch in Form eines<br />
Schaubildes aufgezeichnet werden. Dessen Gestaltung folgt entweder dem Schema eines Mind-<br />
Mapping oder der Imagination der Textwelt. Dabei ist die Verwendung verschiedener Farben beinahe<br />
schon selbstverständlich 18 . Damit wird nicht nur die Präsentation der Schüler interessanter und ver-<br />
ständlicher, auch der mnemotechnische Aspekt sollte als Gewinn verbucht werden: Denn Menschen<br />
behalten bildhafte Frames leichter als sprachliche Abstraktionen. Andererseits sind die Schülerinnen<br />
und Schüler an erste Bausteine eines Kurzvortrages herangeführt worden. Damit wird den Anforderungen<br />
des schulinternen Methodenkonzepts (Modul I) entsprochen 19 . Die wesentlichen Kriterien<br />
wurden der neueren fachdidaktischen Literatur entnommen 20 und als Organisationshilfe in der Klasse<br />
ausgeteilt. Ziel dieser Methode ist es, das freie Sprechen nach Stichwörtern und zugleich das aufmerksame,<br />
kritische Zuhören zu schulen. Dementsprechend und zugleich zur Sicherung der präsentierten<br />
Ergebnisse sollen jeweils nach jedem Kurzreferat ein oder zwei Mitglieder aus anderen Gruppen die<br />
vorgestellten Befunde wiederholen. Diese Wiederholungen werden an der Tafel festgehalten.<br />
Zum Vierten muss schließlich auf die Frage eingegangen werden, ob und inwieweit die Schülerinnen<br />
und Schüler der 6d im Unterricht mitschreiben 21 . Zugunsten einer besseren und kontinuierlichen Aufmerksamkeit,<br />
ohne Unterbrechungen und Phasen des Stillstandes (Phasen des reinen Abschreibens)<br />
sollen deshalb die wesentlichen Elemente des Unterrichtsverlaufes – die Leitfrage, stichwortartig die<br />
Lösungsansätze der Gruppen sowie das Leerstellenmodell – auf drei DIN A 2 Blättern als Reihe fest-<br />
gehalten werden. Der Vorteil dieses Verfahrens liegt nicht nur in einer anhaltenden Aufmerksamkeit.<br />
Überdies können die Plakate aller Stunden der Unterrichtseinheit im Klassenraum als Erinnerungshilfen<br />
ausgehängt und als Ergebnis für die eigene Mappe kopiert werden.<br />
7. Geplanter Unterrichtsverlauf<br />
Unterrichtsphase -<br />
didaktische Funktion<br />
Hinführung /<br />
Problemorientierung<br />
10 min<br />
Geplantes Lehrerverhalten Handlungsvarianten<br />
der Schüler<br />
- Begrüßung<br />
- Rezitation: „Meeresstille“<br />
- Rezitation: „Meeresstille“<br />
- stille Lektüre<br />
- anschließend stille Lektüre<br />
- S geben Textverständnis wieder<br />
- S werden aufgefordert, den Plot wie- und formulieren aufgrund der<br />
derzugeben (Brainstorming)<br />
verschiedenen Versionen eine<br />
17 Vgl. Dann, Diegritz, Rosenbusch, 1999.<br />
18 Vgl. Rinke, Menzel, 2000, S.28ff.<br />
19 Vgl. Golberg, 2006, S.2.<br />
20 Vgl. Klösel, Lüthen, 2000, S.53-56.<br />
21 Vgl. zu dem Problem: Nohl, 2000, S.48-52. Winzer, 2001, S.126.<br />
Sozialform –<br />
Medien<br />
UG<br />
Plakat<br />
Kopie, Folie<br />
