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<strong>Anna</strong> <strong>Lúcia</strong> <strong>Florisbela</strong> <strong>dos</strong> <strong>Santos</strong><br />

Der Städtische<br />

Informelle Sektor<br />

in Brasilien<br />

Das Fallbeispiel Rio de Janeiro<br />

Bibliotheks- und Informationssystem der Universität Oldenburg<br />

2001


Verlag/Druck/<br />

Vertrieb:<br />

ISBN 3-8142-0772-6<br />

Bibliotheks- und Informationssystem<br />

der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg<br />

(BIS) - Verlag -<br />

Postfach 25 41, 26015 Oldenburg<br />

Tel.: 0441/798 2261, Telefax: 0441/798 4040<br />

e-mail: verlag@bis.uni-oldenburg.de


Linda Luz


Inhaltsverzeichnis<br />

Abbildungsverzeichnis IX<br />

Tabellenverzeichnis XI<br />

Abkürzungsverzeichnis XV<br />

Glossar XVII<br />

Vorwort XIX<br />

Anlass und Danksagung XXI<br />

1 Anlass und Ziel der Untersuchung 1<br />

1.1 Einführung in die Problemstellung 1<br />

1.2 Zielsetzung und Eingrenzung der Arbeit 2<br />

1.3 Untersuchungskonzept 4<br />

1.4 Strukturierung der Arbeit 7<br />

2 Theoretische Betrachtung und Definition des<br />

Städtischen Informellen Sektors 9<br />

2.1 Der Informelle Sektor als Objekt internationaler Forschungsarbeiten<br />

9<br />

2.2 Definition des Städtischen Informellen Sektors 17<br />

2.2.1 Differenzierung des Städtischen Informellen Sektors 17<br />

2.2.2 Parameter zur Bestimmung des Städtischen und Kriminellen<br />

Informellen Sektors 18<br />

2.2.3 Wirtschaftliche Sektoren und gesellschaftliche Schichtung 25<br />

2.3 Definition der städtischen Wirtschaftssektoren 28


VI<br />

3 Untersuchungsmethodik 29<br />

3.1 Methodische Grundlagen 29<br />

3.2 Ablauf der Felduntersuchung 31<br />

4 Das Untersuchungsumfeld des Städtischen<br />

Informellen Sektors in Brasilien 37<br />

4.1 Rahmenbedingungen in Brasilien 37<br />

4.1.1 Allgemeine Informationen 37<br />

4.1.2 Historische Betrachtung der Migration in Brasilien 38<br />

4.1.3 Historische Betrachtung der Urbanisierung 41<br />

4.2 Rahmenbedingungen des Städtischen Informellen Sektors in<br />

Rio de Janeiro 55<br />

4.2.1 Die Favelas: Reduzierung der Reproduktionskosten 57<br />

4.2.2 Städtischer Informeller Sektor im allgem<strong>einen</strong> in Rio de<br />

Janeiro 60<br />

4.2.3 Organisationen im Informellen Städtischen Sektor 84<br />

4.2.3.1 Bewohnervereine 85<br />

4.2.3.2 Organisation der Arbeiter des Städtischen Informellen Sektors 85<br />

4.2.3.3 Hausangestellte und ambulante Verkäufer organisieren sich 85<br />

4.2.3.4 Kriminelle Organisationen 86<br />

5 Felduntersuchungen 89<br />

5.1 Die Hausangestellte 89<br />

5.1.1 Historische Ableitung 90<br />

5.1.1.1 Fast eine Sklavin 92<br />

5.1.1.2 Fast ein Familienmitglied 93<br />

5.1.2 Ökonomische und soziale Aspekte der Hausangestelltentätigkeit<br />

96<br />

5.1.3 Hausangestellte – (k)ein Beruf? 106<br />

5.1.3.1 Die Bemühungen um berufliche Anerkennung 108<br />

5.1.3.2 Spezifische Gesetzgebung <strong>für</strong> Hausangestellte 110<br />

5.1.4 Die Proteste 121<br />

5.1.5 Aktionen der Gewerkschaften 123


VII<br />

5.2 Der ambulante Verkaufssektor 135<br />

5.2.1 Der ambulante Verkäufer 135<br />

5.2.2 Die Regulierung durch den Staat 140<br />

5.2.3 Differenzierung der Tätigkeiten des ambulanten Verkaufs 142<br />

5.2.4 Verkäufer der Unter- und Mittelschicht 144<br />

5.2.4.1 Die Camelôs stellen ihre Waren selbst her 150<br />

5.2.4.2 Der Camelô als Verkäufer industrieller Produkte 152<br />

5.2.4.3 Zugang zu Krediten 159<br />

5.2.5 Der ambulante Verkauf und die Mittelklasse 164<br />

5.2.6 Die Camelôs organisieren sich 166<br />

5.2.7 Die ambulanten Händler im Kriminellen Informellen Sektor 171<br />

5.2.7.1 Die Camelôs als Hehler 171<br />

5.2.7.2 Der Verkauf von Piraterie 173<br />

5.3 Der Kriminelle Informelle Sektor 174<br />

5.3.1 Drogenmarkt als Teil des Kriminellen Informellen Sektors 176<br />

5.3.1.1 Allgemeines zum Drogenmarkt 176<br />

5.3.1.2 Produktions- und Verteilermarkt 178<br />

5.3.1.3 Die Arbeiter des Kriminellen Informellen Sektors 184<br />

5.3.1.4 Der Drogenhandel und das soziale Umfeld 194<br />

5.3.2 Raubkopien und Piraterie 202<br />

5.3.3 Glücksspiel als Beschäftigungssektor und Wachstumsbranche 204<br />

5.3.4 Illegaler Schutz 209<br />

5.3.5 Die kriminellen Kapitalisten 210<br />

5.3.6 Entkriminalisierung 214<br />

6 Zusammenfassung und Schlußfolgerungen 217<br />

Literaturverzeichnis 223


Abbildungsverzeichnis<br />

Abbildung 1-1: Untersuchungskonzept 6<br />

Abbildung 2-1: Verknüpfung des Formellen und des Städtischen<br />

Informellen Sektors 21<br />

Abbildung 2-2: Verteilung der Klassenstruktur in den drei Sektoren:<br />

informell, formell, kriminell 27<br />

Abbildung 3-1: Untersuchungsablauf der Feldstudien 32<br />

Abbildung 4-1: Lage Brasiliens in Südamerika 37<br />

Abbildung 4-2: Verteilung der Bevölkerung nach Hautfarbe in<br />

Brasilien 44<br />

Abbildung 4-3: Verteilung der Bevölkerung nach Hautfarbe im<br />

Sü<strong>dos</strong>ten Brasiliens 44<br />

Abbildung 4-4: Index <strong>für</strong> menschliche Entwicklung in Südamerika<br />

1995 46<br />

Abbildung 5-1: Patronin und Dienstmädchen 96<br />

Abbildung 5-2: Bedeutung der Hautfarbe 98<br />

Abbildung 5-3: Anzahl der Berufsjahre mit und ohne Arbeitsbuch 99<br />

Abbildung 5-4: Berufsjahre als Hausangestellte auf aktueller<br />

beitsstelle 100<br />

Abbildung 5-5: Entlohnung der befragten Hausangestellten 102<br />

Abbildung 5-6: Karikatur einer Hausangestellten 133<br />

Abbildung 5-7: Ambulanter Straßenhandel 142<br />

Abbildung 5-8: Ambulanter Straßenverkäufer 142<br />

Abbildung 5-9: Berufsjahre als ambulanter Händler 145<br />

Abbildung 5-10: Anteil der ambulanten Verkäufer, die freiwillig in<br />

die Sozialversicherung einzahlen, in Abhängigkeit<br />

von der Zeit in diesem Sektor 145<br />

Abbildung 5-11: Anteil der ambulanten Verkäufer, die über eine<br />

Genehmigung der Stadt <strong>für</strong> den Verkauf verfügen,<br />

in Abhängigkeit von der Zeit in diesem Sektor 146<br />

Abbildung 5-12: Täglicher Verdienst (USD) der ambulanten Händler 148<br />

Abbildung 5-13: Geschätzter Warenwert der ambulanten Händler 149<br />

Abbildung 5-14: Informelle Möbelwerkstatt 152<br />

Abbildung 5-15: Obst- und Gemüsestände 155


X<br />

Abbildung 5-16: Herkunft des Startkapitals 160<br />

Abbildung 5-17: Gewerkschaftsmitglieder unter ambulanten Händlern 168<br />

Abbildung 5-18: Zunahme neuer Haschischkonsumenten im Alter<br />

von 12 bis 17 Jahren in den USA 177<br />

Abbildung 5-19: Steigerung des Kokainpreises durch Veredlung und<br />

Weiterverkauf (Beispiel) 182<br />

Abbildung 5-20: Weltweite Gesamtverluste durch Piratentum in<br />

Millionen USD im Jahr 1997 202


Tabellenverzeichnis<br />

Tabelle 2-1: Anteil informeller Tätigkeiten am<br />

Bruttoinlandsprodukt in ausgewählten<br />

Industrieländern 15<br />

Tabelle 2-2: Kaufbeziehungen zwischen Produzenten und<br />

Käufern von Waren bzw. Halbwaren 22<br />

Tabelle 2-3: Ökonomische Bewertung (qualitativ) der Produktion<br />

und des Weiterverkaufs von Gütern im Formellen<br />

und Informellen Sektor 23<br />

Tabelle 2-4: Funktionen der drei Sektoren 24<br />

Tabelle 2-5: Charakteristik der lateinamerikanischen<br />

Klassenstruktur 25<br />

Tabelle 4-1: Wesentliche Indikatoren Brasiliens 38<br />

Tabelle 4-2: Wachstum der städtischen und Gesamtbevölkerung<br />

in Brasilien 41<br />

Tabelle 4-3: Entwicklung der Favelabevölkerung in São Paulo 43<br />

Tabelle 4-4: Beschäftigte pro Wirtschaftssektor in Brasilien<br />

(in %) 48<br />

Tabelle 4-5: Beschäftigte pro Wirtschaftssektor im Sü<strong>dos</strong>ten<br />

Brasiliens (in %) 50<br />

Tabelle 4-6: Anteil der Beschäftigten pro Wirtschaftssektor mit<br />

Beiträgen zur Sozialversicherung (in %) – Brasilien 51<br />

Tabelle 4-7: Anteil der Beschäftigten pro Wirtschaftssektor mit<br />

Beiträgen zur Sozialversicherung (in %) – Sü<strong>dos</strong>ten<br />

Brasiliens 52<br />

Tabelle 4-8: Monatliches Mindesteinkommen aus der<br />

Hauptbeschäftigung der beschäftigten Bevölkerung<br />

(in realen Mindestlöhnen) – Brasilien (in %) 53<br />

Tabelle 4-9: Monatliches Mindesteinkommen aus der<br />

Hauptbeschäftigung der beschäftigten Bevölkerung<br />

(in realen Mindestlöhnen) – Sü<strong>dos</strong>ten Brasiliens<br />

(in %) 54<br />

Tabelle 4-10: Monatliches mittleres Einkommen der beschäftigten<br />

Bevölkerung des nicht landwirtschaftlichen


XII<br />

Bereiches in Abhängigkeit von der Schulbildung –<br />

Brasiliens (in realen Mindestlöhnen) 54<br />

Tabelle 4-11: Monatliches mittleres Einkommen der beschäftigten<br />

Bevölkerung des nicht landwirtschaftlichen<br />

Bereiches in Abhängigkeit von der Schulbildung –<br />

Sü<strong>dos</strong>ten Brasiliens (in realen Mindestlöhnen) 55<br />

Tabelle 4-12: Anzahl der Favelas und der Bewohner im Vergleich<br />

zur Gesamtbevölkerung im Munizip von Rio de<br />

Janeiro (R.J.) 59<br />

Tabelle 4-13: Betriebe im Informellen Sektor – Arbeitsbereiche<br />

(RJ) 61<br />

Tabelle 4-14: Betriebe im Informellen Sektor nach Arbeitsbereich<br />

und Dauer der Existenz (RJ) 62<br />

Tabelle 4-15: Betriebe im Informelle Sektor nach Arbeitsbereich<br />

und monatlichem Einkommen in USD (RJ) 63<br />

Tabelle 4-16: Einnahmen und Ausgaben der Betriebe nach<br />

Arbeitsbereich (in USD) (RJ) 64<br />

Tabelle 4-17: Durchschnittliche Ausgaben der Betriebe des<br />

Informellen Sektors (in USD) im Oktober des<br />

Erhebungsjahres (1994) nach Art des Betriebes und<br />

der Ausgaben (RJ) 65<br />

Tabelle 4-18: Monatliche Ausgaben der Betriebe im Informellen<br />

Sektor nach Arbeitsbereich und Ausgabenart<br />

(in USD) (RJ) 66<br />

Tabelle 4-19: Durchschnittlicher Wert der Einrichtungen der<br />

Betriebe des Informellen Sektors (in USD) nach Art<br />

des Betriebes und der Einrichtungen (RJ) 67<br />

Tabelle 4-20: Betriebe des Informellen Sektors, in denen im<br />

Erhebungsjahr (1994) Investitionen getätigt wurden,<br />

nach Arbeitsbereich 67<br />

Tabelle 4-21: Anzahl der investierenden Betriebe des Informellen<br />

Sektors nach Arbeitsbereich und Ursprung der<br />

Investitionsmittel im Erhebungsjahr (1994) 68<br />

Tabelle 4-22: Betriebseigentümer des Informellen Sektors nach<br />

Geschlecht und Art der Geldquellen zu Beginn der<br />

Arbeit in diesem Bereich 69


Tabelle 4-23: Betriebe im Informellen Sektor, die in den letzten<br />

3 Monaten (Aug. - Okt. 1994) Kredit erhalten haben,<br />

nach Geldquelle und Verwendungszweck 69<br />

Tabelle 4-24: Betriebe im Informellen Sektor nach Arbeitsbereich<br />

und Verkaufsart 70<br />

Tabelle 4-25: Betriebe des Informellen Sektors nach Art der<br />

Schwierigkeiten im Vorjahr 70<br />

Tabelle 4-26: Betriebe im Informellen Sektor nach Arbeitsbereich<br />

und Art der Kundschaft 72<br />

Tabelle 4-27: Betriebe im Informellen Sektor, die feste Kunden<br />

haben, nach Arbeitsbereich und Art der Kundschaft 73<br />

Tabelle 4-28: Betriebe im Informellen Sektor nach Betriebsart und<br />

Kriterien zur Preisbildung 74<br />

Tabelle 4-29: Betriebe im Informellen Sektor nach Betriebs- und<br />

Buchführungsart 74<br />

Tabelle 4-30: Betriebe im Informellen Sektor nach Arbeitsbereich<br />

und Formalisierungsgrad 75<br />

Tabelle 4-31: Eigentümer, die vor weniger als 5 Jahren in den<br />

Informellen Sektor gewechselt sind, nach Art des<br />

Betriebes und Grund des Verlassens des letzten<br />

Arbeitsplatzes 76<br />

Tabelle 4-32: Gründe der Eigentümer, in den Informellen Sektor<br />

zu wechseln 77<br />

Tabelle 4-33: Beschäftigte mit mehr als einer Arbeit nach<br />

Arbeitsbereich im Informellen Sektor<br />

beziehungsweise Art der zweiten Arbeit 77<br />

Tabelle 4-34: Angestellte nach Geschlecht und<br />

verwandtschaftlichem Bezug zum Eigentümer 78<br />

Tabelle 4-35: Betriebe im Informellen Sektor nach Arbeitsbereich<br />

und Zukunftsplänen 79<br />

Tabelle 4-36: Beschäftigte des Informellen Sektors in Rio de<br />

Janeiro nach Geburtsort und Alter 80<br />

Tabelle 4-37: Beschäftigte im Informellen Sektor nach Geschlecht<br />

und Alter bei Arbeitsbeginn 81<br />

Tabelle 4-38: Angestellte in Betrieben des Informellen Sektors<br />

nach Geschlecht und Arbeitsbereich 82<br />

Tabelle 4-39: Beschäftigte im Informellen Sektor nach Geschlecht<br />

und Arbeitsbereich 82<br />

XIII


XIV<br />

Tabelle 4-40: Personen im Informellen Sektor nach Geschlecht,<br />

Rolle, Alter, Ausbildungsniveau und Arbeitsbereich 83<br />

Tabelle 5-1: Prozentuale Verteilung der Hausangestellten mit und<br />

ohne Arbeitsbuch 98<br />

Tabelle 5-2: Entlohnung der Hausangestellten 101<br />

Tabelle 5-3: Ausgaben der Hausangestellten in Form von<br />

Ratenzahlungen im Formellen Sektor 105<br />

Tabelle 5-4: Arbeits- und Sozialgesetze 113<br />

Tabelle 5-5: Durchgeführte nationale Kongresse zum Thema<br />

Hausangestellte 126<br />

Tabelle 5-6: Gründe <strong>für</strong> die Tätigkeit im ambulanten<br />

Verkaufssektor 147<br />

Tabelle 5-7: Produktpalette der ambulanten Verkäufer und<br />

Herkunft der Produkte 153<br />

Tabelle 5-8: Drogenmarktdaten: Konsumenten (international) 176<br />

Tabelle 5-9: Steigerung des Opiumpreises (Beispiel) 182<br />

Tabelle 5-10: Einkommensvergleich zwischen Drogenhandel und<br />

legaler Beschäftigung 191


Abkürzungsverzeichnis<br />

CEBRID Centro Brasileiro de Informação sobre Droga (brasilianisches<br />

Informationszentrum <strong>für</strong> Drogen)<br />

CLT Consolidação das Leis do Trabalho (Arbeitsgesetzgebung)<br />

CUT Central Única de Trabalhadores (Einheitsgewerkschaft der<br />

Arbeiter)<br />

FGTS Fundo de Garantia por Tempo de Serviço (Eine Art Arbeitslosenversicherung)<br />

HDI Human Development Index (Index der menschlichen Entwicklung)<br />

IBGE Instituto Brasileiro de Geografia e Estatistica (brasilianische<br />

Institut <strong>für</strong> Geographie und Statistik)<br />

ILO International Labour Organisation (Internationale Arbeitsorganisation)<br />

INSS Instituto Nacional de Seguro Social (Nationales Sozialversicherungsinstitut)<br />

IZA Informationszentrum Afrika Bremen<br />

JOC Joventude Operaria Católica (katholische Arbeiterbewegung)<br />

KIS Krimineller Informeller Sektor<br />

LCI Live Condition INDEX (Index der Lebensbedingungen)<br />

MERCOSUL Mercado Comun do Sul (Gemeinschaftsmarkt des Südens)<br />

PNAD Pesquisa Nacional por Amostra de Domicílio (Nationale<br />

Erhebung <strong>für</strong> Haushaltsstichproben)<br />

PREALC Programa Regional de Emprego da América Latina e Caribe<br />

(Regionalprogramm <strong>für</strong> Beschäftigung in Lateinamerika und<br />

Karibik)<br />

PT Partido <strong>dos</strong> Trabalhadores (Arbeiterpartei)<br />

RJ Rio de Janeiro


XVI<br />

SEADE Fundação Sistema Estadual de Análise de Da<strong>dos</strong> (Stiftung<br />

des bundesstaatlichen System zur Datenanalyse)<br />

SIS Stätischer Informeller Sektor<br />

SM Salário Mínimo (Mindestlohn)<br />

STDMRJ Sindicato <strong>dos</strong> Trabalhadores Doméstico do Município do Rio<br />

de Janeiro (Hausangestelltengewerkschaft der Stadt Rio de<br />

Janeiro)<br />

SUDENE Superintendencia do Desenvolvimento do Nordeste (staatliche<br />

Direktion zur Entwicklung des Nor<strong>dos</strong>ten)<br />

UNDP United Nations Development Program (Programm der Vereinten<br />

Nationen)<br />

UNO United Nations Organisation (Organisation der Vereinten<br />

Nationen)<br />

USA United States of America (Vereinigte Staaten von Amerika)<br />

USD US Dollar


Glossar<br />

AGIOTA Wucherer<br />

BICHEIRO Person, die illegal ihr Kapital in das ‚jogo de<br />

bicho‘ investiert<br />

CARTEIRA DE TRABALHO Es handelt sich um eine Art „Stammbuch“ <strong>für</strong><br />

ArbeitnehmerInnen, das jede/r zu Erwerbszwekken<br />

ausgestellt bekommt. Es ist beim jeweiligen<br />

Arbeitgeber vorzulegen. Eingetragen werden darin<br />

die Beschäftigungszeiten, Lohnleistungen und<br />

Sozialversicherungsbeiträge.<br />

CAMELÔ Straßenverkäufer<br />

CRACK Droge auf Kokainbasis<br />

CUT Central Única <strong>dos</strong> Trabalhadores: Die CUT wurde<br />

1983 gegründet und ist der Gewerkschaftsdachverband<br />

der <strong>neuen</strong> Gewerkschaftsbewegung Brasiliens.<br />

Mit der Gründung dieses einheitlichen<br />

Dachverbands wurde ein Stück Gewerkschaftsfreiheit<br />

erkämpft und die Unabhängigkeit gewerkschaftlicher<br />

Organisation gegenüber dem Staat<br />

erobert. Seit den dreißiger Jahren waren das Gewerkschaftssystem<br />

dem Staat unterstellt und branchenübergreifende<br />

Zusammenschlüsse untersagt.<br />

EMPREGADA Hausangestellte<br />

FAVELA Illegal besetztes städtisches Randgebiet (Squatter).<br />

„Favela“ ist die brasilianische Bezeichnung <strong>für</strong><br />

diese Randgebiete, in denen ein Großteil der<br />

armen, insbesondere der schwarzen Bevölkerung<br />

lebt.<br />

FAVELIZAÇÃO Entstehungsprozess einer Favela.<br />

JOGO DE BICHO In Brasilien verbotenes Glücksspiel mit 12 verschiedenen<br />

Tiersymbolen.


XVIII<br />

PATRÃO Arbeitgeber<br />

SACOLEIRO Mit diesem Begriff werden jene Händler bezeichnet,<br />

die nach Paraguay in die Freihandelszone<br />

oder aber auch in andere größere Zentren Brasiliens<br />

fahren, um ihre Waren dort günstig einzukaufen<br />

und anschließend mit Gewinn in ihren Städten<br />

weiterverkaufen. Der Begriff ist vom Wort ‚saco‘<br />

abgeleitet, was Plastiktüte oder aber auch Tasche<br />

bedeutet.<br />

SM (SALÁRIO MÍNIMO) Mindestlohn: Er wird bei Lohnverhandlungen als<br />

stehende Bezugsgröße verwandt.


Vorwort<br />

In der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich mit der<br />

Urbanisierung in den Ländern der Dritten Welt neue Formen der Subsistenzwirtschaft<br />

entwickelt. Während die ländliche Subsistenzwirtschaft der Kolonialzeit<br />

meist im Widerspruch zu marktgängigen Formen stand, präsentiert<br />

sich die urbane Subsistenzwirtschaft sehr oft in Marktformen, manchmal<br />

sogar in solchen eines mehr oder weniger formalisierten Arbeitskraftverkaufs.<br />

Die Diskussion im Zusammenhang mit diesen postkolonialen Formen der<br />

Subsistenzwirtschaft wird sehr kontrovers geführt. Während einige Autoren<br />

die Überführung der informellen Ökonomie in <strong>einen</strong> formellen Rahmen<br />

be<strong>für</strong>worten, sehen andere in diesen Formen der Arbeit eine Chance, Entfremdung<br />

zu vermeiden und sich selbst zu verwirklichen.<br />

Frau <strong>Florisbela</strong> <strong>dos</strong> <strong>Santos</strong> hast es verstanden, bei der Darstellung der städtischen<br />

Subsistenzwirtschaft beide Gefahren – die Be<strong>für</strong>wortung der radikalen<br />

Modernisierung ohne Rücksicht auf die Gegebenheiten und die Idealisierung<br />

einer auf Entbehrung und Not basierenden Lebensweise – zu umgehen. Sie<br />

zeigt die Vielfältigkeit eines urbanen Informellen Sektors, der sich nicht nur<br />

negativ definieren lässt und sich einer allgem<strong>einen</strong> Bewertung entzieht.<br />

Die Autorin unterscheidet zwischen formellen, informellen und kriminellen<br />

Sektoren, die in den drei von ihr berücksichtigten Segmenten der Klassenstruktur<br />

(herrschende Klasse, Mittelklasse und Unterklasse) zu finden sind,<br />

und die alle an wichtigen wirtschaftlichen Funktionen (1. Herstellung von<br />

Produkten und Erbringung von Dienstleistungen; 2. Schaffung von Arbeitsplätzen;<br />

3. Beitrag zur sozialen Sicherung) beteiligt sind. Dabei stellt Frau<br />

<strong>Florisbela</strong> <strong>dos</strong> <strong>Santos</strong> fest, das die Grenzen zwischen den Sektoren oft unklar<br />

sind, wie sie bei der Analyse der Schnittpunkte des ambulanten Handels mit<br />

dem kriminellen, informellen Sektor herausarbeitet. Aus der umfangreichen<br />

Literaturanalyse leitet die Autorin ab, dass Vertreter des kriminellen Sektors<br />

in einzelnen Fällen Ordnungsfunktionen in den Armenviertel der Stadt ausüben<br />

können.


XX<br />

Die im Informellen Sektor Tätigen sehen ihre Arbeit als „normale“, in die<br />

Gesellschaft voll integrierte Arbeit an, wobei sich die Frage nach dem<br />

Begriff der Normalität aufdrängt.<br />

Frau <strong>Florisbela</strong> <strong>dos</strong> <strong>Santos</strong> hat <strong>einen</strong> wichtigen Beitrag zum Verständnis des<br />

Städtischen Informellen Sektors in Rio de Janeiro geliefert. Ihre Ergebnisse<br />

sind wahrscheinlich auch auf andere Entwicklungsländer – zumindest<br />

Lateinamerikas – anwendbar. Sie begnügt sich nicht mit der Analyse der<br />

gegebenen Zustände, sondern bemüht sich auch um die Frage nach Verbesserungsmöglichkeiten.<br />

Ob diese Verbesserungen durch Formalisierung und<br />

Entkriminalisierung erreicht werden können, verdient eine weitere Untersuchung.<br />

Prof. Dr. Carles Ossorio-Capella


Anlass und Danksagung<br />

Im Rahmen der Abschlussarbeit meines Postgraduiertenstudiums Mitte der<br />

80er Jahre in Brasilien setzte ich mich das erste mal wissenschaftlich mit der<br />

Situation der Favelas und ihren Bewohnern auseinander. Die Konkretisierung<br />

auf das Thema des Städtischen Informellen Sektors wurde angeregt<br />

während einer von der Volkswagenstiftung finanzierten Studie zum Thema<br />

Migration und soziale Netzwerke, durchgeführt von der Universität Hannover<br />

zusammen mit der bundesstaatlichen Universität von São Paulo (USP),<br />

da ein wesentlicher Lebensschwerpunkt der in dieser Studie untersuchten<br />

Gruppen, Hausangestellte, ambulante Verkäufer und Drogenhändler, die<br />

Favelas sind.<br />

Angeregt durch diese Untersuchungen erfolgte die theoretische Auseinandersetzung<br />

mit dem Thema. Hierbei konnten sehr unterschiedliche Sichtweisen<br />

festgestellt werden: der Städtische Informelle Sektor als Ergebnis der Kapitalakkumulation,<br />

der Unfähigkeit des Wirtschaftssystems, Arbeitsplätze zu<br />

schaffen, der willkürlichen und strategielosen Staatsinterventionen oder der<br />

Schaffung monopoler Strukturen und der Globalisierung.<br />

Darauf aufbauend erfolgte die weitere Annäherung an das Thema durch<br />

selbstfinanzierte Feldstudien, die es ermöglichten, die Positionen der Mitglieder<br />

des Städtischen Informellen Sektors zu identifizieren. So wurden in<br />

diesem Sektor Vertreter der verschiedenen sozialen Schichten, von der Oberüber<br />

die Mittel- bis zur Unterschicht, angetroffen, und es erweiterte sich der<br />

Blickwinkel <strong>für</strong> die große Bedeutung dieses Sektors als Teil des Wirtschaftssystems<br />

eines Staates.<br />

Die vorliegende Arbeit erhielt von vielen Seiten in unterschiedlicher Form<br />

Unterstützung. Hier möchte ich mich zunächst bei meinem Betreuer Prof.<br />

Dr. Carles Ossorio-Capella bedanken, der von Beginn an großes Interesse an<br />

dem Thema zeigte, mich immer wieder ermunterte und sich geduldig mit<br />

m<strong>einen</strong> verschiedenen Entwürfen kritisch auseinandersetzte sowie wichtige<br />

Hinweise gab.<br />

Frau Prof. Dr. Ruth Becker, Herr Prof. Dr. Klaus W. Schüler und Frau Prof.<br />

Dr. Marianne Braig danke ich <strong>für</strong> die kritischen Anmerkungen sowie Herrn<br />

Dr. Günther Wehenpohl <strong>für</strong> seine ständige Diskussionsbereitschaft und


XXII<br />

Unterstützung bei den Korrekturen und den Übersetzungen aus dem Portugiesischem.<br />

Frau Annemarie Lorenz <strong>für</strong> die Endkorrektur der Arbeit.<br />

Mein besonderer Dank gilt jedoch den Hausangestellten, den Straßenverkäuferinnen<br />

und -verkäufern, die sich selbst trotz ihres anstrengenden Arbeitsrhythmus<br />

als Interviewpartner zur Verfügung stellten und zahlreiche wichtige<br />

Informationen lieferten. Ebenso möchte ich den Arbeitern des Kriminellen<br />

Informellen Sektors <strong>für</strong> ihre Auskünfte danken, die mir vertrauten und über<br />

ihre Arbeit sprachen. Ohne diese Informationen hätte diese Arbeit nicht ihre<br />

Authentizität erreicht.<br />

Zuletzt möchte ich mich aber auch bei all jenen bedanken, die mich während<br />

der Jahre, in denen diese Arbeit entstand und sich entwickelte, mir wissenschaftliche,<br />

technische und emotionale Unterstützung gaben: Regina Altenam,<br />

Laura Andrade, Christine Arkenberg, Jurema Batista, Karoline Baumert,<br />

Edgar de Castro, Dr. Ferry Chaidir, Axel Flörke, Gerda Fritz, Dora Glätzer,<br />

Renate Hess, Alexander Kohl, Gerhard Kohn, Dr. Thomas Krätzig, Heike<br />

Langguth, Samuel Ndguel, Olinto Nogueira, Waltair Oliveira, Maria<br />

Pschorr, Beatrix Reichling-Roja, Julia von Rühmker, Cintia F. C. <strong>dos</strong> <strong>Santos</strong>,<br />

Linda F. C. <strong>dos</strong> <strong>Santos</strong>, Michelle <strong>dos</strong> <strong>Santos</strong>, Professor Dr. Milton <strong>Santos</strong>,<br />

Christiane Schröder, Doro Schütz, Reiner Schütz, Reynaldo Serrano Vargas,<br />

Paulo Silva und Djenna Wehenpohl.<br />

<strong>Anna</strong> <strong>Lúcia</strong> <strong>Florisbela</strong> <strong>dos</strong> <strong>Santos</strong>


1 Anlass und Ziel der Untersuchung<br />

1.1 Einführung in die Problemstellung<br />

Die Wirtschaftsentwicklung in den Entwicklungsländern führt zu einem<br />

immer stärkeren Auseinanderklaffen der sozialen Schere, d.h. der Unterschied<br />

zwischen Armen und Reichen wächst ständig. Dies gilt auch <strong>für</strong> die<br />

sogenannten Schwellenländer. Während sich eine kleine Gruppe der Bevölkerung<br />

auf dem technologischen und ökonomischen Stand der Industrieländer<br />

Europas und Nordamerikas befindet, wird die große Masse der Armen in<br />

zunehmendem Maße von dieser Entwicklung abgeschnitten. Traditionelle<br />

Indikatoren einer ökonomischen Entwicklung, wie beispielsweise das Bruttosozialprodukt<br />

eines Landes, verlieren immer mehr an Bedeutung.<br />

Eine signifikante Produktionssteigerung in den verschiedenen Wirtschaftssektoren<br />

ist nur durch Rationalisierung1 , verbunden mit verstärktem Einsatz<br />

von Robotern und Informatik möglich. Dabei werden u.a. neue Produktionsund<br />

Automatisierungsmethoden eingeführt, die zu einer erheblichen Kostenreduzierung<br />

in der Produktion bei gleichzeitiger Steigerung der Arbeitsproduktivität<br />

führen. Bereits in der Vergangenheit brachten diese Entwicklungen<br />

bedeutende Veränderungen <strong>für</strong> den Arbeitsmarkt mit sich, die sich vor<br />

allem in der Freisetzung von Arbeitskräften in allen drei Wirtschaftssektoren<br />

(Primär-, Sekundär- und Tertiärsektor) ausdrückten.<br />

Die nicht oder nur unzureichend vorhandenen Systeme zur Absicherung<br />

freigesetzter Arbeitskräfte in den Entwicklungsländern sind eine wesentliche<br />

Ursache <strong>für</strong> das Abwandern dieser Personen in den Informellen Sektor. Dieser<br />

ist Auffangbecken <strong>für</strong> jene, die bedingt durch Arbeitslosigkeit um ihr<br />

ökonomisches Überleben kämpfen müssen. Außerdem sind in diesem Sektor<br />

ebenso Personen tätig, die ihre Hauptbeschäftigung im Formellen Sektor<br />

haben oder als Unternehmer tätig sind. Letzteres beschränkt sich nicht auf<br />

die Entwicklungsländer, sondern ist in wachsendem Umfang auch in den<br />

Industrieländern feststellbar.<br />

1 Rationalisierung ist die Anwendung wissenschaftlicher Methoden der Kontrolle, Organisation<br />

und industriellen Konzentration, die zu einer Reduzierung der Kosten bei gleichzeitiger<br />

Steigerung der Effizienz der Produktion und Arbeit führt.


2<br />

Die vorliegende Arbeit will die sich daraus ergebenden Veränderungsprozesse<br />

im Formellen und Informellen Sektor unter theoretischen und praktischen<br />

Gesichtspunkten untersuchen. Dabei erfolgt eine Einschränkung auf<br />

den Städtischen Informellen Sektor (SIS), der sich weltweit zu einem<br />

„bedeutenden Arbeitgeber“ entwickelt hat und zunehmend als wichtiger Faktor<br />

der Volkswirtschaften angesehen und anerkannt wird. Gleichzeitig missbrauchen<br />

jedoch bestimmte Gesellschaftsgruppen (z.B. Unternehmer) diese<br />

wachsende Akzeptanz.<br />

Es ist offensichtlich, dass der Formelle Sektor nicht in der Lage ist, dem<br />

ständig wachsenden Heer von Arbeitslosen ausreichend Arbeitsplätze zur<br />

Verfügung zu stellen; dies gilt sowohl <strong>für</strong> die Entwicklungsländer als auch in<br />

immer stärkerem Maße <strong>für</strong> die Industrieländer. Das stetige Wachsen des<br />

Informellen Sektors ist somit zwangsläufig, wobei die Gründe vielfältiger<br />

Art sind.<br />

1.2 Zielsetzung und Eingrenzung der Arbeit<br />

Seit etwa 25 Jahren gibt es zahlreiche Versuche, das „Phänomen“ Informeller<br />

Sektor theoretisch zu erklären, wobei sowohl auf marxistische als auch<br />

kapitalistische Theorien zurückgegriffen wird. Die bisherigen Erklärungsansätze<br />

helfen dabei, die den Informellen Sektor bestimmenden Variablen<br />

von verschiedenen Gesichtspunkten aus zu verknüpfen; gleichzeitig bleiben<br />

sie jedoch vielfach in der Erklärung einiger Variablen (z.B. Arbeitslosigkeit,<br />

ökonomisches Wachstum, Investitionen) stecken. Wie in der vorliegenden<br />

Arbeit dargelegt werden wird, ist der Informelle Sektor, und hier insbesondere<br />

der Städtische Informelle Sektor, durch die bisherigen theoretischen<br />

Erklärungsansätze in seiner Gesamtheit bislang nicht ausreichend erklärt<br />

worden.<br />

Aufgrund dieser Tatsache geht diese Arbeit von folgender Hypothese aus:<br />

Die Unfähigkeit der vorherrschenden postindustriellen Gesellschaft Arbeitsplätze<br />

zu schaffen, hat dazu geführt, dass das Phänomen des Städtischen<br />

Informellen Sektors sich auf alle Ebenen der Gesellschaft, von der unteren<br />

bis zur oberen, ausbreitet und darüber hinaus zunehmend vom Kriminellen<br />

Informellen Sektor vereinnahmt wird.


Auf die Unterscheidung des Formellen Sektors, des Städtischen Informellen<br />

Sektors und Kriminellen Informellen Sektors wird zu einem späteren Zeitpunkt<br />

in der Arbeit eingegangen. 2<br />

Zur Differenzierung der Hypothese lassen sich folgende Arbeitshypothesen<br />

aufstellen, die dazu dienen sollen, die Komplexität des Städtischen Informellen<br />

Sektors näher zu erläutern und zu einem besseren Verständnis desselben<br />

beizutragen:<br />

• Die explosionsartige Ausdehnung des Städtischen Informellen Sektors ist<br />

vorwiegend ein typisches Phänomen instabiler und armer Wirtschaftssysteme.<br />

Die in diesem Sektor Tätigen sind daher vor allem deshalb hier<br />

anzutreffen, weil sie ihre Arbeit verloren und keine neue gefunden haben.<br />

Sie befinden sich am Rande des Produktionsapparates und haben ein niedriges<br />

Konsumverhalten.<br />

• Wesentliche Charakteristiken des Städtischen Informellen Sektors sind<br />

Armut, geringe Löhne, seine Arbeiter sind unqualifiziert, haben eine<br />

geringe Schulbildung, sind überwiegend Immigranten und Frauen und<br />

gehören einer diskriminierten „ethnischen Minderheit“ an.<br />

• Der Städtische Informelle Sektor ist nicht nur deshalb attraktiv, da er<br />

denen eine Arbeit gibt, die keine im Formellen Sektor finden, sondern<br />

auch, weil er ein Einkommen ermöglicht und eine gewisse Sicherheit bietet,<br />

womit eine soziale Anerkennung verbunden ist. Er hat somit neben<br />

der ökonomischen auch eine soziale Bedeutung.<br />

• Die große Restriktion des Städtischen Informellen Sektors liegt in seiner<br />

geringen Produktivität. Hier finden vielfach von Armen <strong>für</strong> Arme entwikkelte<br />

Aktivitäten statt, die jedoch nicht in der Lage sind, zur Dynamisierung<br />

der Gesamtwirtschaft beizutragen.<br />

• Der Städtische Informelle Sektor erneuert sich ständig. Während ständig<br />

neue Personen in den Sektor drängen, verlassen andere ihn gleichzeitig.<br />

Diese finden Arbeit im Formellen Sektor, formalisieren ihre Aktivitäten<br />

oder rutschen in den Kriminellen Informellen Sektor ab.<br />

• Der Staat ist wegen seiner bürokratischen Verfahren und politischen<br />

Abwesenheit ein Hauptverantwortlicher <strong>für</strong> das Wachstum des Städtischen<br />

Informellen Sektors.<br />

2 s. Kapitel 2<br />

3


4<br />

• Dem Städtischen Informellen Sektor wird in wachsendem Maß durch den<br />

Kriminellen Informellen Sektor bei der Absorption von Arbeitskräften<br />

Konkurrenz gemacht.<br />

• Die Ursachen <strong>für</strong> das Wachsen des Städtischen Informellen Sektors ist in<br />

den verschiedenen Gesellschaftsschichten (Unter-, Mittel-, Oberschicht)<br />

sehr unterschiedlich.<br />

Zur Verifizierung dieser Hypothesen wird Wert gelegt auf die<br />

• Darstellung der Transformation und Dynamik (oder auch Statik) des<br />

Städtischen Informellen Sektors;<br />

• Identifizierung der Arbeitsbedingungen des Städtischen Informellen Sektors<br />

sowie Diskussion der Funktionsweise und des Prozesses der Formalisierung<br />

seiner Aktivitäten;<br />

• Darstellung der parallelen Funktionsweisen des Städtischen Informellen<br />

Sektors und des Kriminellen Informellen Sektors innerhalb der Gebiete<br />

unterer Einkommensschichten.<br />

In der vorliegenden Arbeit werden einige wichtige Bereiche des Informellen<br />

Sektors aufgrund von der Autorin durchgeführten Felduntersuchungen genauer<br />

betrachtet. Die Bereiche sind:<br />

• die ambulanten Verkäufer,<br />

• die Hausangestellten und<br />

• Teilbereiche des Kriminellen Informellen Sektors.<br />

Andere Bereiche wie die informelle Herstellung von Industrieprodukten,<br />

sonstige Dienstleistungen usw. konnten aus Zeitgründen und aufgrund eines<br />

begrenzten Budgets nicht in die Untersuchung aufgenommen werden.<br />

Die Untersuchung erhebt nicht den Anspruch, das Thema abschließend zu<br />

behandeln, sondern will <strong>einen</strong> Beitrag hierzu leisten. Die Arbeit trägt dazu<br />

bei, die Verbindungen zwischen Ursachen und Effekten des Phänomens<br />

Städtischer Informeller Sektor unter ökonomischen, sozialen und politischen<br />

Gesichtspunkten herzustellen.<br />

1.3 Untersuchungskonzept<br />

Die Durchführung der Arbeit erfolgt in drei Hauptarbeitsschritten, die sich<br />

teilweise überschneiden, bzw. zeitlich parallel zueinander verlaufen (s. Abbildung<br />

1-1).


1. Arbeitsschritt<br />

Ausgehend von einer Literaturanalyse und -auswertung erfolgt die Darstellung<br />

der Bedeutung des Städtischen Informellen Sektors. Einer gesonderten<br />

Betrachtung wird dabei die Entwicklung der Gebiete unterer<br />

Einkommensschichten unterzogen, da sie das größte Reservoir an<br />

Arbeitskräften in diesem Sektors bilden und deren Entwicklung gleichzeitig<br />

Rückschlüsse hierauf ermöglichen. Aufbauend auf der Auswertung<br />

erfolgt die Eingrenzung auf ausgewählte Bereiche des Städtischen<br />

und Kriminellen Informellen Sektors, die ebenfalls Schlussfolgerungen<br />

auf weitere Bereiche zulassen. Für diese Sekundäranalyse wurde der<br />

Schwerpunkt auf Brasilien und hier insbesondere Rio de Janeiro gelegt.<br />

2. Arbeitsschritt<br />

Nach der Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes erfolgt die Vorbereitung<br />

der empirischen Felduntersuchung. Hierzu gehört zum <strong>einen</strong><br />

die Auswahl geeigneter Methoden sowie die Auswahl des Untersuchungsraumes.<br />

Die Wahl fällt hierbei auf Rio de Janeiro, da die Autorin<br />

hierzu bereits aufgrund früherer Untersuchungen und Arbeiten auf gute<br />

Kontakte sowie Basismaterial zurückgreifen kann. Parallel zur Felduntersuchung<br />

wird die Literaturerhebung und -analyse fortgesetzt.<br />

3. Arbeitsschritt<br />

In der dritten Stufe werden die erhobenen Daten der Sekundäranalyse<br />

und der Primärerhebungen ausgewertet, analysiert und daraus Schlussfolgerungen<br />

gezogen.<br />

5


6<br />

PROBLEMDARSTELLUNG<br />

Literaturanalyse und -auswertung<br />

Entwicklung der<br />

Gebiete unterer<br />

Einkommensschichten<br />

Eingrenzung des Themas<br />

Hausangestellte<br />

Festlegung des<br />

Untersuchungsrahmens<br />

- Auswahl der Fallbeispiele -<br />

standardisierte<br />

Interviews<br />

Abb. 1-1: Untersuchungskonzept<br />

ambulante<br />

Verkäufer<br />

Felduntersuchung<br />

Intensivinterviews<br />

A uswertung<br />

Städtischer Informeller<br />

Sektor (SIS)<br />

krimineller<br />

informeller<br />

Sektor<br />

Beobachtung<br />

Bewertung und Schlußfolgerungen


1.4 Strukturierung der Arbeit<br />

Zur Einordnung der Arbeit in ein Gesamtkonzept, erfolgt vor dem Eingehen<br />

auf die Felduntersuchungen und ihre Ergebnisse die theoretische Abhandlung<br />

des Themas (Kapitel 2). Dabei wird auf die verschiedenen Gesellschaftsschichten<br />

und ihre Verbindung zum Städtischen Informellen Sektor<br />

eingegangen sowie die verschiedenen Kategorien des Städtischen und Kriminellen<br />

Informellen Sektors abgehandelt und die Definition der Begriffe<br />

diskutiert.<br />

Die Diskussion und Auswahl der <strong>für</strong> die Felduntersuchung angewandten<br />

Methodik erfolgt in Kapitel 3, die Darstellung Brasiliens und des Untersuchungsraumes<br />

Rio de Janeiro in Kapitel 4.<br />

Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung werden in Kapitel 5 präsentiert<br />

bei getrennter Darstellung und Analyse der drei ausgewählten Bereiche:<br />

Hausangestellte, ambulante Verkäufer und Krimineller Informeller Sektor.<br />

Kapitel 6 gibt eine Zusammenstellung der Ergebnisse und die gezogenen<br />

Schlussfolgerungen wieder.<br />

7


2 Theoretische Betrachtung und Definition des<br />

Städtischen Informellen Sektors<br />

2.1 Der Informelle Sektor als Objekt internationaler<br />

Forschungsarbeiten<br />

Ein beachtenswerter Teil der Bevölkerung produziert und reproduziert sich<br />

außerhalb offiziell anerkannter und regulärer Arbeitsprozesse bei gleichzeitiger<br />

Teilnahme am Akkumulationsprozess des Kapitals. In der vorliegenden<br />

Arbeit wird der Informelle Sektor näher untersucht, der sowohl von der Subsistenzwirtschaft<br />

als auch von der Bettelei abzugrenzen ist. Die Subsistenzwirtschaft<br />

ist u.a. dadurch charakterisiert, dass Güter <strong>für</strong> den Eigenverbrauch<br />

und nicht mit dem Ziel des Verkaufs produziert werden, die Ware also nicht<br />

auf den Markt kommt. Unabhängig davon dient sie jedoch der Reproduktion<br />

der Arbeitskraft. Bettelei dient der Erlangung von Geld oder Gütern ohne<br />

jegliche Gegenleistung sei es in Form einer Dienstleistung oder Produktion<br />

Der Begriff ‚Informeller Sektor‘ als Ausdruck <strong>für</strong> den ‚Informellen Arbeitsmarkt‘<br />

wurde erstmals 1970 von dem Ökonomen Hart (1973) in seiner Studie<br />

über Ghana eingeführt. Etwa zur gleichen Zeit unterschied Machado da<br />

Silva (1971) zwischen den „formalen und nicht formalen Märkten in seiner<br />

Arbeit über ‚Metropole Arbeitsmärkte und Marginalität‘“ (apud Carleial,<br />

1981, und Souto, 1990). Damit wurde erstmals versucht, die außerhalb offiziell<br />

anerkannter und regulärer Arbeitsprozesse stattfindenden Tätigkeiten<br />

der Bevölkerung theoretisch aufzuarbeiten und die verschiedenen Aspekte<br />

näher zu beleuchten.<br />

Hart versuchte, dem Konzept des Informellen Sektors <strong>einen</strong> qualitativen<br />

Aspekt zu geben. Nach Bromley (Zapo de Azevedo, 1995, und Katz, 1992)<br />

kam diese Idee genau zum richtigen Zeitpunkt, und es wurde möglich, eine<br />

Politik zu verfolgen bzw. ihr <strong>einen</strong> theoretischen Rahmen zu geben, die eine<br />

Unterstützung unterer Einkommensschichten ermöglicht, ohne bestehende<br />

gesellschaftliche Strukturen grundlegend in Frage zu stellen (vgl. Portes,<br />

1995). Dies entsprach dem Bedürfnis derjenigen Institutionen, die die Untersuchungen<br />

hierzu förderten und eine daraus abgeleitete Politik diktierten, wie<br />

beispielsweise die Internationale Arbeitsorganisation (International Labour


10<br />

Organization – ILO). Harts größter Verdienst ist, die Diversität und den<br />

Dynamismus der städtischen informellen Aktivitäten erkannt zu haben (vgl.<br />

Portes, 1995), die weit über die bekannten der Schuhputzer und Straßenverkäufer<br />

hinausgehen.<br />

Nach Auffassung von Cacciamali (1983) gelingt es in einigen Berichten der<br />

ILO, die Aktivitäten des Informellen Sektors und die informellen Arbeiter zu<br />

beschreiben und zu differenzieren. Diese Berichte dienten als wichtige konzeptionelle<br />

Basis <strong>für</strong> die Entwicklungspolitik von Organisationen wie ILO in<br />

ihrem Regionalen Beschäftigungsprogramm <strong>für</strong> Lateinamerika und der Karibik<br />

(Programa Regional de Empleo para América Latina y el Caribe –<br />

PREALC) oder der Weltbank in diesem Sektor.<br />

Die Entstehung des Informellen Sektors ist mit dem Beginn der Formalisierung<br />

und Regelung von Arbeitsbedingungen (Arbeitszeit, Urlaub, Lebensarbeitszeit<br />

usw.) verbunden. Einzelne Charakteristika wurden bereits früher<br />

von verschiedenen Autoren beschrieben, jedoch nicht unter dem Gesichtspunkt<br />

einer vollständigen Abhandlung dieses Sektors, sondern im Kontext<br />

anderer Untersuchungen.<br />

Der Gedanke einer verarmten Masse, die gezwungen wird, jeglichen Job<br />

anzunehmen, da sie keine Wahlmöglichkeit hat, wurde schon von Stuart Mill<br />

bereits zu Mitte des 19. Jahrhunderts aufgegriffen. „Die ermüdenden und<br />

einfachsten Arbeiten werden von Personen durchgeführt, die im Elend leben<br />

oder über keine Ausbildung verfügen und daher gezwungen sind, jede angebotene<br />

Arbeit anzunehmen“ (apud Sandroni, 1989). Diese Arbeiten sind<br />

jedoch nicht nur im Formellen Sektor anzutreffen, sondern gerade im Informellen<br />

Sektor, wodurch ein erheblicher Teil dieser verarmten Masse absorbiert<br />

wird.<br />

Von besonderer Bedeutung ist hierbei die marxsche Analyse über den<br />

Akkumulationsprozess im kapitalistischen System. Die Akkumulation und<br />

Konzentration des Kapitals stehen in direktem Verhältnis zur Verelendung<br />

der Arbeiterklasse und Verarmung der Mittelklasse, die vielfach in die<br />

Arbeitslosigkeit gedrängt wurden. Diese Masse der Arbeitslosen bezeichnet<br />

Marx (1977; MEW Buch 1, Kap. 3, 13 und 23, apud Kowarick, 1977; Bennholdt-Thomsen,<br />

1979) als „industrielle Reservearmee“, andere Autoren<br />

(Quijano, 1966 und 1977; Nun, 1969) bezeichnen sie als „marginale Masse“,<br />

„marginaler Pol“, „marginalisierte Arbeitskraft“.


Einige Ökonomen der „monetären Linie“ halten ein Arbeitslosenheer <strong>für</strong><br />

erforderlich, da eine Vollbeschäftigung zu steigenden Lohnforderungen und<br />

diese zu einer Erhöhung der Inflation und reduzierten Kapitalakkumulation<br />

führen würden (vgl. Sandroni, 1989, S. 82f).<br />

Die Beschreibungen und Analysen verschiedener Autoren beziehen sich bei<br />

der Charakterisierung des Informellen Sektors direkt oder indirekt auf die<br />

„industrielle Reservearmee“. So betrachten Jatobá et al (1985) und Cunha<br />

(1979) den Informellen Sektor als dem Formellen Sektor untergeordnet, präkapitalistisch<br />

und rückständig. Laut diesen Autoren können sich die als Konsequenz<br />

der kapitalistischen Entwicklung freigesetzten Arbeiter nur reproduzieren,<br />

wenn sie – außer im Rahmen der Subsistenzproduktion – direkte<br />

Lohntransferleistungen des modernen Sektors oder neue Möglichkeiten <strong>für</strong><br />

die informelle Produktion von vermarktbaren Gütern und Dienstleistungen<br />

erhalten. So nutze der Informelle Sektor den ökonomischen Raum, der <strong>für</strong><br />

das moderne Kapital nicht mehr lukrativ ist.<br />

Tokman, 1978, PREALC, 1978, Carleial; 1981, Cacciamali, 1993; Jatobá,<br />

1990, Borsútzky, 1992 u.a. charakterisieren den Informellen Sektor folgendermaßen:<br />

• Keine Steuerabgaben<br />

• einfacher Zugang zu informellen Aktivitäten,<br />

• geringe Anzahl an bezahlten Beschäftigten (bis 5),<br />

• Familienbetriebe,<br />

• arbeitsintensive, kapitalextensive Produktionsorganisation,<br />

• kein oder geringer Zugang zu (staatlichen) Krediten und sonstigen Förderprogrammen,<br />

• Erlangung der Qualifikation außerhalb des formalen schulischen Systems,<br />

teilweise Anlernen durch ‚training-on-the-job‘ und ‚learning-by-doing‘,<br />

geringe Schulbildung erforderlich,<br />

• geringer Grad an Arbeitsteilung,<br />

• vorherrschende Nutzung einfacher Arbeitsmittel,<br />

• niedrige Produktionszahlen,<br />

• Verwendung überholter Technologien,<br />

• ungeregelte Arbeitszeiten, mündliche Übereinkünfte, tägliche Entlohnung,<br />

• Fehlen von sozialen Sicherheiten, die z.B. Arbeitern des Formellen Sektors<br />

laut Arbeitsgesetzgebung zustehen,<br />

• hohe Arbeitsintensität (lange tägliche Arbeitszeiten, wenige oder keine<br />

Frei- und Urlaubszeit),<br />

11


12<br />

• geringe Produktivität,<br />

• niedrige Produktqualität,<br />

• Direktvermarktung, Kundennähe (Nachbarschaft), Fehlen von Zwischenhändlern,<br />

Produktion <strong>für</strong> den lokalen Bedarf, etc.,<br />

• Reproduktion der Arbeitskraft innerhalb der Familie, also außerhalb des<br />

Produktionsumfeldes.<br />

Das häufig angeführte Kriterium, die Registrierung (z.B. bei der Stadtverwaltung)<br />

sei ausreichend, um eine Aktivität dem Formellen Sektor oder<br />

Informellen Sektor zuzuordnen, ist in Übereinstimmung mit dem IBGE<br />

(1996) unzureichend. Die Anwendung mehrerer der o.g. Kriterien ermöglichen<br />

hingegen eine konkretere Zuordnung, auch wenn diese nicht immer eindeutig<br />

sein kann, zumal einige Merkmale auch im Formellen Sektor anzutreffen<br />

sind, z.B. Anzahl der Beschäftigten unter fünf, Familienbetriebe etc..<br />

Demgegenüber wird der Formelle Sektor im wesentlichen durch folgende<br />

Punkte charakterisiert, ohne dass im Einzelfall jeder Punkt zutreffen muss:<br />

• Entrichtung der gesetzlich festgelegten Steuern und Sozialabgaben<br />

• formalisierte Arbeitsverträge,<br />

• tariflich oder gesetzlich geregelte Löhne und soziale Absicherung,<br />

• formale Berufsausbildung,<br />

• Möglichkeiten der Weiterbildung und der Förderung,<br />

• geringe Rotation bei der Beschäftigung,<br />

• Zugang zu den Aktivitäten ist an Bedingungen geknüpft, z. B. Teilnahme<br />

an Wettbewerben<br />

• moderne Technologie,<br />

• hohe Produktivität,<br />

• hohe Produktqualität,<br />

• Firmengrößen bis zu mehreren zigtausend Beschäftigten.<br />

Steigender Drogenkonsum in den letzten Jahrzehnten und damit verbunden<br />

Drogenproduktion und -handel sowie die Entwicklung neuer Technologien,<br />

die es einfach ermöglichen, von geschützten Waren Raubkopien anzufertigen,<br />

haben unter anderem dazu geführt, dass sowohl dem Informellen als<br />

auch dem Formellen Sektor Konkurrenz durch <strong>einen</strong> <strong>neuen</strong> wirtschaftlichen<br />

Sektor entstanden ist: den Kriminellen Informellen Sektor. Dieser wird aufgrund<br />

von Erhebungen der Autorin (s. Kapitel 5.3) charakterisiert durch:


• Relativ schwieriger Zugang zu diesen Aktivitäten, ein Ausscheiden aus<br />

diesem Sektor ist so gut wie nicht möglich,<br />

• keine schriftlichen Verträge,<br />

• keine Intervention des Staates bei der Bezahlung (z.B. keine Sozialabgaben<br />

etc.),<br />

• Aktivitäten i.d.R. in Brasilien außerhalb eines Familienverbunds,<br />

• keine geregelte, jedoch überdurchschnittlich gute Bezahlung<br />

• hohes Gewaltpotenzial im Sektor,<br />

• kapitalintensiv (Nutzung spezieller Maschinen, Computer, Flugzeuge<br />

usw.),<br />

• große Bandbreite in der Produktqualität,<br />

• Einsatz modernster Technologien,<br />

• unterschiedliche Größenordnungen der Betriebe.<br />

Vor allem die im Vergleich zu den anderen Sektoren wesentlich besseren<br />

Verdienstmöglichkeiten sind Ursache <strong>für</strong> die Attraktivität dieses Sektors, der<br />

in starkem Maße auch Kinder und Jugendliche anzieht, die über die Konsequenzen<br />

des illegalen Handelns unzureichend reflektieren oder diese einfach<br />

ignorieren. 3<br />

Die vorliegende Arbeit begrenzt sich bewusst auf den urbanen Raum,<br />

obwohl auch Aktivitäten des ländlichen Raums wie beispielsweise lebensmittelverarbeitende<br />

Klein- und Mittelindustrien, Kunsthandwerk usw. ebenfalls<br />

dem Informellen Sektor zuzuordnen sind.<br />

Der Informalisierungsprozess und die Rolle des Staates<br />

Seit der industriellen Revolution ist das Streben nach Gewinnmaximierung<br />

durch Reduzierung der Kosten aktuell, angefangen bei den Personalkosten<br />

bis hin zum Verbrauch an Basisgütern. Durch den sich in den letzten Jahren<br />

verstärkenden Prozess der Globalisierung verlieren Staatsgrenzen im ökonomischen<br />

Bereich an Bedeutung. Die ökonomische Distanz zwischen Industrie-<br />

und Entwicklungsländern hat sich durch diesen Prozess eher verschärft<br />

als gebessert.<br />

Die Globalisierung dient der Gewinnmaximierung. Dabei können nationale<br />

Mechanismen außer Kraft gesetzt werden, die dem Schutz der Arbeiter und<br />

3 Vertieft wird auf diese Fragestellung noch im Verlauf der weiteren Arbeit (insbesondere<br />

Kapitel 5.3) eingegangen<br />

13


14<br />

Angestellten dienen, was u.a. in einem beachtlichen Maß zu einer Freisetzung<br />

von abhängig Beschäftigten führt. Dabei werden diese nicht notwendigerweise<br />

arbeitslos, sondern unter Umständen Teil des wachsenden Heeres<br />

an Selbständigen oder Scheinselbständigen. Gleichzeitig wächst dadurch die<br />

Gefahr, dass diese <strong>neuen</strong> Selbständigen in den Informellen Sektor wechseln,<br />

indem sie versuchen, z.B. Einnahmen nicht gegenüber den Steuerbehörden<br />

zu deklarieren. Eine Gefahr, die angesichts der geringeren Kontrollen in den<br />

Entwicklungsländern besonders groß ist. Da der Wechsel in die Selbständigkeit<br />

insbesondere auch Mitglieder der Mittelschicht betrifft, kann ein erhebliches<br />

Wachstum des Informellen Sektors auf dieser Ebene unterstellt werden.<br />

Weitere Aspekte, die zur Informalisierung beitragen, sind die im Formellen<br />

Sektor zu berücksichtigende Arbeitsgesetzgebung, die hohe Steuerbelastung<br />

und die Bürokratie mit ihrem Regelwerk. Das Problem der Formalisierung<br />

besteht nicht nur in der Reglementierung, sondern vor allem in dem damit<br />

verbundenen beachtlichen Kostenaufwand. Ein von PIRES, Elson (1993,<br />

S. 153) dargestelltes Beispiel belegt: Beim Wechsel von einem Kleinstbetrieb4<br />

zu einem formellen werden die Gewinne zu 80 % bis 90 % absorbiert.<br />

Im Fall der informellen Betriebe käme das Verlassen des informellen Umfeldes<br />

einem Totalverlust der Gewinne gleich und würde darüber hinaus zu<br />

einem weiteren Verlust von 12 % bis 20 % führen. Diese hohen Verluste<br />

behindern das Firmenwachstum, so dass der Verkauf der Produkte wieder in<br />

den Informellen Sektor verlagert wird, um aus dem Gesamtgeschäft <strong>einen</strong><br />

Gewinn zu erlangen.<br />

Die hohen Kosten des Formellen Sektors führen nicht nur in den Entwicklungsländern,<br />

sondern auch in den Industrieländern zu einer Informalisierung<br />

der Ökonomie, die von einem Großteil der Gesellschaft toleriert und genutzt<br />

wird. Die Schattenwirtschaft erlaubt es einerseits, Dienstleistungen zu einem<br />

akzeptablen Preis anzubieten, die sich nahezu jeder leisten kann. Andererseits<br />

trägt sie dazu bei, dass soziale und wirtschaftliche Auswirkungen der<br />

Arbeitslosigkeit abgemildert werden. Trotz dieser Gesichtspunkte ist diese<br />

„hoch effiziente Tätigkeit als illegal“ zu betrachten (vgl. FAZ-Beilage,<br />

1999).<br />

Der Umfang, den der Städtische Informelle Sektor bereits in den Industrieländern<br />

eingenommen hat, geht aus der nachfolgenden Tabelle 2-1 hervor.<br />

4 Der Kleinstbetrieb wird von Pires, Elson (1993) im Vergleich zum informellen Betrieb als<br />

strukturierter angesehen.


Land Anteil in %<br />

Deutschland 3,7 bis 27,0<br />

Großbritannien 2,5 bis 15,0<br />

Italien 10,0 bis 30,0<br />

Japan Ca. 24,0<br />

Kanada 14,0<br />

USA 9,0<br />

Tab. 2-1: Anteil informeller Tätigkeiten am Bruttoinlandsprodukt in ausgewählten<br />

Industrieländern (nach Gretschmann/Heinze/Mettelsiefen<br />

1989, apud Evers 1987; Cacciamali 1989; Focus, Nr. 15, 1998)<br />

In dem Buch ‚Alternativen zur Lohnarbeit? – Selbstverwaltete Betriebe zwischen<br />

Anspruch und Realität‘ machen Berger, Domeyer, Funder und Voigt-<br />

Weber (1985) eine interessante Recherche über alternativ-ökonomische<br />

Projekte. Darin wird festgestellt, dass Erwerbsarbeit einerseits zunehmend<br />

knapper und andererseits von Teilen der Bevölkerung in ihrer praktizierten<br />

Form als immer sinnloser und unbefriedigender empfunden wird. Danach<br />

scheint der Arbeitsmarkt immer weniger in der Lage zu sein, seine doppelte<br />

Allokationsfunktion zu erfüllen: Arbeitskräften Arbeitsaufgaben und Einkommen<br />

zuzuordnen. Im Zuge dieser Entwicklung zeichnet sich eine steigende<br />

Tendenz zu einer Spaltung des Arbeitsmarktes in <strong>einen</strong> immer kleiner<br />

werdenden Kernbereich relativ sicherer Arbeitsplätze mit stabilen Einkommen<br />

und Karrierechancen einerseits und <strong>einen</strong> wachsenden Teil unsicherer,<br />

instabiler Arbeitsplätze andererseits ab. Hierdurch ist eine zunehmende Marginalisierung<br />

bestimmter Personengruppen wie z.B. Jugendlicher, Frauen,<br />

Ausländer bedingt, die von Erwerbsmöglichkeiten ausgeschlossen werden<br />

und auf bestimmte Ausweichstrategien wie Gelegenheits- und Schwarzarbeiten<br />

sowie das breite Spektrum informeller Aktivitäten angewiesen sind. 5<br />

Der Staat vor allem in Lateinamerika spielt eine wichtige Rolle im Prozess<br />

der Verarmung der Arbeiter. Er institutionalisiert die Interessen der kapitalistischen<br />

Klasse unter Nutzung der Arbeitsgesetzgebung und seiner Durchset-<br />

5 Da seit dem Ersch<strong>einen</strong> dieser Arbeit bereits 15 Jahre vergangen sind, wäre es sinnvoll,<br />

wieder ein Untersuchung in diesem Bereich durchzuführen, um die Tendenzen zu überprüfen.<br />

15


16<br />

zungsmechanismen. Der in verschiedenen Ländern Lateinamerikas anzutreffende<br />

autoritäre Staat setzt Instrumente ein, die die ökonomische Entwicklung<br />

im kapitalistischen Kontext priorisieren, z.B. Förderung des Exports<br />

und von Investitionen ausländischen Kapitals. Gleichzeitig werden die Aktivitäten<br />

der Gewerkschaften gestört und die Forderungen der Arbeiterklasse<br />

neutralisiert, also eine arbeiterfeindliche Politik betrieben (vgl. Portes, 1995).<br />

In Brasilien ist aufgrund der Gesetzgebung eine heterogene Arbeiterschaft<br />

entstanden. Die Aufteilung in eine kleine Gruppe geschützter und eine große<br />

Masse ungeschützter Arbeiter charakterisiert die Informalisierung und Illegalisierung<br />

der städtischen Ökonomie.<br />

Außerdem sind die folgenden Punkte von politischer und ideologischer Bedeutung:<br />

1. Das Fehlen eines ‚Wohlfahrtsstaats‘ im Sinne Keynes in unterentwickelten<br />

Ökonomien oder in einer schwach ausgebildeten staatlichen Sozialisierung<br />

der Reproduktionskosten der Arbeitskraft wird als ein Grundpfeiler<br />

<strong>für</strong> den Fortbestand des Informellen Sektors als Überlebensraum<br />

der Ärmsten gesehen (vgl. Mathias, 1985, apud Pires, Elson 1993).<br />

Stellt man eine Verbindung zwischen dem Städtischen Informellen Sektor<br />

und der unzureichenden Sozialpolitik des Staates her, so besteht nach<br />

Pires (1993) in der Tat eine Beziehung zwischen dem Fortbestand des<br />

Informellen und der Schutzlosigkeit des Arbeiters.<br />

2. Demgegenüber wird die Informalität als Folge einer allgegenwärtigen<br />

staatlichen Bürokratie und einer übermäßigen Politisierung des öffentlichen<br />

Apparates gesehen. Die Einführung einer Reihe von konfliktiven<br />

Gesetzen, Normen und Resolutionen führt zu <strong>einen</strong> schleppenden Prozess<br />

der Formalisierung einiger ökonomischer Aktivitäten und zu ihrer<br />

Verdrängung in den Untergrund, an den Rand der formellen Ökonomie.<br />

Die Dynamik der informellen Betriebe wird durch die Bemühungen des<br />

Staates, diese zu unterdrücken oder stärker zu kontrollieren, beeinträchtigt<br />

(vgl. Soto 1987, apud Pires, Elson 1993).<br />

In Brasilien trat der Staat lediglich zu Beginn der Diskussion über den Informellen<br />

Sektor mit dem Ziel in Erscheinung, das Informelle zu regeln. Es<br />

ging um die Formalisierung der Tätigkeiten in diesem Sektor und die Erhöhung<br />

der Einkünfte der dort Tätigen. Diese Intervention des Staates bestand<br />

in einer ‚Beschäftigungs- und Einkommenspolitik‘, die auf den Konzepten<br />

der Weltbank der 70er und 80er Jahre basierte. Aus dieser Politik heraus ent-


stand eine Reihe von Regierungsprogrammen, die sich letztendlich als ineffizient<br />

erwiesen, da sie die globalen Maßnahmen der Wirtschaftspolitik und<br />

Funktionsweisen des Informellen Sektors unzureichend berücksichtigten.<br />

Laut Pires, Elson (1993) gilt dies vor allem <strong>für</strong> die folgenden beiden Punkte:<br />

• Die Konsequenzen, die das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein von<br />

Arbeitsgesetzgebung und Schutzregelungen in Arbeitsverträgen haben<br />

können, insbesondere in Wirtschaftsbereichen, die viel Arbeitskraft absorbieren,<br />

die zudem, wie im Fall Brasilien, nicht immer hoch qualifiziert ist.<br />

• Berücksichtigung der Charakteristika und des Potenzials der Aktivitäten,<br />

die außerhalb der staatlichen Regelungen stattfinden, insbesondere bei<br />

Vorhandensein starker Hinweise auf die Ablehnung von Steuerzahlungen<br />

(hiermit ist der Städtische Informelle Sektor gemeint, Anm. der Autorin).<br />

2.2 Definition des Städtischen Informellen Sektors<br />

2.2.1 Differenzierung des Städtischen Informellen Sektors<br />

In Brasilien ist der Städtische Informelle Sektor unter verschiedenen Namen<br />

bekannt. Er kann als unterirdischer, geheimer, unsichtbarer, irregulärer, verborgener,<br />

marginaler, nicht offizieller Sektor, als Basar- oder Schattenwirtschaft<br />

bezeichnet werden, und es ist sicherlich möglich, in anderen Ländern<br />

noch eine Reihe weiterer Namen hinzuzufügen. 6<br />

Die Begriffe ‚Städtischer Informeller Sektor‘ und ‚Krimineller Informeller<br />

Sektor‘ umfasst verschiedene Aktivitäten, wie z. B. die des Straßenverkäufers,<br />

der Hausangestellten, der Dienstleister in verschiedenen Bereichen, die<br />

unter anderem keine Steuern zahlen (Pediküre, Maniküre, Friseur, Paketdienst,<br />

Anstreicher, Auto-, Elektro-, Fernseh- und Kühlschrankreparaturen<br />

etc.), die der Geldwechsler auf der Straße, Kliniken, die keine Quittung ausstellen,<br />

nicht angemeldete Kinderhorte und -gärten sowie Zwergschulen, die<br />

in Hinterhöfen Unterricht erteilen, Aktivitäten von Fabriken, in denen Arbeiter<br />

illegal beschäftigt werden, Fabriken, die illegal Raubkopien von Markenprodukten<br />

herstellen, ohne <strong>für</strong> das „Know-how“ und andere Rechte zu zahlen,<br />

bis hin zum „Jogo de Bicho“ 7 , dem Verkauf von Waffen und Drogen,<br />

der Prostitution.<br />

6 Das Georgia Institue of Tecnology in den USA hat (1975) 50 verschiedene Definitionen in<br />

75 Länder untersucht (vgl. Kochendörfer-Lucius, 1990).<br />

7 „Jogo de Bicho“ – Glücksspiel mit 12 verschiedenen Tiersymbolen; das Spiel ist in Brasilien<br />

verboten (s. Kapitel 5.3).<br />

17


18<br />

Bei derart vielen unterschiedlichen Namen und Tätigkeitsbereichen und<br />

ebenso vielen verschiedenen Interpretationen ist es unvermeidlich, dass das<br />

Konzept des Informellen Sektors und des Kriminellen Sektors schwer exakt<br />

zu definieren ist. Da das Thema multidisziplinär und vielschichtig ist, geht<br />

jeder (Ökonom, Jurist, Politiker, Steuerbeamter, Polizist, Journalist etc.) an<br />

die Fragestellung unterschiedlich heran (vgl. Prado, 1991), d.h., dieselbe<br />

Realität wird aus verschiedenen Blickwinkeln unter verschiedenen Kriterien<br />

beleuchtet und gesehen.<br />

2.2.2 Parameter zur Bestimmung des Städtischen und Kriminellen<br />

Informellen Sektors<br />

Zur Bestimmung des Informellen Sektors und Kriminellen Sektors müssen<br />

auch ethische Parameter herangezogen werden, selbst wenn diese schwer<br />

überprüfbar sind. Prado (1991) geht beim Informellen Sektor z.B. von folgenden<br />

Verhaltensmerkmalen aus:<br />

• Das gesellschaftlich zulässige Verhaltensmuster versucht die Kompatibilität<br />

des menschlichen Verhaltens mit den vorherrschenden ethischen Verhaltensmustern<br />

einer bestimmten Kultur auszudrücken. Auf den Bruch<br />

dieser Muster und die Nichtachtung der gültigen Werte reagiert die<br />

Gesellschaft mit spontanen Sozialsanktionen.<br />

• Das legitime Verhaltensmuster versucht die Vereinbarkeit der in der<br />

Gesellschaft etablierten politischen Macht mit den in einer bestimmten<br />

Gesellschaft vorherrschenden Interessen auszudrücken. Der Verstoß hiergegen<br />

greift direkt die durch kollektive Interessen geschützten Werte<br />

sowie indirekt die abstrakten Werte an, wobei der Verstoß durch ebenso<br />

festgelegte politische Sanktionen zurückgewiesen wird.<br />

• Das legale Verhaltensmuster wird durch die Kompatibilität zwischen<br />

einer Aktion, die mit den objektiven Zielen der Macht übereinstimmt, und<br />

den vom Staat als positiv bezeichneten Pflichten, die die zu schützenden<br />

Interessen beinhalten, ausgedrückt. Ein Verstoß hiergegen greift direkt die<br />

als positiv empfundene Norm an, und indirekt die Interessen und Werte,<br />

die durch sie geschützt werden sollen.<br />

Die Tatsache, dass immer wieder der Städtische Informelle Sektor aufgrund<br />

fehlender Einhaltung von Gesetzen wie die des Steuer- und Arbeitsrechts<br />

kriminalisiert wird, obwohl er andererseits vielfach von der Gesellschaft


akzeptiert wird, macht eine Abgrenzung zum Kriminellen Informellen Sektor<br />

allein unter juristischen Aspekten sehr schwierig. Damit gerät der Städtische<br />

Informelle Sektor in eine rechtliche Grauzone.<br />

Prado (1991) ergänzt seine oben dargestellten Verhaltensmuster um drei<br />

Bereiche der wirtschaftlichen ‚Marginalisierung‘ in zeitgenössischen Staaten,<br />

die im Kontext dieser Arbeit von Bedeutung sind:<br />

1. Strafsektor – Kriminalität und Vergehen<br />

Das Strafgesetzbuch unterscheidet verschiedene Arten wirtschaftlicher<br />

Vergehen, die sowohl von Individuen als auch von Unternehmen begangen<br />

werden können. Dabei können die Organisationsformen der Wirtschaftskriminalität<br />

sehr unterschiedlich und komplex sein, wie beispielsweise<br />

Industriespionage oder der Drogen-, Waffen- und Pornographiehandel.<br />

Die Unterscheidung, die der Autor zwischen Verbrechen und<br />

Vergehen aus soziologischer Sicht macht, besteht darin, dass danach Verbrechen<br />

solche sind, die die primären juristischen Güter, wie das Leben,<br />

die physische Integrität, die Ehre und die Freiheit verletzen. Vergehen<br />

hingegen verletzen sekundäre juristische Werte wie Würde, Ruhe und<br />

Moral.<br />

Im kriminellen Bereich erwirtschaften die oft international agierenden<br />

Netze des Drogenhandels und des Schmuggels große Gewinne und bedrohen<br />

damit die Gesellschaft.<br />

Im Bereich der Vergehen sind die Organisationsstrukturen ähnlich. Obwohl<br />

verboten, versuchen sie ihre Aktivitäten unter möglichst geringer<br />

Verletzung sozialer Normen auszuführen. Als Beispiel führt der Autor<br />

das ‚Jogo de Bicho‘ an, das von der Gesellschaft und den Behörden toleriert<br />

wird.<br />

2. Steuersektor – Steuerhinterziehung oder Steuerflucht<br />

Beim Anstieg des Steuerbetruges in den heutigen Gesellschaften muss<br />

zwischen Steuerhinterziehung und Steuerflucht unterschieden werden.<br />

Bei der Steuerhinterziehung kommt es nicht zur Zahlung einer Steuerschuld<br />

aufgrund falscher Angaben des Hinterziehers. Sie geschieht nicht<br />

aufgrund irgendeiner Zahlungsunfähigkeit oder -schwierigkeit, sondern<br />

im allgem<strong>einen</strong> sind diejenigen, die Steuern hinterziehen, völlig legal<br />

arbeitende Geschäftsleute, die über gut erarbeitete Strategien verfügen,<br />

um Teile ihrer Gewinne der Besteuerung vorzuenthalten und ihrer Bezahlung<br />

zu entkommen.<br />

19


20<br />

Bei Steuerflucht entzieht sich der Flüchtige der Verfolgung durch Verlassen<br />

des Steuerraums, in dem er eine Hinterziehung begangen hat, die aufgedeckt<br />

wurde und verfolgt wird.<br />

3. Arbeitssektor – informelle Arbeit und Arbeitsmarkt<br />

Die informelle Ökonomie nutzt den informellen Arbeitsmarkt, der bestehende<br />

Arbeits- und Sozialgesetze nicht respektiert.<br />

Vor allem der Arbeitslose versucht auf diesem Markt seine Arbeitskraft<br />

zu verkaufen, während der Kapitalist durch seine Inanspruchnahme versucht,<br />

seine Kosten zu senken.<br />

Nach Lautier (1994) bestehen komplexe Beziehungen zwischen den o.g.<br />

Sektoren, die von der gegenseitigen Ergänzung bis zur gegenseitigen Konkurrenz<br />

reichen. Innerhalb des Formellen Sektors gibt es informelle Komponenten,<br />

ebenso umgekehrt im Informellen Sektor formelle Komponenten.<br />

Diese Beziehungen werden in der nachfolgenden Abbildung 2-1 dargestellt.<br />

Besonders enge Verflechtungen bestehen zwischen dem Formellen und dem<br />

Städtischen Informellen Sektor. Wie der Tabelle 2-2 zu entnehmen ist, kann<br />

man in beiden Sektoren nach kapitalistischer Produktion und der der Selbständigen<br />

unterscheiden. Abnehmer der Waren sind sowohl andere Produzenten,<br />

die die Ware weiterveredeln als auch Händler, die sie an Endverbraucher<br />

verkaufen. Während die kapitalistischen Produzenten nahezu an<br />

alle Gruppen weiterverkaufen, beschränkt sich der Weiterverkauf der individuell<br />

hergestellten Güter auf kleine Einzelhändler, bzw. der Verkauf erfolgt<br />

direkt durch die Hersteller.


