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Diaspora - Yeziden-Colloquium

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www.yeziden-colloquium.deLegende:(1) Sheikhan (2) Jebel Sinjar (3) Transkaukasien (4) Kurd Dagh (5) Gazira (6) Tur` AbdinYezidische SiedlungsgebietePaideuma 49 (2003), S. 160


www.yeziden-colloquium.dehabe. Demnach verkörpert das <strong>Yeziden</strong>tum die kurdische Kultur in ihrer ursprünglichenForm (vgl. Hissou u. F. 1984:54).In auffälligem Gegensatz zu dem yezidischen Bemühen um Reinheit steht dieTatsache, daß die yezidische Religion in höchstem Maße als synkretistisch bezeichnetwerden kann – eine Beschreibung, die auf viele der im Nahen Osten ansässigen Religionsgemeinschaftenzutrifft. Verschiedene Autoren haben unterschiedliche Vermutungenüber Herkunft und Zusammensetzung der yezidischen Religion angestellt. Müller etwafindet bei den <strong>Yeziden</strong> altmediterrane und altmesopotamische sowie medischarmenischeVorstellungen, überlagert von einer Schicht „gut ineinander verfugter altchristlicherElemente“ und zwar „extrem-judenchristlicher, genauer: ebionitischer Prägung“,die wiederum von „einer verhältnismäßig dünnen islamischen Schicht“ sunnitischerPrägung überdeckt werde (Müller 1967:387,388,392). Wießner ordnet den yezidischenGlauben in einen Kontext westiranischer religiöser Sonderentwicklungen ein, zudenen etwa Zervanismus und Mithras-Glaube zählen. Im Yezidismus begegnen einemsonoch heute uralte, in die Religionswelt des vorchristlichen und vorislamischen Zweistromlandeszurückverweisende Elemente neben Gedanken des iranischen Zoroastrismus,des orthodoxen Islam, des Sufitums, aber auch des orientalischen Christentums(Wießner 1984:38).Spuler-Stegemann schließlich findet Elemente aus dem altbabylonischen Gestirnkultund dem Mithras-Kult, aber auch zoroastrische Elemente – genauso wie jüdische, mandäische,manichäische, gnostische, orientchristliche und islamische, insbesondere sufische(Spuler-Stegemann 1997:7). Kreyenbroek argumentiert etwas zurückhaltender, daßdie yezidische Religion aus dem intensiven Kontakt zwischen Islam und einem Kultiranischer Herkunft entsprungen ist, der sowohl zoroastrische als auch außerzoroastrischeElemente enthielt (Kreyenbroek 1995:61).Geschichtlich gesichert läßt sich das <strong>Yeziden</strong>tum auf Scheich Adi b. Musafir(ca. 1075 –1162) zurückführen, dem damit die Position eines ,Reformators’ innerhalbder yezidischen Überlieferung zukommt (vgl. Tolan 2001:70). Im Libanon geboren,studierte er zunächst in Bagdad, bevor er sich in Lalish niederließ, wo er mit Ausnahmeeiner Pilgerfahrt nach Mekka – den Rest seines Lebens verbrachte (Guest 1993:15).Aufgrund seiner asketischen Lebensweise und seiner Wundertätigkeit gewann er vieleAnhänger unter den Hakkari-Kurden und die von ihm ins Leben gerufene Gemeindewurde nach seinem Tode zur Keimzelle des ‘Adawīya-Ordens, der im ganzen NahenOsten Einfluß hatte und im 13. Jahrhundert im Iran, in Syrien sowie in Ägypten zu findenwar (Dulz 2001a:31). Offensichtlich kam es aber im Laufe der Zeit zu einer Verschiebunginnerhalb der Glaubenspraxis des Ordens, bei der die Verehrung ScheichAdis und seiner unmittelbaren Nachfolger zusehends ins Zentrum rückte. Damit bewegteman sich allerdings immer mehr aus dem Bereich der Orthodoxie in den der Häresieund die Isolation der Gemeinde in Lalish im Zusammenhang mit dem EinflußPaideuma 49 (2003), S. 162


www.yeziden-colloquium.delokaler kurdischer religiöser Traditionen bewirkte schließlich, daß nicht nur die PersonScheich Adis zur alleinigen religiösen Autorität wurde, sondern auch, daß Geschichtenund Ideen aus vor-islamischer Zeit in sein Gedankengebäude integriert wurden. So kames, daß die Kluft zwischen den Anhängern Scheich Adis und dem orthodoxen Islamimmer größer wurde, bis sie schließlich nicht länger als Muslime galten und als Ketzerverfolgt wurden (Kreyenbroek 1996:97-98).Auf Scheich Adi wird auch die Einführung des religiösen Klassensystems zurückgeführt,das ein zentrales Charakteristikum der yezidischen Gesellschaft darstelltund als weiterer Ausdruck des Bedürfnisses nach Ordnung und Reinheit gelten kann. 6Dabei wird auf einer ganz grundsätzlichen Ebene zwischen Laien (Mirîdên, im SufismusBezeichnung für die Schüler eines Meisters) und dem Klerus geschieden, wobeiletzterer sich noch einmal in Scheichs und Pîrên unterteilt. Weitere religiöse Gruppensind die Qewwalên (Rezitatoren religiöser Hymnen, die sie mit Tamburin und Flötebegleiten), die Feqîrên (Mitglieder einer asketischen religiösen Bruderschaft) sowie dieKoçekên, denen hellseherische Fähigkeiten nachgesagt werden. Jeder Yezide (auch einScheich oder Pîr) ist von Geburt an einem Scheich und einem Pîr zugeordnet, die alsseine spirituellen Mentoren fungieren und für ihn die religiösen Zeremonien vor allembei den typischen Übergangssituationen (Taufe, Beschneidung, Hochzeit und Beerdigung)durchführen. Es kommt aber auch vor, daß Scheich und Pîr in Konfliktfällen innerhalbeiner Familie oder zwischen Familien vermitteln. Als Gegenleistung können sievon ihren Mirîdên Respekt und Gefolgschaft sowie jährlich eine bestimmte SummeGeldes (fito) erwarten. Jeder Scheich und Pîr hat damit Mirîd-Familien, für die er verantwortlichist.Die Scheichfamilie der Qatanî stellt den Mîr, das Oberhaupt der yezidischenGemeinschaft. Er gilt als Stellvertreter Scheich Adis sowie des Tawûsê Melek und damitals heilig. – Seine Entscheidungen genießen höchste Autorität und Reformationensowohl religiöser als auch gesellschaftlicher Art müssen von ihm bewilligt werden. Ursprünglichwohnten der Mîr und seine Familie in einem Palast in Baadhri, ca. 20 km.von Lalish entfernt, heutzutage residiert das amtierende Oberhaupt Tahsîn Beg sowohlin Mosul als auch in Bagdad, also auf irakisch-kontrolliertem Gebiet. Damit ist seineMacht erheblich eingeschränkt und so ist er vor allem für die im Irak und im Exil lebendenirakischen <strong>Yeziden</strong> von Bedeutung. Ihm zur Seite steht der sogenannte „BabaScheich“ („Vater der Scheichs“), der ein religiös vorbildliches Leben führen, häufigerals gewöhnliche Gläubige fasten und sich des Alkohols enthalten soll. Das Bedürfnisnach Reinheit findet seinen unmittelbarsten Ausdruck allerdings im Gebot der Endogamie,das sowohl innerhalb der Gemeinschaft als auch unter den Ständen gilt, teilweisesogar zwischen bestimmten Scheich- und Pîr-Familien. Vor allem aber hat das6 Die üblicherweise verwendete Bezeichnung „Kaste“ erscheint im vorliegenden Falle eher irreführend,da die Einbettung in ein komplexes System (wie etwa im Falle Indiens) nicht gegeben ist. Für diesenHinweis danke ich Burkhard Schnepel.Paideuma 49 (2003), S. 163


www.yeziden-colloquium.deEndogamiegebot zur Folge, daß man Yezide nur durch Geburt werden kann, eine Konversionist ausgeschlossen, Das Bedürfnis nach Distinktion speist sich aus den Erfahrungender <strong>Yeziden</strong>, die in ihrem kollektiven Gedächtnis Niederschlag gefunden haben.Laut Allison ist dieses kollektive Gedächtnis anhand von drei Themen organisiert: Erstensresultierte die Überzeugung, daß die <strong>Yeziden</strong> „die ursprünglichen Kurden“ seien, indem Gefühl einer „Enterbung“ im übertragenen Sinne, des Verlustes von Territoriumund Einfluß und damit auch von Bedeutung innerhalb der kurdischen Gesellschaft.Zweitens hatten die <strong>Yeziden</strong> nach islamischem Gesetz bis zum Jahre 1849 keinerleiRechte. Die meiste Zeit ihrer Geschichte waren sie die den Verfolgungen und Plünderungenseitens lokaler Autoritäten beziehungsweise ihrer muslimischen Nachbarnschutzlos ausgeliefert und entwickelten so ein ausgeprägtes Gefühl für ihren Status alseiner gefährdeten Minderheit. 7 Drittens schließlich bildet der Widerstand gegenüber derStaatsgewalt (zumeist des Osmanischen Reiches) ein weiteres wichtiges Thema im historischenDiskurs der <strong>Yeziden</strong>, wie auch der Kurden ganz allgemein (Allison 2001:43-46).In diesem Zusammenhang gilt es auch zu berücksichtigen, daß die yezidischeKultur wesentlich durch Oralität und Orthopraxie geprägt ist. Die <strong>Yeziden</strong> waren traditionellerweisenicht nur lese-unkundig, sondern sogar lesefeindlich: Lesen und Schreibendurften bis in die 1950er Jahre lediglich Angehörige der Adanî-Lineage. Damit warein Kontrollmechanismus gegeben, der die Macht der Kleriker sichern und die Weitergabevon religiösen Informationen an Außenstehende erschweren half. Zudem sprichteiniges für die Annahme, daß die mündliche Weitergabe religiöser Traditionen bereitslange vor Scheich Adi üblich war, vielmehr noch, daß die orale Tradierung durchaus alsdie angemessene Form der religiösen Überlieferung gegolten haben könnte (Allison2001:47). Mit dem Fehlen einer ausformulierten Theologie geht auch der Verzicht aufdogmatische Regeln einher. Demgegenüber wird wesentlich mehr Wert auf