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Varenka - Hsghrm.musin.de

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<strong>Varenka</strong>Vor langer Zeit lebte in <strong>de</strong>n weiten Wäl<strong>de</strong>rn Russlands eine Witwe. Sie hieß <strong>Varenka</strong>. Ihrkleines Haus stand tief in <strong>de</strong>n Bäumen, wo selten jemand hinkam. Es war ganz aus Holz gebaut.<strong>Varenka</strong> hatte alles, was sie brauchte: einen Tisch, Stühle, Kästen für Brot und Käse undGeschirr. In <strong>de</strong>r Ecke hing eine Ikone und <strong>Varenka</strong> sorgte immer für frische Waldblumen.Nachts schlief sie, wie alle einfachen Leute in Russland, auf <strong>de</strong>m warmen Ofen.<strong>Varenka</strong> lebte zufrie<strong>de</strong>n in ihrem kleinen Haus. Doch eines Tages kam eine Gruppe Leute zuihr. In großer Aufregung riefen sie: »<strong>Varenka</strong>, wir sind in Eile! Im Westen wütet einschrecklicher Krieg. Die Soldaten kommen je<strong>de</strong>n Tag näher. Pack <strong>de</strong>ine Sachen zusammen undfliehe mit uns, bevor dir etwas zustößt!«<strong>Varenka</strong> erschrak. Krieg! Soldaten! Angst ergriff sie.Dennoch sagte sie zu <strong>de</strong>n Leuten: »Wer wird die mü<strong>de</strong>n Wan<strong>de</strong>rer stärken, wenn ich mit euchkomme? Wer nimmt sich <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r an, die sich im Wald verirren? Und wer wird sich um dieTiere und Vögel kümmern, wenn <strong>de</strong>r Winter kommt mit Schnee und Eis? Nein, ich mussbleiben. Doch ihr, meine Freun<strong>de</strong>, beeilt euch und zieht weiter. Gott möge euch beschützen!«Da eilten die Leute weiter und <strong>Varenka</strong> blieb allein zurück. Sie stand ganz still und lauschte.»Ja, jetzt höre ich das Donnern <strong>de</strong>r Kanonen«, flüsterte sie, »heute sind sie noch fern, aberschon morgen können sie da sein. Ach, was wird dann aus mir?«<strong>Varenka</strong> verriegelte die Tür. Dann kniete sie vor <strong>de</strong>r Ikone und betete zu Gott: »Bitte, baueeine Mauer um mein Haus, damit die Soldaten mich nicht sehen können!«Es wur<strong>de</strong> Abend. Die Kanonen verstummten und Frie<strong>de</strong> lag über <strong>de</strong>m Wald. Die Vögel sangennoch eine Weile, dann steckten sie ihre Köpfe unter die Flügel. Tauben gurrten undNachtigallen sangen.Aber Gott kam nicht und niemand baute eine Mauer um <strong>Varenka</strong>s Haus.