8
5<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
Erarbeitung<br />
12 min<br />
Auswertung<br />
15 min<br />
Sicherung /<br />
Vertiefung<br />
5 min<br />
Zusammenfassung<br />
3 min<br />
- S werden angehalten, aus den unterschiedlichen<br />
Antworten eine Problem-<br />
stellung abzuleiten<br />
AA: Erarbeitet in Eurer Gruppe Antworten<br />
auf die gestellte Problemfrage!<br />
Bereitet eine kleine Präsentation vor!<br />
- UG zurückhaltend lenken,<br />
- Ergebnisse werden auf Plakat festgehalten,<br />
wenn die Präsentationen von<br />
S anderer Gruppen wiederholt werden<br />
AA: Wie lassen sich die erarbeiten<br />
Ergebnisse mit den uns bekannten<br />
Fachbegriffen erklären?<br />
- UG zurückhaltend lenken<br />
- Vgl. zwischen den bisher erarbeiteten<br />
Leerstellentypen<br />
- S werden aufgefordert, den Erkenntnisweg<br />
nachzuzeichnen<br />
- HA zur Sicherung: Gib den Plot des<br />
Gedichtes „Meeresstille“ aus der Sicht<br />
des Jungen wieder! (Umfang: wenigstens<br />
10 Sätze)<br />
Problemfrage, z.B.: Was ist mit<br />
dem Fisch passiert?<br />
- S suchen die Problemfrage zu<br />
beantworten und entwickeln<br />
unterschiedliche Lesarten<br />
- S stellen die Arbeitsergebnisse<br />
ihrer Gruppen vor<br />
- S anderer Gruppen wiederholen<br />
die präsentierten Ergebnisse<br />
- S versuchen mit den Termini<br />
Plot, Pointe, Leerstelle, Zäsur<br />
die Resultate zu erklären<br />
- S unterscheiden zwischen eindeutigen,<br />
zweideutigen und<br />
mehrdeutigen Leerstellen<br />
- Versuch eine Grafik<br />
- die bisherige Schrittfolge der<br />
Textanalyse wird auf der Grundlage<br />
der bisherigen Resultate<br />
zusammengefasst<br />
Legende<br />
AA = Arbeitsauftrag S = Schüler<br />
GA = Gruppenarbeit TA = Tafelarbeit<br />
HA = Hausaufgabe UG = Unterrichtsgespräch<br />
GA<br />
Kopie, Folie<br />
UG<br />
Plakat<br />
Kopie, Folie<br />
UG<br />
Plakat<br />
Kopie, Folie<br />
UG<br />
Plakat<br />
Kopie<br />
9
5<br />
10<br />
15<br />
20<br />
25<br />
30<br />
35<br />
40<br />
8. Mögliches Stundenbild (in drei Plakaten)<br />
„Meeresstille“ von Heinrich Heine<br />
Problemfrage:<br />
Was ist mit dem Fisch passiert?<br />
Welche Möglichkeiten lassen sich im Text vermuten?<br />
Bootsmann<br />
Schiffsjunge<br />
Kapitän<br />
Modell einer offenen Leerstelle<br />
Möwe<br />
Handlungsstrang<br />
mehrdeutige Leerstelle<br />
Lesarten<br />
Fischlein<br />
Folgen für den Leser:<br />
Offenheit<br />
10
5<br />
10<br />
15<br />
20<br />
25<br />
30<br />
35<br />
40<br />
9. Kommentierter Sitzplan der 6d<br />
Celine G.<br />
o/o<br />
Andrea B.<br />
-/-<br />
Dominik L.<br />
o/o<br />
Dennis T.<br />
-/--<br />
Dennis S.<br />
o/o<br />
Julian B.<br />
o/o<br />
Dominik<br />
+/++<br />
Joshua M.<br />
++/+<br />
Dennis R.<br />
o/o<br />
Jonathan<br />
-/o<br />
Holger<br />
+/o<br />
Steffen N.<br />
-/o<br />
Pia K.<br />