Orthopraxiegelegt, das heißt die rechte Lebensführung, wozu etwa die Teilnahme an religiösen Feierlichkeiten,Einhaltung der Verbote und der formale Gehorsam gegenüber solchen Autoritätenwie Mîr, Scheich und Pîr gehören. In der Praxis drückt sich die Verehrung einerGottheit oder eines Heiligen durch Gaben - gewöhnlich Geld, manchmal auch Opfertiere– an den eigenen Scheich oder den Wächter eines Heiligtums aus, die mit denZeichen des größten Respekts und Ehrerbietung überreicht werden (Kreyenbroek1995:72). Das individuelle Gebet scheint demgegenüber keine große Rolle im religiösenLeben der Laien zu spielen – wenn <strong>Yeziden</strong> beten, dann in der Regel dreimal am Tage:vor Sonnenaufgang, beim höchsten Sonnenstand und kurz nach Sonnenuntergang. DieTradition der Oralität beziehungsweise7 Viele Stämme hatten jedoch sowohl muslimische als auch yezidische Mitglieder. – Selbst wenn diesenicht untereinander heirateten, mußten sie sich doch zusammen organisieren. Demnach gab es sicherlichUnterschiede in der Einstellung von <strong>Yeziden</strong> gegenüber lokalen Muslimen, mit denen sie durch verwandtschaftlicheBande wie zum Beispiel Patenschaften (kerafet) verbunden waren, und anderen Muslimen(Allison 2001:35).Paideuma 49 (2003), S. 164


www.yeziden-colloquium.deAbbildung 1: Kuppeln über der Grabstätte ScheichAdis in Lalish (Foto: Andreas Ackermann)Schriftfeindlichkeit führte dazu, daß die <strong>Yeziden</strong> innerhalb eines orientalistischen Diskursesals Anhänger einer „Geheimreligion“ galten. Archäologen (Layard 1849), Missionare(Badger 1852) und Ethnologen (Lescot 1938) zeigten sich immer wieder irritiertdarüber, daß auch hartnäckiges Nachfragen nur in den seltensten Fällen befriedigendeInformationen zutage brachte. Vor allem religiöse Schriften, die einen Zugang zu einemkohärenten Glaubenssystem eröffnet hätten, suchte man vergeblich. 8 Die vermuteten,Lücken’ in der religiösen Überlieferung beziehungsweise das ,Fehlen’ theologischverwertbarer Indizien ließ die <strong>Yeziden</strong> als spirituell, ja teilweise sogar als geistig defizitärerscheinen, der angesehene Kurdologe Roger Lescot etwa beklagte „eine unglaublicheLangsamkeit des Geistes“ (1938:6).Unabhängig davon, wie ausgeprägt der Wunsch nach Rückkehr in die ,Heimat’bei den verstreut lebenden <strong>Yeziden</strong> im jeweiligen Falle sein mag, so gibt es doch einenganz klaren kulturell-religiöser Bezugspunkt beziehungsweise eine spirituelle ,Heimat’.Dabei handelt es sich um das bereits erwähnte Tal von Lalish, mit dem Grab ScheichAdis (und anderer wichtiger Heiliger) als dem religiösen Mittelpunkt des yezidischenUniversums (Abbildung 1).Die idealiter jährlich durchgeführte Pilgerfahrt zum „Fest der Versammlung“gehört zur religiösen Pflicht eines jeden <strong>Yeziden</strong> (vgl. Dulz 2001b). Zu den wichtigstenHeiligtümern des Tales neben dem Grab von Scheich Adi gehört die „Weiße Quelle“(Kaniya Sipi), deren Wasser heilende Kräfte besitzt. Es wird zur Taufe benutzt, imKrankheitsfalle getrunken und mit weißem Lehm aus einer Höhle in Lalish vermischtzu kleinen, haselnußgroßen Kugeln gerollt, den sogenannten berat. Die Scheichs verteilenberat an ihre Mirîdên, die sie häufig am Körper tragen. <strong>Yeziden</strong>, die eine berat-Kugel einnehmen, erhalten für ein Jahr Segen durch die Gnade Tawûsê Meleks (Dulz2001:36). Im Todesfalle legt man berat in die rechte Hand des Leichnams und schließtdiese zur Faust (Yalkut-Breddermann 2001:45, Fn. 81). In der <strong>Diaspora</strong> wird berat bei8 Erst im späten 19. Jahrhundert tauchten dann tatsächlich zwei religiöse Schriften der <strong>Yeziden</strong> auf, dasacht Seiten umfassende „Buch der Offenbarung“ („Kitêba Jilwe“) und das 14-seitige „Schwarze Buch“(„Meshefa Resch“) (vgl. Bittner 1913). Auch wenn ihre Authentizität von Anfang an in Zweifel gezogenwurde, lassen sich Parallelen zu immer noch in der Gemeinschaft zirkulierenden mündlichen Traditionenfinden, so daß man inzwischen davon ausgeht, daß es sich zwar um nachträgliche Niederschriften handelt,daß diese aber auf authentische Ursprünge zurückgehen (Kreyenbroek 1995:10-16).Paideuma 49 (2003), S. 165