6<br />

5<br />

6 bis<br />

1<br />

1 bis<br />

5 bis<br />

Formeller<br />

Sektor<br />

Abb. 2-1: Verknüpfung des Formellen und des Städtischen Informellen Sektors<br />

(nach Lautier 1994, S. 42ff)<br />

Anmerkungen zur Abbildung 2-1: Das Innere des fett gedruckten Kreises gibt den Formellen, das Äußere den Informellen Sektor wieder.<br />

Die Zahlen stehen <strong>für</strong> beispielhafte Aktivitäten, die sowohl im Formellen (‚bis‘) wie im Informellen Sektor vorzufinden sind, was<br />

durch die Ellipsen ausgedrückt wird. Bis auf den Bereich 3, bei dem es sich um <strong>einen</strong> kriminellen Sektor handelt, besteht eine Konkurrenz<br />

zwischen dem Formellen und Informellen Sektor, was jeweils durch <strong>einen</strong> Pfeil gekennzeichnet ist. Ein Doppelpfeil stellt<br />

eine Beziehung zwischen zwei Bereichen dar.<br />

1: Straßenverkäufer (informell)<br />

1’: Straßenverkäufer (formell) zahlt Mehrwertsteuer bei der Beschaffung seiner Ware 8<br />

2: Hausangestellte (informell)<br />

2’: Einige Hausangestellte sind sozialversichert oder erhalten bezahlten Urlaub<br />

3: Drogen (informell) 9<br />

3’: Gewaschene (also „legalisierte“) Gelder aus dem Drogenhandel 10<br />

4: Kleine Produzenten von Gebrauchswerten verschiedenster Art<br />

4’: Rohstoffbeschaffung und Verkauf des Endproduktes im Formellen Sektor. 11<br />

5: Einfache Handwerksberufe<br />

5’: Einfache Dienstleistungen<br />

Beispiel zur Beziehung zwischen 4 und 5: Schuhputzer kauft Schuhkreme bei dem Kleinproduzenten aus dem Informellen Sektor<br />

ein, da sie dort billiger ist.<br />

6: Bausektor: Beschäftigung von Handwerkern aus dem Informellen Sektor<br />

6’: Umfangreiche Dienstleistungen<br />

Beziehung zwischen 6 und 5: Bausektor beschäftigt Handwerker aus Bereich 5<br />

7: Informelle Bereiche innerhalb des Formellen Sektors (z.B. die inoffizielle Kasse zur Bezahlung von kl<strong>einen</strong> Dienstleistungen,<br />

die nicht über die Buchhaltung laufen).<br />

7’: Formeller Sektor.<br />

Symbol : Pfeil: Konkurrenz zwischen Formellem und Informellem Sektor<br />

8 Dabei muss jedoch davon ausgegangen werden, dass ein Großteil dieser Ware im Formellen<br />

Sektor hergestellt wird.<br />

9 Dieser von Lautier (1994) als ‚informell‘ definierte Bereich, wird im Rahmen dieser Arbeit<br />

als ‚informell-kriminell‘ bezeichnet.<br />

10 Die kriminellen Tätigkeiten sind auf die Geldwäsche im Formellen Sektor angewiesen<br />

(z.B. Tierlotto, Prostitution, Waffen etc.).<br />

11 Ein weiteres Beispiel ist das Recycling in den Entwicklungsländern. Auch hier werden die<br />

vom Informellen Sektor erfassten und getrennten Wertstoffe an den Formellen Sektor zur<br />

Weiterverarbeitung verkauft.<br />

*<br />

4 bis<br />

2 bis<br />

7<br />

2<br />

7 bis<br />

3 bis<br />

4<br />

3<br />

21


22<br />

Viele Endverbraucher machen k<strong>einen</strong> Unterschied hinsichtlich der Herkunft<br />

der Ware, sei sie aus dem Formellen oder auch dem Städtischen Informellen<br />

Sektor. Für sie ist vor allem der Preis ausschlaggebend.<br />

Die Herstellung von Produkten kann am billigsten durch den Kapitalisten<br />

des Städtischen Informellen Sektors erfolgen (s. Tabelle 2-3), da er weder<br />

Sozialabgaben noch Steuern abführt, anderseits jedoch, vergleichbar dem<br />

Kapitalisten des Formellen Sektors, Rabatte beim Einkauf der Grundstoffe<br />

erzielt. Dies gelingt dem Individuellen Produzenten des Städtischen Informellen<br />

Sektors jedoch nicht, da er zu wenig Produkte herstellt. Am teuersten<br />

sind die Produkte des individuellen Produzenten des Formellen Sektors, da<br />

er keine Rabatte erhält, andererseits jedoch Steuern und Sozialabgaben leistet.<br />

Ähnlich ist die Situation im Verkaufsbereich.<br />

Kauf <strong>für</strong> Weiterverarbeitung<br />

Wiederverkäufer<br />

Kapitalistische<br />

Produktion des<br />

Formellen Sektors<br />

Verkauf durch Produzenten<br />

Produktion des<br />

Formellen Sektors<br />

durch Selbständige<br />

Kapitalistische<br />

Produktion des<br />

Informellen Sektors<br />

Produktion des<br />

Informellen Sektors<br />

durch Selbständige<br />

Kapitalistische<br />

Produktion des<br />

Formellen<br />

Sektors<br />

Individuelle<br />

X - X -<br />

Produktion des<br />

Formellen<br />

Sektors<br />

Kapitalistische<br />

X - X -<br />

Produktion des<br />

Informellen<br />

Sektors<br />

Individuelle<br />

X - X -<br />

Produktion des<br />

Informellen<br />

Sektors<br />

X - X -<br />

Ladenkette<br />

Formeller Sektor X X X -<br />

Individueller<br />

Verkäufer<br />

Formeller Sektor<br />

Netzwerk<br />

- X - -<br />

ambulanter<br />

Verkäufer des<br />

Informellen<br />

Sektors<br />

Individueller<br />

X - X -<br />

ambulanter<br />

Verkäufer des<br />

Inform. Sektors<br />

X - X X<br />

Tab. 2-2: Kaufbeziehungen zwischen Produzenten und Käufern von Waren<br />

bzw. Halbwaren


Betrachtet man den individuell arbeitenden ambulanten Verkäufer als Beispiel<br />

<strong>für</strong> den Arbeiter des Städtischen Informellen Sektors, so sind die von<br />

ihm verkauften Produkte teilweise teurer als die im Formellen Sektor. Sofern<br />

er nicht Produkte aus eigener Herstellung verkaufen kann, muss er diese wie<br />

jeder sonstige Endverbraucher in einem Supermarkt zum gleichen Preis kaufen.<br />

Es gelingt ihm jedoch, <strong>einen</strong> höheren Preis zu verlangen, wenn er das<br />

Produkt (z.B. Zigaretten, Bonbons) in kleineren Stückzahlen weiterverkauft,<br />

als dies im Supermarkt möglich ist. Aber auch wenn er die Produkte selbst<br />

herstellt, sind diese oft gleich teuer oder sogar teurer als im Formellen Sektor.<br />

Die Grundmaterialien muss auch er zu einem Endverbraucherpreis einkaufen,<br />

und die Veredlung (z. B. Herstellung von Lederschuhen oder Kleidung) kann<br />

höchstens in einer Höhe vergütet werden, die <strong>für</strong> die Reproduktion seiner<br />

Arbeitskraft ausreicht. Gleichzeitig sei hierbei darauf hingewiesen, dass er<br />

indirekt durchaus Steuern und Sozialabgaben entrichtet, da er auch Produkte<br />

des Formellen Sektors kauft, die dadurch bereits belastet wurden. Billiger<br />

sind normalerweise nur die Produkte, die von den Kapitalisten des Informellen<br />

Sektors in großer Stückzahl hergestellt und durch ein Netzwerk ambulanter<br />

Verkäufer des Städtischen Informellen Sektors weiterverkauft werden.<br />

Bewertung der Herstellung<br />

eines Produktes<br />

Bewertung des Verkaufpreises und<br />

Gewinns<br />

Kapitalistische<br />

Produktion des<br />

Formellen Sektors<br />

Individuelle<br />

Produktion des<br />

Formellen Sektors<br />

Kapitalistische<br />

Produktion des<br />

Informellen Sektors<br />

Individuelle<br />

Produktion des<br />

Informellen Sektors<br />

Kosten der<br />

Arbeitskraft<br />

billig teuer billig billig<br />

Zahlung von<br />

Sozialbeiträgen<br />

ja ja nein nein<br />

Zahlung von<br />

Steuern<br />

ja ja nein nein<br />

Rabatte wegen<br />

Großeinkaufs<br />

ja nein ja nein<br />

hergestelltes<br />

Produkt teuer sehr teuer billig teuer<br />

Ladenkette<br />

Formeller Sektor<br />

billig - teuer / hohe<br />

Gewinne<br />

i.d.R. kein Verkauf<br />

billig / hohe<br />

Gewinne<br />

i.d.R. kein Verkauf<br />

Individueller<br />

Verkäufer<br />

Formeller Sektor<br />

Netzwerk ambu-<br />

i.d.R. kein Verkauf<br />

sehr teuer / kaum<br />

Gewinne<br />

i.d.R. kein Verkauf i.d.R. kein Verkauf<br />

lanter Verkäufer<br />

des Informellen<br />

Sektors<br />

teuer trotz Rabatt /<br />

hohe Gewinne<br />

i.d.R. kein Verkauf<br />

billig / hohe<br />

Gewinne<br />

i.d.R. kein Verkauf<br />

Individueller<br />

ambulanter<br />

Verkäufer des<br />

Inform. Sektors<br />

sehr teuer, da kein<br />

Rabatt / keine<br />

Gewinne<br />

i.d.R. kein Verkauf<br />

billig / keine<br />

Gewinne<br />

teuer / keine<br />

Gewinne<br />

Tab. 2-3: Ökonomische Bewertung (qualitativ) der Produktion und des<br />

Weiterverkaufs von Gütern im Formellen und Informellen Sektor<br />

23


24<br />

Die nachfolgende Tabelle 2-4 zeigt deutlich, dass der Formelle Sektor am<br />

weitestgehendsten gewünschte Kriterien erfüllt, wie Schaffung von Arbeitsplätzen<br />

und damit Beitrag zur Erhöhung des Steueraufkommens, aus dem<br />

wiederum die soziale Absicherung gewährleistet wird, aber auch Infrastrukturen<br />

erstellt werden können. Aber auch die beiden anderen Sektoren erfüllen<br />

durchaus <strong>einen</strong> Teil der Funktionen, wie Schaffung von Arbeitsplätzen<br />

und soziale Absicherung. Dies ist jedoch von einer Gesellschaft aufgrund der<br />

illegalen Ausgangsbedingungen im Kriminellen Informellen Sektor (Herstellung<br />

und Handel mit illegalen Produkten) nicht zu akzeptieren.<br />

\Sektor<br />

Funktion \<br />

Herstellung von Produkten<br />

und Erbringung<br />

von Dienstleistungen<br />

Schaffung von<br />

Arbeitsplätzen<br />

Abführung von<br />

Steuern und Sozialabgaben<br />

Beitrag zur sozialen<br />

Absicherung<br />

Beitrag zur Erstellung<br />

von sozialer<br />

und technischer<br />

Infrastruktur, die<br />

u.a. Voraussetzung<br />

<strong>für</strong> die Existenz der<br />

Sektoren ist<br />

Formeller<br />

Sektor<br />

Städtischer<br />

Informeller Sektor<br />

Krimineller<br />

Informeller Sektor<br />

Legal Semilegal Illegal (Drogen);<br />

Diebstahl von Produktmarken<br />

des<br />

Formellen Sektors<br />

zur Erstellung von<br />

Raubkopien<br />

Ja Ja Ja<br />

Ja Nein Nein<br />

Aus Sozialabgaben<br />

Tab. 2-4: Funktionen der drei Sektoren<br />

Teilweise aus Eigenmitteln<br />

(Ersparnisse);<br />

auf Familie begrenzt<br />

Aus Steuern Nein Nein<br />

Teilweise aus illegal<br />

erworbenen Eigenmitteln,<br />

sofern Mitglied<br />

einer Bande<br />

(Mafia), oder Ersparnissen


2.2.3 Wirtschaftliche Sektoren und gesellschaftliche Schichtung<br />

Der Informelle Sektor ist integraler Bestandteil des kapitalistischen Systems.<br />

Portes (vgl. 1995, S. 82ff) begrenzt in seiner Charakterisierung der lateinamerikanischen<br />

Klassenstruktur die Zahl der Klassen auf die in ökonomischer<br />

und politischer Hinsicht signifikanten. Unter dem Blickwinkel, wer die<br />

Kontrolle über die Produktionsfaktoren, die Kontrolle über die Arbeitskraft<br />

und die Formen der Entlohnung hat, entwickelte er die der Tabelle 2-5<br />

zugrunde liegenden Kriterien. Unter den signifikanten Klassen befinden sich<br />

jene, die am Produktionsprozess und der Güterverteilung partizipieren.<br />

• Bei der Kontrolle über die Produktionsmittel wird einerseits Bezug auf<br />

die Verfügungsgewalt hierüber genommen, andererseits auf die Fähigkeit,<br />

den Produktionsprozess, unabhängig von einer Regelung der rechtlichen<br />

Situation, zu organisieren und zu leiten.<br />

Klasse Kontrolle über die<br />

Produktionsmittel<br />

Vorherrschende<br />

Klasse<br />

Technischbürokratische<br />

Klasse<br />

Formelles<br />

Proletariat<br />

Informelle<br />

Kleinbourgoisie<br />

12<br />

Informelles<br />

Proletariat<br />

Kontrolle über<br />

die Arbeitskraft<br />

Formen der<br />

Entlohnung<br />

ja ja Geschenke, Gehälter und<br />

Sonderzahlungen in<br />

Abhängigkeit von den<br />

Unternehmensgewinnen<br />

nein ja Gehälter und Honorare<br />

nein nein Geschützte Gehälter<br />

ja ja Unregelmäßige Gewinne<br />

nein nein Gelegenheitsgehälter,<br />

direkte Subsistenzproduktion<br />

Tab. 2-5: Charakteristik der lateinamerikanischen Klassenstruktur 13 (nach<br />

Portes 1985, S. 82)<br />

12 In dieser Tabelle fehlen die Unternehmer des Formellen Sektors, die nicht der vorherrschenden<br />

Klasse angehören („formelle Kleinbourgoisie“).<br />

25


26<br />

• Die Kontrolle über die Arbeitskraft Dritter und die Art der Entlohnung<br />

werden als die Fähigkeit betrachtet, tägliche Dinge, unabhängig von einer<br />

Kontrolle über die Produktionsmittel, regeln zu können.<br />

• Die Form der Entlohnung bezieht sich auf die verschiedenen Arten der<br />

Bezahlung der sozialen Klassen. Dies beginnt bei Geschenken und regelmäßigen<br />

Gehältern und geht über Gelegenheitsentlohnungen bis hin zur<br />

direkten Subsistenzproduktion.<br />

Wie der Tabelle 2-5 zu entnehmen ist, sind die Charakteristika des Proletariats<br />

des Formellen und Informellen Sektors hinsichtlich der Kontrolle über die<br />

Produktionsmittel und die der Arbeitskraft identisch. Die Form der Entlohnung<br />

unterscheidet sich jedoch dahingehend, dass die Löhne im Formellen<br />

Sektor fest vereinbart und geschützt sind, im Informellen Sektor hingegen<br />

unregelmäßig gezahlt und rechtlich nicht geschützt sind.<br />

Die Analyse der Veröffentlichungen zum Informellen Sektor zeigt eine<br />

Begrenzung auf die unteren Einkommensschichten, ohne hier<strong>für</strong> eine ausreichende<br />

theoretische Erklärung zu liefern. Auch wenn dies historisch gerechtfertigt<br />

sein kann, so ist doch heute die klassische Aufteilung in Ober-, Mittelund<br />

Unterschicht in allen drei Sektoren feststellbar: dem Formellen, dem<br />

Informellen und dem Kriminellen Informellen Sektor (s. Abbildung 2-2).<br />

Auch wenn es an dieser Stelle nicht möglich ist, eine Aussage über das Ausmaß<br />

der Repräsentanz in jeder einzelnen Schicht zu treffen, kann doch deren<br />

Präsenz an folgenden Beispielen deutlich gemacht werden.<br />

Die Beobachtung der ambulanten Verkäufer in Rio de Janeiro lässt die Feststellung<br />

zu, dass diese sehr schnell auf Veränderungen der Nachfrage reagieren<br />

können. Beginnt es beispielsweise zu regnen, sind innerhalb kürzester<br />

Zeit die ambulanten Verkäufer mit Regenschirmen versorgt, die alle dieselbe<br />

Marke jeweils zu den selben Preisen anbieten. Dies deutet klar darauf hin,<br />

dass diese Verkäufer Teil eines Netzwerkes sind, die über ein zentrumnahes<br />

Lager versorgt werden, dessen Besitzer ebenfalls Teil des Informellen Sektors<br />

ist, gleichzeitig aber auch der Oberschicht angehört (s. Abbildung 2-2).<br />

Außerdem verfügt dieser darüber hinaus über eine mittlere Struktur, die die<br />

Leitung und das Management besorgt.<br />

13 Diese Charakteristik der lateinamerikanischen Klassenstruktur von Portes entspricht nicht<br />

traditionellen Charakterisierung in der Soziologie. Dennoch schafft sie im Kontext dieser<br />

Arbeit eine wichtige Basis <strong>für</strong> die nachfolgenden Ausarbeitungen.


Informeller<br />

Sektor<br />

Formeller<br />

Sektor<br />

Krimineller In-<br />

formeller Sekt.<br />

vorherrschende Klasse<br />

Mittelklasse<br />

Arbeiterklasse<br />

Abb. 2-2: Verteilung der Gesellschaftsschichten in den drei Sektoren:<br />

informell, formell, kriminell informell<br />

Ähnlich funktionieren Firmen des Kriminellen Informellen Sektors. Auch<br />

hier gibt es Besitzer, die teilweise der Oberschicht angehören und von denen<br />

häufig nicht bekannt ist, dass sie in diesem Sektor tätig sind. Ebenso gibt es<br />

hier Mitglieder (u.a. auch Selbständige), die der Mittelschicht zugeordnet<br />

werden können und eine große Anzahl an einfachen Mitarbeitern, wie beispielsweise<br />

die Drogenhändler auf der Straße.<br />

Wichtig ist hierbei festzuhalten, dass die Trennung zwischen den drei Sektoren<br />

selten eindeutig zu ziehen ist, und es auf allen Ebenen ständig Verquikkungen<br />

gibt.<br />

Die Gründe <strong>für</strong> den Wechsel in den Informellen Sektor sind <strong>für</strong> die Mitglieder<br />

der drei Schichten unterschiedlich. Für die unteren Einkommensschichten<br />

ist der Informelle Sektor häufig die einzige Möglichkeit, sich zu reproduzieren<br />

oder sogar zu überleben. Auch die Mittelschicht findet häufig in Fällen<br />

von Arbeitslosigkeit nur im Informellen Sektor Beschäftigung oder aber<br />

kann in diesem Sektor ein wesentlich höheres direkt verfügbares Nettoeinkommen<br />

erzielen, was sie motiviert, auf die soziale Absicherung, die der<br />

Formelle Sektor, wenn auch häufig unzureichend, bietet zu verzichten. Für<br />

andere dieser Schicht sind Einkünfte aus der Tätigkeit im Informellen Sektor<br />

eine Ergänzung zu denen im Formellen Sektor. Für die Mitglieder der Ober-<br />

27


28<br />

schicht stellt der Informelle Sektor eine Möglichkeit zur Gewinnverbesserung<br />

dar, da sie Steuerzahlungen und Abgaben an Sozialversicherungen vermeiden.<br />

Außerdem investiert ein Teil aus gleichen Motiven in die Herstellung<br />

von Raubkopien (z.B. Softwareprogramme, Markenkleidung etc.), womit sie<br />

dem Kriminellen Informellen Sektor zuzuordnen sind.<br />

2.3 Definition der städtischen Wirtschaftssektoren<br />

Zusammenfassend kann man die drei Sektoren – Formeller, Städtischer<br />

Informeller, Krimineller Informeller Sektor – folgendermaßen beschreiben:<br />

• Formeller Sektor: Die Tätigkeiten dieses Sektors respektieren vorhandene<br />

Gesetze, auch die des Steuer-, Arbeits- und Sozialrechts in jeder<br />

Hinsicht. Die in diesem Sektor hergestellten Produkte erfüllen ebenfalls<br />

alle rechtlichen Vorgaben.<br />

• Städtischer Informeller Sektor: Dieser Sektor respektiert nicht alle<br />

Gesetze, insbesondere nicht jene des Steuer-, Arbeits- und Sozialrechts.<br />

Die in diesem Sektor hergestellten Produkte sind legal, aber ihre Produktion<br />

und ihr Vertrieb sind illegal.<br />

• Krimineller Informeller Sektor: Dieser Sektor verletzt nicht nur die<br />

Steuer-, Arbeits- und Sozialgesetze, sondern produziert darüber hinaus<br />

illegale Waren (z.B. Drogen, Raubkopien von Software) bzw. handelt<br />

damit. Produkte, Produktion und Vertrieb sind illegal.<br />

Exemplarisch und unter Berücksichtigung der oben aufgestellten Thesen<br />

sowie theoretischen Erörterungen werden nachfolgend zunächst die Untersuchungsmethodik<br />

und danach die Ergebnisse einer Untersuchung des Städtischen<br />

Informellen Sektors in Rio de Janeiro, Brasilien dargestellt.


3 Untersuchungsmethodik<br />

3.1 Methodische Grundlagen<br />

Ziel dieser Arbeit ist die qualitative Aufarbeitung des Städtischen Informellen<br />

Sektors. Da bereits eine von der Volkswagen-Stiftung geförderte und von<br />

der Universität Hannover durchgeführte Untersuchung zum Thema „Migration<br />

und soziale Netzwerke“ (Achinger et al, 1997) vorliegt, an der die Autorin<br />

ebenfalls wesentlich mitgewirkt hat und weitere Untersuchungen sowie<br />

statistisches Material zum SIS bereits existieren, wurde auf eine breite<br />

Datenerhebung verzichtet. Nachfolgend werden die im Rahmen dieser Arbeit<br />

angewandten Methoden kurz dargestellt:<br />

a) Sekundäranalyse<br />

„Die Sekundäranalyse ist eine Methode, bereits vorhandenes Material<br />

(Primärerhebung) unabhängig von dem ursprünglichen Zweck und Bezugsrahmen<br />

der Datensammlung auszuwerten“ (Friedrich, 1973, S. 353).<br />

Dabei lassen sich aufgrund des Primäranteils zwei Arten unterscheiden,<br />

die beide im Rahmen dieser Arbeit angewandt wurden:<br />

• „Sekundäranalysen von sozialwissenschaftlichen Erhebungen und<br />

Meinungsumfragen“, d.h. es liegen „Publikationen vor, in denen das<br />

Material interpretiert wurde“ (Friedrich, 1973, S. 353).<br />

• „Sekundäranalysen von demographisch-statistischem Material, z.B.<br />

amtlichen oder nichtamtlichen Statistiken“ (Friedrich, 1973, S. 353).<br />

Die Anwendung dieser Methode ermöglicht es u.a.,<br />

• sich bei den „eigenen Primärerhebungen auf die wesentlichen Fragestellungen<br />

des Untersuchungsgegenstandes (zu) konzentrieren“<br />

(Wehenpohl 1987, S. 87),<br />

• Zeit und Kosten bei den Erhebungen einzusparen,<br />

• auf mehrere Datenbestände, die zu unterschiedlichen Zeiten erhoben<br />

wurden, zurückzugreifen.<br />

Darüber hinaus ist die Sekundäranalyse die „wichtigste Methode der<br />

Theoriebildung, insbesondere zu makrosoziologischen Prozessen“ (Friedrich<br />

1973, S. 355).


30<br />

b) Befragung/Interview<br />

Die Befragung als die am häufigsten angewandte sozialwissenschaftliche<br />

Forschungsmethode dient der Ermittlung verbalisierter, subjektiver<br />

Tatbestände. Dabei stellt die Stichprobenerhebung zur Ermittlung aggregativer<br />

Merkmale bei unüberschaubar großen Gesamtheiten praktisch<br />

die einzig handhabbare Möglichkeit dar. Des weiteren ist es die adäquate<br />

Methode zur Erforschung von Vergangenem, wenn beispielsweise eine<br />

Beobachtung nicht mehr realisierbar ist. Hingegen sollte die Befragung<br />

vermieden werden, wenn der Untersuchungsgegenstand genauso gut zu<br />

beobachten ist oder auf sonstige Weise ermittelt werden kann. Denn die<br />

Gültigkeit von Befragungsergebnissen, die lediglich Indikatoren <strong>für</strong> das<br />

Vorliegen der eigentlich interessierenden objektiven Tatbestände darstellen,<br />

sind stark von Unkenntnis, Irrtümern oder Subjektivität geprägt.<br />

(vgl. Mayntz/Holm/Hübner 1974)<br />

Während das standardisierte Interview (mündlich oder schriftlich) <strong>für</strong><br />

die Erhebung von großen Datenmengen geeignet ist, eignet sich das<br />

Intensivinterview dazu, „genauere Informationen vom Befragten mit<br />

besonderer Berücksichtigung seiner Perspektive, Sprache und Bedürfnisse<br />

zu erlangen“ (Friedrich, 1973, S. 224). Diese Methode ist im Rahmen<br />

dieser Arbeit besonders geeignet, da keine Befragung über Dritte,<br />

sondern von direkt Betroffenen erfolgt. Um jedoch ein gewisses Maß an<br />

Vergleichbarkeit zu erlangen, wurden diese Intensivinterviews grob<br />

strukturiert (s. Anlage 1). Die in der Regel erforderliche Kenntnis über<br />

die allgem<strong>einen</strong> Lebensbedingungen der InterviewpartnerInnen war<br />

durch vorherige Befragungen und sonstige Sekundäranalysen gegeben.<br />

(vgl. Friedrich 1973, S. 225f)<br />

c) Beobachtung<br />

Als Ergänzung zu den beiden o.g. Methoden erfolgte die Beobachtung.<br />

Diese kann entweder parallel zum Interview geschehen, sofern die Befragung<br />

im Umfeld des Forschungsgegenstandes stattfindet oder unabhängig<br />

davon, und zwar ohne Kontakt zum Untersuchungsgegenstand<br />

aufzunehmen. Dabei ist die Interpretation notwendiger Bestandteil der<br />

Beobachtung. So fordern Mayntz/Holm/Hübner (1974): „Deshalb gehört<br />

zum Beobachten notwendigerweise das Verständnis und die zutreffende<br />

Interpretation des subjektiven Sinns und der sozialen Bedeutung einer<br />

bestimmten Handlung oder Verhaltenssequenz. Ohne ein solches Verstehen<br />

bliebe die Beobachtung blind und sozialwissenschaftlich irrelevant.“


Aufgrund der Sozialisation der Autorin ist es ihr möglich, diese Interpretation<br />

zu leisten, zumal die Beobachtungen in der Regel parallel zu den<br />

Befragungen erfolgen.<br />

3.2 Ablauf der Felduntersuchung<br />

Die Untersuchung fand nicht in einem geschlossenen bzw. kompakten Zeitrahmen<br />

statt, sondern teilte sich folgendermaßen auf, bzw. konnte auf früher<br />

bereits von der Autorin durchgeführte Untersuchungen ergänzend zurückgegriffen<br />

werden:<br />

• Untersuchung im Rahmen der von der Volkswagen-Stiftung finanzierten<br />

Studie „Migration und soziale Netzwerke“ (1990 und 1991)<br />

• Felderhebungen in den Jahren 1991 bis 1997<br />

Der gesamte Untersuchungsablauf der Feldstudie ist der nachfolgenden<br />

Abbildung 3-1 zu entnehmen.<br />

Die Sammlung und Auswertung von Sekundärliteratur zum Thema war in<br />

Deutschland durch den Mangel an entsprechenden Publikationen sehr<br />

begrenzt, konnte aber während der verschiedenen Aufenthalte in Brasilien<br />

ergänzt werden. Bei der Kontaktaufnahme mit den InterviewpartnerInnen<br />

konnte teilweise auf bereits bestehende Kontakte zurückgegriffen werden,<br />

die insbesondere während der Studie „Migration und soziale Netzwerke“<br />

entstanden waren.<br />

Die Felduntersuchung konzentrierte sich auf drei Schwerpunkte:<br />

• die Aktivitäten der Hausangestellten,<br />

• die Aktivitäten der ambulanten Verkäufer und<br />

• die Aktivitäten des Kriminellen Informellen Sektors (Drogenhandel, illegales<br />

Glücksspiel).<br />

Die Auswahl dieser drei Schwerpunkte erfolgte unter folgenden Gesichtspunkten:<br />

• Bedeutung der Hausangestellten und ambulanten Verkäufer im Rahmen<br />

des Informellen Sektors,<br />

• wachsende Bedeutung des Kriminellen Informellen Sektors und der damit<br />

verbundenen Gefährdung des sonstigen Informellen Sektors.<br />

31


32<br />

Sam m lung und<br />

A usw ertung relevanter<br />

Skundärliteratur zum<br />

städtisch inform ellen<br />

Sektor (SIS)<br />

Erarbeitung des<br />

Fragebogen und<br />

Gesprächsleitfaden<br />

Kontaktaufnahm e zu<br />

den Interview partnern<br />

Pretest und<br />

Anpassung des<br />

Gesprächsleitfadens /<br />

Fragebogens<br />

Durchführung der<br />

In te rvie w s<br />

Hausanges<br />

te llte<br />

am b.<br />

Verkäufer<br />

krim .<br />

in fo rm<br />

Sektor<br />

Ausw ertung der<br />

Interview s und<br />

ergänzenden<br />

Sekundärliteratur<br />

Abb. 3-1: Untersuchungsablauf der Feldstudien<br />

Durchführung der<br />

Studie<br />

"M igration und soziale<br />

Netzwerke"<br />

Neuausw ertung der<br />

Ergebnisse unter der<br />

Fragestellung dieser<br />

Arbeit<br />

Ergänzende<br />

Sam m lung von<br />

Sekundärliteratur


Die Befragung in diesen drei Schwerpunkten erfolgte unter folgenden Bedingungen:<br />

Befragung der Hausangestellten<br />

Für die Befragung der Hausangestellten wurden sowohl das standardisierte<br />

(30 Befragungen) als auch das Intensivinterview (3 Befragungen) sowie die<br />

Beobachtung angewandt. Die Befragten wurden in zwei Gruppen unterteilt:<br />

Hausangestellte, die <strong>für</strong> die obersten Einkommensschichten arbeiten und die,<br />

die <strong>für</strong> die mittleren Einkommensschichten arbeiten.<br />

In Brasilien ist innerhalb einzelner Stadtteile jeweils eine relativ homogene<br />

Struktur anzutreffen, die eine Zuordnung zu den einzelnen sozialen Schichten<br />

ermöglicht. Die Interviews mit Hausangestellten der oberen Einkommensschichten<br />

wurden in den Stadtteilen Barra de Tijuca, Ipanema und<br />

Itaipu durchgeführt, mit denen der mittleren Einkommensschichten in den<br />

Stadtteilen Copacabana, Glória, Ingá und Icaraí.<br />

Schwierigkeiten ergaben sich aufgrund der örtlichen Gegebenheiten. Besonders<br />

problematisch war die begleitende Beobachtung am Arbeitsplatz. Abgesehen<br />

von zwei Fällen wurde die Befragung durch die Arbeitgeberin oder<br />

bereits durch die Pförtner der Wohnanlagen bzw. Gebäude unterbunden. Die<br />

Befragung musste daher vor der Tür, bei den Hausangestellten zu Hause<br />

oder an einem sonstigen Ort durchgeführt werden. In einigen Fällen trugen<br />

die Hausangestellten Uniformen, so dass ihre Identifizierung einfach war,<br />

ansonsten wurde nach dem Prinzip „Trial and Error“ bei der ersten Kontaktaufnahme<br />

vorgegangen.<br />

Befragung der ambulanten Verkäufer (Camelôs)<br />

Insgesamt wurden 30 Camelôs im Rahmen standardisierter Interviews sowie<br />

6 im Rahmen von Intensivinterviews befragt, wobei eine Differenzierung<br />

nach den von ihnen zum Verkauf angebotenen Produkten vorgenommen<br />

wurde. Des weiteren wurde damit das Ziel verfolgt, Informationen über die<br />

Herkunft der unterschiedlichen Produkte zu erhalten. Verkäufer folgender<br />

Produkte wurden befragt: Schmuck und Spielzeug, industriell hergestellte<br />

und frische Lebensmittel, Kleidung und Elektrogeräte sowie Kunsthandwerk.<br />

Die Befragungen wurden alle auf der Straße, also am Arbeitsplatz, durchgeführt.<br />

Teilweise verfügten die Verkäufer über <strong>einen</strong> Stand, d.h. sie hatten<br />

diesen i.d.R. bei der Stadtverwaltung angemeldet. Andere hatten lediglich<br />

33


34<br />

ihre Produkte auf einer Plastikplane auf dem Bürgersteig ausgebreitet. Bei<br />

diesen mussten die Interviews manchmal abgebrochen werden, da die Polizei<br />

kam und die Verkäufer fliehen mussten, um ihre Ware nicht zu verlieren.<br />

Die Durchführung erfolgte an folgenden Plätzen und in folgenden Stadtteilen:<br />

Tijuca, Glória, Largo de Machado, Cinelândia, Largo de Carioca, Praça<br />

XV, Rua Uruguaiana, 7 de Setembro sowie in Niterói in Rua São Pedro, Rua<br />

Coronel Gomes Macha<strong>dos</strong>, Praça Araiboia und Icaraí.<br />

Darüber hinaus wurden Camelôs auf ihrer Einkaufsfahrt nach Ciudad del<br />

Este in Paraguay begleitet, da dort die im Informellen Sektor verkauften<br />

Produkte zumeist wesentlich billiger einzukaufen sind.<br />

Krimineller Informeller Sektor<br />

Die Befragung von Mitgliedern des Kriminellen Informellen Sektors war<br />

extrem schwierig, und es konnte kein Befragungsleitfaden angewandt werden.<br />

Nur in drei Fällen war es eindeutig, dass die Interviewpartner zur Drogenmafia<br />

gehörten. Bei einem von ihnen handelte es sich um den Bandenchef<br />

einer Favela, der ein Jahr nach der Befragung (1992) ermordet wurde<br />

und zu den führenden und bis dato von der Polizei lang gesuchten Köpfen<br />

gehörte. Im zweiten Fall handelte es sich um <strong>einen</strong> vierzehnjährigen Jungen.<br />

Des weiteren berichtete ein Mitglied einer privaten Schutzgruppe einer<br />

Favela von den Aktivitäten des Drogenhandels in seinem Gebiet. Die Kontaktaufnahme<br />

konnte nur über Mittelspersonen erfolgen, zu denen ausreichend<br />

Vertrauen bestand, ohne dass diese gleichzeitig in das Drogenmilieu<br />

involviert waren.<br />

Alle sonstigen Befragungen fanden mit Mitgliedern von 30 Familien in verschiedenen<br />

Favelas statt, von denen bei einigen aufgrund ihres Status innerhalb<br />

des Gebietes mit größter Wahrscheinlichkeit angenommen werden<br />

konnte, dass sie zur Drogenszene gehörten bzw. mit dem illegalen Glücksspiel<br />

zu tun hatten. Diese Befragungen wurden in den Favelas Vila Pinheiro,<br />

Vila do João (Favela da Maré), Santa Teresa (Morro <strong>dos</strong> Prazeres), Morro do<br />

Estado und Morro do Andaraí durchgeführt. Von den meisten dieser Stadtteile<br />

ist bekannt, dass der Kriminelle Informelle Sektor dort stark vertreten<br />

ist.<br />

Zeitgleich mit diesen Felduntersuchungen wurden von der Polizei und dem<br />

Militär weitreichende Aktionen gegen diesen Kriminellen Informellen Sektor<br />

unternommen. Daher war es extrem schwierig <strong>für</strong> die InterviewerInnen, ausreichend<br />

Vertrauen zu schaffen, um die erforderlichen Informationen von


den InterviewpartnerInnen zu erhalten, sowie die da<strong>für</strong> erforderliche Ruhe zu<br />

finden. Lebensbedrohliche Situationen waren daher nicht immer vermeidbar.<br />

Trotz der extremen Umstände, unter denen diese Befragungen stattfanden,<br />

konnten treffende Aussagen erreicht werden, die sich durch Angaben in der<br />

Sekundärliteratur bestätigen lassen.<br />

Ergänzende Befragungen<br />

Zur Vervollständigung der während der o.g. Befragungen mit den Hausangestellten,<br />

den ambulanten Verkäufern und den Mitgliedern des Kriminellen<br />

Informellen Sektors erhobenen Daten erfolgte die Befragung der bereits oben<br />

erwähnten Familien, die in den Gebieten der unteren Einkommensschichten<br />

leben. Hierdurch gelang zusätzlich eine ‚Annäherung‘ an die ‚jugendlichen<br />

Angestellten‘ des Kriminellen Informellen Sektors.<br />

Zudem wurde aufgrund der Bedeutung des Kreditwesens <strong>für</strong> die Gruppe der<br />

ambulanten Verkäufer ein Einzelintensivinterview mit einem Kreditgeber<br />

des Informellen Sektors durchgeführt.<br />

35


4 Das Untersuchungsumfeld des Städtischen<br />

Informellen Sektors in Brasilien<br />

4.1 Rahmenbedingungen in Brasilien<br />

4.1.1 Allgemeine Informationen<br />

Brasilien als größtes Land Südamerikas (s. Abbildung 4-1) gehört zur Gruppe<br />

der Schwellenländer. Obwohl es zu den reicheren Entwicklungsländern<br />

gehört, sagt dies nichts über die erheblichen Disparitäten aus, die insbesondere<br />

zwischen dem Sü<strong>dos</strong>ten mit den beiden Metropolen São Paulo und Rio<br />

de Janeiro und dem armen Nor<strong>dos</strong>ten bestehen.<br />

Abb. 4-1: Lage Brasiliens in Südamerika<br />

Brasilien<br />

•<br />

Rio de Janeiro


38<br />

Die nachfolgende Tabelle 4-1 gibt <strong>einen</strong> kurzen Überblick über die Rahmenbedingungen<br />

Brasiliens:<br />

Größe (km²) 8.511.996<br />

Einwohnerzahl (Mio.) (1997) 159,7<br />

Bevölkerungsdichte (E/km²) 18,4<br />

Analphabetenrate 19 %<br />

Religion überwiegend katholisch; häufig in Verbindung<br />

mit traditionellen afrikanischen<br />

Religionen; starke Zunahme der aus den<br />

USA kommenden evangelischen Kirchen<br />

Pro-Kopf-Einkommen (USD)<br />

(1997)<br />

3.370<br />

Wirtschaftsform Kapitalismus (Schwellenland)<br />

Jahr der Unabhängigkeit 1822<br />

Staatsform föderative Republik – 26 Bundesstaaten<br />

und unabhängiger Distrikt Brasilia<br />

(Mehrparteiensystem)<br />

Tab. 4-1: Wesentliche Indikatoren Brasiliens (nach Baratta, 1996; Reforma,<br />

1999)<br />

4.1.2 Historische Betrachtung der Migration in Brasilien<br />

Die internen Migrationen vom Land in die Stadt haben eine grundlegende<br />

Bedeutung bezüglich der Arbeitskraft in der Diskussion über den Städtischen<br />

Informellen Sektor in Brasilien, da nicht alle Migranten vom formellen<br />

Arbeitsmarkt absorbiert werden und somit zwangsläufig in den informellen<br />

Sektor gedrängt werden.<br />

Eine problematische Ursache <strong>für</strong> diese Migration ist dabei das Bodenbesitzund<br />

Bodennutzungsproblem. Die Konzentration des Bodeneigentums in den<br />

Händen Weniger verhinderte und verhindert eine ausgeglichene Entwicklung<br />

der Produktivkräfte. Für eine weitere Entwicklung des Kapitalismus in Bra-


silien wäre eine Bodenreform und die Transformation der armen Landarbeiter<br />

in Warenkonsumenten und -produzenten von großer Bedeutung.<br />

Die Ursachen dieses Problems liegen in der Kolonialzeit. Dabei war der<br />

‚Tratado de Tordesilhas‘ (Vertrag von Tordesilha) 14 von großer Bedeutung.<br />

Er wurde durch den Papst abgesegnet, wodurch auch die Aufteilung der von<br />

Portugal und Spanien “entdeckten“ Länder legitimiert wurde.<br />

In Brasilien war die Erlangung von Landbesitz seit Beginn an nur durch<br />

Schenkung des portugiesischen Königs, Kauf oder Erbschaft möglich. Die<br />

Erlangung war entweder an die Loyalität zum König oder an ökonomische<br />

Potenz gebunden. Die extrem generöse und übertriebene Aufteilung führte<br />

zur Bildung riesiger Latifundien, die teilweise die Größe von einigen europäischen<br />

Staaten aufweisen und sich bis heute in den Händen von sehr wenigen<br />

Eigentümern konzentrieren (vgl. Barros; 1996).<br />

Die Arbeitskraft der Sklaven nutzend, wählte die das Land ausbeutende<br />

Kolonialmacht die fruchtbarsten Böden <strong>für</strong> den Anbau der Güter, die <strong>für</strong> den<br />

internationalen Markt bestimmt waren.<br />

Der brasilianische Staat behielt auch nach Erlangung der Unabhängigkeit<br />

diese ungerechte ursprüngliche Landverteilung bei. Dabei sind die fruchtbaren<br />

Regionen <strong>für</strong> den Anbau exportbestimmter Monokulturen wie Zucker,<br />

Kakao, Orangen, Tabak und Kaffee reserviert, und die schwierig zu bestellenden<br />

Ländereien bleiben <strong>für</strong> die inländische Lebensmittelproduktion.<br />

In der Geschichte Brasiliens, beginnend bei der Monarchie, der ‚Alten Republik‘,<br />

der Bewegung der Dreissiger, dem ‚Neuen Staat‘ (1937), der nachkriegszeitlichen<br />

Redemokratisierung (1946), dem Militärputsch von 1964 bis<br />

hin zur ‚Neuen Republik‘ (1984), und ohne auf die Erwähnung von Massakern<br />

an den Landlosen im Bundesstaat Pará (17.04.1996) zu verzichten, gab<br />

es k<strong>einen</strong> Moment, in dem der Staat irgendeine Maßnahme zur Veränderung<br />

dieser Latifundienstrukturen im Land in Angriff genommen hätte (vgl.<br />

Barros, 1996). Unabhängig davon wurden jedoch auch keine anderen Maßnahmen,<br />

wie beispielsweise die Schaffung von landunabhängigen Einkom-<br />

14 ‚Tratado de Tortesilhas‘: Vertrag zwischen dem portugiesischen und spanischen König,<br />

der am 7. Juli 1494 unterzeichnet wurde. In diesem Vertrag erfolgte die Aufteilung der<br />

Ozeane und der Grenzen in Afrika. Im Jahr 1506 wurde dieser Vertrag durch eine päpstliche<br />

Bulle (Ea quae pro bono pacis) des Papstes Julius II abgesegnet. Dadurch erhielt Portugal<br />

die Verfügungsgewalt über das brasilianische Gebiet. (Encarta 98)<br />

39


40<br />

mensmöglichkeiten, ergriffen, die Einfluss auf den Migrationsstrom in die<br />

Städte gehabt hätten.<br />

In Brasilien ist die Basis des kapitalistischen Entwicklungsmodells der Großgrundbesitz.<br />

Die ‚Mechanisierung‘ der Landwirtschaft15 und die permanente<br />

Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion (Stédeli, 1996) setzten die<br />

<strong>für</strong> die Industrialisierung erforderlichen Arbeitskräfte auf dem Land frei.<br />

Diese Entwicklung machte die Industrialisierung Brasiliens möglich.<br />

Das Zusammenwirken der ökonomischen, politischen und sozialen Faktoren<br />

ab den dreissiger Jahren führte zu Veränderungen, aufgrund derer ein Teil<br />

der geschaffenen Gewinne von den Agraroligarchien zur Verstärkung des<br />

Industriealisierungsprozesses genutzt werden konnte.<br />

Die Mobilisierung der Arbeitermassen wurde unter anderem durch den Bau<br />

eines Eisenbahnnetzes, das die wichtigsten Regionen des Landes miteinander<br />

verband, erleichtert. Ein wichtiger Effekt wurde durch eine Verbesserung der<br />

Hygiene und dem damit verbundenen Rückgang der Sterblichkeitsrate erreicht.<br />

Die graduelle Verschiebung der brasilianischen Ökonomie (und der politischen<br />

Macht) von einer Agrar- zu einer Industriebasis erfolgte nicht im<br />

Widerstand zu den ländlichen Interessen, sondern war im Gegenteil ständig<br />

mit diesen verbunden (Olivien, 1982).<br />

Die großen Anstrengungen zur industriellen Entwicklung in Brasilien begannen<br />

nach dem 2. Weltkrieg und gingen auf die Initiative des Staates zurück,<br />

u.a. auf die Politik der Importsubstitution. Der Staat investierte in erheblichem<br />

Maße in Technische Infrastrukturen wie Energie, Wasser, Abwasser,<br />

Transport, Straßen, Kommunikation und andere, gekoppelt mit Steuervergünstigungen,<br />

Krediten und Subventionen.<br />

Dem Militärregime, das die Macht 1964 übernahm, gelang es gemeinsam<br />

mit dem ausländischen Kapital <strong>einen</strong> hohen Stand der Industrieentwicklung<br />

zu erreichen. Die Städte entwickelten sich in zunehmenden Maße zu den<br />

wichtigsten dynamischen Produktionszentren und zum ideologischen Symbol<br />

der Entwicklung.<br />

15 Die Modernisierung der Landwirtschaft wird nicht nur unter technologischen Aspekten<br />

sondern auch in Bezug auf die Arbeit gesehen. D.h., sie besteht neben der Mechanisierung<br />

in der Substitution des fest angestellten Landarbeiters durch die Beschäftigung der Arbeitskraft<br />

auf Lohnbasis (häufig irregulär) – als ‚Boia-Fria‘ bekannt.


Ein Großteil der brasilianischen Bevölkerung konzentriert sich heute in den<br />

Städten der Sü<strong>dos</strong>tregion (hierzu gehören hauptsächlich São Paulo und Rio<br />

de Janeiro), die sich zum wirtschaftlichen Zentrum, Modell und Stolz der<br />

brasilianischen Entwicklung, gewandelt hat. Hingegen haben sich die Gebiete<br />

im Norden und Nor<strong>dos</strong>ten 16 des Landes zu Armutsregionen entwickelt.<br />

4.1.3 Historische Betrachtung der Urbanisierung<br />

Das Wachstum der städtischen Bevölkerung in Brasilien verläuft wesentlich<br />

schneller als das der Gesamtbevölkerung des Landes. Neben dem hohen<br />

natürlichen Wachstum ist dies auf den o.g. Zustrom vom Land zurückzuführen,<br />

wodurch sich die Zahl der städtischen Bewohner zwischen 1960 und<br />

1990 mehr als verdreifacht hat, die der Gesamtbevölkerung hingegen nur<br />

verdoppelt (s. Tabelle 4-2).<br />

Jahr Gesamtbe- Städtische Städtischer Wachstum der Wachstum der<br />

völkerung Bevölkerung Bevölkerung Gesamtbevölke- städtischen<br />

santeil rung (%) Bevölkerung (%)<br />

(%) pro jährl. pro pro jährl. pro<br />

Dekade Dekade Dekade Dekade<br />

1940 41.236.315 12.880.182 31,40 - - - -<br />

1950 51.944.397 18.782.891 36,16 25,97 2,34 45,83 3,84<br />

1960 70.967.185 31.990.938 45,08 36,62 3,17 70,32 5,47<br />

1970 93.204.379 50.600.000 54,29 31,33 2,77 58,17 4,70<br />

1980 117.357.910 76.400.000 65,10 25,91 2,33 50,99 4,20<br />

1990 147.304.614 109.104.811 74,07 25,52 2,30 42,81 3,62<br />

Tab. 4-2: Wachstum der städtischen und Gesamtbevölkerung in Brasilien<br />

(nach Olivien, 1982; IBGE, 1994 und eigene Berechnungen)<br />

Diese „Hyperurbanisierung“ führte zu wirtschaftlichem Wachstum und<br />

<strong>neuen</strong> Arbeitsplätzen, deren Anzahl jedoch bei weitem nicht ausreicht, um<br />

die mit dem wesentlich stärkeren städtischen Bevölkerungswachstum verbundene<br />

Nachfrage zu befriedigen. Die städtische Erwerbsbevölkerung Brasiliens<br />

wuchs zwischen 1950 und 1960 um 9,2 Millionen, aber 62% dieser<br />

zusätzlichen Arbeitskräfte fanden k<strong>einen</strong> Arbeitsplatz im Formellen Sektor<br />

(vgl. Achinger et al, 1997).<br />

16 Um den Problemen des Nor<strong>dos</strong>tens zu begegnen, wurde die SUDENE (Superintendencia<br />

do Desenvolvimento do Nordeste) (1959) gegründet, die neben anderen politischen Zielen<br />

die Eröffnung von einigen Industriezweigbetrieben förderte und damit zur Zerstörung der<br />

aus den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts stammenden Industrie beitrug.<br />

41


42<br />

Nach Perlmann und Frank (apud Achinger et al, 1997) ist diese Urbanisierung<br />

zwar nicht als positiv, aber als unvermeidlich anzusehen, da sie Teil des<br />

Industrialisierungsprozesses sei.<br />

Es ist offensichtlich, dass die Migrationsbewegungen im Land ohne eine entsprechende<br />

Politik stattfinden, so wie sich der städtische Prozess ohne Planung<br />

vollzieht. Der Widerspruch des kapitalistischen Systems wird z.B.<br />

deutlich, wenn man von den während des Entstehungsprozesses der brasilianischen<br />

Städte identifizierten zwei Kategorien (1. Städtisch : städtisch, 2.<br />

städtisch : Favela) ausgeht, bedingt durch die staatliche Unfähigkeit, eine<br />

Politik <strong>für</strong> die arbeitende Bevölkerung zu entwickeln, die in eine <strong>für</strong> die<br />

gesamte Stadt integriert ist (vgl. Silva <strong>Santos</strong>, 1997).<br />

Nach Silva <strong>Santos</strong> (1997) führt die Stigmatisierung bestimmter Bevölkerungsteile<br />

durch die Armut zu einer sozialen Praxis der Ausgrenzung. D.h.,<br />

die Stadt ist vom städtepolitischen Standpunkt aus als Produkt dreier identifizierbarer<br />

Elemente wahrzunehmen: physisch durch die räumliche Verteilung,<br />

wirtschaftlich durch die Verteilung der unterschiedlichen Einkommen<br />

der Bevölkerung, politisch durch die unterschiedliche Behandlung der jeweiligen<br />

städtischen Einheiten (städtisch : städtisch und städtisch : Favela).<br />

So sind nach einer von Tashner durchgeführten Untersuchung (1995, apud<br />

Prefeitura de São Paulo, 1996) mehr als die Hälfte (57 %) der aktiven Familienoberhäupter<br />

São Paulos im Sekundärsektor beschäftigt, ein großer Teil<br />

der Autoindustriearbeiter sind Favelabewohner.<br />

Dieser Umstand, dass die Arbeiter sich nur noch das Wohnen in Favelas leisten<br />

können macht deutlich, dass die industriellen Löhne nicht mehr <strong>für</strong> die<br />

Reproduktion der Arbeitskraft ausreichen, geschweige denn eine Verbesserung<br />

des Lebensstandards ermöglichen.<br />

In São Paulo begannen bereits in den 40er Jahren die illegale Inbesitznahme<br />

von Grundstücken und der Selbsthilfewohnungsbau an Bedeutung zu gewinnen.<br />

Diese Form der Urbanisierung nahm in den letzten Jahrzehnten noch<br />

erheblich an Bedeutung zu (vgl. Tabelle 4-3).


Jahr Prozent<br />

1973 1,2%<br />

1987 8,9%<br />

1993 19,8%<br />

Tab. 4-3: Entwicklung der Favelabevölkerung in São Paulo (nach Prefeitura<br />

de São Paulo, 1996)<br />

In Rio de Janeiro, wo der Favelasierungsprozess bereits um die Jahrhundertwende<br />

begann, wuchs die Gesamtbevölkerung zwischen 1980 und 1991 um<br />

17,7 % an, die Anzahl der Favelabewohner hingegen um 32,0 % (Ribeiro,<br />

1994, apud Prefeitura de São Paulo, 1996). Untersuchungen des IBGE identifizierten<br />

bereits 1980 insgesamt 376 Favelas in dieser Stadt (vgl. Wehenpohl,<br />

1987) und dasselbe Institut schätzte, dass es 1997 bereits 600 sein würden.<br />

Zur vertieften Darstellung der wirtschaftlichen und sozialen Wirklichkeit in<br />

Brasilien sind andere Indikatoren hinzuzuziehen. Untersuchungen des IBGE,<br />

auf die sich die nachfolgenden Aussagen dieses Kapitels weitgehend stützen,<br />

zogen die vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) entwickelten<br />

Life Condition Index (LCI – Index der Lebensbedingung) und<br />

Human Development Index (HDI – Index <strong>für</strong> menschliche Entwicklung)<br />

heran. Die Indizes berücksichtigen die Lebensdauer, ausgehend von der<br />

Lebenserwartung zum Zeitpunkt der Geburt, die Alphabetisierungsrate, die<br />

durchschnittliche Schulzeit in Jahren und das Pro-Kopf-Einkommen.<br />

Eine alarmierende Situation ist im Erziehungswesen Brasiliens zu verzeichnen:<br />

die Analphabetenrate hat in absoluten Zahlen inzwischen die 20-Millionengrenze<br />

überschritten. Hinzukommt, dass in den Primär- und Sekundärschulen<br />

gerade 2,6 % der Schüler schwarz, 30 % Mischlinge, hingegen 66 %<br />

weiß sind, was ein starkes Missverhältnis zur Bevölkerungsverteilung nach<br />

Hautfarben darstellt (vgl. Abbildungen 4-2 und 4-3). Danach beträgt der<br />

Anteil der Schwarzen einschließlich der Mischlinge etwa 45 % an der<br />

Gesamtbevölkerung. Hierbei sind jedoch regional starke Unterschiede zu<br />

verzeichnen. In der Region Sü<strong>dos</strong>ten, zu der auch Rio de Janeiro zählt,<br />

beträgt der Anteil der Schwarzen einschließlich Mischlinge etwa 33 %.<br />

43


44<br />

45.000.000<br />

40.000.000<br />

35.000.000<br />

30.000.000<br />

25.000.000<br />

20.000.000<br />

15.000.000<br />

10.000.000<br />

5.000.000<br />

0<br />

Frauen Männer<br />

Weiß<br />

Schwarz<br />

Andere<br />

Weiß Schwarz Andere<br />

Frauen 42.953.088 34.307.815 459.269<br />

Männer 39.873.710 34.327.623 433.273<br />

Abb. 4-2: Verteilung der Bevölkerung nach Hautfarbe in Brasilien (nach<br />

IBGE, 1995, )<br />

25000000<br />

20000000<br />

15000000<br />

10000000<br />

5000000<br />

0<br />

Frauen Männer<br />

Weiß<br />

Schwarz<br />

Andere<br />

Weiß Schwarz Andere<br />

Frauen 22575781 11147804 310354<br />

Männer 21123448 11047177 280623<br />

Abb. 4-3: Verteilung der Bevölkerung nach Hautfarbe im Sü<strong>dos</strong>ten<br />

Brasiliens (nach: IBGE, 1995)<br />

Außerdem leben auf den brasilianischen Straßen fast 8 Millionen Jugendliche,<br />

die vom offiziellen Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind. Ein weiterer<br />

signifikanter Teil der Jugendlichen besucht die Schule nicht regelmäßig, da<br />

er sich frühzeitig auf den (informellen) Arbeitsmarkt begeben muss, um die


Familien zu unterstützen. Von insgesamt 27,2 Millionen Kindern und Jugendlichen,<br />

befinden sich bereits 7,2 Millionen (2,8 Millionen im Alter von<br />

10 bis 14 Jahren und 4,4 Millionen im Alter von 15 bis 17 Jahren), was<br />

ungefähr 30% entspricht, auf dem Arbeitsmarkt (vgl. Isto É Senhor, 1099/90<br />

und Veja vom 31.03.1993).<br />

Nach dem Index <strong>für</strong> menschliche Entwicklung (HDI) klassifizieren die Vereinten<br />

Nationen die Länder in drei Kategorien, wobei sie eine Skala von „0“<br />

bis „1“ anwenden. Länder mit einem niedrigen menschlichen Entwicklungsindex<br />

haben <strong>einen</strong> Wert bis 0,5, Länder mit einem mittleren Index <strong>einen</strong><br />

Wert zwischen 0,5 und 0,8 und Länder mit einem hohen Index <strong>einen</strong> Wert<br />

über 0,8. In einer von den Vereinten Nationen durchgeführten Schätzung, in<br />

der die Daten von 174 Ländern berücksichtigt wurden, stritten sich Kanada,<br />

Japan und Frankreich um den Spitzenplatz, indem sie die 0,950 Punktmarke<br />

überschritten. Brasilien lag an 58. Stelle und erhielt 0,796 Punkte, wodurch<br />

es in die mittlere Kategorie eingeordnet wurde, und lag damit klar hinter<br />

Kolumbien, Venezuela, Chile, Argentinien und Uruguay (HDR, 1995; Veja<br />

vom 26.06.1996; FJP, 1996) (vgl. Abbildung 4-4).<br />

Das jährliche Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 7 % zwischen 1940<br />

und 1979 (Prefeitura de São Paulo, 1996) wurde unter Ausschluss eines großen<br />

Teils der Bevölkerung erreicht und führte zu einer Vergrößerung der<br />

sozialen und ökonomischen Unterschiede. Um so widersprüchlich ersch<strong>einen</strong><br />

oft die Handlungen der Bevölkerung. So ist am Kaufverhalten auch vieler<br />

armer Brasilianer zu beobachten, dass der Kauf von Haushaltselektrogeräten<br />

Vorrang vor der Befriedigung der Grundbedürfnisse wie Ernährung,<br />

Gesundheit, Hygiene, Wohnraum etc. hat.<br />

Selbst der untersten Bevölkerungsschicht gelingt die Anschaffung moderner<br />

Industriegüter wie Fernsehen, Kühlschrank, Videorecorder u.a.. In diesem<br />

Zusammenhang sei jedoch auf ein Interview von Milton <strong>Santos</strong> hingewiesen,<br />

der bei der Interpretation von bestimmten Analysen und statistischen Daten<br />

zur Vorsicht mahnt:<br />

„Wir messen weiterhin die Armut anhand der ... Zugangsmöglichkeiten zu<br />

Dingen, die der Arme in den 50er, 60er, 70er Jahren nicht hatte: ein Herd,<br />

ein Kühlschrank, ein Fernseher. Es ist jedoch so, dass von damals bis heute<br />

so viele andere exzellente Indikatoren (zum Messen der sozialen Disparitäten,<br />

Anmerkung der Autorin) entstanden sind, die Verfeinerung (der Analysemethoden)<br />

solch ungewöhnliche Ausmaße angenommen hat, dass der Graben<br />

(zwischen den Klassen, Anmerkung der Autorin) weiterhin gleich groß<br />

45


46<br />

sein kann, auch wenn der Arme schon s<strong>einen</strong> Kühlschrank besitzt“ (Interview<br />

mit Milton <strong>Santos</strong> in Veja vom 16.11.1994). Es kann sein, dass es dem<br />

Armen sogar vergleichsweise schlechter geht als vorher.<br />

Bolivien<br />

Peru<br />

Paraguay<br />

Equador<br />

Brasilien<br />

Kolumbien<br />

Venezuela<br />

Chile<br />

Uruguay<br />

Argentinien<br />

Human Development Index<br />

0 0,2 0,4 0,6 0,8 1<br />

Geringe Mittlere Hohe<br />

Abb. 4-4: Index <strong>für</strong> menschliche Entwicklung in Südamerika 17 (nach United<br />

Nation Development Programme, 1996)<br />

Die 80er Jahre sind in Brasilien bekannt als das verlorene Jahrzehnt aufgrund<br />

der Wirtschaftskrise, die die Anzahl der Armen im Land ansteigen ließ, und<br />

aufgrund des Fehlens von politischen Kompensationsmaßnahmen, die die<br />

Auswirkungen auf die bedürftige Bevölkerung hätte vermindern können.<br />

Vergleicht man, dass 50% der Ärmsten der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung<br />

1960 an 17,4 % des nationalen Einkommens beteiligt waren, dann fiel<br />

diese Beteiligung 1994 auf 12,6 % zurück (vgl. Journal do Brasil vom<br />

16.01.1994). Diese Daten stimmen mit dem überein, was visuell wahrnehmbar<br />

ist: die Bevölkerung muss weiterhin an mit notwendiger Infrastruktur<br />

weniger ausgestattete Orte (z.B. Favelas) umziehen. Die Anzahl der Mangel-<br />

17 1993 durch die UNO erhobene Daten


ernährten, der schlecht Ausgebildeten und der daraus resultierenden schlecht<br />

Bezahlten ist groß. Wie die Autoren Silva <strong>Santos</strong> (1997) und Milton <strong>Santos</strong><br />

(1994) es ausdrücken: diese Menschen leben ohne Bürgerrechte.<br />

Der brasilianische Arbeitsmarkt<br />

Parallel zum Urbanisierungsprozess verläuft die Tertiärisierung der Arbeitsmärkte.<br />

So waren 1990 bereits etwa 75 % der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung<br />

auf dem städtischen Markt beschäftigt und von diesen mehr als die<br />

Hälfte im Tertiärsektor. Mit dem Anwachsen der Beschäftigung in diesem<br />

Sektor ist auch gleichzeitig eine Ausweitung der irregulären Aktivitäten verbunden.<br />

Dieses Wachstum ist das Ergebnis einer umfassenden Überlebensstrategie<br />

eines großen Teils der Brasilianer, vor allem der städtischen Arbeiter,<br />

und es verläuft neben dem Modernisierungs- und Diversifizierungsprozess<br />

im Dienstleistungsbereich (IBGE, 1994). Gleichzeitig geht dieser Prozess<br />

mit Modifizierungen im Sekundärsektor einher, d.h. der Anteil der in festen<br />

Lohnverhältnissen beschäftigten Arbeiter nimmt ab im Verhältnis zu denen,<br />

die in der unabhängigen Produktion beschäftigt sind, und führt zu einer<br />

Reduzierung des Anteils der Arbeiter, die durch gültige Arbeitsgesetzgebung<br />

geschützt sind.<br />

Das IBGE zeigt anhand der Daten der Nationalen Wohnungsumfrage (PNAD)<br />

die Bedeutung der individuellen Dienstleistungen und des festen wie auch<br />

des ambulanten Handels auf, die sogar vor den finanziellen, technischen und<br />

professionellen Dienstleistungen rangieren (s. Tabelle 4-4).<br />

Die große Anteil der weiblichen Arbeitskraft am Tertiärsektor der brasilianischen<br />

Wirtschaft ist auf die Zunahme von geringer qualifizierten manuellen<br />

Beschäftigungen zurückzuführen, wobei die Beispiele der Hausangestellten,<br />

Verkäuferinnen und ambulanten Händlerinnen eine große Bedeutung haben<br />

(vgl. Tabelle 4-4).<br />

47


48<br />

Wirtschaftssektor 1981 1983<br />

Total Männer Frauen Total Männer Frauen<br />

Primärsektor 29,3 33,6 19,8 27,1 30,9 19,3<br />

Sekundärsektor 23,7 28,7 12,5 24,4 29,9 13,2<br />

Tertiärsektor 47,1 37,7 67,7 48,6 39,2 67,5<br />

Markt und ambulanter Handel (1) 3,8 4,8 2,8 3,9 4,8 2,8<br />

Dienstleistungen (1) 32,5 20,7 47,0 33,5 21,4 47,7<br />

Haushaltsbereich (2) 39,2 6,4 57,2 39,9 7,1 57,5<br />

1986 1990<br />

Total Männer Frauen Total Männer Frauen<br />

Primärsektor 25,9 31,5 14,8 22,8 28,1 13,3<br />

Sekundärsektor 23,3 28,1 14,0 21,9 27,1 12,5<br />

Tertiärsektor 50,8 40,4 71,2 55,2 44,8 74,2<br />

Markt und ambulanter Handel (1) 4,1 5,0 3,7 4,7 6,1 4,4<br />

Dienstleistungen (1) 32,7 23,3 47,1 32,4 26,5 46,8<br />

Haushaltsbereich (2) 39,8 8,0 57,4 34,1 6,7 49,7<br />

Anm.: (1) Prozentualer Anteil des Sektors „Markt und Handel“ und „Erbringung von Dienstleistungen“<br />

am gesamten Tertiärsektor<br />

(2) Prozentualer Anteil des Sektors „Häusliche Dienstleistungen“ am gesamten Sektor<br />

„Erbringung von Dienstleistungen“<br />

Tab. 4-4: Beschäftigte pro Wirtschaftssektor in Brasilien (in %) (nach IBGE,<br />

1994)<br />

Ein weiterer Aspekt ist, ohne diesen hier zu vertiefen, der Einfluss, den die<br />

Hautfarbe/Rasse des Arbeiters bei seiner Einbindung in den Arbeitsmarkt<br />

spielt. Die Schwarzen in Brasilien sind überproportional stark im unteren<br />

Segment der Gesellschaft und der Wirtschaft anzutreffen. Wie die Felduntersuchungen,<br />

auf die später eingegangen wird (s. Kapitel 6), deutlich machen,<br />

sind auch bei den dort untersuchten Gruppen die Schwarzen stark vertreten.<br />

Diese bereits seit Jahrhunderten bestehende Ungleichheit setzt sich wie in<br />

einem Teufelskreis bis heute fort, da zu Ausbildung und Einkommen, wichtigen<br />

Kriterien <strong>für</strong> <strong>einen</strong> Aufstieg, der Zugang fehlt.<br />

In Bezug auf die Verteilung der Bevölkerung nach Geschlecht ist die Beteiligung<br />

der Frauen im Tertiärsektor, der zwischen 1981 und 1990 insgesamt<br />

gestiegen ist, beträchtlich höher als die der Männer (IBGE, 1994; Tabelle 4-4).<br />

Dies scheint in direktem Zusammenhang zur Hausarbeit zu stehen, die <strong>für</strong><br />

die Frauen innerhalb des Sektors die wichtigste Tätigkeit darstellt. Die Frauenbeteiligung<br />

im Subsektor „Hausdienste“ betrug 1981 57% von der<br />

Gesamtzahl der im Dienstleistungssektor beschäftigten Frauen, und fiel 1990<br />

auf 50% ab. Das Absinken ist indessen vernachlässigbar, denn nach wie vor<br />

ist dieser Subsektor der wichtigste <strong>für</strong> die Beschäftigung der Frauen. Insgesamt<br />

ist die Beteiligung der Frauen am Tertiärsektors (unter Ausklammerung


der häuslichen Arbeit) im Aufschwung begriffen (z.B. der Warenhandelssektor,<br />

davon hauptsächlich der Subsektor Markt und ambulanter Handel)..<br />

Weiterhin fällt in dieser Tabelle auf, dass die Verteilung der männlichen<br />

Beschäftigungsbevölkerung nach Tätigkeitssektoren (Primär-, Sekundär- und<br />

Tertiärsektor) sehr viel gleichmäßiger ist als die des weiblichen Geschlechts.<br />

Allerdings nimmt der Tertiärsektor allmählich <strong>für</strong> die männliche Bevölkerung<br />

an Bedeutung zu, besonders innerhalb der Subsektoren Dienstleistungen<br />

(inklusive Hausarbeitssektor) und Warenhandel (inklusive Markt und<br />

ambulanter Handel).<br />

Die gleichen <strong>für</strong> Brasilien festgestellten Schlussfolgerungen sind <strong>für</strong> die Sü<strong>dos</strong>tregion18<br />

und daher auch <strong>für</strong> Rio de Janeiro gültig (s. Tabelle 4-5). Die<br />

Tatsache, dass die <strong>für</strong> Brasilien nachgewiesenen Tendenzen in dieser Region<br />

verstärkt auftreten, ruft Aufmerksamkeit hervor. So konzentriert sich zum<br />

Beispiel im Tertiärsektor der Anteil der weiblichen Beschäftigten, der 1981<br />

75% betrug und sich im Jahr 1990 auf 78,2% erhöht hatte. Innerhalb dieses<br />

Sektors ist der „Dienstleistungs“-Subsektor der wichtigste und wiederum<br />

innerhalb dieses Subsektors rangiert die „Hausarbeit“ ganz vorne. Die weiblichen<br />

Hausarbeitsdienstleistungen stellten 1981 60% der geleisteten Dienstleistungen<br />

dar und im Jahr 1990 50%. Trotz ihres allmählichen Absinkens<br />

bleibt die Hausarbeit weiterhin die wichtigste Tätigkeit der weiblichen<br />

Arbeitnehmer im allgem<strong>einen</strong> Umfeld des Dienstleistungssektors.<br />

Die Daten der Tabelle 4-6 machen deutlich, dass der Informelle Tertiärsektor,<br />

in dem die Mehrzahl der beschäftigten Frauen anzutreffen ist, während<br />

des gesamten Betrachtungszeitraums (1981-1990) mit einem konstanten<br />

Anteil von etwa 52 % Beiträge zur Sozialversicherung leistet. In dem <strong>für</strong> die<br />

Frauenbeschäftigung wichtigsten Subsektor, der Hausarbeit, tragen jedoch<br />

nur etwa 22 % zu dieser Versicherung bei. Ein weiterer wichtiger Aspekt in<br />

dieser Betrachtung ist, dass der Anteil der Männer, die Beiträge leisten, beispielsweise<br />

im Subsektor „Markt und ambulanter Handel“ von 32,0 % im<br />

Jahre 1981 auf knapp 19,6 % im Jahre 1990 absank. Die Ursache hier<strong>für</strong><br />

könnte eine weitere Verarmung sein, oder die Notwendigkeit, Tätigkeiten<br />

verstärkt im informellen Bereich zu suchen. Interessant ist auch festzustellen,<br />

dass von den Männern, die in dem eigentlich von Frauen dominierten Sub-<br />

18 Die südöstliche Region Brasiliens wird gebildet aus den Staaten von Rio de Janeiro, São<br />

Paulo, Minas Gerais und Espirito <strong>Santos</strong>. Sie ist bevölkerungsmäßig und wirtschaftlich von<br />

großer Bedeutung <strong>für</strong> Brasilien.<br />

49


50<br />

sektor „Hausarbeit“ tätig sind, nahezu doppelt so viele <strong>einen</strong> Versicherungsbeitrag<br />

leisten.<br />

Wirtschaftssektor 1981 1983<br />

Total Männer Frauen Total Männer Frauen<br />

Primärsektor 16,8 20,7 8,6 17,2 21,2 9,0<br />

Sekundärsektor 29,2 35,2 16,4 26,4 32,4 14,6<br />

Tertiärsektor 53,9 44,1 75,0 56,4 46,3 76,4<br />

Markt und ambulanter Handel (1) 3,5 4,3 2,8 3,5 4,3 2,7<br />

Dienstleistungen (1) 33,6 22,0 48,1 35,1 23,1 50,0<br />

Haushaltsbereich (2) 40,3 7,2 59,6 40,4 8,4 58,3<br />

1986 1990<br />

Total Männer Frauen Total Männer Frauen<br />

Primärsektor 13,9 18,3 5,7 12,1 15,7 5,7<br />

Sekundärsektor 29,4 35,6 17,8 27,5 33,9 16,0<br />

Tertiärsektor 56,7 46,1 76,5 60,5 50,4 78,2<br />

Markt und ambulanter Handel (1) 3,5 3,7 3,3 3,6 3,8 3,6<br />

Dienstleistungen (1) 34,2 23,0 46,7 33,1 24,0 43,2<br />

Haushaltsbereich (2) 39,7 8,5 57,4 33,5 7,4 50,0<br />

Anm.: (1) Prozentualer Anteil des Sektors „Markt und Handel“ und „Erbringung von<br />

Dienstleistungen“ am gesamten Tertiärsektor<br />

(2) Prozentualer Anteil des Sektors „Häusliche Dienstleistungen“ am gesamten Sektor<br />

„Erbringung von Dienstleistungen“<br />

Tab. 4-5: Beschäftigte pro Wirtschaftssektor im Sü<strong>dos</strong>ten Brasiliens (in %)<br />

(nach IBGE, 1994)


Wirtschaftssektor 1981 1983<br />

Total Männer Frauen Total Männer Frauen<br />

Primärsektor 7,9 9,5 1,9 10,7 13,5 2,0<br />

Sekundärsektor 72,6 72,2 74,3 60,3 60,0 61,7<br />

Tertiärsektor 64,7 73,7 53,6 61,9 70,7 51,6<br />

Markt und ambulanter Handel (1) 27,3 32,3 16,5 21,7 25,4 14,1<br />

Dienstleistungen (1) 37,8 61,3 25,1 34,1 55,4 22,7<br />

Haushaltsbereich (2) 23,0 42,1 21,8 19,5 37,3 18,3<br />

1986 1990<br />

Total Männer Frauen Total Männer Frauen<br />

Primärsektor 8,4 10,0 2,0 7,8 9,1 2,5<br />

Sekundärsektor 70,7 70,2 72,8 68,3 67,5 71,4<br />

Tertiärsektor 61,5 70,3 51,6 60,4 67,2 52,9<br />

Markt und ambulanter Handel (1) 19,7 24,4 12,5 15,4 19,6 9,4<br />

Dienstleistungen (1) 34,0 56,1 21,9 35,5 53,4 24,8<br />

Haushaltsbereich (2) 19,5 42,3 17,9 23,8 43,9 22,1<br />

Anm.: (1) Prozentualer Anteil des Sektors „Markt und Handel“ und „Erbringung von<br />

Dienstleistungen“ am gesamten Tertiärsektor<br />

(2) Prozentualer Anteil des Sektors „Häusliche Dienstleistungen“ am gesamten Sektor<br />

„Erbringung von Dienstleistungen“<br />

Tab. 4-6: Anteil der Beschäftigten pro Wirtschaftssektor mit Beiträgen zur<br />

Sozialversicherung (in %) – Brasilien (nach IBGE, 1994)<br />

Die bereits <strong>für</strong> Brasilien gemachten Feststellungen zum Anteil der Personen,<br />

die Beiträge zur Sozialversicherung leisten, sind grundsätzlich auch <strong>für</strong> den<br />

Sü<strong>dos</strong>ten gültig (s. Tabelle 4-7), jedoch sind die absoluten Prozentsätze<br />

etwas höher.<br />

51


52<br />

Wirtschaftssektor 1981 1983<br />

Total Männer Frauen Total Männer Frauen<br />

Primärsektor 11,2 12,6 3,7 9,9 11,6 2,2<br />

Sekundärsektor 82,3 81,7 84,9 78,0 76,9 82,7<br />

Tertiärsektor 68,1 78,0 55,6 65,3 75,3 53,1<br />

Markt und ambulanter Handel (1) 29,7 36,2 16,8 26,0 31,3 16,1<br />

Dienstleistungen (1) 42,2 66,8 27,9 38,2 61,2 25,3<br />

Haushaltsbereich (2) 25,8 48,3 24,2 22,0 41,4 20,5<br />

1986 1990<br />

Total Männer Frauen Total Männer Frauen<br />

Primärsektor 14,2 16,0 3,4 14,4 16,1 6,4<br />

Sekundärsektor 78,8 78,2 81,0 77,4 76,6 80,5<br />

Tertiärsektor 66,2 75,7 53,3 67,3 75,3 58,1<br />

Markt und ambulanter Handel (1) 24,0 33,1 12,5 23,7 33,8 12,6<br />

Dienstleistungen (1) 38,6 63,1 25,0 43,2 63,1 30,7<br />

Haushaltsbereich (2) 22,6 48,3 20,6 29,9 52,6 27,7<br />

Anm.: (1) Prozentualer Anteil des Sektors „Markt und Handel“ und „Erbringung von<br />

Dienstleistungen“ am gesamten Tertiärsektor<br />

(2) Prozentualer Anteil des Sektors „Häusliche Dienstleistungen“ am gesamten Sektor<br />

„Erbringung von Dienstleistungen“<br />

Tab. 4-7: Anteil der Beschäftigten pro Wirtschaftssektor mit Beiträgen zur<br />

Sozialversicherung (in %) – Sü<strong>dos</strong>ten Brasiliens (nach IBGE,<br />

1994)<br />

Trotz der Bedeutung des Tertiärsektors <strong>für</strong> die Frauen verdienen Männer <strong>für</strong><br />

die gleiche Arbeit doppelt soviel (s. Tabelle 4-8). Eine allgemeine vorübergehende<br />

Verbesserung <strong>für</strong> beide Geschlechter im Jahre 1986 ist auf den<br />

‚Plano Cruzado‘ 19 zurückzuführen. Das durchschnittliche Monatseinkommen<br />

<strong>für</strong> Hausarbeit liegt gemeinsam mit dem des Primärsektors unter dem im<br />

Subsektor „Markt und ambulanter Handel“.<br />

19 Plano Cruzado: Dieser politökonomische Plan wurde vom Finanzminister Funaro während<br />

der Regierung Sarney im März 1986 eingeführt. Die Inflation erreichte zu diesem Zeitpunkt<br />

255,16 %. Daher wurden u.a. folgende Maßnahmen durchgeführt: Einfrieren der<br />

Gehälter, Stabilisierung der Preise und Dienstleistungen, Streichung von drei Nullen der<br />

Währung. Nach einem Jahr mit einer geringen Inflationsrate stieg diese wieder stark an<br />

verbunden mit eine wirtschaftlichen Rezession.