+/o<br />
Geertje D.<br />
+/+<br />
Vera K.<br />
o/o<br />
Monique<br />
o/o<br />
Die Kommentierung setzt sich zusammen:<br />
Herbert B.<br />
o/o<br />
Josef C.<br />
o/-<br />
Lehrertisch<br />
Marta G.<br />
o/o<br />
Sophia K.<br />
-/o<br />
Lothar K.<br />
--/-<br />
Manfred K.<br />
+/++<br />
Björn T.<br />
o/o<br />
Dominique<br />
o/o<br />
Philipp P.<br />
o/+<br />
Quantität der Beiträge / Qualität der Beiträge<br />
sehr häufig ++ sehr gut<br />
häufig + gut<br />
durchschnittlich o durchschnittlich<br />
selten - ausreichend<br />
nur auf Ansprache -- schwach<br />
Pascal B.<br />
++/+<br />
Andreas S.<br />
+/+<br />
11
5<br />
10<br />
15<br />
20<br />
25<br />
30<br />
35<br />
40<br />
10. Literaturverzeichnis<br />
� Heine, H.: Meeresstille. In: ders.: Buch der Lieder. [Hamburg 1827]. Hg.v. J. Kiermeier-Debre.<br />
München, dtv 2005. S.307f.<br />
� Baurmann, J., Müller, A.: Lesen beobachten und fördern. In: Praxis Deutsch. H.194. Velber, Friedrich,<br />
Klett 2005. S.6-13.<br />
� Dann, H.-D., Diegritz, T., Rosenbusch, H.S. (Hg.): Gruppenunterricht im Schulalltag: Realität und<br />
Chancen (Erlanger Forschungen, Reihe A, Bd.90). Erlangen, Universitätsbund Erlangen-Nürnberg<br />
e.V. 1999.<br />
� Fairley, B.: Heinrich Heine. Eine Interpretation. Stuttgart, J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung<br />
1965.<br />
� Fingerhut, K.-H.: Heine als Symptom. In: Der Deutschunterricht. H.5: Heine in der <strong>Schule</strong>. Hg.v.<br />
K.-H. Fingerhut, J. Stückrath. Seelze, Friedrich 1997. S.5-18.<br />
� Fritzsche, J.: Zur Didaktik und Methodik des Deutschunterrichts. Bd.3: Umgang mit Literatur. Stuttgart,<br />
München, Klett 1994.<br />
� Frommer, H.: Lesen im Unterricht. Von der Konkretisation zur Interpretation (Sekundarstufe I/II).<br />
Hanover, Schroedel 1988.<br />
� Giese, P.C.: Lektürehilfen Heinrich Heine „Buch der Lieder“. Stuttgart, Dresden, Klett 1994.<br />
� Gigl, C. (Hg.): Projekt Lesen. A5. Für die Jahrgangsstufe an Gymnasien. München, Bayerischer<br />
Schulbuchverlag 2000.<br />
� Ingarden, R.: Konkretisation und Rekonstruktion. In: Rezeptionsästhetik. Hg.v. R. Warning. München,<br />
Wilhelm Fink 1975. S.42-70.<br />
� Iser, W.: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa.<br />
In: Rezeptionsästhetik. Hg.v. R. Warning. München, Wilhelm Fink 1975. S.228-252.<br />
� Jakobson, R.: Die Dominante. In: Die Erweckung des Wortes. Hg.v. F. Mierau. Leipzig, Reclam<br />
1987. S.258-264.<br />
� Klösel, H., Lüthen, R.: „Jetzt spreche ich“. Übungen zu einem Kurzvortrag. In: Praxis Deutsch.<br />
H.164. Velber, Friedrich, Klett 2000. S.53-56.<br />
� Kortländer, B. (Hg.): Gedichte von Heine. Interpretationen. Stuttgart, Reclam 2001.<br />
� Menzel, W.: Methodenlernen im Deutschunterricht. In: Praxis Deutsch. H.164. Velber, Friedrich,<br />
Klett 2000. S.6-13.<br />