www.yeziden-colloquium.deAbbildung 2: Besucher des Oldenburger Kulturzentrums vor Lalish-Wandbild(Foto: Andreas Ackermann)Zeremonien und Festen zur Schau gestellt und repräsentiert dann sozusagen den heiligenOrt. Zudem kursieren Videoaufzeichnungen vergangener Jahresfeste innerhalb derGemeinden. Abbildungen vom Tal mit seinen Heiligtümern zieren Zeitschriftentitel,websites und Wände von Kulturzentren, vor denen sich Besucher fotografieren lassenund veranschaulichen so den Bezug der <strong>Diaspora</strong> zu ihrer ,Heimat’ (Abbildung 2).TRIANGULARITÄTDas <strong>Diaspora</strong>-Kriterium, das sich auf Empathie und Solidarität mit Mitgliedern der eigenenGruppe in anderen Ländern außerhalb der ,Heimat’ bezieht, ist das im Falle der<strong>Yeziden</strong> am wenigsten ausgeprägte. Aspekte von Transnationalität und Netzwerkstrukturenlassen sich am ehesten in zwei gegenläufigen Bewegungen finden: Bedeutete diePilgerschaft nach Lalish anläßlich des Versammlungstestes die kurzzeitige Zusammenkunftvon Mitgliedern aus unterschiedlichen Teilen der <strong>Diaspora</strong>, so gab es auch dieUmkehrung, nämlich die Aussendung geistlicher Würdenträger in die ,Pro-Paideuma 49 (2003), S. 166


www.yeziden-colloquium.devinzen’ der <strong>Diaspora</strong>. Dabei besuchten die bereits erwähnten Qewwalên die außerhalbdes Sheikhan-Bezirks lebenden yezidischen Gemeinden und präsentierten anläßlicheiner Zeremonie (Taus Geran) Symbole des Tawûsê Melek und sammelten Spenden imNamen des Mîr. 9 Nationalstaatliche Grenzziehungen machen es den Qewwalên allerdingszunehmend schwerer, alle yezidischen Gemeinden zu besuchen, genauso wie umgekehrtdie Pilgerreise nach Lalish erheblich erschwert wird. 10 Im Falle der yezidischen<strong>Diaspora</strong> in Deutschland entstehen Ansätze von Transnationalität, die über familiäreKontakte einzelner Mitglieder hinausgehen – vor allem im virtuellen Raum des Internets,von dem noch die Rede sein wird.YEZIDEN IN DEUTSCHLANDGanz generell gilt im Sinne der vorgestellten <strong>Diaspora</strong>-Definition, daß das Leben inDeutschland den <strong>Yeziden</strong> die Möglichkeit der Kreativität beziehungsweise Reflexivitäteines eigenständigen und bereichernden Lebens bietet. Das heißt, daß zwar durchausBefürchtungen artikuliert werden, das <strong>Yeziden</strong>tum sei – gleich „einem im Wasser dahinschwindendenZuckerstück“ (Dengê Êzîdiyan 1996:8) – durch Verluste bedroht, daßaber eine positive Einschätzung der Situation in Deutschland überwiegt: als einer historischenChance, in Freiheit ihre Geschichte selbst zu schreiben, ihre Gedanken zu äußernund diese zu veröffentlichen (Dengê Êzîdiyan1997a:4).Dabei durchläuft die yezidische Gemeinschaft ganz grundsätzliche Transformationsprozesse.Das Leben in der <strong>Diaspora</strong> bedeutet für die <strong>Yeziden</strong> einerseits, daß sienicht länger befürchten müssen, aufgrund ihrer Religion verfolgt zu werden. Es bedeutetgleichzeitig aber auch, daß sie Teil einer säkularisierten Gesellschaft sind, in der Religionkeinen hohen (beziehungsweise einen in jüngster Zeit eher negativen) Stellenwertbesitzt. Hinzu kommen die Ansprüche, die innerhalb einer pluralistischen Gesellschaftan die kollektive Identität von Minderheiten gestellt werden und die zu einer völligenUmkehrung der Situation führen, in der sich die <strong>Yeziden</strong> bislang befanden: Anstatt daßdie eigene Religion in der Öffentlichkeit so gut wie möglich im Hintergrund verbleibt,ist sie nun im Gegenteil in den Vordergrund gerückt, anstelle einer größtmöglichen Unsichtbarkeitist nun eine sichtbare Präsenz gefordert. Pluralität hat (ironischerweise) zurFolge, daß die <strong>Yeziden</strong> nun gerade ihre kulturell-religiöse Differenz betonen müssen,um in der Vielfalt der Kulturen wahr- und ernstgenommen werden zu können. Eine besondereRolle spielt dabei die (mangelnde) Kommunizierbarkeit yezidischer Religiosität,die letztlich den Prüfstein und die wesentliche Moti-9 Vergleiche Müller (1967:146), Kreyenbroek (1995:132) und Dulz (2001a:40).10 So gab es unter Yalkut-Breddermanns Informanten kaum jemanden, der jünger als 40 Jahre war undeinen Besuch der Qewwalên erlebt hatte (Yalkut-Breddermann 2001:41).Paideuma 49 (2003), S. 167