Wirtschaftssektor 1981 1983<br />

Total Männer Frauen Total Männer Frauen<br />

Primärsektor 2,5 (3) 2,7 1,2 2,3 2,5 1,0<br />

Sekundärsektor 5,0 5,4 3,2 3,8 4,1 2,3<br />

Tertiärsektor 4,8 6,5 2,8 4,2 5,7 2,4<br />

Markt und ambulanter Handel (1 3,2 3,6 2,3 2,5 2,8 1,9<br />

Dienstleistungen (1) 2,3 4,1 1,3 2,0 3,6 1,1<br />

Hasushaltsbereich (2) 1,1 1,7 1,0 0,9 1,4 0,9<br />

1986 1990<br />

Total Männer Frauen Total Männer Frauen<br />

Primärsektor 3,7 4,0 1,7 2,2 2,4 1,1<br />

Sekundärsektor 6,6 7,2 4,2 4,6 5,0 3,1<br />

Tertiärsektor 6,5 8,8 3,9 4,9 6,4 3,2<br />

Markt und ambulanter Handel (1 4,5 5,1 3,7 3,0 3,3 2,4<br />

Dienstleistungen (1) 3,3 5,8 2,0 2,6 4,3 1,5<br />

Hasushaltsbereich (2) 1,4 2,2 1,4 1,0 1,4 1,0<br />

Anm.: (1) Prozentualer Anteil des Sektors „Markt und Handel“ und „Erbringung von<br />

Dienstleistungen“ am gesamten Tertiärsektor<br />

(2) Prozentualer Anteil des Sektors „Häusliche Dienstleistungen“ am gesamten Sektor<br />

„Erbringung von Dienstleistungen“<br />

(3) Die benutzten Lohnindizes waren 1981: 162,11; 1983: 137,74; 1986: 167,47; 1990:<br />

100,00<br />

Tab. 4-8: Monatliches Mindesteinkommen aus der Hauptbeschäftigung der<br />

beschäftigten Bevölkerung (in realen Mindestlöhnen) – Brasilien<br />

(in %) (nach IBGE, 1994)<br />

Im Vergleich zu den Mindesteinkommen in Brasilien, liegen die im Sü<strong>dos</strong>ten<br />

allgemein etwas höher (s. Tabelle 4-9).<br />

Aus der Tabelle 4-10 kann man eine Wechselbeziehung zwischen Ausbildung<br />

und Einkommen ableiten. Deutlich erkennt man den Anstieg der Einkommen<br />

in Abhängigkeit von der Anzahl der Schuljahre. Darüber hinaus<br />

verdienen die Männer i.d.R. mehr als die Frauen, auch bei gleicher Schulbildung.<br />

Nach Angaben des IBGE (1994) befinden sich 10 Millionen Arbeiter auf<br />

dem Markt mit gerade einjähriger oder geringerer Schulbildung.<br />

53


54<br />

Wirtschaftssektor 1981 1983<br />

Total Männer Frauen Total Männer Frauen<br />

Primärsektor 2,8 2,9 1,8 2,6 2,8 1,3<br />

Sekundärsektor 6,1 6,6 3,9 5,1 5,5 3,2<br />

Tertiärsektor 5,4 7,2 3,2 4,6 6,2 2,6<br />

Markt und ambulanter Handel (1) 3,8 4,4 2,5 2,8 3,1 2,2<br />

Dienstleistungen (1) 2,6 4,5 1,5 2,2 3,9 1,2<br />

Haushaltsbereich (2) 1,2 1,9 1,2 1,0 1,5 1,0<br />

1986 1990<br />

Total Männer Frauen Total Männer Frauen<br />

Primärsektor 4,8 5,1 2,1 2,8 2,9 1,5<br />

Sekundärsektor 7,5 8,2 4,9 5,4 5,8 3,5<br />

Tertiärsektor 7,1 9,5 4,3 5,5 7,1 3,6<br />

Markt und ambulanter Handel (1) 5,0 6,0 3,7 3,7 4,3 2,8<br />

Dienstleistungen (1) 3,6 4,1 2,2 2,9 4,8 1,8<br />

Haushaltsbereich (2) 1,6 2,3 1,6 1,2 1,5 1,2<br />

Anm.: (1) Prozentualer Anteil des Sektors „Markt und Handel“ und „Erbringung von<br />

Dienstleistungen“ am gesamten Tertiärsektor<br />

(2) Prozentualer Anteil des Sektors „Häusliche Dienstleistungen“ am gesamten Sektor<br />

„Erbringung von Dienstleistungen“<br />

Tab. 4-9: Monatliches Mindesteinkommen aus der Hauptbeschäftigung der<br />

beschäftigten Bevölkerung (in realen Mindestlöhnen) – Sü<strong>dos</strong>ten<br />

Brasiliens (in %) (nach IBGE, 1994)<br />

Jahre Schulbildung 1981 1983<br />

Total Männer Frauen Total Männer Frauen<br />

Ohne und bis zu 1 Jahr Schulbildung 2,1 2,6 1,1 1,6 1,9 0,9<br />

1 bis 3 Jahre 2,9 3,6 1,4 2,3 2,9 1,1<br />

4 bis 7 Jahre 3,9 4,7 2,0 3,2 4,0 1,6<br />

8 bis 12 Jahre 6,3 7,9 3,9 5,2 6,6 3,2<br />

12 Jahre und mehr 16,1 21,3 8,8 13,6 17,9 7,6<br />

1986 1990<br />

Total Männer Frauen Total Männer Frauen<br />

Ohne und bis zu 1 Jahr Schulbildung 2,8 3,7 1,5 1,8 2,3 1,1<br />

1 bis 3 Jahre 3,7 4,8 1,9 2,5 3,2 1,4<br />

4 bis 7 Jahre 4,9 6,1 2,7 3,4 4,2 1,9<br />

8 bis 12 Jahre 7,6 9,5 4,8 5,6 7,1 3,5<br />

12 Jahre und mehr 20,7 27,7 11,8 15,3 20,0 9,9<br />

Tab. 4-10:Monatliches mittleres Einkommen der beschäftigten Bevölkerung<br />

des nicht landwirtschaftlichen Bereiches in Abhängigkeit von der<br />

Schulbildung – Brasiliens (in realen Mindestlöhnen) (nach IBGE,<br />

1994)


Auch unter Einbeziehung des Aspekts der Schulbildung liegen im Vergleich<br />

zu den Mindesteinkommen in Brasilien die im Sü<strong>dos</strong>ten allgemein etwas<br />

höher (s. Tabelle 4-11).<br />

Jahre Schulbildung 1981 1983<br />

Total Männer Frauen Total Männer Frauen<br />

Ohne und bis zu 1 Jahr Schulbildung 2,5 3,3 1,3 2,0 2,6 1,1<br />

1 bis 3 Jahre 3,3 4,0 1,6 2,6 3,3 1,3<br />

4 bis 7 Jahre 4,2 5,1 2,2 3,5 4,3 1,8<br />

8 bis 12 Jahre 6,9 8,5 4,3 5,7 7,0 3,5<br />

12 Jahre und mehr 16,9 22,3 8,9 14,0 18,4 7,6<br />

1986 1990<br />

Total Männer Frauen Total Männer Frauen<br />

Ohne und bis zu 1 Jahr Schulbildung 3,1 4,1 1,7 2,2 2,7 1,4<br />

1 bis 3 Jahre 4,0 5,0 2,2 2,8 3,6 1,6<br />

4 bis 7 Jahre 5,1 6,3 2,8 3,7 4,5 2,1<br />

8 bis 12 Jahre 8,1 10,0 5,2 5,9 7,4 3,8<br />

12 Jahre und mehr 21,3 28,4 11,9 15,5 20,2 10,0<br />

Tab. 4-11:Monatliches mittleres Einkommen der beschäftigten Bevölkerung<br />

des nicht landwirtschaftlichen Bereiches in Abhängigkeit von<br />

der Schulbildung – Sü<strong>dos</strong>ten Brasiliens (in realen Mindestlöhnen)<br />

(nach IBGE, 1994)<br />

4.2 Rahmenbedingungen des Städtischen Informellen Sektors in<br />

Rio de Janeiro<br />

Rio de Janeiro ist als wundervolle Stadt bekannt, umfasst ein 1.171 km² großes<br />

Stadtgebiet, liegt zwischen dem Meer und Bergen von seltener Schönheit<br />

und beherbergt eine Bevölkerung von ca. 6 Millionen Einwohnern. Die den<br />

unteren Volksschichten immanente Subkultur ist überschäumend, wobei der<br />

Karneval hervorsticht, der aus der Stadt das brasilianische Haupttouristenzentrum<br />

macht. Der Einzugsbereich von Rio de Janeiro (ca. 9 Millionen Einwohner)<br />

ist eines der Hauptindustriezentren Südamerikas mit einer beträchtlichen<br />

Arbeiterschaft, hauptsächlich <strong>für</strong> die Textil-, Bekleidungs-, Chemie-,<br />

Pharma- und Nahrungsmittelindustrie. Auch die metallverarbeitende Industrie<br />

hat eine besondere Bedeutung, ebenso die Hüttenindustrie sowie das Graphik-<br />

und Verlagswesen.<br />

Diese ‚Wundervolle Stadt‘ ist voller Widersprüche.<br />

55


56<br />

Trotz Abschaffung der Sklaverei (1888) blieb die aus dem Kolonialsystem<br />

tradierte Hierarchie „Herr und Sklave“ im Bewusstsein der Gesellschaft<br />

erhalten und die soziale und ökonomische Diskriminierung der Schwarzen<br />

bestehen.<br />

Der Übergang zum Kapitalismus als Wirtschaftssystem forderte den freien<br />

Lohnarbeiter als konstituierendes Merkmal. Wenn man es mit der im Kolonialsystem<br />

praktizierten Sklaverei vergleicht, findet man indessen keine<br />

Gleichheit <strong>für</strong> die sogenannten freien Arbeiter. Nach Lanni (1978) geht die<br />

Ungleichheit über die Grenzen des Arbeitsmarktes hinaus. Die soziale<br />

Schichtung ist dem kapitalistischen System eigen und geschieht durch die<br />

soziale Teilung der Arbeit.<br />

Die Höhen und Tiefen der verschiedenen ökonomischen Zyklen, von den<br />

großen Zeiten des Kaffeeanbaus bis hin zur erwähnten Industrialisierung,<br />

bereiteten der Integration des Landes in die internationale Arbeitsteilung den<br />

Weg.<br />

Rio de Janeiro ist eine typische Metropole eines Landes des abhängigen<br />

Kapitalismus, denn sie ist wie andere Metropolen der Dritten Welt geprägt<br />

von der Dichotomie zwischen einer in den zentralen städtischen Räumen<br />

lebenden Elite und den an der nahen und fernen Peripherie der Stadt entstandenen<br />

und entstehenden Wohnquartieren und Favelas <strong>für</strong> die niedrigen Einkommensgruppen.<br />

Die Armen werden aus dem städtischen Zentrum verdrängt<br />

und leben in Vierteln mit einer Unterversorgung an Konsumgütern<br />

und Dienstleistungen (Abreu, 1988, apud Achinger, 1997).<br />

Drei Punkte werden hier berücksichtigt:<br />

• Ein Charakteristikum der Industrialisierung in Brasilien sind die niedrigen<br />

Einkommen der Arbeiter. Gleichzeitig wurde durch große Anreize seitens<br />

der Regierung die Kapitalakkumulation gefördert, die ein ernsthaftes<br />

Ungleichgewicht in der Einkommensverteilung des Landes mit sich<br />

brachte. Das Ergebnis ist, dass ein großes Bevölkerungskontingent mit<br />

sehr geringer Kaufkraft existiert, ohne die Möglichkeit, die hohen Kosten<br />

der Konsumgüter des Grundbedarfs zu decken, die grundlegend wichtig<br />

<strong>für</strong> seine Reproduktion sind. So müssen alternative Formen gefunden werden,<br />

um den Bedarf an diesen Grundgütern zu decken. Das Leben in den<br />

Favelas und den peripheren, nicht erschlossenen Stadtviertel sind solche<br />

Alternativen. Man kann in der Geschichte von Rio de Janeiro ein ständiges<br />

Wachstum der Anzahl der Favelas beobachten. Die schlechte wirt-


schaftliche Situation des Arbeiters lässt sich an der städtischen Segregation<br />

ablesen.<br />

• Das Leben in der Favela erfordert Überlebensstrategien. Da der formale<br />

(Sekundär- und Tertiär-)Sektor nicht die gesamte auf dem Markt angebotene<br />

Arbeitskraft beschäftigen kann, muss diese Arbeitskraft auf eigene<br />

Rechnung Formen zum Einkommenserwerb schaffen, d.h., Wege finden,<br />

seine Arbeitskraft auf den Markt zu bringen – den städtischen informellen<br />

Markt in Rio de Janeiro.<br />

• Der starke Bevölkerungszuwachs der Städte während der Industrialisierung<br />

Brasiliens brachte neue Organisationsformen der städtischen Massen<br />

hervor. Diese Periode wurde durch die Gründung vieler Bewohnervereine<br />

und anderer Organisationsformen von Gruppen bestimmt. Noch heute gibt<br />

es Bewohnervereine, die sich mit denselben Problemen wie Jahre zuvor<br />

konfrontiert sehen, wie Wasserversorgung, Abwasserbeseitigung, Schuleinrichtung,<br />

u.a., und jetzt darüber hinaus mit Drogenbanden in Konflikt<br />

geraten. Die Präsenz dieser Banden ist in den meisten Favelas in Rio de<br />

Janeiro eine Realität.<br />

4.2.1 Die Favelas: Reduzierung der Reproduktionskosten<br />

Die ersten brasilianischen Favelas wurden im letzten Jahrhundert in Rio de<br />

Janeiro von den Überlebenden des Krieges gegen Paraguay gegründet (1864<br />

bis 1870). Nach dem „Gesetz zur Sklavereiabschaffung“ (1888) erhöhte sich<br />

ihre Anzahl durch die ehemaligen Sklaven (vgl. Chiavenato, 1987).<br />

Der Name Favela kommt ursprünglich von dem Namen eines Hanges im<br />

Nor<strong>dos</strong>ten des Landes, genannt Morro da Favela. Favela ist die Bezeichnung<br />

<strong>für</strong> eine typische Pflanze der Gegend. Zum Ende des „Kriegs der Canu<strong>dos</strong>“<br />

(1897) besetzten die überlebenden Armeesoldaten, die in diesem Krieg<br />

gekämpft hatten und nach Rio de Janeiro zurückkehrten, <strong>einen</strong> Hügel, der<br />

damals ohne Immobilienwert war, und konstruierten dort ihre Baracken, da<br />

sie anderswo keine Wohnung fanden. Eine ähnliche Besetzung geschah in<br />

der Nähe des damaligen wirtschaftlichen Zentrums Rio de Janeiros. „So entsteht<br />

in dieser Hafenzone ein Ort, der auch Morro da Favela genannt wird.<br />

Das war die Entschädigung der Soldaten <strong>für</strong> die dem Vaterland geleisteten<br />

Dienste“ (Kowarick, 1983, apud Silva <strong>Santos</strong>, 1997).<br />

Einer der politischen Aspekte in der Geschichte der Favelas in Rio de<br />

Janeiro ist die Überschreitung der sogenannten „Institution Privateigentum“<br />

57


58<br />

durch die spontane Besetzung fremden Grundbesitzes. Im öffentlichen Ansehen<br />

Brasiliens gehören die Favelabewohner an den sozialen Rand der Gesellschaft.<br />

Die Stadtverwaltung und ihre politischen Verantwortlichen marginalisieren<br />

die Favelas und ihre Bewohner beispielsweise durch Nichtversorgung<br />

mit technischer und sozialer Infrastruktur. So verfestigte sich einmal<br />

mehr eine Form der Stigmatisierung, die in der Dichotomie zwischen Favela<br />

und Stadt begründet liegt.<br />

Nach Aussagen des Autors Silva <strong>Santos</strong>, sind die Favelas in Wirklichkeit<br />

eine Synthese eines bestimmten ‚modus vivendi‘ – sie können als eine einfache,<br />

billige Wohnmöglichkeit verstanden werden, schließen aber auch solche<br />

Punkte ein wie geringere Transportkosten wegen der größeren Nähe zur<br />

Arbeit; billigere Dienstleistungen durch das informelle Hilfsnetz unter den<br />

Bewohnern (Valla, 1986, apud Silva <strong>Santos</strong> 1997).<br />

Silva <strong>Santos</strong> (1997) stellt fest, dass der Staat sich von der Verpflichtung entbindet,<br />

Investitionen <strong>für</strong> diejenigen zu tätigen, die in den Favelas leben müssen.<br />

Außerdem ist die Geschichte der städtischen Ansiedlungen in Rio de<br />

Janeiro durch Repressionen des Staates und der herrschenden Klassen gegen<br />

die Favelabewohner und ihren Organisationen gekennzeichnet, mit dem Ziel<br />

den Favelabewohnern das Wohnrecht streitig zu machen.<br />

Wohnen in der Favela ist <strong>für</strong> den Arbeiter der Regelzustand, weil anders<br />

seine Reproduktionskosten nicht gedeckt werden können. In den Favelas<br />

wohnt ein großer Bevölkerungsteil, der in der Industrie, im Hausdienst, im<br />

Handel, im zivilen Wohnungsbau, ja selbst im öffentlichen Dienst arbeitet.<br />

Das Kapital zieht somit direkt <strong>einen</strong> Nutzen aus der Existenz der Favelas.<br />

Oft bewohnt der Arbeiter mit der ganzen Familie sogar die Straße oder unter<br />

einer Brücke, weil sein Einkommen selbst <strong>für</strong> die Bezahlung einer Baracke<br />

in der Favela nicht ausreicht. Dadurch entsteht in der ‚Wundervollen Stadt‘<br />

neben den Favelas eine weitere Wohnart – die „Wohnung auf der Straße“. In<br />

Abgrenzung zu den traditionellen Obdachlosen arbeiten diese „Bewohner“<br />

regelmäßig.<br />

Dem städtischen Planungsinstitut von Rio de Janeiro zufolge wohnten 1990<br />

1,5 Millionen Personen, ca. 25% der städtischen Einwohner der Kerngemeinde,<br />

in ca. 520 Favelas. Nach Perlman lebten allerdings schon Ende der<br />

60er Jahre 30% der Bevölkerung von Rio de Janeiro in Favelas. Diese Differenzen<br />

zeigen, dass eine gewisse Bandbreite in der Definition des Begriffs<br />

„Favela“ besteht. Auch wird das städtische Planungsinstitut von Rio de


Janeiro von Soziologen immer wieder verdächtigt, die Zahl der Favelas definitorisch<br />

klein zu halten (vgl. Achinger, 1997). Die Schätzung von Silva<br />

<strong>Santos</strong> <strong>für</strong> 1997 ist, dass es in Rio de Janeiro ca. 600 Favelas gibt, in denen<br />

ca. 33% der Einwohner leben.<br />

Die nachfolgende Tabelle 4-12 gibt <strong>einen</strong> Überblick über die Entwicklung<br />

der Favelas und ihrer Bewohner im Vergleich zur Gesamtstadt Rio de<br />

Janeiro (Munizip).<br />

1950 1960 1970 1980 1997<br />

Zahl der Favelas 58 (a) 147 (b) 162 (c)<br />

376 (d)<br />

309 (e)<br />

608 (g)<br />

Zahl der<br />

Favelabewohner<br />

169.300 (f) 337.000 (f) 565.129 (b)<br />

722.424 (d)<br />

1.470.818 (e)<br />

882.667 (g)<br />

1.844.340 (g) *<br />

Einwohner des<br />

Munizips R.J.<br />

237.7451 (a) 3.247.710 (b) 4.251.918 (c) 5.088.802 (c) 5.533.011<br />

Anteil der Favelabewohner<br />

an der<br />

Gesamteinwohnerzahl<br />

von R.J.<br />

7,1 10,4 13,3<br />

14,2<br />

(34,2)*)<br />

16,0<br />

(33,3)*)<br />

Quellen: (a) IBGE: Censo Demográfico de 1950 (nach FEEMA, 1980 / Wehenpohl,<br />

1987)<br />

(b) IBGE: Censo Demográfico de 1960 (nach FEEMA, 1980 / Wehenpohl,<br />

1987)<br />

(c) IBGE: Sinopse Preleminar do Censo Demográfico de Guanabara, 1970<br />

(nach Valladares, 1978 / FEEMA, 1980 / Wehenpohl, 1987)<br />

(d) IBGE: Sinopse Preleminar do Censo Demográfico de Rio de Janeiro,<br />

1980 (nach IPLANRIO, 1984 / Wehenpohl, 1987)<br />

(e) Secretaria Municipal de Planejamento e Coordenação Geral: Aglomeração<br />

de Baixa Renda (nach FEEMA, 1980 / Wehenpohl, 1987)<br />

(f) CEDUG-Plano Dioxiadis de Urbanização (nach FEEMA, 1980 /<br />

Wehenpohl, 1987)<br />

(g) Rio 2004, Favelas urbanizadas, integradas à cidade (Prefeitura de Rio<br />

de Janeiro, 1997)<br />

* ) Der Verband der Bewohnervereine der Favelas in Rio de Janeiro sowie selbst die Stadtverwaltung<br />

gehen inoffiziell davon aus, dass etwa 1/3 der Bewohner Rios in Favelas wohnen.<br />

Tab. 4-12:Anzahl der Favelas und der Bewohner im Vergleich zur Gesamtbevölkerung<br />

im Munizip von Rio de Janeiro (R.J.)<br />

59


60<br />

4.2.2 Städtischer Informeller Sektor im allgem<strong>einen</strong> in Rio de<br />

Janeiro<br />

Die Daten der Untersuchung über die Städtische Informelle Ökonomie, vom<br />

IBGE 1994 erfasst und im November 1996 veröffentlicht, bieten wichtige<br />

Informationen über die Hauptcharakteristika des Städtischen Informellen<br />

Sektors, speziell in Rio de Janeiro. Diese Daten verstärken einige und zerstören<br />

andere traditionelle Vorstellungen von diesem Arbeitskräftemarkt.<br />

Bei der Analyse der Tabelle 4-13 bestätigt sich bezogen auf die Tätigkeiten<br />

die Dominanz der Dienstleistungen, auch wenn die Hausdienstleistungen bei<br />

der vom IBGE durchgeführten Erhebung nicht gezählt wurden. An zweiter<br />

Stelle steht in beträchtlichem Umfang der Handel. Es wird vermutet, dass die<br />

in den Bereichen Essen und Handwerk registrierten Tätigkeiten möglicherweise<br />

indirekt die der Bereiche Handel und Dienstleistung vergrößern.


Arbeitsbereiche Anzahl<br />

Handwerk 43.642<br />

Bau 50.442<br />

Handel 100.775<br />

Lebensmittel 35.181<br />

Transport 23.812<br />

Dienstleistungen 111.410<br />

Techn. Dienste 62.176<br />

Sonstiges 16.982<br />

SUMME 444.420<br />

Tec hn. Dienste<br />

14%<br />

Dienstleistungen<br />

25%<br />

Sonstiges<br />

4%<br />

Transport<br />

5%<br />

Essen<br />

8%<br />

Handw erk<br />

10%<br />

Bau<br />

11%<br />

Handel<br />

23%<br />

Tab. 4-13:Betriebe im Informellen Sektor – Arbeitsbereiche (RJ) (nach<br />

IBGE, 1996)<br />

Es ist interessant, diese Informationen mit der Tabelle 4-14 zu vervollständigen,<br />

die die Zeit berücksichtigt, in der die Tätigkeit ausgeübt wird. Selbst<br />

wenn die Mehrzahl der Tätigkeiten in der Spalte mit weniger als 5 Jahren<br />

Beschäftigungsdauer ersch<strong>einen</strong>, kann man feststellen, dass insbesondere im<br />

Bau-, Dienstleistungs- und im technischen Bereich die Höhe der seit über<br />

6 Jahren ausgeübten Tätigkeiten sehr stabil ist. Der Bereich Handel, in dem<br />

60% der Tätigkeiten auch weniger als 5 Jahre ausgeübt werden, kann Anlass<br />

zu der Interpretation sein, dass tatsächlich viele in diesem Bereich arbeiten,<br />

die gerade eine Notsituation überbrücken müssen.<br />

61


62<br />

Total<br />

weniger als 5<br />

Jahre<br />

6 bis 10 Jahre<br />

mehr als 10<br />

Jahre<br />

43.642 51% 21% 28%<br />

50.442 34% 28% 38%<br />

100.775 60% 20% 20%<br />

35.181 66% 20% 13%<br />

23.812 42% 26% 32%<br />

111.410 35% 24% 41%<br />

62.176 39% 23% 37%<br />

16.982 78% 16% 7%<br />

444.420 47% 23% 30%<br />

Tab: 4-14: Betriebe im Informellen Sektor nach Arbeitsbereich und Dauer<br />

der Existenz (RJ)(nach: IBGE, 1996)<br />

Der Tabelle 4-15 kann man entnehmen, dass fast 90% der Betriebe mehr als<br />

<strong>einen</strong> Minimallohn erwirtschaften. Davon gehen allerdings noch die betrieblichen<br />

Ausgaben ab, und viele sind keine Einpersonenbetriebe. Beeindrukkend<br />

hoch ist die Zahl der Betriebe im Bereich Handel, die mehr als<br />

5.000 USD Einkommen erzielen.<br />

Die nachfolgende Tabelle 4-16 zeigt, dass im Bereich der technischen Dienste<br />

die höchsten Gewinne zu erzielen sind, gefolgt vom Transport und Handel.<br />

Die Bereiche Handel und technische Dienste haben <strong>einen</strong> überdurchschnittlichen<br />

Kapitalbedarf, während dieser im Bau- und Dienstleistungssektor am<br />

geringsten ist. Während im Handel auch die höchsten Ausgaben zu verzeichnen<br />

sind (zwei Drittel der Einnahmen), liegen diese im Baubereich am niedrigsten.


Einkommen<br />

(USD)<br />

Summe<br />

Handwerk<br />

Bau Handel<br />

Lebensmittel<br />

Transport<br />

Dienstleistungen<br />

techn.<br />

Sonstiges<br />

Dienste<br />

1 bis 50 13.661 3% 5% 2% 2% 2% 0% 7% 0% 5%<br />

51 bis 100 36.164 8% 14% 6% 9% 3% 1% 13% 2% 8%<br />

101 bis 200 74.984 17% 14% 24% 14% 16% 2% 28% 2% 19%<br />

201 bis 500 122.791 28% 26% 49% 23% 34% 21% 29% 16% 27%<br />

501 bis 1.000 80.931 18% 17% 12% 21% 12% 26% 13% 25% 34%<br />

1.001 bis 2.000 53.602 12% 9% 2% 10% 19% 33% 5% 27% 3%<br />

2.001 bis 5.000 38.072 9% 8% 5% 12% 9% 16% 4% 15% 1%<br />

5.001 und mehr 11.175 3% 2% 0% 6% 3% 1% 0% 4% 3%<br />

ohne Angaben 13.040 2% 5% 0% 3% 2% 0% 1% 9% 0%<br />

Summe 444.420 100% 100% 100% 100% 100% 100% 100% 100% 100%<br />

Tab. 4-15: Betriebe im Informellen Sektor nach Arbeitsbereich und monatlichem Einkommen in USD (RJ) (nach IBGE,<br />

1996)<br />

63


64<br />

Einnahmen Ausgaben Differenz<br />

Handwerk 902 344 558<br />

Bau 451 63 388<br />

Handel 2.149 1.411 738<br />

Lebensmittel 1.080 619 461<br />

Transport 1.292 518 774<br />

Dienstleistungen 477 177 300<br />

Techn. Dienste 1.550 427 1.123<br />

Sonstiges 608 64 544<br />

Durchschnittswerte 1.131 544 587<br />

Tab. 4-16:Einnahmen und Ausgaben der Betriebe nach Arbeitsbereich (in<br />

USD) (RJ) )(nach IBGE, 1996)<br />

In der Tabelle 4-17 sieht man, dass die Zeile ‚Ware zum Wiederverkauf‘ <strong>für</strong><br />

den Handel besonders wichtig ist. Die Ausgaben der Betriebsbesitzer <strong>für</strong><br />

Rohmaterial und Arbeitskraft sind fast identisch.<br />

In der Tabelle 4-18 zeigt sich die Bedeutung des Handels <strong>für</strong> den Informellen<br />

Sektor. Die Ware <strong>für</strong> den Wiederverkauf nimmt den größten Teil der<br />

Ausgaben in Anspruch.<br />

Die Tabellen 4-19 und 4-20 machen das begrenzte Investitionspotenzial des<br />

Informellen Sektors deutlich. Während Tabelle 4-18 darlegt, welcher Art die<br />

Investitionen sind und dass Betriebe mit mehreren Mitarbeitern das 7-8-fache<br />

investieren, zeigt Tabelle 4-19, dass praktisch zwei Drittel der Betriebe<br />

nicht und lediglich 9 % investieren können. Branchenbedingt sind natürlich<br />

erhebliche Unterschiede feststellbar, da bspw. im Dienstleistungsbereich<br />

weniger Investitionen erforderlich sind als im Handwerks- und Transportbereich.


Einpersonenbetrieb<br />

Betrieb mit<br />

Mitarbeitern<br />

Ausgaben pro Betrieb 412 1.887<br />

davon <strong>für</strong>:<br />

Rohmaterial 46 201<br />

Ware zum Wiederverkauf 239 923<br />

Arbeitskraft 4 264<br />

Soz. Ausgaben 2 76<br />

Strom, Wasser, Telefon 9 61<br />

Miete (Immobilien) 10 61<br />

Miete (Maschinen) 1 1<br />

Miete (Fahrzeug) 1 10<br />

Benzin 28 30<br />

Reparaturdienste 9 18<br />

Andere Dienste 8 34<br />

Steuern 3 55<br />

Sonstiges 52 153<br />

Tab. 4-17:Durchschnittliche Ausgaben der Betriebe des Informellen Sektors<br />

(in USD) im Oktober des Erhebungsjahres (1994) nach Art des<br />

Betriebes und der Ausgaben (RJ) (nach IBGE, 1996)<br />

65


Augaben pro Betrieb<br />

davon <strong>für</strong>:<br />

Summe<br />

544<br />

Handwerk<br />

343<br />

Bau<br />

62<br />

Hande<br />

l<br />

1.411<br />

Lebensmittel<br />

Transport<br />

Dienstleistungen<br />

178<br />

techn.<br />

Dienste<br />

Sonstiges<br />

Rohmaterial<br />

60 222 19 24 121 0 64 33 1<br />

Ware zum Wiederverkauf 300 1 0 1.107 373 0 31 85 0<br />

Arbeitskraft<br />

27 24 30 37 17 10 14 52 20<br />

Soz. Ausgaben<br />

8 4 0 16 6 1 2 23 1<br />

Strom, Wasser, Telefon 14 9 0 15 23 0 8 36 4<br />

Miete (Immobilien) 15 4 0 15 20 1 4 52 30<br />

Miete (Maschinen) 1 0 0 0 1 0 3 3 0<br />

Miete (Fahrzeug)<br />

2 0 0 6 0 10 1 0 0<br />

Benzin<br />

28 5 5 17 6 348 6 18 4<br />

Reparaturdienste<br />

10 0 0 8 3 85 2 20 0<br />

Andere Dienste<br />

10 17 1 6 11 22 11 15 0<br />

Steuern<br />

8 3 0 11 12 2 3 22 2<br />

Sonstiges<br />

61 54 7 149 25 37 29 68 3<br />

Tab. 4-18: Monatliche Ausgaben der Betriebe im Informellen Sektor nach Arbeitsbereich<br />

und Ausgabenart (in USD) (nach IBGE, 1996)<br />

618<br />

516<br />

427<br />

65<br />

66


Summe<br />

Einpersonenbetrieb<br />

Betrieb mit<br />

Mitarbeitern<br />

Immobilien u. ä. 1.958 1.013 11.538<br />

Werkzeuge 119 74 580<br />

Maschinen 209 143 877<br />

Ausrüstung 309 225 1.153<br />

Fahrzeuge 793 706 1.673<br />

Anderes 115 85 425<br />

Summe 3.503 2.246 16.247<br />

Tab. 4-19:Durchschnittlicher Wert der Einrichtungen der Betriebe des<br />

Informellen Sektors (in USD) nach Art des Betriebes und der Einrichtungen<br />

(RJ) (nach IBGE, 1996)<br />

Summe<br />

Nicht<br />

investiert<br />

Investiert<br />

ohne<br />

Angaben<br />

Handwerk 43.642 60% 15% 24%<br />

Bau 50.442 85% 6% 8%<br />

Handel 100.775 43% 5% 51%<br />

Essen 35.181 69% 10% 21%<br />

Transport 23.812 83% 14% 3%<br />

Dienstleistungen 111.410 80% 11% 10%<br />

Techn. Dienste 62.176 55% 11% 34%<br />

Sonstiges 16.982 28% 7% 65%<br />

Summe 444.420 64% 9% 26%<br />

Anm.: An 100 % fehlende Angaben sind auf Rundungen zurückzuführen<br />

Tab. 4-20:Betriebe des Informellen Sektors, in denen im Erhebungsjahr<br />

(1994) Investitionen getätigt wurden, nach Arbeitsbereich (nach<br />

IBGE, 1996)<br />

Der Kredit ist ein besonderes Problem <strong>für</strong> diejenigen, die im Städtischen<br />

Informellen Sektor arbeiten. Eine der großen Schwierigkeiten besteht im<br />

Zugang zu den Bankkrediten. Anhand der Tabelle 4-21 kann man ersehen,<br />

dass nur der Bereich des Transportes im Vergleich zu anderen Bereichen des<br />

Informellen Sektors nennenswerte Kredite (hier sind Bankkredite gemeint)<br />

erhält, da hier das eigene Fahrzeug als Garantie dienen kann. Die übrigen<br />

67


68<br />

Bereiche stützen sich bei ihren Investitionen vor allem auf früher erzielte<br />

Gewinne oder müssen sich nach anderen Finanzierungsquellen umsehen.<br />

Summe<br />

aus früheren<br />

Gewinnen<br />

Kredit<br />

andere<br />

Quellen<br />

Handwerk 6.656 50% 4% 46%<br />

Bau 3.235 86% 0% 14%<br />

Handel 5.398 68% 0% 32%<br />

Essen 3.449 64% 0% 36%<br />

Transport 3.372 52% 17% 28%<br />

Dienstleistungen 11.970 74% 4% 18%<br />

Techn. Dienste 6.873 77% 0% 23%<br />

Sonstiges 1.109 90% 0% 10%<br />

Summe 42.062 69% 3% 27%<br />

Tab. 4-21:Anzahl der investierenden Betriebe des Informellen Sektors nach<br />

Arbeitsbereich und Ursprung der Investitionsmittel im Erhebungsjahr<br />

(1994) (nach IBGE, 1996)<br />

Der nachfolgenden Tabelle 4-22 ist zu entnehmen, dass etwa 90 % der Betriebseigentümer<br />

zu Beginn ihrer Arbeit im Informellen Sektor kein Fremdkapital<br />

in Anspruch nahmen, da sie entweder keines benötigten (33 %), über<br />

ausreichende Eigenmittel verfügten (55 %) oder keine Kredite erhielten.<br />

Lediglich etwa 9 % nahmen Kredite auf, die sie überwiegend von den Verwandten<br />

erhielten. Der Vergleich zwischen Männern und Frauen zeigt, dass<br />

Männer über größere Eigenmittel verfügen, Frauen hingegen häufiger kein<br />

Kapital benötigen oder sich dieses in verstärktem Maße über Kredite besorgen.<br />

Die Tabelle 4-23 macht deutlich, dass Betriebe <strong>für</strong> Maschinen und Ausrüstung,<br />

Fahrzeuge sowie in begrenztem Maße Rohstoffe und Handelsware<br />

Kredite sowohl von Banken, Lieferenten als auch von ‚Agiotas‘ erhalten, da<br />

diese <strong>Materialien</strong> i.d.R. gleichzeitig als Garantien dienen. Kredite <strong>für</strong> Anderes,<br />

aber auch <strong>für</strong> Rohstoffe und Handelsware werden überwiegend bei<br />

Freunden und Verwandten aufgenommen. Frühere Schulden werden ebenfalls<br />

über Bankkredite oder Freunde/Verwandte abgelöst.


Geldquellen Summe Männer Frauen<br />

Eigenmittel 258.413 54,5% 169.504 58,4% 88.909 48,4%<br />

Abfindung 54.035 11,4% 46.687 16,1% 7.348 4,0%<br />

Erbschaft 11.677 2,5% 6.334 2,2% 5.343 2,9%<br />

Ersparnisse 42.316 8,9% 27.120 9,3% 15.196 8,3%<br />

andere Eigenmittel 150.385 31,7% 89.363 30,8% 61.022 33,3%<br />

Kredit 43.037 9,1% 21.640 7,5% 21.397 11,7%<br />

Kredit von Verwandten 39.028 8,2% 18.690 6,4% 20.338 11,1%<br />

Bankkredit 2.093 0,4% 1.406 0,5% 687 0,4%<br />

Kredit von Agiotas *) 1.916 0,4% 1.544 0,5% 372 0,2%<br />

Mittel des Teilhabers 7.658 1,6% 2.819 1,0% 4.839 2,6%<br />

Kein Kapital benötigt 156.978 33,1% 91.643 31,6% 65.335 35,6%<br />

Andere 4.865 1,0% 2.389 0,8% 2.476 1,3%<br />

Summe 473.938 290.427 183.511<br />

*) Kredite von Privatpersonen<br />

Tab. 4-22:Betriebseigentümer des Informellen Sektors nach Geschlecht und<br />

Art der Geldquellen zu Beginn der Arbeit in diesem Bereich (nach<br />

IBGE, 1996)<br />

Verwendungszweck<br />

Anzahl der<br />

Kreditnehmer<br />

Kredit von<br />

Freunden<br />

oder Verwandten<br />

Kredit<br />

von<br />

Banken<br />

Kredit von<br />

Liefe-<br />

ranten<br />

Kredit von<br />

Agiotas *)<br />

69<br />

Kredit von<br />

anderen<br />

Maschinen und<br />

Ausrüstung<br />

899 43% 26% 31% 0% 0%<br />

Fahrzeuge 638 4% 77% 0% 19% 0%<br />

Rohstoffe und<br />

Handelsware<br />

3.852 68% 20% 3% 5% 4%<br />

Frühere Schulden 1.429 27% 73% 0% 0% 0%<br />

Anderes 305 96% 4% 0% 0% 0%<br />

Summe<br />

*) Kredite von Privatpersonen<br />

7.122 52% 36% 5% 4% 2%<br />

Tab. 4-23:Betriebe im Informellen Sektor, die in den letzten 3 Monaten (Aug.<br />

– Okt. 1994) Kredit erhalten haben, nach Geldquelle und Verwendungszweck<br />

(nach IBGE, 1996)<br />

Wie der Tabelle 4-24 zu entnehmen ist, lässt sich ein Teil der Betriebe in<br />

Raten bezahlen, wobei den Interviewten selbst vielleicht nicht bewusst ist,<br />

dass sie dadurch dem Abnehmer <strong>einen</strong> Kredit einräumen. Am stärksten sind<br />

hierbei die technischen Dienste und der Handel vertreten. Die große Mehr-


70<br />

zahl aber lässt sich bar bzw. <strong>einen</strong> Teil in bar und den Rest in Raten bezahlen.<br />

Anzahl der Art des Verkaufs<br />

Arbeitsbereich Betriebe<br />

bar auf Raten<br />

bar und<br />

auf Raten<br />

andere<br />

Form<br />

ohne<br />

Angaben<br />

Handwerk 43.642 65,6% 3,3% 29,1% 1,1% 0,9%<br />

Bau 50.442 55,0% 9,4% 33,9% 0,7% 1,0%<br />

Handel 100.775 59,3% 10,1% 29,8% 0,0% 0,7%<br />

Essen 35.181 68,4% 0,9% 28,9% 0,0% 1,8%<br />

Transport 23.812 83,3% 7,8% 5,9% 2,0% 1,0%<br />

Dienstleistungen 111.410 80,0% 1,7% 17,0% 0,4% 0,9%<br />

Techn. Dienste 62.176 54,4% 15,8% 26,6% 1,8% 1,4%<br />

Sonstiges 16.982 89,7% 3,0% 6,6% 0,7% 0,0%<br />

Summe 444.420 67,1% 6,9% 24,3% 0,7% 1,0%<br />

Tab. 4-24:Betriebe im Informellen Sektor nach Arbeitsbereich und Verkaufsart<br />

(nach IBGE, 1996)<br />

Nach Tabelle 4-25 haben 37 % der Betriebe des Informellen Sektors keine<br />

Schwierigkeiten. Das größte Problem stellt die fehlende Kundschaft dar,<br />

wobei dies die Betriebe mit Mitarbeitern stärker als die Einpersonenbetriebe<br />

betrifft. Mit erheblichem Abstand folgen Probleme mit der Konkurrenz, fehlende<br />

Eigenmittel und der geringe Gewinn. Fehlende Kredite wurden ebenso<br />

wie behördliche Probleme nur von jeweils 2 % der Interviewten genannt.<br />

Art der<br />

Schwierigkeiten<br />

Summe<br />

Einpersonenbetrieb<br />

Betrieb mit<br />

Mitarbeitern<br />

Keine Schwierigkeiten 164.353 37% 37% 33%<br />

Fehlende Kundschaft 120.991 27% 27% 30%<br />

Viel Konkurrenz 39.406 9% 9% 8%<br />

Keine Eigenmittel 33.287 7% 7% 8%<br />

Geringer Gewinn 30.038 7% 7% 9%<br />

Keine angemessenen<br />

Arbeitsmittel<br />

22.461 5% 6% 0%<br />

Kein Kredit 7.993 2% 1% 5%<br />

Behördliche Probleme 7.204 2% 2% 1%<br />

Arbeitskraft 2.533 1% 0% 3%<br />

Andere Schwierigkeiten 15.440 3% 3% 3%<br />

Summe der Betriebe 444.420 100% 404.544 39.876<br />

Tab. 4-25:Betriebe des Informellen Sektors nach Art der Schwierigkeiten im<br />

Vorjahr (nach IBGE, 1996)


Das Verhältnis zwischen fester und nicht fester Kundschaft bei Betrieben des<br />

Informellen Sektors ist ausgeglichen, allerdings haben Betriebe mit Mitarbeitern<br />

im Vergleich zu den Einpersonenbetrieben <strong>einen</strong> höheren festen Kundenstamm.<br />

Auffällig ist der geringe feste Kundenstamm im Bau- und Transportbereich.<br />

Die Fluktuation im Baubereich ist natürlich auch darauf zurückzuführen,<br />

dass die selben Kunden selten mehrere Häuser bauen (s. Tabelle 4-26).<br />

Betriebe des Informellen Sektors arbeiten überwiegend <strong>für</strong> Einzelpersonen<br />

(s. Tabelle 4-27), im Baubereich sogar zu 100 % und im Dienstleistungsbereich<br />

zu mehr als 85 %. Aber diese Betriebe arbeiten nicht nur <strong>für</strong> sich und<br />

die Nachbarn in der Favela, sondern auch <strong>für</strong> Großbetriebe des Formellen<br />

und Informellen Sektors. Besonders deutlich wird dies im Transportsektor,<br />

wo 100 % der Betriebe mit Mitarbeitern <strong>für</strong> Großbetriebe arbeiten. In den<br />

Bereichen Handel und Handwerk arbeiten hingegen die Betriebe mit Mitarbeitern<br />

in erheblichem Umfang <strong>für</strong> Kleinbetriebe.<br />

Die Tabelle 4-28 gibt die Kriterien an, die <strong>für</strong> die Preisbildung ausschlaggebend<br />

sind. Danach stehen die Kriterien ‚Verhandlung‘ und ‚Konkurrenz‘ an<br />

den ersten Stellen. Des weiteren sind noch die Kosten von Bedeutung. Bei<br />

Betrieben mit Mitarbeitern steht die Konkurrenz an erster Stelle und im Vergleich<br />

zu den Einpersonenbetrieben tritt die Verhandlung in einem geringeren<br />

Maße auf. Von Bedeutung sind hier vor dem Kostenfaktor noch andere<br />

Faktoren, die nicht weiter spezifiziert werden. Die Festlegung durch Kunden<br />

beträgt nur 1%.<br />

In nahezu 50 % der Betriebe des Informellen Sektors existiert eine Buchführung<br />

(s. Tabelle 4-29). Auch wenn diese nicht notwendigerweise offiziellen<br />

Kriterien entspricht, so versuchen sie doch <strong>einen</strong> Überblick über ihre Einnahmen<br />

und Ausgaben zu erlangen. Bei Betrieben mit Mitarbeitern liegt der<br />

Anteil sogar bei 90 %, wobei diese sogar in 40 % der Fälle <strong>einen</strong> Buchhalter<br />

hinzuziehen.<br />

71


Einpersonenbetrieb<br />

keine feste<br />

Kundschaft<br />

Feste Kundschaft<br />

Betrieb mit<br />

Mitarbeitern<br />

keine feste<br />

Kundschaft<br />

Feste Kundschaft<br />

Summe<br />

keine feste<br />

Kundschaft<br />

Feste Kundschaft<br />

Summe<br />

404.544<br />

200.771<br />

202.631<br />

39.876<br />

16.456<br />

23.420<br />

443.278<br />

217.227<br />

226.051<br />

50%<br />

50%<br />

41%<br />

59%<br />

49%<br />

51%<br />

Handwerk<br />

55%<br />

45%<br />

41%<br />

59%<br />

54%<br />

46%<br />

Bau<br />

77%<br />

23%<br />

88%<br />

12%<br />

78%<br />

22%<br />

Handel<br />

50%<br />

50%<br />

68%<br />

32%<br />

51%<br />

49%<br />

Lebensmittelbereich<br />

44%<br />

56%<br />

40%<br />

60%<br />

43%<br />

57%<br />

Transport<br />

63%<br />

37%<br />

88%<br />

12%<br />

64%<br />

36%<br />

Dienstleistungen<br />

40%<br />

60%<br />

35%<br />

65%<br />

40%<br />

60%<br />

Techn.<br />

Dienste<br />

Tab. 4-26: Betriebe im Informellen Sektor nach Arbeitsbereich und Art der Kundschaft (nach IBGE, 1996)<br />

42%<br />

56%<br />

7%<br />

93%<br />

37%<br />

63%<br />

Sonstiges<br />

32%<br />

68%<br />

0%<br />

100%<br />

25%<br />

75%<br />

72


Einpersonenbetrie<br />

b<br />

Personen<br />

Großbetriebe<br />

Kleinbetriebe<br />

Betrieb mit<br />

Mitarbeitern<br />

Personen<br />

Großbetriebe<br />

Kleinbetriebe<br />

Summe<br />

404.544<br />

200.771<br />

202.631<br />

39.876<br />

16.456<br />

23.420<br />

443.278<br />

Summe<br />

83,4%<br />

4,5%<br />

11,3%<br />

74,9%<br />

10,4%<br />

14,7%<br />

Handwerk<br />

73,8%<br />

13,5%<br />

12,0%<br />

43,0%<br />

4,0%<br />

53,0%<br />

Bau<br />

100,0%<br />

0,0%<br />

0,0%<br />

100,0%<br />

0,0%<br />

0,0%<br />

Handel<br />

88,6%<br />

1,1%<br />

10,2%<br />

71,3%<br />

0,0%<br />

28,6%<br />

Lebensmittelbereich<br />

97,8%<br />

0,0%<br />

2,2%<br />

77,8%<br />

22,1%<br />

0,0%<br />

Transport<br />

58,2%<br />

19,1%<br />

22,8%<br />

0,0%<br />

100,0%<br />

0,0%<br />

Dienstleistungen<br />

86,8%<br />

0,6%<br />

11,8%<br />

81,4%<br />

4,9%<br />

13,7%<br />

Techn.<br />

Dienste<br />

65,2%<br />

12,7%<br />

19,0%<br />

70,4%<br />

19,3%<br />

10,3%<br />

Sonstiges<br />

88,8%<br />

5,3%<br />

5,9%<br />

100,0%<br />

0,0%<br />

0,0%<br />

Personen<br />

82,5% 69,9% 100,0% 87,6% 95,6% 57,5% 86,6% 66,3% 92,1%<br />

Großbetriebe 217.227 5,1% 12,3% 0,0% 1,1% 2,4% 19,9% 0,8% 14,2% 3,8%<br />

Kleinbetriebe 226.051 11,6% 17,1% 0,0% 11,3% 2,0% 22,5% 11,9% 17,2% 4,2%<br />

Tab. 4-27: Betriebe im Informellen Sektor, die feste Kunden haben, nach Arbeitsbereich und Art der<br />

Kundschaft (nach IBGE, 1996)<br />

73


74<br />

Summe<br />

Einpersonenbetrieb<br />

Betrieb mit<br />

Mitarbeitern<br />

Konkurrenz 103.793 23% 23% 29%<br />

Kosten 60.979 14% 13% 16%<br />

Verhandlung 187.669 42% 44% 27%<br />

Festlegung durch Kunden 5.596 1% 1% 0%<br />

nach Tabelle 48.112 11% 11% 9%<br />

andere Faktoren 32.770 7% 6% 17%<br />

ohne Angaben 5.502 1,2% 1,2% 1,5%<br />

Summe (abs. Zahlen) 444.420 404.544 39.876<br />

Tab. 4-28:Betriebe im Informellen Sektor nach Betriebsart und Kriterien zur<br />

Preisbildung (nach IBGE, 1996)<br />

Summe<br />

Einpersonenbetrieb<br />

Betrieb mit<br />

Mitarbeitern<br />

keine Buchführung 203.463 45,8% 49,3% 9,7%<br />

eigene Buchführung 204.065 45,9% 45,6% 49,1%<br />

mit Buchhalter 32.523 7,3% 4,1% 39,8%<br />

andere Form 3.363 0,8% 0,7% 1,2%<br />

ohne Angaben 1.006 0,2% 0,2% 0,3%<br />

Summe 444.420 100% 100% 100%<br />

Tab. 4-29:Betriebe im Informellen Sektor nach Betriebs- und Buchführungsart<br />

(nach IBGE, 1996)<br />

Neben der Buchhaltung gibt es jedoch weitere Kriterien (s. Tabelle 4-30), die<br />

Auskunft über den Formalisierungsgrad geben. So haben etwa 22 % <strong>einen</strong><br />

Gewerbeschein und 13 % haben sich einer Gewerkschaft bzw. Genossenschaft<br />

angeschlossen. Dabei gibt es jedoch erhebliche Schwankungen von<br />

66 % im Transportbereich bis zu 2 % im Baubereich.


Gewerbeschein<br />

Zugehörigkeit zur<br />

Gewerkschaft<br />

oder<br />

Eingetragener<br />

Betrieb<br />

Andere Art der<br />

Legalisierung<br />

97.028<br />

56.387<br />

13.374<br />

16.792<br />

Summe<br />

22%<br />

13%<br />

3%<br />

4%<br />

Handwerk<br />

10%<br />

5%<br />

3%<br />

3%<br />

Bau<br />

2%<br />

2%<br />

0%<br />

0%<br />

Handel<br />

25%<br />

7%<br />

6%<br />

7%<br />

Lebensmittelbereich<br />

22%<br />

7%<br />

3%<br />

12%<br />

Transport<br />

66%<br />

51%<br />

0%<br />

0%<br />

Dienstleistungen<br />

9%<br />

5%<br />

1%<br />

1%<br />

Techn.<br />

Dienste<br />

Summe erhobener<br />

444.420<br />

Betriebe<br />

Tab. 4-30: Betriebe im Informellen Sektor nach Arbeitsbereich und Formalisierungsgrad (nach IBGE,<br />

1996)<br />

44%<br />

42%<br />

6%<br />

5%<br />

Sonstiges<br />

32%<br />

4%<br />

1%<br />

1%<br />

75


76<br />

Die Tabelle 4-31 macht deutlich, dass die Entlassung als Hauptgrund angesehen<br />

werden kann, in den Städtischen Informellen Sektor zu wechseln. Das<br />

gilt sowohl <strong>für</strong> diejenigen, die allein arbeiten, als auch <strong>für</strong> diejenigen, die<br />

<strong>einen</strong> Betrieb mit Angestellten eröffnen. Ein nicht unerheblicher Anteil der<br />

Interviewten war vorher in keinem festen Beschäftigungsverhältnis.<br />

Gründe Summe<br />

Einpersonenbetrieb<br />

Betrieb mit<br />

Mitarbeitern<br />

entlassen 59.162 28% 54.358 30% 4.804 18%<br />

in Rente gegangen 10.651 5% 8.301 5% 2.350 9%<br />

persönliche Gründe 45.434 22% 36.645 20% 8.789 32%<br />

geringer Verdienst 28.121 14% 23.867 13% 4.253 16%<br />

andere Gründe 34.265 16% 28.190 16% 6.075 22%<br />

keine Arbeit vorher 30.272 15% 29.418 16% 854 3%<br />

Summe 208.075 100% 180.949 100% 27.126 100%<br />

Tab. 4-31:Eigentümer, die vor weniger als 5 Jahren in den Informellen Sektor<br />

gewechselt sind, nach Art des Betriebes und Grund des Verlassens<br />

des letzten Arbeitsplatzes (nach IBGE, 1996)<br />

Ergänzend zur vorherigen Tabelle 4-31, die die fremdbestimmten Gründe <strong>für</strong><br />

den Wechsel in den Informellen Sektor aufzeigt, führt die nachfolgende<br />

Tabelle 4-32 die Motivation <strong>für</strong> diesen Schritt auf. Der Wunsch nach Unabhängigkeit<br />

übertrifft dabei beträchtlich das Kriterium ‚keine Arbeit gefunden‘.<br />

Der hohe Anteil, insbesondere bei den Frauen, diese Tätigkeit als<br />

Ergänzung des Einkommens durchzuführen, bezieht sich auf die Unterstützung<br />

des Hauptverdieners, bei den Männern ist es überwiegend die Ergänzung<br />

einer Hauptarbeit.<br />

Der weitaus größte Teil arbeitet ausschließlich im Informellen Sektor (etwa<br />

96 %). Von sehr geringer Bedeutung ist die Kopplung mit einer weiteren<br />

Arbeit im privaten Bereich (0,4 %), als Ergänzung zur Arbeit im öffentlichen<br />

Bereich gehen 3,4 % einer weiteren Beschäftigung im Informellen Sektor<br />

nach. Nach Branchen betrachtet, ist der Anteil der Weiterbeschäftigung bei<br />

den technischen Diensten am höchsten (s. Tabelle 4-33).


Gründe Summe Männer Frauen<br />

Keine Arbeit gefunden 65.275 14% 17% 9%<br />

Möglichkeit zur Gründung einer<br />

Gesellschaft<br />

15.197 3% 3% 4%<br />

Flexible Arbeitszeit 18.165 4% 2% 7%<br />

Wunsch nach Unabhängigkeit 120.424 25% 31% 17%<br />

Familientradition 32.466 7% 8% 5%<br />

Ergänzung des Einkommens 101.077 21% 12% 37%<br />

Vorhandene Erfahrung 53.757 11% 14% 8%<br />

Günstige Geschäftsgelegenheit 34.695 7% 9% 5%<br />

Nebenbeschäftigung 6.026 1% 1% 1%<br />

Anderes 25.465 5% 4% 7%<br />

Keine Angabe 1.391 0% 0% 0%<br />

Summe (absolut) 473.938 290.427 183.511<br />

Tab. 4-32:Gründe der Eigentümer, in den Informellen Sektor zu wechseln<br />

(nach IBGE, 1996) (Mehrfachnennungen möglich)<br />

Zweite Arbeit im Arbeit nur im<br />

Arbeitsbereich<br />

öffentlichen<br />

Bereich<br />

privaten Bereich informellen Bereich<br />

Handwerk 403 0,9% 218 0,5% 45.080 98,6%<br />

Bau 909 1,9% 388 0,8% 46.421 97,3%<br />

Handel 2.089 2,0% 0 0,0% 103.127 98,0%<br />

Essen 367 0,9% 469 1,2% 39.321 97,9%<br />

Transport 492 2,1% 0 0,0% 23.211 97,9%<br />

Dienstleistungen 2.147 2,0% 327 0,3% 107.118 97,7%<br />

Techn. Dienste 7.893 12,3% 274 0,4% 56.067 87,3%<br />

Sonstiges 1.182 7,6% 0 0,0% 14.438 92,4%<br />

Summe 15.483 3,4% 1.675 0,4% 434.783 96,2%<br />

Tab. 4-33:Beschäftigte mit mehr als einer Arbeit nach Arbeitsbereich im<br />

Informellen Sektor beziehungsweise Art der zweiten Arbeit (nach<br />

IBGE, 1996)<br />

77


78<br />

Die Angestellten in den Betrieben mit Mitarbeitern stehen in zwei Drittel der<br />

Fälle nicht in einem verwandtschaftlichen Verhältnis zu den Eigentümern<br />

(s. Tabelle 4-34). In etwa 13 % der Fälle arbeitet der Ehepartner im Betrieb<br />

mit, in weiteren 10 % ein anderes Familienmitglied außerhalb der Kleinfamilie.<br />

Im Vergleich der Geschlechter ist bei den Frauen der Bezug zur Familie<br />

etwa 10 % höher als bei Männern.<br />

Verwandschaftsgrad Summe Männer Frauen<br />

Nicht verwandt 58.114 67,5% 32.481 73,4% 25.633 61,4%<br />

Ehepartner 10.945 12,7% 7.116 16,1% 3.828 9,2%<br />

Kind 4.215 4,9% 28 0,1% 4.186 10,0%<br />

Anderer<br />

Verwandschaftsgrad<br />

9.143 10,6% 4.203 9,5% 4.940 11,8%<br />

Keine Angaben 3.619 4,2% 437 1,0% 3.182 7,6%<br />

Summe 86.036 100,0% 44.266 100,0% 41.770 100,0%<br />

Tab. 4-34:Angestellte nach Geschlecht und verwandtschaftlichem Bezug zum<br />

Eigentümer (nach IBGE, 1996)<br />

Trotz der in Tabelle 4-25 dargelegten Schwierigkeiten ist der Anteil derjenigen,<br />

die den Städtischen Informellen Sektor verlassen möchten, um Arbeit<br />

im Formellen Sektor zu suchen (8,1 %), gering; am stärksten ist dieser<br />

Wunsch im Baubereich ausgeprägt. Demgegenüber wollen etwa 37 % auf<br />

gleichem Niveau weiterarbeiten und nahezu 40 % sogar ihr Geschäft erweitern<br />

(s. Tabelle 4-35).<br />

Die Tabelle 4-36 zeigt, dass 60 % der im Städtischen Informellen Sektor<br />

Tätigen in Rio de Janeiro geboren wurden und nur ein geringerer Anteil aus<br />

anderen Orten Brasiliens zugewandert ist. Gleichzeitig ist dabei jedoch feststellbar,<br />

dass je jünger die Beschäftigten sind, desto höher der Anteil an in<br />

Rio de Janeiro Geborenen ist. Demgegenüber wächst mit dem Alter auch der<br />

Anteil an den außerhalb von Rio de Janeiro Geborenen, die jedoch bereits<br />

seit mehr als 5 Jahre in dieser Stadt wohnen.


Geschäft erweitern<br />

auf gleichem Niveau<br />

weiterarbeiten<br />

Arbeitsbereich<br />

verändern<br />

Arbeit im Formellen<br />

Sektor suchen<br />

keine Vorstellung<br />

andere<br />

ohne Angaben<br />

Summe erhobener<br />

Betriebe<br />

175.152<br />

165.581<br />

30.559<br />

36.133<br />

27.909<br />

8.415<br />

670<br />

444.420<br />

Summe<br />

39,4%<br />

37,3%<br />

6,9%<br />

8,1%<br />

6,3%<br />

1,9%<br />

0,2%<br />

100%<br />

Handwerk<br />

48,2%<br />

31,2%<br />

5,6%<br />

7,0%<br />

6,6%<br />

1,4%<br />

0,0%<br />

43.642<br />

Bau<br />

21,8%<br />

40,6%<br />

5,4%<br />

16,6%<br />

9,8%<br />

5,8%<br />

0,0%<br />

50.442<br />

Handel<br />

40,7%<br />

32,9%<br />

12,1%<br />

8,0%<br />

5,3%<br />

0,6%<br />

0,4%<br />

100.775<br />

Lebensmittelbereich<br />

39,5%<br />

40,9%<br />

4,9%<br />

5,7%<br />

7,3%<br />

1,8%<br />

0,0%<br />

35.181<br />

Transport<br />

26,7%<br />

53,3%<br />

5,7%<br />

8,6%<br />

2,5%<br />

3,3%<br />

0,0%<br />

23.812<br />

Dienstleistungen<br />

41,4%<br />

34,9%<br />

6,3%<br />

9,0%<br />

6,7%<br />

1,7%<br />

0,0%<br />

111.410<br />

Techn.<br />

Dienste<br />

43,5%<br />

44,3%<br />

3,2%<br />

1,6%<br />

5,5%<br />

1,5%<br />

0,4%<br />

62.176<br />

Tab. 4-35: Betriebe im Informellen Sektor nach Arbeitsbereich und Zukunftsplänen (nach IBGE, 1996)<br />

Sonstiges<br />

50,9%<br />

28,2%<br />

6,9%<br />

9,4%<br />

4,1%<br />

0,5%<br />

0,0%<br />

16.982<br />

79


10 bis 17 Jahre<br />

18 bis 24 Jahre<br />

25 bis 39 Jahre<br />

40 bis 59 Jahre<br />

über 60 Jahre<br />

Summe<br />

Alter<br />

Tab. 4-36:<br />

Summe<br />

3.207<br />

25.425<br />

181.227<br />

209.155<br />

51.403<br />

470.418<br />

In Rio<br />

geboren<br />

89,9%<br />

78,4%<br />

70,3%<br />

52,3%<br />

45,2%<br />

60,1%<br />

Immer in<br />

Rio<br />

gewohnt<br />

85,9%<br />

74,1%<br />

60,5%<br />

41,3%<br />

35,3%<br />

50,1%<br />

Außerhalb von Rio<br />

gewohnt<br />

zurückgekehrt vor<br />

mehr als<br />

5 Jahren<br />

4,0%<br />

2,5%<br />

7,8%<br />

10,2%<br />

9,6%<br />

8,7%<br />

weniger<br />

als 5<br />

Jahren<br />

0,0%<br />

1,9%<br />

1,6%<br />

0,7%<br />

0,0%<br />

1,0%<br />

Außerhalb von Rio<br />

geboren<br />

wohnt in Rio seit<br />

mehr als 5<br />

Jahren<br />

0,0%<br />

6,2%<br />

27,3%<br />

47,0%<br />

53,0%<br />

37,5%<br />

weniger als<br />

5 Jahren<br />

10,1%<br />

15,4%<br />

2,5%<br />

0,7%<br />

1,8%<br />

2,4%<br />

Beschäftigte des Informellen Sektors in Rio de Janeiro nach Geburtsort und<br />

Alter (nach IBGE, 1996)<br />

80


Auch im Informellen Sektor ist ein hoher Anteil an Kinderarbeit anzutreffen.<br />

Nahezu 80 % begannen ihre Beschäftigung in diesem Sektor bereits bevor<br />

sie volljährig (18 Jahre) wurden, 7 % waren bei Arbeitsbeginn nicht einmal<br />

10 Jahre alt (s. Tabelle 4-37).<br />

Das Ausmaß der Kinderarbeit wird auch in einem Bericht der Zeitschrift<br />

Veja vom 31.03.1993 deutlich. Danach befanden sich von einer Gesamtzahl<br />

von 26,2 Millionen Kindern und Jugendlichen 7,2 Millionen auf dem<br />

Arbeitsmarkt. Davon waren 2,8 Millionen im Alter von 10 bis 14 Jahren und<br />

4,4 Millionen im Alter von 15 bis 17 Jahren.<br />

Alter bei<br />

Arbeitsbeginn<br />

Summe Männer Frauen<br />

unter 10 Jahre 33.617 7,1% 23.898 8,2% 9.719 5,3%<br />

10 bis 14 Jahre 173.544 36,6% 123.422 42,5% 50.122 27,3%<br />

15 bis 18 Jahre 172.093 36,3% 103.834 35,8% 68.259 37,2%<br />

19 bis 24 Jahre 67.451 14,2% 34.636 11,9% 32.814 17,9%<br />

25 bis 39 Jahre 18.148 3,8% 3.445 1,2% 14.703 8,0%<br />

40 bis 59 Jahre 5.527 1,2% 0 0,0% 5.527 3,0%<br />

über 60 Jahre 1.113 0,2% 255 0,1% 859 0,5%<br />

ohne Angaben 2.446 0,5% 938 0,3% 1.508 0,8%<br />

Summe 473.938 100% 290.427 100% 183.511 100%<br />

Tab. 4-37:Beschäftigte im Informellen Sektor nach Geschlecht und Alter bei<br />

Arbeitsbeginn (nach IBGE, 1996)<br />

Der Anteil der im Informellen Sektor angestellten Frauen und Männer<br />

(s. Tabelle 4-38) ist nahezu gleich, jedoch gibt es in einigen Bereichen<br />

erhebliche Unterschiede. So gibt es eine absolute Dominanz der Männer in<br />

den Bereichen Bau und Transport sowie eine Dominanz bei den Frauen im<br />

Bereich technische Dienste. Im wichtigsten Bereich des Handels ist der<br />

Anteil der Männer nur geringfügig höher als der der Frauen. Nicht enthalten<br />

ist in dieser Tabelle der Anteil der Hausangestellten.<br />

Während bei den Angestellten im Informellen Sektor das Verhältnis zwischen<br />

Männern und Frauen nahezu ausgeglichen ist, arbeiten insgesamt etwa<br />

50 % mehr Männer als Frauen in diesem Sektor (s. Tabelle 4-39). Gleichzeitig<br />

kehrt sich die Dominanz der Frauen im Bereich technische Dienste zugunsten<br />

der Männer um.<br />

81


82<br />

Arbeitsbereich Summe Männer Frauen<br />

absolut *) absolut *) **) absolut *) **)<br />

Handwerk 11.586 13% 5.020 11% 43% 6.567 16% 57%<br />

Bau 11.597 13% 11.181 25% 96% 416 1% 4%<br />

Handel 22.388 26% 12.033 27% 54% 10.355 25% 46%<br />

Essen 7.538 9% 3.215 7% 43% 4.323 10% 57%<br />

Transport 1.054 1% 1.054 2% 100% 0 0% 0%<br />

Dienstleistungen 11.987 14% 7.465 17% 62% 4.522 11% 38%<br />

Techn. Dienste 15.683 18% 4.298 10% 27% 11.386 27% 73%<br />

Sonstiges 4.201 5% 0 0% 0% 4.201 10% 100%<br />

Summe<br />

Anmerkung:<br />

86.036 100% 44.266 100% 41.770 100%<br />

*) prozentuale Aufteilung nach Arbeitsbereich je Geschlecht<br />

**) prozentuale Aufteilung nach Arbeitsbereich und Geschlecht<br />

Tab. 4-38:Angestellte in Betrieben des Informellen Sektors nach Geschlecht<br />

und Arbeitsbereich (nach IBGE, 1996)<br />

Arbeitsbereich Summe Männer Frauen<br />

Handwerk 59.896 29.139 49% 30.757 51%<br />

Bau 62.300 61.356 98% 944 2%<br />

Handel 131.100 73.944 56% 57.156 44%<br />

Essen 48.716 24.168 50% 24.548 50%<br />

Transport 25.293 23.801 94% 1.492 6%<br />

Dienstleistungen 127.574 64.025 50% 63.549 50%<br />

Techn. Dienste 83.489 54.264 65% 29.225 35%<br />

Sonstiges 21.607 3.997 18% 17.610 82%<br />

Summe 559.975 334.694 60% 225.281 40%<br />

Tab. 4-39:Beschäftigte im Informellen Sektor nach Geschlecht und Arbeitsbereich<br />

(nach: IBGE, 1996)<br />

Die Tabelle 4-40 unterscheidet die Beschäftigten nach Geschlecht, Rolle,<br />

Alter, Ausbildungsniveau und Arbeitsbereich. Es stehen jedoch keine Informationen<br />

über die Hautfarbe der Arbeiter des Städtischen Informellen Sektors<br />

zur Verfügung, so dass ein Vergleich dieses Aspektes mit den Ergebnissen<br />

der Feldarbeit der Autorin nicht durchführbar ist. In Bezug auf das Alter


scheint eine Diskrepanz zu Tabelle 4-37 zu bestehen, da in dieser Tabelle der<br />

Anteil der Kinder unter 10 Jahren nicht aufgeführt wurde.<br />

Summe Männer Frauen<br />

Summe<br />

Rolle<br />

559.974 334.693 225.281<br />

Eigentümer 473.938 84,6% 290.427 86,8% 183.511 81,5%<br />

Angestellter 80.325 14,3% 43.215 12,9% 37.110 16,5%<br />

Kein Einkommen<br />

Alter<br />

5.711 1,0% 1.051 0,3% 4.660 2,1%<br />

10 bis 13 Jahre 1.339 0,2% 1.061 0,3% 278 0,1%<br />

14 bis 17 Jahre 6.493 1,2% 4.318 1,3% 2.175 1,0%<br />

18 bis 24 Jahre 57.428 10,3% 32.813 9,8% 24.615 10,9%<br />

25 bis 39 Jahre 213.841 38,2% 121.479 36,3% 92.362 41,0%<br />

40 bis 59 Jahre 225.950 40,4% 136.444 40,8% 89.506 39,7%<br />

über 60 Jahre 54.605 9,8% 38.499 11,5% 16.106 7,1%<br />

ohne Angaben 319 0,1% 80 0,0% 239 0,1%<br />

Ausbildungsniveau<br />

Ohne Schulbildung 25.530 4,6% 17.328 5,2% 8.202 3,6%<br />

Abgeschl. Grundschule 318.876 56,9% 174.029 52,0% 144.847 64,3%<br />

Abgeschl. höhere Schule 195.881 35,0% 106.006 31,7% 89.875 39,9%<br />

Hochschulabschluss<br />

Arbeitsbereich<br />

77.918 13,9% 43.805 13,1% 34.113 15,1%<br />

Handwerk 59.896 10,7% 29.139 8,7% 30.757 13,7%<br />

Bau 62.300 11,1% 61.356 18,3% 944 0,4%<br />

Handel 131.100 23,4% 73.944 22,1% 57.156 25,4%<br />

Essen 48.716 8,7% 24.168 7,2% 24.548 10,9%<br />

Transport 25.293 4,5% 23.801 7,1% 1.492 0,7%<br />

Dienstleistungen 127.574 22,8% 64.025 19,1% 63.549 28,2%<br />

Techn. Dienste 83.489 14,9% 54.264 16,2% 29.225 13,0%<br />

Sonstiges 21.607 3,9% 3.997 1,2% 17.610 7,8%<br />

Tab. 4-40:Personen im Informellen Sektor nach Geschlecht, Rolle, Alter,<br />

Ausbildungsniveau und Arbeitsbereich (nach IBGE, 1996)<br />

Es ist interessant, zu sehen, dass die Frauen in Rio de Janeiro im Durchschnitt<br />

eine bessere Ausbildung als die Männer aufweisen. Wie schon erklärt,<br />

wurde bei den vorliegenden Daten die Arbeit der Hausangestellten nicht mit<br />

berücksichtigt.<br />

83


84<br />

4.2.3 Organisationen im Städtischen Informellen Sektor<br />

4.2.3.1 Bewohnervereine<br />

Wie bereits dargelegt, tragen die Favelas und die einfachen Vorortviertel zu<br />

einer billigen Reproduktion der Arbeitskraft bei. Favelas existieren in Brasilien<br />

nicht nur in den großen Metropolen, sondern sie auch in mittleren und<br />

kl<strong>einen</strong> Städten. Die Favelabewohner sind in gewisser Hinsicht Überlebenskünstler<br />

mit der Fähigkeit, geschickt und kreativ den Schwierigkeiten und<br />

Widrigkeiten des Lebensumfeldes zu begegnen.<br />

Favelas entstehen ohne jegliche Stadtentwicklungsplanung, ohne Unterstützung<br />

des Kapitals und der städtischen Verwaltung quasi autonom und in<br />

Bezug auf die Grundbesitzverhältnisse illegal. Die Gassen haben meist minimale<br />

Abmessungen mit eng aneinander stehenden Häusern, in denen sich oft<br />

Familien mit mehr als 10 Personen nur ein Zimmer teilen müssen. Wenn<br />

auch ungeplant und auf engstem und sehr umkämpftem Raum, übernehmen<br />

die Favelas (ähnlich wie geplante Städte) Versorgungsfunktionen des täglichen<br />

Bedarfs <strong>für</strong> ihre Bewohner. Es gibt Zentren <strong>für</strong> Handel, Dienstleistungen,<br />

katholische, evangelische, baptistische und andere Kirchen, sowie ‚Umbanda<br />

und Candomblé‘ (afrobrasilianische Religion), Schulen und Kneipen. Im<br />

Prinzip existiert alles, was die restliche Stadt auch besitzt (vgl. <strong>Florisbela</strong> <strong>dos</strong><br />

<strong>Santos</strong>, 1985).<br />

Die Bewohnervereine in den Favelas sind von jeher sowohl auf sozialer als<br />

auch auf politischer Ebene von grundlegender Bedeutung <strong>für</strong> die Geschichte<br />

der brasilianischen Basisorganisationen. In den Jahren der Militärrepression<br />

stellten die Favelaorganisationen eine wichtige Widerstandsbewegung gegen<br />

Missbräuche und Übergriffe der Regierung dar. In der Praxis organisierten<br />

sich die Favelabewohner und mobilisierten sich gegen die Umsiedlung der<br />

Favelas an von den Arbeitsplätzen der Bewohner sehr weit entfernte Orte.<br />

Diese Organisationen treten bis heute <strong>für</strong> die Versorgung mit zumindest<br />

minimaler (sozialer und technischer) Infrastruktur ein. Man muss dabei<br />

berücksichtigen, dass die Bevölkerung sich verstärkt in einer Zeit zu organisieren<br />

begann, in der jegliche Versammlung von mehr als 5 Personen verboten<br />

war und man das Risiko einging, als subversiv angesehen zu werden.<br />

Die Bewegung der Bewohnerinitiativen verstärkte sich sowohl in den Wohnals<br />

auch in den Arbeitsorten, wobei es zunächst jedoch keine institutionalisierte<br />

Form der Organisation gab – auch in Rio de Janeiro nicht. Mit der Zeit<br />

konstituierten sich die verschiedenen Gruppierungen zu Ver<strong>einen</strong>. Um effi-


zienter ihre Interessen durchzusetzen, schloss sich später eine große Anzahl<br />

der Vereine zur Favelaförderation des Staates Rio de Janeiro zusammen, um<br />

ihren Forderungen größeren Nachdruck zu verleihen.<br />

4.2.3.2 Organisation der Arbeiter des Städtischen Informellen Sektors<br />

Die Repression, die das Land während der 1964 eingesetzten Militärregierung<br />

beherrschte, führte zweifellos zum Verlust der Ausübung von Bürgerrechten.<br />

Auf wirtschaftlicher Ebene erhöhte sich die Einkommenskonzentration und<br />

somit die allgemeine Armut der Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung.<br />

Diese beiden Faktoren hatten logischerweise auch <strong>einen</strong> großen Einfluss auf<br />

die Organisation der Arbeiterklasse.<br />

In den 70er Jahren fing die Bevölkerung wieder an, sich zu organisieren und<br />

eine größere politische Beteiligung zu fordern. Parallel dazu stärkten sich die<br />

Arbeiter und kämpfen wieder in den Gewerkschaften um bessere Löhne,<br />

höhere Arbeitssicherheit usw.<br />

Die Arbeitslosigkeit wuchs aber weiter und der Arbeiter musste alternative<br />

Formen suchen, um seine Arbeitskraft einzusetzen. Von den 70er Jahren an<br />

gewannen die informellen Beschäftigungstätigkeiten an wirtschaftlicher<br />

Bedeutung. Daraus resultierend entstand – quasi als Neuheit – die Organisation<br />

der informellen Arbeiter.<br />

4.2.3.3 Hausangestellte und ambulante Verkäufer organisieren sich<br />

Daten des IBGE (1990) zufolge schätzt man, dass der Städtische Informelle<br />

Sektor mehr als 35 Millionen Arbeiter, d.h. 40% der ökonomisch aktiven<br />

Brasilianer beschäftigt, was fast der Hälfte der Arbeitskraft im Land entspricht.<br />

Davon bilden die Frauen, die im wesentlichen im Bereich der Hausarbeit<br />

tätig sind, <strong>einen</strong> großen Teil. Der Kampf <strong>für</strong> geregelte Arbeitszeiten<br />

und bessere Arbeitsbedingungen und die Anerkennung der Tätigkeit als<br />

Beruf ist das Hauptziel der Organisation der Hausangestellten in Brasilien,<br />

die sich praktisch seit der Sklavenabschaffung im Land mobilisiert hat. Erste<br />

Erfolge in der Frage der Anerkennung der Tätigkeit als Beruf zeigen sich<br />

erst seit etwa 10 Jahren.<br />

Die Organisationen der ambulanten Verkäufer, die im Vergleich zu den<br />

Hausangestelltenorganisationen jüngeren Datums sind, konzentrieren sich,<br />

nicht zuletzt veranlasst durch die Auseinandersetzung mit der städtischen<br />

85


86<br />

Bürokratie, auf den städtischen Raum, in dem sie ihre Tätigkeiten ausüben<br />

können. Auch sie streben eine Anerkennung ihrer Tätigkeit als Beruf an.<br />

4.2.3.4 Kriminelle Organisationen<br />

Das Leben in den Favelas, erklärt Silva <strong>Santos</strong> (1997), ist sowohl von<br />

Gewaltakten staatlicher Institutionen wie der Polizei als auch von denen der<br />

kriminellen Netzwerke geprägt. Beide Gewaltformen bedingen einander: Der<br />

mangelnde staatliche Schutz und die Polizeiübergriffe fördern die Bildung<br />

von Gewaltorganisationen innerhalb der Favelas. Martins (apud Silva <strong>Santos</strong>,<br />

1997) ist der Meinung, dass Gewaltakte nicht von der institutionalisierten<br />

politischen Macht ausgehen, sondern auf die Gewaltbereitschaft und Intoleranz<br />

der Gesellschaft allgemein oder spezifische Sektoren dieser Gesellschaft<br />

zurückzuführen seien. Deshalb seien gewaltbereite Gruppen in den Favelas<br />

vom Staatsapparat schwer zu kontrollieren. Gegen diese Meinung ist einzuwenden,<br />

dass Gewaltorganisationen wie paramilitärische Gruppen nicht in<br />

gleicher Weise in allen gesellschaftlichen Segmenten präsent sind. Wie die<br />

täglichen Presseberichte zeigen, richten sich die organisierten Gewaltakte<br />

und die Aktionen von Killergruppen, vor allem jene, die gegen Kinder und<br />

Jugendliche vorgehen, nicht gegen alle Brasilianer, sondern diese Gewalt hat<br />

eine Klassen- und Rassenbasis: Sie ist gegen die ärmeren und gegen die<br />

schwarzen Bevölkerungsgruppen gerichtet. Für diese Gruppen ist daher die<br />

Konfrontation mit organisierter Gewalt nichts Außergewöhnliches, sondern<br />

alltägliche Realität.<br />

Mit dem Argument, die Kriminalität in der Favela zu begrenzen, entstanden<br />

Selbstschutzorganisationen, oft paramilitärisch strukturiert und häufig im<br />

Dienst des Drogenhandels stehend, die vorgeben, kollektive Selbstschutzinteressen<br />

zu vertreten, in Wahrheit jedoch ihrerseits ein unkontrollierbares<br />

Gewaltmonopol aufbauen. In einigen Favelas kommt es regelmäßig vor, dass<br />

die Bewohner regelmäßig erpresst werden und Abgaben an die Selbstschutzkräfte<br />

zahlen müssen. Nach den Informationen der Bewohner werden die<br />

Gruppen oft von Polizisten oder Expolizisten gebildet.<br />

Die Drogenbosse betrachten die Favelas als ihre diktatorisch überwachten<br />

Herrschaftsbereiche, deren Bewohnerschaft, insbesondere die Jugendlichen,<br />

ihnen vor allem zur Rekrutierung neuer Gehilfen dient, um ihre kriminellen<br />

Geschäfte weiter auszubauen. Die Ausweitung des kriminellen Sektors in<br />

den Favelas bedroht die Bewohnervereine in ihrer Existenz. Wenn Verbin-


dungen mit den kriminellen Organisationen bestehen, wurden sie in der Regel<br />

zwanghaft herbeigeführt, und sie führen dazu, dass die Aktivitäten der<br />

Bewohnervereine sich von den tatsächlichen Interessen der Favelabewohner<br />

entfernen und demokratische Regeln des Zusammenlebens wie Reflexion<br />

und Diskurs nicht mehr beachtet werden können. Durch gewaltsame Kontrolle<br />

der Bewohnervereine wird die Meinungsvielfalt als Dynamik des Entscheidungsprozesses<br />

unterdrückt, und das führt zu einer Vereinheitlichung<br />

der Entscheidungen, die letztendlich auf eine Privatisierung des öffentlichen<br />

Bereichs im Interesse der Gewaltorganisationen hinausläuft. Dieser Entpolitisierungsprozess,<br />

der durch den „Herrn des Hügels“, zum Beispiel in der<br />

Figur des Drogenbosses gewaltsam überwacht wird, wurde im Norden von<br />

Rio de Janeiro während der Feldstudie 1991 beobachtet. Erleichtert wird den<br />

Gewaltorganisationen das Ins-Abseits-Stellen der Bewohner, wenn sich deren<br />

politische Organisation auf die Präsidenten der Bewohnervereine konzentriert.<br />

Das macht es den Gewaltorganisationen innerhalb der Favela leichter,<br />

sie im politischen Kampf auszuschalten und die Vereine lahmzulegen, damit<br />

sie ihren kriminellen Geschäften in Ruhe nachgehen können.<br />

Die Bildung der staatlichen und privaten Gewaltorganisationen in den Favelas<br />

ist eine Folge des Zusammenspiels von mächtigen Interessen innerhalb<br />

und außerhalb der Favelas und erschwert erheblich die Interessenvertretung<br />

der Favela<strong>dos</strong>. Dies wäre jedoch die Voraussetzung <strong>für</strong> eine allgemeine<br />

Demokratisierung, nicht nur der Beziehungen zwischen Favela<strong>dos</strong> und der<br />

städtischen Gesellschaft, sondern der gesamten brasilianischen Politik.<br />

Die Position des Staates, die eine eng begrenzte Bevölkerungsgruppe (Kapital-<br />

und Landbesitzer) bevorzugt, wurde begleitet von mehr oder weniger<br />

organisierten Protesten mit dem Ruf nach sozialer Gerechtigkeit. Hier sind<br />

zu nennen: der Kampf um die Unabhängigkeit, der Kampf um die Beendigung<br />

der Sklaverei und ab Beginn dieses Jahrhunderts, der Versuch von<br />

Wissenschaftlern, Gewerkschaften und Mitgliedern von Berufs- und Bevölkerungsgruppen<br />

(Anwaltskammer, Bewegung der Schwarzen etc.), die<br />

soziale Wirklichkeit Brasiliens zu korrigieren und deutlich zu machen, dass<br />

Brasilien sich in der Gruppe der Länder mit der schlechtesten Einkommensverteilung,<br />

der statistisch höchsten Kindersterblichkeitsrate, des Analphabetentums,<br />

des Elendes und der Gewalt befindet (vgl. Barros, 1996).<br />

Der Wachstumsimpuls zu Beginn der 70er Jahre, bekannt als brasilianisches<br />

Wirtschaftswunder, führte zu einer Wirtschaftskrise bedingt durch die Rückzahlung<br />

der Auslandschulden und der Priorität, die der Stahl- und sonstigen<br />

87


88<br />

Schwerindustrie eingeräumt wurde. Dabei ist eine starke Konzentration der<br />

Einkommen, die mit der des Landbesitzes korrespondiert, feststellbar. (Castro,<br />

1977, apud Barros, 1996).<br />

Aus Sicht der Arbeiterklasse und weiten Teilen der Gesellschaft ist die Konzentration<br />

des Grundbesitzes in den Händen weniger eines der Grundprobleme<br />

Brasiliens. Hierin ist die Mehrzahl der sozialen Probleme sowohl auf<br />

dem Land, als auch als Folge dessen in der Stadt begründet.<br />

In dieser Entwicklung kann eine Differenz zwischen dem Arbeitsangebot<br />

und dem Bevölkerungswachstum beobachtet werden. Da diese (brasilianische)<br />

Ökonomie auf der Ausbeutung der Arbeitskraft zu sehr niedrigen Löhnen<br />

basiert und es ihr nicht gelingt, die gesamte städtische Bevölkerung in<br />

den formellen Arbeitsmarkt einzubinden, geschieht es, dass ein Großteil der<br />

städtischen Bevölkerung arbeitslos bzw. unterbeschäftigt ist oder aber im<br />

Informellen bzw. Kriminellen Informellen Sektor unterkommt. Dies ist ein<br />

Beweis <strong>für</strong> die Unfähigkeit des ökonomischen Systems, der zunehmenden<br />

Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter reguläre Arbeit anzubieten.