Am nächsten Tag ging <strong>Varenka</strong> in <strong>de</strong>n Wald, um Reisig zu sammeln. Und wie<strong>de</strong>r höre sie dasDonnern <strong>de</strong>r Kanonen in <strong>de</strong>r Ferne.»Ach«, seufzte sie, »heute sind sie schon viel näher. Was wird aus mir und meinem Haus?«Gegen Abend kehrte sie mit viel Reisig zurück. Bald darauf klopfte es an ihre Tür. Ein alterMann stand draußen mit einer Ziege. <strong>Varenka</strong> erkannte ihn, es war Pjotr, <strong>de</strong>r Ziegenhirt.»Warum bist du nicht zu Hause mit <strong>de</strong>inen Ziegen und Hühnern, <strong>de</strong>inen Gänsen und Schafen?«Pjotr antwortete: »Meine Hütte ist nie<strong>de</strong>rgebrannt, <strong>Varenka</strong>, und die Soldaten haben mir allesgenommen außer dieser kleinen Ziege, die mit mir entfliehen konnte. Bitte nimm uns in <strong>de</strong>inHaus. Wir wissen nicht mehr wohin, und bald kommt die Nacht und die Wölfe wer<strong>de</strong>n unsbei<strong>de</strong> fressen.«<strong>Varenka</strong> nahm Pjotr und die Ziege ins Haus. Sie machte es ihm beim Herd gemütlich und gabihm heiße Suppe. Dann betete sie wie<strong>de</strong>r zu Gott: »Bitte, komm schnell und baue eine Mauerum mein kleines Haus, damit die Soldaten vorbeigehen und Pjotr und mich und die Ziege nichtsehen wer<strong>de</strong>n!«Die Nacht kam. Wie<strong>de</strong>r verstummten die Kanonen und alles war still. Die Blumen falteten ihreBlütenblätter. Die kleinen Tiere in <strong>de</strong>n Bäumen und Höhlen kuschelten sich zusammen undschliefen ein.Aber Gott kam nicht, um eine Mauer um <strong>Varenka</strong>s Haus zu bauen.Früh am Morgen ging <strong>Varenka</strong> wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Wald. Sie sammelte <strong>de</strong>n ganzen Tag lang Pilzeund Kräuter. Am Nachmittag erblickte sie einen jungen Mann, <strong>de</strong>r in einem hohlen Baumschlief.»Wach auf!«, rief <strong>Varenka</strong>. »Wach auf! Hier kannst du nicht schlafen! Die Soldaten wer<strong>de</strong>ndich fin<strong>de</strong>n und fortschleppen. Hörst du nicht die Kanonen donnern? Sie sind schon sehr nah!«Der junge Mann antwortete: »Von dort komme ich, wo die Kanonen donnern. Alles ist zerstört.Dörfer und Fel<strong>de</strong>r sind verbrannt. Ich floh in <strong>de</strong>n tiefen Wald und fand schließlich Schutz indiesem hohlen Baum.«»Mein armer Junge«, seufzte <strong>Varenka</strong>, »komm mit mir, ich wer<strong>de</strong> dir Essen und Obdachgeben.«So ging Stjepan mit <strong>Varenka</strong> nach Hause. Er war ein Maler. In einer Hand trug er ein Bild und in<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren einen Topf mit einer weißen Blume. Und dies war alles, was ihm auf <strong>de</strong>r Weltgeblieben war.Nach<strong>de</strong>m Stjepan, Pjotr und <strong>Varenka</strong> zu Abend gegessen hatten, beteten sie zusammen und<strong>Varenka</strong> sagte in ihrem Herzen: »Bitte, lieber Gott, komm schnell und baue eine Mauer ummein Haus. Dann wer<strong>de</strong>n uns die Soldaten nicht fin<strong>de</strong>n, we<strong>de</strong>r Stjepan noch Pjotr noch mich.«