www.yeziden-colloquium.devation für die Diasporisierung darstellt. So fühlen sich viele <strong>Yeziden</strong> überfordert, wennsie etwa in Asylverfahren zum Beweis der von ihnen geforderten ,Glaubensgebundenheit’mit deutschen Institutionen, die bestimmte orthodoxe, an Schrift gebundene Religionsformenvoraussetzen, quasi-theologische Disputationen über ihren Glauben führensollen und zum Beispiel erklären müssen, wer Tawûsê Melek sei. Diese paradoxe Situationwird von einer jugendlichen Yezidin folgendermaßen zusammengefaßt: „Ich binüberhaupt nicht religiös, aber aufgrund des Asylverfahrens habe ich meine Religiongelernt“ (Yalkut-Breddermann 2001:47-48).Das Problem besteht aber nicht nur in der Außendarstellung yezidischer Identität,unter den Bedingungen der <strong>Diaspora</strong> erschwert der spezifische Charakter der yezidischenReligion ihre Tradierung auch innerhalb der eigenen Gemeinschaft. Der Migrationskontextmit seinen Aspekten von Urbanisierung und Alphabetisierung speziell derjüngeren Generation erzeugt neue Legitimationszwänge und mündet in das Bedürfnisnach einem ausformulierten, intern konsensfähigen und extern präsentablen Religionskonzept,mithin einer Theologie. Gerade Jugendliche, die in einem an kritischer Rationalitätorientierten Schulsystem sozialisiert worden sind, tun sich schwer mit der Befolgungihnen unverständlich erscheinender Tabus oder den Hymnen (qewls) als nichtrationalenFormen religiöser Erklärungen. In einer Stellungnahme anläßlich eines Besuchesin Deutschland im Jahre 1997 erklärt Mir Tahsin Beg:Wir stehen in Konkurrenz mit anderen Lebens- und Wertvorstellungen. Gewisse Traditionenund Bräuche, die nicht mehr zeitgemäß sind und nicht mit dem Kern unserer Religionverschmolzen sind, müssen reformiert beziehungsweise aufgehoben werden. Andernfallswerden die Jugendlichen sich von uns und dem <strong>Yeziden</strong>tum distanzieren, wiees bereits ansatzweise in Deutschland erkennbar ist (Dengê Êzîdiyan 1997b:60).Damit bezieht sich das Oberhaupt der <strong>Yeziden</strong> unter anderem auf den inzwischen auchinnerhalb der yezidischen Gemeinschaft verschärft auftretenden Generationenkonflikt.Ähnlich wie bei anderen Migrantengruppen kommt es hier zu Interessenkonflikten zwischenden Älteren, die sich mit dem Aufenthalt in der <strong>Diaspora</strong> schwer tun, und denJüngeren, denen sie bereits zur Heimat geworden ist. Konkret geht es im Falle der <strong>Yeziden</strong>vor allem um die stetig sinkende Bereitschaft junger <strong>Yeziden</strong>, die ihnen von ihrenEltern jeweils zugedachten Heiratspartner zu akzeptieren. Traditionelle Heiratspräferenzenund übersteigerte Formen der Brautpreisgestaltung bergen zudem ein großes Spaltungspotentialfür die yezidischen Gemeinden in Deutschland. So kommt es immer häufigerzu Konflikten innerhalb der Familien, die bis zum Bruch mit den Ältern und demVerlassen des Elternhauses führen können. Darüber hinaus gerät die strikte Endogamieregelganz allgemein in die Diskussion, vor allem aufgrund der Tatsache, daß die durchsie eingeschränkten Heiratsmöglichkeiten unter den Bedingungen der <strong>Diaspora</strong> zusätzlichbeschränkt sind. Der diasporische Schwellenzustand ruft aber auch innergesellschaftlicheEmanzipationsbestrebungen hervor: Einerseits begehren Mädchen und Frauengegen ihre tendenziell schwächere Position auf,Paideuma 49 (2003), S. 168


www.yeziden-colloquium.deAbbildung 3: Yezidisches Kulturzentrum in Oldenburg (Foto: Andreas Ackermann)andererseits fordern Mirîdên, daß die Scheichs und Pîrên die mit ihrer Stellung einhergehendeVerantwortung ernst nehmen und sich um die ihnen Anvertrauten kümmern,anstatt lediglich die ihnen zustehenden Abgaben entgegenzunehmen.Zu den Folgen der Diasporisierung gehört auch die Institutionalisierung yezidischerKultur, die ihren Niederschlag zur Hauptsache in der Gründung von Kulturvereinenund Zeitschriften als Medien der Reflexivität beziehungsweise Diasporisierung findet.Hervorzuheben wären in diesem Zusammenhang vor allem die Errichtung einesKulturzentrums durch das Yezidische Forum e. V. in Oldenburg im Jahre 1999 , das imUnterschied zu anderen Kulturvereinen, die häufig auf temporär angemietete Räumezurückgreifen müssen, tatsächlich eigene Räumlichkeiten aufweist, in denen Veranstaltungenorganisiert werden (Abbildung 3 ).Erstmals haben dort <strong>Yeziden</strong> die Gelegenheit zum gemeinsamen Feiern religiöserFeste und Hochzeiten, einen Ort, um ihre Toten rituell zu waschen und zu beklagen,aber auch die Möglichkeit, in Seminaren und Diskussionsveranstaltungen über Geschichteund Zukunft des <strong>Yeziden</strong>tums zu reflektieren. Damit geht eine verstärkteSichtbarkeit yezidischer Präsenz einher, und zwar sowohl nach außen, gegenüber derdeutschen Mehrheitsgesellschaft (die zu bestimmten Veranstaltungen auch explizit eingeladenwird), als auch nach innen, gegenüber der eigenen Kommunität. Von Be-Paideuma 49 (2003), S. 169