5 Felduntersuchungen<br />

5.1 Die Hausangestellte<br />

„Ich bin billiger“ – Muchacha ...<br />

Ich bin die Waschmaschine, die der Señor nicht kauft,<br />

solange ich billiger wasche<br />

und der Señora<br />

Zeit spare<br />

und ihren Händen rauhe Haut;<br />

Ich bin der Staubsauger,<br />

den die Señora nicht braucht,<br />

bin Kindergarten,<br />

Wäscherei,<br />

Pflegestation,<br />

bin Einkaufswagen;<br />

Ich bin die Emanzipation<br />

der Señora,<br />

bin der Knopf,<br />

der alle Wünsche auf Druck erfüllt;<br />

ich bin billiger. .. 20<br />

Die Tätigkeit der Hausangestellten gehört überwiegend in den Informellen<br />

Sektor, jedoch wurde dieser Tätigkeitsbereich der Hausangestellten in der<br />

Vergangenheit unter diesem Gesichtspunkt kaum behandelt. Dabei spielt er<br />

in Brasilien, aber auch in anderen Entwicklungsländern aufgrund der großen<br />

Zahl an Beschäftigten, die er absorbiert, eine wichtige Rolle.<br />

Der wesentliche Unterschied von Hausangestellten im formellen und jenen<br />

im informellen Bereich besteht im Besitz eines Arbeitsbuches, das eine gewisse<br />

soziale Absicherung gewährleistet. Die tägliche Situation (Behandlung<br />

durch den Arbeitgeber, Rechtsansprüche etc.) hingegen ist vergleichbar und<br />

gleichermaßen diskriminierend.<br />

20 Aus „Muchacha – Die unsichtbaren Dienerinnen Lateinamerikas“; Hrsg.: Reinhardt Jung;<br />

Lamuv Taschenbuch


90<br />

5.1.1 Historische Ableitung<br />

Bei der Betrachtung der Tätigkeiten von Hausangestellten in Brasilien muss<br />

von zwei wichtigen Punkten ausgegangen werden: dem Geschlecht und der<br />

Rasse.<br />

Traditionell ist das Haus der Herrschaftsbereich der Frau. Es gibt viele Frauen,<br />

die neben der Arbeit im eigenen Haus, die der Reproduktion der Arbeitskraft<br />

der Familienmitglieder dient, das Haus auch als Erwerbsmöglichkeit nutzen,<br />

und zwar in dem sie die ‚Hausarbeit‘ im Haus anderer ausführen.<br />

Die Geschichte der Tätigkeit der Hausangestellten ist, wie Boechsler und<br />

Gisiger ausführen, „...nicht nur die Geschichte eines Berufes und der in ihm<br />

tätigen Frauen, es ist auch die Geschichte einer Gesellschaft, die durch das<br />

Klassenprinzip und die Benachteiligung der Frauen geprägt ist“ (1989,<br />

S. 621).<br />

Von Bedeutung ist die Analyse von Rott (1988), in der sie schreibt, dass die<br />

Doppelarbeit auf die Doppelverpflichtung von Frauen ausgerichtet ist, nämlich<br />

sowohl Arbeiterin in der Produktion (auch Dienstleistungen), als auch in<br />

der Reproduktion zu sein. Des weiteren führt sie aus, dass auch die ‚Arbeiterklasse‘<br />

nicht geschlechtsneutral ist, sondern Arbeiterinnen aufgrund ihrer<br />

doppelten Verpflichtungen einer weitaus größeren Arbeitsbelastung sowie<br />

Mechanismen der Unterordnung ausgesetzt sind als männliche Arbeiter. Die<br />

Schlussfolgerung der Autorin ist, dass als Konsequenz daraus die Frauen<br />

nicht nur auf den Bereich der Lohnarbeit, sondern gleichermaßen auch auf<br />

die ‚Lebensräume‘ beschränkt sind. Die Arbeiterinnen sind reduziert auf<br />

Familie, Haushalt und Überlebensstrategien.<br />

Zweifellos ist der Informelle Sektor <strong>für</strong> die Frauen eine Erwerbsmöglichkeit,<br />

insbesondere im Bereich der Dienstleistungen die Tätigkeit als Hausangestellte.<br />

Vor allem jene Frauen, die keine Ausbildung haben, führen diese<br />

Tätigkeit außerhalb ihres eigenen Hauses aus.<br />

Die Frauenarbeit im allgem<strong>einen</strong> ist sowohl <strong>für</strong> die Gesamtökonomie als<br />

auch <strong>für</strong> die Familieneinkommen von großer Bedeutung, nicht nur in Lateinamerika,<br />

sondern auch in Deutschland, Frankreich und Nordamerika.<br />

Das Dienstmädchen ist im Bereich zwischen Familie und Erwerbsarbeit<br />

angesiedelt – diese Ambivalenz zeigt exemplarisch, dass die Geschichte der<br />

Frauenarbeit vor dem Hintergrund der Lohn- und Hausarbeit betrachtet werden<br />

muss. Die Trennung von Arbeit und Leben ist unmöglich, und die Situa-


tion des Dienstmädchens ist extrem widersprüchlich, denn es wird weder<br />

eindeutig aus der Familie ausgegrenzt, noch eindeutig in sie einbezogen (vgl.<br />

Walser, 1985).<br />

Von Bedeutung ist auch die Interpretation von Pauleweit: Der Dienstbotenberuf<br />

ist nicht einfach als vormoderne Form eines Arbeitsverhältnisses und<br />

damit als ‚Opfer‘ der Industrialisierung, sondern als frauenspezifische Form<br />

der Teilhabe an ihr zu sehen. Diesen Aspekt greift Wierling (1987, apud<br />

Pauleweit, 1993) auf und versucht das Spannungsverhältnis deutlich zu<br />

machen, dass das Dienstverhältnis um die Jahrhundertwende prägt: Spiegelung<br />

des gesellschaftlichen Wandels im Leben der Dienstmädchen auf der<br />

<strong>einen</strong> und vormoderne Strukturen innerhalb des Arbeitsverhältnisses auf der<br />

anderen Seite.<br />

Was ethnische Besonderheiten anbelangt, muss in Betracht gezogen werden,<br />

dass Brasilien das letzte Land in Lateinamerika war, in dem die Sklaverei<br />

abgeschafft wurde, offiziell erst 1888. Obwohl das Jahr 2000 so nah ist, ist<br />

eine Hausangestellte, die normalerweise in Brasilien schwarz ist, immer<br />

noch dazu da, die Herrschaften, deren Kinder, Verwandte und Gäste zu<br />

bedienen, ihre banalsten Wünsche zu erfüllen, aber auch sämtliche schweren<br />

Arbeiten zu leisten. Noch heute wird sie oft wie eine Sklavin behandelt. Dies<br />

ist die Realität eines Berufes, der s<strong>einen</strong> Ursprung in den Anfängen der Sklaverei<br />

in Brasilien hatte, eine Realität, die bis heute durch die modernen<br />

Mechanismen der Segregation erneuert und legitimiert wird.<br />

Die Tätigkeit der Hausangestellten ist ein klares Beispiel <strong>für</strong> die Norm der<br />

Rassenschichtung, in der sich die Schwarzen am unteren Ende der Beschäftigungshierarchie<br />

konzentrieren (Hasenbalg, 1992). Es ist deutlich sichtbar,<br />

dass die Mehrzahl der Hausangestellten Afrobrasilianerinnen sind. Diese<br />

Tatsache „muss“ – in der Auffassung vieler Sozialwissenschaftler – nicht<br />

belegt werden, da es fast in ganz Brasilien eine Selbstverständlichkeit ist<br />

(<strong>Santos</strong>-Stubbe, 1995); „Jedoch gibt es keine spezifische Studie, die diese<br />

Beziehung (die auf der Überschneidung von Geschlecht und Rasse basiert)<br />

unter einer feministischen Betrachtung in multirassischen Ländern reflektiert“<br />

(Azevedo, 1989; apud <strong>Santos</strong>-Stubbe, 1995, S. 25).<br />

Das kapitalistische System verstärkt die existierenden Unterschiede nicht nur<br />

zwischen reich und arm, Männern und Frauen, sondern auch die Hautfarbe<br />

ist eine diskriminierende Werteskala (vgl. Vieira, 1987). Der Kapitalismus<br />

verstärkt auch die vorhandenen ökonomischen und sozialen Unterschiede<br />

zwischen Weißen und Schwarzen sowie den Indios in Lateinamerika.<br />

91


92<br />

Der Beruf der Hausangestellten schafft eine Beziehung zwischen den Parteien,<br />

d.h. zwischen der Herrschaft und den Angestellten, die Widersprüche<br />

hervorrufen kann. Einerseits birgt diese Beziehung in ihrer herkömmlichen<br />

Form den Aspekt der Untertänigkeit in sich, indem die Hausangestellte fast<br />

als Sklavin gesehen wird. Andererseits erlaubt sie auch eine gewisse Intimität<br />

und vermittelt so den Eindruck, als sei sie fast ein Mitglied der Familie.<br />

5.1.1.1 Fast eine Sklavin<br />

Der dienende und koloniale Gedanke im Verständnis der Tätigkeit von<br />

Hausangestellten wird in dieser Form auch in Europa angetroffen. So vergleichen<br />

die Sozialistinnen Europas die Situation der Hausangestellten noch<br />

in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts mit denen von ‚Sklavinnen‘, ‚Haussklavinnen‘<br />

oder ‚Leibeigenen‘ (Boechsler und Gisiger, 1989).<br />

In diesem Zusammenhang sollte in Erinnerung gerufen werden, dass bereits<br />

Marx den Begriff des ‚Haussklaven‘ nahezu als Synonym <strong>für</strong> den Begriff des<br />

‚Bediensteten‘ nutzt. So heißt es: „... <strong>einen</strong> stets größeren Teil der Arbeiterklasse<br />

unproduktiv zu verwenden und so namentlich die alten Haussklaven<br />

unter dem Namen der ‚dienenden Klasse‘, wie Bedienstete, Mägde, Lakaien<br />

usw., stets massenhafter zu reproduzieren ...“ (Marx, S. 469, Band I, 1962).<br />

Die Hausangestellte ist jene, die keine Rechte hat, denn alles was sie macht<br />

ist natürlich ihre Pflicht. Ein bekanntes Problem ist „... ihre weitgehende<br />

Rechtlosigkeit und die Art, wie sie von den bürgerlichen Familien behandelt<br />

wurden, ... Die junge Frau beklagt darin die langen Arbeitszeiten, die knapp<br />

bemessene Freizeit, ihre Einsamkeit und die Behandlung als Mensch zweiter<br />

Klasse“ (Boechsler und Gisiger, 1989; S. 9).<br />

Die Aufgaben einer Person, die ohne feste Arbeitszeiten arbeitet, kein Recht<br />

auf <strong>einen</strong> freien Tag in der Woche bzw. Ferien hat und selbst das Gehalt,<br />

dass oft unter der Basis des Minimallohnes <strong>für</strong> ungelernte Arbeiter liegt,<br />

regelmäßig erhält, sind mit dem der Sklavenarbeit durchaus vergleichbar.<br />

Das Leben der Hausangestellten ist geprägt von Diskriminierung, Ausbeutung<br />

und Erniedrigung.<br />

Nach Boechsler und Gisiger „... war die Dienstbotenfrage <strong>für</strong> einige fortschrittliche<br />

Sozialistinnen auch Anlass, sich mit der Stellung und der Rolle<br />

der Frauen im allgem<strong>einen</strong> auseinanderzusetzen. Für sie war die Versklavung<br />

der Dienstmädchen nicht nur <strong>für</strong> die Ausbeutung der proletarischen<br />

Klasse durch die bürgerliche bezeichnend, sondern spiegelte auch die spezi-


fische Unterdrückung der Frauen wieder“ (Boechsler und Gisiger, 1989;<br />

S. 608).<br />

„Ich stelle am liebsten immer eine etwas Dunklere ein, damit der Unterschied<br />

gleich klar ist. Ich finde, die Angestellte darf nicht dieselbe Hautfarbe<br />

haben ... denn das kann Verwirrung stiften, es kommt irgend jemand und<br />

kann nicht auf den ersten Blick erkennen, wer die Hausfrau und wer die<br />

Angestellte ist ...“ (Faria, 1983, apud <strong>Florisbela</strong> <strong>dos</strong> <strong>Santos</strong>, 1991; S. 113).<br />

Hausangestellte erklären ihr sklavenähnliches Verhältnis zu ihren Arbeitgebern<br />

häufig damit, dass sie k<strong>einen</strong> eigenen Wohnsitz haben und daher am<br />

Arbeitsplatz wohnen müssen, oder auch damit, dass die Arbeitgeber darauf<br />

bestehen. Diese Art von Arbeitsverhältnis erlaubt jedoch nicht nur, positiv<br />

gesehen, eine scheinbar günstige Wohnmöglichkeit, sondern führt zu einer<br />

verstärkten Form von Ausbeutung und Diskriminierung.<br />

„... solange die Hausangestellte im Haus ist (im Haus der Herrschaften<br />

wohnt), wird sie immer Sklavin sein. Es gibt keine andere Möglichkeit“<br />

(Lenira, 1982; S. 18).<br />

So erklären auch Boechsler und Gisiger (1989), dass die Situation von Hausangestellten<br />

in Europa durch das Zusammenwohnen, Zusammenarbeiten und<br />

Zusammenleben in einer großen Familie mit jener von Sklaven im Altertum<br />

vergleichbar ist.<br />

„... es gibt noch Herrschaften, die uns noch als Sklaven behandeln und diese<br />

umgekehrt als Herrin. Dies gibt es leider auch heute noch. ...., sowohl auf<br />

Seiten der Hausangestellten als auch der der Herrin. Wir sind noch wie Sklaven,<br />

wie das Eigentum der Herrin“ (Lenira, 1982; S. 25).<br />

5.1.1.2 Fast ein Familienmitglied<br />

Die unvermeidbare Nähe zur Familie setzt <strong>für</strong> die Durchführung von Aufgaben,<br />

wie dem täglichen Reinigen, Aufräumen, Kochen etc., ein ‚intimes‘<br />

Verhältnis zur Hausangestellten voraus, denn sie ist Zeugin des Glücks und<br />

der Traurigkeit der Familie, bei der sie arbeitet, sie ist anwesend bei Geburten,<br />

Krankheiten bis hin zum Tod.<br />

„Wir schaffen eine Affektivität mit der Familie. Jetzt gerade hat eine Hausangestellte<br />

das Haus verlassen, in dem sie 20 Jahre gearbeitet hat. Es gibt<br />

eine, die arbeitet dort seit 30 Jahren ... Also selbst, wenn man es nicht will,<br />

93


94<br />

schafft man eine enge Verbindung ..., es gibt die Kinder ...“ (Lenira, 1982,<br />

S. 22).<br />

„Ich arbeite in diesem Haus bereits seit fast vier Jahren. Als das<br />

zweite Kind der Familie – ein Junge – geboren wurde, war ich gerade<br />

drei Monate im Haushalt. Ich mochte ihn sehr und er mich ... Dort<br />

machte ich alles, ich kochte auch, und ich fand es seltsam, dass meine<br />

Herrin, obwohl ich kochte, immer m<strong>einen</strong> Teller zubereitete. Eines<br />

Tages sah ich, wie sie die Dreistigkeit hatte, noch mehr Essen auf<br />

m<strong>einen</strong> Teller zu füllen, von dem bereits eines der Kinder gegessen<br />

hatte, aber nicht alles ... Mir wurde klar, dass ich in all den Jahren<br />

immer dessen Essensreste gegessen habe ...“ (Interview der Autorin,<br />

1994).<br />

„Meine Herrschaften sind sehr reich und manchmal ersch<strong>einen</strong> sie<br />

sogar in der Zeitung ..., aber in meinem Zimmer gibt es nur ein Bett<br />

und <strong>einen</strong> Schwarzweißfernseher auf einem alten Stuhl ...“ (Interview<br />

der Autorin, 1994).<br />

Diese beiden Interviews bestätigen die oben genannte Darstellung von<br />

Lenira: die Hausangestellte ist das Aschenputtel der Familie und wird als<br />

solches behandelt.<br />

„Wir erziehen die Kinder, als wären es unsere, und wenn wir sie erzogen<br />

haben, erkennen sie uns nicht mehr als ihre Mutter an; wir ersparen das Vermögen<br />

der Herrschaften, und das Vermögen, das wir erspart haben, geht an<br />

andere als uns ...“ (Walser, 1985, S. 48).<br />

„Ich kenne <strong>einen</strong> Fall, in dem die Hausangestellte jahrelang nicht nur<br />

in einem Haus war, sie arbeitete in Wirklichkeit <strong>für</strong> die ganze Großfamilie.<br />

So trat sie manchmal erneut bei einem Familienmitglied in<br />

Dienst, <strong>für</strong> das sie vorher schon einmal gearbeitet hatte. ‚Wir verehren<br />

M., sie ist wie ein Teil unserer Familie.‘ ... Aber als M. alt war,<br />

hatte sie weder eine Rente noch jemanden, der sich um sie kümmerte,<br />

und ebensowenig hatte sie Kinder. Heute lebt M. von den Gefälligkeiten<br />

im Haus von Bekannten. Wo sind jene, die sagten, sie sei praktisch<br />

ein Teil der Familie?“ (Interview der Autorin, 1990)<br />

Die Argumentation, die Hausangestellten gehören praktisch zur Familie, bedeutet<br />

in den meisten Fällen, dass sie noch weiter ausgebeutet werden, häufig<br />

auch sexuell.


„Auf meiner ersten Arbeitsstelle war ich länger als 15 Jahre ... Dort<br />

hatte ich meine erste Menstruation, m<strong>einen</strong> ersten Mann (den ältesten<br />

Sohn meiner Herrschaften), m<strong>einen</strong> ersten Sohn.. Daraufhin musste<br />

ich das Haus verlassen, hätte aber mein Kind in der Familie lassen<br />

können, was ich aber nicht wollte“ (Interview der Autorin, 1990).<br />

Manchmal ist es den Hausangestellten nicht bewusst, dass sie ausgebeutet<br />

werden. So meinte eine Hausangestellte, dass sie sehr zufrieden mit ihrem<br />

Verhältnis zu den Herrschaften gewesen sei und berichtete:<br />

„Ich arbeitete einige Jahre in diesem Haus. Meine Hauptaufgabe war<br />

kochen, aber da ich Kinder vergöttere und die Familie drei hatte,<br />

wurde ich auch zum Babysitter. An den Wochenenden, wenn ich nach<br />

Hause ging, weinten sie; manchmal nahm ich eines mit, ein anderes<br />

Mal das andere, und häufig geschah es, dass ich alle drei mitnehmen<br />

musste, damit sie mit mir das Wochenende verbringen konnten. Sie<br />

mochten den armen Stadtteil ... Eines Tages hatte ich <strong>einen</strong> Unfall mit<br />

dem Omnibus, fast verlor ich ein Bein ... Da das Zimmer <strong>für</strong> die<br />

Hausangestellte sehr klein war und ich spezielle ärztliche Behandlung<br />

im Haus sowie viele Medikamente benötigte, gaben die Herrschaften<br />

mir <strong>für</strong> zwei Wochen ihr Elternschlafzimmer <strong>für</strong> meine Behandlung.<br />

Ich weiß, dass ich nicht zur Familie gehörte, aber dass sie<br />

gute Freunde waren ist wahr ... Ich glaube, unser Verhältnis bestand<br />

in einem Tausch ... Jahre später musste ich gehen, um mehr zu verdienen,<br />

aber ich blieb immer mit der Familie in Kontakt“ (Interview<br />

der Autorin, 1990).<br />

95


96<br />

Abb. 5-1 Patronin und Dienstmädchen („Eine Küche von T ...: Das beste<br />

Mittel, Ihr Dienstmädchen zu halten“ – Werbung aus einer brasilianischen<br />

Illustrierten; nach <strong>Florisbela</strong> <strong>dos</strong> <strong>Santos</strong>, 1991, S. 41)<br />

5.1.2 Ökonomische und soziale Aspekte der<br />

Hausangestelltentätigkeit<br />

Im Rahmen dieser Studie wurden 30 Personen interviewt, die als Hausangestellte<br />

beschäftigt waren. Alle Interviewpartner waren Frauen und von ihnen<br />

mehr als die Hälfte schwarz, die jüngste war 15 und die älteste 52 Jahre alt,


jedoch hatten einige bereits mit weniger als 10 Jahren diese Tätigkeit aufgenommen.<br />

Bei diesen Felduntersuchungen konnten Tendenzen festgestellt<br />

werden, die wahrscheinlich bei einer größeren Untersuchung ähnlich ausgefallen<br />

wären.<br />

„Als ich nach Rio de Janeiro kam, ich kam von Pernambuco (im<br />

Nor<strong>dos</strong>ten Brasiliens gelegen – Anm. der Verfasserin), war ich 10<br />

Jahre alt. Es mag unglaublich klingen, aber ich kam allein mit dem<br />

Flugzeug ... Auf dem Flughafen erhielt ich bereits den Jungen, auf<br />

den ich aufzupassen hatte. Er war erst 3 Jahre alt und fast größer als<br />

ich ... Meine Familie habe ich nie wiedergesehen“ (Interview der<br />

Autorin, 1990).<br />

Von den interviewten Frauen konnte nur eine nicht lesen, dennoch ist unter<br />

einem Großteil der Frauen, insbesondere in der Gruppe der Hausangestellten,<br />

Analphabetismus noch sehr verbreitet.<br />

„Ich kann weder lesen noch schreiben, aber ich gehe überall in Rio<br />

de Janeiro hin ... Ich habe schon in verschiedenen Stadtteilen gearbeitet<br />

... Bei einigen Buslinien erkenne ich die Busse an der Farbe,<br />

andere mehr oder weniger anhand der Nummern, und wiederum<br />

andere erkenne ich an den Fahrern ... Ich bin auch Köchin. Die<br />

Madame kann jegliches Gericht oder jede Süßspeise erbitten, ich<br />

kann sie zubereiten ... Ich kann nur nicht nach Rezept kochen (lacht)“<br />

(Interview der Autorin, 1990).<br />

Darüber hinaus wurde erfragt, welche der Hausangestellten ein Arbeitsbuch 21<br />

besitzen, das ihnen eine gewisse soziale und arbeitsrechtliche Absicherung<br />

gibt. Die Mehrheit gab an, kein gültiges Arbeitsbuch zu haben, wodurch ihre<br />

Tätigkeiten vom rechtlichen Gesichtspunkt her dem Informellen Sektor<br />

zuzuordnen sind. In Zahlen ausgedrückt, besaßen von den 30 Interviewten<br />

zwölf ein Arbeitsbuch, von denen sich jedoch drei privat als Selbständige<br />

(autonome Arbeiterin), also auf eigene Kosten, absicherten. Dies gilt vor<br />

allem <strong>für</strong> jene, die mehrere Arbeitsstellen haben (s. Tabelle 5-1).<br />

21 Arbeitsbuch – Carteira de trabalho: Das Arbeitsbuch muss beim Ministerium <strong>für</strong> Arbeit<br />

beantragt werden. Es ist dann dem Arbeitgeber bei Aufnahme der Tätigkeit vorzulegen. In<br />

das Buch werden die Beschäftigungszeiten, Lohnleistungen und Sozialversicherungsbeiträge<br />

eingetragen.<br />

97


98<br />

Mit Arbeitsbuch Ohne Arbeitsbuch<br />

Angestellt Selbständig<br />

30 % 10 % 60 %<br />

Tab. 5-1: Prozentuale Verteilung der Hausangestellten mit und ohne<br />

Arbeitsbuch [N=30]<br />

Bedeutung der Hautfarbe<br />

Der Beruf der Hausangestellten wird mehrheitlich von Schwarzen ausgeübt.<br />

Der Besitz eines Arbeitsbuches ist unabhängig von der Hautfarbe (s. Abbildung<br />

5-2).<br />

Anzahl der Interviewten<br />

20<br />

18<br />

16<br />

14<br />

12<br />

10<br />

8<br />

6<br />

4<br />

2<br />

0<br />

Aufteilung der Hausangestellten nach Hautfarbe<br />

Weiss Schwarz Total<br />

Abb. 5-2: Bedeutung der Hautfarbe<br />

Berufszeit<br />

Hautfarbe<br />

Mit Arbeitsbuch Ohne Arbeitsbuch<br />

Das PREALC (1982) sieht die Arbeit der Hausangestellten als eine Tätigkeit<br />

des Informellen Sektors an, die die Arbeiterinnen sporadisch dann durchführen,<br />

wenn sie keine andere Arbeit finden. Hieraus ergibt sich die Fragestellung,<br />

inwieweit die Arbeit der Hausangestellten eine Gelegenheitsarbeit ist.


Gemäß der Studie sind jedoch mehr als 60% der befragten Hausangestellten<br />

bereits länger als 10 Jahre in diesem Beruf tätig, bei jenen mit Arbeitsbuch<br />

beträgt der Anteil sogar über 83%. Diese Zahlen zeugen von einer hohen<br />

Kontinuität in dem Beruf als Hausangestellte (s. Abbildung 5-3).<br />

Anzahl der Interviewten<br />

6<br />

5<br />

4<br />

3<br />

2<br />

1<br />

0<br />

Berufsjahre als Hausangestellte<br />

bis 1 1 < 5 5 < 10 10 < 15 15 < 20 20 < 25 25 < 30 >30<br />

Jahre<br />

Mit Arbeitsbuch Ohne Arbeitsbuch Total<br />

Abb. 5-3: Anzahl der Berufsjahre mit und ohne Arbeitsbuch<br />

Außerdem wurde gefragt, ob die Interviewten sich auch in einem anderen<br />

Beruf versucht hätten. Zwei antworteten, dass sie vorher als Fabrikarbeiterinnen<br />

tätig gewesen seien, drei im Bereich Maniküre-Pediküre, jedoch ebenfalls<br />

informell. Eine weitere arbeitete als Köchin in einem Restaurant, eine<br />

andere in einem Schulbus, eine als Bedienung, eine als Sekretärin, eine als<br />

Bürogehilfin, eine als Kellnerin (diese hatte es vorher bereits mit der Herstellung<br />

von Zahnersatz versucht, ohne da<strong>für</strong> qualifiziert zu sein, ebenso mit der<br />

Herstellung von Tiefkühlkost), und eine weitere arbeitete als Verkäuferin<br />

von Kunstschmuck. Die übrigen 17 haben keine Erfahrung in einem anderen<br />

Beruf, eine Person beantwortete diese Frage nicht.<br />

Von den 30 direkt Interviewten arbeiteten 13 weniger als ein Jahr an ihrem<br />

aktuellen Arbeitsplatz und von diesen übten lediglich drei kürzer als ein Jahr<br />

diesen Beruf aus. Andererseits verblieb jedoch ein großer Teil viele Jahre am<br />

selben Arbeitsplatz, eine der Interviewten sogar länger als 30 Jahre (s. Abbildung<br />

5-4). Dabei ist die Fluktuation der Angestellten ohne Arbeitsbuch<br />

99


100<br />

wesentlich höher als mit Arbeitsbuch. Über 60% der Befragten der Angestellten<br />

ohne Arbeitsbuch arbeiteten kürzer als 1 Jahr auf der selben Arbeitsstelle.<br />

Anzahl der Interviewten<br />

14<br />

12<br />

10<br />

8<br />

6<br />

4<br />

2<br />

0<br />

Berufsjahre auf aktueller Arbeitsstelle<br />

bis 1 1 < 5 5 < 10 10 < 15 15 < 20 20 < 25 25 < 30 >30<br />

Jahre<br />

Mit Arbeitsbuch Ohne Arbeitsbuch Total<br />

Abb. 5-4: Berufsjahre als Hausangestellte auf aktueller Arbeitsstelle<br />

Arbeitszeit<br />

Eine der größten Schwierigkeiten, über die die Hausangestellten berichten,<br />

ist die extrem hohe tägliche Stundenanzahl und der übermäßige Arbeitsanfall.<br />

Von 30 direkt Interviewten wohnten 24 im Haus des Arbeitgebers. Von<br />

diesen 24 arbeiteten lediglich zwei 40 Stunden wöchentlich. Die übrigen<br />

hatten Arbeitszeiten zwischen 45 und 79 Stunden pro Woche, also zwischen<br />

9 und 13 Stunden täglich. Jene, die weniger als 40 Stunden wöchentlich<br />

beschäftigt waren, wohnten nicht im Haus der Arbeitgeber. Außerdem arbeiteten<br />

einige lediglich 3 Tage pro Woche (s. Tabelle 5-2).<br />

Literaturquellen ist zu entnehmen, dass Hausangestellte bis zu 14 Stunden<br />

täglich, 84 Stunden wöchentlich (Lenira, 1982) oder (laut <strong>Santos</strong>-Stubbe,<br />

1995) sogar bis zu 17 Stunden täglich arbeiten. Angesichts der Tatsache,<br />

dass die meisten Hausangestellten eine 6-Tage-Woche haben – viele arbeiten<br />

sogar 7 Tage die Woche – kann von einer wöchentlichen Arbeitszeit von<br />

mehr als 100 Stunden ausgegangen werden.


Niedrige Entlohnung<br />

Durchschnitt<br />

Schwankungsbereich<br />

Mit Arbeitsbuch Ohne Arbeitsbuch Total<br />

Arbeitsstunden<br />

pro<br />

Woche<br />

Entgelt<br />

pro<br />

Stunde<br />

[US$]<br />

Arbeitsstunden<br />

pro<br />

Woche<br />

Entgelt<br />

pro<br />

Stunde<br />

[US$]<br />

Arbeitsstunden<br />

pro<br />

Woche<br />

101<br />

Entgelt<br />

pro<br />

Stunde<br />

[US$]<br />

48,3 0,50 43,5 0,60 45,4 0,56<br />

21,0 –<br />

94,5<br />

0,19 –<br />

0,97<br />

18,0 –<br />

66,0<br />

Tab. 5-2: Entlohnung der Hausangestellten<br />

0,17 –<br />

2,50<br />

18,0 –<br />

94,5<br />

0,17 –<br />

2,50<br />

Auffällig ist, dass in zwei Fällen, in denen die Hausangestellten jeweils<br />

lediglich dreimal wöchentlich arbeiten, ein überdurchschnittlicher Stundenlohn<br />

verdient wird (1,88 bzw. 2,5 US$ pro Stunde). Angestellte mit Arbeitsbuch<br />

haben eine höhere wöchentliche Arbeitsbelastung und <strong>einen</strong> geringeren<br />

Stundenverdienst als jene ohne Arbeitsbuch. Hieraus kann geschlossen werden,<br />

dass ein Anstellungsverhältnis ohne Arbeitsbuch dem eines mit Arbeitsbuch<br />

vorgezogen wird. Ursache hier<strong>für</strong> ist oft das Angebot der Arbeitgeber,<br />

gegen mehr Lohn auf eine Anstellung mit Arbeitsbuch zu verzichten. Die<br />

Arbeitgeber begründen dieses Angebot mit den bürokratischen Wegen, die<br />

sie vermeiden möchten. Diese Aussage wird dadurch unterstützt, dass in der<br />

vorliegenden Studie von 30 Befragten 60% ohne Arbeitsbuch tätig sind.<br />

Die Entlohnung der Hausangestellten ist in der Regel sehr gering, auch wenn<br />

die indirekten Vergünstigungen wie Übernachtungsmöglichkeit und Essen<br />

hinzugerechnet werden. Selbst der von der Zentralregierung staatlich festgelegte<br />

Minimallohn wird häufig nicht gezahlt, obwohl dieser per Gesetz allen<br />

ArbeiterInnen, städtischen wie ländlichen, zusteht.<br />

Von den 30 befragten Hausangestellten erhielten drei weniger als <strong>einen</strong><br />

Minimallohn, 18 erhielten genau den vorgeschriebenen Minimallohn und


102<br />

neun erhielten mehr als diese Vergütung; (s. Abbildung 5-5). Während die<br />

Angestellten mit Arbeitsbuch mindestens <strong>einen</strong> Minimallohn erhalten müssen,<br />

haben 10% der Angestellten ohne Arbeitsbuch nur <strong>einen</strong> halben Minimallohn.<br />

Grundsätzlich wird selten mehr als ein Minimallohn gezahlt (30%).<br />

Lediglich 10% erhalten mehr als 2 Minimallöhne.<br />

Anzahl der Interviewten<br />

20<br />

18<br />

16<br />

14<br />

12<br />

10<br />

8<br />

6<br />

4<br />

2<br />

0<br />

Entlohnung in Minimallöhnen (ML)<br />

0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0<br />

Minimallöhne<br />

Mit Arbeitsbuch Ohne Arbeitsbuch Total<br />

Anm.: Zur Zeit der Interviews betrug ein monatlicher Minimallohn etwa 70,00 USD.<br />

Abb. 5-5: Entlohnung der befragten Hausangestellten<br />

Ein „‚Argument‘ vieler Arbeitgeber, die weniger als <strong>einen</strong> Minimallohn zahlen,<br />

basiert auf der haltlosen Erklärung, dass sie Frauen aus den ärmsten<br />

Regionen im Nor<strong>dos</strong>ten einstellen, Frauen, die nie eine Schule besucht haben<br />

und die verhungern würden, hätten sie nicht das Glück gehabt, sie (die<br />

Arbeitgeber) zu treffen“ (Veja, 1989, apud <strong>Florisbela</strong> <strong>dos</strong> <strong>Santos</strong> 1991,<br />

S. 113). Dies erweckt den Eindruck, als würde der Arbeitgeber aus Mitleid<br />

handeln, was dann die geringe Entlohnung rechtfertigt.<br />

Auf die Frage, ob die Hausangestellten noch weitere Tätigkeiten ausüben,<br />

um ihr Einkommen aufzubessern, antworteten 21 mit ‚nein‘. Einige gaben<br />

an, dass sie zwar gern dazu verdienen würden, dass aber weder die Zeit noch<br />

die Kraft <strong>für</strong> eine weitere Beschäftigung ausreiche. Neun Hausangestellte<br />

antworteten, dass sie eine weitere Beschäftigung zur Verbesserung ihrer Einkommen<br />

ausübten. Ihre Tätigkeiten umfassen den Verkauf von Kosmetika


103<br />

aus Katalogen, den Verkauf von Schmuck, Maniküre und das Bügeln von<br />

Wäsche.<br />

Bezüglich indirekter Vergütungen antworteten 20, dass sie <strong>einen</strong> Zuschuss<br />

zum Kauf von Busfahrkarten erhielten und fast alle gaben an, dass sie im<br />

Haus der Arbeitgeber ein oder zwei Mahlzeiten <strong>für</strong> sich zubereiten könnten,<br />

jedoch dürften sie kein Essen mit nach Hause nehmen.<br />

„Ich begann als Kind zu arbeiten, habe aber keinerlei Vorstellung<br />

mehr, wieviel ich verdiente. Meine Mutter erschien manchmal und<br />

erhielt das Geld <strong>für</strong> mich. ... Die einzige Erinnerung, die ich habe,<br />

war die schlechte Behandlung.“ (Interview der Autorin, 1995).<br />

Auf die Frage nach den größten beruflichen Problemen wurde fast einheitlich<br />

geantwortet, dass es die niedrigen Löhne und die übermäßige Arbeit<br />

seien, die diesen Beruf trotz des großen Stellenangebotes nicht attraktiv<br />

machten. Dabei gibt es immer Familien, die gerne eine Hausangestellte einstellen,<br />

wenn diese bereit ist, <strong>für</strong> eine geringe Entlohnung zu arbeiten. Dies<br />

gilt unabhängig von der sozialen Schicht der Arbeitgeber. Die befragten<br />

Angestellten, die mehr als <strong>einen</strong> Minimallohn erhalten (s. Abbildung 5-4),<br />

arbeiten bei Familien der Mittel- und nicht der Oberklasse. Gerade die besser<br />

gestellten Familien sch<strong>einen</strong> zu versuchen, die Hausangestellte zu geringen<br />

Löhnen einzukaufen 22 .<br />

Niedriges Verbrauchsniveau<br />

Die Hausarbeit absorbiert, wie bereits erwähnt, eine beachtliche Anzahl von<br />

weiblichen Arbeitskräften in den städtischen Zentren. Singer (1997) betrachtet<br />

diese Tätigkeit als eine ‚falsche Beschäftigung‘. Seiner Ansicht nach hat<br />

diese Dienstleistung <strong>für</strong> die Produktion sozialen Kapitals keinerlei Bedeutung,<br />

sondern sogar <strong>einen</strong> negativen Effekt auf die städtische Ökonomie,<br />

zieht man in Betracht, dass die Tätigkeiten, die eine Hausangestellte ausübt,<br />

Verkauf und Produktion von Haushaltsgeräten beeinträchtigt. Er geht von<br />

der <strong>Anna</strong>hme aus, dass eine Familie, die eine Hausangestellte hat, beispielsweise<br />

k<strong>einen</strong> Mixer kauft, da das Hausmädchen sehr gut die Lebensmittel<br />

per Hand zerkleinern kann. Außerdem sei der ökonomische Effekt negativ,<br />

da wahrscheinlich der größte Anteil des Verdienstes an die Familie im<br />

22 Im Kapitel 4 wird darauf hingewiesen, dass bei der Befragung die interviewten Personen in<br />

verschiedene Einkommensgruppen eingeteilt wurden. Dabei konnte dieser Sachverhalt<br />

festgestellt werden.


104<br />

Landesinnern geschickt und damit dem Geldumlauf in der Stadt entzogen<br />

wird. Dies lässt die Interpretation zu, dass Singer die Hausangestelltentätigkeit<br />

als eine Unterstützung ansieht und nicht als eine Dienstleistung, die<br />

<strong>einen</strong> Wert auf dem Markt besitzt.<br />

Diese Argumentationslinie von Singer (1982) wird auch von <strong>Santos</strong>-Stubbe<br />

(1995) vertreten. Die Untersuchung im Rahmen dieser Arbeit stehen dem<br />

jedoch konträr gegenüber. So bestätigten beispielsweise 100% der interviewten<br />

Hausangestellten bezogen auf das Waschen der Wäsche, dass sie <strong>für</strong><br />

diese Tätigkeit eine Maschine benutzten.<br />

Des weiteren wurde versucht, <strong>einen</strong> Bezug zu den Ausgaben der Hausangestellten<br />

<strong>für</strong> Lebensmittel, Kleidung, Medikamente, Freizeit, Miete, Transport,<br />

Bau oder Erhalt ihrer Häuser bzw. Wohnungen, Zigaretten, Schulmaterial<br />

<strong>für</strong> die Kinder, Kosmetik etc. herzustellen. Diese Untersuchung erlaubt<br />

jedoch keine qualifizierte Analyse, die <strong>für</strong> <strong>einen</strong> Vergleich zwischen ihren<br />

Einkünften und Ausgaben ausreicht. Jedoch konnte festgestellt werden, dass<br />

fünf der Hausangestellten über ein Sparbuch verfügten, jedoch keine ein<br />

Girokonto hatte. Sechzehn der Hausangestellten zahlten (teilweise <strong>für</strong> mehr<br />

als ein Produkt) Raten an den formellen Markt (s. Tabelle 5-3).<br />

Obgleich in der obigen Liste nicht enthalten, kaufen viele Hausangestellte<br />

gebrauchte Elektrogeräte und zahlen bar oder in bis zu drei Raten, z.B. <strong>für</strong><br />

verschiedene Möbelstücke (Schränke, Tische und Stühle, Regale, Couchgarnituren,<br />

Betten, etc.), Kühlschränke, Fernseher oder Stereoanlagen. Die<br />

Familie einer der Interviewten besaß sogar seit einem Jahr <strong>einen</strong> gebrauchten<br />

VW, ohne allerdings das Alter des Fahrzeuges nennen zu können.<br />

Ebenfalls ist in der Liste nicht enthalten, dass einige Hausangestellte neue<br />

Geräte gekauft hatten und sie bereits abgezahlt haben. So verfügen einige<br />

durchaus über eine Waschmaschine, eine Mikrowelle oder auch <strong>einen</strong> Airconditioner.


Ratenzahlung <strong>für</strong> Anzahl der<br />

Hausangestellten<br />

Kleidung, Schuhe 9<br />

Gasherd 3<br />

Kühlschrank 8<br />

Farbfernseher 3<br />

Radio, Musikanlage 4<br />

Elektrokleingeräte (Mixer, Bügeleisen) 3<br />

Aircondition 1<br />

Gefriertruhe 1<br />

Videospiele, Videorecorder 2<br />

Wäscheschleuder 1<br />

Gesundheitsvorsorge 1<br />

Zahnbehandlung 1<br />

Tab. 5-3: Ausgaben der Hausangestellten in Form von Ratenzahlungen im<br />

Formellen Sektor<br />

105<br />

„Ich gehe jede Woche zur Maniküre und lasse mir alle zwei Wochen<br />

meine Haare zurechtmachen ... Wir sind arm, müssen uns aber auch<br />

pflegen, nicht wahr?“ (Interview der Autorin, 1990)<br />

„Ich bezahle meine Zahnbehandlung. Es ist ziemlich teuer, aber der<br />

Doktor macht es <strong>für</strong> zehn Ratenzahlungen“ (Interview der Autorin,<br />

1990).<br />

„Ich kann nicht viel sparen, aber ich habe bereits seit fünf Jahren ein<br />

Sparbuch ... Zweimal musste ich alles abheben, aber jetzt habe ich<br />

erneut ein wenig angespart.“ (Interview der Autorin, 1995).<br />

„Ich habe die Raten <strong>für</strong> die Gefriertruhe fast abbezahlt, das Nächste<br />

auf der Liste ist eine Aircondition-Anlage, so Gott will.“ (Interview<br />

der Autorin, 1995).<br />

„Wir haben ein kleines Auto. Es ist nicht neu, aber an den Wochenenden<br />

können wir damit immer mal an irgend<strong>einen</strong> Ort fahren.“ (Interview<br />

der Autorin, 1990).


106<br />

Die Tatsache, bestimmte Konsumgüter bis hin zum Auto zu besitzen, sagt<br />

nicht notwendigerweise etwas darüber aus, inwieweit diese Berufsgruppe<br />

arm ist oder nicht. Wie bereits im Kapitel 5 ausgeführt, sind andere Kriterien<br />

als Maßstab <strong>für</strong> die Beurteilung relevant.<br />

5.1.3 Hausangestellte – (k)ein Beruf?<br />

Die sogenannte ‚Intimität mit der Familie‘ und die Argumentation, dass die<br />

Hausangestellte eine Vertrauensstellung habe, die sie ‚fast‘ zu einem Familienmitglied<br />

macht, obwohl sie faktisch wie eine Sklavin behandelt und ausgenutzt<br />

wird, erschwert die offizielle Anerkennung dieser Tätigkeit als Beruf<br />

und führt zu gesetzlichen Ungerechtigkeiten und zur rechtlichen Ungleichbehandlung<br />

der Hausangestellten.<br />

Dieser ‚intime Status‘ wird juristisch so ausgelegt, dass die Tätigkeit der<br />

Hausangestellten (weiblich und männlich) grundsätzlich von anderen Tätigkeiten<br />

zu unterscheiden ist und dies führt zu einer Reduzierung ihrer Arbeitsrechte.<br />

Den Hausangestellten wird die Anerkennung als Berufsstand verwehrt<br />

und damit auch der Schutz durch die Arbeitsgesetze. „... Der Arbeitgeber<br />

setzt in seinem Heim jemand vollkommen Fremdes ein, ohne ein<br />

Minimum an Garantien zu haben. Die Tätigkeit des Hausangestellten erfordert<br />

ein sehr persönliches Verhältnis und Vertrauen. Der Hausangestellte ist<br />

eine Vertrauensperson. Daher kann er nicht die Aufnahme in die ‚Consolidação<br />

das Leis de Trabalho‘ (CLT23 ) fordern. Aufgrund dieser Vertrauenssituation<br />

und der Klarheit in der Gesetzgebung kann dem Hausangestellten<br />

keine Stabilität (des Arbeitsplatzes, Anm. der Verf.) im Haus gewährt werden.<br />

... Angestellte, die eine Vertrauensposition besitzen, haben nicht das<br />

Privileg der Stabilität“ (Mattos in Nascimento, 1982, S. 351). Da gemäß der<br />

Auslegung des Gesetzes die Stellung der Hausangestellten als Vertrauensposition<br />

privilegiert sei und daher nicht dem ausdrücklichen Schutz des<br />

Gesetzes bedürfe, sollte man m<strong>einen</strong>, dass eine solche Vertrauensposition,<br />

die von grösserer Verantwortungsübernahme gekennzeichnet ist, besser bezahlt<br />

wird. Tatsächlich aber werden Hausangestellte nicht im geringsten gut<br />

bezahlt.<br />

23 CLT: Arbeitskonsolidierungsgesetz. Es handelt sich hierbei um eine Sammlung von Verfassungsnormen,<br />

die das Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber regelt. Detaillierter<br />

wird später im Text hierauf eingegangen.


107<br />

Das Gesetz 5859/1972, das die Tätigkeit der Hausangestellten offiziell regelt,<br />

geht von dem Konzept aus, dass die Hausangestellte jene ist, die eine kontinuierliche<br />

Dienstleistung ohne Gewinnabsichten gegenüber einer Person<br />

oder einer Familie im Haushalt erbringt. Die Situation der Hausangestellten<br />

wird durch die Erbringung der Dienstleistung in der Wohnung charakterisiert.<br />

Dies bedeutet, dass ein Kellner, der ausschließlich in einem Haushalt<br />

arbeitet, ein Hausangestellter ist und nur dann die Berufsbezeichnung Kellner<br />

führt, wenn er die gleiche Arbeit in einem Restaurant verrichtet. Demnach<br />

ist es <strong>für</strong> die Definition von Hausangestellten von Bedeutung, dass mit<br />

der Erbringung der Dienstleistung keine Gewinnabsichten seitens des Arbeitgebers<br />

verfolgt werden.<br />

Normalerweise arbeiten Hausangestellte als Kindermädchen, Köchinnen,<br />

Dienerinnen, Putzfrauen, Gouvernanten, Waschfrauen, Gärtner, Pförtner<br />

oder Begleitungen. Es gibt noch weitere Arten von Tätigkeiten, die dieser<br />

Berufsgruppe zuzuordnen sind.<br />

Nach dem oben genannten Gesetz 5859/1972 wurden alle, die Tätigkeiten<br />

<strong>für</strong> eine Familie erbrachten, als Hausangestellte oder besser Hausarbeiter<br />

definiert, da unterstellt wurde, dass eine Familie damit keine Gewinnabsichten<br />

verfolgte. Ein Krankenpfleger, der seine Dienstleistung gegenüber Personen<br />

oder Familien in deren Wohnung direkt und ohne Zwischenschaltung<br />

einer Agentur erbringt, war im Sinne des Gesetzes nicht Angestellter und<br />

durch dieses Gesetz auch nicht geschützt. Dies galt jedoch auch <strong>für</strong> <strong>einen</strong><br />

Piloten, der ein Privatflugzeug lenkt, den privaten Chauffeur etc., auch sie<br />

waren laut Gesetz Hausangestellte und konnten sich bei Forderungen nicht<br />

auf die CLT berufen (vgl. Kelly, 1994). Dies wurde im Entwurf des Gesetzes<br />

1626-C von 1989 korrigiert. Danach werden jene nicht mehr als Hausarbeiter<br />

betrachtet, die speziell zur Pflege von Kranken oder als Chauffeur angestellt<br />

wurden. Lediglich den Dienstmädchen wurde weiterhin der Schutz durch das<br />

Gesetz versagt.<br />

Auch Tagelöhner24 werden wie die Dienstmädchen nicht durch das Gesetz<br />

geschützt, da sie nicht kontinuierlich, sondern nur gelegentlich arbeiten,<br />

selbst wenn dies an einem festen Wochentag und in einem bestimmten Haus<br />

24 <strong>Santos</strong>-Stubbe (1995) unterscheidet zwischen der ‚internen‘ Hausangestellten, die mit der<br />

Familie, bei der sie arbeitet, wohnt, und der ‚externen‘, die nicht auf der Arbeitsstelle<br />

wohnt, die aber tageweise bei einer arbeitgebenden Familie beschäftigt ist. Tagelöhner<br />

werden als jene verstanden, die nur einige Male in das Haus einer Familie gehen, möglicherweise<br />

sogar täglich, die aber gleichzeitig bei verschiedenen Familien arbeiten.


108<br />

geschieht. Diese Arbeit wird als diskontinuierlich angesehen und kann im<br />

allgem<strong>einen</strong> von einer Person bei mehreren Arbeitgebern oder Familien<br />

erbracht werden. Im Sinne des Gesetzes werden Tagelöhner nicht als Hausangestellte<br />

kategorisiert (vgl. Kelly, 1994). Trotzdem erhalten auch sie die<br />

gleiche Behandlung wie Dienstmädchen, die an ihrer Arbeitsstelle übernachten.<br />

5.1.3.1 Die Bemühungen um berufliche Anerkennung<br />

Die bezahlte Tätigkeit der Hausangestellten wird zum <strong>einen</strong> als die ureigenste<br />

Tätigkeit von Frauen betrachtet, also als Teil ihrer täglichen Pflichten.<br />

Andererseits hängt sie bezogen auf Brasilien und vielen anderen lateinamerikanischen<br />

Ländern eng mit der Geschichte der Sklaverei zusammen, d.h. die<br />

Hausarbeit ist die Tätigkeit der schwarzen Frau. Diese Betrachtungsweisen<br />

sind als diskriminierend zu bezeichnen und entwerten die Tätigkeit von<br />

Hausangestellten nachhaltig, sowohl innerhalb ihres sozialen Umfeldes als<br />

auch im Hinblick auf ihre Bezahlung. Diese Diskriminierung setzt sich bis in<br />

die Gesetzgebung fort (unzureichender Kündigungsschutz und Zugang zur<br />

Sozialversicherung etc.), wie bereits weiter oben ausgeführt wurde.<br />

Die Hausarbeit gilt als gesellschaftlich minderwertige, körperliche Arbeit<br />

und im Gegensatz zur ‚freien‘ Lohnarbeit als nicht produktiv (vgl. Pauleweit,<br />

1993) und „unqualifizierte bzw. Handarbeiten, die in ihrer Mehrzahl von den<br />

Afrobrasilianern durchgeführt werden“ (<strong>Santos</strong>-Stubbe, 1995, S. 50).<br />

An dieser Stelle sei auf eine Aussage von Marx eingegangen: „... Endlich<br />

erlaubt die außerordentlich erhöhte Produktivkraft in den Sphären der großen<br />

Industrie, begleitet, wie sie ist, von intensiv und extensiv gesteigerter Ausbeutung<br />

der Arbeitskraft in allen übrigen Produktionssphären, <strong>einen</strong> stets<br />

größeren Teil der Arbeiterklasse unproduktiv zu verwenden ...“ (Marx, S. 469,<br />

Band I, 1962). Dies gilt auch in Bezug auf die Tätigkeit von Hausangestellten.<br />

Die Hausangestellte hält ihre Tätigkeit <strong>für</strong> vergleichbar mit der jeder anderen<br />

Arbeiterin im Formellen Sektor, jedoch erhält sie von der Gesellschaft nicht<br />

die gleiche Anerkennung. Dies trägt mit zur Diskriminierung dieses Berufsstandes<br />

bei.<br />

Nachfolgend wird auf die Interpretation Sandronis von Marx eingegangen,<br />

auch wenn es hier nicht vorrangiges Ziel ist, die theoretische Diskussion<br />

über produktive und unproduktive Arbeit zu vertiefen. Die Argumentation


109<br />

von Marx basiert darauf, dass die (produktive) Arbeit, sei sie manuell oder<br />

intellektuell, ein Objekt <strong>für</strong> den Markt herstellt, wodurch sie eine Quelle des<br />

Mehrwertes wird. Ein entscheidendes Merkmal der Arbeit ist, dass sie zur<br />

Kapitalbildung beiträgt, d.h. die Arbeit muss Mehrwert schaffen. Im Gegensatz<br />

hierzu schafft die unproduktive Arbeit k<strong>einen</strong> Gegenwert, selbst wenn<br />

sie <strong>einen</strong> konkreten Gegenstand schafft. Für diese Erklärung führt er u.a. das<br />

Beispiel der Köchin an, die beispielsweise in einem Haushalt kein Essen<br />

zubereitet, das dem Verkauf dient, sondern lediglich die Bedürfnisse der<br />

Familie befriedigt, <strong>für</strong> die sie arbeitet. Hingegen sei die Situation einer<br />

Köchin, die in einem Restaurant arbeitet, eine andere. Das Produkt ihrer<br />

Arbeit gelangt auf den Markt, und in diesem Fall wird es zu einem Verkaufsgegenstand;<br />

es handelt sich also um eine produktive Arbeit (vgl. Sandroni,<br />

1989), da ein kommerzielles Interesse befriedigt wird.<br />

Das nachfolgende Beispiel verdeutlicht, dass die Grenzziehung zwischen<br />

einer Köchin in einem Haushalt und einer in einem Restaurant nicht aufgrund<br />

der Ausbildung und Erfahrung erfolgt, sondern aufgrund des Arbeitsplatzes.<br />

„Es sollte noch einmal hervorgehoben werden, dass das Arbeitsbuch<br />

von der Angeklagten unterschrieben wurde, als hätte die Anklagende während<br />

der ganzen Zeit des Arbeitsvertrages die Funktion der Hausangestellten<br />

ausgeübt. Hingegen arbeitete sie immer als Köchin in dem Restaurant, in<br />

dem die Angeklagte Partnerin ist ...“ (Naylor, 1993 – Teil eines Gerichtsprozesses).<br />

Diese Regelung erleichtert es, die Hausangestellte stärker auszubeuten,<br />

denn als Köchin im Restaurant hätte sie Anrecht auf eine bessere Bezahlung,<br />

zumal die Tätigkeit als Köchin im Geschäftsbereich außerdem auch als<br />

produktive Arbeit im marxschen Sinne anerkannt ist.<br />

Nach Auffassung der von der Autorin interviewten Anwälte führt diese<br />

unzureichende Definition der Tätigkeit der Hausangestellten u.a. zu Problemen<br />

bei der Anerkennung als Berufsgruppe. Dies wird noch dadurch erschwert,<br />

dass auch die Arbeitgeber i.d.R. Familien und keine Unternehmen sind.<br />

„... eine Sache, die die Hausangestellte betrifft, ist, dass wir keine Anrechte<br />

auf Dinge haben können, weil wir nicht produzieren. Es stimmt, dass wir<br />

nicht so produzieren wie in den Fabriken. Wir produzieren keine Dinge, die<br />

Geld bringen. Aber wir produzieren innerhalb der Gesellschaft ... Wenn ich<br />

<strong>für</strong> diese Leute, die dort diskutieren (Politiker, Anm. der Autorin) koche, <strong>für</strong><br />

diese Ärzte, <strong>für</strong> diese Ingenieure, <strong>für</strong> alle, leiste ich <strong>einen</strong> Beitrag ... wenn ich<br />

in diesem Land arbeite. Ich mache dies, obwohl sie uns marginalisieren wollen,<br />

weil wir noch <strong>für</strong> die Arbeit kämpfen, um zu überleben. In der Form, in


110<br />

der ich <strong>für</strong> das Überleben in diesem Land kämpfe, bin ich verantwortlich ...<br />

Also ich glaube, die Hausangestellte ist Teil der Welt der Arbeiter. Wenn ich<br />

‚Welt der Arbeiter‘ sage, zähle ich alles dazu: Handel, alles ... und die Hausangestellten<br />

auch. Selbst wenn die Hausangestellte nicht als solche in der<br />

Produktionslinie gesehen wird, wie man sagt, dennoch sind wir ein Teil der<br />

Arbeitswelt. Nur dass wir an anderen Plätzen arbeiten und anders agieren“<br />

(Lenira, 1982, S. 42 und 43).<br />

Erleichtert durch die derzeitige brasilianische Gesetzgebung wird das Arbeitsverhältnis<br />

der Hausangestellten in der Praxis laut <strong>Santos</strong>-Stubbe (1995) als<br />

Privatangelegenheit betrachtet und auf der persönlichen Beziehungsebene<br />

Herrin – Angestellte geregelt.<br />

„Ich arbeite in diesem Haus seit fast 5 Jahren ... Vor zwei Jahren<br />

begann ich erneut zu studieren. Ich beende gerade die erste Ausbildungsstufe<br />

am Abendgymnasium ... Wenn sie (die Herrschaften) mein<br />

Arbeitsbuch unterschreiben, werde ich wahrscheinlich bis zur<br />

Beendigung der zweiten Ausbildungsstufe dort bleiben. Danach will<br />

ich <strong>einen</strong> anderen Beruf ausüben ...“ (Interview der Autorin, 1990).<br />

5.1.3.2 Spezifische Gesetzgebung <strong>für</strong> Hausangestellte<br />

Bereits 1880, noch vor Beendigung der Sklaverei in Brasilien (1888), erfolgte<br />

im Interesse der Herrschaften eine Regelung der bezahlten Tätigkeit<br />

von Hausangestellten, die die Absicherung der Arbeitgeberfamilie zum Ziel<br />

hatte. Die Hausangestellten mussten immer ein Arbeitsbuch bei sich haben,<br />

das persönliche Daten und Anmerkungen der Arbeitgeberin zum ‚beruflichen<br />

Werdegang‘ sowie Informationen über das Verhalten der Angestellten<br />

beinhaltete. Außerdem mussten sie bei der Polizei registriert sein, um eine<br />

Arbeitserlaubnis zu bekommen (vgl. Nascimento, 1982; <strong>Santos</strong>-Stubbe,<br />

1995).<br />

„... denn <strong>für</strong> den Beruf der Hausangestellten ist die Polizei zuständig ... Es<br />

wird behauptet, dass Arbeit ein Recht sei, aber <strong>für</strong> Hausangestellte ist sie<br />

offensichtlich ein Verbrechen, da sie zuerst zur Polizei müssen, um sich registrieren<br />

zu lassen“ (Rodrigues Alves in Nascimento 1982, S. 357).<br />

„Wir befinden uns hier in der ersten Linie. Über das Problem der Demütigung<br />

von Hausangestellten, ein Berufsarbeitsbuch bei der Polizei abzuholen,<br />

muss ich sagen, dass das Dekret 3078 von 1941 aussagt, dass der Gebrauch


111<br />

des Arbeitsbuches <strong>für</strong> die Hausangestellte verpflichtend ist“ (Mattos in Nascimento,<br />

1982, S. 364).<br />

ArbeiterInnen aus anderen Berufsbereichen erhalten ihre Arbeitspapiere im<br />

Arbeitsministerium. Nur die Hausangestellten mussten ein Formular bei der<br />

Polizei ausfüllen, um ihr Arbeitsbuch zu erhalten. Und da sie generell nicht<br />

dieselben Rechte wie andere ArbeiterInnen hatten, kann davon ausgegangen<br />

werden, dass diese polizeiliche Registrierung eine reine Kontrollfunktion hat.<br />

Unzufrieden mit der Diskriminierung ihrer Tätigkeiten, begannen die Hausangestellten<br />

sich zu Beginn der zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts zu organisieren.<br />

Es gab Proteste gegen die Ungerechtigkeit, die sie täglich erlebten.<br />

Das Hauptziel der Vertreterinnen der Hausangestellten ist bis heute, die Formalisierung<br />

ihrer Arbeit und die Erlangung von Rechten, die ihnen bislang<br />

versagt blieben, wie angemessene Bezahlung und soziale Absicherung.<br />

Die vorliegende Arbeit schließt sich dem Verständnis von Portes und<br />

Castells (apud Telles, 1990) an , dass der Städtische Informelle Sektor im<br />

allgem<strong>einen</strong> ‚ein Prozess zur Einkommensbeschaffung‘ ist, der nicht durch<br />

die Institutionen der Gesellschaft juristisch und sozial geregelt ist. Selbst<br />

wenn eine teilweise Formalisierung dadurch erreicht wird, dass beispielsweise<br />

Konzessionen erworben werden, die es ambulanten Verkäufern erlauben,<br />

ihre Ware zu verkaufen, kann man noch nicht von einem formalisierten<br />

Sektor sprechen, da dadurch die Charakteristika der fehlenden juristischen<br />

und sozialen Absicherung nicht verändert wurden.<br />

Bereits 1923 wurde in Brasilien das Dekret 16.107 erlassen, noch bevor<br />

unter der populistischen Politik Getúlio Vargas‘ (1883-1954) das Arbeitsministerium<br />

(1930) gegründet wurde. Dieses Dekret enthielt bedeutende<br />

soziale Maßnahmen, wie beispielsweise die Gründung von Rentenversicherungsanstalten,<br />

eine Einrichtung zur medizinischen Versorgung der Arbeiter,<br />

die Regelung der Arbeitsverträge, die Festlegung der Arbeitszeiten, Arbeitsplatzsicherheit<br />

nach 10 Jahren Dienstzeit und bezahlten Urlaub. Die Hausangestellten<br />

wurden zur damaligen Zeit von diesen Regelungen ausgeschlossen.<br />

Am 1. Mai 1943 wurde das Dekret 5452 veröffentlicht, das die ‚Consolidação<br />

das Leis Trabalhistas‘ (CLT – Arbeitskonsolidierungsgesetze) schuf. Die CLT<br />

fassen die gesamte Arbeitsgesetzgebung ab der Amtszeit von Präsident<br />

Getúlio Vargas (1930) zusammen (vgl. Sandroni, 1989). Es legt verpflichtend<br />

fest, dass die geringste zu akzeptierende Bezahlung mindestens die<br />

Höhe des Minimallohnes beträgt. Das durch die CLT geregelte Beschäfti-


112<br />

gungsverhältnis verleiht dem Arbeitnehmer allgemein größeren Schutz, aber<br />

im CLT wurden die Hausangestellten wiederum ausgeschlossen. Auch diesmal<br />

wurde die Tätigkeit der Hausangestellten nicht als Beruf eines Hausarbeiters<br />

anerkannt (s. Kapitel 6.1.3), mit der Begründung, sie leisteten<br />

„Dienste von nicht ökonomischer Natur, an Personen oder Familien, in deren<br />

Häusern ...“ (vgl. CLT 1990, S. 35, Art. 7a). Deutlicher wird dies durch die<br />

Ausführungen von <strong>Santos</strong>-Stubbe (1995): Die Hausangestellten wurden<br />

durch dieses Dekret diskriminiert, denn es unterscheidet deren Tätigkeit von<br />

denen anderer Berufsgruppen wie Portiers und Hausmeister, die bis zu diesem<br />

Zeitpunkt als häusliche Arbeitsfelder betrachtet wurden. Die Situation<br />

der Hausangestellten hat sich durch diese gesetzlich verankerte Ungleichheit<br />

noch verschlechtert. Für die Gesetzgebung der Hausangestellten war daher<br />

eine Gleichstellung mit den in der CLT getroffenen Regelungen stets Ziel<br />

aller Bemühungen.<br />

Die nachfolgende Tabelle 5-4 gibt eine chronologische Übersicht über die<br />

Entwicklung der Gesetzgebung, die die Hausangestellten betrifft. Auffällig<br />

bei ihrer Analyse ist jedoch, dass die zahlreich veröffentlichten Gesetze und<br />

Dekrete bei der Mehrzahl der Hausangestellten nicht umgesetzt werden, so<br />

dass keine wesentliche Verbesserung der Stellung dieser Berufsgruppe<br />

erreicht werden konnte. Dies führte u.a. dazu, dass wesentliche Inhalte ständig<br />

wiederholt und nicht nur aktualisiert wurden.<br />

1950 überprüfte die Rechtsanwältin Guiomar de Mattos die Verordnung von<br />

1941 und brachte Verbesserungsvorschläge ein: Begrenzung der täglichen<br />

Arbeitszeit von Hausangestellten auf maximal zehn Stunden mit einer<br />

anderthalbstündigen Pause; im Kündigungsfall Anspruch auf eine Abfindung<br />

<strong>für</strong> Angestellte, die mehr als zehn Jahre in einem Haushalt gearbeitet haben,<br />

Rentenanspruch und andere Sozialleistungen (vgl. Nascimento, 1982; apud<br />

<strong>Florisbela</strong> <strong>dos</strong> <strong>Santos</strong>, 1991). Doch erst mit dem Gesetz Nr. 5.859 vom<br />

11. Dezember 1972 (‚bestimmt über den Beruf der Hausangestellten und<br />

anderer Tätigkeiten‘) wurde ein sich ausschließlich auf den Bereich der<br />

Hausangestellten konzentrierendes Gesetz verabschiedet. Hierin wurden die<br />

Einstellungsbedingungen <strong>für</strong> Hausangestellte festgelegt. Dieses Gesetz ist<br />

<strong>für</strong> den Prozess der Formalisierung der Hausangestelltentätigkeit von grundlegender<br />

Bedeutung.