� Golberg, B.: Methodenkonzept des Gymnasiums an der Rheinstraße. Bremen 2005.<br />
� Niedersächsisches Kultusministerium: Curriculare Vorgaben für das Gymnasium. Schuljahrgänge<br />
5/6. Deutsch. Niedersachsen, NIBIS 2004.<br />
� Nohl, F.: Worum geht’s? In: Praxis Deutsch. H.164. Velber, Friedrich, Klett 2000. S.48-52.<br />
� Rinke, I., Menzel, W.: Mind-Mapping als Methode. In: Praxis Deutsch. H.164. Velber, Friedrich,<br />
Klett 2000. S.28-32.<br />
� Reich-Ranicki, M. (Hg.): Heinrich Heine. Ich hab im Traum geweinet. 44 Gedichte mit Interpretationen.<br />
Frankfurt a.M., Leipzig, Insel 2001.<br />
� Scholz, I.: Heinrich Heine. Lyrik. Erläuterungen und methodisch-didaktische Hinweise. Hollfeld/Ofr.,<br />
Beyer 1983.<br />
� Winzer, H.J.: Das Tafelbild im Literaturunterricht. In: Seminar. Heft 2/2001. Hg.v. Bundesarbeitskreis<br />
der Seminar- und Fachleiterinnen e.V. Hohengehren, Winkelmann 2001. S.118-142.<br />
12
11. Material<br />
2<br />
4<br />
6<br />
8<br />
10<br />
12<br />
14<br />
16<br />
18<br />
20<br />
22<br />
24<br />
Heinrich Heine: Meeresstille<br />
Meeresstille! Ihre Strahlen<br />
Wirft die Sonne auf das Wasser,<br />
Und im wogenden Geschmeide a<br />
Zieht das Schiff die grünen Furchen b .<br />
Bei dem Steuer liegt der Bootsmann<br />
Auf dem Bauch, und schnarchet leise.<br />
Bei dem Mastbaum c , segelflickend,<br />
Kauert der beteerte d Schiffsjung'.<br />
Hinterm Schmutze seiner Wangen<br />
Sprüht es rot, wehmütig zuckt es<br />
Um das breite Maul, und schmerzlich<br />
Schaun die großen, schönen Augen.<br />
Denn der Kapitän steht vor ihm,<br />
Tobt und flucht und schilt ihn: „Spitzbub'!<br />
Spitzbub'! Einen Hering hast du<br />
Aus der Tonne mir gestohlen!“<br />
Meeresstille! Aus den Wellen<br />
Taucht hervor ein kluges Fischlein,<br />
Wärmt das Köpfchen in der Sonne,<br />
Plätschert lustig mit dem Schwänzchen.<br />
Doch die Möwe, aus den Lüften,<br />
Schießt herunter auf das Fischlein,<br />
Und den raschen Raub im Schnabel,<br />
Schwingt sie sich hinauf ins Blaue.<br />
Heine: Buch der Lieder [332], S.255ff. Digitale Bibliothek. Bd.1:<br />
Deutsche Literatur. S.37930 (vgl. Heine-WuB. Bd.1. S.190ff.)<br />
a Geschmeide – wie glänzender Schmuck.<br />
b Furchen – Fahrrinne des Schiffes.<br />
c Mastbaum – Pfosten, an dem die Segel eines Schiffes befestigt werden.<br />
d beteert – mit Teer beschmutzt; früher wurden die Holzschiffe mit Teer bestrichen, damit dass Holz wasserab-<br />
weisend blieb und länger hielt.<br />
13
5<br />
Thesen zur Generierung einer Problemfrage<br />
+ Es geht in der Ballade „Meeresstille“ von Heinrich Heine um den Kapitän eines Schiffes,<br />
der einen Schiffsjungen beim Diebstahl eines Herings ertappt und ihn beschimpft.<br />
- Es geht in der Ballade „Meeresstille“ von Heinrich Heine um einen Kapitän, der zu Unrecht<br />
einem Schiffsjungen vorwirft, eine Hering gestohlen zu haben. Der Schiffsjunge ist unschuldig!<br />
14