www.yeziden-colloquium.dedeutung ist dabei vor allem die Tatsache, daß hier <strong>Yeziden</strong> aus allen Teilen Kurdistans(beziehungsweise weiten Teilen Norddeutschlands) zusammenkommen, um gemeinsametwa bestimmte Feiertage zu begehen. Diese Situation entsteht in der <strong>Diaspora</strong> zumersten Mal, denn in der Heimat feierte man überwiegend innerhalb der eigenen lokalenGemeinschaft, deren Festkalender sich unter Umständen (weniger bezüglich der Anlässeals der Daten) bereits von demjenigen der Nachbargemeinde unterschied. Ein vomKulturverein herausgegebener Jahreskalender schafft überdies zusätzlich Synchronizität.Ein weiteres wichtiges Medium diasporischer Reflexivität sind die yezidischenZeitschriften, allen voran „Dengê Êzîdiyan“ („Stimme der <strong>Yeziden</strong>“), die Zeitschrift desYezidischen Forums in Oldenburg, und „Roj“ („Sonne“), eine „Periodische Zeitschriftüber yezidische Angelegenheiten“, die vom <strong>Yeziden</strong> Zentrum im Ausland (EZiA) inHannover herausgegeben wird. In beiden finden sich Artikel auf Deutsch, Kurdisch undArabisch, die sich mit der Geschichte des <strong>Yeziden</strong>tums, 11 Aspekten der yezidischenReligion 12 und Berichten zur gegenwärtigen Situation der <strong>Yeziden</strong> in Deutschland undKurdistan 13 befassen. Daneben gibt es auch erste Versuche, Aspekte der Geschichte unddes Selbstverständnisse der <strong>Yeziden</strong> in Buchform darzustellen, sei es historischdokumentarisch(Tolan 2000), sozialpsychologisch (Kizilhan 1997) oder als Roman(Kizilhan 2000). Von besonderer Bedeutung ist sicherlich auch das erste „Lern- undArbeitsbuch zur yezidischen Religion“, das innerhalb der yezidischen Gemeinschaftentstanden ist (Silêman 2001).Am augenfälligsten aber wird die Reflexivwerdung yezidischer Identität im Prozeßder Diasporisierung anhand des Internet. <strong>Diaspora</strong>-Gruppen profitieren in besonderemMaße von den mit der sogenannten ,Globalisierung’ einhergehenden verbessertenTransport- und Kommunikationsmöglichkeiten, die es ihren Angehörigen erleichtern,auch über große Entfernungen hinweg regelmäßigen Kontakt untereinander zu halten.Während die <strong>Yeziden</strong> in ihren Herkunftsländern nur kaum Zugang zu Kommunikationsmedienhatten, ist es ihnen inzwischen gelungen, mittels Audio- und Videokassetten,Telefon, Fax und Computer ein weitreichendes Kommunikationsnetz zwischen den verstreutenGemeinden aufzubauen (vgl. Yalkut-Breddermann 2001:50-52). Vor allem demInternet kommt hierbei eine wichtige Rolle zu, da es vergleichsweise erschwinglich unddaher einer relativ großen Gruppe von Nutzern zugänglich ist. Überdies läßt es sichstaatlicherseits nur schwer kontrollieren und ermög-11 Entsprechende Titel lauten zum Beispiel „80 Jahre Genozid und Vertreibung der <strong>Yeziden</strong> aus demOsmanischen Reich“ (Ankosi 1997) oder „Lalisch – das erste yezidische Zentrum in der Heimat“(Othman 1996).12 Entsprechende Titel lauten zum Beispiel „Sind die Êzîdî tatsächlich Zarathustrier?“ (Issa 1995) oder„Die Heiligen Bücher der Êzîdî“ (Dengê Êzîdiyan 1995).13 Entsprechende Titel lauten zum Beispiel „Eintragung der yezidischen Religion in die deutschen Geburtsurkunden“(Dengê Êzîdiyan 1997c), „Keçika Êzîdî – Das yezidische Mädchen und ihre Stellung inder Gesellschaft“ (Ekinci 1997) oder „Ursachen und Wirkungen der Krankheiten kurdischer Bürger außerhalbihrer Heimat“ (Dag 1997).Paideuma 49 (2003), S. 170


www.yeziden-colloquium.delicht die extrem schnelle Übermittlung großer Mengen von Texten, Bildern und Tönenüber jene Grenzen hinweg, die die yezidische Gemeinschaft im realen Leben voneinandertrennen. Damit stellt das Internet die „Diasporisierungs-Technologie“ schlechthindar. 14Im Moment lassen sich insgesamt vier websites finden, die von <strong>Yeziden</strong> inDeutschland unterhalten werden: zwei institutionelle und zwei sogenannte personalhomepages. Als Institutionen sind das Yezidische Forum in Oldenburg und das EzidenZentrum im Ausland (EZiA) in Hannover vertreten. Beide sites offerieren Texte in mehrerenSprachen (deutsch, kurdisch, teilweise englisch und arabisch) und haben nebenGästebüchern und Grußworten vor allem Beiträge ihrer Zeitschriften ins Netz gestellt. 