Jahr Gesetze und<br />

Dekrete<br />

1923 Dekret<br />

16.107<br />

Wesentlicher Inhalt Anmerkung / Quelle<br />

Definition der Tätigkeit<br />

der Hausarbeiter/-in<br />

1941 Dekret 3.078 Regelung der bezahlten<br />

Hausarbeit<br />

durch die Verpflichtung<br />

der Benutzung<br />

eines Arbeitsbuches<br />

<strong>für</strong> die Hausangestellte.<br />

1941 Dekret 3.851 Recht auf acht Tage<br />

Kündigungsfrist, 20<br />

Tage Jahresurlaub<br />

und <strong>einen</strong> Wochenruhetag<br />

<strong>für</strong> Hausangestellte.<br />

Tab. 5-4: Arbeits- und Sozialgesetze (1)<br />

113<br />

Umfasst Tätigkeiten wie<br />

Koch und dessen Gehilfen,<br />

„copeiro“ (etwa Barbedienung),<br />

Wäscherin, Näherin,<br />

Zimmerfrau, Gärtner, Portier,<br />

Kinderfrau oder alle in<br />

vergleichbaren Tätigkeiten,<br />

in Hotels, Restaurants, Pensionen,<br />

Land- oder Privathäusern<br />

arbeitenden Personen.“<br />

(vgl. Safioti, 1978,<br />

apud <strong>Santos</strong>-Stubbe, 1995,<br />

S. 54). Umfasst nicht die<br />

Tätigkeit der Hausangestellten,<br />

weil sie <strong>für</strong> eine Familie<br />

tätig ist.<br />

(vgl. Safioti, 1978, apud<br />

<strong>Santos</strong>-Stubbe, 1995, S. 54)<br />

(vgl. <strong>Florisbela</strong> <strong>dos</strong> <strong>Santos</strong>,<br />

1991, S. 111)


114<br />

Jahr Gesetz und<br />

Dekrete<br />

1943 Dekret 5.452 Arbeitskonsolidierungsgesetze<br />

(CLT)<br />

Sie legen <strong>einen</strong><br />

Mindestlohn fest.<br />

1967 Gesetz Nr.<br />

5.316<br />

1972 Gesetz Nr.<br />

5.859<br />

Wesentlicher Inhalt Anmerkung / Quelle<br />

Arbeitsunfallversicherung,<br />

jedoch nur<br />

<strong>für</strong> die Hausangestellten<br />

im Bereich<br />

der technischen und<br />

administrativen<br />

Möglichkeiten.<br />

Gesetz über den<br />

Beruf der Haus- und<br />

anderen Angestellten:<br />

Verpflichtet die<br />

Hausangestellten<br />

zum Beitritt in die<br />

Sozialversicherung<br />

wodurch sie ein<br />

Anrecht auf Rente,<br />

medizinische Versorgung,<br />

Beihilfe im<br />

Schwangerschaftsund<br />

Krankheitsfall<br />

erhalten und bestätigt<br />

das Anrecht auf<br />

Ferien.<br />

Tab. 5-4: Arbeits- und Sozialgesetze (2)<br />

Hausangestellte nicht einbezogen<br />

(vgl. Safioti, 1978, apud<br />

<strong>Santos</strong>-Stubbe, 1995, S. 54)<br />

(vgl. Saffioti, 1978, apud<br />

<strong>Santos</strong>-Stubbe, 1995, S. 55)<br />

Veröffentlicht im Diario<br />

Oficial da União (nationales<br />

Amtsblatt) am 12.12.1972<br />

(vgl. N.N.; o.J.; S. 51f)


Jahr Gesetz und<br />

Dekrete<br />

1973 Dekret Nr.<br />

71.885<br />

1973 Erlass Nr.<br />

3.106<br />

1973 Orientação de<br />

Serviço SAF<br />

Nr. 299.59<br />

(Richtlinie)<br />

Wesentlicher Inhalt Anmerkung / Quelle<br />

Reglement zum<br />

Gesetz Nr. 5.859:<br />

Den Hausangestellten<br />

werden die Vergünstigungen<br />

und<br />

Leistungen des ‚Lei<br />

Orgânica de Prevedência<br />

Social‘ (Sozialgesetzbuch)zugesichert.<br />

Richtlinien <strong>für</strong> die<br />

Einschreibung der<br />

Hausangestellten in<br />

das Versicherungssystem<br />

des Instituto<br />

Nacional de Prevedência<br />

Social (NationalesSozialversicherungsinstitut)<br />

und<br />

Regelung der Beitragszahlungen.<br />

Regelt die Einschreibung<br />

der Hausangestellten<br />

in die Sozialversicherung<br />

INSS<br />

(Instituto Nacional<br />

do Seguro Social)<br />

Tab. 5-4: Arbeits- und Sozialgesetze (3)<br />

Veröffentlicht im Diario<br />

Oficial da União (nationales<br />

Amtsblatt) am 09.03.1973<br />

(vgl. N.N.; o.J.; S. 53ff)<br />

(vgl. N.N.; o.J.; S. 57f)<br />

115<br />

Veröffentlicht im Bulletin der<br />

Generaldirektion des INSS<br />

am 09.05.1973


116<br />

Jahr Gesetz und<br />

Dekrete<br />

1973 Orientação de<br />

Serviço SAF<br />

Nr. 299.66<br />

(Richtlinie)<br />

1984 Gesetz Nr.<br />

7.195<br />

1985 Gesetz<br />

Nr.7.418<br />

1985 Processo Nr.<br />

00600.00051<br />

2/89-85<br />

1986 Dekret Nr.<br />

2.284<br />

Wesentlicher Inhalt Anmerkung / Quelle<br />

Legt die Normen <strong>für</strong><br />

die Regulierung der<br />

Einschreibung der<br />

Hausangestellten<br />

fest.<br />

Regelt die Verantwortung<br />

von Vermittlungsbüros<br />

von<br />

Hausangestellten.<br />

Einführung der Verpflichtung<br />

der Arbeitgeber<br />

zur Zahlung<br />

der Fahrtkosten<br />

<strong>für</strong> Verkehrsmittel.<br />

Regelung des<br />

Schwangerschaftsurlaubs<br />

Arbeitslosenversicherung:<br />

Regelt,<br />

dass es keine Unterschiede<br />

hinsichtlich<br />

der Rahmenbedingungen<br />

der Angestellten<br />

gibt.<br />

Tab. 5-4: Arbeits- und Sozialgesetze (4)<br />

Veröffentlicht im Bulletin der<br />

Generaldirektion des INSS<br />

am 18.112.1973<br />

Veröffentlicht im Diario<br />

Oficial da União (nationales<br />

Amtsblatt) am 13.06.1984<br />

(vgl. N.N.; o.J.; S. II)<br />

Veröffentlicht im Diario<br />

Oficial da União (nationales<br />

Amtsblatt) am 17.12.1985<br />

(vgl. N.N.; o.J.; S. 59)<br />

Secretaria de Planejamento e<br />

Coordenação – Veröffentlicht<br />

im Diario Oficial da União<br />

(nationales Amtsblatt) am<br />

15.03.1989<br />

(vgl. N.N.; o.J.; S. 71ff)<br />

Veröffentlicht im Diario<br />

Oficial da União (nationales<br />

Amtsblatt) am 11.03.1986<br />

(vgl. N.N.; o.J.; S. 24ff)


Jahr Gesetz und<br />

Dekrete<br />

1987 Dekret Nr.<br />

95.247<br />

1988 Neue VerfassungBrasiliens<br />

1988 Instrução<br />

Normativa<br />

SRL Nr. 1<br />

(Normative<br />

Anweisung)<br />

1989 Gesetz Nr.<br />

7.787<br />

1998 Gesetz<br />

Nr.9.676<br />

Wesentlicher Inhalt Anmerkung / Quelle<br />

Reglement zum<br />

Gesetz 7.418/85 –<br />

über Fahrscheine<br />

Sichert den Hausangestellten<br />

u.a. eine<br />

Reihe von Rechten<br />

und die Integration<br />

in die Sozialversicherung<br />

zu.<br />

Legt u.a. die Rechte<br />

der Hausangestellten<br />

fest.<br />

Erneute Festlegung<br />

der Beiträge zur<br />

Sozialversicherung.<br />

Regelt die Perioden<br />

zur Einsammlung<br />

der Sozialbeiträge<br />

durch das INSS.<br />

Tab. 5-4: Arbeits- und Sozialgesetze (5)<br />

Veröffentlicht im Diario<br />

Oficial da União (nationales<br />

Amtsblatt) am 18.11.1987<br />

(vgl. N.N.; o.J.; S. 60f)<br />

Constitutição da República<br />

Federativa de Brasil de 5 de<br />

outubro de 1988; 1990<br />

Veröffentlicht im Diario<br />

Oficial da União (nationales<br />

Amtsblatt) am 21.10.1988<br />

(vgl.: N.N.; o.J.; S. 29ff)<br />

Veröffentlicht im Diario<br />

Oficial da União (nationales<br />

Amtsblatt) am 30.06.1989<br />

Veröffentlicht im Diario<br />

Oficial da União (nationales<br />

Amtsblatt) am 30.07.1998<br />

(vgl. N.N.; o.J.; S. V)<br />

117<br />

In diesem Gesetz wird der Bereich der Hausarbeit folgendermaßen definiert:<br />

„Als Hausangestellter wird jener betrachtet, der eine Dienstleistung ohne<br />

Gewinnabsicht gegenüber Personen oder Familien in deren Wohnbereich leistet“<br />

(Kelly, 1994; S. 59). In Übereinstimmung mit <strong>Santos</strong>-Stubbe (1995)<br />

bedeutet diese Definition, dass die Hausarbeit grundsätzlich als nicht produktiv<br />

verstanden wird.<br />

Lange erwiesen sich die Anstrengungen, die zu einer rechtlichen Verbesserung<br />

der Situation der Hausangestellten führen sollten, in den meisten Fällen


118<br />

als sehr konservativ und diskriminierend. Erst mit der Verkündung der <strong>neuen</strong><br />

Verfassung der Föderativen Republik Brasilien im Jahr 1988 wurde ein<br />

wichtiger Schritt unternommen, die Tätigkeit der Hausangestellten denen<br />

anderer Berufe rechtlich gleichzustellen. Die Rechte der Hausangestellten<br />

wurden mit dem Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 5.859 von 1972 zwar bereits<br />

minimal erweitert. Ab 1988 wurden aber verstärkt Regelungen getroffen, die<br />

zu einer Verbesserung der rechtlichen Situation von Hausangestellten führten<br />

und dazu, dass sie nicht weiterhin als ArbeiterInnen zweiter Klasse<br />

betrachtet werden. So ist in der Verfassung unter dem Titel ‚Von den Grundrechten<br />

und -garantien sowie der sozialen Ordnung‘ festgelegt, dass den<br />

Hausangestellten ein Minimallohn, die Zahlung des 13. Monatsgehaltes,<br />

wöchentlich ein bezahlter freier Tag zu Erholung, Zusatzurlaub und Urlaubsgeld,<br />

Schwangerschaftsurlaub, Sonderurlaub bei Geburt eines Kindes, Kündigungsfrist<br />

und Rente zustehen.<br />

Mit dem Gesetz Nr. 7.787 vom 30. Juni 1989 werden folgende Beiträge zur<br />

Sozialversicherung festgelegt: a) <strong>für</strong> den Arbeitnehmer ein Beitrag von 8%<br />

seines Gehaltes unter Zugrundelegung des regionalen Minimallohnes; b) <strong>für</strong><br />

den Arbeitgeber ein Beitrag von 12% der gezahlten Entlohnung.<br />

In rechtlicher Hinsicht kann die Konkretisierung des Gesetzentwurfes<br />

Nr. 1.626-C von 1989 als noch weitergehender Schritt hin zu einer Gleichstellung<br />

der Hausangestellten mit den anderen ArbeiterInnen gesehen werden.<br />

Dieser Entwurf macht eindeutige Aussagen über den Minimallohn, den<br />

freien Wochentag, Überstunden, Inanspruchnahme von Urlaub, Kündigungszeiten<br />

entsprechend der Arbeitsdauer, Partizipation am Fundo de Garantia do<br />

Tempo de Serviço (FGTS – Arbeitslosengeld), Fahrkarte, Arbeitslosenversicherung,<br />

Rente, Gewerkschaftsmitgliedschaft, Unterstützung im Krankheitsfall,<br />

Kindergeld, Unterstützung bei der Geburt eines Kindes und anderes. Der<br />

Gesetzentwurf wurde vom Senat genehmigt und in erster Lesung durch die<br />

Abgeordnetenkammer in Brasilien 1991 verabschiedet.<br />

Die Kritik an diesem Gesetzentwurf konzentriert sich vor allem auf die<br />

Schwierigkeiten seiner Umsetzung. Bezogen auf den FGTS bleibt <strong>für</strong> die<br />

Hausangestellten die Frage offen: Wie erfolgt die Erhebung der Beiträge<br />

durch die Caixa Economica25 ? Es erscheint z.B. ungerecht, den gleichen<br />

25 Caixa Economica: Dezentralisierte bankähnliche Einrichtung des Staates ohne Gewinnabsichten,<br />

die mit dem Ziel eingerichtet wurde, die kl<strong>einen</strong> Ersparnisse der Bevölkerung einzusammeln<br />

und zu verwalten.


119<br />

Prozentsatz von einem häuslichen Arbeitgeber zu verlangen, der keine Gewinnabsichten<br />

verfolgt, wie von einem Unternehmer, die auf Gewinn abzielt.<br />

Obwohl die Form der Beitragserhebung sehr bürokratisch ist, sind die Gewerkschaften<br />

davon überzeugt, dass dieses Detail gelöst werden kann.<br />

Eine weitere positive Entwicklung der Arbeitskonsolidierungsgesetzgebung<br />

erfolgte am 24. März 1994 und betraf die Regelung hinsichtlich der vom<br />

Arbeitgeber bereitgestellten Wohnung und Nahrung als indirektes Einkommen,<br />

dessen Gegenwerte 25 % (<strong>für</strong> Wohnung) bzw. 20 % (<strong>für</strong> Nahrung) des<br />

vereinbarten Gehaltes nicht überschreiten durften. Nach dem aktuellsten<br />

Vorschlag (1996) dürfen die Anteile 6 % bzw. 3 % nicht überschreiten, was<br />

jedoch ebenfalls noch von den Gewerkschaften kritisiert wird. „Diese<br />

Abzüge sind ungerecht, da es meistens der Arbeitgeber ist, der darauf<br />

besteht, dass die Hausangestellte an der Arbeitsstelle wohnt. Es handelt sich<br />

dabei um eine Übereinkunft zu seinem Vorteil, und dies darf nicht dem<br />

Arbeitnehmer berechnet werden“ (O Liberal, 1996).<br />

Im selben Jahr sicherte die Orientação Normativa MPS/SPS Nr. 1 vom<br />

27. Juni 1994 dem Angestellten, einschließlich dem Hausangestellten, eine<br />

Reihe von Vorteilen u.a. bezüglich der Pensionierung aus Altersgründen, der<br />

Erbringung der Dienstleistungen und des 13. Monatsgehaltes (Weihnachtsgeld)<br />

zu.<br />

Am 07. August 1996 wurde der oben zitierte Gesetzentwurf Nr. 1.626C von<br />

1989, trotz seiner Verabschiedung in der 1. Lesung im Jahr 1991, erneut im<br />

Senat und in der Abgeordnetenkammer diskutiert, da die verabschiedete Fassung<br />

nicht umgesetzt wurde. Die Kommission <strong>für</strong> ökonomische Angelegenheiten<br />

des Büros der Senatorin Benedita de Silva26 brachte <strong>einen</strong> weiteren<br />

Gesetzentwurf (Nr. 180 von 1996) ein. Dieser behandelte die Vereinfachung<br />

der Einziehung von Sozialbeiträgen und Steuern der im Hausbereich tätigen<br />

ArbeiterInnen. Des weiteren schlägt der Entwurf die Festlegung steuerlicher<br />

Abzugsmöglichkeiten der Kosten <strong>für</strong> die Beschäftigung von Hausangestellten<br />

in der jährlichen Steuererklärung natürlicher Personen vor. Der Gesetzentwurf<br />

ermöglicht somit Arbeitgebern von Hausangestellten, die realisierten<br />

Ausgaben bezüglich der Sozialbeiträge und Steuern, die <strong>für</strong> diese Berufsgruppen<br />

gezahlt wurden, zu reduzieren.<br />

26 Benedita da Silva ist eine der wenigen schwarzen Politikerinnen. Als eine Vertreterin der<br />

Arbeiterpartei engagiert sie sich seit Jahren vor allem <strong>für</strong> die rechtliche Regelung der<br />

Tätigkeiten der Hausangestellten.


120<br />

Die o.g. Kommission der Senatorin bringt folgende Begründung <strong>für</strong> diesen<br />

Vorschlag vor (1996):<br />

„Der vorliegende Vorschlag hat zwei Ziele, beide von hohem sozialen Anspruch:<br />

als erstes die Vereinfachung und Formalisierung der Beziehungen<br />

der Hausarbeiten und in Folge davon, diesem Segment der Arbeiterklasse<br />

das Zugeständnis an Vergünstigungen zu sichern, die ihnen im Verlauf der<br />

Jahre vorenthalten wurden; zweitens, es den Arbeitgebern, die nur wenig<br />

Geld haben, zu ermöglichen, eine Hausangestellte zu haben und damit zur<br />

Lösung der sozialen Krise, bedingt durch die Arbeitslosigkeit im Formellen<br />

Sektor beizutragen.<br />

... wir glauben, dass es ungerecht ist, einerseits den Hausarbeiter zu benachteiligen,<br />

indem ihm Vergünstigungen vorenthalten werden, die ihm ein<br />

Minimum an Würde garantieren, angesichts der finanziellen Möglichkeiten,<br />

die seinem Herrn oder seiner Herrin eingeräumt werden; andererseits ist es<br />

gleichzeitig ungerecht, denselben Arbeitgeber in extensiver Form zu honorieren,<br />

auch wenn er aus dem Blickwinkel der Beschäftigung jemand ist, der<br />

mit den Tätigkeiten der Hausarbeit kooperiert und <strong>einen</strong> Beitrag zur Verringerung<br />

eines großen Problems, und zwar der fehlenden Beschäftigung in<br />

unserem Land, leistet.<br />

... der (vorliegende) Vorschlag ... handelt von den Abzügen (<strong>für</strong> Wohnung,<br />

Nahrung etc.) und von den an die öffentlichen Kassen abzuführenden Sozialbeiträgen,<br />

nicht hingegen von den Ausgaben der direkt an die Arbeiter abgeführten<br />

Bezahlung. ...<br />

Das Projekt zielt auch auf die Notwendigkeit der Vereinfachung der Einziehung<br />

von Beiträgen und Abgaben ab; die Entbürokratisierung bedeutet hier,<br />

dass dem Arbeitgeber die bürokratische Papierarbeit erleichtert wird, <strong>für</strong> die<br />

er ansonsten nahezu der Unterstützung durch <strong>einen</strong> Buchhalter bedarf. ...“<br />

Auch der vorliegende Vorschlag vermittelt das Gefühl, dass der Arbeitgeber<br />

dem Arbeitnehmer <strong>einen</strong> Gefallen tut, indem er ihn aus der Arbeitslosigkeit<br />

befreit. In der im Rahmen dieser Arbeit durchgeführten Untersuchung ist die<br />

Zahl derjenigen unbedeutend, die ihre Arbeit im Formellen Sektor verloren<br />

haben und als Hausangestellte zu arbeiten versuchten. Der größte Teil der<br />

Befragten hat immer in diesem Bereich gearbeitet.<br />

Das Ziel der Hausangestellten nach Angleichung der ihren Berufsstand betreffenden<br />

Gesetzgebung an die Regelungen der CLT, die <strong>für</strong> alle Arbeitnehmer<br />

gelten, ist formal fast erreicht. Jedoch haben alle Gesetze, Dekrete und<br />

Verfügungen, also alle Dokumente, die die Tätigkeit dieser Berufsgruppe


121<br />

behandeln, immer zu einer Reihe von Problemen auf Arbeitgeberseite<br />

geführt. Die Mehrheit der Arbeitgeber ist bis heute nicht bereit, die Gesetze<br />

zu erfüllen, so dass die Hausangestellten nach wie vor darum kämpfen müssen.<br />

5.1.4 Die Proteste<br />

Die Mehrheit der Hausangestellten ist nicht organisiert, aber viele von ihnen<br />

reagieren bei ihrer täglichen Arbeit spontan auf ausbeuterische Arbeitsverhältnisse,<br />

Misshandlungen und fehlenden Respekt und versuchen, sich letzteren<br />

zu verschaffen.<br />

„Frag mich nicht, wie ich den Mut aufbrachte, ich weiß es selbst<br />

nicht ... Ich glaube, es war die Reaktion als Kind (8 Jahre); ... die<br />

Angst und der Schmerz ... Die Herrin klemmte mich zwischen ihre<br />

Beine und schlug mich kräftig mit einem Holzlatschen. Ich erinnere<br />

mich nicht mehr genau ... Ich sah ein Bild vom Heiligen Sebastian<br />

über der Tür ... Ich weiß nur noch, dass ich ihr plötzlich mit aller<br />

Kraft in die Wade biss ... Sie schrie so laut wie ich, und es floss viel<br />

Blut ...“ (Interview der Autorin, 1994).<br />

„Ich arbeitete einige Jahre im Haus von Ausländern (Engländern aus<br />

Südafrika). Sie feierten ein Fest, und ich befand mich in der Küche,<br />

um Tausende von Dingen vorzubereiten ... Ich hatte schon ein paar<br />

mal miterlebt, dass der Herr seine Frau und zwei Töchter schlecht<br />

behandelte. Ich weiß nicht mehr den Grund, aber der Patron kam in<br />

die Küche und schrie mich an. Ich hatte keine Zweifel, ich habe alles<br />

stehen und liegen lassen und ging in mein Zimmer, um meine Sachen<br />

zu packen und zu gehen ... Er kam, um sich zu entschuldigen, sie bat<br />

mich zu bleiben. Aber ich blieb nur bis zum Ende des Festes. Ich ging<br />

und kam nicht wieder, nicht einmal um m<strong>einen</strong> Lohn abzuholen, den<br />

sie mir noch schuldeten“ (Interview der Autorin, 1990).<br />

Gesetze, Dekrete und andere Reglements, die zugunsten der Hausangestellten<br />

erarbeitet wurden, führten zu großen Diskussionen innerhalb der Gesellschaft<br />

und vor allem mit den Arbeitgebern; teilweise kam es sogar zu Protesten seitens<br />

der Hausangestellten.<br />

Die wesentlichen Forderungen der Hausangestellten zu Beginn der 40er<br />

Jahre waren 20 Tage Jahresurlaub und ein bezahlter freier Tag pro Woche.<br />

Tatsache ist allerdings, dass damals eine „arbeitsrechtliche Regelung der<br />

Gesetzesverordnung nicht zustande kam, sie wurde sogar von den zuständi-


122<br />

gen Gerichten sabotiert, mit tatkräftiger Unterstützung der ArbeitgeberInnen“<br />

(<strong>Florisbela</strong> <strong>dos</strong> <strong>Santos</strong> , 1991, S. 111).<br />

In den 80er Jahren stimmte die verfassunggebende Versammlung <strong>für</strong> die<br />

Aufnahme der Erwerbshausarbeit in das brasilianische Arbeitsrecht. Dies rief<br />

massive Proteste hervor, hauptsächlich von Seiten arbeitgebender Hausfrauen.<br />

Wie andere Verordnungen auch, hat der Gesetzentwurf Nr. 1.626-C von<br />

1996 große Debatten ausgelöst. Die einzige organisierte Gruppe, die sich<br />

gegen diesen Gesetzentwurf wandte, war die der Arbeitgeber der Hausangestellten<br />

des Bundesstaates São Paulo. Diese folgerte, dass es den Arbeitgebern<br />

durch die Belastung mit den hohen Sozialkosten nicht zuzumuten sei,<br />

ihre Angestellten weiterhin zu beschäftigen. In einem offenen Brief bat diese<br />

Gruppe daher den NationalKongress, diesen Gesetzentwurf nicht zu verabschieden<br />

(vgl. Diário Comercio Industria – DCI/SP, August, 1996).<br />

Der Kampf um die Anerkennung des Berufes der Hausangestellten unterliegt<br />

verschiedenen Schwierigkeiten. Die Gewerkschaft der Hausangestellten von<br />

Belem im Bundesstaat Pará – berichtete z.B. von dem Fall, dass die Angestellte<br />

eines Richters am regionalen Arbeitsgericht zu einem Beratungsgespräch<br />

zu ihr kam. Die Angestellte hatte bei diesem Richter 13 Jahre ohne<br />

Arbeitsbuch gearbeitet und weniger als <strong>einen</strong> Minimallohn erhalten. Derartige<br />

Situationen vermitteln <strong>einen</strong> Eindruck davon, wie gesetzliche Vorschriften in<br />

der Praxis missachtet werden und dies sogar bei Personen, die mit diesem<br />

Bereich beruflich zu tun haben, so wie der genannte Richter (vgl. O Liberal<br />

vom 07.08.1996).<br />

Die Gewerkschaften der Hausangestellten sind sich bewußt, dass im Kampf<br />

um die berufliche Anerkennung der Tätigkeiten von Hausangestellten die<br />

Gesetze allein nicht das Problem der Unregelmäßigkeiten lösen können. Der<br />

gesetzgebende Prozess dauert bereits 26 Jahre an, wenn man das Gesetz<br />

5859/72 einbezieht, das den Hausangestellten Rechte einräumte. Die Gewerkschaften<br />

halten es <strong>für</strong> wichtig, dass parallel zur Erfüllung der Gesetze auch<br />

das Niveau der Professionalisierung dieser Beschäftigungsgruppe angehoben<br />

wird. Dies würde sowohl <strong>einen</strong> Zugewinn an Respekt durch die Herrschaften<br />

und die Gesellschaft bedeuten, als auch das beruflichen Bewusstsein der<br />

Angestellten anheben.<br />

Mit Ausnahme von einigen Fortbildungskursen <strong>für</strong> Hausangestellte, die von<br />

solidarischen Kirchen angeboten werden, gibt es von den Teilnehmern


123<br />

dahingehende Kritik, dass diese angebotenen Kurse wie Nähen, Stricken, etc.<br />

wenig interessant und <strong>für</strong> die Anwendung im täglichen Ablauf der Hausarbeit<br />

nicht unmittelbar geeignet seien.<br />

„Um ehrlich zu sein, ich hätte Interesse, beispielsweise <strong>einen</strong> Kurs im<br />

Einfrieren von Lebensmitteln zu machen, da ich glaube, so meine<br />

Kenntnisse in der Küche anheben zu können und auch mein Einkommen<br />

zu verbessern“ (Interview der Autorin, 1994).<br />

Die Mehrheit der Gewerkschaften in den verschiedenen Bundesstaaten Brasiliens<br />

erwartet mit großer Spannung die <strong>Anna</strong>hme des Gesetzentwurfes<br />

Nr. 1.626-C (s. Kapitel 6.1.3.3). Die Gewerkschafter sehen in dem Gesetzentwurf<br />

das Licht am Ende des Tunnels zur Beendigung der Diskriminierung<br />

der Hausangestellten. Darüber hinaus gibt der Entwurf eine neue Motivation<br />

zur Fortsetzung des Arbeitskampfes dahingehend, dass bei Erreichung dieser<br />

Rechte diese in der Tat auch akzeptiert werden.<br />

5.1.5 Aktionen der Gewerkschaften<br />

Das Klassenbewußtsein und die Gründung von Gewerkschaften<br />

Walser (1985) kritisiert die allgemeine Einschätzung, dass die Hausangestellte<br />

passiv und untertänig ist. Sie spricht der Hausarbeit in diesem spezifischen<br />

historischen Stadium eine neue Qualität und damit den Dienstmädchen<br />

eine besondere, frauenspezifische Rolle im Modernisierungsprozess zu, die<br />

auch eigene „Formen interessenbewußten Handelns“ ermöglicht.<br />

„Ich bin schon 24 Jahre Hausangestellte, und ich glaube, ich werde<br />

es immer sein ... Es ist auch wahr, dass ich k<strong>einen</strong> anderen Beruf gelernt<br />

habe, ... aber ich mag, was ich mache, z.B. bügeln und kochen,<br />

sauber machen nicht so sehr. Bezogen auf das Kochen höre ich es<br />

gern, wenn die Herrschaften oder ihre Gäste mein Essen loben ...<br />

Einmal bat mich die Schwester meiner Patrona, bei der Hochzeit<br />

ihrer Tochter zu kochen. Ich habe verschiedene Speisen gemacht.<br />

Und weder meine Arbeit noch die Hochzeitsfeier waren monoton. Ich<br />

beschloss, in einige Pasteten weder Krabben noch Käse zu füllen,<br />

sondern einfach etwas Watte. Es dauerte nicht lange, bis die ersten in<br />

die Küche kamen, um zu fragen, was dies sei. Ich sagte ihnen, dass es<br />

Watte sei und sie mit Vorsicht essen müssten, da in einigen dieser<br />

Speisen die Eltern der Braut Rubine versteckt hätten ... und ich diese<br />

in Baumwolle eingepackt habe. Es war mein Triumph ... Ich glaube,


124<br />

ich wurde so stark wie die Braut beglückwünscht“ (Interview der<br />

Autorin, 1990).<br />

Von Klassenbewußtsein kann bei den Hausangestellten nicht die Rede sein.<br />

Dieses Bewußtsein kann auch angesichts der Tatsache, dass diese Frauen<br />

überwiegend vom Land kommen und deren Motivation häufig in der Suche<br />

nach einer Beschäftigung liegt, nicht erwartet werden. Aber auch bei denen,<br />

die in der Stadt geboren wurden, trifft man das Bewußtsein selten an, da sie<br />

nicht dazu angeregt werden, sich mit ihrer Situation unter dem Aspekt der<br />

Klasse auseinanderzusetzen. Darüber hinaus ist die Entwicklung des Klassenbewußtseins<br />

nur schwer möglich, da die Hausangestellten überwiegend<br />

isoliert in den Familien arbeiten und selten mit anderen Kolleginnen zusammenkommen.<br />

Allerdings entwickeln die Frauen bei zunehmender Berufserfahrung<br />

ein solides Selbstbewußtsein, das aus dem Bewußtsein ihrer Kompetenz<br />

heraus erwächst (vgl. Münchow, apud Pauleweit, 1993).<br />

„Zu sagen, die Hausangestellte engagiert sich im Klassenkampf, ist eine<br />

Lüge. Aber dass die Hausangestellte den Klassenkampf erlebt, stimmt. Jede<br />

Stunde, jeden Tag! Wenn man jetzt mit dem Begriff ‚Klassenkampf‘ kommt,<br />

wird die Hausangestellte antworten, dass sie die Bedeutung nicht kenne.<br />

Dies ist direkt im Blut ... Ich glaube, dass die anderen Arbeiter, die Gewerkschaften,<br />

alle Bewegungen die Hausangestellte in einem Kampf entdecken<br />

müssen. Und umgekehrt. Dies gibt es bereits, aber es gibt noch Leute, die<br />

dies nicht sehen ... Ich glaube, dass dieser Kampf alle betrifft, sowohl die<br />

Hausangestellte als auch alle anderen Arbeiter ...“ (Aussage einer Hausangestellten<br />

– Lenira, 1982, S. 59f).<br />

Auf der Nationalkonferenz der Schwarzen am 13. Mai 1949 in Rio de<br />

Janeiro wurde zum ersten Kongress schwarzer Brasilianer aufgerufen und<br />

man beschloss einstimmig, auf diesem Kongress – neben anderen Themen –<br />

die Frage der Hausangestellten in Brasilien zu diskutieren.<br />

Der 1. Kongress der Schwarzen Brasiliens wurde vom 28.08. bis zum<br />

02.09.1950 in Rio de Janeiro durchgeführt. Frau Dr. Guiomar Ferreira de<br />

Mattos präsentierte dort ihre Arbeit über ‚Die Reglementierung des Berufes<br />

der Hausangestellten‘. Während der Diskussion in der Versammlung sprach<br />

Frau Maria do Nascimento von der Gründung des Conselho Nacional da<br />

Mulher Negra (Nationaler Rat der schwarzen Frau), der am 10.05.1950 die<br />

Associação das Empregadas Domésticas (Verein der Hausangestellten) in<br />

Rio de Janeiro in Anwesenheit von 20 Hausangestellten ins Leben rief.


125<br />

Im selben Jahr organisierte sich laut <strong>Santos</strong>-Stubbe (1995) die Gruppe der<br />

„Juventude Operária Católica – JOC“ (Katholische Arbeiterjugend) von Rio<br />

de Janeiro, zu der auch Hausangestellte gehören. Es fanden mehrere Treffen<br />

statt, in denen aus Sicht des Evangeliums die Arbeits- und Lebenssituation<br />

der Arbeiterschaft sowie ihre Gesamtsituation diskutiert wurden.<br />

1960 wurde mit Unterstützung der JOC ein Treffen organisiert, an dem<br />

Hausangestellte aus verschiedenen brasilianischen Städten teilnahmen.<br />

„Dabei wurde das erste Manifest der Empregadas Domésticas verfasst und<br />

lanciert, was große Aufmerksamkeit in der brasilianischen Gesellschaft<br />

erregte. Dies motivierte viele Hausangestellte, sich spontan zu treffen und<br />

ihre Probleme zu diskutieren. Ein anderes Ergebnis ist, dass die Hausangestellten<br />

1961 eine ‚Associação Profissional <strong>dos</strong> Emprega<strong>dos</strong> Domésticos da<br />

Guanabara‘ (Berufsverband der Hausarbeiter von Guanabara) gründeten. Es<br />

war in ganz Brasilien die erste mit einer Teilnahme von ca. 70 Angestellten.<br />

Der Berufsverband wurde nach den Bestimmungen des Arbeitsministeriums<br />

1963 registriert und sein erstes Statut verabschiedet. Noch im Jahr 1963 fand<br />

ein regionaler Kongress unter der Teilnahme von 50 Hausangestellten statt“<br />

(<strong>Santos</strong>-Stubbe, 1995; S. 59).<br />

Die JOC ermöglichte die Organisation der Hausangestellten in verschiedenen<br />

Städten Brasiliens. Die durch den Putsch im Jahre 1964 an die Macht<br />

gekommenen Militärs schwächten allerdings die Organisation, in der die<br />

Hausangestellten Raum zur Diskussion ihrer Probleme hatten.<br />

„... als das Jahr 1964 kam, war ich in der JOC, hatte ein Haus und diese<br />

Leute kamen herein, nahmen uns fest und stahlen alle Bücher, nahmen alles<br />

mit, machten ein Durcheinander ...“ (Aussage einer Angestellten – Lenira,<br />

1982, S. 72).<br />

JOC wurde zur Zeit des Militärregimes als subversive Organisation betrachtet.<br />

„‚Dennoch haben wir unsere Versammlungen weitergeführt, aber voller<br />

Angst‘, sagt Frau Odete“ (<strong>Santos</strong>-Stubbe, 1995, S. 59).<br />

Nach <strong>Santos</strong>-Stubbe (1995) fand 1968 trotz der politischen Repression in<br />

Sao Paulo der erste nationale Kongress der Hausangestellten statt. Dabei<br />

waren neun brasilianische Bundesstaaten vertreten. Die nachfolgende<br />

Tabelle 5-5 gibt eine Liste der realisierten Kongresse zwischen 1968 und<br />

1993 wieder, auf denen die Teilnehmer bezüglich der Gesetzesvorhaben<br />

einige Male von Juristen und Politikern beraten wurden.


126<br />

Jahr Kongress Stadt Thema u. Bemerkung<br />

1968 1. Kongress São Paulo Hauptthema: die brasilianische<br />

Realität, Arbeits- und Sozialgesetze<br />

1974 2. Kongress Rio de Janeiro –<br />

1978 3. Kongress Belo Horizonte –<br />

1981 4. Kongress Porto Alegre Die Aufnahme der Erwerbshausarbeit<br />

in das Arbeitsrecht (Bildung<br />

einer nationalen Arbeitsgruppe)<br />

1985 5. Kongress Recife Die Mehrheit der Teilnehmer<br />

konzentrierte sich auf die Themen:<br />

Lebens- und Arbeitssituation<br />

und die Einigkeit der Hausangestellten<br />

1989 6. Kongress Nova Veneza<br />

São Paulo<br />

Themen waren u.a.: Isolation der<br />

Hausangestellten, minderjährige<br />

Angestellte, Frauen- und Arbeiterbewegung,<br />

Syndikalismus u.a.<br />

1993 7. Kongress Rio de Janeiro Auf dem Kongress nahmen Teilnehmer<br />

aus 16 Bundesstaaten<br />

teil.<br />

Anm.: Die Anzahl der Delegierten auf den verschiedenen Kongressen variierte zwischen 44<br />

und 208.<br />

Tab. 5-5: Durchgeführte nationale Kongresse zum Thema Hausangestellte<br />

(nach Nascimento 1982, <strong>Florisbela</strong> <strong>dos</strong> <strong>Santos</strong> 1991, <strong>Santos</strong>-<br />

Stubbe 1995)<br />

Die Hausangestellten organisieren sich auch auf internationaler Ebene. In<br />

Bogotá (Kolumbien – 1988) fand das erste lateinamerikanische Treffen statt:<br />

Encontro Latino Americano e do Caribe de Trabalhadoras Domésticas. An<br />

diesem Treffen nahmen vier brasilianische Hausangestellte teil, durch die<br />

insgesamt 38 Teilnehmer wurden 11 Länder vertreten (vgl. <strong>Santos</strong>-Stubbe,<br />

1995).


127<br />

Die Hausangestellten von Rio de Janeiro waren die ersten in Brasilien, die<br />

die Initiative zum Zusammenschluss einer Berufsgruppe auf Bundesebene<br />

ergriffen haben. Ohne Zweifel führte deren Engagement während der Zeit<br />

der parlamentarischen Vorbereitung der Konstitution dazu, dass die Vereine<br />

der Hausangestellten die gesetzliche Genehmigung erhielten, sich in eine<br />

Gewerkschaft umzuwandeln.<br />

Im Paragraph ‚Die fundamentalen Rechte und Garantien‘ des Kapitels ‚Die<br />

sozialen Rechte‘ sagt Artikel 8 der Verfassung aus: „Die beruflichen Verbände<br />

oder Gewerkschaften sind frei.“ Die Verfassung Brasiliens vom<br />

05.10.1988 sichert damit allen Arbeitern und somit auch den Hausangestellten<br />

zu, sich in Berufsverbänden zusammenschließen zu dürfen.<br />

Das Engagement der Hausangestellten wächst stetig. 1989 existierten bereits<br />

27 Gruppen (Gewerkschaften und/oder Berufsverbände) in zwölf Bundesstaaten<br />

(vgl. <strong>Santos</strong>-Stubbe, 1995).<br />

Nach offiziellen Daten gibt es ca. 3 Millionen Hausangestellte in Brasilien<br />

(<strong>Santos</strong>-Stubbe, 1995), jedoch wird geschätzt, dass es in Wirklichkeit derzeit<br />

(1996) etwa 7 Millionen sind. Ein beachtlicher Teil hiervon arbeitet außerhalb<br />

des Schutzes durch die Arbeitsgesetzgebung. Die Gewerkschaft der<br />

Hausarbeiter von Pará beispielsweise hat 2.500 Mitglieder registriert, von<br />

denen lediglich 60% ein Arbeitsbuch haben. Die regionale Zweigstelle des<br />

Arbeitsministeriums der selben Stadt berichtet sogar, dass 80% der Hausangestellten,<br />

von denen sie aufgesucht wird, kein Arbeitsbuch haben.<br />

Das Ziel der Gewerkschaften ist die Anerkennung und Aufwertung als<br />

Berufsgruppe. Sie kämpfen <strong>für</strong> die Gleichheit der Rechte und Möglichkeiten<br />

bezüglich sozialer Gerechtigkeit und Arbeitsrecht und versuchen, ihre Mitglieder<br />

im Kampf um ihre Rechte zu unterstützen.<br />

Es ist üblich, dass die brasilianischen Gewerkschaften der Hausangestellten<br />

Aufklärungsarbeit leisten. Viele der Hausangestellten kennen die Gesetzgebung<br />

nicht und kämpfen daher nicht <strong>für</strong> deren Einhaltung, d.h. z.B. <strong>für</strong> die<br />

Einschreibung in die Sozialversicherung, was nur durch die Führung eines<br />

Arbeits- und Sozialheftes sowie durch die Beitragszahlung an die Sozialversicherung<br />

möglich ist. Die Führung eines Arbeitsbuches ist Pflicht und nicht<br />

freiwillig, wie es viele Arbeitgeber und Arbeitnehmer glauben. Wenn nach<br />

einigen Jahren der Angestellte seine Rechte vor dem Arbeitsgericht einklagt,<br />

muss der Arbeitgeber alle Beiträge, die nicht gezahlt wurden, nachzahlen.<br />

Für den Fall, dass der Arbeitgeber argumentiert, das Arbeitsbuch sei aus


128<br />

freier Entscheidung des Angestellten nicht geführt worden oder er habe mehr<br />

Lohn gezahlt, um die mit der Führung des Arbeitsbuches verbundenen Zahlungen<br />

zu kompensieren, so reicht dies gegenüber dem Arbeitsgericht nicht<br />

aus, um Recht zu bekommen.<br />

Viele ArbeitgeberInnen schlagen ihren Hausangestellten vor, sie besser zu<br />

bezahlen, da<strong>für</strong> aber im Arbeitsbuch k<strong>einen</strong> oder <strong>einen</strong> geringeren Lohn einzutragen.<br />

Dadurch reduzieren die ArbeitgeberInnen ihre Ausgaben bezüglich<br />

der Anteilszahlungen zur Sozialversicherung. Gleichzeitig erhalten die ArbeiterInnen<br />

dadurch aber keine oder eine niedrigere Rente, da offiziell nichts<br />

oder weniger eingezahlt wurde.<br />

Unabhängig davon, dass die Tätigkeit der Hausangestellten im sozialen Kontext<br />

stark unterbewertet wird, ist sie die Berufsgruppe des Informellen Sektors,<br />

die am stärksten ihre Position darstellt, sich organisiert und rechtliche<br />

bzw. soziale Sicherheiten erlangt hat, d.h. Errungenschaften, die zur Formalisierung<br />

führen. Allerdings kommen diese Errungenschaften bislang nur<br />

wenigen zugute, <strong>für</strong> die Mehrheit stehen sie lediglich auf dem Papier. Es ist<br />

daher Aufgabe der Gewerkschaften, <strong>für</strong> deren Umsetzung in die Praxis zu<br />

kämpfen.<br />

Die Organisation der Hausangestellten wächst, wenn auch nur allmählich,<br />

und damit auch das politische Gewicht der Hausangestellten. Von großer<br />

Wichtigkeit <strong>für</strong> das Wachsen und Reifen ihrer politischen Arbeit ist die<br />

Zusammenarbeit mit anderen organisierten Sektoren.<br />

„Ich habe die Hoffnung, dass wir uns ändern und dass wir uns gemeinsam<br />

mit allen anderen Arbeitern ändern. Beispielsweise glaube ich, dass uns die<br />

anderen Werktätigen helfen können, im Kampf als Berufsgruppe anerkannt<br />

zu werden ... Wir müssen unseren Wert entdecken, und die anderen Arbeiter<br />

müssen auch entdecken, welchen Wert wir haben, anerkennen, dass wir<br />

Menschen sind“ (Lenira, 1982, S. 68 und 69).<br />

In ihren Ausführungen legt Lenira dar, dass alle Arbeiter sind, der Unterschied<br />

bestehe lediglich in der Art, mit speziellen Problemen umzugehen.<br />

Sie vertritt die Auffassung, dass es nur <strong>einen</strong> gemeinsamen Kampf gibt und<br />

alle Arbeiter durch das Kapital unterdrückt werden.<br />

Im Kontakt mit anderen Arbeitern und in gegenseitiger Unterstützung wachsen<br />

alle. Die Hausangestellten beginnen, auf Versammlungen zu sprechen<br />

und lernen Moderationstechniken. Sie nehmen an Aktionen zur Unterstüt-


129<br />

zung anderer Berufsgruppen teil, so z.B. mehrfach in den letzten Jahren an<br />

den Streiks der Metallarbeiter in São Paulo und anderen Städten.<br />

Streik ist ein neues Wort in der Sprache der Hausangestellten. Streik bedeutet<br />

die kollektive Unterbrechung der Arbeit, um Forderungen Nachdruck zu<br />

verleihen. Dieses wichtige Instrument in der Hand der Arbeiter war in Brasilien<br />

während der Militärdiktatur verboten. Die Verfassung von 1988 gestand<br />

den Arbeitern erneut dieses Recht zu.<br />

Für die Hausangestellten ist es schwierig, Streik zur Unterstützung von Forderungen<br />

einzusetzen, u.a. auch weil da<strong>für</strong> eine starke Organisation erforderlich<br />

ist, die sie derzeit noch im Begriff sind zu bilden. Eine kollektive<br />

Aktion von Hausangestellten ist oft schwer zu erreichen, weil ja meist nicht<br />

alle denselben Arbeitsplatz haben, wie die Arbeiter einer Fabrik beispielsweise.<br />

Hier kann beispielsweise von einer Ausnahme in Belo Horizonte (Bundesstaat<br />

Minas Gerais im südlichen Zentrum des Landes) berichtet werden, wo<br />

es zu einem Streik der Hausangestellten eines Gebäudes kam. Das Gebäude<br />

hatte zwölf Stockwerke, und es gab die Regelung, dass Hausangestellte nicht<br />

den Hauptaufzug, sondern nur den <strong>für</strong> Dienstboten benutzen durften. Eines<br />

Tages war dieser Aufzug defekt, und die Hausangestellten sollten die Treppe<br />

benutzen. Daraufhin fassten sie den Entschluss, ‚die Treppen steigt niemand<br />

herauf, niemand arbeitet‘. Die PatronInnen gaben nach und erlaubten die<br />

Benutzung des Hauptaufzuges, um nicht auf die Arbeit der Angestellten verzichten<br />

zu müssen (vgl. Lenira, 1982, S. 26 und 27).<br />

Probleme der Gewerkschaft der Hausarbeiter von Rio de Janeiro –<br />

STDMRJ27 Nach Auffassung einiger Hausangestellten, die sich organisiert haben, kann<br />

u.a. durch eine Verbesserung der Klassensituation dieser Beruf noch vielen<br />

Frauen Arbeit geben, die sonst keine finden.<br />

„Ich weiß, dass die Organisation der Hausangestellten wichtig ist,<br />

um unsere Arbeitsbedingungen zu verbessern. Aber ich muss soviel<br />

arbeiten, dass ich (<strong>für</strong> dieses Engagement) keine Kraft, Zeit und Ideen<br />

habe“ (Interview der Autorin, 1994).<br />

27 Sindicato <strong>dos</strong> Trabalhadores Domésticos do Municipio de Rio de Janeiro: Gewerkschaft<br />

der Hausangestellten im Munizip Rio de Janeiro.


130<br />

Trotz des Engagements der Organisationen und der erkämpften Verbesserungen<br />

<strong>für</strong> diesen Berufszweig zahlen weniger als 500 der insgesamt 3.000 Mitglieder<br />

der Hausangestelltengewerkschaft regelmäßig ihre Mitgliedsbeiträge<br />

(vgl. <strong>Santos</strong>-Stubbe, 1995).<br />

Wie auch andere Gewerkschaften leidet die STDMRJ aus unterschiedlichen<br />

Gründen unter der niedrigen Beteiligung ihrer Basis.<br />

„... Die Gewerkschaft reagiert nicht, wenn die Klasse nicht organisiert ist ...<br />

Denn wenn wir nicht organisiert sind, fehlt uns auch das Bewußtsein, die<br />

Dinge ändern sich nicht. Meiner Auffassung nach machen wir die Arbeit in<br />

sehr kl<strong>einen</strong> Gruppen, und es sind noch wenige, die etwas machen ... es ist<br />

die Minderheit, die <strong>für</strong> die Mehrheit kämpft“ (Ausführungen einer Hausangestellten,<br />

Lenira, 1982, S. 61).<br />

Sei es aus fehlender Kenntnis, fehlendem politischen Bewußtsein oder einfach<br />

fehlendem Interesse, aber Tatsache ist, dass die Gewerkschaft mit nur<br />

wenigen rechnen kann, die in der Tat <strong>für</strong> ihre Rechte kämpfen: <strong>für</strong> Anerkennung<br />

und Respekt vor ihrem Beruf.<br />

„Trotz des großen Engagements und der beruflich-kritischen Haltung einiger<br />

Empregadas28 , lässt sich eine relativ niedrige Beteiligung der Empregadas an<br />

den Kongressen und als Gewerkschaftsmitglieder feststellen. ... Nach Auffassung<br />

der Gewerkschaftsleiterinnen, hängt diese Tatsache mit der Lebensund<br />

Wohninstabilität der Empregadas zusammen. Aber auch die mangelhafte<br />

Werbung der Gewerkschaft, die Unwissenheit über ihre Existenz seitens vieler<br />

Empregadas, das häufige Verbot einer Mitgliedschaft seitens der Arbeitgeber<br />

... mögen hierbei eine wichtige Rolle spielen“ (<strong>Santos</strong>-Stubbe, 1995,<br />

S. 61).<br />

Die brasilianische Verfassung macht sehr deutliche Vorgaben <strong>für</strong> Gewerkschaften.<br />

Danach darf pro beruflicher oder wirtschaftlicher Kategorie in<br />

einem bestimmten Raum, der mindestens ein Stadtgebiet umfassen muss,<br />

jeweils nur eine Gewerkschaft gegründet werden (vgl. Verfassung, 1988).<br />

Die räumliche Vorgabe führt jedoch in den Metropolen wie São Paulo und<br />

Rio de Janeiro zu erheblichen Nachteilen beim Aufbau von Gewerkschaften.<br />

Die großen Entfernungen zu den Versammlungsräumen u.a. demotiviert<br />

potentielle Mitglieder sich zu engagieren.<br />

28 Hausangestellte


131<br />

Wie vom Gesetz verlangt, begrenzt die STDMRJ ihre Zuständigkeit <strong>für</strong> die<br />

HausarbeiterInnen auf den Stadtbezirk Rio de Janeiros und zielt darauf ab,<br />

umfassend alle Gruppen von Hausangestellten zu betreuen. Diese räumliche<br />

Abgrenzung hängt auch mit der Gründung des Berufsverbandes der Vorstadt<br />

Nova Iguaçu zusammen, der <strong>für</strong> viele Empregadas zugänglicher ist. Dennoch<br />

werden auch HausarbeiterInnen außerhalb der Stadt Rio de Janeiro mitbetreut.<br />

Um Mitglied von der STDMRJ zu sein, soll die Empregada ein<br />

Arbeitsbuch besitzen und <strong>einen</strong> Monatsbeitrag von 1% des Minimallohns<br />

bezahlen. Das Direktorat, das nach den Richtlinien des Statuts die Gewerkschaft<br />

führen soll, wird alle 3 Jahre geheim und direkt gewählt (vgl. <strong>Santos</strong>-<br />

Stubbe, 1995).<br />

Als ihre Hauptaufgabe sieht die STDMRJ die Anstrengungen im Hinblick<br />

auf die Erfüllung bzw. Durchsetzung des von den Empregadas erlangten<br />

gesetzlichen Schutzes an. Hier<strong>für</strong> hat diese Gewerkschaft <strong>einen</strong> Service zur<br />

Unterstützung bei sozial- und arbeitsrechtlichen Fragen eingerichtet. Es werden<br />

hauptsächlich juristische Prozesse bearbeitet.<br />

Suspekte Solidarität<br />

Die Organisationen der Hausangestellten sind bei der Durchführung ihrer<br />

Aktivitäten auf die Unterstützung der verschiedenen Segmente der Gesellschaft<br />

angewiesen. Eine Gruppierung, die ihre solidarische Unterstützung<br />

anbietet, ist die brasilianische Frauenbewegung. Wie problematisch dieses<br />

Solidaritätsangebot jedoch ist, demonstriert folgender Dialog auf einer Frauenversammlung<br />

(1984) in Rio de Janeiro:<br />

Frau der Oberschicht: „Ich finde, es gibt gar keine Unterschiede zwischen<br />

uns. Wenn mein Dienstmädchen nicht zur Arbeit erscheint, stelle ich mich an<br />

die Spüle und wasche ab.“<br />

Frau der Unterschicht (Dienstmädchen): „Unsere Situation ist überhaupt<br />

nicht vergleichbar: Außer, dass ich selbst mein Dienstmädchen bin, gibt es in<br />

meiner Wohnung weder Spüle noch Wasser“ (<strong>Florisbela</strong> <strong>dos</strong> <strong>Santos</strong>, 1991;<br />

S. 42).<br />

Es ist wichtig, die Kritik von Lenira (1982) bezüglich der Solidarität unter<br />

verschiedenen Gruppen zu reflektieren. Sie berichtet, dass einige Frauen<br />

meinten, dass es <strong>für</strong> die Hausangestellten, bei denen es sich überwiegend um<br />

Frauen handelt, gut wäre, wenn sie in die Frauenbewegung einträten. „Zu<br />

Beginn gab es einige Personen, die zum Verein kamen, ... Aber, was ich sah,


132<br />

war die Mittelklasse, die dominierte. Die Frauen der Mittelklasse sind jene,<br />

die sprechen. Sie sprechen über uns, geben uns aber nicht selbst die Möglichkeit<br />

zu sprechen. Wir, als Hausangestellte, sind schon so versklavt und<br />

treten dann in eine Frauenbewegung ein, um von Frauen versklavt zu werden?<br />

Das geht nicht ... Bewegungen der Mittelklasse sind eine andere Welt.<br />

... Jetzt glaube ich, dass uns die Frauenbewegung darin unterstützt, dass die<br />

Hausfrauenarbeit höher bewertet wird ... In der Form, in der die Arbeit der<br />

Hausfrauen höher bewertet wird, glaube ich, dass unsere Arbeit (als Hausangestellte,<br />

Anm. der Autorin) auch höher bewertet wird .... Aber gleichzeitig<br />

ist es schwierig, weil dieselbe Frau, die ihre eigene Arbeit höher bewertet<br />

wissen will, die Arbeit der Hausangestellten entwertet. Sie entwertet diese<br />

Arbeit, wenn sie zur Hausangestellten sagt: ‚Du brauchst nicht viel zu verdienen,<br />

weil die Hausarbeit einfach ist ...‘ Wenn sie selbst sagt, dass man 24<br />

Stunden Freizeit hat (und) ... wenn dies zu einem Zeitpunkt von Frauen<br />

gesagt wird, die <strong>für</strong> die Aufwertung der Hausarbeit kämpfen, ist dies ein<br />

Widerspruch“ (Lenira, 1982, S. 58 und 59).<br />

Diese Zitate verdeutlichen die Problematik der Beziehung zwischen der Gewerkschaft<br />

der Hausangestellten und der brasilianischen Frauenbewegung.<br />

Die brasilianische Frauenbewegung erhebt ihre Mitglieder im wesentlichen<br />

aus dem Kreis der weißen Mittelschicht. Ihr Ziel ist Emanzipation im Sinne<br />

von Unabhängigkeit und Gleichrangigkeit mit der Stellung des Mannes. Sie<br />

wünschen die Unterstützung der Gewerkschaft der Hausangestellten, um ihre<br />

Massenbasis zu erweitern. Jedoch ist ihr gesellschaftliches Bewußtsein<br />

grundsätzlich gegensätzlich zu dem der Mitglieder der Gewerkschaft der<br />

Hausangestellten, die meist der Unterschicht entstammen. In der Regel können<br />

die Mitglieder der Frauenbewegung sich nicht in die Lage der Hausangestellten<br />

hineinversetzen. Hinzu kommt der Rollenkonflikt als Arbeitgeberin<br />

der Hausangestellten, der ebenfalls eine echte Interessenvertretung verhindert.<br />

Neben der Problematik der Zugehörigkeit zur jeweiligen Gesellschaftsschicht<br />

kommt in Brasilien noch das Problem der Hautfarbe hinzu. Für die<br />

Hausangestellte, vor allem wenn sie schwarz ist, „ist es grundsätzlich notwendig,<br />

sich im Kampf gegen die dreifache Diskriminierung – als Schwarze,<br />

Frau und Mittellose – zu engagieren. Diese drei Unterdrückungsfaktoren treten<br />

in engem Zusammenhang auf. Nur eine Gesamtlösung kann eine Lösung<br />

sein. Es kann in Brasilien nicht von einer <strong>für</strong> schwarze und weiße Frauen<br />

einheitlichen weiblichen Identität gesprochen werden. Solange die Frauen-


133<br />

bewegung nicht die spezifischen Bedeutungen dieser beiden Gruppen begreift,<br />

wird sie immer den Fehler begehen, die Komplexität der sozialen<br />

Beziehungen unberücksichtigt zu lassen“ (Carneiro, 1985, apud <strong>Florisbela</strong><br />

<strong>dos</strong> <strong>Santos</strong> 1991 S. 40).<br />

Abb. 5-6: Karikatur einer Hausangestellten (nach Veja vom 4.08.1993) 29<br />

Die Tatsache, dass <strong>für</strong> schwarze Frauen, auch wenn sie ihre Diskriminierung<br />

nicht bewusst als eine dreifache wahrnehmen, die Frage der Rasse wichtiger<br />

ist als die des Geschlechts, begründet sich darauf, dass ihre Unterdrückung in<br />

der brasilianischen Gesellschaft ihren Ursprung nicht in biologischen Geschlechtsunterschieden<br />

hat, sondern eindeutig in den rassischen und sozialen<br />

Unterschieden (vgl. <strong>Florisbela</strong> <strong>dos</strong> <strong>Santos</strong>, 1991).<br />

29 Übersetzung: Fernsehsprecher: „Auf Sendung, das Programm der brasilianischen Frau“;<br />

Hausangestellte: „Madame, Ihr Programm hat begonnen“


134<br />

Aus diesen Gründen sind die Organisationen der Hausangestellten vorsichtig<br />

in der <strong>Anna</strong>hme von Hilfsangeboten von Seiten der brasilianischen Frauenbewegung.<br />

Die Diskussion über Rassismus in der Hausangestelltengewerkschaft<br />

Die Gewerkschaft hat ihre Richtlinien an den Anforderungen des Klassenkampfes<br />

orientiert, ohne die Rassenunterschiede einzubeziehen. Die Richtlinien<br />

der Gewerkschaft der Hausangestellten gehen ähnlich wie bei anderen<br />

Gewerkschaften und Ver<strong>einen</strong> von der sozialen und beruflichen Fragestellung<br />

aus. Obwohl ein Großteil der Gewerkschaftsmitglieder schwarz ist, ist<br />

das Thema Rassismus in der Gewerkschaftsarbeit nicht von Bedeutung, denn<br />

die schwarzen Hausangestellten haben bislang k<strong>einen</strong> direkten Bezug zwischen<br />

ihrer Hautfarbe und ihrer Arbeit hergestellt. Solidaritätsbekundungen<br />

sind daher vom Umstand geprägt, der gleichen Berufsgruppe anzugehören<br />

und nicht durch die Zugehörigkeit zur gleichen Rasse.<br />

Vieira (1987) bemerkt, dass die Gewerkschaft nicht notwendigerweise die<br />

Frage des Rassismus problematisieren muss, jedoch würde sie die Chance<br />

verpassen, das Bewußtsein schwarz zu sein bei der Mehrheit der Hausangestellten<br />

zu fördern und damit zu einer entsprechenden Veränderung in der<br />

brasilianischen Gesellschaft beizutragen. Durch die Diskussion der Rassenfrage<br />

wird nicht die Bedeutung des Klassenproblems negiert. Aber wenn es<br />

um eine Berufsgruppe geht, deren Arbeit historisch ihren Ursprung in der<br />

Ausbeutung der Arbeitskraft schwarzer Sklaven hat, kann die Tatsache, dass<br />

der Rassenfrage kein ausreichendes Gewicht beigemessen wird, zu einer<br />

Verneinung der eigenen Identität führen.<br />

Der Kampf um die Anerkennung ihrer Tätigkeit als Beruf und die damit verbundene<br />

teilweise Formalisierung der Tätigkeit der Hausangestellten ändert<br />

nichts an der aktuellen Situation, dass die Hausangestellten nach wie vor<br />

mehrheitlich dem Informellen Sektor zuzuordnen sind.


5.2 Der ambulante Verkaufssektor<br />

135<br />

Der Tanz des Arbeitslosen:<br />

„Dies ist der Tanz des Arbeitslosen, der noch nicht tanzte;<br />

es ist an der Zeit, dies zu lernen.<br />

Der neue Tanz des Arbeitslosen, der Tänzer kannst morgen Du<br />

sein.<br />

... er steckt seine Hand in die Tasche, sie ist leer,<br />

er steckt sie in die Geldbörse, es ist nichts darin. ...<br />

Er sucht eine Arbeit, es gibt keine.<br />

Und er schaut nach den Zeitungsanzeigen, nichts. ...<br />

Dieser Tanz des Arbeitslosen, der Tänzer kannst morgen Du sein.<br />

Du steigst ab, Du steigst ab bis nach Paraguay,<br />

Du kehrst zurück,<br />

Du bietest die Hehlerwaren als erstklassig an, wer kauft sie?<br />

Du verkaufst und verkaufst, überlebst als Camelô und<br />

Du läufst und läufst, die Polizei nähert sich, so ein Pech.“<br />

(aus einem Lied von Gabriel Pensador, 1997)<br />

Ebenso wie die Hausangestellten sind auch die ambulanten Verkäufer ein<br />

besonderer Bereich des Informellen Sektors, den es im folgenden genauer zu<br />

betrachten gilt. Dabei sollten folgende Punkte besondere Berücksichtigung<br />

finden.<br />

• Arbeitsbedingungen<br />

• Angestrebte Verbesserungen<br />

• Organisation<br />

5.2.1 Der ambulante Verkäufer<br />

Im folgenden sollen die Tätigkeiten des Verkäufers des Informellen Sektors,<br />

nachfolgend als ‚ambulanter Verkäufer‘ bezeichnet, charakterisiert und seine<br />

Einbindung in diesen Sektor aufgezeigt werden. Ferner soll dargelegt werden,<br />

dass der ambulante Handel integrierter Bestandteil der kapitalistischen<br />

Wirtschaft ist.<br />

Der Verkauf von Gegenständen ist Teil des Dienstleistungssektors. Im Rahmen<br />

dieses Kapitels erfolgt eine Einschränkung auf das Segment ‚ambulanter<br />

Verkauf‘ innerhalb dieses Sektors.<br />

Dabei wird zwischen folgenden Gruppen unterschieden:


136<br />

• Selbständig arbeitender ambulanter Verkäufer ohne Angestellte; er kann<br />

jedoch Unterstützung ohne Bezahlung von anderen Personen erhalten,<br />

z.B. Familienangehörige.<br />

• Arbeitgeber des Informellen Sektors. Dieser arbeitet in seiner eigenen<br />

Firma, hat jedoch mindestens <strong>einen</strong> Angestellten.<br />

• Arbeitnehmer im Informellen Sektor<br />

Die Welt des ambulanten Verkäufers gehorcht, wie Goldfarb (1989) sagt, der<br />

realen Marktnachfrage und passt sich ihr an, sie produziert und bringt Reichtümer<br />

in Umlauf. Dadurch wird es einigen möglich, weitere Güter anzuhäufen,<br />

<strong>für</strong> andere ergibt sich daraus gerade die Möglichkeit des Überlebens.<br />

Dies führt zu großen Unterschieden innerhalb der Gruppe der ambulanten<br />

Verkäufer.<br />

Das ambulante Gewerbe ist eine der typischen Aktivitäten des sogenannten<br />

Städtischen Informellen Sektors. Unter ambulantem Händler versteht man<br />

eine Person – Mann, Frau oder Kind –, die in der Öffentlichkeit Handel ausübt<br />

und die den Regeln des offiziellen Handels entgeht, unabhängig vom<br />

Zeitraum des Verbleibens an einem bestimmten Ort (vgl. Goldfarb, 1989).<br />

Für Zettel (1990) ist das ambulante Gewerbe eine ökonomische Aktivität, die<br />

aus dem Einzelhandelsverkauf neuer und/oder gebrauchter Gegenstände<br />

besteht, bzw. dem Anbieten zahlreicher Dienstleistungen auf öffentlichen<br />

Straßen oder innerhalb von Märkten und an anderen öffentlichen Orten.<br />

Dabei ist nicht von Relevanz, ob eine feste Einrichtung (Baracke) erforderlich<br />

ist oder beispielsweise eine ausgebreitete Decke bzw. ein Bauchladen<br />

ausreichen.<br />

Selbst wenn der ambulante Verkauf bei der Stadtverwaltung angemeldet ist,<br />

und selbst wenn <strong>für</strong> die darin Tätigen Beiträge zur Sozialversicherung geleistet<br />

werden, ist die Schlussfolgerung, eine Eingliederung in den Formellen<br />

Sektor sei damit erreicht, nicht zulässig, da noch längst nicht die entsprechende<br />

gültige Gesetzgebung vollständig erfüllt wird.<br />

Die ambulanten Verkäufer schaffen auf den Straßen den Raum eines offenen<br />

Marktes, den Goldfarb (1989) <strong>einen</strong> ‚Blasenraum‘ nennt, der sich anläßlich<br />

eines besonderen Ereignisses oder aufgrund einer bestimmten urbanen Konstellation<br />

bildet. Dies kann das Umfeld eines Fußballstadions am Tag des<br />

Zusammentreffens zwischen zwei Halbzeiten sein, der Raum um Krankenhäuser,<br />

Friedhöfe, Schulen, Universitäten, Fabriken, Straßenbahn- und Bushaltestellen,<br />

Kirchen, Zoo u.a.. Jede ‚Blase‘ übernimmt eine bestimmte Rolle


137<br />

<strong>für</strong> ihre Benutzer, d.h. erfüllt bestimmte Bedürfnisse und übernimmt bestimmte<br />

Funktionen in Zonen oder Orten der Stadt, die <strong>für</strong> solche Zwecke<br />

nicht vorgesehen waren.<br />

In den erwähnten ‚Blasen‘ haben die ambulanten Verkäufer Verkaufsmöglichkeiten<br />

gefunden. Sie finden Formen, um ihren Markt zu vergrößern,<br />

indem sie weitere potentielle Kunden an den Fabriktoren und öffentlichen<br />

Gebäuden suchen, und sie gehen an die Haustüren, um die verschiedensten<br />

Produkte und Dienstleistungen anzubieten. Selbst Stellen vor den Kasernentoren,<br />

Polizeistationen und Gefängnissen werden von ambulanten Verkäufern<br />

in ihre Strategien zur Ausdehnung des Markts eingeschlossen.<br />

Der Ausdruck ‚Blase‘ übersetzt sehr gut die Art des Verkaufsraums, der sich<br />

immer wieder neu bildet. Selbst auf stark befahrenen mehrspurigen Straßen,<br />

von denen bekannt ist, dass es dort regelmäßig zu Verkehrstaus kommt, entsteht<br />

innerhalb kürzester Zeit ein neuer Verkaufsraum <strong>für</strong> die ambulanten<br />

Verkäufer. Inner- und außerhalb der Stadt bildet sich bisweilen ein mehr als<br />

10 km langer aktiver Markt, der stundenlang währt, wo man nicht nur eisgekühltes<br />

Wasser verkauft oder <strong>einen</strong> schnell gemachten Kaffee, um die Situation<br />

der zahlreichen Autofahrer auszunutzen, die ihrem Ziel nur schrittweise<br />

entgegenkommen. Auf diesen temporären Märkten, werden u.a. große Mengen<br />

Früchte, Puppen, Autozubehör, Blumen, Spielzeug etc. verkauft.<br />

„Wir sind aus dem Nor<strong>dos</strong>ten (Brasiliens) gekommen, meine jüngste<br />

Schwester wurde bereits hier in Rio de Janeiro geboren ... Mein Vater<br />

hat über 15 Jahre lang Schuhe vor Baustellen (seine ‚Verkaufsblasen‘)<br />

verkauft, seine Kunden, die ebenfalls fast alle aus dem Norden<br />

kommenden Bauarbeiter, bezahlten die Schuhe in bis zu 4 Wochenraten.<br />

Danach eröffnete er hier im Haus (das sich in einer Favela<br />

befindet) sein Lädchen, in dem er alles mögliche verkaufte .... Im<br />

Nor<strong>dos</strong>ten war er auch bereits Händler. Mit dem verdienten Geld<br />

konnten wir alle (4 Kinder) an der Universität ein komplettes Studium<br />

absolvieren. Heute wohne ich noch aus politischer Entscheidung heraus<br />

in der Favela“ (Interview der Autorin, 1990).<br />

Jeder kann beobachten, dass die ambulanten Verkäufer ihre Produkte sowohl<br />

in den Favelas als auch in den nobelsten Stadtvierteln anbieten. Produkte wie<br />

Fotos einschließlich Album, Scheren- und Messerschleifen etc. werden hingegen<br />

vor allem an die Bewohner von Favelas und armen Stadtvierteln angeboten.<br />

In vielen Stadtvierteln wird der Verkauf von Dienstleistungen wie


138<br />

Elektriker- und Anstreicherarbeiten, Maniküre, Pediküre oder Haarschneiden<br />

beobachtet, aber üblicher ist der Verkauf von Gemüse und Obst.<br />

„Der Herr X. kommt an allen Donnerstagen mit seinem Kombi, er<br />

bringt gutes Gemüse und frisches Obst mit und der Preis unterscheidet<br />

sich nicht sehr von dem in den Supermärkten. Eines Tages habe<br />

ich ihn gefragt, ob er mir nicht Fleisch mitbringen könne, da es dieses<br />

hier im Viertel nicht zu kaufen gibt. ... Jetzt bestellen viele Leute hier<br />

aus dem Block30 (Bewohner der oberen Mittelschicht) auch Fleisch“<br />

(Interview der Autorin, 1994).<br />

Bezüglich des Anbietens der Waren durch die ambulanten Verkäufer kann<br />

man drei Gruppen unterscheiden:<br />

• zu Fuß: Kosmetika mit oder ohne Katalog, vegetarisches Essen, zubereitete<br />

Süßspeisen, Textilien (Bett- und Tischwäsche und Kleidung), Schuhe,<br />

Bücher, Spielzeug, Kochtöpfe, Keramik, Schmuck etc.<br />

• motorisiert (Motorräder, Autos oder Kleinlaster): Frischfisch, Fleischwaren,<br />

Brot, Obst, Kleinmöbel und kleine Elektrogeräte sowie die bereits<br />

oben erwähnten Sachen.<br />

• feste Verkaufsstände (nach Zettel, 1990, werden diese auch als ambulante<br />

Verkaufsform betrachtet, weil die Einrichtungen sehr einfach sind):<br />

Kleinmöbel, Gasflaschen, Dekoration <strong>für</strong> den Innenbereich oder den Garten,<br />

medizinische und religiöse Kräuter, sowie fast alle Produkte, die man<br />

im Supermarkt kaufen kann.<br />

Auf den Straßen der Stadt kann man von den ambulanten Verkäufern praktisch<br />

alles kaufen; in bestimmten Straßen haben sich die Händler bisweilen<br />

auf den Verkauf einer bestimmten Produktgruppe spezialisiert. Das kann<br />

Kleidung sein, Werkzeuge, Elektrowaren, frische und getrocknete Lebensmittel<br />

oder solche aus einer bestimmten Region Brasiliens, wie das der Fall<br />

auf dem berühmten Markt von San Cristobal in Rio de Janeiro ist, wo Produkte<br />

aus dem Nor<strong>dos</strong>ten verkauft werden. Das Zusammentreffen von ambulanten<br />

Verkäufern mit denen, die eine Erlaubnis von der Stadtverwaltung<br />

haben, führt jedoch schnell zu Konfliktsituationen unter den Verkäufergrup-<br />

30 Sowohl in Brasilien als auch in anderen lateinamerikanischen Ländern wohnen insbesondere<br />

Mitglieder der oberen Einkommensschichten in kleineren Stadtvierteln, die aus<br />

Sicherheitsgründen eingezäunt sind. Sie werden beispielsweise als Condominio (Brasilien)<br />

oder Condado (Mexiko) bezeichnet.


139<br />

pen auch mit der Stadtverwaltung, die sich aus stadtplanerischen Gründen<br />

gegen die Ausdehnung derartiger Märkte wendet. Durch die Spezialisierung<br />

auf regionale Produkte in bestimmten Fällen erlangen einige Märkte der<br />

ambulanten Verkäufer darüber hinaus eine sozio-ökonomische und kulturelle<br />

Bedeutung. Die Märkte von São Cristovão und von Caxias sind typische<br />

Beispiele hier<strong>für</strong> in Rio de Janeiro.<br />

Das Städtewachstum und die städtische Politik zerstören einerseits ‚Blasen‘,<br />

aber schaffen anderseits wieder neue an derselben oder anderer Stelle in den<br />

verschiedenen Teilen der Stadt.<br />

„Ich verkaufe nur Ananas – süß und gekühlt (geschält und auf einem<br />

Holzstäbchen aufgespießt) .... Ich stehe um vier Uhr morgens auf, um<br />

die Ananas auf dem Zentralmarkt zu besorgen ... später kommt mein<br />

Schwager mit dem Eis hierher ... die (Ananas) ist eine Frucht, die<br />

Fett verbrennt, alle Welt will abnehmen, aus diesem Grund habe ich<br />

so viele Kunden ... das sind alles feine Leute, Beamte aus den Ämtern,<br />

bis hin zu den Stadträten kaufen hier ... Meine Frau ist Köchin in diesem<br />

Restaurant (auf der anderen Straßenseite), das Personal wollte<br />

mich von hier vertreiben, aber sie ging zu dem Boss und sagte ihm,<br />

dass ich ihr Mann sei, und da haben sie Ruhe gegeben. Sie haben nur<br />

gefordert, dass ich hier k<strong>einen</strong> Müll liegen lassen solle, aber damit<br />

passe ich sehr gut auf, denn wenn man in der Nähe Müll hat, kommt<br />

der Kunde nicht ... ich behandele meine Früchte mit viel Hygiene“<br />

(Interview der Autorin, 1994).<br />

Die ambulanten Verkäufer haben eine große Kenntnis vom Handel. Neben<br />

der Auswahl des Ortes <strong>für</strong> ihre Verkäufe, beziehen sie die Festtage, Klimaveränderungen<br />

und Modeaspekte in ihre Strategien ein, um ihre Verkäufe zu<br />

verbessern, d.h. sie arbeiten nicht außerhalb einer realen Einschätzung des<br />

Marktes.<br />

Die Verteilernetze (informelle Firmen, deren Inhaber i.d.R. der Mittelklasse<br />

zugeordnet werden können), die ambulante Verkäufer beschäftigen, haben<br />

bessere Verkaufsmöglichkeiten als die autonomen ambulanten Verkäufer,<br />

weil sie flexibler auf die Nachfrage reagieren können. Häufig haben sie ein<br />

Lager im Stadtzentrum und können auf der Stelle verschiedene Güter zu<br />

Verfügung stellen. Wenn es z.B. regnet, gibt es sofort mehrere Verkäufer,<br />

die an jeder Ecke im Stadtzentrum Regenschirme anbieten, bei Sonnenschein<br />

verkaufen sie verschiedene Arten von Hüten und Sonnenbrillen, man ver-


140<br />

kauft tragbare Ventilatoren – Made in China –, die aus Paraguay31 kommen,<br />

oder Hängematten und andere Textilien aus Ceará im Nor<strong>dos</strong>ten Brasiliens.<br />

Der allein und auf eigene Rechnung arbeitende Verkäufer hingegen kann nur<br />

die Produkte verkaufen, die er bereits am Morgen mitbringt. Wenn diese z.B.<br />

aus Gründen des Wetterumschwungs nicht mehr nachgefragt sind oder wenn<br />

ein Verkaufsprodukt ausgegangen ist, kann er sich nicht schnell mit Nachschub<br />

versorgen.<br />

Für den informellen Produzenten, der oftmals gleichzeitig ambulanter Verkäufer<br />

ist, ist es lebenswichtig, ein Informationsnetz über die Eigenheiten<br />

des Marktes, auf dem er sich bewegt, aufzubauen. Wenn dies dem informellen<br />

Produzenten nicht gelingt, besteht schnell die Gefahr, dass er von der<br />

Konkurrenz vertrieben wird oder am Markt vorbei produziert.<br />

5.2.2 Die Regulierung durch den Staat<br />

Die ambulanten Verkäufer in Brasilien beklagen, dass die Regierung sehr<br />

selten Position bezieht, um ihre Tätigkeit zu unterstützen, selbst angesichts<br />

des Anwachsens der Arbeitslosenzahl und der Kriminalität in den Städten,<br />

sowie der Tatsache, dass der ambulante Handel <strong>für</strong> viele eine gute Chance<br />

ist, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, ohne beispielsweise in die Kriminalität<br />

abzurutschen. Die Regierungsposition besteht fast immer darin, diese<br />

Tätigkeiten zu unterbinden.<br />

Eine der gewöhnlichen Regierungshandlungen ist es, die Verkaufsräume zu<br />

begrenzen und die Aktivitäten der ambulanten Verkäufer zu reglementieren.<br />

Goldfarb (1989) ist der Ansicht, dass diese Art von Vorschriften durch die<br />

Präfekturen, nämlich die Reglementierung der ambulanten Aktivitäten mit<br />

Verkaufsständen, das Vorschreiben anderer Ausstattung bis hin zum Tragen<br />

von Uniformen etc. durch die Präfekturen kaum dazu ausreichen, den<br />

Anschein eines „persischen Bazars“ zu vermeiden. Dadurch sollen diese<br />

Aktivitäten verteuert und ihre Präsenz in der Stadt reduziert werden. Das<br />

Problem geht über die „ästhetische“ Frage hinaus. Oft vom regulären Handel<br />

unter Druck gesetzt, sorgen sich die Behörden um das schwindelerregende<br />

31 Die Ciudad de Este im Länderdreieck Argentinien, Brasilien und Paraguay hat sich aufgrund<br />

ihres Status als Freihandelszone zu einem riesigen Umschlagplatz von Elektro- und<br />

anderen Waren entwickelt. Darunter finden sich auch vielfach Raubkopien von Markenprodukten.<br />

Diese Stadt ist eine wichtige Versorgungsquelle <strong>für</strong> die ambulanten Verkäufer<br />

in Brasilien.


141<br />

Anwachsen dieser Art des informellen Handels. Seit Beginn der achtziger<br />

Jahre hat sich der ambulante Handel in erheblichem Umfang als Bestandteil<br />

des städtischen Erscheinungsbildes und der Wirtschaft festgesetzt.<br />

Trotz vielfachen Protests, hat die Stadtverwaltung von Rio de Janeiro Mitte<br />

der 80er Jahre beschlossen, <strong>einen</strong> großen Teil der ambulanten Verkäufer aus<br />

dem Stadtzentrum zu vertreiben und neue Verkaufsbereiche zu schaffen, die<br />

i.d.R. weniger im Zentrum des normalen Verkaufs liegen. Für diese Bereiche<br />

wurde schnell ein neues Wort in der portugiesischen Sprache geprägt –<br />

‚Camelódromo‘ 32 . Dieses Vorgehen haben danach weitere Städte Brasiliens<br />

kopiert.<br />

Die <strong>für</strong> die ambulanten Verkäufer reservierten Bereiche stellen <strong>für</strong> viele<br />

nicht die gewünschte Lösung dar, weil sie normalerweise außerhalb der größeren<br />

Kundenströme, d.h. außerhalb der ‚Blasenräume‘, angesiedelt sind.<br />

Die Unzufriedenheit wird auch durch die Aussage eines von Goldfarb (1989<br />

S. 48) in São Paulo Interviewten belegt: „Ich bin jetzt seit drei Jahren hier<br />

und ich bin überhaupt nicht mit diesem Umzug einverstanden.“<br />

Diese Plätze sind der Versuch, künstlich den ‚Blasenraum‘ zu schaffen; die<br />

Stadtverwaltungen versuchen, der Dynamik des ambulanten Handelns <strong>einen</strong><br />

geordneten Rahmen zu geben, in dem der ambulante Verkäufer sich entfalten<br />

und seine Aktivitäten konkretisieren kann; dies gelingt jedoch nur in einigen<br />

Fällen.<br />

„Ein Expräfekt (aus Rio de Janeiro) war sehr rigide, er erlaubte<br />

nicht, dass die Personen dort verkaufen, wo sie wollten, sondern nur<br />

auf dem ‚Camelódromo‘; das war sehr wichtig. Also organisierte er<br />

<strong>einen</strong> Platz zum arbeiten. Es ist schwierig, eine gute Verkaufsstelle zu<br />

erlangen, und wer eine hat, will diese nicht mehr aufgeben, sondern<br />

nur noch verkaufen“ (Interview der Autorin, 1997).<br />

„Ich habe eine Bude auf dem ‚Camelódromo‘, aber ich laufe mit einigen<br />

Waren im Zentrum herum, um zu sehen, ob ich dort mehr verkaufen<br />

kann. Das Problem sind die Kontrolleure. Deshalb breite ich die<br />

Waren auf einer Plastikfolie33 aus und bei der geringsten Gefahr<br />

32 Camelódromo – Verbindung aus dem Wort ‚Camelô‘, das in Brasilien den ambulanten<br />

Verkäufer bezeichnet, mit der angehängten Silbe ‚odromo‘ aus dem Griechischen, was den<br />

ambulanten Verkaufsort bezeichnen soll.<br />

33 An den vier Ecken der Plastikfolie werden Schnüre befestigt. An diesen wird gezogen,<br />

sobald die Kontrolleure auftauchen, so dass die Plastikfolie praktisch eine Tasche darstellt,<br />

in der die Ware in Sicherheit gebracht werden kann.