Die ganze Nacht hindurch lag Frie<strong>de</strong> über <strong>de</strong>m Wald. Die einzigen Laute waren <strong>de</strong>r Ruf einerEule und das Heulen <strong>de</strong>r Wölfe.Gegen Morgen schaute <strong>Varenka</strong> aus <strong>de</strong>m Fenster, aber keine Mauer stand um ihr Haus. Daergriff <strong>Varenka</strong> große Angst.An diesem Tag schob <strong>Varenka</strong> viel Holz in <strong>de</strong>n Ofen, um Brot und Kuchen zu backen. Währendsie <strong>de</strong>n Teig zubereitete, hörte sie jeman<strong>de</strong>n leise weinen. Sie schaute aus <strong>de</strong>m Fenster undsah ein kleines Mädchen, das bitterlich weinte. In <strong>de</strong>n Armen hielt es eine Taube.»Mein liebes Kind«, sagte <strong>Varenka</strong>, »woher kommst du und was machst du hier im Wald?Hörst du nicht <strong>de</strong>n schrecklichen Lärm <strong>de</strong>r Kanonen? Du solltest zu Hause sein bei <strong>de</strong>inenEltern.«»Ach, liebe Großmutter«, schluchzte das Mädchen, »ich bin ganz allein, nur mit meiner Taube.Ich habe Vater und Mutter auf <strong>de</strong>r Flucht verloren. Da bin ich in <strong>de</strong>n Wald gerannt. Und bei dirroch es so fein nach frischem Brot; das machte mich hungrig!«»Komm herein, Kind. Wir sind hier eine kleine Familie und du bist nun die Jüngste. Du bleibstjetzt bei uns, bis wir <strong>de</strong>ine Eltern wie<strong>de</strong>r fin<strong>de</strong>n.« So kam Bodula in <strong>Varenka</strong>s kleines Haus.<strong>Varenka</strong> gab ihr Brot, Kuchen und Tee und die Taube pickte zufrie<strong>de</strong>n die Brotkrumen, die ihrBodula streute.Den ganzen Tag lang hörten die Freun<strong>de</strong> das Donnern <strong>de</strong>r Kanonen. Den ganzen Tag langhatten sie Angst. Schließlich nahm Pjotr seine Balalaika und begann zu spielen. Stjepan, Pjotr,Bodula und <strong>Varenka</strong> sangen dazu ihre russischen Weisen.Als sich <strong>de</strong>r Tag neigte und <strong>de</strong>r Mond aufging, brachte die Musik Frie<strong>de</strong>n in ihre Herzen.In dieser Nacht beteten sie wie<strong>de</strong>r alle und <strong>Varenka</strong> sagte: »Bitte, lieber Gott, heute Nachtmusst du kommen und eine Mauer bauen, die so hoch ist, dass kein Soldat mein Haus sieht;dann sind wir gerettet, das Kind mit <strong>de</strong>r Taube, <strong>de</strong>r Maler und seine Blume, <strong>de</strong>r alte Mann mit<strong>de</strong>r Ziege und ich. — Aber ich fürchte, es ist nun sehr spät gewor<strong>de</strong>n: morgen wer<strong>de</strong>n dieSoldaten hier sein und wir alle sind verloren.«Auch in dieser Nacht war es sehr still. Doch in <strong>de</strong>r stillsten Stun<strong>de</strong> war ein leiser Ton um<strong>Varenka</strong>s Haus. <strong>Varenka</strong> öffnete vorsichtig die Lä<strong>de</strong>n und sah, dass Schnee fiel. So dicht war<strong>de</strong>r Schnee schon gefallen, dass er bis zum Fenstersims reichte. <strong>Varenka</strong> schloss leise <strong>de</strong>nLa<strong>de</strong>n, fiel auf die Knie und dankte Gott.Und noch immer schneite es. Es schneite die ganze lange Nacht, dichter und dichter und imMorgengrauen war <strong>Varenka</strong>s kleines Haus vom Schnee ver<strong>de</strong>ckt.Am Mittag kamen die Soldalen. Sie zogen mit viel Lärm durch <strong>de</strong>n Wald und suchten nachFein<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>m kleinen Haus saßen alle angstvoll und still beisammen.


Jetzt waren die Soldaten ganz nah beim Haus und — sie gingen vorüber! Sie hatten <strong>Varenka</strong>skleines Haus nicht gesehen, weil es tief im Schnee versteckt lag.Stjepan, Pjotr, Bodula und <strong>Varenka</strong> dankten Gott, dass er sie gerettet hatte.Die Soldaten zogen weiter und es gab keinen Krieg mehr in diesem Teil Russlands.Als <strong>de</strong>r Schnee schmolz, traten die Freun<strong>de</strong> vor das kleine Haus. Die Taube flatterte froh vonBaum zu Baum. Die Ziege machte übermütig Sprünge und Stjepan pflanzte seine Blume vor<strong>Varenka</strong>s Haustür.Der Frühling kam. Bodula fand ihre Eltern wie<strong>de</strong>r und ging mit ihnen zurück ins Dorf. Die Ziegehatte ein Zicklein. Aus <strong>de</strong>n Samen <strong>de</strong>r weißen Blume wuchsen neue Blumen. Die Taube flogweit fort, um <strong>de</strong>r Welt zu verkün<strong>de</strong>n, dass <strong>de</strong>r Frie<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>r eingezogen war.Und Stjepan, weil er ein Künstler war, malte einige Bil<strong>de</strong>r, um die Geschichte <strong>de</strong>r Mauer zuerzählen, die Gott um <strong>Varenka</strong>s kleines Haus gebaut hatte.Berna<strong>de</strong>tte: <strong>Varenka</strong>.Hamburg: Nord-Süd-Verlag, 2001

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