15Die persönlichen websites stammen von Mirza Dinnayi, einem Medizinstudenten, der1996 aus dem Irak gekommen ist, und Nezir Bulut, einem Lehramtskandidaten, der inder Türkei geboren wurde. Der weitaus interessanteste und dynamischste Bereich descyberspace hinsichtlich der Diasporisierung ist allerdings die – ebenfalls von den Oldenburgernunterhaltene – Diskussionsplattform, auf der überwiegend jüngere <strong>Yeziden</strong>aktuelle Themen diskutieren. 16 Die website existiert seit Mai 1998, im Sommer 2002wurde sie in Form und Inhalt komplett überarbeitet und neu gestaltet. Seither wurden inden Foren (unter anderem „Antworten zum <strong>Yeziden</strong>tum“, „Gesellschaft“, „Geschichte“und „Religion“) ungefähr 3700 Beiträge gezählt. Man diskutiert überwiegend aufDeutsch, Versuche, auch einen kurdischsprachigen Bereich des Diskussionsforums einzurichten,scheinen bislang auf noch nicht allzu viel Resonanz zu stoßen.Vor allem über das Internet entwickeln sich auch erste Ansatzpunkte einer triangulärenErweiterung im Sinne der <strong>Diaspora</strong>-Definition, die von Empathie und Solidaritätmit Mitgliedern der eigenen Gruppe in anderen Ländern außerhalb der ,Heimat’ ausgeht.Gerade das Internet bietet einen Raum, in dem sich die <strong>Yeziden</strong> einer – sowohlyezidischen als auch nicht-yezidischen beziehungsweise einer sowohl deutschen alsauch internationalen Öffentlichkeit präsentieren können. Interessant ist in diesem Zusammenhangdie Zugriffs-Statistik auf die sites des Yezidischen Forums: für den 7. Dezember2002 verzeichnet sie Zugriffe unter anderem aus den USA, Schweden, der Türkei,Großbritannien, Kanada, den Niederlanden und Dänemark. 17 Die Tragweite dieserEntwicklungen ist kaum zu unterschätzen, befördern sie doch die Transformation voneiner mündlichen in eine schriftliche Überlieferungskultur. Texte in Büchern,Zeitschriften und dem Internet gewinnen zunehmend an Bedeutung, reli-14 Diese Formulierung wurde während der Tagung „Identity, Locality, <strong>Diaspora</strong>“ (Universität Hamburg,10. bis 13. Februar 2000) von Khachig Tölölyan verwendet.15 web2.isaja.de (Yezidisches Forum, Oldenburg) (aufgerufen am 13.03.03); http//www.yezidi.net/ (YezidiNet, Hannover) (aufgerufen am 13.03.03)16 http://web2.isaja.de/forum/main.php (Diskussionsforum) (aufgerufen am 13.03.03)17 http://www.nedstatbasic.net/s?tab=1&link=1&id=844637&name=yezidi (Besucherstatistik) (aufgerufenam 13.03.03)Paideuma 49 (2003), S. 171


www.yeziden-colloquium.degiöse Texte werden dokumentiert und publiziert, eventuelle alternative mündliche Versionenverlieren demgegenüber an Bedeutung und geraten in Vergessenheit. Damit einhergeht eine Verwandlung der wesentlich auf Orthopraxie basierenden yezidischenReligiosität in Richtung auf Orthodoxie, auf eine in sich geordnete Theologie.Das Leben in der <strong>Diaspora</strong> bietet der yezidischen Gemeinschaft Freiräume zurerstmaligen kulturellen Selbstverwirklichung: Kulturzentren entstehen, Zeitschriftenerscheinen, Diskussionsforen etablieren sich. So entspinnen sich Diskussionen etwadarüber, welche kulturellen beziehungsweise religiösen Praxen noch ,zeitgemäß’ seien.Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei dem ,Brautgeld’, welches nach Ansicht vielerDiskutanten gerade in Deutschland unverhältnismäßig in die Höhe gestiegen ist:Obwohl es inzwischen mehr und mehr yezidische Familien gibt, die den Brautpreis ablehnen,gibt es leider immer noch viel zu viele <strong>Yeziden</strong>, die bei Hochzeiten von den Elterndes Bräutigams zum Teil unverschämt hohe Brautgelder verlangen. Für mich ist eseinfach unfassbar, daß manche <strong>Yeziden</strong> zum Teil Summen zwischen 20000 bis 40000Euro fordern. In Einzelfällen liegen die Summen noch etwas höher. [...] Ist den <strong>Yeziden</strong>,die weiterhin Brautgelder verlangen, eigentlich bewusst, in welcher Zeit und inwelchem Land sie leben? (Tagay 2002)Aber auch die Frage danach, welche Rolle die Geistlichkeit zukünftig zu spielen habe,läßt sich in den Diskussionen vernehmen, etwa wenn darüber gestritten wird, inwieweitdie Zahlung der jährlichen Abgaben an Scheich und Pîr (fito) in Deutschland noch gerechtfertigtsei:Ich habe den größten Respekt vor unseren Geistlichen, in diesem Fall die Sheikh, wennsie sich ihrer Verantwortung bewusst sind und diese auch wahrnehmen. Die Wahrnehmungbesteht für mich darin, daß sie sich um ihre Mirîd und Pîr kümmern, sprich sowohlden religiösen Pflichten nachgehen, die in den einzelnen Zeremonien bestehen,wie auch ihrer sozialen