142<br />

ziehe ich an den Bändern und haue ab. Es ist schwer, ‚Camelô‘ zu<br />

sein, aber ich brauche es“ (Interview der Autorin, 1997).<br />

„Die Kontrolle ist überall. Man muss eine Lizenz haben. Es ist aber<br />

schwierig, sie zu bekommen. Ich will arbeiten. Es ist schwierig, eine<br />

Arbeit zu finden, und wenn man eine feste Stelle findet, verdient man<br />

wenig. Hier verkaufe ich gut, es ist eine gute Ware (importiertes Produkt<br />

mit unbekannter Herkunft), bei jeder Reklamation tausche ich<br />

um, meine Produkte sind gut und ich gebe Garantien“ (Interview der<br />

Autorin, 1996).<br />

5.2.3 Differenzierung der Tätigkeiten des ambulanten Verkaufs<br />

Die Bandbreite der ambulanten Verkäufer ist sehr groß: es gibt kleine und<br />

sehr kleine, aber auch große und sehr große Verkäufer. Hinzu kommen noch<br />

diejenigen, die als Verkäufer arbeiten, ohne im Besitz der von ihnen verkauften<br />

Waren zu sein. Gleichzeitig muss auch hier die Unterteilung nach denen<br />

der Unter-, Mittel- und Oberschicht gemacht werden (s. Kapitel 2).<br />

Abb. 5-7: Ambulanter Straßenhandel<br />

Abb. 5-8: Ambulanter Straßenverkäufer


143<br />

Nach einer von der städtischen Präfektur von ‚Cidade Verde‘ (im Bundesstaat<br />

Mato-Grosso) 1993 durchgeführten Untersuchung, erreicht die Mehrzahl<br />

der ambulanten Verkäufer bei einer Untersuchungseinheit von 371 (ambulanten)<br />

Verkäufern ein durchschnittliches Einkommen von 2 bis 3 Mindestlöhnen<br />

(69%). 44% von ihnen üben diese Tätigkeit schon mehr als 5 Jahre<br />

aus und nur 14 % weniger als ein Jahr. 64% haben den 1. Schulgrad34 erreicht<br />

(beendet oder nicht); 23,5% haben in ihren Stellungen um Entlassung<br />

gebeten, um in diesem Bereich zu arbeiten, und 14% haben nie <strong>einen</strong><br />

anderen Beruf ausgeübt, als den des ambulanten Verkäufers.<br />

Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit, deren Feldforschung eine sehr<br />

kleine Stichprobe umfasst, sind denen der Untersuchung in Cidade Verde<br />

sehr ähnlich, wobei nicht vergessen werden darf, dass Cidade Verde und die<br />

Stadt Rio de Janeiro eine unterschiedliche geschichtliche und städtische Entwicklung<br />

haben. Es kann jedoch angenommen werden, dass diese Unterschiede<br />

nur von geringer Relevanz sind, was die Tendenzen und Situationen,<br />

in denen sich die ambulanten Verkäufer in Brasilien und selbst in Lateinamerika<br />

befinden, angeht.<br />

Selbst wenn die Tätigkeit als ambulanter Verkäufer eine vorübergehende<br />

Lösung <strong>für</strong> einige, unabhängig davon wie lange dieses Provisorium in Wirklichkeit<br />

dauert, und eine Rettung <strong>für</strong> andere darstellt, sind nicht alle glücklich<br />

mit ihrer Situation, vor allem jene nicht, die als ambulante Verkäufer <strong>für</strong><br />

Dritte arbeiten.<br />

„... Ich arbeite seit 5 Jahren im ambulanten Handel und halte es nicht<br />

mehr aus; die Arbeit ist sehr anstrengend. Man ist den ganzen Tag<br />

auf der Straße und man hat kein Privatleben mehr. Diese Arbeit ist<br />

vorübergehend, ich werde versuchen, meine Ausbildung zu beenden<br />

und meine Kinder besser zu versorgen. ... Ich möchte diese Form der<br />

Arbeit aufgeben, um m<strong>einen</strong> eigenen Laden an einem guten Platz zu<br />

eröffnen. Es ist unangenehm, auf der Straße zu arbeiten .... es gibt<br />

keine Toilette ... und die Besitzer des Verkaufsstandes kommen und<br />

fragen, ob der Verkauf gut geht, hinterlassen einige Waren, nehmen<br />

den Kasseninhalt mit und gehen wieder weg“ (Interview der Autorin,<br />

1996).<br />

Die Hoffnung, den ambulanten Handel aufzugeben und ein festes Geschäft<br />

zu beginnen, wurde von mehreren Interviewten geäußert; dieses wird aber<br />

34 Zur Erlangung des 1. Schulgrades (1° grau), muss die Schule 8 Jahre besucht werden.


144<br />

nicht unbedingt vom Wunsch geleitet, ein legalisiertes Geschäft zu betreiben.<br />

Vielmehr geht es darum, ein eigenes Geschäft zu haben und eine weniger<br />

stressige Tätigkeit auszuüben.<br />

5.2.4 Verkäufer der Unter- und Mittelschicht<br />

Während der Untersuchung wurden von den ambulanten Verkäufern folgende<br />

Probleme am häufigsten benannt: unsicherer Verdienst, ermüdende Arbeit,<br />

fehlende Wachstumsperspektive, Vorurteile seitens der Gesellschaft, lange<br />

Wartezeit, um eine Lizenz zu bekommen, mit der man ohne Sorge um Festnahme<br />

oder Verlust der Waren arbeiten kann, Probleme mit den Kontrollen,<br />

fehlende Regierungsunterstützung. Das Problem, dass der ambulante Verkäufer<br />

sein Einkommen nicht nachweisen kann, verringert die Möglichkeiten,<br />

Kredite zu besseren Bedingungen zu erhalten. Die Anstrengungen, die<br />

Verkaufsbude auf- und abzubauen, zusammen mit der Tatsache, die Arbeit<br />

im Freien (bei Regen und bei Sonnenschein) leisten zu müssen, und die Notwendigkeit,<br />

täglich viele Stunden zu arbeiten, wurden als weitere Erschwernisse<br />

dieses Berufs erwähnt.<br />

Als Ergebnis der vorliegenden Studie wurde eine durchschnittliche tägliche<br />

Arbeitszeit von 14 Stunden festgestellt. Die Ergebnisse dreier Untersuchungen<br />

in den Städten São Paulo, Belo Horizonte und Porto Alegre haben<br />

gezeigt, dass 77% der informellen Arbeiter mehr als 8 Stunden am Tag und<br />

im Wochendurchschnitt 45 Stunden arbeiten. Tatsächlich wünschen sich die,<br />

die im Informellen Sektor tätig sind, dass auch <strong>für</strong> sie die allgem<strong>einen</strong><br />

Regeln der Arbeitszeit gelten (vgl. Veja vom 06.09.1995).<br />

Im Rahmen der Untersuchung konnte festgestellt werden, dass etwa Zweidrittel<br />

der ambulanten Verkäufer im Informellen Sektor als Selbständige<br />

arbeiten. Dies deckt sich auch mit den Ergebnissen der Studie der IBGE aus<br />

dem Jahr 1999.<br />

Verschiedene Untersuchungen zum Informellen Sektor kommen zu dem<br />

Schluss, dass die Tätigkeit des ambulanten Verkäufers provisorisch ist, d.h.<br />

dass die Tätigkeit aufgrund von einer Notsituation aufgenommen und, sobald<br />

sich eine Alternative ergibt, gewechselt wird. Dies wurde auch in der vorliegenden<br />

Studie von einigen Verkäufern bestätigt. Demgegenüber zeigt diese<br />

Untersuchung insgesamt jedoch ein anderes Bild. Die Tätigkeit ist nicht so<br />

provisorisch wie viele es erwarten. Wie die nachfolgende Abbildung 5-9<br />

zeigt, verbleiben die ambulanten Verkäufer sehr lange Zeit in diesem Beruf.


145<br />

Mehr als 50 % der befragten ambulanten Verkäufer sind bereits über 5 Jahre<br />

in diesem Bereich tätig, einer von ihnen sogar länger als 30 Jahre. Der überwiegende<br />

Teil von ihnen arbeitet selbständig und etwa ein Drittel verkauft<br />

Waren eines informellen Arbeitgebers. 35<br />

Anzahl<br />

6<br />

5<br />

4<br />

3<br />

2<br />

1<br />

0<br />

< 0,5 0,5 - 1,0 1,0 - 2,5 2,5 - 5,0 5,0 - 10,0 10,0 - 15,0 15,0 - 20,0 > 20,0<br />

Zeit [Jahre]<br />

autonom angestellt<br />

Abb. 5-9: Berufsjahre als ambulanter Händler (eigene Erhebungen, 1994)<br />

Anzahl<br />

7<br />

6<br />

5<br />

4<br />

3<br />

2<br />

1<br />

0<br />

< 0,5 0,5 - 1,0 1,0 - 2,5 2,5 - 5,0 5,0 -<br />

10,0<br />

Zeit [Jahre]<br />

10,0 -<br />

15,0<br />

15,0 -<br />

20,0<br />

mit Soz.versicherung ohne Soz.versicherung<br />

> 20,0 k. A.<br />

Abb. 5-10: Anteil der ambulanten Verkäufer, die freiwillig in die Sozialversicherung<br />

einzahlen, in Abhängigkeit von der Zeit in diesem<br />

Sektor (eigene Erhebungen, 1994)<br />

35 An dieser Stelle sowie in den nachfolgenden Abbildungen wird nicht zwischen ambulanten<br />

Verkäufern mit oder ohne Angestellte unterschieden.


146<br />

Nur etwa ein Drittel der ambulanten Verkäufer zahlt freiwillig Beiträge zur<br />

Sozialversicherung, vergleichbar dem Teil der Hausangestellten (s. Kapitel<br />

5.1) und dies in der Regel erst nach etwa zwei Jahre in diesem Sektor<br />

(s. Abbildung 5-10).<br />

Grundsätzlich ist es möglich, von der Stadtverwaltung jeweils <strong>für</strong> <strong>einen</strong><br />

begrenzten Zeitraum eine Genehmigung <strong>für</strong> den Verkauf von Waren zu<br />

erhalten. Diese Genehmigung ist jedoch noch kein ausreichendes Kriterium<br />

<strong>für</strong> die Einordnung in den Formellen Sektor oder Informellen Sektor. Außerdem<br />

ist sie mit Restriktionen – insbesondere hinsichtlich des Verkaufsstandortes<br />

– verbunden, und die Erlangung dauert in der Regel sehr lange, in einigen<br />

Fällen mehr als ein Jahr. Da dies die Verkaufsmöglichkeiten erheblich<br />

beeinträchtigt, wird von einem Großteil weiterhin ohne diese Genehmigung<br />

verkauft (s. Abbildung 5-11). Etwa die Hälfte der ambulanten Verkäufer und<br />

vor allem jene, die erst wenige Jahre in diesem Sektor tätig sind, verfügt über<br />

eine Genehmigung.<br />

Anzahl<br />

4,5<br />

4<br />

3,5<br />

3<br />

2,5<br />

2<br />

1,5<br />

1<br />

0,5<br />

0<br />

< 0,5 0,5 - 1,0 1,0 - 2,5 2,5 - 5,0 5,0 -<br />

10,0<br />

Zeit [Jahre]<br />

10,0 -<br />

15,0<br />

15,0 -<br />

20,0<br />

mit Genehmigung ohne Genehmigung<br />

> 20,0 k. A.<br />

Abb. 5-11: Anteil der ambulanten Verkäufer, die über eine Genehmigung<br />

der Stadt <strong>für</strong> den Verkauf verfügen, in Abhängigkeit von der Zeit<br />

in diesem Sektor (eigene Erhebungen, 1994)<br />

Die Gründe da<strong>für</strong>, weshalb die Personen im ambulanten Verkaufssektor tätig<br />

sind, sind größtenteils durch die fehlende Beschäftigung in anderen Bereichen<br />

(14 Antworten), gefolgt von der Möglichkeit mehr zu verdienen (8 Antwor-


147<br />

ten) und der Unabhängigkeit von einem Arbeitgeber (5 Antworten); lediglich<br />

eine Person gab als Grund an, dass ihr die Arbeit gefällt (s. Tabelle 5-6).<br />

Gründe <strong>für</strong> die Tätigkeit Anzahl %<br />

Fehlende Beschäftigung in einem anderen Bereich<br />

(Formeller Sektor)<br />

14 46,6<br />

Bessere Verdienstmöglichkeiten 8 26,7<br />

Selbständigkeit 5 16,7<br />

Gefallen an der Tätigkeit 1 3,3<br />

Keine Antwort 2 6,7<br />

Tab. 5-6: Gründe <strong>für</strong> die Tätigkeit im ambulanten Verkaufssektor (eigene<br />

Erhebungen, 1994)<br />

„Ich habe nie <strong>einen</strong> anderen Beruf gehabt und daher als Kind bereits<br />

angefangen, an den Bushaltestellen Bonbons zu verkaufen ... In all<br />

diesen Jahren habe ich mehrmals die Produkte gewechselt, aber ich<br />

bin immer hier ... Ich habe mich ein wenig verbessert, und jetzt habe<br />

ich mein kleine Baracke und verkaufe Sandalen“ (Interview der Autorin,<br />

1996).<br />

Nahezu alle ambulanten Verkäufer übten vorher andere Berufe aus, wie<br />

Mechanikergehilfe, Elektriker, Näher, Bäcker, Ausfahrer <strong>für</strong> Getränke, Maurer,<br />

Verkäufer, Klempner, Gefreiter, Zeichner, Schreiner.<br />

Ein wichtiger Aspekt <strong>für</strong> die ambulanten Verkäufer ist das Einkommen; es<br />

ist jedoch schwierig, alle von ihnen ausgeübten Tätigkeiten zu erfassen und<br />

so die tatsächlichen Einkommen zu bestimmen. Auf jeden Fall konnte ein<br />

relativ hoher täglicher Verdienst bei der Mehrheit der ambulanten Verkäufer<br />

festgestellt werden (s. Abbildung 5-12), auch wenn dies im Rahmen dieser<br />

Studie nicht weiter quantifizierbar war. Der ambulante Verkäufer ist normalerweise<br />

nicht gewohnt, alle Ein- und Ausgaben zu notieren, häufig werden<br />

gerade die kleineren Beträge vergessen und die Verkäufer bekommen somit<br />

eine falsche Vorstellung von ihren realen Einkünften. Unabhängig davon<br />

kann aufgrund dieser Untersuchung jedoch festgehalten werden, dass die<br />

Mehrheit täglich mehr als 25 US Dollar verdient. Der Durchschnittsverdienst<br />

der angestellten ambulanten Verkäufer betrug etwa 240 USD pro Monat, der


148<br />

der Selbständigen etwa 565 USD und der der Arbeitgeber bei 1.155 USD.<br />

Auch wenn dieser Betrag nicht dem tatsächlichen Einkommen entspricht, sei<br />

zum Vergleich hier aufgeführt, dass der monatliche Mindestlohn <strong>für</strong> nichtqualifizierte<br />

Tätigkeiten im formellen Wirtschaftssektor zum Zeitpunkt der<br />

Untersuchung 70 Dollar betrug.<br />

Anzahl<br />

14<br />

12<br />

10<br />

8<br />

6<br />

4<br />

2<br />

0<br />

bis 25 25 bis 50 50 bis 75<br />

USD pro Tag<br />

75 bis 100 über 100<br />

Abb. 5-12: Täglicher Verdienst (USD) der ambulanten Händler (eigene<br />

Erhebungen, 1994.)<br />

Im Rahmen der Untersuchung wurde zusammen mit den jeweiligen ambulanten<br />

Verkäufern eine Schätzung des Werts der ausgelegten Waren gemacht.<br />

Dabei konnte festgestellt werden, dass mehr als Dreiviertel (76%) der Waren<br />

industrieller Herkunft waren (s. Abbildung 5-13). Die befragten ambulanten<br />

Verkäufer hatten <strong>einen</strong> Warengegenwert von mehr als 2 Mindestlöhnen36 und 30% von ihnen sogar mehr als das 10-fache des Mindestlohns. Darüber<br />

hinaus ergab die Untersuchung, dass fast 20% der ambulanten Verkäufer<br />

nicht Eigentümer der Waren sind, die sie verkaufen.<br />

„Ich werde nicht von der Kreuzung verschwinden, um weniger in einer<br />

Fabrik zu verdienen“. X gab seine vertraglich abgesicherte Beschäftigung<br />

auf und gliederte sich in den „Ampelsupermarkt“ ein (Veja vom 31.03.1993),<br />

wo er besser verdient.<br />

36 Zum Zeitpunkt der Untersuchung betrug der Minimallohn 70 USD.


149<br />

Obwohl die ambulanten Verkäufer ein vergleichsweise gutes Einkommen<br />

haben, fühlen sie sich von der Gesellschaft diskriminiert. Dies wird auch<br />

durch die Untersuchung von Sales de Brito (1996) bestätigt und gilt sowohl<br />

<strong>für</strong> die Verkäufer mit als auch <strong>für</strong> solche ohne Genehmigung.<br />

Anzahl<br />

9<br />

8<br />

7<br />

6<br />

5<br />

4<br />

3<br />

2<br />

1<br />

0<br />

bis 100 150 300 500 700 > 1.500 k.A.<br />

Warenwert in USD<br />

Abb. 5-13: Geschätzter Warenwert der ambulanten Händler (eigene Erhebungen,<br />

1994)<br />

Das Verhältnis zwischen den ambulanten Verkäufern ist relativ gut, zumal es<br />

<strong>für</strong> sie lebenswichtig und die beste Waffe gegen Eindringlinge ist. Dies gilt<br />

insbesondere <strong>für</strong> die ohne Genehmigung arbeitenden ‚Camelôs‘, die sich<br />

auch um die Kontrolleure sorgen müssen.<br />

Die von Sales de Brito durchgeführte Untersuchung (1996) hat die Frage<br />

nach dem Ursprung der Waren aufgeworfen, welche in den folgenden Kapiteln<br />

näher erläutert wird:<br />

1. Die ‚Camelôs‘ stellen ihre Waren selbst her (Handwerker),<br />

2. Die ‚Camelôs‘ verkaufen gestohlene Waren,<br />

3. Die ‚Camelôs‘ verkaufen Waren, die hauptsächlich aus Paraguay kommen<br />

(dabei handelt es sich um industrielle Produkte).


150<br />

5.2.4.1 Die Camelôs stellen ihre Waren selbst her<br />

Das Selbstherstellen der zum Kauf angebotenen Waren hat ein besonderes<br />

Kennzeichen. Wenn man in der Stadt eine Frau mit einem Korb sieht, die<br />

Kuchenstücke verkauft, also eine typische Tätigkeit des Städtischen Informellen<br />

Sektors durchführt, wird selten eine Verbindung zur Herstellung dieses<br />

Produktes gemacht. Diese Frau muss jedoch die erforderlichen Zutaten<br />

eben auf dem Markt kaufen, auf dem sie auch ihr Produkt verkaufen will und<br />

wird normalerweise nur <strong>für</strong> ihre Arbeitskraft bezahlt, macht jedoch k<strong>einen</strong><br />

Gewinn im kapitalistischen Sinne.<br />

Herr X. stellt Kokosnußplätzchen her und verkauft sie selbst:<br />

„..meine jüngste Tochter erkrankte schwer und ich musste das Geld,<br />

das ich verdiene, und das Geld, das ich <strong>für</strong> den Kauf von Kokosnuß<br />

und Zucker beiseite gelegt hatte, zum Kauf der Medikamente benutzen<br />

... Zur Zeit arbeite ich als Maurer, aber sobald ich genug habe, um<br />

wieder die Zutaten zu kaufen, mache ich wieder Kokosnußplätzchen,<br />

da verdiene ich mehr. Mein Problem wird sein, meine alten Kunden<br />

zurückzugewinnen“ (Interview der Autorin, 1994).<br />

Aber es fehlte ihm auch danach das Geld <strong>für</strong> die Zutaten, so dass die getätigten<br />

Investitionen in <strong>einen</strong> Herd und eine glatte Zementfläche zur Herstellung<br />

der Plätzchen verloren waren.<br />

Ein Teil der ambulanten Verkäufer kauft bereits vorbereitete Produkte und<br />

veredelt sie. Frau X. kauft bereits gedruckte Kalender und stellt den Einband<br />

da<strong>für</strong> zu Hause her. Dieses Produkt bietet sie dann am Ende des Jahres oder<br />

am Anfang des <strong>neuen</strong> ohne Verkaufserlaubnis auf einem kl<strong>einen</strong> Stand auf<br />

der Straße an. Während der übrigen Jahreszeit versucht sie es mit der Herstellung<br />

anderer Produkte wie Hefte, Notizbücher und Tagebücher.<br />

Man kann feststellen, dass die kl<strong>einen</strong> Geschäfte, die im Informellen Sektor<br />

produzieren, alle im Formellen Sektor ihre Basis haben. Zum Beispiel, die<br />

Werkstätten zur Herstellung von Möbeln und Holzspielzeug, die Schmieden<br />

(Hersteller von Toren, Fenstern und anderen Eisen- oder Aluminiumgegenständen)<br />

und Textilwerkstätten; immer wird der eingesetzte Grundstoff vom<br />

Formellen Sektor geliefert, manchmal direkt von den Fabriken, in der Mehrzahl<br />

der Fälle jedoch über feste Lieferanten. Die Tatsache, dass ein Teil der<br />

Grund- oder Zusatzstoffe vom Formellen Sektor geliefert wird, bedeutet<br />

nicht, dass der Städtische Informelle Sektor von diesen abhängig ist; vielmehr<br />

sind sie Teil desselben Wirtschaftssystems.


151<br />

Ein Großhändler aus dem Strickwaren- und Stoffhandel: „Von 1.500 mehr<br />

oder weniger festen Kunden, die ich habe, sind mindestens 500 aus dem<br />

Informellen Sektor, und es sind die, die das Wachstum meines Geschäftes<br />

garantieren“ (Veja vom 12.07.1989). Die Eisen- und Aluminiumlieferanten<br />

in Rio de Janeiro gehen sogar noch weiter, sie sagen, dass 80% ihrer Kunden<br />

im Städtischen Informellen Sektor tätig sind.<br />

Der Verkäufer, der gleichzeitig Hersteller ist, schafft es zum Beispiel nicht,<br />

den Rohstoffpreis zu reduzieren, um s<strong>einen</strong> Gewinn zu vergrößern, da er nur<br />

in kl<strong>einen</strong> Mengen einkaufen kann. Da seine Tätigkeit normalerweise<br />

arbeitsintensiv ist, investiert er wenig in Geräte – und kann so s<strong>einen</strong> Gewinn<br />

nicht erhöhen. Er kauft zum normalen Preis auf dem Markt ein, als ob er ein<br />

Konsument und nicht ein Warenhersteller wäre; daher bekommt er nur eine<br />

Entlohnung <strong>für</strong> seine Arbeit.<br />

Die Erfahrung eines Herstellers und Verkäufers seiner eigenen aus Leder<br />

gemachten Waren (Taschen und Sandalen) soll dies verdeutlichen:<br />

„Ich habe 10 Jahre lang in einer Taschen- und Sandalenfabrik gearbeitet,<br />

ich wurde entlassen, mit einem Teil der Abfindung habe ich<br />

eine gebrauchte Ledernähmaschine gekauft, einige Modelle hatte ich<br />

im Kopf ... wir kämpfen jetzt schon fast 4 Jahre. Ich kann mir kein<br />

echtes Leder leisten, deshalb arbeite ich mit Kunstleder ... Imitation<br />

... Hier zu Hause arbeiten meine Frau, meine beiden Kinder (10 und<br />

12 Jahre alt) nach der Schule, eine Schwester meiner Frau, die unsere<br />

Nachbarin ist, und ich. Im letzten Jahr musste ich einige Nachbarn<br />

bitten, auch <strong>für</strong> mich zu arbeiten (2 Monate), das war um Weihnachten.<br />

Ich habe gut verkauft, sogar an andere ambulante Verkäufer. Das<br />

Problem ist, dass mein Haus sehr klein ist, es gibt nur Platz <strong>für</strong> eine<br />

Maschine im Wohnzimmer ..., das Geld reicht nicht aus, um das Haus<br />

zu vergrößern; die Grundstücksgröße ist auch ein Problem (der Interviewte<br />

wohnt in einer Favela). Aber im Moment bemühe ich mich, ein<br />

Auto zu kaufen, selbst wenn es nur ein altes ist, um leichter die <strong>Materialien</strong><br />

besorgen zu können, was mit dem Autobus sehr anstrengend<br />

ist, und um die Waren in die Stadt zum Verkaufen zu bringen sowie<br />

um die Bestellungen <strong>für</strong> einige Kunden (Wiederverkäufer), die ich<br />

habe, abzuliefern“ (Interview der Autorin, 1990).


152<br />

Abb. 5-14: Informelle Möbelwerkstatt<br />

5.2.4.2 Der Camelô als Verkäufer industrieller Produkte<br />

Die Mehrheit der ambulanten Verkäufer verkauft industrielle Produkte, die<br />

von nationalen oder internationalen Industriebetrieben bzw. der Agroindustrie<br />

hergestellt werden. Dabei handelt es sich sowohl um unbekannte als<br />

auch um bekannte Marken. Teilweise werden die Waren bei Großhändlern,<br />

teilweise jedoch auch direkt bei den Fabriken erworben; unabhängig davon<br />

kann es sich auch um Hehlerware handeln. Die nachfolgende Tabelle 5-7<br />

gibt <strong>einen</strong> detaillierten Überblick über die Produktpalette der ambulanten<br />

Verkäufer sowie die Herkunft der Produkte.


Produktpalette der<br />

ambulanten<br />

Verkäufer<br />

Landwirtschaftliche<br />

Produkte<br />

Süßigkeiten (Bonbons,<br />

Schokolade<br />

etc.)<br />

Bemerkung<br />

153<br />

Die Camelôs verkaufen keine Produkte aus dem<br />

eigenen Garten, sondern beziehen Obst und Gemüse<br />

zum Weiterverkauf vom Großmarkt.<br />

Einkauf im allgem<strong>einen</strong> bei einem Großhändler in<br />

der Nähe des Stadtzentrums. Einige dieser Produkte,<br />

die sich schon mehr als 20 Jahre auf dem Markt<br />

befinden, werden dabei exklusiv <strong>für</strong> den Vertrieb<br />

durch die ambulanten Verkäufer hergestellt und man<br />

findet sie weder im Supermarkt noch in anderen<br />

Geschäften.<br />

Lebensmittel Konserven werden im allgem<strong>einen</strong> in den großen<br />

Supermärkten oder Kaufhäusern gekauft, die immer<br />

interessante Sonderangebote haben. Es gibt jedoch<br />

auch den Direktverkauf der Hersteller zu Sonderpreisen<br />

an den Informellen Sektor, insbesondere,<br />

wenn das Verfalldatum der Waren nahezu erreicht<br />

ist.<br />

Textilien Konfektionsware wird teilweise im Großhandel beschafft,<br />

die Produkte verschiedener Hersteller vertreiben;<br />

eine der Befragten bestellte ihre Ware bei<br />

einer Näherin, lediglich eine versorgte sich direkt bei<br />

einer Fabrik des Informellen Sektors und eine andere<br />

erhielt ihre Strickjacken von einem zum Formellen<br />

Sektor gehörenden Kleinproduzenten gegen Rechnung.<br />

Schulartikel Zwei der befragten Verkäufer gaben an, dass sie<br />

diese Produkte, bei denen es sich häufig um internationale<br />

Markenwaren handelt, direkt in den Fabriken<br />

kaufen, z.B.: BIC, FAE, Faber-Castell.<br />

Tab. 5-7: Produktpalette der ambulanten Verkäufer und Herkunft der<br />

Produkte (eigene Erhebungen, 1994) (1)


154<br />

Werkzeug Die Verkäufer von Scheren und anderen Werkzeugen<br />

unterschiedlicher Art sagten, dass sie ihre Waren<br />

in São Paulo direkt von einer Fabrik kaufen, ohne<br />

jedoch den Namen der Fabrik zu nennen. Auffällig<br />

war, dass mehrere Verkäufer an verschiedenen Plätzen<br />

die gleichen Gegenstände zum gleichen Preis<br />

anboten, es sah nach einer Verkaufskette aus. All<br />

dies lässt den Verdacht zu, dass es sich um gestohlene<br />

Ware handelte.<br />

Kunsthandwerk Viele dieser Produkte stammen aus dem Nor<strong>dos</strong>ten<br />

Brasiliens und Peru, werden von Großhändlern nach<br />

Rio de Janeiro gebracht und hier an die ambulanten<br />

Verkäufer geliefert.<br />

Internationale Markenwaren<br />

Produkte bestimmter<br />

Regionen<br />

In beträchtlichem Umfang werden Produkte internationaler<br />

Hersteller verkauft wie: Coca-Cola, Fanta,<br />

Pepsi-Cola, verschiedene Produkte von Johnson &<br />

Johnson, Gessy Lever, Gilette, Omo, Viva; verschiedene<br />

international bekannte Zigarettenmarken,<br />

Ferrero Rocher, verschiedene Nestlé-Produkte u.a..<br />

Einige Verkäufer haben sich auf den Verkauf von<br />

regionalen Produkten, insbesondere Textilien, spezialisiert:<br />

Klöppelware und Hängematten aus Fortaleza,<br />

Strickwaren aus Petrópolis und einigen Städten<br />

des Südens, elegante Kleidung aus Städten in Minas<br />

Gerais.<br />

Tab. 5-7: Produktpalette der ambulanten Verkäufer und Herkunft der<br />

Produkte (eigene Erhebungen, 1994) (2)


Abb. 5-15: Obst- und Gemüsestände<br />

155<br />

5.2.4.2.1 Handelsgüter aus Paraguay<br />

Die Ciudad de Este in Paraguay an der Grenze zu Brasilien hat sich zu einem<br />

Mekka <strong>für</strong> die brasilianischen ambulanten Verkäufer entwickelt. Hier werden<br />

massenweise billige Industrieprodukte hergestellt, häufig handelt es sich<br />

dabei auch um Raubkopien von Markenwaren. Aus dieser Stadt können<br />

innerhalb eines Zeitraumes von 3 Monaten Waren im Wert von bis zu<br />

250 USD pro Person nach Brasilien zollfrei eingeführt werden. Hieraus hat<br />

sich ein reger Handel entwickelt, dessen Auswirkungen im ganzen Land feststellbar<br />

sind. Die in Paraguay eingekauften Produkte werden sowohl in<br />

Caruaru im Nor<strong>dos</strong>ten Brasiliens als auch auf der Av. Paulista, einer der<br />

wichtigsten Einkaufsstraßen São Paulos, bis hin zu den Städten im Süden des<br />

Landes verkauft.<br />

Die so eingeführten Waren haben inzwischen <strong>einen</strong> beträchtlichen Anteil am<br />

Umsatz verschiedener Produkte erlangt: So werden beispielsweise 15 % der<br />

Spielwaren, 45 % der Audi-Video- und sonstiger Elektrogeräte und 40 % der<br />

Parfümerieartikel aus dieser Stadt importiert. Die dort gekauften schottischen


156<br />

Whiskysorten haben bereits <strong>einen</strong> Marktanteil von 50 %, nahezu eine Monopolstellung<br />

nehmen jedoch die Keyboards ein, deren Marktanteil laut Schätzungen<br />

der brasilianischen Unternehmer bereits 90 % beträgt (vgl. Ricardo<br />

Grinbaum in Veja vom 26.07.1995).<br />

Mehr als 60,000 professionelle ‚Sacoleiros‘ 37 (im Juli 1995) aus Brasilien<br />

fahren jeden Samstag mit 500 Autobussen und 5,000 Privatwagen nach<br />

Paraguay, um auf dem Markt von Ciudad de Este einzukaufen. Die Sacoleiros<br />

bringen jeden Monat Waren im Wert von etwa 200 Millionen Dollar mit,<br />

wobei der Wert jedoch auch die Milliardengrenze erreichen kann, denn<br />

neben den offiziell eingeführten Waren gibt es noch eine große Menge von<br />

Großhändlern illegal eingeführter Waren, die auch den informellen Markt in<br />

Brasilien versorgen (vgl. Ricardo Grinbaum in Veja vom 26.07.1995). Der<br />

größte Teil des Handels aus Paraguay gelangt über geheime Wege und mit<br />

Privatflugzeugen nach Brasilien. Man schätzt, dass das Volumen dieser illegalen<br />

Transaktionen weit größer ist als das, was von dem Heer informeller<br />

ambulanter Verkäufer transportiert wird.<br />

Die Entscheidung der brasilianischen Regierung, den Einkaufswert <strong>für</strong> Waren<br />

aus der Ciudad de Este von 250 auf 150 USD zu begrenzen, um die nationalen<br />

Industrien zu schützen, war <strong>für</strong> den größten Teil der ambulanten Verkäufer<br />

eine große Überraschung. Da mit dieser Entscheidung Brasilien die<br />

Regeln und Verpflichtungen des MERCOSUL, dem beide Länder angehören,<br />

verletzte, kam es schließlich sogar zu diplomatischen Konflikten mit<br />

Paraguay.<br />

Man schätzt, dass die Brasilianer jährlich 6 bis 12 Milliarden Dollar in Ciudad<br />

de Este lassen. „Die Stadt hat sich darauf spezialisiert, Produkte aller Art aus<br />

China, Korea, Taiwan zu importieren, und sie zum Preis einer Banane an die<br />

Brasilianer zu verkaufen“ (João Sorina Neto in Veja vom 06.12.1995). Die<br />

Stadt hat ca. 6.000 Läden und Tausende von Camelôs, die praktisch alles,<br />

vom schottischen Whisky und dänischen Keksen bis hin zu japanischen<br />

Videokassetten und amerikanischen Waffen an- und verkaufen. Damit liegt<br />

die Stadt an dritter Stelle der größten Welthandelspunkte (nach Hongkong<br />

und Miami).<br />

37 Sacoleiro – Das Wort leitet sich vom protugiesischen Begriff ‚saco – Einkaufstasche‘ ab.<br />

Als Sacoleiro werden die Leute bezeichnet, die in der Ciudad de Este einkaufen und mit<br />

einer großen Anzahl voller Einkaufstaschen in die verschiedenen Städte Brasiliens zurückkehren,<br />

wo sie die Waren selbst oder an andere ambulante Verkäufer verkaufen.


157<br />

Ende 1995 war die Zahl der ambulanten Verkäufer, die wöchentlich nach<br />

Paraguay gingen, um Waren zu kaufen, auf 150.000 angestiegen. Die wirtschaftliche<br />

Schutzmaßnahme der brasilianischen Regierung führte zu erheblichen<br />

Komplikationen im Leben dieser ambulanten Verkäuferlegion, die<br />

vom Wiederverkauf dieser Produkte lebt. Sie kommen aus allen Orten des<br />

Landes und nehmen größte Anstrengungen auf sich, um diese Produkte 30<br />

bis 50% über dem Einkaufspreis zu verkaufen; es war daher frustrierend,<br />

nicht Waren <strong>für</strong> den Betrag, den sie einkalkulierten – nämlich 250 Dollar –,<br />

mitbringen zu dürfen.<br />

Das Risiko der Sacoleiros, nur mit einem Teil der Waren zurückzukommen,<br />

ist groß. Zum <strong>einen</strong> werden sie extra von den Polizisten an der Grenze<br />

‚besteuert‘ oder die Busse werden auf dem Rückweg überfallen.<br />

„... Neben dem Gesagten, fehlt es den Polizisten an Seriosität, sie fordern<br />

<strong>einen</strong> Geldbetrag oder Teil der Waren, damit die Leute mit den<br />

Einkäufen durchgelassen werden“ (Interview der Autorin, 1995, mit<br />

einem ambulanten Verkäufer, der von Rio de Janeiro nach Foz do<br />

Iguaçu – Ciudad de Este einkaufen gegangen war).<br />

Im Umfeld des ambulanten Handels gibt es noch viele weitere direkte und<br />

indirekte Arten, Geld zu verdienen. Zum <strong>einen</strong> sind hier die Anbieter von<br />

Reisen nach Paraguay zu nennen. Sie mieten <strong>einen</strong> Autobus an, reservieren<br />

Pensionen oder Hotels, organisieren zwei Mahlzeiten und zeigen die Verkaufsläden,<br />

die <strong>einen</strong> speziellen Rabatt geben. Es gibt eine Reihe von kl<strong>einen</strong><br />

Angeboten, die die Einkäufe in Paraguay erleichtern. Unabhängig davon<br />

geht die Mehrzahl der Sacoleiros jedoch allein, kauft ihre Busfahrkarten,<br />

einige kennen bereits die billigsten Pensionen und ernähren sich nur mit<br />

belegten Broten, um die Kosten der Reise und damit der Waren niedrig zu<br />

halten.<br />

Andere Personen fahren nur nach Paraguay, um <strong>für</strong> andere ambulante Verkäufer<br />

Waren zu besorgen, und lassen sich <strong>für</strong> diesen Dienst bezahlen. Wiederum<br />

andere schließen sich mit jemandem zusammen, damit der Verkauf<br />

kontinuierlich fortgeführt werden kann, auch während der Abwesenheit in<br />

Paraguay. So hat beispielsweise ein Barrackenbesitzer seine Bude einem<br />

ambulanten Verkäufer, der gleichzeitig Sacoleiro ist, zur Verfügung gestellt,<br />

verkauft dessen Waren und erhält als Entlohnung 10 % des Verkaufspreises<br />

sowie eine Miete <strong>für</strong> den Stand.


158<br />

Ein wichtiger Grund <strong>für</strong> die niedrigen Preise der Waren in Paraguay ist, dass<br />

es sich – wie bereits erwähnt – zum <strong>einen</strong> oftmals um Raubkopien von Markenartikeln<br />

handelt, zum anderen häufig aber auch um Produkte, die die<br />

Qualitätskontrollen der Industrie nicht bestanden haben oder um Reklamationen<br />

europäischer oder nordamerikanischer Kunden.<br />

5.2.4.2.2 Formen der Bezahlung<br />

Auf allgemeine wirtschaftliche Schwierigkeiten ihrer Kunden müssen sich<br />

auch die ambulanten Verkäufer einstellen. Dies führt zur Übernahme von<br />

Zahlungsmodalitäten wie sie auch im Formellen Sektor anzutreffen sind. So<br />

nehmen Camelôs an einigen Ampeln in Rio de Janeiro und São Paulo bereits<br />

bis zu 15 Tagen vordatierte Schecks an, ebenso wie Transporttickets oder<br />

Essensmarken.<br />

„Ich verkaufe so, dass meine Kunden mich in 2 oder 3 Raten bezahlen<br />

können. Aber ich hatte schon <strong>einen</strong> großen Verlust. Im Krankenhaus<br />

X habe ich viele Kunden, vor allem bei den Krankenschwestern ... ich<br />

habe einem Arzt einmal 5 Uhren gleichzeitig verkauft, ich dachte, ich<br />

hätte ein gutes Geschäft gemacht, aber er hat mir bis heute keine Uhr<br />

bezahlt und sie mir auch nicht wiedergegeben ... Ich sollte zur Polizei<br />

gehen, aber ich habe keine Kaufpapiere“ (Interview der Autorin,<br />

1996).<br />

Auch wenn die umfangreichen Geschäfte weiterhin von den großen Kapitalisten<br />

– offiziell oder nicht – gemacht werden, hat die Menge der Sacoleiros<br />

und ambulanten Verkäufer eine wirtschaftliche Bedeutung <strong>für</strong> Brasilien und<br />

Paraguay erlangt. Infolgedessen zog die Ciudad de Este immer mehr Ausländer<br />

(Japaner, Chinesen, Araber, u.a.) an, die große Geschäfte in dieser Stadt<br />

machen. Die Menge der Sacoleiros setzt Millionen von Dollar mit ihren<br />

Kleinsteinkäufen um und diese Handelstransaktionen sind von großer Bedeutung<br />

<strong>für</strong> die Zahlungsbilanz dieser beiden Länder. In der Ciudad de Este<br />

kann man inzwischen nicht einmal ein Glas Wasser mehr mit Guarana (Währung<br />

Paraguays) bezahlen, da sich der US Dollar praktisch zum lokalen Zahlungsmittel<br />

entwickelt hat.


159<br />

5.2.4.3 Zugang zu Krediten<br />

Der Start als ambulanter Verkäufer ist schwierig, selbst wenn man weiß was<br />

zu tun ist, man Kenntnisse in der Branche hat, in der man verkaufen will,<br />

und selbst wenn man verkaufen kann, stößt die Mehrheit auf ein grundlegendes<br />

Problem, um ihr Geschäft zu beginnen, nämlich das des Startkapitals.<br />

Die Mehrheit der informellen Kleinunternehmen wird nicht nur mit einer<br />

extrem dünnen Kapitaldecke gegründet, dieser Mangel hält normalerweise<br />

auch während der gesamten Existenz an. Diese Situation führt dazu, dass der<br />

Zugang zu Krediten des formellen Finanzsektors nicht bzw. nur sehr begrenzt<br />

möglich ist. In einer in der Stadt Lima durchgeführten Studie zum<br />

Städtischen Informellen Sektor wurde festgestellt, dass 82 % aller Kleinunternehmen<br />

sich konsolidiert hatten und ausschließlich mit ihrem eigenen<br />

Kapital funktionierten, dass 16% ihr gesamtes Kapital bei informellen Kreditgebern<br />

aufnahmen und lediglich 2 % ihre Kredite aus dem formellen<br />

Finanzsektor erhielten. Die von den Wucherern gewährten Kredite haben<br />

Zinssätze, die sehr selten unter 100 % jährlich liegen und die in Fällen wie<br />

bei den ambulanten Verkäufern sogar bis zu 5 % täglich betragen können<br />

(vgl. PREALC, 1987).<br />

„... Mir steht das Wasser bis zum Hals, heute muss ich irgendwie den<br />

Wucherer bezahlen“ (Interview der Autorin, 1994).<br />

5.2.4.3.1 Startkapital<br />

Wie man der Abbildung 5-16 ‚Herkunft des Startkapitals‘ entnehmen kann,<br />

ist die Situation der ambulanten Verkäufer bezüglich der Eigenkapitaldecke,<br />

um eine Geschäft zu beginnen in Rio de Janeiro ähnlich wie die in Lima.<br />

Bei der im Rahmen dieser Arbeit durchgeführten Untersuchung gab keiner<br />

der Interviewten zu, dass er <strong>einen</strong> offiziellen Bankkredit bekommen hat,<br />

obwohl einige ein Bankkonto, ein Sparbuch oder sogar eine Kreditkarte<br />

haben, auch wenn diese häufig von einem Warenhaus stammt und nur in diesem<br />

eingesetzt werden kann. Die Kreditkarte wird jedoch nicht zum Einkauf<br />

von Waren genutzt, da sich bei vielen Geschäften der Preis bei dieser Zahlungsform<br />

um 5 % bis 8 % erhöht.


160<br />

12<br />

10<br />

8<br />

6<br />

4<br />

2<br />

0<br />

Abfindung Unterstützung /<br />

Kredit durch<br />

Verwandte /<br />

Freunde<br />

Abb. 5-16: Herkunft des Startkapitals<br />

Kredit von<br />

Dritten<br />

Eigene Mittel k.A.<br />

5.2.4.3.2 Schwierigkeiten bei der Kreditbeschaffung<br />

Rezendez (1989) geht in seiner Analyse von dem Prinzip aus, dass das angehäufte<br />

Kapital zum Wachstum der Firma eingesetzt wird. Er nimmt an, dass<br />

diese Mittel <strong>für</strong> Investitionen genutzt werden können, also dort, wo der Kredit<br />

eine besonders wichtige Rolle spielt.<br />

Wie bereits erwähnt, sind Kreditmittel <strong>für</strong> die kl<strong>einen</strong> ambulanten Verkäufer<br />

und selbst <strong>für</strong> die Kleinfirmen nahezu unerreichbar. Die Schwierigkeiten, die<br />

die Kreditgeber bei diesen beiden Gruppen sehen, liegen vor allem im<br />

Kostenaspekt. Die angeführten Gründe sind:<br />

• Diese Firmen sind normalerweise weniger auf die Anforderungen, die ein<br />

Kreditgeber stellt, vorbereitet. Daher nimmt der Vergabeprozess, bis die<br />

Institutionen das Unternehmensprofil verstehen und die Kleinunternehmen<br />

die Dokumente vorbereiten, mehr Zeit in Anspruch. Darüber hinaus<br />

wird unterstellt, dass sie sehr viel mehr Zeit brauchen, um die Kredite<br />

wieder zurückzahlen zu können.<br />

• Die Kleinunternehmen besitzen überhaupt keine Garantien, so dass es <strong>für</strong><br />

das Kreditinstitut sehr riskant ist, das Geld zu verleihen.<br />

Der fehlende Zugang zu Krediten sowie die Schwierigkeit intern Kapital zu<br />

akkumulieren erfordern die Suche nach Alternativen <strong>für</strong> den Kauf von


161<br />

Waren. Die ambulanten Verkäufer gehen daher dazu über, die Verkaufsfristen<br />

zu reduzieren und den Lagerbestand möglichst gering zu halten, damit<br />

nur wenig Kapital gebunden ist.<br />

Die bürokratischen Anforderungen <strong>für</strong> die Kreditvergabe stellen nicht nur <strong>für</strong><br />

die Geber bei der Vergabe an Kleinunternehmer <strong>einen</strong> hohen Aufwand dar,<br />

sondern sind häufig ein nur schwer überwindbares Hindernis <strong>für</strong> die Kleinunternehmer<br />

selbst. Informalität bedeutet u.a. auch, dass keine geordnete<br />

oder irgendwelchen Normen entsprechende Buchhaltung vorgenommen<br />

wird, so dass bei der Beantragung von Krediten die geforderten Dokumente<br />

nicht vorgelegt werden können; zudem ist die Erbringung der Dokumente<br />

mit erheblichen Kosten <strong>für</strong> den Kreditnehmer verbunden, da er selbst häufig<br />

nicht in der Lage ist, die geforderten Dokumente auszufüllen.<br />

Kredite stehen überwiegend dem Formellen Sektor zur Verfügung, der<br />

Wechsel vom Informellen zum Formellen Sektor ist jedoch selten interessant,<br />

da damit alle Gewinne aufgezehrt werden bzw. es zu einer Verschuldung<br />

kommen kann. In den Fällen, in denen es „<strong>einen</strong> Wechsel einer (informellen)<br />

Kleinfirma zu einer formellen Firma gab, wurden die Gewinne (vor<br />

Steuern) zu ca. 80 % bis 90 % absorbiert. Daher bedeutet ein Wechsel der<br />

kl<strong>einen</strong> Unternehmen vom Informellen zum Formellen Sektor ein Ausbleiben<br />

der Gewinne und bei 12 % bis 20 % kann es sogar zu Defiziten. Solche<br />

Prozentzahlen stellen wegen ihrer Größenordnung Hindernisse <strong>für</strong> das<br />

Wachstum einer Firma dar und lassen sie in den Informalisierungsprozess<br />

der Verkäufe, der Einkäufe oder beiden zurückkehren, um ihre Lukrativität<br />

zu bewahren“ (Rezendes, 1989; S. 153).<br />

5.2.4.3.3 Der informelle Kreditgeber<br />

Angesichts der Schwierigkeiten, Kredite im Formellen Sektor zu erhalten,<br />

bleibt den ambulanten Verkäufern oder den Kleinunternehmen des Informellen<br />

Sektors auch nur der Weg zum informellen Kreditgewerbe offen. Trotz<br />

der Schwierigkeiten, <strong>einen</strong> Interviewpartner <strong>für</strong> diesen Bereich zu finden,<br />

gelang es der Autorin doch mit jemandem zu sprechen, der allgemein als<br />

Wucherer bezeichnet werden kann. Das nachfolgend mit ihm aufgezeichnete<br />

Gespräch zeigt deutlich die Wichtigkeit seiner Stellung in diesem Sektor,<br />

unabhängig von seiner Motivation, möglichst große Gewinne beim Verleihen<br />

zu erzielen.


162<br />

Herr X berichte, mit dem Geldgewerbe begonnen zu haben, als er vor mehr<br />

als 10 Jahren die ‚Weihnachtskasse‘ (Caixinha38 ) in seiner Abteilung zu<br />

organisieren hatte:<br />

„Weihnachten war vorbei, im folgenden Monat kamen die Kollegen,<br />

um mich zu bitten, nochmals eine Caixinha zu organisieren. ... In<br />

Wirklichkeit führen der geringe Lohn und die vielen Verpflichtungen<br />

dazu, dass viele die Kontrolle über ihre Finanzmittel verlieren. ... Es<br />

gibt eine Reihe von Personen, die nicht mehr ohne Kredit leben.<br />

Meine Geschäfte weiten sich aus, aber ich mache immer noch Caixinhas.<br />

Ich habe eine Manöveriermasse von fast 50.000 Dollar und die<br />

Absicherung einer Bank. D.h., alles läuft informell. Der Bankdirektor<br />

ist ein Bekannter, fast ein Freund, aber in diesen Geldsachen gibt es<br />

keine Freunde, sondern Zinsen, und im Augenblick betragen sie 1,2 %<br />

am Tag, d.h. 36 % im Monat. Er garantiert <strong>einen</strong> Teil und ich den<br />

anderen, d.h. er garantiert das Geld und ich garantiere, dass das<br />

Geld zurückgezahlt wird. Er tritt nicht in Erscheinung, aber auch er<br />

geht ein Risiko ein .... Die Mehrzahl meiner Kunden sind Beamte,<br />

Angestellte, einige sind informelle Händler, und sie bezahlen immer<br />

zurück und erneuern den Kredit. Es gibt einige, die kommen jeden<br />

Monat, sie befreien sich nicht von der Kreditabhängigkeit. Das eine<br />

oder andere Mal erscheint eine neue, verzweifelte Person, um Geld<br />

<strong>für</strong> <strong>einen</strong> Notfall zu leihen. Aber die Mehrzahl meiner Kunden sind<br />

fast immer dieselben. Bei den Beamten und den Angestellten des<br />

öffentlichen Dienstes, wo auch ich arbeite, ist es relativ leicht <strong>für</strong><br />

mich, die Transaktion zu kontrollieren. Normalerweise weiß ich,<br />

wann die Gehälter fällig werden, und ich reiche den Scheck <strong>einen</strong><br />

Tag vorher ein, und es kommt vor, das ich das Geld vor demjenigen<br />

bekomme, von dem ich den Scheck habe. D.h. wenn ich Geld verleihe,<br />

ist meine Garantie der vordatierte Scheck, der sich in meiner Hand<br />

befindet. ... Aber selbst so hatte ich schon Probleme mit dem Versuch,<br />

dass jemand nicht zahlen wollte ... Der Scheck wurde eingereicht und<br />

kam zurück (zweimal). Ich hatte keine Zweifel. Ich habe den besagten<br />

Schuldner beim Verlassen der Arbeit erwartet. In dem Auto, in den<br />

ich mich befand, gab es noch zwei ihm unbekannte Männer. Ich sagte<br />

38 Weihnachtskasse – Caixinha de Natal: Eine bestimmte Gruppe, häufig Arbeitskollegen,<br />

beschließen eine Caixinha einzurichten. Sie legen <strong>einen</strong> Betrag fest, den jeweils einer<br />

wöchentlich oder monatlich erhält. Jedes Mitglied zahlt wöchentlich oder monatlich <strong>einen</strong><br />

festen Betrag ein (z.B. 10 Reais) und der festgelegte Betrag (z.B. 100 Reais) geht an denjenigen,<br />

der an der Reihe ist. Der Organisator der Caixinha erhält <strong>einen</strong> bestimmten Prozentsatz<br />

des auszuzahlenden Betrages. Diese Caixinhas werden vor allem zur Weihnachtszeit<br />

eingerichtet.


163<br />

ihm, dass ich das Geld am nächsten Tag in bar haben wolle, es war<br />

nicht notwendig, ihm den Revolver zu zeigen, den wir im Auto hatten.<br />

Ich weiß nicht wie er es angestellt hat, aber am nächsten Tag bekam<br />

ich das Geld zusammen mit den Zinsen. Es wird viel Zeit vergehen,<br />

bis er die Farbe meines Geldes zu sehen bekommt (bis er <strong>einen</strong> <strong>neuen</strong><br />

Kredit bekommt) und ich weiß, dass sie immer Geld benötigen .... Ich<br />

verleihe auch an diejenigen, die nicht in Behörden arbeiten. Ich verleihe<br />

nur nicht an die Nachbarn ... Von m<strong>einen</strong> Kunden will ich wissen,<br />

wo sie arbeiten oder welche Tätigkeit sie ausüben. Ich will wissen,<br />

wo sie wohnen. In diesen Fällen bringt die Person <strong>einen</strong> Scheck<br />

von jemandem, den sie kennt, und die Vorgehensweise ist die gleiche<br />

... Das Personal kennt mich schon, ich glaube, dass keiner aufhört,<br />

mich zu bezahlen, dieses Geld, das ich im Umlauf habe, gehört nicht<br />

mir, es ist von der Bank. Ich muss es immer zurückgeben. Es ist viel<br />

Geld und daher spaße ich nicht, ich kann nicht spaßen ... Mit dem,<br />

was ich verdiene, investiere ich in Immobilien, aber es ist auch nicht<br />

soviel ... ein guter Teil verbleibt bei dem Typen an der Bank ...“<br />

(Interview der Autorin, 1994).<br />

Die Garantie bei einem informellen Kredit, die ansch<strong>einen</strong>d in einem vordatierten<br />

Scheck bestehen kann, ist in Wirklichkeit sehr klein. In den Fällen, in<br />

denen der Scheck nicht ausreicht, werden daher Drohungen verbaler Art oder<br />

sogar mit Waffen ausgesprochen. Inwieweit die Drohung auch umgesetzt<br />

wird, ist nicht bekannt, aber es wird verständlich, warum ein interviewter<br />

ambulanter Verkäufer hierzu sagte, dass man auf jeden Fall eine Schuld, die<br />

man bei einem Wucherer hat, bezahlen muss.<br />

Die Kreditgarantie, die notfalls mit Waffen umgesetzt wird, ist eine Realität<br />

in den verschiedenen lateinamerikanischen Ländern. Mit dem Geld des<br />

Kokaingeschäfts entstanden informelle Geldinstitute, die primär mit Dollar<br />

handeln, da die Leute lieber mit diesen als mit den offiziellen Banken arbeiten,<br />

da sie zugänglicher und persönlicher sind. Die Personen, auf die sich<br />

diese Arbeit bezieht, haben keine Auswahl. Einen Kredit im Formellen Sektor<br />

zu bekommen, ist, wie oben gezeigt wurde, praktisch unmöglich. Also<br />

bleibt üblicherweise nur der informelle Kreditmarkt, auch wenn er teurer und<br />

gefährlicher ist.


164<br />

5.2.5 Der ambulante Verkauf und die Mittelklasse<br />

Die wachsende Arbeitslosigkeit und steigende Preise betreffen nicht nur die<br />

unteren Einkommensschichten, sondern auch die Mittelklasse. Diese sucht<br />

daher zunehmend auch Chancen im Informellen Sektor wahrzunehmen, sei<br />

es als im Hauptberuf oder im Nebenjob tätiger Verkäufer, sei es als Investor.<br />

Die zur Mittelklasse gehörenden Personen, die sich im ambulanten Verkaufssektor<br />

engagieren, verfügen teilweise über Kapital, das sie im Informellen<br />

Sektor investieren. So verfügen diese Unternehmer beispielsweise über<br />

ein gut organisiertes Transport- und Verteilernetz. Sie kaufen die Produkte<br />

billig im Großhandel ein und lassen sie dann durch ihre Straßenverkäufer<br />

weitervertreiben.<br />

Im Rahmen der Untersuchung konnten mehrfach die Tätigkeiten des ambulanten<br />

Handels im Stadtzentrum von Rio de Janeiro beobachtet werden.<br />

Gegen 19:00 Uhr holen Fahrer mit Kombis die von den Verkaufsbuden<br />

übriggebliebenen Produkte ab; ein Beauftragter führt die Kontrolle durch,<br />

von allem, was verkauft wurde mit dem, was in der Kasse ist. Nachdem<br />

abgerechnet worden ist, bekommen die Verkäufer ihren Anteil. Alles verläuft<br />

so, als wäre es ein ganz normales Geschäft des Formellen Sektors. Der<br />

Besitzer einer Baracke, der die Waren eines Dritten verkauft, kennt häufig<br />

nicht einmal den Besitzer der Waren, sondern nur s<strong>einen</strong> Beauftragten. Er ist<br />

es, der neue Waren bringt, mit dem man abrechnen muss, von dem man<br />

(mündlich) eingestellt und entlassen wird. Aber selbst wenn es keine schriftlichen<br />

Vereinbarungen gibt, ist es dennoch üblich, dass beide Seiten ihre<br />

Verpflichtungen strikt einhalten.<br />

„Mein Boss hat 14 Verkaufsbuden, hier in Rio (Zentrum) sind wir 5,<br />

die anderen hat er in anderen Stadtvierteln“ (Interview der Autorin,<br />

1994).<br />

„... Ich besitze einige Verkaufsbuden, habe eine Person, die die Einkäufe<br />

<strong>für</strong> mich macht und ein wenig die Geschäfte kontrolliert, aber<br />

ich bin immer wachsam. Ich besitze mein Diplom und eine Arbeit, die<br />

ich nicht aufzugeben gedenke, aber die Buden sind es, die mir m<strong>einen</strong><br />

Luxus ermöglichen ... ich kaufe jährlich das neueste Automodell“<br />

(Interview der Autorin, 1995).<br />

Was die Fahrten der Sacoleiros nach Paraguay <strong>für</strong> die unteren Einkommensschichten<br />

sind, ist <strong>für</strong> die Mittelklasse der Flug nach New York. Man schätzt,<br />

dass 60% der Brasilianer, die nach New York fliegen, zu dieser Gruppe der


165<br />

Mittelschicht-Sacoleiros gehören. „Der brasilianische Zoll ist ein wenig<br />

streng mit denen, die sich das Leben mit der Luftbrücke Brasilien – Vereinigte<br />

Staaten verdienen. Reisende können steuer- und abgabenfrei nur Waren<br />

im Wert von 500 Dollar mitbringen oder zwei Koffer bis zu 64 kg“ (Veja,<br />

07.06.1995, S. 131). Man schätzt, dass der Gewinn dieser ambulanten Verkäufer<br />

nach Abzug aller Reisekosten zwischen 40 % und 100 % beträgt. Es<br />

gibt mehrere Boutiquen in der Südzone39 von Rio de Janeiro, die über diesen<br />

Weg mit Waren versorgt werden. Vergleichbar dem Handel mit Paraguay,<br />

findet man auch bei diesen aus den USA stammenden Waren Fälschungen<br />

und Raubkopien.<br />

Ein anderes Beispiel da<strong>für</strong>, dass sich der Informelle Sektor nicht auf die<br />

unteren Einkommensschichten begrenzt, füllte eine Zeitlang in Rio de<br />

Janeiro die Skandalschlagzeilen der Zeitungen. Damen aus der Oberschicht<br />

unterhielten in Luxusappartments völlig illegal Boutiquen, ohne Genehmigung,<br />

ohne Steuern zu zahlen und ohne den gesetzlich vorgeschriebenen<br />

Verpflichtungen <strong>für</strong> ihre Arbeiter nachzukommen. Bei den Damen handelte<br />

es sich teilweise um die Ehefrauen leitender Angestellter aus dem Bankenwesen<br />

und aus bekannten und angesehenen Privatfirmen (vgl. Eliane<br />

Azevedo in Veja vom 20.04.1994).<br />

Der ambulante Verkauf findet jedoch nicht nur auf der Straße oder in Luxusappartments<br />

statt, sondern ein wichtiger Platz ist auch die Arbeitsstelle. Hier<br />

verkaufen sowohl ambulante Verkäufer, die von außen kommen, als auch die<br />

Angestellten selbst vor allem Waren wie Parfüm, Schmuck, Kleidung, kleine<br />

Haushaltsgeräte etc.<br />

„Hier in der Abteilung kauft fast jeder irgend etwas, was von den<br />

ambulanten Verkäufern angeboten wird, d.h., es sind vor allem<br />

Frauen, die Kleider, Schuhe und Parfüm kaufen, die Männer kaufen<br />

nur manchmal. Frau X. kennt genau den Zahltag und kommt am gleichen<br />

Tag mit ihrer Ware. Es fehlt nur noch, dass sie die Leute vor der<br />

Bank erwartet .... Jetzt kaufen auch selbst die Chefs hier, aber bei<br />

einer anderen sehr eleganten Frau, die ab und zu hierher kommt. Sie<br />

verkauft aber nur Schmuck, ich glaube, dass sie bis hin zu Diamanten<br />

verkauft, uns bietet sie aber nichts an“ (Interview der Autorin, 1990).<br />

39 In der Zona Sul (Südzone) von Rio de Janeiro befinden sich die Wohn- und Einkaufsgebiete<br />

der Oberschicht.


166<br />

5.2.6 Die Camelôs organisieren sich<br />

In der Geschichte der brasilianischen Arbeiter ist es relativ neu, dass sich die<br />

ambulanten Verkäufer organisieren und dass diese Organisationen untersucht<br />

werden. Dabei sind vor allem die Organisationsformen zur Ausübung der<br />

Tätigkeit als auch der Kampf um Anerkennung als Beruf Gegenstand der<br />

Untersuchungen.<br />

„Die Repression gegenüber unserer Arbeit ist derart groß, dass die<br />

Polizei sogar die Waren der blinden Verkäufer beschlagnahmte und<br />

auf sie einschlug. ... Ich darf dort nicht meine Waren verkaufen und<br />

hier auch nicht ... aber schließlich stehle ich nicht. Wir müssen uns<br />

wirklich organisieren ... Ich möchte nur in Ruhe arbeiten können“<br />

(Interview der Autorin, 1995)<br />

Die peruanische Erfahrung hat gezeigt, dass sich in Lima der ambulante<br />

Händler in seiner 450jährigen Geschichte zu einem <strong>neuen</strong> Berufsstand entwickelt<br />

hat. Obwohl er k<strong>einen</strong> hohen sozialen Rang hat, ist dieser Beruf<br />

gesellschaftlich akzeptiert. „Dennoch stehen die ambulanten Händler unter<br />

all den informell Beschäftigten in bestem Ansehen. Im Vergleich zu den<br />

Arbeitsbedingungen in den informellen Betrieben sind die Verhältnisse,<br />

unter denen die ambulanten Händler arbeiten, auch als gut zu bezeichnen“<br />

(Zettel, 1990, S. 38).<br />

Soto (1989) bestätigt, dass die informellen Händler in Lima möglicherweise<br />

auch die Phase des ambulanten Handels durchlaufen haben. Mit der Zeit<br />

kann man die gleiche Tendenz auch in Rio de Janeiro beobachten.<br />

Soto (1989) unterteilt die Tätigkeiten des ambulanten Handels in zwei Gruppen:<br />

a) die Tätigkeit an wechselnden Orten;<br />

b) die Tätigkeit, die an einem festen Ort innerhalb des öffentlichen städtischen<br />

Raums ausgeübt wird.<br />

Im allgem<strong>einen</strong> überwindet der ambulante Verkäufer verschiedene Etappen,<br />

um s<strong>einen</strong> Arbeitsplatz ständig sicherer zu machen. Dies erreicht er mit Hilfe<br />

seiner Organisationen, indem diese auf die Regierung Druck ausüben oder<br />

indem die Verkäufer durch gemeinsame Eigeninitiative ihre Probleme lösen.<br />

Laut Zettel (1990) ist die Mehrzahl der ambulanten Händler in Lima stark an<br />

einer Anerkennung als legale wirtschaftliche Kraft interessiert und erhält<br />

dabei sogar manchmal die Unterstützung des Staates dabei.


167<br />

Zettel unterscheidet drei Gruppen:<br />

1. Die stark organisierten Kleinhändler, die mit hohem Engagement daran<br />

arbeiten, den Status als eigenständige Berufsgruppe zu erlangen. Ihre<br />

räumliche Verteilung in einem bestimmten Gebiet der Stadt zeugt von<br />

regelmäßigen Absprachen. Sie arbeiten von allen ambulanten Händlern<br />

am engsten mit der öffentlichen Verwaltung zusammen und sind weitgehend<br />

legalisiert; d.h. sie zahlen Steuern, sind Mitglied in Gewerkschaften,<br />

etc. Wie man der Abbildung 5-17 entnehmen kann, gehören zu<br />

dieser Gruppe die Zeitungs- und Zeitschriften- sowie Obst- und Gemüsehändler.<br />

2. Teilweise organisierte Kleinhändler, deren räumliche Verteilung ansatzweise<br />

von Absprachen zeugen. Normalerweise sind sie im Verbund oder<br />

in Kleingruppen mit Händlern anderer Warengruppen anzutreffen. Diese<br />

Händler haben keine speziell auf ihr Warenangebot zugeschnittene organisierte<br />

Interessensvereinigung. Zu dieser Gruppe gehören die Süßwaren-<br />

und Gebrauchtwarenhändler sowie die Verkäufer von Speisen.<br />

3. Unorganisierte Kleinhändler: hierbei handelt es sich um die ambulanten<br />

Verkäufer im klassischen Sinn. Als Beispiele fallen darunter die Händler<br />

von Kunsthandwerk und die Dienstleistungsanbieter. „Sie werden dem<br />

Titel ‚ambulante Händler‘ am ehesten gerecht, da sie unabhängig voneinander<br />

wirtschaften, die unausgeglichensten Arbeitszeiten aufweisen,<br />

wenig politisches Interesse zeigen und sich auch nicht mit ihrem Beruf<br />

als ‚Händler‘ verbunden fühlen“ (S. 107).


168<br />

Süßwarenhändler<br />

Zeitungshändler<br />

Obst-/Gemüsehändler<br />

Gebrauchswarenh.<br />

Speisenverkäufer<br />

Kunsthändler<br />

Dienstleistungen<br />

Gewerkschaftsmitglieder unter ambulanten Händlern<br />

0% 20% 40% 60% 80% 100% 120%<br />

Gew.mit glieder<br />

keine Mitglieder<br />

Abb. 5-17: Gewerkschaftsmitglieder unter ambulanten Händlern (nach<br />

Zettel, 1990)<br />

In Rio de Janeiro sind die Verkäufer von Zeitungen und Zeitschriften stark<br />

organisiert und bilden nahezu ein Monopol. Auch wenn die Untervertragnahme<br />

der Verkäufer Merkmale von Informalität aufzeigt, würde diese<br />

Tätigkeit im Prinzip in Rio de Janeiro nicht als eine der ambulanten Verkäufer<br />

betrachtet. Im Gegensatz zu verschiedenen anderen lateinamerikanischen<br />

Städten ist die Zeitung in Rio de Janeiro kein Produkt, das ambulant verkauft<br />

wird. Zeitungen werden praktisch nicht direkt auf der Straße verkauft<br />

Die ambulanten Verkäufer von Obst und Gemüse haben sich bislang noch<br />

nicht stark organisiert, aber es gibt erste Gruppen, die gemeinsam einkaufen,<br />

um bessere Preise zu bekommen. Manche haben sich zusammengeschlossen,<br />

um gemeinsam <strong>einen</strong> Wachposten zu bezahlen, der auf die Waren aufpasst.<br />

In Peru geht der Zusammenschluss sogar soweit, dass benachbarte ambulante<br />

Verkäufer Gesellschaftsverträge abschließen, nachdem sie Gebiete besetzt<br />

haben, um informelle Selbstverteidigungsorganisationen zu schaffen oder<br />

den Marktbau voranzutreiben, mit dem Ziel die Straße verlassen zu können.<br />

„So wie die ambulanten Verkäufer sich bewußt werden, dass sie wirtschaftlich<br />

wertvolle Einrichtungen geschaffen haben, wächst die Motivation sich<br />

zu organisieren, mit dem Ziel, diese (die Einrichtungen) zu bewahren, falls<br />

die ihnen zustehenden Eigentumsrechte ihnen keine ausreichende Sicherheit<br />

gewähren sollten“ (Zettel, 1990, S. 75).<br />

Die basisdemokratischen Selbstverteidigungsorganisationen haben das Ziel,<br />

die Landbesetzung vor <strong>neuen</strong> Übergriffen zu schützen und sich gegen die


169<br />

betroffenen Nachbarn und gegen die Repression der Behörden zu wehren.<br />

Notfalls sind sie auch bereit, sich mit Gewalt jeder Aggression zu widersetzen,<br />

aber sie haben die Fähigkeit entwickelt, die Zusammenstöße im voraus<br />

zu vermeiden, indem sie auf politischer Ebene verhandeln (vgl. Zettel, 1990).<br />

Nach Zettel (1990) entstehen diese Organisationen auf zwei Ebenen:<br />

1. Die erste ist die gewerkschaftliche oder Vereinsebene, wobei die Organisation<br />

klein ist. Sie vereinigt im allgem<strong>einen</strong> die ambulanten Verkäufer<br />

eines Viertels oder einer Nachbarschaft und schafft grundsätzlich<br />

demokratische Körperschaften, die sich als ‚Vereine oder Gewerkschaften‘<br />

bezeichnen. Der Gebrauch des Begriffs ‚Gewerkschaft‘ durch die<br />

informellen Arbeiter ist, obwohl ihre Gremien eher Kleinunternehmer<br />

zusammenschließen, eine Antwort auf die Tatsache, dass die formellen<br />

Arbeitgeberorganisationen sie traditionell bekämpft haben, während die<br />

linken Parteien ihre Forderungen aufgenommen und sich auf ihre<br />

Kampffahnen geschrieben haben. Dies hat zu einer Proletarisierung der<br />

Namengebung ihrer Organisationen sowie der Mitgliedschaft ihrer<br />

Anführer in diesen Parteien geführt. Die Ziele dieser Organisationen<br />

sind die Verteidigung der Gebiete und die Definition besonderer Eigentumsrechte,<br />

als Institution sind sie aber nicht beständig. Eines ihrer Probleme<br />

ist z.B., dass die Anführer ihre Mitglieder nicht dazu zwingen<br />

können, ihre Beiträge zu bezahlen, um unter anderem sanitäre Einrichtungen<br />

oder andere Erleichterungen zu erstellen.<br />

2. Die zweite ist die föderative Ebene. Hier vereinigt die Organisation im<br />

allgem<strong>einen</strong> mehr als eine Nachbarschaft und hat daher eine höhere<br />

Funktionsstufe als die gewerkschaftliche oder Vereinsebene.<br />

Ein grundlegender Unterschied zu den ambulanten Verkäufern in Rio de<br />

Janeiro ist die Interessenbekundung, von der Straße wegzukommen und ihre<br />

eigenen Märkte zu errichten. Im Rahmen dieser Arbeit konnte jedoch festgestellt<br />

werden, dass die ambulanten Händler sich große Hoffnungen machen,<br />

eines Tages zu einem eigenen Geschäft zu gelangen und vom ambulanten<br />

Handel loszukommen. Außerdem kam von den ambulanten Verkäufern in<br />

Rio de Janeiro noch keiner auf den Gedanken, sich <strong>einen</strong> eigenen Markt zu<br />

bauen.<br />

Die politische Anerkennung, die die ambulanten Verkäufer erreicht haben,<br />

besteht darin, dass sie den politischen Wert von Organisationen und gemeinsamen<br />

Aktionen entdeckt haben. In Lima mussten die Behörden, nach einer


170<br />

Reihe von heftigen Zusammenstößen zwischen diesen Organisationen und<br />

der Polizei sowie der öffentlichen Meinung, erkennen, dass es sich um hochpolitisierte<br />

Gruppen handelt, die fähig sind, sich den Ordnungskräften entgegenzustellen<br />

und sogar die Klassenfrage aufzuwerfen.<br />

Die ambulanten Verkäufer in Rio de Janeiro haben bereits eine Reihe von<br />

Vereinigungen, um ihre Interessen zu vertreten. Die Probleme, mit denen sie<br />

zu tun haben, sind auch <strong>für</strong> andere Klassenorganisationen typisch und sie<br />

kennen auch die Auseinandersetzung mit der Polizei. Manchmal fehlt der<br />

Zusammenhalt unter den ambulanten Verkäufern, und oftmals ersch<strong>einen</strong> sie<br />

nur, wenn sie ein dringendes Problem lösen müssen; andere Male gibt es<br />

Probleme mit dem Aufbringen der notwendigen Geldsummen, um die vereinbarten<br />

Ziele durchzuführen oder um die Logistik der Organisation zu<br />

ermöglichen.<br />

„Ich bin registriert und habe von der Präfektur eine vorläufige Genehmigung,<br />

um hier verkaufen zu können, und ich warte auf eine endgültige.<br />

Es ist die ‚Vereinigung der ambulanten Verkäufer‘, die die<br />

Verlosung der endgültigen Genehmigungen organisiert ... Ich bezahle<br />

<strong>einen</strong> Beitrag an den Verein und <strong>einen</strong>, damit sie frühmorgens meine<br />

Ware bewachen, aber ich habe nicht genügend Zeit, um zu allen Versammlungen<br />

zu gehen ...“ (Interview der Autorin, 1995).<br />

Bezogen auf die Kontrolle der organisierten ambulanten Verkäufer durch die<br />

Stadtverwaltung in Lima führt Soto aus: „... Das einzig tatsächlich Neue war<br />

die Verpflichtung, sich einer Organisation ambulanter Verkäufer anzuschließen,<br />

um die Tätigkeit legal auszuüben und sich strikt an die vereinbarten<br />

Öffnungszeiten zu halten.“ Damit wurde die Absicht verfolgt, das Gremium<br />

zu politisieren und zu proletarisieren. Dies gilt auch <strong>für</strong> „die Verpflichtung,<br />

dass die ambulanten Verkäufer ihr Kapital begrenzten, keine weiteren<br />

Geschäfte eröffneten oder sich anderen anschließen, eine vorherige Arbeitserlaubnis<br />

erhielten und sich einer Reihe von irrealen ästhetischen und<br />

Schmuckanforderungen unterwarfen, die die Stadtverwaltung erließ, neben<br />

der Absicht, den ambulanten Verkäufern den Unternehmerstatus zu versagen,<br />

weil mit all diesen Dingen unverhältnismäßig ihre Kosten erhöht wurden<br />

und verhinderte genügend Ersparnisse anzusammeln, um von der Straße<br />

wegzukommen und sich in den Märkten niederzulassen“ (1989; S. 99 und<br />

100).


171<br />

Diese Form der Einmischung ist auch den ambulanten Verkäufern in verschiedenen<br />

brasilianischen Städten bekannt, indessen entspricht die Verpflichtung,<br />

einem Verein oder einer Gewerkschaft anzugehören, nicht der<br />

Realität Brasiliens.<br />

Seit Anfang der 90er Jahre wurden neun Gewerkschaften des Informellen<br />

Sektors in Brasilien gegründet, davon zwei in der Gegend von São Paulo,<br />

neben den ebenfalls aktiven Vereinigungen und Gruppen der ambulanten<br />

Verkäufer.<br />

„‚Wer die informelle Wirtschaft erlebt hat, will niemals mehr zum Angestelltendasein<br />

zurückkehren. ‚Als ambulanter Verkäufer verdient man mehr‘,<br />

sagt Carlos Silveira, Gründer der ersten Gewerkschaft, die die informellen<br />

Arbeiter in São Paulo vereinigte. In der Stadt gibt es 250.000 ambulante Verkäufer“<br />

(Veja vom 06.09.1995).<br />

Die von der Gewerkschaft Central Unica <strong>dos</strong> Trabalhadores (CUT) kommende<br />

Empfehlung geht dahin, dass sich die informellen Arbeiter organisieren<br />

sollen. Nach Informationen der CUT suchen jeden Tag mindestens 50<br />

Personen die Einrichtungen der Arbeiterpartei (PT) auf, um Informationen<br />

zu erhalten, wie sie ein kleines Geschäft eröffnen können (Isto É vom<br />

23.10.1996). Der Präsident der Gewerkschaft <strong>für</strong> den Informellen Sektor aus<br />

São Paulo hat verschiedene <strong>Materialien</strong> vorbereitet, um über die Gewerkschaftstätigkeiten<br />

zu berichten und so die informellen Arbeiter zur Mitgliedschaft<br />

zu motivieren.<br />

5.2.7 Die ambulanten Händler im Kriminellen Informellen Sektor<br />

Neben dem ambulanten Händler des Informellen Sektors, der sich gewerkschaftlich<br />

zu organisieren sucht, ist gerade der Bereich des ambulanten Handels<br />

ein besonders gutes Beispiel <strong>für</strong> die Verquickung des Informellen mit<br />

dem Kriminellen Informellen Sektor, wie die nachfolgenden Beiträge zeigen.<br />

5.2.7.1 Die Camelôs als Hehler<br />

Von Zeit zu Zeit berichten die Tageszeitungen über Banden, die Lastkraftwagenfahrer<br />

in einer bestimmten Gegend oder auf der Fernstraße überfallen<br />

und die gesamte Ladung stehlen. Sicherlich gelangen diese Waren auf die<br />

verschiedenen Hehlermärkte, die es in einigen brasilianischen und wohl auch<br />

in vielen anderen lateinamerikanischen Städten gibt.


172<br />

Der Markt von Acari in einem Vorort von Rio de Janeiro ist eines dieser Beispiele.<br />

Man nimmt an, dass 90% der dort verkauften Waren gestohlen waren.<br />

So unwahrscheinlich es auch klingen mag, er war dabei, sich zu einer Touristenattraktion<br />

der Stadt und zu einem Witzmotiv <strong>für</strong> die ‚Cariocas‘ 40 zu verwandeln,<br />

sehr zum Ärger der Bestohlenen. Gesetzwidrig und die Waren zu<br />

sehr niedrigen Preisen anbietend, wuchs er Woche um Woche an, bis die<br />

Polizei beschloss, das Abhalten dieses ‚freien‘ Marktes zumindest an diesem<br />

Ort zu verbieten. Anfangs hatten sich die Verkäufer auf Autoersatzteile spezialisiert,<br />

aber schließlich verkauften sie alles vom Elektrogerät bis zu Kleidung.<br />

Die Schließung des Marktes von Acari bedeutet nicht, dass es nicht<br />

weiterhin viele ambulante Verkäufer gestohlener Waren gibt.<br />

„Ich wurde von meinem eigenen Hausangestellten überfallen ... er<br />

hat mich mit einem Buschmesser bedroht und mich mit meiner Tochter<br />

(5 Jahre alt) im Bad eingesperrt ... er hat alles mitgenommen, was<br />

leicht zu tragen war ... Geld, Kleidung, Spielzeug, Bücher, Taschen,<br />

usw. ... Die Polizei hat es nicht geschafft, ihn zu fassen und ebensowenig<br />

die gestohlenen Sachen wiederaufzufinden .... 5 Tage nach dem<br />

Raub bin ich zum Antiquitätenmarkt gegangen ..., in einer Bude, die<br />

ich durchstöberte, war die erste Sache, die ich sah, mein Notizkalender<br />

...“ (Interview der Autorin, 1996).<br />

Die Aussage einer noch einmal glimpflich davongekommenen Frau zeigt die<br />

Professionalität einiger Diebe:<br />

„Es sind nicht nur die Verzweifelten, die auf der Straße Überfälle<br />

machen, ... ich habe gefühlt, dass ich überfallen werden würde, auf<br />

einem Teil einer sogar sehr belebten Straße, um zwei Uhr nachmittags,<br />

... es waren zwei gut gekleidete Männer, so ca. 30 Jahre alt ....<br />

Ich habe sehr deutlich gehört, als einer zum anderen sagte: „Lass,<br />

lass, die sind nicht echt!“ ... ich hatte tatsächlich einige gute Smaragdimitationen<br />

um, Ohrringe und Halskette“ (Interview der Autorin,<br />

1990).<br />

40 Cariocas – Bezeichnung <strong>für</strong> die Bewohner von Rio de Janeiro


173<br />

5.2.7.2 Der Verkauf von Piraterie41 Bezogen auf die zum Verkauf angebotenen Produkte kommt es teilweise zu<br />

einer engen Verknüpfung zwischen dem Städtischen und Kriminellen Informellen<br />

Sektor. Der ambulante Verkäufer reagiert primär auf die Nachfrage,<br />

die auch <strong>für</strong> illegale Produkte vorhanden ist, unabhängig davon, ob diese<br />

Produkte legal oder illegal sind. Bei den abhängig beschäftigten Verkäufern<br />

wird diese Entscheidung zudem von den Arbeitgebern getroffenen, und es ist<br />

den Verkäufern nicht notwendigerweise bekannt, woher die Produkte stammen.<br />

Für die ambulanten Verkäufer in Brasilien sind insbesondere die elektronischen<br />

Spiele interessant, um ihre Einkommen zu erhöhen. Gegen dieses Piratentum<br />

helfen auch keine Warnungen, die die Originalhersteller ständig und<br />

überall verbreiten. Für die Kunden sind vor allem die niedrigen Preise ein<br />

wichtiger Kaufgrund. Der Verbraucher von Raubkopien und sonstigen<br />

Gegenständen des Piratentums ist nicht genau definierbar und in allen<br />

Schichten und Klassen anzutreffen. Ein Camelô verkauft beispielsweise eine<br />

Imitation eines ‚Electronicgame‘ <strong>für</strong> 10 bis 20 USD, dessen Original normalerweise<br />

150 Dollar kostet. Damit leisten sich selbst die ärmsten Familien<br />

Elektronikspielzeug.<br />

„Ich bin der beste Verkäufer meiner Chefin. Ich verkaufe mehr als sie<br />

selbst ... an den Wochenenden arbeite ich auch. An den Sonntagen<br />

helfe ich der Chefin, die Kassetten und CD’s, die sie kauft (sie kopiert<br />

nicht), mit Labels zu bestücken. ... Ich bringe Essen von zu Hause mit<br />

und habe keine Ausgaben <strong>für</strong> den Bus, denn ich komme gemeinsam<br />

mit ihr (ca. 35 km, vom Stadtzentrum entfernt) im Auto, aber mit diesem<br />

Körper hat auch niemand Mut, von mir das Fahrgeld zu kassieren,<br />

nicht wahr?“ (Interview der Autorin, 1995; der Interviewte ist<br />

schwer körperlich behindert. Er verkaufte Raubkopien von Musikkassetten<br />

und CD’s national und international erfolgreicher Interpreten).<br />

Es ist wichtig festzuhalten, dass Gegenstände der Piraterie nicht nur bei den<br />

ambulanten Verkäufern anzutreffen sind. In zunehmenden Maße verkaufen<br />

auch die Läden des Formellen Sektors derartige Produkte, insbesondere aus<br />

dem Informatik- und Textilbereich.<br />

41 An dieser Stelle wird der Aspekt des Verkaufs illegaler Produkte, nicht deren Herstellung<br />

betrachtet. Dies erfolgt im folgenden Kapitel 5.3.


174<br />

5.3 Der Kriminelle Informelle Sektor<br />

Friedenspfeife<br />

„Kriminalität übernimmt die Stadt, die Gesellschaft gibt die<br />

Schuld den Behörden. ...<br />

Marihuanaduft, rieche den Marihuanaduft, Marihuanaduft ...<br />

Er löscht den Rauch des Revolvers, der Pistole,<br />

er schickt den Pfeifenrauch zum Gehirn.<br />

Anzünden, inhalieren, anhalten, weitergeben. ...<br />

Es soll verboten werden,<br />

es soll frei gegeben werden<br />

und die Polemik erreicht den Kongress,<br />

dies dient alles, um Konkurrenz zu vermeiden.<br />

Weil es nicht Hollywood ist, aber es ist der Erfolg. ...<br />

Für den Indio macht nichts mehr <strong>einen</strong> Sinn, bei so vielen<br />

Drogen,<br />

warum soll nur seine Pfeife verboten werden?<br />

Marihuanaduft, rieche den Marihuanaduft ...<br />

Die Pfeife des Indios ist weiterhin verboten,<br />

aber wenn Du etwas kaufen willst, es ist heute einfacher als<br />

Brot,<br />

es wird von den selben Banditen verkauft, die den alten Indio<br />

im Gefängnis umbrachten ...“<br />

(aus einem Lied von Gabriel Pensador et al, 1997)<br />

Bislang wurde der Kriminelle Informelle Sektor (KIS) bei Untersuchungen<br />

über den Informellen Sektor normalerweise nicht weiter berücksichtigt, sei<br />

es, da er diesem nicht zugeordnet wurde oder aus moralischen Gründen. Der<br />

KIS gewinnt jedoch stark an Bedeutung und ist bereits eine konkrete Konkurrenz<br />

zum übrigen Informellen Sektor. Aus diesem Grund kann er bei<br />

Untersuchungen über diesen Wirtschaftssektor nicht weiter unberücksichtigt<br />

bleiben.<br />

Drogen-, Waffenhandel und Tierlotto42 sind nur ein kleiner Teil der umfassenden<br />

Wirtschaftskriminalität. Es war <strong>für</strong> diesen Teil der Untersuchung<br />

jedoch sehr schwierig, <strong>einen</strong> Interviewpartner zu finden, um konkrete Fragen<br />

zu stellen und vertrauenswürdige Antworten zu erhalten. Um eine wissenschaftlich<br />

fundierte Analyse dieses Bereichs zu ermöglichen, wurden die<br />

Beobachtungen und Interviews daher durch Analysen verschiedener Zeit-<br />

42 s. ausführliche Erläuterung im Kapitel 5.3.5


175<br />

schriften- und Zeitungsberichte ergänzt, die diese Themen im Zusammenhang<br />

mit den allgem<strong>einen</strong> städtischen Problemen in Brasilien und anderen<br />

Ländern behandeln. Die hier präsentierten statistischen Daten stammen aus<br />

diesen Sekundärquellen.<br />

Im Kapitel 2 wurde der Aspekt des Informellen Sektors theoretisch aufgearbeitet.<br />

Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, legale Aktivitäten von ‚semilegalen‘<br />

43 und kriminellen zu unterscheiden, obwohl es schwierig ist, hier<br />

exakte Grenzen zu ziehen. Wenn man moralische Aspekte beiseite lässt, sind<br />

die Unterscheidungskriterien primär bürokratischer und steuerrechtlicher<br />

Natur, d.h., sobald eine Wirtschaftstätigkeit nicht den offiziell festgelegten,<br />

rechtlichen Normen entspricht, ist sie illegal. Deshalb sind die Aktivitäten<br />

Tausender kleiner Unternehmen vom rechtlichen Standpunkt aus gesehen<br />

gesetzeswidrig, weil sie die Auflagen der staatlichen Steuergesetzgebung<br />

nicht erfüllen. Vom volkswirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen werden<br />

diese Tätigkeiten als informell klassifiziert. Auch große Teile der Betreiber<br />

von Glücksspielen melden ihre Angestellten nicht an und zahlen keine Steuern,<br />

ebensowenig wie die Drogenproduzenten und -dealer. In diesen Fällen<br />

wird allerdings nicht nur das Wirtschaftsrecht verletzt, sondern auch Normen,<br />

die von strafrechtlicher Relevanz sind. Wenn man die soziale, moralische<br />

und rechtliche Seite außer Acht lässt, ist es ohne Frage ein großes<br />

Potenzial, das der Kriminelle Sektor in Lateinamerika, insbesondere in Rio<br />

de Janeiro, geschaffen hat, um Einkommen im Informellen Sektor sicherzustellen.<br />

In diesem Bereich selbst ist die Konkurrenz zwischen dem kriminellen<br />

Teil und dem übrigen Teil sehr groß, und oftmals wird die „leichtere“<br />

Arbeit, Geld z.B. im Drogenhandel zu verdienen, vorgezogen.<br />

In Rio de Janeiro bietet der Drogenhandel den größten Anreiz, um Geld zu<br />

verdienen. Nach Angaben der Zeitung Folha de São Paulo (vom 26.02.1992)<br />

wird vermutet, dass sich von den (gering geschätzt) 200 Drogenverkaufsposten<br />

in dieser Stadt die Mehrheit in den Favelas befindet. Sie setzen pro<br />

Monat ungefähr 500 kg Kokain im Wert von ca. 5 Millionen US-Dollar um,<br />

eine Summe, die sehr viel höher liegt, als die, die viele Unternehmen im Formellen<br />

Sektor erwirtschaften.<br />

43 Mit der Wahl des Begriffs ‚semi-legal‘ werden jene Produkte umschrieben, die legal sind<br />

(z.B. Kleidung), deren Produktionsform und Vertrieb hingegen nicht.


176<br />

5.3.1 Drogenmarkt als Teil des Kriminellen Informellen Sektors<br />

5.3.1.1 Allgemeines zum Drogenmarkt<br />

Der Drogenhandel kann nicht isoliert <strong>für</strong> ein Land betrachtet werden, denn<br />

die internationalen Verflechtungen sind derart stark, dass dieser Aspekt bei<br />

der Betrachtung mit berücksichtigt werden muss.<br />

Trotz aller Polizeirepression und Aufklärungskampagnen steigt der Drogenkonsum<br />

weltweit unaufhörlich an; und dies, obwohl sich die Mehrheit der<br />

Bevölkerung in vielen Ländern prinzipiell dagegen ausspricht. Der Drogenmarkt<br />

befindet sich in stetigem Aufschwung, wobei festzustellen ist, dass<br />

sowohl die Drogenkonsumenten als auch die -händler immer jünger werden.<br />

Für Lateinamerika und so auch <strong>für</strong> Brasilien spielt die Situation des Drogenkonsums<br />

in den Vereinigten Staaten eine besonders wichtige Rolle. Man<br />

schätzt, dass z.B. in den USA jeden Tag 5.000 Menschen in die Drogenwelt<br />

einsteigen (Internet: msantunes/juiso/droga, 1997).<br />

Was den Kokainkonsum anbelangt, so verbrauchten im Jahr 1996 allein in<br />

den Vereinigten Staaten 14 Millionen Abhängige 400 Tonnen Kokain, in<br />

Brasilien gibt es 5 Millionen Kokainabhängige (Internet: msantunes/juiso/<br />

droga, 1997).<br />

Haschisch 140 Mio. Konsumenten<br />

synthetische Drogen 30 Mio. Konsumenten<br />

Kokain 13 Mio. Konsumenten<br />

Heroin 8 Mio. Konsumenten<br />

Tab. 5-8: Drogenmarktdaten: Konsumenten (international) (nach Frankfurter<br />

Rundschau am Abend, vom 26.06.1997)<br />

Nach Informationen des brasilianischen Drogeninformationszentrums (Cebrid)<br />

hat in Brasilien einer von vier Schülern (im Alter von 10 bis 18 Jahren)<br />

bereits Drogen ausprobiert und einer von hundert Kokain. In den USA stellen<br />

die Jugendlichen 49% der Gesamtdrogenverbraucher dar (Internet: msantunes/juiso/droga,<br />

1997).<br />

„Als Tião 9 Jahre alt war, hat er als Wachposten angefangen und 200 USD<br />

im Monat bekommen, das war mehr, als seine Mutter verdiente ... Jetzt ist


177<br />

Tião 11 ... Den einzigen Tick, den ich an ihm wahrnehme, ist eine leichte<br />

Verlegenheit, als er sich in meiner Gegenwart <strong>einen</strong> Joint anzündet, den er<br />

schon fertig aus der Tasche holte; <strong>einen</strong> viel zu gut gerollten Joint“ (Amorim,<br />

1994, S. 19 und 272).<br />

„X kam in unser Haus, als er 9 Jahre alt war. Da lebte er schon ein<br />

Jahr lang als Straßenkind ... Das ist hier ein sehr bevölkertes Viertel,<br />

mit guten und schlechten Menschen, und obwohl Mama viel von uns<br />

verlangte, schaffte sie es mit ihm nicht. Drei Jahre später fing er an,<br />

Geld und Wertgegenstände wegzunehmen. Wir entdeckten, dass er<br />

abhängig war ... Wenig später verließ er unser Haus ... Ich glaube, er<br />

ist immer noch in diesem Geschäft, manchmal sehe ich ihn im Stadtzentrum<br />

... sehr seltsam und sehr dürr ...“ (Interview der Autorin mit<br />

einer Bewohnerin eines einfachen Stadtviertels, 1996).<br />

Verbraucher<br />

80000<br />

60000<br />

40000<br />

20000<br />

0<br />

1990 1991 1992<br />

Jahr<br />

1993 1994<br />

Abb. 5-18: Zunahme neuer Haschischkonsumenten im Alter von 12 bis 17<br />

Jahren in den USA (nach Dept. de Saúde e Servicos Humanos;<br />

http:www msantunes / juiso / droga, 1997)<br />

In Rio de Janeiro stellt die hohe Anzahl junger Menschen <strong>für</strong> den Drogenhandel<br />

<strong>einen</strong> potentiell sehr großen Markt dar. Man sieht z.B., dass Marihuana<br />

an jeder Ecke offen geraucht wird: am Strand, in den Diskotheken,<br />

Bars und Sambaclubs, in vielen öffentlichen und privaten Schulen. Um den<br />

Konsum noch zu steigern, werden in den Stadtteilen Tanzparties (Baile<br />

Funk) veranstaltet, hinter deren Organisation und Promotion häufig der Drogenhandel<br />

steht.


178<br />

„Kokain? Schau mal, das ist jetzt doch normal, die Leute verstecken<br />

sich nicht mehr, um zu schnupfen ... In der Sambaschule ‚X‘ schütten<br />

die jungen Leute ihr Pulver auf ihren Personalausweis und schnupfen<br />

vor aller Welt, zwischen einem Tisch und dem nächsten, und im Hintergrund<br />

läuft die Sambamusik“ (Interview der Autorin mit einer<br />

Besucherin einer Sambaschule, 1990).<br />

„... Viele Jugendliche kommen hierher, um zu tanzen, manchmal sind<br />

es auch reiche Kinder .... später befinden sich alle an der großen<br />

Mauer, wo geraucht und geschnupft wird, egal, was es ist ...“ (Interview<br />

der Autorin mit einem Bewohner aus einem Vorort von Rio de<br />

Janeiro, 1994).<br />

„Weißt du, ich habe diese jungen Leute hier auf einem Funkball in<br />

der Südzone (reiche weiße Zone) kennengelernt. Rock ist <strong>für</strong> mich<br />

jetzt out. Das ist nur was <strong>für</strong> Papasöhnchen. ... Ich schnüffle kein<br />

Kokain, ich rauche nur ab und zu <strong>einen</strong> Joint. Einmal hat mich ein<br />

Kerl gefragt, ob ich nicht ein ‚weißes Tütchen‘ <strong>für</strong> ihn übergeben<br />

kann. Er war der Meinung, dass ich keine Probleme haben würde,<br />

falls die Polizei auftauchen sollte, weil ich weiß und jung bin ... Weißt<br />

du, man verdient gut, viel mehr als das, was mein Vater mir gibt. Ich<br />

bin raus aus dem Geschäft, weil mein Vater was davon geahnt hat<br />

und mich ständig kontrolliert hat ... Vorher bin ich auf den Hügel<br />

gegangen, um dort den Stoff abzuholen, um ihn in eine bestimmte<br />

Wohnung zu bringen. Wenn das Tütchen <strong>einen</strong> Wert von 20 Dollar<br />

hatte, waren 10 <strong>für</strong> mich; wenn es 50 wert war, blieben 25 in meiner<br />

Hand. Ich habe das fast ein Jahr lang gemacht. Ich habe nie soviel<br />

Geld verdient. Aber ich habe auch nie gearbeitet vorher“ (Er lacht<br />

dabei.) (Interview der Autorin mit einem 16jährigen Jungen aus der<br />

Mittelschicht, 1996).<br />

Für das Drogenangebot gibt es also eine große Nachfrage und wegen des<br />

hohen Verdienstes gibt es wenig Probleme, Händler und Verteiler zu finden.<br />

5.3.1.2 Produktions- und Verteilermarkt<br />

Der Drogenhandel als Wachstumsbranche kann zusammenfassend folgendermaßen<br />

beschrieben werden: In den 20er Jahren gewann Kokain seine<br />

Anhänger in New York und Berlin. Seit 1965, als die Vereinigten Staaten<br />

strenge Gesetze gegen die unkontrollierte Herstellung von Aufputschmitteln<br />

erließen, verstärkte sich die Nachfrage nach der „weißen Königin“, aber erst<br />

in den 70er Jahren begann und festigte sich der weltweite Kokainmarkt.


179<br />

In Peru und Bolivien wächst die Kokapflanze traditionell fast wild, und sie<br />

kann drei- bis viermal pro Jahr geerntet werden; wichtig ist diesem Zusammenhang<br />

anzumerken, dass die Kokapflanze <strong>für</strong> die Bevölkerung der Anbaugebiete,<br />

in ihrer Mehrheit Indios, seit Jahrhunderten religiöse und rituelle<br />

Bedeutung hat. In den letzten Jahrzehnten hat jedoch auch <strong>für</strong> diese Bevölkerung<br />

die wirtschaftliche Bedeutung erheblich zugenommen. Viele Familien,<br />

die Mais oder andere Produkte anbauten, wechselten zum Anbau der Kokapflanze,<br />

deren Verkauf schnellen Gewinn bringt. Nicht zuletzt aus diesem<br />

Grund werden große Flächen der Amazonaswälder abgeholzt, um Koka<br />

anzupflanzen. Allein in Chaparé, bekannt als größtes Kokaanbaugebiet Boliviens,<br />

zählt man 70.000 ha Anbaufläche, die auch alten und verarmten<br />

Bauern und früheren Minenarbeitern, deren Felder zu 90% dem illegalen<br />

Anbau von Koka dienen, Beschäftigung bietet. Im Fall von Bolivien stellt<br />

sich die Frage, was aus dem Land würde, wenn es diesen illegalen Wirtschaftszweig<br />

nicht hätte. Mindestens 80.000 Familien, insgesamt fast<br />

350.000 Menschen, leben unmittelbar vom Kokaanbau: „Wir sind keine<br />

Händler. Koka anzubauen, bedeutet <strong>für</strong> uns das tägliche Brot, eine Hose und<br />

ein paar Schuhe. Wir sind es gewöhnt, immer Koka zu kauen, weil wir oft<br />

nur so die harten Bedingungen hier ertragen können. Aber das Kokablatt hat<br />

<strong>für</strong> uns auch <strong>einen</strong> heiligen Wert, weil wir es in unseren Zeremonien benutzen.“<br />

44<br />

Zur Zeit nehmen in der ganzen Welt in schwindelerregendem Tempo die<br />

Anbauflächen <strong>für</strong> Koka (das vorher nur in Peru, Bolivien und Kolumbien<br />

angebaut wurde), Marihuana und Mohn (daraus wird Opium, Heroin und<br />

Morphium gewonnen) zu.<br />

Die jüngsten Entwicklungen im internationalen Drogengeschäft haben nachhaltige<br />

Konsequenzen, z.B. <strong>für</strong> die Bewertung der Rolle der bolivianischen<br />

Bauern in der Kokainproduktion. Waren bisher die dominanten kolumbianischen<br />

Kartelle <strong>für</strong> die Verarbeitung und Vermarktung des Kokains verantwortlich,<br />

so hat deren teilweise Zerschlagung ansch<strong>einen</strong>d zu einer „Demokratisierung“<br />

des Drogenhandels geführt. So wie in Kolumbien jetzt verschiedene<br />

kleinere Kartelle im Drogenhandel an Boden gewinnen, haben auch in anderen<br />

Ländern wie Mexiko, Venezuela, Brasilien oder eben Bolivien wendige<br />

„Capos“ (Drogenbosse) ihre Chance erkannt und sich <strong>einen</strong> größeren Teil<br />

des Drogenkuchens abgeschnitten. Während die bolivianischen Händler,<br />

44 Der Spiegel Nr. 46 vom 20.01.1992


180<br />

gering geschätzt, etwa 1.800 US Dollar <strong>für</strong> 1 Kilo Kokain erhalten, bekommen<br />

die Kartelle in Mexiko und anderen Ländern, die die Droge auf den<br />

amerikanischen oder europäischen Markt bringen, etwa das zwanzig- bis<br />

fünfzigfache des Preises.<br />

Bolivien hat sich infolge dieser Entwicklung von einem der wichtigsten Produzenten<br />

des Rohprodukts zum Hersteller und Vertreiber des Endprodukts<br />

gewandelt. Dazu haben neben der „Demokratisierung“ des Drogenhandels<br />

verschiedene weitere internationale Entwicklungen beigetragen. In Kolumbien<br />

sind in den letzten drei Jahren die Produktionsflächen des Kokablattes<br />

von 20.000 auf etwa 100.000 Hektar angewachsen, was <strong>für</strong> die kolumbianische<br />

Kokainproduktion eine geringere Abhängigkeit von den Zulieferländern<br />

Peru und Bolivien bedeutet (vgl. Bünte, 1995).<br />

In Peru (1995) gibt es eine Anbaufläche von etwa 2 Millionen Hektar, was<br />

zu einer Überproduktion von Kokablättern und einem drastischen Preisverfall<br />

geführt hat. Nach Bünte (1995) kostete ein Kilo Kokablätter in Peru<br />

1993/1994 im Durchschnitt drei US Dollar, während der Preis 1995 bei etwa<br />

0,4 Dollar lag. Auch in Bolivien konnten die Kokablätter in den letzten Jahren<br />

ihren hohen Preis nicht halten. Dieser Preisverfall hat die bolivianischen<br />

Drogenbosse dazu veranlasst, die Weiterverabeitung der Droge selbst in die<br />

Hand zu nehmen und damit <strong>einen</strong> Großteil der erheblichen Wertsteigerung<br />

während des Verarbeitungsprozesses abzuschöpfen.<br />

Bolivien produziert etwa 180 Tonnen Kokain pro Jahr, was <strong>einen</strong> Wert von<br />

etwa 4,8 Milliarden US Dollar auf dem internationalen Markt ergibt, von<br />

dem derzeit nur etwa 300 Millionen an die bolivianischen Händler gehen<br />

dürften. Der niedrige Rohstoffpreis im Vergleich zum Endprodukt veranlasste<br />

die Kleinbauern, in der Weiterverarbeitung zur Grundpaste aktiv zu<br />

werden (vgl. Bünte, 1995).<br />

Interessant ist nachfolgende Feststellung von Bünte (1995): Für die Produktion<br />

der in Lima hergestellten Menge Kokain sind über eine Million Arbeitsstunden<br />

in den verschiedenen Produktionsstadien erforderlich. Es wird eine<br />

Menge an Kerosin benötigt, die über 30 Lastwagen gefüllt hätte (168.000<br />

Liter). Hinzu kommen 12.600 Liter Schwefelsäure, 42.000 Kilo Kalk, 4.200<br />

Liter Ammoniakkonzentrat, 8.500 Liter Salzsäure und andere Stoffe. Diese<br />

notwendigen Vorprodukte werden in kl<strong>einen</strong> Mengen von Hunderten und<br />

Tausenden Menschen transportiert, die wie perfekt organisierte Ameisen<br />

arbeiten. Für die Arbeiter besteht kein Risiko, <strong>für</strong> den Besitz verdächtiger<br />

Substanzen bestraft zu werden, da sie sie in kl<strong>einen</strong> Mengen besitzen und


181<br />

während deren Transport nicht der Herstellung von Grundpaste angeklagt<br />

werden können.<br />

Eine weitere Droge, die beträchtlich an Bedeutung zunimmt, ist das Marihuana.<br />

Es ist sehr interessant festzustellen, dass in den USA im Jahre 1970<br />

keine einzige Marihuanapflanze angebaut wurde. Im Jahr 1980 hingegen<br />

wurden bereits 8.750 Tonnen produziert. Und 1994/95 stieg die Produktion<br />

auf 11.375 Tonnen jährlich an und brachte 1996 Einnahmen in Höhe von<br />

32 Billionen US Dollar. Im Vergleich dazu wurden mit der Maisproduktion<br />

nur 14 Billionen US Dollar erwirtschaftet (vgl. Internet: msantunes/juiso/<br />

drogas, 1997).<br />

Nach einem Jahrzehnt wirtschaftlicher Stagnation hat sich in Lateinamerika<br />

durch den Drogenhandel eine Wachstumsbranche herausgebildet, die in den<br />

konventionellen Anpassungsmodellen nicht enthalten ist. Auch in Brasilien<br />

trägt der Formelle Sektor die Wirtschaft des Landes nicht allein, und die<br />

Aktivitäten des Informellen und illegalen Sektors gewinnen immer mehr an<br />

Bedeutung.<br />

Die Produktions- und Verteilungsnetze <strong>für</strong> Drogen wurden in Lateinamerika<br />

zu einer ökonomischen Alternative. Die Droge verliert zunehmend sein<br />

negatives, kriminelles Stigma und seine Produktion sowie der Handel mit ihr<br />

bringt Reichtum und Macht. Die Drogenwirtschaft finanziert scheinbar<br />

legale Unternehmen. Der Drogenhandel gehorcht den einfachen Marktgesetzen,<br />

er findet dort statt, wo Angebot und Nachfrage aufeinandertreffen.<br />

Wenn die Menge der zu vermarktenden Drogen zunimmt, fallen die Kosten.<br />

Mit Sicherheit ist der Drogenhandel <strong>für</strong> die Bosse im Hintergrund äußerst<br />

rentabel und am wenigsten risikobehaftet, hingegen tragen die Mitarbeiter<br />

auf der untersten Stufe das größte Risiko und höhere Einkommen (im Vergleich<br />

zum Formellen und sonstigen Informellen Sektor) sind häufig nur von<br />

begrenzter Dauer. Der Besitz von modernen Konsumgütern bedeutet <strong>für</strong><br />

diese Gruppe nicht automatisch, dass es ihnen insgesamt mittelfristig besser<br />

geht. So ließ sich beispielsweise im Verlauf der Studie in einem Stadtviertel<br />

von Rio de Janeiro beobachten, dass jeden Morgen ein bestimmter Favelabewohner<br />

mit einer Papiertasche voller Geld aufbrach und dieses in immer<br />

derselben Bank deponierte. In wessen Namen? Man weiß es nicht. Aber<br />

bestimmt <strong>für</strong> jemanden, der nicht in der Favela wohnt. Das Risiko liegt somit<br />

primär bei diesem Favelabewohner, während der unbekannte Hintermann<br />

den größten Gewinn erzielt.


182<br />

Wie bei jedem anderen Produkt auch, erhöht sich bei den Drogen durch ihre<br />

Veredlung bzw. den Weiterverkauf der Preis. Jedoch gibt es weltweit kein<br />

anderes Produkt, das eine derartige Steigerung erfährt wie die Drogen. Das<br />

Beispiel der Abbildung 5-19 zeigt deutlich die erheblichen Gewinnspannen,<br />

die zwischen dem Herkunftsland und dem Endverbraucher liegen (bis zu<br />

1.500%). Noch extremer ist die Entwicklung beim Opium (s. Tabelle 5-9).<br />

USD<br />

35000<br />

30000<br />

25000<br />

20000<br />

15000<br />

10000<br />

5000<br />

0<br />

Herkunftsland 1. Zwischenstation 2. Zwischenstation Endverbraucher<br />

Station<br />

Herkunftsland: Bolivien / Sta. Cruz de la Sierra<br />

1. Zwischenstation: Brasilien / Rio de Janeiro, São Paulo<br />

2. Zwischenstation: Kap Verden / Ilha do Sal; Angola / Luanda; Südafrika /<br />

Johannesburg<br />

Endverbraucher: Holland / Amsterdam; Schweiz / Zürich; Spanien / Madrid;<br />

Russland / Moskau<br />

Abb. 5-19: Steigerung des Kokainpreises durch Veredlung und Weiterverkauf<br />

(Beispiel) (nach Veja vom 26.06.1996)<br />

Land Produkt Preis Preissteigerung<br />

Pakistan 1 kg Rohopium 90 USD -<br />

USA 1 kg Opium<br />

(40% Reinheit)<br />

290.000 USD ca. 327.200%<br />

Tab. 5-9: Steigerung des Opiumpreises (Beispiel) (nach Darmstädter<br />

Echo, vom 27.06.1997)


183<br />

Brasilien hat sich in den letzten Jahren zu einem der wichtigsten Stützpunkte<br />

<strong>für</strong> den internationalen Kokainhandel entwickelt. Das Land ist Ausgangspunkt<br />

<strong>für</strong> den Export von mindestens 10 Tonnen/Jahr (vgl. Folha de São<br />

Paulo, 17.07.1992). Darüber hinaus findet Kleinhandel in Städten wie Rio de<br />

Janeiro und ihrer Umgebung statt, der den nationalen Markt bedient.<br />

Auch die synthetische Drogenproduktion nimmt ständig zu. Für die Händler<br />

ist z.B. ‚Crack‘ im Vergleich zu Opium und Kokain vorteilhafter, weil es billiger<br />

und einfacher zu transportieren ist. Es heißt, dass diese Laborprodukte<br />

sogar eine sehr viel stärkere Wirkung, gleichzeitig aber auch eine viel größere<br />

physische und psychische Zerstörungskraft haben, so z.B. Skunk, eine<br />

chemische Marihuanaabwandlung, die, verglichen mit Naturmarihuana, die<br />

dreifache berauschende Wirkung erzielt (vgl. Internet: msantunes/juiso/drogas,<br />

1997).<br />

Crack ist von seinem chemischen Aufbau von der Kokaingrundpaste abgeleitet<br />

und wird in Form kleiner Steine angeboten, die in Pfeifen oder Zigaretten<br />

geraucht werden können. Bereits die erste Erfahrung mit dieser Droge macht<br />

abhängig, was eine Garantie <strong>für</strong> weitere Geschäfte bedeutet.<br />

In Brasilien hat die Zahl der Crackabhängigen und -verkäufer allein in São<br />

Paulo in den letzten drei Jahren erheblich zugenommen. 1995 wurde die<br />

Droge an mindestens 4.000 verschiedenen Verkaufsstellen in der ganzen<br />

Stadt angeboten (vgl. Internet: msantunes/juiso/drogas, 1997), wodurch ihre<br />

weite Verbreitung erzielt wird.<br />

Der Beginn der Bedeutung Brasiliens als Zwischenstation und Markt <strong>für</strong><br />

Drogen geht mit der Vergrößerung der kolumbianischen Kartelle von Medellín<br />

und Calí in den 80er Jahren einher, die die Drogenbrücke (hauptsächlich in<br />

die USA) kontinuierlich ausbauten. Es handelt sich dabei um die Brücke, die<br />

ursprünglich 1972 in Brasilien von der italienischen und französischen Mafia<br />

eingerichtet wurde. Gleichzeitig stieg der Drogenkonsum in Rio de Janeiro<br />

und São Paulo an. „...Die lateinamerikanische Kokainmafia sucht Geschäftspartner<br />

in Brasilien. Der Vorschlag ist einfach: Wir geben euch das Kokain,<br />

und die lokalen Banditen verkaufen es. Das hat eine enorme Auswirkung auf<br />

das Rote Kommando. Damit es zu einem Geschäft zwischen dem Kommando<br />

und dem Kartell kommt, musste das organisierte Verbrechen in Rio<br />

de Janeiro <strong>einen</strong> qualitativen Sprung machen, um alle Verkaufspunkte in den<br />

Favelas zu kontrollieren, indem es sich die kl<strong>einen</strong> unabhängigen Gruppen<br />

entweder einverleibt oder sie zerstört. So hat der Krieg auf den Hügeln begonnen“<br />

(Amorim, 1994, S. 161).


184<br />

Das Rote Kommando entwickelte sich zum brasilianischen Partner der<br />

kolumbianischen Drogenmafia. Die höhere Sicherheit und größere Rentabilität<br />

des Drogenhandels überzeugte auch die Bosse des Roten Komman<strong>dos</strong>,<br />

vom sonstigen, traditionellen Kriminellen Sektor (Raubüberfälle, Waffenhandel,<br />

Autodiebstähle) in den Drogenhandel einzusteigen. Karabiner und<br />

Schnellfeuergewehre werden jetzt zum Schutz der Verkaufsstellen eingesetzt.<br />

Die gestohlenen Fahrzeuge dienen als Tauschgegenstände im Drogengroßhandel<br />

(vgl. Amorim, 1994). 45<br />

In den Favelas von Rio de Janeiro wird Kokain auf die fünffache Menge verlängert.<br />

Die Droge wird mit Backpulver, Puder oder Marmorpulver versetzt,<br />

das bringt dem Roten Kommando bis zu fünffach höhere Gewinne ein. Jedes<br />

Gramm Kokain entspricht dem Gegenwert von einem Gramm Gold. Ein<br />

Bericht der Bundespolizei (1988) stellt fest, dass am Ende einer Woche der<br />

Verkauf in 31 Favelas <strong>einen</strong> Gewinn von 425.000 USD erbrachte, was dem<br />

Gegenwert von 42,5 kg Kokain entspricht (vgl. Amorim, 1994).<br />

5.3.1.3 Die Arbeiter des Kriminellen Informellen Sektors<br />

5.3.1.3.1 Eine kleine Vorgeschichte<br />

Das Rote Kommando unterhält ein Schmugglernetz, das größte Drogenvertriebsnetz<br />

Brasiliens im Kleinhandelsbereich und ist vor allem in Rio de<br />

Janeiro aktiv. Amorim (1994) ist der Ansicht, dass diese Organisation deshalb<br />

entstanden ist, weil während der Militärdiktatur46 die Militärs gewöhnliche<br />

Verbrecher und politische Gefangene gemeinsam einsperrten. Laut<br />

Amorim hat diese Organisation ihren Ursprung in Gefängnissen und wuchs<br />

innerhalb eines politischen und sozialen Vakuums, da der während dieser<br />

Zeit verfolgte Kapitalismus große Teile der Bevölkerung an die Randzonen,<br />

in die Favelas, drängte. Diese Massen sind die Kinder der ungerechten Einkommensverteilung<br />

mit fehlenden Möglichkeiten <strong>für</strong> politische Beteiligung.<br />

Unterrichtet in <strong>neuen</strong> Kampfweisen während des gemeinsamen Aufenthaltes<br />

mit politischen Gefangenen in den Gefängnissen ahmte das Rote Kommando<br />

Taktiken und Vorgehensweisen der politisch-militärischen Linksorganisationen<br />

nach, ihre Sprache, ihre Guerrillataktiken, ihre starre Kommandolinie.<br />

45 Auf die Entwicklung und Bedeutung des Roten Komman<strong>dos</strong> wird im Kapitel 5.3.1.3.1 eingegangen.<br />

46 Die eigentliche Militärdiktatur bestand von 1964 bis 1978, jedoch wurden Repressalien<br />

auch nach dieser Zeit noch fortgesetzt.


185<br />

Die Militärregierung versuchte, die bewaffneten Aktionen der politischen<br />

Linksorganisationen zu entpolitisieren, indem sie sie als „normale Verbrechen“<br />

abtat, was gleichzeitig als Argumentationshilfe gegen den internationalen<br />

Druck <strong>für</strong> eine Amnestie und gegen die Folter dienen sollte. So wurden<br />

die militanten politischen Regimegegner mit Banditen gleichgesetzt. „Das<br />

System beging <strong>einen</strong> schweren Fehler. Aus dem Zusammentreffen der Mitglieder<br />

der revolutionären Organisationen mit den gewöhnlichen Straftätern<br />

entstand eine explosive Mischung: das Rote Kommando“ (Amorim, 1994,<br />

S. 46).<br />

Die Entstehung dieser explosiven Mischung ist auf zwei Fehleinschätzungen<br />

zurückzuführen: einerseits hat die Militärregierung nicht erkannt, dass die<br />

beiden Gruppen voneinander lernen würden, um jeweils ihre Ziele effektiver<br />

verfolgen zu können. Andererseits glaubten die politischen Gefangenen, dass<br />

sie die gewöhnlichen Verbrecher <strong>für</strong> ihre Ziele gewinnen könnten.<br />

Die Erklärung eines gewöhnlichen Straftäters, einer der Anführer des Roten<br />

Komman<strong>dos</strong>, der von einem im Gefängnis tätigen Militärkommandanten<br />

beim Lesen des Buches: ‚Eine Guerilla von innen betrachtet‘ des Engländers<br />

Wilfred Bulcher47 ertappt wurde, während eines Verhörs war: ‚... Die Leute<br />

lernten von den politischen Gefangenen <strong>einen</strong> gewissen wissenschaftlichen<br />

Sozialismus und <strong>einen</strong> gewissen historischen Materialismus. Und sie wollen<br />

eine Gruppe bilden, die sie Zelle oder Kollektiv nennen. Sie denken, dass sie<br />

die großen Massen beeinflussen können, um mit uns aufzuräumen und die<br />

Macht im Gefängnis zu übernehmen‘ (Amorim, 1994, S. 45).<br />

Immer wenn die gewöhnlichen Straftäter mit den politischen Gefangenen<br />

zusammentrafen, erlebten sie das Zusammensein als eine erzieherische, prägende<br />

Erfahrung. Sie schafften es, die Welt und den Klassenkampf besser zu<br />

verstehen (vgl. Amorim, 1994).<br />

Das Rote Kommando wurde Anfang der 80er Jahre umorganisiert, als José<br />

Carlos Grigório, bekannt als „Gordo“ (der Dicke), innerhalb der Organisation<br />

<strong>einen</strong> Sicherheitsfond gründete, um ihre Führer im Falle eines Gefängnisaufenthalts<br />

zu unterstützen. Das Rote Kommando wird von einem Rat,<br />

der sich aus ungefähr 30 Männern zusammensetzt, angeführt, von denen sich<br />

47 Diese Veröffentlichung berichtet von den Aktivitäten des Vietkong während des Vietnamkrieges<br />

und gibt teilweise detailliert die Guerillataktik sowie Hinweise zum Herstellen von<br />

Waffen wieder. Das Buch wurde in begrenzter Auflage auf portugiesisch in Brasilien verbreitet<br />

und von den Militärs verboten.


186<br />

ein großer Teil im Gefängnis befindet. Dieser Rat bestimmt die Nachfolger<br />

der Führer, die gefangengenommen oder getötet wurden.<br />

Gegen die Entwicklung, Geld <strong>für</strong> die Führer in den Gefängnissen zu sammeln,<br />

entstand unter einem Teil der Händler ein Widerstand zum Roten<br />

Kommando, deren Gruppe sich als Drittes Kommando bezeichnete. Darüber<br />

hinaus gibt es noch weitere unabhängige Gruppen, die alle um Macht und<br />

Geld konkurrieren. So gibt es z.B. den berühmten Fall der Favela Rocinha<br />

(Rio de Janeiro), aus der die Polizei <strong>für</strong> lange Zeit vertrieben worden war. In<br />

solchen Gebieten bestimmen die sogenannten „Herren des Hügels“, die lokalen<br />

Bosse des Drogenhandels. Obwohl sie stark und gut bewaffnet sind, können<br />

sie nur über die Besitzlosen in diesen Gebieten herrschen. Trotz ihrer<br />

Macht vor Ort, die häufig von den eigentlich Mächtigen im Hintergrund<br />

abhängt, können diese nicht zu großen Reichtümern gelangen, da sie nur<br />

räumlich begrenzt tätig sein können und Hauptangriffsziel bei Polizeiaktionen<br />

sind. Begrenzt auf ihre Favela, können sie jedoch manchmal sogar<br />

bestimmen, ob das Gebiet vom Gouverneur besucht werden kann oder nicht,<br />

wie dies der Fall in einer Favela in Rio de Janeiro war.<br />

Dem Roten Kommando gelang es, die Herrschaft in Dreiviertel der Bewohnervereine<br />

in den Favelas zu erlangen, wobei dreizehn Führer dieser Vereine,<br />

die sich der Übernahme widersetzten, umgebracht wurden. Dem Kommando<br />

gelingt somit der Verkauf verschiedener Arten von Drogen in der<br />

Mehrzahl der Favelas und damit erreicht es nahezu eine Monopolstellung.<br />

Aber trotz dieses Erfolges des Verkaufs in großem Maßstab in Brasilien und<br />

vor allem in Rio de Janeiro gelingt es ihnen nicht, in den internationalen<br />

Markt, der Versorgung aus den Produktionsländern, vorzudrängen. Sie bleiben<br />

von den Kartellen abhängige Partner.<br />

5.3.1.3.2 Den Lebensunterhalt verdienen?<br />

Es kann festgestellt werden, dass das Wohnen in den Favelas oder in<br />

schlecht ausgestatteten Randzonen eine Form darstellt, die Kosten <strong>für</strong> die<br />

Reproduktion der Arbeitskraft zu senken; und zwar in dem Maße, dass mehr<br />

als 50% der Bewohner Arbeiter des formalen Wirtschaftssektors und des<br />

Staates sind. Mit dem Ansteigen der Arbeitslosigkeit in den brasilianischen<br />

Städten nimmt die Bedeutung des Informellen Sektors jedoch zu. Die Menschen<br />

sind gezwungen, neue Einkommensformen zu entwickeln, um ihr<br />

Überleben und ihre Reproduktion zu sichern.


187<br />

Sowohl dem Formellen und Informellen Sektor als auch dem Kriminellen<br />

Informellen Sektor ist gemein, dass sie <strong>einen</strong> Teil der verfügbaren Arbeitskraft<br />

auf dem Markt darstellen. Auch wenn im Formellen Sektor die bislang<br />

damit verbundenen sozialen Sicherheiten rapide abnehmen, führt die Tätigkeit<br />

im Kriminellen Informellen Sektor zweifellos zu einer noch größeren<br />

Zerstörung an Lebensqualität und reduziert die Möglichkeiten der Reproduktion.<br />

Die Gewinnspanne, die der Drogenhandel einbringt, ist gigantisch.<br />

Ebenso gigantisch sind allerdings auch Gewalt und Unsicherheit in diesem<br />

Geschäft, die dazu führen, dass ein Großteil der hierin Tätigen frühzeitig ihr<br />

Leben verliert. Eine Lebenserwartung von nur 20 oder 25 Jahren ist in diesem<br />

Bereich nahezu normal.<br />

Wenn man sich die lokale Presse in Rio de Janeiro anschaut, ist festzustellen,<br />

dass die Anzahl der Toten in Verbindung mit dem Drogengeschäft sehr hoch<br />

ist, denn die Auseinandersetzungen, um <strong>einen</strong> bestimmten Verkaufspunkt zu<br />

kontrollieren, verlaufen in der Regel blutig. Tote haben k<strong>einen</strong> Einfluss mehr<br />

auf die Drogenpreise, und wenn heute ein Drogenhändler stirbt, gibt es sofort<br />

<strong>einen</strong> <strong>neuen</strong>, der das Geschäft weiterführen kann, sei es als Boss, als Wachposten<br />

oder in jeder anderen Position. Die Zahl der Toten, die es bei den<br />

Auseinandersetzungen um Verkaufspunkte gibt, zeigen deutlich, dass diese<br />

Art von Arbeitskraft tatsächlich schnell ersetzbar ist. Manchmal kann es<br />

sein, dass ein Wachposten beschließt, s<strong>einen</strong> Chef zu erschießen, um s<strong>einen</strong><br />

Platz einzunehmen, oder eine Konkurrenzgruppe besitzt bessere Waffen und<br />

übernimmt die Kontrolle. Es passiert auch nicht selten, dass ein Tod in Auftrag<br />

gegeben wird, wenn ein einzelner zu viel weiß, zu viel gesehen hat oder<br />

die Strukturen zu genau kennt. Diese ‚Morde auf Bestellung‘ sind als sog.<br />

„Archivverbrennung“ bekannt. In all diesen Fällen gibt es sofort eine Person,<br />

die den frei werdenden Posten einnimmt.<br />

„Die Männer (Polizei) haben alles, die Aktien stehen hoch! – Dies ist eine<br />

bekannte Ausdrucksweise im kriminellen Milieu. Es bedeutet, dass die Polizei<br />

Druck ausübt. Es bedeutet eine Tortur <strong>für</strong> die Verbraucher. Wenn die<br />

Preise stark ansteigen, öffnen einige Lieferanten ihre Notizbücher, um auf<br />

Raten zu verkaufen ...“ (Amorim, 1994, S. 189).<br />

„... Ah, diese Sache mit dem Sterben ist halb so wild. Schließlich müssen<br />

wir alle eines Tages sterben ... Diese Malocher arbeiten ihr ganzes<br />

Leben lang und haben nichts, wenn sie sterben ... Ich habe wenigstens<br />

meine Sachen, und wenn ich jetzt sterbe, sterbe ich glücklich (er<br />

besaß einige Mode- und Konsumartikel, wie Silberketten etc.) ...“


188<br />

(Interview der Autorin mit einem 17jährigen Jugendlichen aus der<br />

Drogenhandelszene, 1996).<br />

Der Krieg des Drogenhandels (die Favelas in Rio de Janeiro)<br />

Während die Hintermänner des Drogenhandels den Markt in Brasilien untereinander<br />

aufgeteilt haben und sich um ihre Renditen nicht ernsthaft sorgen<br />

müssen, sind die Drogenhändler in den Favelas als nahezu letztes Glied in<br />

der Kette dieses Geschäfts gezwungen, täglich ihre Position zu verteidigen<br />

und zwar mit Waffengewalt. Nur so können sie <strong>für</strong> eine begrenzte Zeit ihr<br />

Überleben sichern. Dies bedeutet <strong>einen</strong> kontinuierlichen Kampf um die Verkaufsstellen<br />

in den Favelas und bedeutet <strong>für</strong> die Familienangehörigen ständig<br />

neue Tragödien.<br />

„Mein Sohn (14 Jahre alt) war jetzt schon <strong>einen</strong> Monat lang nicht zu<br />

Hause, er hatte noch nie soviel Zeit verstreichen lassen ohne aufzutauchen<br />

... Es ist bestimmt, weil er nicht in guter Gesellschaft ist. ...<br />

Ich habe im Gefühl, dass etwas passiert ist, aber ich bin schon in<br />

allen Krankenhäusern und Totenhallen der Stadt gewesen ... Ich habe<br />

immer noch die Hoffnung, wenigstens s<strong>einen</strong> Körper zu finden, um<br />

ihn zu beerdigen, damit er in Frieden ruhen kann“ (Interview der<br />

Autorin mit der Mutter eines verschwundenen Jugendlichen, 1994).<br />

In fast allen großen Favelas, die von den Drogenhändlern beherrscht werden,<br />

gibt es inoffizielle Friedhöfe. Die ‚Kommunalverwaltung‘ in den Favelas<br />

praktiziert mit ihren Banden sogar den Bestattungsdienst am Rande der<br />

Gesetzgebung (vgl. Amorim, 1994).<br />

„Die Führungsspitze im Drogenhandel, die jetzt von einem Außenseiter kontrolliert<br />

wird, der sich Cabeção nennt, wird von Bandenmitgliedern aus der<br />

Favela Nova Brasília (São Gonçalo, Rio de Janeiro) umkämpft ... die Auseinandersetzungen<br />

zwischen den Banden haben täglich zu bestimmten Zeiten<br />

stattgefunden. Tagtäglich, um 18:00 Uhr, fingen die Schüsse an ... Allein im<br />

vergangenen Jahr sind einige Schüler der Tarcísio Bueno (Schule) als Folge<br />

des Drogenbandenkrieges laut Aussagen eines Beamten umgekommen ...“<br />

(O Fluminense vom 06.09.1995).<br />

„Mein Haus liegt nicht sehr gut ... es ist genau in der Schusslinie zwischen<br />

zwei Banden. Sehen Sie diese 15 Einschusslöcher in meiner<br />

Wand. Nachts können weder meine Kinder noch ich uns nach draußen


189<br />

wagen ...“ (Interview der Autorin mit der Bewohnerin einer Favela,<br />

1996).<br />

Polizeiliche Repression (tatsächlich oder fiktiv) und neue polizeiliche Untersuchungen<br />

über den Drogenhandel können den Drogenpreis beeinflussen.<br />

Der Tod eines Verkaufspostenchefs (‚Herr des Hügels‘) hingegen, ob er nun<br />

in der Bevölkerung und der Presse als Killer oder „Wohltäter“ (<strong>für</strong> die<br />

Gemeinde) bekannt war, endet immer mit der Volksweisheit: ‚Auch ein toter<br />

König ist ein Toter‘. Diese Todesfälle haben k<strong>einen</strong> Einfluss auf die Drogennachfrage.<br />

„Die Bewohner beklagen den Tod von Jorge Negão. Er war als Drogenboss<br />

bekannt, der die Bewohner respektierte, der darauf achtete, dass es nicht zu<br />

Überfällen und Gewalt in der Gemeinde kam. ‚Während seiner 10jährigen<br />

Herrschaft (über den Drogenhandel), habe ich immer mit offener Tür in meinem<br />

Haus geschlafen“ (Aussagen des Direktors des Bewohnervereins vom<br />

Parque da Maré, aus: Folha de São Paulo, 17.07.1992).<br />

Diese Aussagen führen zu dem Schluss, dass die Arbeiter, die im Dienst des<br />

kriminellen Kapitals stehen, ‚Wegwerfarbeiter‘ sind. Nachdem sie eine Zeitlang<br />

benutzt worden sind, können sie weggeworfen, das heißt, umgebracht<br />

werden. Mit 25 Jahren bedeutet das das Ende der Karriere, wenn sie es überhaupt<br />

bis zu diesem Alter schaffen. Die höchste Todesrate liegt bei den 15bis<br />

20jährigen. Das Leben dieser „Arbeiter“ ist Bestandteil der Produktion<br />

und des ‚Service‘. Es ist, als ob in jedem Tütchen Kokain, Marihuana oder<br />

Crack ein Teil ihres Lebens mitverkauft würde. Diese Arbeiter werden im<br />

Drogenherstellungs-, -verteilungs- und -verkaufsprozess konsumiert und verbraucht.<br />

Dies ist die höchste Form der Ausbeutung von Arbeitskräften, die<br />

das kapitalistische System hervorgebracht hat. Keiner wird <strong>für</strong> Arbeitsunfälle<br />

entschädigt, und es gibt keine Absicherung bei Arbeitsrisiken. Die Polizei<br />

stellt keine Nachforschungen über die Gründe oder die Täter in diesen Fällen<br />

an. Der Staat ergreift keine Präventivmaßnahmen, um weitere Fälle zu verhindern.<br />

Hinzu kommt, dass es <strong>für</strong> die Betroffenen k<strong>einen</strong> Ausweg gibt.<br />

Falls ein Arbeiter mit seiner Tätigkeit nicht zufrieden ist oder den mündlichen<br />

Vertrag mit seinem Arbeitgeber kündigen möchte, gibt es nur eine<br />

„Möglichkeit“: als Toter!<br />

Es ist wichtig, in diesem Zusammenhang festzustellen, dass diese Form der<br />

Ausbeutung von Arbeitern lediglich <strong>einen</strong> Aspekt des kapitalistischen Ausbeutungssystems<br />

insgesamt darstellt. Es kann nicht unabhängig von der


190<br />

immer weiter schwindenden Sicherheit des Arbeiters im formalen Wirtschaftssektor<br />

gesehen werden, ebensowenig wie vom Arbeiter des sonstigen<br />

Informellen Sektors, der, obwohl er sein eigener Arbeitgeber ist, es nur<br />

schafft, <strong>für</strong> seine Arbeit bezahlt zu werden, wenn er sich auf Bedingungen<br />

einlässt, wie sie im Kapitel über Straßenverkäufer geschildert werden. Die<br />

Arbeit als Drogenhändler ist eine der schlimmsten Formen, seine Arbeitskraft<br />

zu verkaufen. „Verkauft der Arbeiter nur <strong>einen</strong> Teil und zwar den allergrößten<br />

Teil seiner Arbeitskraft an den Unternehmer, so verkauft der Dienstbote<br />

dagegen auch heute noch seiner Herrschaft seine ganze Arbeitskraft,<br />

seine ganze Person“ (Boschler und Gisiger, 1989; S. 604). Dies gilt in noch<br />

extremerer Weise <strong>für</strong> den Drogenhändler, denn er verkauft mit dem Einstieg<br />

in diesen illegalen Markt sogar sein Leben.<br />

Die zum Tode Verurteilten<br />

In Brasilien gibt es schätzungsweise 1.000 Personen (vgl. Veja vom<br />

26.06.1996), die <strong>für</strong> kleine, internationale Drogentransporte zur Verfügung<br />

stehen. Von diesen Personen sind mindestens 100 afrikanischer Herkunft<br />

(Nigerianer, Ghanaer und Senegalesen), sowohl Männer als auch Frauen, die<br />

häufig ins Land ein- und ausreisen. Sie stellen sich als lebende Drogentransporteure<br />

zur Verfügung, indem sie die Drogen im Magen über die Grenzen<br />

schmuggeln.<br />

Als ‚Mietbäuche‘ bekannt, sind diese Personen Todeskandidaten, da die<br />

Gefahr des Sterbens ähnlich groß ist wie beim Russischen Roulette. 1994<br />

wurden weltweit ca. 105 Personen festgenommen, die insgesamt 150 kg<br />

Kokain in dieser Weise bei sich trugen. Es gab viele Fälle, in denen sich die<br />

Plastiksäckchen, in denen das Kokain verpackt war, auflösten oder zerrissen,<br />

und die jeweiligen Personen <strong>einen</strong> schnell eintretenden Tod durch die Über<strong>dos</strong>is<br />

erlitten.<br />

Es gibt viele, die versuchen mit diesem Geschäft viel Geld zu verdienen. Für<br />

die Leute, die ihre ‚Mietbäuche‘ zur Verfügung stellen, bedeuten 2.000 oder<br />

3.000 US Dollar sehr viel, ist es doch ein Vielfaches von dem, was sie mit<br />

normaler Arbeit verdienen können. Es sind jedoch genau diese Personen, die<br />

das hohe Risiko, gefangengenommen zu werden oder zu sterben, tragen.<br />

Auch wenn deren Auftraggeber den Verlust der Ware Droge <strong>für</strong>chten, können<br />

sie es doch sehr schnell verkraften angesichts der Mengen, die sie umsetzen.<br />

Der Verlust eines Lebens dieser Kuriere bedeutet <strong>für</strong> die Auftraggeber<br />

praktisch nichts, denn <strong>für</strong> sie sind es Personen, die schnell ersetzbar sind.


191<br />

„Claire hatte noch nie ein Flugzeug betreten und war sehr von der Idee angetan,<br />

nach São Paulo zu reisen – und alles bezahlt zu bekommen. Sie hatte nur<br />

<strong>einen</strong> Auftrag von Brasilien nach Afrika zu bringen und würde im Gegenzug<br />

3.000 Dollar bekommen“ (Veja vom 26.06.1996, S. 97).<br />

„Dlamin: Vor einem Jahr verlor sie ihren Mann an Epilepsie. Ihre acht<br />

Monate alte Tochter brauchte eine Leberverpflanzung. Die Operation, die<br />

750 USD kostet, ist unerschwinglich <strong>für</strong> eine Wäscherin wie sie, die 29 USD<br />

im Monat verdient“ (Veja, 26.06.1996, S. 98).<br />

Beide Personen wurden in Brasilien festgenommen und befinden sich im<br />

Gefängnis.<br />

Die Attraktivität des Drogenhandels aus ökonomischer Sicht wird deutlich<br />

bei einer Gegenüberstellung der Gehälter bei vergleichbaren Hierarchiestufen<br />

(s. Tabelle 5-10).<br />

Drogenhandel Formeller Sektor<br />

Wächter (Beobachter, um Blitzaktionen<br />

der Polizei anzukündigen)<br />

(2,5 MG)<br />

‚Soldat‘ (Sicherheitsverantwortlicher)<br />

(9 MG)<br />

Wächter (1 MG)<br />

Soldat, Sicherheit (2 MG)<br />

Dealer (16 MG) Verkäufer (1 bis 10 MG)<br />

‚Mitarbeiter‘: ‚schwarz‘ (Marihuana),<br />

‚weiß‘ (Kokain) (etwa 41 MG)<br />

Führender ‚Mitarbeiter‘ (Von Fall zu<br />

Fall ausgehandelte hohe Gehälter)<br />

Anmerkung: MG: Minimalgehalt<br />

Buchhalter (20 bis 30 MG)<br />

Direktor (Von Fall zu Fall ausgehandelte<br />

hohe Gehälter)<br />

Tab. 5-10: Einkommensvergleich zwischen Drogenhandel und legaler<br />

Beschäftigung (nach Folha de São Paulo, 26.01.1992)<br />

Frauen im Kriminellen Informellen Sektor<br />

Die soziale Situation der Frauen in den Favelas und Wohngebieten unterer<br />

Einkommensschichten zwingt sie, jegliche Möglichkeit zur Erzielung von<br />

Einkommen zu nutzen. Gerade in diesen Gebieten wohnen alleinerziehende


192<br />

Mütter, die von den Vätern ihrer Kinder verlassen wurden und sich und ihre<br />

Kinder allein ernähren müssen. Die Notwendigkeit Geld zu verdienen, um<br />

die Familie zu ernähren, macht auch sie anfällig <strong>für</strong> die Angebote aus der<br />

Drogenszene, zumal sie gerade als Kuriere hervorragend eingesetzt werden<br />

können, denn sie haben als Angestellte (Putzfrau, Wäscherin) von reichen<br />

Familien einfachen Zugang zu diesen Konsumentengruppen.<br />

Eine Reihe von Sensationsblättern melden mit regelmäßiger Häufigkeit und<br />

einer gewissen Ironie die Gefangennahme von Frauen, die in den Drogenhandel<br />

verwickelt sind. Oft sind sie Opfer der Gewalt, die diese Art des<br />

Geschäftemachens mit sich bringt.<br />

„X (19 Jahre alt) gefiel die Freundin seiner Schwester. Nach einer<br />

gewissen Zeit gelang es ihm, sie zu erobern und sie trat zu ihm ins<br />

Geschäft ein, Drogen zu verkaufen. Es geschah, dass sie ihm eines<br />

Tages nicht alles Geld übergab. ... Er erschoss sie ... Die Schwester<br />

nannte ihn daraufhin vor allen Leuten öffentlich Mörder“ (Interview<br />

der Autorin mit der Bewohnerin eines einfachen Stadtviertels, 1996).<br />

„Sie war gerade erst 13 Jahre alt, und ich bin nicht sicher, ob sie<br />

nicht auch mit Drogen Geschäfte machte, aber sie war sehr flippig ...<br />

sie war in fast alle aus dieser Drogenbande verliebt. Und dann erfuhren<br />

wir, dass sie <strong>einen</strong> wirklichen Liebhaber außerhalb der Drogenszene<br />

zum Heiraten gefunden hatte, der sie <strong>für</strong> sich allein wollte. Da<br />

wollte sie aus diesem Leben aussteigen .... Sie folterten sie, und<br />

danach brachten sie sie um“ (Interview der Autorin – Zeugenaussage<br />

einer Nachbarin, 1996).<br />

„Oma verkauft Stoff!“, „Falsche Schwangere“, „Hausfrau als Drogenhändlerin<br />

entlarvt“ sind Beispiele <strong>für</strong> sensationelle Zeitungsschlagzeilen. Um den<br />

Umsatz zu steigern und die Polizei durch unauffällige Personen auszutricksen,<br />

engagieren Chefs von Drogenverkaufsposten vor Ort verfügbare weibliche<br />

Arbeitskräfte. Freiwillig oder unfreiwillig, häufig aus einer ökonomischen<br />

Zwangssituation heraus, steigen die Frauen in diesen Arbeitsmarkt ein und<br />

sind vor allem in den Bereichen Drogenübergabe und -verkauf tätig, um so<br />

ihre Familien zu ernähren.<br />

Zwar seltener als Jungen, werden aber auch Mädchen z.B. als Wachposten<br />

und Wachmelderinnen eingesetzt, d.h. wenn sie etwas Verdächtiges beobachten,<br />

entzünden sie z.B. eine Leuchtrakete oder ein Feuerwerk nach vereinbarten<br />

Zeichen. Amorim (1994) berichtet sogar von einer Fernsehsendung


193<br />

des TV-Globo im August 1987, in der ein erst 9-jähriges Mädchen bereits<br />

mit einer Waffe (Baretta, Kaliber 7,65) herumläuft.<br />

Noch seltener ist jedoch, dass eine Frau ‚Herrin des Hügels‘ wird. Jorge<br />

Negão (auch bekannt als ‚Jorge Mata Sete‘ – ‚Jorge, der sieben umbrachte‘)<br />

war der Drogenboss in der Gemeinde Nova Holanda, die Teil des Favelakomplexes<br />

Parque de Maré bildet. Er hat es geschafft, 10 Jahre an der Führungsspitze<br />

des Verbrechens in dieser Gemeinde zu stehen, was über <strong>einen</strong><br />

solch langen Zeitraum einmalig ist. Er wurde von der Polizei wegen Entführung<br />

und Drogenhandel gesucht. Als Jorge Negão von der Polizei erschossen<br />

wurde, übernahm seine Schwester Dulce María Ferreira die Führung und<br />

wurde damit zur Rivalin des Roten Komman<strong>dos</strong> (vgl. Folha de São Paulo,<br />

17.07.1992). Anhand der benutzten Quellen und durchgeführten Untersuchungen<br />

konnte festgestellt werden, dass dies der einzige Fall war, in dem<br />

eine Frau dem Drogenverkauf in einem Ort in Rio de Janeiro vorstand.<br />

Es gibt kein Zurück<br />

Offensichtlich ist, dass <strong>für</strong> die Kinder und Jugendlichen, sogar <strong>für</strong> viele<br />

Erwachsene in den Favelas, der Drogenhandel ein relativ neuer Markt ist, der<br />

jedoch in erheblichem Maße zu ihrem Einkommen beiträgt. Trotz der<br />

Lebensgefahr, die nicht mit dem Konsum allein, sondern auch mit den regelmäßigen<br />

Polizeiangriffen und der Konkurrenz mit anderen Gruppen verbunden<br />

ist, stellt der Drogenhandel eine bedeutende Möglichkeit zur Erhöhung<br />

des niedrigen Familieneinkommens dar. Die Dealer machen im allgem<strong>einen</strong><br />

eine schnelle Karriere. Es ist selten, dass eine Beschäftigung im Formellen<br />

Sektor einer Person ohne qualifizierte Ausbildung in so kurzer Zeit die Möglichkeit<br />

bietet, modische Kleidung zu kaufen, Gold- und Silberschmuck zu<br />

tragen oder sich sonstige Konsumwünsche zu erfüllen.<br />

Der Drogenhandel ist außerordentlich gewalttätig. Unabhängig davon gibt es<br />

aber noch weitere Risiken, vor allem selbst von der Droge, die man verkauft,<br />

abhängig zu werden. Für die Drogenbosse wirkt sich dies hingegen positiv<br />

aus, denn wenn die jugendlichen Verteiler selbst abhängig sind, arbeiten sie<br />

schließlich fast umsonst bzw. fast ausschließlich <strong>für</strong> den Eigenkonsum der<br />

Droge, von der sie abhängig sind. Es kommt nur selten vor, dass Jugendliche,<br />

die in den Drogenverkauf einsteigen, viel arbeiten, ihren Verdienst sparen<br />

und daraufhin aus der Stadt fliehen, um ihren Profit in irgendein legales<br />

Geschäft des formalen Wirtschaftssektors in einer anderen Stadt des Landes<br />

zu investieren. Dies geschieht vielmehr durch die Hintermänner. So wurde


194<br />

bei einer Polizeirazzia im Jahre 1988 Toninho Turco erschossen. Ausnahmsweise<br />

einmal traf es <strong>einen</strong> Großen aus dem Hintergrund. Turco verfügte über<br />

96 Angestellte, 67 Immobilien, war einziger Lieferant <strong>für</strong> 26 Favelas, handelte<br />

mit Drogen im großen Maßstab und finanzierte die Wahlkampagne seines<br />

Sohnes, der daraufhin 1986 Bundestagsabgeordneter wurde (vgl. Amorim,<br />

1994).<br />

Obwohl ein wichtiger Bereich des Drogengeschäfts in den Favelas abgewikkelt<br />

wird, ist dies jedoch nur selten nach außen sichtbar. Jedoch konnte in<br />

einigen Favelas bei Untersuchungen der Autorin beobachtet werden, dass ein<br />

aktiver Drogenhandel existierte und die Dealer offenbar moderne Waffen<br />

trugen. Hier besaßen die Dealer einige Luxussymbole, die stark mit dem<br />

erbärmlichen Leben der Favelabewohner kontrastierten, z.B. Handys, verschiedene<br />

Motorräder, Fahrräder und neue Autos, die vor der Favela geparkt<br />

waren. Es ließ sich nicht feststellen, ob diese Güter Eigentum des Drogenbosses<br />

waren, oder ob sie den Käufern der Drogen gehörten.<br />

Um der durch den Drogenhandel bedingten negativen Entwicklung in den<br />

Favelas, die immer mehr Jugendliche involviert, entgegenzuwirken, versucht<br />

der Staat normalerweise nur mit polizeilicher Repression vorzugehen. Es<br />

wird nicht auf die Ursachen oder Rahmenbedingungen, die diese Entwicklung<br />

erst ermöglichen, eingegangen, da zu viele Interessen im Hintergrund<br />

dies nicht zulassen. Beispiele von präventiven Projekten sind daher selten,<br />

aber es gibt sie.<br />

„Wir fangen gerade ein Pilotprojekt an, um zu sehen, ob wir wenigstens<br />

die Jüngsten vom Drogenhandel abbringen können. Das Projekt<br />

verlangt großes Taktgefühl und ist teuer, aber wir müssen ihnen<br />

wenigstens eine Minimalchance geben, legal etwas zu verdienen,<br />

anstatt durch den Kokainverkauf“ (Interview der Autorin mit einem<br />

Mitglied der Arbeiterpartei PT, 1996).<br />

5.3.1.4 Der Drogenhandel und das soziale Umfeld<br />

5.3.1.4.1 Die Beziehungen zwischen den ‚Herren der Hügel‘ und der<br />

Bevölkerung<br />

Das Wertesystem in den Favelas hat sich in den letzten Jahrzehnten erheblich<br />

geändert. Zwar hat sich äußerlich, d.h. hinsichtlich der Versorgung mit<br />

Infrastruktur und Dienstleistungen wenig geändert, jedoch wandelte sich


195<br />

vielfach das soziale Gefüge innerhalb dieser Gebiete. Kriminelle gab es zwar<br />

schon immer in den Favelas, jedoch haben sich deren Aktivitäten nach außen<br />

gerichtet und nicht gegen die eigenen Nachbarn. Die Verschlechterung der<br />

sozialen Situation der Favelabewohner hat dazu geführt, dass ihre Hemmschwelle<br />

gesunken ist, und die Bereitschaft, kriminelle Handlungen zu begehen,<br />

gewachsen ist.<br />

Die Veränderung ist in der Hauptsache auf das Anwachsen des Drogenhandels<br />

mit Händlern zurückzuführen, die mit einer wesentlich größeren kriminellen<br />

Energie vorgehen und dabei den Tod anderer Menschen billigend in<br />

Kauf nehmen. Die Gesetze des Drogenhandels haben die Regelungen des<br />

Staates abgelöst. Da die vorher verbreitete Kleinkriminalität das Geschäft<br />

des Drogenhandels stört, wurde sie von der Drogenmafia unterbunden.<br />

Jedoch sind die Bewohner vollkommen der Willkür der Drogenmafia ausgesetzt.<br />

Ein Widersetzen gegen deren Anordnungen wird schnell mit dem Tod<br />

bestraft. Die Drogenmafia durchdringt immer mehr Familien in den Favelas.<br />

Nachbarn wissen nicht mehr, wer dazu gehört und wer nicht, ob es nicht<br />

bereits auch Leute aus der eigenen Nachbarschaft oder sogar der eigenen<br />

Familie sind. Dies führt zu einem Klima des Misstrauens und der Angst<br />

sowie der Auflösung sozialer Beziehungen. Der Tod kann heutzutage schnell<br />

kommen, er kann Folge der schlechten Laune des Drogenbosses sein, aber er<br />

kann auch Folge von irgendeinem Missverständnis, einer Eifersucht oder<br />

einer Intrige durch Dritte sein.<br />

„... Sie selbst machen sich zu den ‚Herren des Hügels‘. Manchmal<br />

beschließen sie, alle zu untersuchen, die auf den Hügel kommen und<br />

wieder heruntergehen. Sie beschlossen, m<strong>einen</strong> Schwager zu kontrollieren.<br />

Er hatte <strong>einen</strong> Ausweis aus seiner Militärzeit bei sich, der<br />

ungültig war, weil er schon vor mehr als drei Jahren s<strong>einen</strong> Militärdienst<br />

abgeleistet hatte. ... Sie haben ihn vorbeigelassen, aber dann<br />

verfolgten sie ihn bis an seine Haustür. Dort, vor den Augen meiner<br />

Schwester und seiner drei Söhne, brachten sie ihn mit vielen Schüssen<br />

um. Sie wollten die ganze Familie umbringen, aber einer von ihnen<br />

sagte, dass das nicht nötig wäre“ (Interview der Autorin mit einer<br />

Verwandten des Opfers, 1994).<br />

Es gibt auch andere Formen der Kontrolle und Fälle, die weniger drastisch<br />

sind:


196<br />

„... Ich lebe allein ... Eines Tages baten sie mich, mich auszuweisen,<br />

sie begleiteten mich bis zu meiner Haustür. Sie wünschten mir eine<br />

gute Nacht und gingen weg ... Ich singe sehr gern ... Manchmal kommt<br />

jemand von der Gruppe vorbei und ruft mir zu: ‚Hallo Doña X, Sie<br />

sind heute glücklich, nicht wahr?‘“ (Interview der Autorin mit einer<br />

29jährigen Hausangestellten, die in einer Favela wohnt, 1994).<br />

Die Welt der Drogen ist eine Welt voller Symbole und vieler Codes, die <strong>für</strong><br />

Personen außerhalb des Drogenmilieus schwer verständlich sind. Das Rote<br />

Kommando hat ein ziemlich bizarres Codesystem, um der Bevölkerung ihre<br />

Präsenz im Gebiet deutlich zu machen. Es errichtet als Herrschaftssymbol<br />

ein eisernes Kreuz auf der Spitze des von ihm kontrollierten Hügels, das<br />

nachts immer beleuchtet ist. Diese Kreuze wurden in einigen Favelas beobachtet.<br />

In einer anderen war das Symbol der Drogenhändler eine Marienstatue<br />

im Zentrum eines kl<strong>einen</strong> Platzes.<br />

Das tägliche Leben der einfachen Favelabewohner mit dem Drogenhandel ist<br />

unterschiedlich, ein Grundgesetz gilt jedoch überall: „nichts sehen, nichts<br />

hören und deshalb auch nichts sagen“, vor allem nicht im Falle einer Befragung<br />

durch irgendeine Autoritätsperson. Wie an allen Orten, die durch das<br />

organisierte Verbrechen kontrolliert werden, erzwingen die Drogenhändler<br />

das Schweigen der Bewohner durch Einschüchterung und die „Garantie“,<br />

dass sie durch ihre Aktionen nicht berührt werden. Wenn z.B. ein Bewohner<br />

ein Auto gekauft hat und der Chef der lokalen Verkaufsstelle es benutzen<br />

möchte, ist es unmöglich abzulehnen, sonst verliert er das Auto und möglicherweise<br />

sein Leben. Es gab schon extreme Fälle, in denen der Organisation<br />

das Haus eines Bewohners gefiel und sie ihm mitteilte, dass er nicht mehr in<br />

die Favela zurückkehren könne. In diesen Fällen kann die Familie gewöhnlich<br />

nur ihre notwendigsten persönlichen Dinge mitnehmen.<br />

Einige Aktionen der Drogenchefs werden von den Bewohnern durchaus mit<br />

Sympathie betrachtet. In einer Favela z.B. kam es jede Woche vor, dass ein<br />

Ehemann seine Frau verprügelte und es ging so weit, dass er sie eines Tages<br />

fast zu Tode prügelte. Der Drogenchef kam in dem Augenblick vorbei, als<br />

eine Frau einer anderen erzählte, in welchem Zustand sich die geschlagene<br />

Frau befand. In jener Nacht brachen die Untergebenen des Chefs in das Haus<br />

des Mannes ein und brachten ihn ins Zentrum des Viertels, zogen ihm ein<br />

Gewand an, fesselten ihn an <strong>einen</strong> Baum und verprügelten ihn genauso oder<br />

noch härter, wie er es bei seiner Frau getan hatte. Man muss dieser Aktion<br />

nicht zustimmen, aber es ist wahr, dass es <strong>für</strong> die Frauen dieses Viertels eine


197<br />

Lösung ihres Problems insgesamt mit sich brachte. Die Angriffe auf die<br />

Frauen hörten auf, und lange Zeit hatten viele Männer nicht einmal genügend<br />

Mut, nach der Arbeit an den Bars Halt zu machen und ein Bier zu trinken.<br />

Die einfache Mitteilung bei einem Streit zwischen Nachbarn oder einem<br />

Ehepaar, man werde den Drogenchef holen, führte schnell zu einer Lösung.<br />

„Ich habe keine Probleme mehr mit den Nachbarn. Wenn es irgendwas<br />

gibt, sage ich es sofort den Männern ...“ (Interview der Autorin<br />

mit einer Favelabewohnerin, 1990).<br />

5.3.1.4.2 Der ‚kleine‘ Drogenboss und die Bewohnervereine<br />

Die unzureichende Präsenz des Staates in der Vergangenheit und die damit<br />

verbundene unzureichende Versorgung mit Infrastruktureinrichtungen haben<br />

in den Favelas in den letzten Jahrzehnten zu einer Politisierung der Bewohner<br />

geführt. Sie begannen sich zu organisieren und in Bewohnerver<strong>einen</strong> zu<br />

formieren. Somit haben sie sich zu embryonalen politischen Organisationen<br />

entwickelt, die häufig eine Basisdemokratie in den Stadtvierteln möglich<br />

machen. Ihre Rolle ist es, über die städtischen Defizite in den Gebieten zu<br />

diskutieren; sie debattieren mit den Behörden, um eine Minimalausstattung<br />

mit technischer und sozialer Infrastruktur in den Vierteln durchzusetzen.<br />

Außerdem organisieren sie Gemeinschaftsaktionen wie Gesundheitskampagnen<br />

oder Arbeitseinsätze. Die Vertreter der Bewohnervereine kämpfen in den<br />

Kabinetten der Präfekturen und Behörden, um öffentliche Mittel <strong>für</strong> kleine<br />

Sanierungsprojekte, Arbeitseinsätze der Bevölkerung und andere Aktivitäten<br />

in ihre Viertel zu lenken. Diese Basisdemokratieentwicklung wird jedoch<br />

durch das Eindringen der Drogenmafia gerade in den Metropolen wie São<br />

Paulo und Rio de Janeiro stark bedroht.<br />

Hier haben die Bewohner der Favelas keine andere Möglichkeit mehr, als die<br />

Figur des ‚Herrn des Hügels‘ zu akzeptieren. Nicht mehr der Repräsentant<br />

des Bewohnervereins, sondern der Drogenchef oder ein Stellvertreter wird<br />

jetzt gerufen, um Streitigkeiten zwischen Nachbarn zu schlichten, und diese<br />

sind es auch, die sehr häufig den Präsidenten des Bewohnervereins auswählen.<br />

Hierin liegt der größte politische Verlust <strong>für</strong> die Favelabewohner.<br />

Die Drogenchefs fühlen sich jedoch leicht durch die Präsenz von Technikern<br />

und Politikern bedroht. Sie nehmen an, dass ein Techniker ein verkleideter<br />

Polizist sein kann, was manchmal tatsächlich zutrifft. So stellt der Drogenboss<br />

klar, dass nur er irgendwelche Aktivitäten zugunsten der Favela durch-


198<br />

führen wird, und manchmal erfüllt er dies sogar. Während das Interesse von<br />

Firmen an einem Ausbau der Infrastruktur in den Favelas sehr gering bzw.<br />

fast nicht vorhanden ist, sind es die Drogenchefs, die in einigen Fällen deren<br />

Durchführung fördern oder manchmal auch Lebensmittel verteilen. Sie sind<br />

jedoch nicht an den eigentlichen Arbeiten interessiert, sondern <strong>für</strong> sie ist vor<br />

allem wichtig, so weit wie möglich das Auftauchen von Fremden wie Technikern<br />

und Arbeitern zu verhindern und ihre Herrschaft in den Favelas zu<br />

festigen.<br />

Die Beeinflussung und Bestimmung der Präsidenten und Direktoren der<br />

Bewohnervereine durch die ‚Herren des Hügels‘ und die Einmischung in<br />

ihre Entscheidung haben sich zu einem Dauerzustand in den Favelas entwickelt.<br />

Deshalb sehen viele Einwohner im Bewohnerverein nicht mehr ihre<br />

Interessenvertretung. Wenn andererseits ein Bewohnerverein beschließt, verbrecherische<br />

Aktionen des ‚Herrn des Hügels‘ nicht zu unterstützen, kann<br />

das Ergebnis sein, dass er z.B. am nächsten Morgen sein Gebäude verbrannt<br />

vorfindet. Auch der Mord an Präsidenten von Bewohnerver<strong>einen</strong>, die eine<br />

Kampagne gegen den Drogenkonsum ins Leben gerufen haben, ist keine<br />

Seltenheit. Der erschreckendste Fall war die Hinrichtung von 13 Personen<br />

aus dem Vorstand einer Favela an der nördlichen Peripherie von Rio de<br />

Janeiro Ende der 80er Jahre. Auch gab es nach der Ermordung des Bewohnervereinspräsidenten<br />

und seiner Frau im Juli 1991 in einer Favela in der<br />

Südzone von Rio de Janeiro große Empörung in der Stadt. Neben zahlreichen<br />

anderen Widerstandsversuchen von Favelabewohnern war dies ein sehr<br />

spektakulärer Fall.<br />

„... Ich bin in diesem Bewohnerverein seit einigen Jahren. Ich habe<br />

keine Probleme mit den ‚Männern‘ (Drogenhändlern) ... Es war vor<br />

einem Monat, als die Polizei <strong>einen</strong> von denen umbrachte und der<br />

Priester bekam Befehl von oben, den Körper nicht in der Kirche aufzubewahren.<br />