Pflicht nachkommen, d. h. die Mirîd und Pîr besuchen, um rauszufinden,wie es ihnen überhaupt geht. Wenn so ein Sheikh seinen Pflichten nachkommt,komme ich als Mirîd gerne meiner Pflicht des Fito-Zahlens g e r n e nach. [..]Ich habe allerdings kein Verständnis dafür, Geld an jemanden zu zahlen, der seinenPflichten nicht nachkommt, sondern nur die Rosinen aus seiner Stellung heraus sichrauspickt – also nichts macht, aber ein Mal im Jahr die Häuser im 10-Minuten-Besuchabklappert, um Geld zu kassieren (Schmetterling78 2003).Dabei ist die Tatsache von Bedeutung, daß es zur Hauptsache Mirîdên sind, die solcheDiskussionen initiieren, weiterführen und in die Öffentlichkeit tragen. Sie, die traditionellerweiseauf die Unterrichtung durch Vertreter der Geistlichkeit angewiesen waren,werden unter den Bedingungen der <strong>Diaspora</strong> zu Wissens-Produzenten.Die Mechanismen der Identifizierung und der Differenzierung entfalten sich dabeiin neuer Weise: Während es in Deutschland erstmals dazu kommt, daß <strong>Yeziden</strong> ausganz unterschiedlichen Ländern zusammentreffen und Gemeinsamkeiten jenseits verwandtschaftlicherBindungen entwickeln können, kristallisieren sich gleichzeitigPaideuma 49 (2003), S. 172


www.yeziden-colloquium.deneue Unterschiede heraus – vor allem im Bezug auf Politik und Religion. So taucht immerwieder die Frage auf, ob die <strong>Yeziden</strong> nicht doch ,eigentlich’ Zoroastrier seien. Dazusind bereits verschiedene, überwiegend verneinende Antworten gegeben worden, ohneaber die Debatte beenden zu können, was vor allem mit den strategischen Konsequenzender jeweiligen Entscheidung zusammenhängt. Abgesehen von dem Veränderungspotential,das dem Zoroastrismus zugeschrieben wird, würden die <strong>Yeziden</strong> als Zoroastrierschließlich auch zu den sogenannten Buchreligionen gehören und innerhalb derislamischen Rechtsordnung die gleiche Duldung erlangen wie Judentum und Christentum.Zudem würde der Mîr zum Oberhaupt eines Millionenvolkes, das (mit den Parsen)bis nach Indien reichte – mit entsprechender politischer Bedeutung.Diese Sichtweise birgt allerdings auch die Gefahr einer Spaltung, denn jenen, die eineZugehörigkeit zur zarathustrischen Religion abstreiten, wird teilweise vorgeworfen, sichvom ,Kurdentum’ trennen zu wollen. Dieser Vorwurf verweist auch auf das heikle Feldder ,kurdischen Frage’, innerhalb dessen sich die <strong>Yeziden</strong> in Deutschland verorten müssen.Obwohl die offizielle Politik der <strong>Yeziden</strong> eher als eine der Nicht-Einmischung beschriebenwerden kann, so dürfte doch die überwiegende Mehrzahl die Errichtung eines„Freien Kurdistans“ als Wunschvorstellung teilen. 18 Weitaus schwieriger und sicherauch nur individuell ist die Frage zu beantworten, wie man sich zu den kurdischen Parteienstellen will, allen voran der „Arbeiter Partei Kurdistans“ (PKK), die in Deutschlandwohl immer noch die einflußreichste Kraft der sogenannten ,kurdischen Patrioten’darstellen dürfte. 19Im Zuge solcher Verortungen, wie sie im Verlaufe der für die <strong>Diaspora</strong> charakteristischenTransformationsprozesse immer wieder nötig sind, scheint sich eine eigenständigediasporische Identität auszubilden, die lokale und verwandtschaftliche Bindungentranszendiert. Ein <strong>Yeziden</strong>tum entsteht, das nicht mehr ausschließlich auf Lalishfokussiert, auch wenn dieser Ort religiöser Bezugspunkt und spirituelle ,Heimat’ bleibenwird. Die Rolle der Wissenschaftler, die diesen Prozeß deutend begleiten und sounter Umständen nicht unwesentlich zur ,Diasporisierung’ beitragen, rechtfertigte sicherlicheinen weiteren Beitrag.18 <strong>Yeziden</strong> nahmen sowohl für die Kurdish Democratic Party (KDP) Barzanis als auch die Patriotic Unionof Kurdistan (PUK) von Jalal Talabani am kurdischen Aufstand im Nordirak teil (Allison 2001:38).19 Während die PKK einerseits den religiösen Minderheitenstatus der <strong>Yeziden</strong> innerhalb der mehrheitlichislamischen Kurden aufzuheben in der Lage ist, indem sie nicht die trennende Religion, sondern die verbindendegemeinsame kurdische Sache propagiert, so fordert sie andererseits doch auch Einfluß- undRichtungsbestimmungsmöglichkeiten. Schließlich argwöhnen viele, daß die <strong>Yeziden</strong> auch in einem unabhängigenKurdistan wieder eine Minderheit bleiben würden.Paideuma 49 (2003), S. 173


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