Sie kamen daher zu mir, um die Totenwache im Bewohnerverein<br />

zu machen. Es gab einige Vorstandsmitglieder, die ein Gesicht<br />

zogen, aber sie hatten nicht den Mut, hierzu die Zustimmung zu<br />

weigern. Ich sagte daher zu den ‚Männern‘: ‚Gut, kein Problem, der<br />

Verein gehört den Bewohnern, und er war einer von ihnen.‘ Trotzdem<br />

waren wir froh, dass die Polizei den Körper nicht freigab ...“ (Interview<br />

der Autorin mit dem Präsidenten eines Bewohnervereins, 1995).<br />

„Ich bin der Präsident (des Bewohnervereins), aber wer befiehlt, sind<br />

sie ... ich bin damit nicht zufrieden, aber ich habe keine andere Möglichkeit,<br />

deswegen muss ich hierbleiben. Wohin auch gehen? Du


199<br />

kannst dir mein Haus anschauen und wirst sehen, wie gut es gemacht<br />

ist ... ich bin Maurer, ich habe es selbst gemacht“ (Interview der<br />

Autorin mit dem Präsidenten eines Bewohnervereins, 1990).<br />

„... Ich weiß, dass ich Glück habe, noch am Leben zu sein, weil sie<br />

mich mit dem Tod bedrohten ... Aber ich habe vor Männern keine<br />

Angst. Ich bin die Tochter eines Mannes, die Frau eines Mannes und<br />

die Mutter eines Mannes. ... Und ich kann sagen: Die besseren Menschen<br />

in meiner Familie sind die Frauen. Diese Drogenkerls fühlen<br />

sich nur mit einer Waffe in der Hand als Mann ... Das Problem war,<br />

dass sie hier mit einem Lastkraftwagen voller Elektrogeräte ankamen<br />

und einige im Gebäude des Bewohnervereins aufbewahren wollten.<br />

Ich sagte ihnen, dass ich ihnen den Schlüssel nicht geben könnte, aber<br />

ich auch nichts dagegen machen könnte, wenn sie ihn aus den Zement<br />

herausholten, den ich gerade zubereitete. Und so warf ich den Schlüssel<br />

in die Zementmasse. Einer von ihnen zielte mit seiner Waffe auf<br />

m<strong>einen</strong> Kopf und sagte, dass ich wie ein Macho sei ... Ich glaube, es<br />

war Gott, der ihn nicht abdrücken ließ ... Die Jungs aus dieser<br />

Gruppe sind heute alle tot, im Kreuzfeuer zwischen ihnen und anderen<br />

Gruppen umgekommen“ (Interview der Autorin mit der Präsidentin<br />

eines Bewohnervereins, 1990).<br />

Bei ihren Geschäften sind die Drogenchefs vor allem um ihre Gewinne und<br />

ihre Sicherheit besorgt. Wenn diese gesichert sind, kümmert er sich nicht<br />

darum, was der Bewohnerverein macht oder machen lässt, solange nicht<br />

seine Interessen berührt werden. Es kommt daher zunehmend zu Arrangements<br />

zwischen diesen Gruppierungen. Das passierte z.B. in einer großen<br />

Favela in Rio de Janeiro, wo der Bewohnerverein <strong>für</strong> sein soziales Engagement<br />

bekannt war und die Urbanisierung der Favela in die Wege geleitet<br />

hatte. Der Drogenchef, obwohl noch jung, schien zu wissen, was <strong>für</strong> ihn und<br />

seine Sicherheit wichtig war. Außerhalb dieses Rahmens vermied er Differenzen<br />

mit dem Bewohnerverein.<br />

Das Zusammenleben mit dem Drogenhandel kann <strong>für</strong> die Familien jedoch<br />

eine Hölle sein. In vielen Stadtvierteln repräsentiert ausschließlich der Drogenboss<br />

das lokale Gesetz, und garantiert damit eine bestimmte Ordnung und<br />

Sicherheit. In einigen Favelas sind die ‚Herren des Hügels‘ so strikt, dass<br />

nicht gestohlen wird. In der Mehrheit der Favelas in Rio de Janeiro ist es<br />

heute so, dass ein Mensch, der in der Favela stiehlt, als Warnung in die Hand<br />

geschossen wird, und wenn es wieder vorkommt, weiß er bereits, dass er<br />

getötet wird. Das gibt den Drogenkonsumenten, die in die Favela kommen,


200<br />

um ihren „Stoff“ zu kaufen, eine gewisse Sicherheit, was wiederum den<br />

Gewinnen des Drogenhandels zuträglich ist. Die am Ort ansässigen Familien<br />

können, was Diebstahl angeht, ruhig schlafen und sogar ihre Türen unverschlossen<br />

halten, denn niemand wird versuchen zu stehlen, was auch immer<br />

es sei.<br />

„Wir wohnen hier in einer sehr ruhigen Gemeinde. Der Bewohnerverein<br />

hier tut viel <strong>für</strong> die Menschen, sie machen eine gute Arbeit. ...<br />

Ich habe mein Geschäft, mein Personal, m<strong>einen</strong> Raum ... wir respektieren<br />

uns gegenseitig“ (Interview der Autorin mit einem ‚Herrn des<br />

Hügels‘ – Drogenhändler und Menschenentführer, 1990).<br />

5.3.1.4.3 Drogenchefs und Staat<br />

Die Welt der Drogen ist gut organisiert. Wenn der Drogenchef stark ist, sind<br />

seine Regeln <strong>für</strong> alle gültig. Das wurde beispielsweise offensichtlich, als ein<br />

hochrangiger Regierungsvertreter des Bundesstaates Rio de Janeiro ein<br />

öffentliches Gebäude einweihen sollte. Das Sicherheitspersonal des Politikers,<br />

das s<strong>einen</strong> Besuch vorbereitete, trat in Kontakt mit den „Jungs“ des<br />

Drogenchefs und musste <strong>einen</strong> Kompromiss mit ihnen schließen. Die Autoritätsperson<br />

sollte mit unbewaffneten Sicherheitskräften kommen, denn jegliche<br />

verdächtige Bewegung mit einer Waffe würde <strong>für</strong> den Drogenchef als<br />

Sicherheitsrisiko interpretiert, und er und seine Bande würden augenblicklich<br />

mit Schüssen antworten. Was als öffentliches Fest geplant war, könnte sich<br />

dann in ein Massaker verwandeln. Der Einfluß des Drogenchefs war so groß,<br />

dass das Sicherheitspersonal des Politikers diese Forderung akzeptieren<br />

musste. Und tatsächlich verlief die Einweihung des Gebäudes ohne Zwischenfälle.<br />

Natürlich besteht auch bei den Politikern ein Interesse, sich mit<br />

den Machthabenden in diesen Favelas gutzustellen, immerhin sind sie mit<br />

einer durchschnittlichen Einwohnerzahl von 150.000 sehr bevölkert. Diese<br />

Anzahl kann bei Wahlen entscheidend sein, und die Bevölkerung wählt, was<br />

der ‚Herr des Hügels‘ befiehlt.<br />

Die Polizeiarbeit in Zusammenhang mit dem Drogenhandel ist ein sehr heikles<br />

Thema und verdient eine sorgfältige Diskussion. Die hohe Inflation und<br />

die niedrigen Gehälter treffen alle Angehörigen der unteren Schichten, und<br />

es ist bekannt, dass viele Polizisten am Drogenhandel teilhaben, um ihr Einkommen<br />

aufzubessern. Das betrifft angeblich sogar Polizeiakademieabsolventen.<br />

Sie sind nicht nur in den Drogenhandel, sondern auch in den Kauf


201<br />

von Waffen <strong>für</strong> die Guerilla eingestiegen. Man muss von „Guerilla“ sprechen,<br />

denn die kriminellen Arbeiter in den Favelas benutzen keine einfachen<br />

Revolver, sondern moderne Waffen, und die Favelas sind einer der Umschlagplätze<br />

<strong>für</strong> den Drogen- und Waffenhandel. In den Favelas kann sich<br />

ein regelrechter Parallelstaat herausbilden, so z.B. wie in den Favelas Pavão<br />

und Pavãozinho in Rio de Janeiro, wo der Drogenhändler Fábio de Souza<br />

Soares seine durch Einschüchterung der Bevölkerung erzwungene „Republik“<br />

installierte. Er gönnte sich sogar den „Luxus“ eines privaten Gefängnisses,<br />

wo er von der Polizei gesuchten Verbrechern Schutz gewährte (vgl.<br />

Isto é Senhor Nr. 11771/92).<br />

Über die Bestechung von Polizeifunktionären sagt ein Arbeiter, der im Dienst<br />

der Droge stand und eine Gefängnisstrafe absitzen musste: „Im Staatsapparat<br />

sind alle käuflich. Die, die nicht <strong>für</strong> die Droge arbeiten, tun es nicht, weil sie<br />

nicht gerufen worden sind, und nicht, weil sie nicht wollten ... Man merkt<br />

ziemlich schnell, wenn jemand gekauft ist ... man merkt es an der Art, wie<br />

sie sich kleiden, welches Auto sie fahren, wie sie sich bewegen ...“ (Proceso<br />

vom 03.08.1997, S. 7).<br />

Eine Kooperation mit der Polizei gegen die Drogenhändler kann sehr gefährlich<br />

sein. Man kann nie sicher sein, ob sie nicht gemeinsam unter einer<br />

Decke stecken. Wenn jemand aus der Drogenszene denunziert wird, kommt<br />

die Polizei, nimmt einige Leute fest oder auch nicht. Der Drogenchef erhält<br />

dann häufig Nummer und Adresse desjenigen, der die Polizei gerufen hat,<br />

und von da an terrorisiert er die ganze Familie. In anderen Fällen wird der<br />

Zeuge abgeholt, kommt aber üblicherweise nicht lebend bei Gericht an,<br />

obwohl er unter dem Schutz der Polizei steht.<br />

So geschah es im Fall von Natânael Fonti Lopes, bekannt als Nael, der die<br />

Kasse des Roten Komman<strong>dos</strong> führte. Der Händler wurde am 11.01.1992 im<br />

Verlauf einer Polizeioperation, die die Polizeiabteilung <strong>für</strong> die Drogenbekämpfung<br />

in der Favela Jacarezinho durchführte, durch vier Schüsse in die<br />

Brust in seinem eigenen Haus getötet. Die Reaktion auf s<strong>einen</strong> Tod war<br />

erstaunlich: Nur einige Stunden später mussten alle Verkaufsstellen auf<br />

Anweisung der Mitglieder der Drogenbande ihre Pforten als Zeichen der<br />

Trauer schließen. Sobald die Polizei das Gebiet verließ, wurde die Hausfrau<br />

Diva Dias de Souza, 50 Jahre alt, ermordet. Sie war von den Drogenhändlern<br />

als anonyme Anruferin, die die Polizei zum Haus von Nael gebracht hatte,<br />

verdächtigt worden. Sie hatte das Misstrauen von Naels Truppe hervorgerufen,<br />

weil sie eine der wenigen Bewohner des Hügels war, die über Telefon


202<br />

verfügten. Sie wurde öffentlich ausgepeitscht, durch die Straßen der Favela<br />

geschleift und schließlich durch Schüsse getötet. Danach marschierten die<br />

Drogenhändler mit ihrem Körper auf einem Handwagen durch die Favela,<br />

damit die Bevölkerung sehen sollte, was mit denjenigen geschieht, die zuviel<br />

reden. Dasselbe Schicksal erlitten zwei mutmaßliche Zeugen, die gegen Nael<br />

aussagen sollten (vgl. Isto É Senhor Nr. 1164 vom 22.01.1992).<br />

5.3.2 Raubkopien und Piraterie<br />

Zum Ärger und Nachteil der Erfinder und Entwickler hat sich der Fälschermarkt<br />

von Markenprodukten auf den nationalen und internationalen Ebenen<br />

zu einem riesigen Wirtschaftssektor entwickelt.<br />

Die Herstellung erfolgt überwiegend in Ländern Sü<strong>dos</strong>tasiens (China, Korea,<br />

Singapur etc.). Aber auch Brasilien nimmt mit dem dritten Platz im Jahr<br />

1997 <strong>einen</strong> Spitzenplatz in der Skala der durch Piratentum verursachten Verluste<br />

ein (s. Abbildung 5-20).<br />

Volksrepublik China<br />

Russische Förderation<br />

Brasilien<br />

Italien<br />

Deutschland<br />

Südkorea<br />

Mexiko<br />

Indien<br />

Indonesien<br />

Hong Kong<br />

Taiw an<br />

Türkei<br />

Thailand<br />

Argentinien<br />

Bulgarien<br />

0,0 500,0 1.000,0 1.500,0 2.000,0 2.500,0 3.000,0<br />

Mio USD<br />

Abb. 5-20: Weltweite Gesamtverluste durch Piratentum in Millionen USD<br />

im Jahr 1997 (nach Reforma vom 08. Juni 1998 mit Daten der<br />

International Intelectual Property Alliance)


203<br />

Das Problem des Piratentums betrifft eine Reihe von Produkten wie z.B.:<br />

Filme, Videospiele, Schuhe, Kleidung, Computerprogramme, Ersatzteile <strong>für</strong><br />

Maschinen, Gesellschaftsspiele, Medikamente, Bücher, Gemälde, Waschmittel,<br />

Getränke, Kosmetika (Parfum und Cremes), Musikkassetten und CD’s,<br />

illegales Anzapfen von Satellitenprogramme durch Firmen etc..<br />

„Piraterie ist kopieren, es ist, die Anstrengungen, die eine Firma oder eine<br />

Person aufgebracht haben, <strong>einen</strong> Platz in der Gesellschaft zu erlangen, zu<br />

missbrauchen, angefangen bei Forschungsarbeiten bis hin zu Investitionen,<br />

um <strong>einen</strong> wirtschaftlichen Vorteil zu erlangen“ (Martin Michaus; in: Reforma<br />

vom 08.06.1998).<br />

In wirtschaftlicher Hinsicht verhindert der Diebstahl geistigen Eigentums<br />

sowohl neue legitime Investitionen als auch die Schaffung neuer (formaler)<br />

Beschäftigungsverhältnisse und die steuerliche Verluste mit Nachteil <strong>für</strong> die<br />

formal etablierten Firmen.<br />

Eine der Hauptschwierigkeiten im Kampf gegen das Piratentum in Lateinamerika<br />

ist die unzureichende Gesetzgebung und fehlende Regelungen in<br />

bezug auf das geistige Eigentum.<br />

Der wichtigste Markt <strong>für</strong> das Piratentum ist jedoch der Informatikbereich.<br />

Von 100 in Lateinamerika verkauften Softwareprogrammen gehören 60 zum<br />

Piratenmarkt, gefolgt vom mittleren Orient mit 74 % und Osteuropa mit<br />

80 %. Nach Informationen der Buiseness Software Allianz erreichte der<br />

Markt illegal kopierter Programme in Lateinamerika im Jahre 1996 <strong>einen</strong><br />

Wert von 911 Millionen USD (vgl. Reforma vom 08.06.1998).<br />

Die Analyse von Goldfarb (1989) zeigt die Vielfalt von gefälschten Waren,<br />

die ihren Absatzmarkt vor allem in den Städten finden. Diese Waren sind<br />

Ergebnis der Sehnsucht der unteren städtischen Klassen nach Teilnahme an<br />

der vorherrschenden Kultur und Mode, die jedoch wegen der damit verbundenen<br />

hohen Kosten nur mittels Kopien scheinbar befriedigt werden kann.<br />

Das Piratentum und die Fälschungen bestimmter Produkte ermöglichen es<br />

vereinzelt auch den einfachen Arbeitern, <strong>einen</strong> scheinbaren Zugang zu<br />

bestimmten Konsumgütern zu erhalten. Aber es ist hauptsächlich die Mittelschicht,<br />

die das Anwachsen dieses Markts ermöglicht. Sie ist es, die Kopien<br />

von Hemden der Marken Boss oder Pierre Cardin, Federhalter von Mont<br />

Blanc; eine Armbanduhr der Marke Cartier oder Rolex kauft.<br />

Die Piraterie-Industrie verfügt über Industrieanlagen, Entwürfe von <strong>neuen</strong><br />

Modellen und hervorragende Logistik. Das Piratentum im Textilbereich wird


204<br />

beispielsweise durch <strong>einen</strong> hohen Aquisitionsstandard charakterisiert, der es<br />

ihnen erlaubt, an internationalen Modenschauen teilzunehmen und Orginalmodelle<br />

von Prestigemarken zu kopieren. Laut der Firma Levis schicken<br />

Firmen ihre gefälschten Waren in die USA, um sie mit Markennamen und<br />

gefälschten Papieren der Herstellung zurückzuerhalten und der Ware somit<br />

<strong>einen</strong> legalen Anschein zu verleihen (vgl. Gabriela Frias, Mariel Zuniga und<br />

Doris Gomora in: Reforma vom 10.06.1998).<br />

Für den Kapitalisten gibt es k<strong>einen</strong> Grund, nicht in diesen ertragreicheren<br />

Markt gefälschter Waren zu investieren. Die erheblichen Gewinnspannen<br />

beginnen mit dem Diebstahl des „Know-hows“ und setzen sich mit der<br />

Beschäftigung und Ausbeutung ungeschützter Arbeiter fort.<br />

5.3.3 Glücksspiel als Beschäftigungssektor und Wachstumsbranche<br />

Das Glücksspiel verursachte den brasilianischen Behörden lange Zeit Kopfschmerzen<br />

und eine Phase enorm gewalttätiger Auseinandersetzungen, bis es<br />

sich als Beschäftigungssektor etablierte. Die Gewalt richtete sich einerseits<br />

gegen die Polizei, fand aber andererseits sogar noch aggressiver zwischen<br />

den verschiedenen Chefs, den Bicheiros (Name <strong>für</strong> den Chef der Glücksspielorganisation,<br />

an den die Gewinne gehen) und ihren Gruppen statt, die<br />

um Herrschaft über bestimmte Stadtviertel, Städte oder sogar Bundesstaaten<br />

kämpften. Nach zahlreichen blutigen Zusammenstößen und Morden haben<br />

sich die Chefs des Glücksspiels zusammengesetzt und beschlossen, Brasilien<br />

in Territorien aufzuteilen. Bundesstaaten, Städte und Stadtviertel sind heute<br />

so aufgeteilt, dass alle lohnende Gewinne erzielen. Heute kann man sagen,<br />

dass das Glücksspiel in Brasilien halblegalisiert ist und auf die Unterstützung<br />

einiger bekannter Politiker zählen kann. Offiziell ist es noch verboten, aber<br />

jeder kann sein Spiel in bestimmten Spiellokalen betreiben, ohne Gefahr zu<br />

laufen, verhaftet zu werden. Diese Pseudolegalität ist <strong>für</strong> die Investoren in<br />

diesem Sektor (Banqueiros – Bankhalter genannt) sehr einträglich, denn sie<br />

brauchen keinerlei Steuern an den Staat zu zahlen, und Tausende von Personen,<br />

die in diesem Metier arbeiten, haben nicht die geringste soziale Sicherheit.<br />

Indessen lesen sich die Lohnlisten der ‚Bankhalter‘ wie ein Auszug aus<br />

dem Register der besseren Gesellschaft: vom Ex-Gouverneur des Staates<br />

über den Bürgermeister, den Polizeichef, die Kriminalkommissare und Richter<br />

bis hinunter zu den Streifenpolizisten (vgl. Goerdeler/Frankfurter Rundschau<br />

vom 09.07.1994).


205<br />

Selbst im Kongress von Brasilia wurde behauptet, man habe Beweise, dass<br />

der lange Arm der Bicheiros bis ins Parlament und in die obersten Gerichte<br />

reiche (vgl. Goerdeler/Frankfurter Rundschau vom 09.07.1994). Sogar ein<br />

Staatspräsident hatte keine Skrupel, sich in Situationen fotografieren zu lassen,<br />

die in der Öffentlichkeit Nähe und Freundschaft mit den Bicheiros assoziierten.<br />

„Die Lotterie mit den Tiersymbolen, das ‚Jogo de Bicho‘, gehört zu Rio de<br />

Janeiro wie die Limone zum Zuckerrohrschnaps. Die Tiertombola wurde vor<br />

einem Jahrhundert von einem gewissen Baron João Baptista Vianna de<br />

Drummond ins Leben gerufen. ... Adler, Affe, Bär, Elefant, Esel, Hahn,<br />

Hirsch, Hund, Kamel, Kaninchen, Katze, Krokodil, Kuh, Löwe, Pfau, Pferd,<br />

Schaf, Schmetterling, Schlange, Schwein, Stier, Strauß, Tiger, Truthahn und<br />

Ziege ... Für jedes Tiersymbol steht eine Zahlengruppe von Null bis neunundneunzig,<br />

unzählige Wettkombinationen ...“ (Goerdeler/Frankfurter Rundschau<br />

vom 09.07.1994).<br />

In Rio de Janeiro gibt es 3.000 Straßenecken, an denen man diese Spiele<br />

betreiben kann. „Die Tiertombola ist das größte private (illegale und Informelle)<br />

Unternehmen in Rio de Janeiro. Mehr als zwei Milliarden Dollar Jahresumsatz<br />

erbringt die Lotterie im ganzen Land, 40% des Wettumsatzes fließen<br />

in die Taschen der Bicheiros“ (Goerdeler/Frankfurter Rundschau vom<br />

09.07.1994).<br />

Es ist noch jeder Versuch gescheitert, die Tiertombola zu legalisieren und sie<br />

dadurch der Unterwelt zu entziehen. Die ‚Bicheiros‘ genießen politischen<br />

Schutz. Mit dem Geld aus der Tierlotterie werden Fußballvereine, Sambaschulen<br />

und Wahlkampagnen finanziert.<br />

Das ‚Jogo de Bicho‘ ist eng mit dem Drogenhandel verbunden, denn die<br />

‚Bankhalter‘ geben häufig den Drogenbanden Kredite zur Finanzierung von<br />

deren Geschäften, vor allem in Rio de Janeiro. Diese Verbindung konnte<br />

jedoch bislang nicht nachgewiesen werden. In allen Prozessen gegen die<br />

Lotteriekönige verschwanden bislang auf unerklärliche Weise Personen und<br />

Dokumente, blieben Zeugen stumm und Tote auf der Strecke (vgl. Amorim,<br />

1994; Goerdeler/Frankfurter Rundschau vom 09.07.1994).<br />

Eine entscheidende Beobachtung ist, dass das Glücksspiel wie der Drogenhandel<br />

von der Armut und Arbeitslosigkeit profitiert, die in den Favelas herrschen,<br />

um sich zu etablieren und seine Branche zu stärken. Es missbraucht


206<br />

die billige Arbeitskraft vor Ort. Die Untergebenen werden ausgenutzt, um<br />

die obersten Chefs zu schützen.<br />

Beziehungen zwischen Glücksspiel und Drogenhandel<br />

Die Glücksspielchefs beherrschen <strong>einen</strong> Geschäftszweig, dessen Kontingent<br />

an Beschäftigten heute 50.000 Personen umfasst, von der untersten Ebene<br />

der Kontrolleure bis zu den Verantwortlichen auf mittlerer Ebene und den<br />

Leibwächtern. Diese Beschäftigtenzahl entspricht etwa der von Autolatina<br />

(große brasilianische Autoindustrie) und ist sogar doppelt so hoch wie die<br />

Zahl an Angestellten der VARIG, der größten brasilianischen Fluggesellschaft<br />

(vgl. Folha de São Paulo vom 26.01.1992).<br />

Im Gegensatz zum Drogenhandel, der in seiner Mehrzahl Männer beschäftigt48<br />

, ist heute der Frauenanteil und der älterer Menschen im Glücksspielsektor<br />

bemerkenswert. Das Beschäftigungsvolumen, das durch das Glücksspiel<br />

geschaffen wird, ist zwar groß, aber die Entlohnung sehr niedrig. Viele<br />

Beschäftigte verdienen nur den Mindestlohn.<br />

Vergleicht man Glücksspiel und Drogenhandel vom Gesichtspunkt der<br />

sozialen Akzeptanz, so hat das Glücksspiel eindeutig ein wesentlich höheres<br />

Ansehen als der Drogenhandel. Während letzterer eindeutig von der Gesellschaft<br />

als kriminell verurteilt wird, wird das Glücksspiel ‚Jogo de Bicho‘<br />

häufig nicht als kriminell verurteilt, wozu auch die Involvierung ansonsten<br />

hoch angesehener Personen der Öffentlichkeit, wie Politiker, Geschäftsleute<br />

etc. beiträgt.<br />

Für die Glücksspielchefs ist ihre scheinbare Rolle als „paternalistische“<br />

Wohltäter eine Fassade, die sie zu ihrem Vorteil kultivieren. In dieser Rolle<br />

können sie sich gegen den Drogenhandel abgrenzen und vermeiden so, ihre<br />

Position zu gefährden, die sie entwickelt haben und der Bevölkerung gegenüber<br />

vertreten wollen. Unter ihnen ist es z.B. üblich, in Rio de Janeiro eine<br />

Sambaschule zu „kaufen“. Dabei ist es nicht ihr Ziel, diese Vereine zu unterstützen,<br />

sondern Geld zu verdienen. Ihr Einfluß ist inzwischen sogar soweit<br />

fortgeschritten, dass sie die Regeln des größten brasilianischen Spektakels,<br />

des Karnevals von Rio, diktieren und damit ganz legal noch mehr Geld verdienen,<br />

sei es über Eintrittsgelder, das Vermarkten von Übertragungsrechten,<br />

Aufnahmerechte <strong>für</strong> Schallplatten, Videobänder oder ähnliches. Die Samba-<br />

48 Von den 9.000 im Drogenhandel Beschäftigen ist der größte Teil jünger als 18 Jahre, zumeist<br />

sind es männliche Jugendliche.


207<br />

schulen bringen somit <strong>für</strong> das Glücksspiel <strong>einen</strong> mehrfachen Nutzen: legal<br />

Geld verdienen, Imageverbesserung und Geldwäsche aus illegalen Aktionen.<br />

Trotz der engen Zusammenarbeit zwischen Glücksspiel und Drogenhandel<br />

auf der Chefebene kommt es zu erheblichen Auseinandersetzungen auf den<br />

untersten Hierarchieebenen, die sich in den Favelas ereignen. Ein Fall, der in<br />

den Zeitungen von Rio de Janeiro viel Raum einnahm, war die Auseinandersetzung<br />

zwischen gegnerischen Gruppen in der berühmtesten Favela von Rio<br />

de Janeiro, in Rocinha. Der dortige Bandenkrieg begann mit einem Konflikt<br />

zwischen dem lokalen Glücksspielchef Luiz Carlos Batista und dem Drogenhändler<br />

Sérgio Pereira da Silva, genannt Bolado, der sich als Beschützer der<br />

Bewohner aufspielte und von dem Glücksspielchef zwei Lastwagen voller<br />

Lebensmittel pro Monat forderte, die an die Bewohner verteilt werden sollten.<br />

Nur dann würde er das Glücksspiel in diesem Gebiet erlauben. Luiz Carlos<br />

akzeptierte diese Forderung eine Zeitlang, aber dann reagierte er und<br />

erkämpfte sich s<strong>einen</strong> Platz mit Gewalt. Das Klima in der Favela heizte sich<br />

auf, und die Polizei brauchte sieben Monate, um die Herrschaft über den<br />

Polizeiposten in diesem Gebiet wiederzugewinnen.<br />

Die Welt der Gesetzesübertretungen ist ein vermintes Feld, schwierig zu verstehen,<br />

und es ist unmöglich, immer sichere Aussagen darüber zu treffen. In<br />

den Augen der Bevölkerung sind das Glücksspiel (eine bereits seit längerem<br />

akzeptierte Form der Gesetzesübertretung) und der Drogenhandel (neue illegale<br />

„Boombranche“) zwei sehr verschiedene Welten.<br />

In den letzten zwei Jahren erschienen die Namen von großen Glücksspielchefs<br />

mindestens zweimal im Zusammenhang mit dem Drogenhandel. Ein<br />

Armeebericht erwähnt z.B. ein Gipfeltreffen zwischen den beiden Zweigen<br />

des organisierten Verbrechens, das 1981 stattgefunden haben soll, auf dem<br />

sich die großen Chefs des Drogenhandels und die reichen Glücksspielbankiers<br />

vereinten. Auf diesem Treffen soll dem Bericht zufolge festgelegt worden<br />

sein, wer die Kontrolle über alle Drogenein- und -ausfuhren in Rio de<br />

Janeiro innehat, und wer <strong>für</strong> den Handel mit geschmuggelten Waffen verantwortlich<br />

sein solle (vgl. Veja vom 04.03.1992).<br />

Bandenkrieg zwischen Drogenhandel und Glücksspiel<br />

Die Auseinandersetzung zwischen Drogenhandel und Glücksspiel spitzt sich<br />

in dem Moment zu, wenn die Führer der beiden Gruppen unterschiedliche<br />

Interessen am selben Ort verfolgen. In einem derartigen Fall kommt es zu


208<br />

einem Machtkampf, wie er sich 1988 in der Favela Mangueira zutrug. Aufgrund<br />

verschiedener Zusammenstöße zwischen den Gruppen des Drogenhandels<br />

und des Glücksspiels in den Sambaschulen blieben die Besucher weg,<br />

was zu erheblichen Einnahmeausfällen führte. Dies zwang sie, sich zu einigen<br />

und sie garantierten den Besuchern der ganzen Stadt, dass sie die<br />

Sambahalle wieder besuchen könnten, ohne sich vor Überfällen <strong>für</strong>chten zu<br />

müssen. Tatsächlich funktionierte das gegenseitige Laissez-Faire-Abkommen.<br />

Es gab <strong>für</strong> die Sambatänzer und die Besucher kein Risiko mehr, überfallen<br />

zu werden. Im Gegenzug war der Drogenkonsum in der Halle unbeschränkt.<br />

Es ist schwierig, das Kapital, das durch den Drogenhandel und das Glücksspiel<br />

erwirtschaftet und verschoben wird, zu quantifizieren. Ebenso schwierig<br />

ist es, die Zahl der Arbeitsstellen, die durch diese Aktivitäten geschaffen<br />

werden, genau festzustellen, lediglich sehr grobe Schätzungen, wie oben<br />

bereits erfolgt, sind möglich. Aber sicher ist, dass ein großer Teil der aktiv<br />

Erwerbstätigen in Rio de Janeiro von diesen beiden Gebieten absorbiert<br />

wird.<br />

Ein weiterer Unterschied zwischen diesen beiden Bereichen besteht in der<br />

Art der Abwicklung der Geschäfte. Beim Glücksspiel können viele Losverkäufer<br />

quasi auf eigene Kosten ihr Geschäft eröffnen, sie benötigen nur<br />

<strong>einen</strong> Bauchladen <strong>für</strong> den Losverkauf und die Genehmigung durch den Chef<br />

des Gebietes. Außerdem sind sie aufgrund der sozialen Akzeptanz des Spiels<br />

kaum der Verfolgung durch die Polizei ausgesetzt. Im Fall des Drogenhandels<br />

ist das wesentlich schwieriger. Der Verkauf in den Favelas kann nur<br />

verdeckt erfolgen, selten ist er in einer Bar, einem Restaurant oder einem<br />

Club möglich. Zudem ist dieses Geschäft in erheblichem Maße der Verfolgung<br />

durch die Polizei ausgesetzt und es gibt eine ständige Konkurrenzsituation<br />

zwischen den Verkäufern. Diese Rivalitäten werden dann mit großer<br />

Gewalt ausgetragen.<br />

Beeinträchtigung des Geschäfts mit dem Glücksspiel<br />

Niemand in Brasilien hätte gewagt daran zu glauben, dass erfolgreiche<br />

Schläge gegen die organisierte Kriminalität in Rio de Janeiro möglich sein<br />

könnten. Doch völlig unerwartet machte 1993 die Richterin Denize Fronnard<br />

12 Bicheiros in Rio dingfest und brachte sie ins Gefängnis. Sie konnte so


209<br />

beweisen, dass es möglich ist, auch gegen diese Kriminellen mit Rechtsmitteln<br />

vorzugehen (vgl. Amorim, 1994).<br />

Die 12 Chefs der Zoomafia wurden wegen steuerlicher Unklarheiten vor<br />

Gericht geladen. Sie ließen dabei ihre bewaffnete Leibwache an der Gerichtstür<br />

zurück. Diese Leibwache bestand aus Soldaten der Militärpolizei,<br />

die mit 45er Colts, die <strong>für</strong> den ausschließlichen Gebrauch der Streitkräfte<br />

bestimmt sind, und einer Magnum 357 mit zwölf Kugeln ausgerüstet waren.<br />

Der bewaffnete Einsatz von Soldaten <strong>für</strong> den Schutz von Privatpersonen ist<br />

jedoch illegal. Laut der Richterin war allein die Waffenausrüstung dieser<br />

Leute ausreichend, um am Krieg in Sarajevo teilzunehmen (vgl. Veja vom<br />

19.05.1993).<br />

Die „Bicheiros“ wurden wegen Bandenbildung angeklagt und mit sechs Jahren<br />

Haft bestraft. „Diese Herren haben seit Jahren ein Korruptions- und<br />

Bestechungsnetz, eine wahre Untergrundmacht gegen Gesetz und Ordnung,<br />

aufgebaut“ (Veja vom 16.11.1994).<br />

Obwohl einige „Bicheiros“ gefangengenommen und verurteilt wurden, geht<br />

das Geschäft mit dem Glücksspiel im Zentrum von Rio de Janeiro wie zuvor<br />

weiter.<br />

5.3.4 Illegaler Schutz<br />

Neben den beiden Bereichen des Drogenhandels und des Glücksspiels stellt<br />

der private Schutzsektor, der überwiegend aus illegalen Firmen besteht,<br />

<strong>einen</strong> weiteren Bereich des Kriminellen Informellen Sektors dar, in dem sehr<br />

viel Geld umgesetzt wird. Diese Firmen bieten ihre Dienste Geschäften,<br />

Politikern, Privatleuten usw. an.<br />

Nach Aussagen des Wachpostengewerkschaftspräsidenten aus Rio de Janeiro,<br />

Fernando Bandeira, umfasst das illegale Schutzheer heute (Oktober 1995)<br />

ein Kontingent von 150.000 Menschen, deren Mehrzahl aus den Streitkräften<br />

oder aus der staatlichen Polizei hervorgegangen ist. Viele von ihnen haben<br />

nur wenig praktische Erfahrung im Bereich der öffentlichen Sicherheit. Kellner,<br />

Briefträger oder Pförtner nehmen diese Arbeit in der Regel als eine<br />

Nebenbeschäftigung wahr, ansonsten sind es Arbeitslose. Dieses Schutzheer,<br />

das täglich Häuser, Firmen und Banken bewacht, bekommt nicht die geringste<br />

Aus- oder Weiterbildung, lebt von Minimallöhnen und arbeitet häufig<br />

mit eigener Waffe – im allgem<strong>einen</strong> ohne legale Erlaubnis. Es steht in Verbindung<br />

mit über 300 illegalen Firmen, die von Militärpolizei oder dem


210<br />

Militär unterhalten werden, genauso wie von Kommissaren oder Inspektoren<br />

der Zivilpolizei. Die Anzahl der illegalen Schutzfirmen ist dreimal so hoch<br />

wie die der legal gegründeten Firmen. Auch Frauen haben ihren Platz in diesem<br />

Sektor (vgl. Jornal do Brasil vom 29.10.1995).<br />

5.3.5 Die kriminellen Kapitalisten<br />

Wenn politische Angelegenheiten mit wirtschaftlicher Macht verbunden<br />

sind, legitimieren sie jede Kapitalform, sei sie formell, informell oder auch<br />

kriminell: „Ich brauche keine Pistolenhelden mehr. Jetzt habe ich doch<br />

Abgeordnete und Senatoren.“ Dieser Satz wird ‚Big‘ Paul Castelano zugeschrieben,<br />

dem Mann, der mehr als 20 Jahre lang der Chef der Familie<br />

Gamino war, einer der bedeutendsten Mafiafamilien in New York. Er starb<br />

bei einem Attentat während eines Bandenkrieges der Cosa Nostra (apud<br />

Amorim, 1994; S. 9).<br />

Wie schon erwähnt, ist der Drogenhandel heute das am besten gehende Investitionsgeschäft<br />

mit Gewinnen, die in den USA bis zu 150 Milliarden USD<br />

betragen können (vgl. The Washington Post / P. Murphy, apud msantunes,<br />

1997). Des weiteren berichtet die ‚Washington Post‘, dass laut FBI im letzten<br />

Jahr über den Drogenhandel mehr als 200 Millionen US Dollar in Expansionsgeschäften<br />

und Geldwäsche umgesetzt wurden.<br />

Der Drogenkonsum hat weltweit exzessiv zugenommen. Ein Bericht, der<br />

1995 von der holländischen Regierung erstellt wurde, fördert zutage, dass<br />

das Volumen des Drogengeschäfts auf dem Weltmarkt durchschnittlich eine<br />

Billion US Dollar jährlich beträgt.<br />

Im Kampf gegen die illegale Geldwäsche fand Ende 1995 in Buenos Aires<br />

eine ungewöhnliche „Interministerielle Konferenz über den Kampf um die<br />

Geldwäsche“ statt, an der Minister aus 34 Ländern teilnahmen. Diese Länder<br />

unternahmen große Anstrengungen, um Gesetze zu erarbeiten und zu verabschieden,<br />

die die Geldherkunft aus Geschäften des Terrorismus, des Drogenhandels<br />

und -vertriebs, des Waffenhandels und des Handels mit Menschen<br />

und Organen, mit Prostituierten, insbesondere Einkünfte aus der Kinderpornographie,<br />

regulieren und kontrollieren (vgl. Proceso vom 03.08.1997).<br />

Der Rauschgifthandel hat sich zu einem bedeutenden Teil der Weltwirtschaft<br />

entwickelt. Nach Angaben des Internationalen Drogenkontrollprogramms<br />

der Vereinten Nationen setzen Drogenschieber und -dealer in aller Welt jährlich<br />

400 Milliarden US Dollar um. Dies entspräche rund acht Prozent des


211<br />

gesamten Weltexports und sei vom Umsatz her beträchtlich höher als der<br />

gesamte Auto-, Eisen- und Stahlexport. Weiter heißt es dort, von vergleichbarer<br />

Größe sei nur der gesamte Textilwelthandel (vgl. Frankfurter Rundschau<br />

am Abend vom 26.06.1997; Darmstädter Echo vom 27.06.1997). Die<br />

Gewinnspannen aus dem Drogenhandel sind enorm, wie die Abbildung 5-19<br />

und Tabelle 5-9 zeigen.<br />

Geldwäsche<br />

Die Geldwäsche ist ein wichtiges Problem und vom rechtlichen Standpunkt<br />

aus gesehen äußerst delikat. Obwohl sie nicht unmittelbar Thema dieser<br />

Untersuchung war, sind einige interessante Bemerkungen dazu zu machen.<br />

Die von den illegalen Wirtschaftszweigen entwickelten Strategien zur Legalisierung<br />

ungesetzlicher Gewinne sind sehr komplex und reichen von der<br />

Gründung eigener Finanzinstitutionen bis hin zur Wahl von Parlamentariern,<br />

die politischen Rückhalt garantieren. Alles ist möglich: von Investitionen in<br />

Börsenaktien bis zu Investitionen in Tankstellen, Lottoannahmestellen,<br />

Restaurants, etc., um das akkumulierte Kapital aus den kriminellen Geschäften<br />

zu legalisieren.<br />

Geldwäsche im Glücksspiel<br />

Zunächst zum Glücksspiel, dem bekanntesten und akzeptiertesten illegalen<br />

Sektor in Brasilien. Der Finanzminister wird in den kommenden zehn Jahren<br />

kaum das Vergnügen haben, die Steuern <strong>für</strong> die gigantischen Gewinne aus<br />

dem Glücksspiel einzutreiben. Seit langer Zeit hört man schon nichts mehr<br />

von der Legalisierung dieses Spiels, weil von Seiten der Glücksspielchefs<br />

kein Interesse daran besteht, denn es gelingt ihnen ohne größere Probleme,<br />

das illegal verdiente Geld in den Finanzmarkt einzuschleusen. 1976 gab es in<br />

Brasilien eine große Kampagne <strong>für</strong> die Legalisierung des Glücksspiels, und<br />

einer der engagiertesten Männer war der Glücksspielchef Pannar. In zwei<br />

Interviews und einem Bericht an das Finanzministerium enthüllte er die üblichen<br />

Steuerhinterziehungspraktiken durch das Glücksspiel und versuchte,<br />

die Vorteile des legalisierten Spiels, sowohl <strong>für</strong> die Chefs wie auch <strong>für</strong> die<br />

staatlichen Steuerbehörden, aufzuzeigen. Aber die Mehrheit der Glücksspielchefs<br />

waren gegen eine Legalisierung, denn sie würde viele Verpflichtungen<br />

und Kontrollen mit sich bringen und die Einkünfte schmälern. Pannar überwarf<br />

sich schließlich mit den großen Bankiers des Glücksspiels. Einen<br />

Monat später wurde er in seinem Auto ermordet (vgl. Veja vom 04.03.1992).


212<br />

Das Glücksspiel ist weiterhin „illegal“ und immer wieder werden neue<br />

Mechanismen gesucht, um die Gewinne zu waschen.<br />

Geldwäsche durch Samba und Fußball<br />

„Wenn es nicht den Samba gäbe, würden die Glücksspielchefs auf der Straße<br />

immer noch als schamlos gelten. Die Glücksspielchefs haben es durch den<br />

Karneval, durch ihre Reformen in den Sambaschulen und ihre Investition in<br />

die Karnevalsumzüge geschafft, das Image des außerhalb des Gesetzes stehenden<br />

Verbrechers gegen das des Wohltäters der Gemeinde einzutauschen“<br />

(vgl. Veja vom 04.03.1992). Die Investition in die Sambaschulen ist eine der<br />

typischen Formen der Geldwäsche aus dem Glücksspiel von Rio de Janeiro,<br />

und möglicherweise auch des Geldes aus dem Boom des Drogenverkaufs.<br />

Die Sambaschulen verdanken den Glücksspielbankiers ihre neue modernisierte<br />

und professionalisierte Organisationsstruktur. Seit 1985 werden die<br />

zehn größten Sambaschulen von Rio durch die sogenannte ‚unabhängige<br />

Liga der Sambaschulen‘ juristisch und finanziell repräsentiert, hinter der die<br />

Glücksspielchefs stecken. Das ist eine Art von „Trägerverein“, der den<br />

Glücksspielchefs als Organisationszentrum <strong>für</strong> den Samba dient. Die Liga<br />

hat die Aufgabe, die Gewinne aus den Karnevalsumzügen, die 1985 mehr als<br />

5 Millionen Dollar betrugen, einzusammeln und zum Großteil an die Schulen<br />

zu verteilen. Die Einkünfte resultieren aus den Eintrittskarten und dem Verkauf<br />

der Übertragungsrechte an die Medien. Die Liga gibt 30% der Gesamteinkünfte<br />

an Riotour, die städtische Touristenorganisation, zur Förderung<br />

dieses Sektors. Der Rest wird unter den teilnehmenden 10 in der Liga organisierten<br />

Schulen, bei denen es sich um die Spitzengruppe handelt, verteilt.<br />

Um weitere Gewinne aus diesem Bereich zu ziehen, gründete die Liga sogar<br />

ein eigenes Aufnahmestudio, um die jährlichen Sambamusiken auf Schallplatten<br />

zu pressen.<br />

Für die Glücksspielchefs ist der Karneval eine gute und billige Investition,<br />

vor allem, weil sie unter dem Deckmantel des Karnevals völlig legal mit großen<br />

Geldsummen in den Finanzmarkt eindringen können. Von Experten konservativ<br />

kalkuliert, bringt das Glücksspiel allein im Staat Rio de Janeiro<br />

<strong>einen</strong> Gewinn von 10 Millionen Dollar ein, es kann aber auch erheblich darüber<br />

hinausgehen. Die Aufteilung ganz Brasiliens zwischen den Herren des<br />

Glücksspiels verschafft ihnen mehr Einkommen als sie zugeben. Wie Charles<br />

Morley, eine der respektiertesten Stimmen des internationalen Finanz-


213<br />

marktes, in einem Interview mit ‚Isto É‘ sagte: „Schmutziges Geld ist wie<br />

Wasser. Es folgt dem Lauf des geringsten Widerstands“ (Isto É Nr. 1175/92).<br />

Auch das Fußballspiel übt eine starke Anziehung als Möglichkeit zur Geldwäsche<br />

aus und wird vor allem von den Drogenhändlern genutzt. Dort können<br />

sie mit Leichtigkeit durch den Einkauf und Transfer professioneller<br />

Spieler ihre Gelder waschen.<br />

Die oben beschriebenen Formen der Geldwäsche sind nicht auf Brasilien<br />

beschränkt, sondern der Drogenhandel bedient sich auch in anderen Ländern<br />

der gleichen Mechanismen. So hat es die Drogenmafia in Kolumbien geschafft,<br />

durch ihre flächendeckenden Investitionen auch in kleine Geschäftsbereiche<br />

wie Kinos, Hotels und Restaurants, neben dem Fußball eine neue<br />

soziale Schicht zu schaffen, die der Mittelschicht zugeordnet werden kann,<br />

aber vollkommen von der Drogenmafia abhängig ist.<br />

Das Finanzsystem hat keine Mechanismen zur Kontrolle des Geldkreislaufs<br />

geschaffen. Weiterhin wird das Problem durch das Fehlen einer gesellschaftlichen<br />

Ethik im Hinblick auf gesetzwidrige Mittel verschärft, und so wird es<br />

jeden Tag leichter, illegales Geld zu waschen. Charles Morley behauptet<br />

sogar, dass in Brasilien ungefähr 17% der Drogenhändlerkonten der ganzen<br />

Welt konzentriert sind. Das lenkt die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass<br />

hier das Geld nicht nur <strong>für</strong> den internen illegalen Sektor, sondern in großem<br />

Ausmaß auch <strong>für</strong> das internationale Verbrechen gewaschen wird. Zweifellos<br />

geht es dabei um viel Geld, in groben Zahlen ausgedrückt um etwa 20 Milliarden<br />

US Dollar (vgl. Veja, 1193, Nr. 31/91).<br />

In Brasilien machen die Banken keine großen Anstrengungen, Geld aus illegalen<br />

Geschäften zu meiden. Freiwillig oder unfreiwillig gehen die Banken<br />

mit diesem Geld um, denn da es keine Kontrolle gibt, gibt es keinerlei<br />

Kodex, der die Banken verpflichtet, Informationen über die Herkunft und die<br />

Höhe der Einlagen oder Wertpapierankäufe ihrer Klienten zu machen. Geldwäsche<br />

wird nur betrieben, wenn das Bankensystem dazu benutzt werden<br />

kann. Die Chancen hier<strong>für</strong> sind in Brasilien groß, deshalb wird der kleine<br />

Drogenhändler fortfahren, seine Taschen voller Geld zur Bank zu bringen,<br />

ebenso wie der große Drogenboss einträgliche Transaktionen auf dem<br />

Finanzmarkt machen wird. Die Drogen- und Waffenhändler, die Glücksspielbankiers<br />

und andere illegale Geschäftemacher sind darauf angewiesen,<br />

dass Geld in das Finanzsystem eingeschleust wird. Offensichtlich benutzen<br />

sie auch nichttraditionelle Finanzinstitutionen wie die Wechselstuben, aber<br />

<strong>für</strong> große Geschäfte bieten diese nicht dasselbe Investitions- und Anlage-


214<br />

möglichkeitenspektrum wie das konventionelle Bankensystem. Die brasilianischen<br />

Autoritäten auf diesem Gebiet sind der Meinung, dass das illegal<br />

verdiente Geld in großem Ausmaß in den Grenzregionen wie Rondônia<br />

gewaschen wird. Rondônia grenzt an Bolivien und ist eines der großen Einfallstore<br />

des Landes <strong>für</strong> Kokain (vgl. Veja, 1193, Nr. 31/91).<br />

5.3.6 Entkriminalisierung<br />

So wie es Bestrebungen gibt, den sonstigen Informellen Sektor zu formalisieren<br />

oder stärker anzuerkennen, gibt es vereinzelt auch Bestrebungen, den<br />

Kriminellen Sektor zu formalisieren. Die erheblichen Gewinne dieses Sektors<br />

sind ausreichend Anlaß <strong>für</strong> die Politiker darüber nachzudenken, wie der<br />

Staat an diesem Kuchen teilhaben kann. Die Formalisierung des Kriminellen<br />

Informellen Sektors setzt jedoch zunächst deren Legalisierung und somit<br />

Entkriminalisierung voraus, die je nach Bereich unterschiedlich gern gesehen<br />

werden.<br />

Wie bereits oben ausgeführt, war das Klima <strong>für</strong> die Legalisierung des<br />

Glücksspiels mit dem ‚Jogo de Bicho‘ durchaus günstig, scheiterte in diesem<br />

Fall jedoch daran, dass deren Chefs ihre Einkünfte und ihre Positionen kaum<br />

gefährdet sahen und nicht bereit waren, ihre Gewinne durch Abgaben von<br />

Steuern und Sozialleistungen mit dem Staat zu teilen.<br />

Die Entkriminalisierung des Drogenhandels ist bereits erheblich schwieriger<br />

anzugehen. Hier bestehen wesentlich größere ethische und moralische<br />

Schranken und der internationale Druck verhindert i.d.R. derartige Pläne.<br />

Gerade in Südamerika wird dadurch die weiterhin bestehende erhebliche<br />

ökonomische Abhängigkeit dieser Länder von den USA deutlich, während<br />

sich in Europa durchaus kleinere Versuche der Legalisierung von Drogen,<br />

allerdings beschränkt auf den Kleinkonsum, durchsetzen.<br />

Die Tatsache, dass dem Staat überhaupt Angebote zum Verhandeln über die<br />

Entkriminalisierung des Drogenhandels unterbreitet werden, stellt ein deutliches<br />

Indiz <strong>für</strong> deren gegenseitige Verquickung dar. So ging in Mexiko der<br />

berühmte Drogenhändler Amado Carillo Fuentes, der ‚Herr der Himmel‘, so<br />

weit, seine Aktivitäten als lukrativ und verhandelbar <strong>für</strong> den Drogenstaat zu<br />

präsentieren. So unterbreitete er dem Staat folgendes Angebot: Für die<br />

Sicherheit seiner Familie und da<strong>für</strong>, dass sie ihn gewähren lassen bot er die<br />

Hälfte seines Besitzes an.


215<br />

Das darüber hinausgehende Interesse bestand jedoch in den folgenden Punkten:<br />

1. Mithilfe, um dem nichtorganisierten Drogenhandel ein Ende zu setzen.<br />

2. Als Geschäftsmann zu handeln, nicht als Krimineller.<br />

3. In Mexiko keine Drogen zu verkaufen, sondern nur zu exportieren.<br />

4. Dollars einzuführen und sein Land wirtschaftlich zu unterstützen.<br />

5. Nicht gewalttätig oder aufrührerisch zu handeln.<br />

(vgl. Proceso, Héctor Aguilar Camín, vom 03.08.1997)<br />

Zu einem weiteren Verhandeln zwischen den beiden Gruppen kam es nicht,<br />

da der Drogenhändler ermordet wurde.<br />

Die Diskussion darum, den Drogenhandel durch Legalisierung zu entkriminalisieren,<br />

steht erst am Anfang, aber es gibt durchaus bereits Stimmen angesehener<br />

Personen, die in diese Richtung Argumente zulassen. So ist zum<br />

Beispiel der kolumbianische Botschafter in Mexiko Greiff der Meinung, dass<br />

die einzige Möglichkeit, diesen Krieg zu gewinnen, darin besteht, den Drogenhändlern<br />

das Geschäft zu ruinieren, und zwar, indem man die Produktion<br />

und den Handel legalisiert, den Konsum durch Aufklärungskampagnen<br />

bekämpft und den Abhängigen Behandlung zukommen lässt (vgl. Proceso,<br />

vom 03.08.1997).<br />

Dagegen wäre zu überlegen, ob man durch eine Liberalisierung und Entkriminalisierung<br />

des Drogenhandels letzten Endes nicht doch eher den Drogenkonsum<br />

steigert, dem zur Zeit durch die hohen Preise und den erschwerten<br />

illegalen Vertrieb noch Grenzen gesetzt sind.


6 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen<br />

Die Tätigkeiten des Informellen Sektors sind bereits seit langem bekannt,<br />

jedoch vor erst etwa 30 Jahren erfolgte die konkrete Auseinandersetzung<br />

damit. Zu diesem Zeitpunkt entstand der Begriff ‚Informeller Sektor‘ als<br />

Beschreibung <strong>für</strong> diesen Tätigkeitsbereich. Wurden bis dahin die Tätigkeiten<br />

dieses Sektors kaum erforscht, erhielt er plötzlich eine bedeutende Rolle in<br />

der Diskussion um die ökonomische Situation unterer Einkommensschichten.<br />

Durch die Identifizierung, Benennung und Auseinandersetzung mit dem<br />

Sektor wurde die Chance gesehen, Konzepte und Programme <strong>für</strong> die ökonomischen<br />

Randgruppen zu entwickeln, die Eingang in offizielle Programme<br />

von internationalen Organisationen und von Regierungen fanden.<br />

Der Informelle Sektor und hier insbesondere der Städtische Informelle Sektor<br />

sind kontinuierlich wachsende Bereiche in den Wirtschaftssystemen der<br />

Entwicklungsländer, in zunehmenden Maße aber auch der Industrieländer.<br />

Die vorliegende Arbeit zeigt die mit der Entwicklung verbundene Dynamik<br />

sowie die ständigen Veränderungen auf. Dabei wird auch auf die besondere<br />

Gefahr, die sich aus dem wachsenden Kriminellen Informellen Sektor ergibt,<br />

eingegangen.<br />

Gewöhnlich wird der Städtische Informelle Sektor als Aktivität der Armen<br />

und unqualifizierten Arbeitslosen betrachtet, die auf den Bürgersteigen und<br />

Plätzen der Städte geringwertige Güter verkaufen. Diese Einstellung teilen<br />

zahlreiche Autoren und Institutionen (ILO, brasilianisches Arbeitsministerium<br />

u.a.), wird jedoch im Rahmen dieser Arbeit widerlegt.<br />

Die vorliegende Arbeit hat die relevante Literatur zu diesem Thema mit<br />

Schwerpunktsetzung auf Lateinamerika ausgewertet und sich bei ihren Felduntersuchungen<br />

auf die Bereiche Hausangestellte, ambulante Verkäufer und<br />

den Kriminellen Informellen Sektor konzentriert. Räumlich erfolgte eine<br />

Eingrenzung auf den Großraum Rio de Janeiro in Brasilien.<br />

Die wesentlichen Gründe <strong>für</strong> die Existenz und das Wachstum des Informellen<br />

Sektors sind:<br />

• die Unfähigkeit der Wirtschaftssysteme, die Produktionsbedingungen <strong>für</strong><br />

eine Vollbeschäftigung zu schaffen, woraus sich die Notwendigkeit ent-


218<br />

wickelt, sich außerhalb des Formellen Sektors Einkommensmöglichkeiten<br />

zu suchen, und<br />

• das Bestreben nach Maximierung der Gewinne unter Nutzung von Wettbewerbsvorteilen<br />

durch Negierung von Steuerzahlung und anderer Gesetze,<br />

z.B. Verkauf von geschmuggelten Waren und gefälschten Markenartikeln.<br />

Auch wenn die vorliegende Arbeit es nicht zulässt, abschließend darzulegen,<br />

welche der beiden o.g. Gründe der bedeutendere ist, wird hier doch die Komplexität<br />

und die Bedeutung des Informellen Sektors deutlich. Einerseits entzieht<br />

sich der Sektor der staatlichen Kontrollmöglichkeiten was sein Wachstum<br />

und die Erfüllung von gesetzlichen Vorgaben anbelangt, andererseits<br />

stellt er jedoch auch eine Lösung zur Beschäftigung von Tausenden von Personen<br />

im städtischen Raum dar, so auch in Rio de Janeiro.<br />

Die vorliegende Arbeit geht davon aus, dass der Städtische Informelle Sektor<br />

wesentlich über die Schicht der Armen und Arbeitslosen hinausgeht. Dabei<br />

wird von folgender Hypothese ausgegangen:<br />

Die Unfähigkeit der vorherrschenden postindustriellen Gesellschaft, Arbeitsplätze<br />

zu schaffen, hat dazu geführt, dass sich das Phänomen des Städtischen<br />

Informellen Sektors auf alle Ebenen der Gesellschaft, von der unteren bis zur<br />

oberen, ausbreitet und darüber hinaus zunehmend vom Kriminellen Informellen<br />

Sektor bedroht wird.<br />

Zusammenfassend kann man die drei Sektoren – Formeller, Städtisch Informeller,<br />

Krimineller Informeller Sektor – folgendermaßen beschreiben:<br />

• Formeller Sektor: Die Tätigkeiten dieses Sektors respektieren vorhandene<br />

Gesetze, auch die des Steuer-, Arbeits- und Sozialrechts in jeder Hinsicht.<br />

Die in diesem Sektor hergestellten Produkte erfüllen ebenfalls alle rechtlichen<br />

Vorgaben.<br />

• Städtischer Informeller Sektor: Dieser Sektor respektiert nicht alle Gesetze,<br />

insbesondere nicht jene des Steuer-, Arbeits- und Sozialrechts. Die in<br />

diesem Sektor hergestellten Produkte sind jedoch semilegal. Der Begriff<br />

‚semilegal‚ wird gewählt, da die Produkte legal sind, deren Produktionsformen<br />

und ihr Vertrieb hingegen nicht.<br />

• Krimineller Informeller Sektor: Dieser Sektor verletzt nicht nur die Steuer-,<br />

Arbeits- und Sozialgesetze, sondern produziert darüber hinaus illegale<br />

Waren (z.B. Drogen, Raubkopien von Software) bzw. handelt damit.


219<br />

Die Arbeit kommt zu folgenden Schlussfolgerungen:<br />

1. Die Wirtschaftssysteme in den Entwicklungsländern lassen sich in die<br />

drei Segmente Formeller Sektor, Städtischer Informeller Sektor und<br />

Krimineller Informeller Sektor aufteilen. Während der Formelle Sektor<br />

durch Rationalisierungsmaßnahmen und Automatisierung kontinuierlich<br />

Arbeitnehmer freisetzt, versuchen diese im Städtischen Informellen<br />

Sektor unterzukommen. Dabei entsteht diesem Sektor jedoch in zunehmenden<br />

Maße Konkurrenz durch den Kriminellen Informellen Sektor,<br />

der trotz der sich daraus ergebenden Gefahren wesentlich bessere Verdienstmöglichkeiten<br />

bietet und somit seine Attraktivität gerade bei jüngeren<br />

Menschen steigert.<br />

2. Die Analyse der Veröffentlichungen zum Informellen Sektor zeigt eine<br />

Begrenzung auf die unteren Einkommensschichten, ohne hier<strong>für</strong> eine<br />

ausreichende theoretische Erklärung zu liefern. Auch wenn dies historisch<br />

gerechtfertigt sein kann, so ist doch heute die klassische Aufteilung<br />

in Ober-, Mittel- und Unterschicht in allen drei Sektoren feststellbar:<br />

dem Formellen, dem Städtischen Informellen und dem Kriminellen<br />

Informellen Sektor (s. Abbildung 2-1, Seite 21). Sowohl im Formellen<br />

als auch im Informellen Sektor ist eine pyramidenhafte Gliederung in<br />

eine kleine vorherrschende Klasse, eine breitere Mittelklasse und eine<br />

sehr breite Arbeiterklasse anzutreffen. Auch im Informellen Sektor<br />

stellt die Arbeiterklasse die Basis dar, setzt sich jedoch noch stärker als<br />

im Formellen Sektor aus überwiegend nicht bzw. wenig qualifizierten<br />

Arbeitern zusammen.<br />

3. Die Gründe <strong>für</strong> das Wirken im Städtischen Informellen Sektor variieren<br />

bei den drei Schichten. Während der einfache Angestellte oder Arbeiter<br />

in der Informalität um sein Überleben kämpft, da soziale Absicherungssysteme<br />

beim Verlust seiner Stelle nicht oder nur unzureichend zur<br />

Verfügung stehen, versuchen die der Mittelschicht ihre Einkommen aus<br />

dem Formellen Sektor zu ergänzen. Der Angehörige der Oberschicht<br />

hingegen versucht seine Gewinne mit unzulässigen Mitteln zu erhöhen.<br />

Dennoch beeinflusst auch heute noch die Einstellung, dass die informellen<br />

Aktivitäten nur eine Überlebensstrategie der unteren Einkommensschichten<br />

darstellen, die Diskussion zu diesem Thema.<br />

4. Die explosionsartige Ausdehnung des Städtischen Informellen Sektors<br />

ist nicht nur ein typisches Phänomen instabiler und armer Wirtschaftssysteme,<br />

sondern in steigendem Maße auch eines, das in den Industrie-


220<br />

ländern anzutreffen ist. Ebensowenig sind der Verlust der Arbeit, niedriges<br />

Konsumverhalten, fehlende Qualifikationen, geringe Schulbildung,<br />

geringe Löhne sowie die Zugehörigkeit zu Immigrantengruppen<br />

etc. notwendigerweise Kriterien zur Charakterisierung dieses Sektors.<br />

5. Ein eigenes Einkommen zu haben ist wesentliches Kriterium zur Anerkennung<br />

durch die Gesellschaft, zweitrangig dabei ist jedoch, ob dies<br />

im Formellen oder im Städtischen Informellen Sektor erlangt wird.<br />

6. Es ist zutreffend, dass die geringe Produktivität eine Restriktion des<br />

Städtischen Informellen Sektors darstellt. Dies gilt jedoch nur teilweise<br />

in den Tätigkeitsbereichen der unteren Einkommensschichten, hingegen<br />

wird auf den anderen Ebenen durchaus eine hohe Produktivität erreicht.<br />

7. Ein gegenseitiger Austausch zwischen dem Formellen und Städtischen<br />

Informellen Sektor findet teilweise statt. Jedoch nicht jeder im Städtischen<br />

Informellen Sektor strebt eine Rückkehr in den Formellen an.<br />

Hingegen ist der Wechsel in den Kriminellen Informellen Sektor weitestgehend<br />

einseitig. Sowohl der Informelle als auch der Kriminelle<br />

Informelle Sektor sind inzwischen zu bedeutenden Wirtschaftsfaktoren<br />

geworden, die <strong>einen</strong> großen Anteil der ökonomisch aktiven Bevölkerung<br />

beschäftigt.<br />

8. Der Staat trägt durch seine administrativen Anforderungen (zahlreiche<br />

Regelungen, die selten eindeutig und nachvollziehbar sind; hohe finanzielle<br />

Abschöpfung in Form von Gebühren und Steuern; etc.) erheblich<br />

zum Wachstum des Städtischen Informellen Sektors bei. Auch die in<br />

den letzten Jahren von den Stadtverwaltungen erstellten Kataster oder<br />

ausgegeben Berechtigungsscheine zum Verkauf von Gütern auf bestimmten<br />

Plätzen ändern nichts am Status des Informellen.<br />

9. Im Städtischen Informellen Sektor arbeitet nur ein Teil unabhängig.<br />

Gerade die ambulanten Verkäufer sind häufig Mitglieder von Netzwerken.<br />

So konnte durch Beobachtung dieser Verkäufer in Rio de Janeiro<br />

festgestellt werden, dass sie sehr schnell auf Veränderungen der Nachfrage<br />

reagieren können. Die Netzwerke werden über zentrumsnahe<br />

Lager versorgt, deren Besitzer ebenfalls Teil des Informellen Sektors<br />

sind.<br />

10. Auch Firmen des Kriminellen Informellen Sektors verfügen über Strukturen<br />

wie Netzwerke und sind vergleichbar dem des Städtischen Informellen<br />

Sektors mit den drei Schichten vertreten. Besitzer dieser Firmen


221<br />

und Gruppen gehören der vorherrschenden Klasse an, und es ist von<br />

ihnen selten bekannt, dass sie in diesem Bereich tätig sind. Ebenso gibt<br />

es hier Mitglieder, die der Mittelschicht zugeordnet werden können und<br />

eine große Anzahl an einfachen Mitarbeitern, wie beispielsweise die<br />

Drogenhändler auf der Straße.<br />

11. Die bei den ambulanten Verkäufern und im Kriminellen Informellen<br />

Sektor anzutreffende Hierarchisierung konnte bei den Hausangestellten<br />

nicht festgestellt werden. Sie sind jedoch eindeutig dem Städtischen<br />

Informellen Sektor zuzuordnen, da ein Großteil nicht im Rahmen der<br />

gültigen Sozialgesetzgebung tätig ist. Die Gruppe ist dem unteren Segment,<br />

d.h. der Unterschicht, zuzuordnen.<br />

12. Wichtig ist festzuhalten, dass die Trennung zwischen den drei Sektoren<br />

selten eindeutig zu ziehen ist, und es auf allen Ebenen ständig Verquikkungen<br />

zwischen den Schichten gibt.<br />

13. Der Produktionsbereich des Informellen Sektors ist derzeit vor jeglicher<br />

Ausbeutung – sei es durch den Formellen Sektor, sei es durch die Kapitalisten<br />

des Informellen Sektors – vollkommen ungeschützt. Durch die<br />

offizielle Anerkennung und Entdiskriminierung des Informellen Sektors,<br />

also einer schrittweisen Formalisierung, kann auch ein Schutz<br />

gegen diese Ausbeutung erreicht werden. Dies könnte auch der Gefahr<br />

entgegenwirken, dass die Arbeiter sich auf einem immer niedrigeren<br />

Niveau reproduzieren müssen, eine Tendenz, die durch die Informalisierung<br />

und Ausnutzung des Informellen Sektors auch durch Firmen<br />

des Formellen Sektors feststellbar ist.<br />

Die oben aufgeführten Schlussfolgerungen verifizieren die anfangs aufgestellte<br />

Hypothese, dass das Phänomen des Städtischen Informellen Sektors<br />

auf alle Ebenen der Gesellschaft, von der unteren bis zur oberen, überall zu<br />

finden ist und darüber hinaus zunehmend vom Kriminellen Informellen<br />

Sektor bedroht wird.


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CEDEPLAR (unveröffentlicht)


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IBGE 1995: Indicadores IBGE, Pesquisa Industrial Mensal Emprego, Salário<br />

e Valor da Produção; Rio de Janeiro<br />

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KONTOS, Silvia und WALSER, Karin 1979: Weil nur zählt, was Geld einbringt.<br />

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Editora Vozes, Petrópolis<br />

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231<br />

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Janeiro<br />

PIRES, Cecília 1989: A Violência no Brasil; Editora Moderna, São Paulo<br />

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PORTES, Alejandro 1995: En torno a la informalidad: Ensayos sobre teoria y<br />

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PRATES, Suzana (o.J.): „Cuando el Sector Formal Organizua el Trabajo<br />

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PREALC 1980: La Evolución del Empleo Formal e Informal en el Sector de<br />

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PREALC 1981: El Sector Informal Urbano y la Formación Profesional,<br />

Trabajo ocasional/36


232<br />

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ROTT, Renate 1992: Entwicklungsprozesse u. Geschlechterverhältnisse;<br />

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SANTOS, Carlos Nelson F. <strong>dos</strong> 1982: Processo de Crescimento e Ocupação<br />

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SANTOS, Milton 1979: O Espaço Dividido; Editora Francisco Alves, Rio de<br />

Janeiro<br />

SANTOS, Milton 1981: Manual de Geografia Urbana; HUCITEC; São Paulo<br />

SANTOS, Milton 1994: O Mundo não Existe – Entrevista de Dorrit Harazim,<br />

Veja<br />

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SANTOS-STUBBE, Chirly <strong>dos</strong> 1995: Arbeit, Gesundheit und Lebenssituation<br />

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Lang Verlag, Frankfurt / M<br />

SEIBEL, Hans Dieter (o.J.): Der Informelle Sektor In Afrikanischen Städten –<br />

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SINGER, Paul 1973: Economia Política da Urbanização; Editora Brasiliense,<br />

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SINGER, Paul 1977: Economia Política do Trabalho: Elementos para uma<br />

Análise Histórico-estrutural do Emprego e da forção de Trabalho no<br />

Desenvolvimento Capitalista; Hucitec, São Paulo<br />

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SOTO, Hernando de 1992: Marktwirtschaft von unten – Die unsichtbare<br />

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234<br />

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TANZI, Vito 1983: A Economia Oculta, Causas e consequências desse<br />

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TELLES, Edward E. 1990: Características Sociais <strong>dos</strong> Trabalhadores Informais:<br />

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n° 19<br />

TOKMAN, Victor 1978: Las relaciones entre los sectores formal e informal –<br />

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Chile<br />

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Press<br />

VALLADARES, Lícia do Prado 1978: Passa-se uma Casa, Análise do Programa<br />

de Remoção de Favelas do Rio de Janeiro; Zahar, Rio de Janeiro<br />

VIEIRA, Celma Rosa 1987: Negra: Mulher e Doméstica – Considerações sobre<br />

as Relações Socais no Emprego Doméstico, Estu<strong>dos</strong> Afro-Asiáticos,<br />

Nr. 14<br />

WALSER, Karin 1985: Dienstmädchen. Frauenarbeit und Weiblichkeitsbilder<br />

um 1900; Extrabuch Verlag, Frankfurt / M.<br />

WEHENPOHL, Günther 1987: Selbsthilfe und Partizipation bei siedlungswasserwirtschaftlichen<br />

Maßnahmen in Entwicklungsländern; WAR 30;<br />

Dissertation, FB 13; TH Darmstadt


235<br />

WEHENPOHL, Günther und FLORISBELA DOS SANTOS, <strong>Anna</strong> <strong>Lúcia</strong> 1987:<br />

Gemeinschaftspartizipation in brasilianischen Favelas – Die Rolle der<br />

Bewohnervereine; in: TRIALOG, Nr. 15, S. 28-32<br />

ZAPO DE AZEVEDO, Beatriz Regina 1985: A Produção Não Capitalista – uma<br />

discussão teórica; Secretaria de Coordenação e Planejamento, Fundação<br />

de Economia e Estatística; Porto Alegre<br />

ZDUNNEK, Gabriele 1988: Frauenarbeit im Informellen Sektor von Ibadan,<br />

(Nigeria), Afrika Hefte des Informationszentrums Afrika Bremen (IZA)<br />

ZETTEL, Claudio 1990: Der ambulante Handel in Lima, Diplomarbeit an der<br />

Rheinischen-Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn<br />

Zeitungen<br />

DARMSTÄDTER ECHO: Wirtschaftsfaktor Drogenhandel (27.06.1997)<br />

DIÁRIO COMERCIO & INDUSTRIA (brasilianische Tageszeitung):<br />

• Projeto de Lei Mantém Polemica, São Paulo/SP (25.08.1996 und<br />

29.08.1996)<br />

• Operária do Lar Uni-vos! DCI São Paulo-SP; (27.08.1996)<br />

EL ECONOMISTA; (09.05.1997 und 12.08.1997)<br />

EL UNIVERSAL (mexikanische Tageszeizung):<br />

• ¿Quién va a ganar? (von Ruben Aguilar Valenzuela); S. 7 (08.03.1997)<br />

• Identificarán operaciones bancarias sospechosas (von Ignacio Catalan et.<br />

al.); S. 11 (08.03.1997)<br />

• Llegan cárteles mexicanos a Nueva York por primera vez, revela la DEA<br />

(von José Carreño Fiigueras); S. 10 (12.08.1997)<br />

• „Lavado“ de dinero (von Demetrio Sodi de la Tijera); S. 7 (22.05.1998)<br />

FOLHA DE SÃO DE PAULO (brasilianische Tageszeitung):<br />

• Probreza made in globalização (von Maria Angélica Borges e João Ildebrando<br />

Bocchi); S. 2 (23.10.1996)<br />

• Weiter Ausgaben vom 26.01.1992; 26.02.1992; 17.07.1992;<br />

FRANKFURTER RUNDSCHAU (von Goerdeler); 09.07.1994<br />

FRANKFURTER RUNDSCHAU AM ABEND: Drogen weltweiter Exportschlager<br />

(26.06.1997)


236<br />

JORNAL DO BRASIL (brasilianische Tageszeitzung)<br />

• Carnaval dá trabalho a diversas profissões (von Nilson Brandão); S. 5<br />

(16.01.1994)<br />

• Seguranças clandestinos são 150 mil (von Fabio Lau); S. 40 (29.10.1995)<br />

• Empregada doméstica terá FGTS (von Eugênia Lopes); S. 8 (07.08.1996)<br />

O DIA; vom 21.8.1996.<br />

O FLUMINENSE (brasilianische Tageszeitung)<br />

• Guerra de traficantes fecha escolas públicas (06.09.1995)<br />

• Operação contra camelôs ilegais; S. 5 (06.09.1995)<br />

O GLOBO (brasilianische Tagesszeitung): vom 09.06.1999 und 28.6.1999<br />

O LIBERAL (brasilianische Tageszeitung)<br />

• Novos direitos trazem risco de demissão ao doméstico (Simone Romero)<br />

(25.08.1996)<br />

• Weiter Ausgabe vom 07.08.1996<br />

REFORMA (mexikanische Tageszeitung)<br />

• Confiscan agentes mercancía robada (von Javier Garduño); S. 2B<br />

(06.02.1998)<br />

• Plantearán elevar a crimen organizado el delito de piratería (von Gabriela<br />

A. Frías); S. 2 (03.03.1998)<br />

• Capital del mercado negro (von Jorge Carrasco); S. 4B (03.03.1998)<br />

• Piratería – México en la cuerda floja (von Gabriela A. Frías); S. 8<br />

(25.03.1998)<br />

• Prometen combatir a piratas (von Felipe Gazcón); S. 1 (12.05.1998)<br />

• Afirma PGR atacar piratería (von Luis Guillermo Hernández); S. 14 A<br />

(12.05.1998)<br />

• Weitere Ausgaben vom 08.06.1998; 10.06.1998; 08.02.1999; 11.02.1999;<br />

18.02.1999; 27.02.1999; 21.03.1999; 23.03.1999; 28.06.1999<br />

Zeitschriften<br />

DER SPIEGEL Nr.46 vom 20.10.1992<br />

DER SPIEGEL: Tropenschnee via Afrika; Nr. 48 vom 24.11.1997, S. 138-167<br />

DEUTSCHER ENTWICKLUNGSDIENST – ded Brief Nr. 1, 1991: Kleingewerbeförderung<br />

DEUTSCHER ENTWICKLUNGSDIENST – ded Brief Nr. 3, 1997: Informeller<br />

Sektor


237<br />

DIVERSION (mexikanische Monatszeitschrift)<br />

• Liempeza Ilicita (von Blanca Ramírez Lugo); S. 30-34; (Januar 1998)<br />

FINANZIERUNG & ENTWICKLUNG 1986: Städtische Armut und Beschäftigung<br />

– Neuere Ergebnisse von Friedrich Kahnert<br />

FOCUS (deutsche Wochenzeitschrift)<br />

• Arbeitsmarkt schwarz und billig; S. 246-256; Nr. 15 (06.04.1998)<br />

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG – FAZ (Beilage) 1999: Warum ist<br />

Schwarzarbeit notwendig, Herr Berger?<br />

ISTO É SENHOR (brasilianische Wochenzeitschrift)<br />

• Miami do cerrado (von Eduardo Hollanda); S. 49 (02.08.1995)<br />

• Weitere Ausgaben Nr. 1099/1990; Nr. 1164/1992; Nr. 1171/1992;<br />

Nr. 1175/1992; vom 23.10.1996)<br />

JORNAL DE BRASIL (Suplemento) 1994: A ‚neura‘ do Tetris; S. 30-32<br />

PROCESO (mexikanische Wochenzeitschrift)<br />

• Artikel von Héctor Aguilar Camin; S. 7 (03.08.1997)<br />

VEJA (brasilianische Wochenzeitung)<br />

• Brasil subterrâneo; S. 98-105 (12.07.1989)<br />

• Enfim na cadeia; S. 34-36 (19.05.1993)<br />

• Camelódromo chique (von Eliane Azevedo), S. 78-80 (20.04.1994)<br />

• A estratégia número 2 contra a droga; S. 80-88 (01.02.1995)<br />

• Por dentro da mala preta (von Joaquim de Carvalho e William Waack);<br />

S. 20-27 (08.02.1995)<br />

• Invasão em Nova York; S. 130-132 (07.06.1995)<br />

• A fronteira da muamba (von Ricardo Grinbaum); S. 74-77 (26.07.1995)<br />

• A rebilião da muamba (von João Sorima Neto); S. 84-85 (06.12.1995)<br />

• Sacoleiros na mira (von João Sorima Neto); S. 164-165 (09.12.1998)<br />

• Weitere Ausgaben Nr. 31/1991; 04.03.1992; 31.03.1993; 04.08.1993;<br />

16.11.1994; 06.09.1995; 26.06.1996<br />

Internet<br />

ENCARTA 1998<br />

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IBGE; Primeiro Retrato Completo do Setor Informal No Brasil, 08.06.1999<br />

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à cidade (Internet)<br />

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CUIABÁ, PREFEITURA 1993: Plano Setorial do Comércio Alternativo – versão<br />

preliminar, Instituto de Pesquisas e Desenvolvimento Urbano<br />

LOHN- UND GEHALTSTARIFVERTRAG 1991: Private Hauswirtschaft Hessen,<br />

Rheinland-Pfalz und Saarland – Deutscher Hausfrauen-Bund; Berufsverband<br />

der Hausfrau.<br />

MANTELTARIFVERTRAG 1990: (<strong>für</strong> Hausangestellte), Tarifvertrag <strong>für</strong> vermögenswirksame<br />

Leistungen Bestimmungen aus dem Jugendarbeitsschutzgesetz,<br />

Arbeitsvertragsmuster – Deutscher Hausfrauen-Bund;<br />

Berufsverband der Hausfrau.<br />

NAYLOR, Cleber Mauricio 1993: Advogado OAB 68 283/RJ; Processo<br />

Trabalhista encaminhado à Junta de Conciliação e Julgamento Niterói<br />

OLIVEIRA, Waltair C. – Advogado OAB 59 557/RJ 1994: Processo Trabalhista<br />

encaminhado à Junta de Conciliação e Julgamento Niterói<br />

PREFEITURA DO RIO DE JANEIRO – ASSESPRO (1995)<br />

SENADO FEDERAL – Projeto de Lei do Senado Nr. 180 de 1996<br />

VERORDNUNG BERUFSAUSBILDUNG HAUSWIRTSCHAFTER/in 1979: Bundesministerium<br />

<strong>für</strong> Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und Bundesministerium<br />

<strong>für</strong> Arbeit und Sozialordung

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