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Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...

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<strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong><br />

<strong>Briefe</strong> <strong>aus</strong> <strong>Waldheim</strong> <strong>1960–1976</strong><br />

1


<strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong><br />

<strong>Briefe</strong> <strong>aus</strong> <strong>Waldheim</strong> <strong>1960–1976</strong><br />

Her<strong>aus</strong>gegeben von Sieglinde und Fritz Mierau<br />

[edition KONTEXT]<br />

2 3


Die Vorbereitung dieser Edition erfolgte mit einer Förderung des Regierungspräsi-<br />

diums Leipzig <strong>aus</strong> Mitteln des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus, Dresden,<br />

und die Herstellung dieser Edition mit Unterstützung der Sächsischen Landesstelle<br />

für Museumswesen, Chemnitz.<br />

ISBN 3-931337-41-3. Erste Auflage. © KONTEXTverlag, Berlin 2004. Alle Rechte<br />

vorbehalten. Umschlaggestaltung Torsten Metelka, unter Verwendung von Mate-<br />

rialien <strong>aus</strong> dem Nachlaß <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s. Satzgestaltung Torsten Metelka. Herstel-<br />

lung Drukarnia Art-Druk Rafał Bartnicki, Szczecin.<br />

4 5<br />

Inhalt<br />

„... seelische Glanzlichter in die Gemüter zu setzen.“<br />

Das Vermächtnis eines Lehrers 7<br />

<strong>Briefe</strong> 1960 17<br />

1961 49<br />

1962 73<br />

1963 97<br />

1964 123<br />

1965 151<br />

1966 173<br />

1967 199<br />

1968 213<br />

1969 239<br />

1970 273<br />

1971 295<br />

1972 317<br />

1973 339<br />

1974 351<br />

1975 361<br />

1976 375<br />

Chronik 383<br />

Register 397<br />

Danksagung 415<br />

Abbildungsnachweis 416


„... seelische Glanzlichter in die Gemüter zu setzen.“<br />

Das Vermächtnis eines Lehrers<br />

6 7<br />

1<br />

Vor wenigen Jahren entdeckt, erwiesen sich die nahezu<br />

3ooo <strong>Briefe</strong> meines sächsischen Kunsterziehers <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>,<br />

die er <strong>aus</strong> <strong>Waldheim</strong> an seine Leipziger Freundin, die Lehrerin<br />

Gertrud Schade, schrieb, sofort als ein menschliches Zeugnis<br />

von einzigartigem Rang. Wie hier ein Siebzig-, Achtzig-, endlich<br />

Neunzigjähriger in der liebenden Sorge um die geistige Erwe-<br />

ckung und Entfaltung seiner Freundin und ihrer jungen Töchter<br />

alle seine Kräfte einsetzte, um die Familie vor der verödenden<br />

Bildungspraxis der DDR zu schützen, das blieb über den un-<br />

mittelbaren Anlaß, über Zeit und Region hin<strong>aus</strong> bewegend und<br />

beherzigenswert.<br />

Mit Humor, Selbstironie und sächsischer Gemütsstärke se-<br />

hen wir den <strong>Waldheim</strong>er Briefschreiber gegen Dummheit, Bor-<br />

niertheit und Ban<strong>aus</strong>entum zu Felde ziehen. Und so erhebt sich<br />

<strong>aus</strong> den Berichten vom <strong>Waldheim</strong>er Alltag und den Glossen zur<br />

deutschen und internationalen Lage, <strong>aus</strong> Gedanken zur Lek-<br />

türe und Ratschlägen für die Erziehung, <strong>aus</strong> Selbstbesinnung<br />

und Rückblick auf ein lebenslanges Lehrerdasein das Bild eines<br />

Weisheitsfreundes und Lebenslehrers, den ich als den heimli-<br />

chen Philosophen von <strong>Waldheim</strong> zu den großen Sachsen des<br />

2o. Jahrhunderts zähle.<br />

Die Zeit der <strong>Briefe</strong> sind die dramatischen Jahre der gewalt-<br />

samen Stabilisierung der DDR: vom Mauerbau 1961 über die<br />

militärische Unterdrückung der Prager Reformversuche 1968,<br />

die zeigte, was auf politischen Ungehorsam stand, bis zur of-


fenen Spaltung der Gesellschaft durch die Ausbürgerung Wolf<br />

Biermanns 1976.<br />

Wie verhielt man sich in einem Staat, der dem Einzelnen<br />

den Zugang zur Welt, zur Welt der Gedanken, zur Welt der Bü-<br />

cher beschränkte, wenn nicht verwehrte? Wohl sehen wir den<br />

Schreiber der <strong>Briefe</strong> darauf bedacht, den Mängeln und Zwän-<br />

gen eines zunehmend reglementierten Alltags wirksam zu be-<br />

gegnen. Worauf es ihm jedoch vor allem ankam, war, sich nicht<br />

mit dem Überleben zu begnügen, gar in innerem Aufruhr sich<br />

zu verzehren, sondern angesichts aller Nötigung entschlossen<br />

und kräftig für die Stärkung der Person zu sorgen. Unter dem<br />

26. August 196o findet sich seine oberste Maxime: „Wenn die<br />

Gemeinschaft gedeihen soll, muß erst der Einzelne für sich al-<br />

lein sich zu einem Wertfaktor entwickeln.“<br />

2<br />

Schwer zu sagen, ob der Umstand, dem wir die Fülle und<br />

Lebendigkeit der <strong>Briefe</strong> verdanken, ein glücklicher Zufall ge-<br />

nannt werden darf.<br />

Der Sechsundsiebzigjährige sieht sich in einem Moment<br />

von der ihm am nächsten stehenden geistigen Partnerin ge-<br />

trennt, als er das Schwinden seiner Kräfte erleben muß. Die Fa-<br />

milie Schade zieht 196o von <strong>Waldheim</strong> nach Leipzig. Was seit<br />

über zehn Jahren im vertrauten Gespräch mit der 33 Jahre Jün-<br />

geren bewegt worden war, geriet nun in die <strong>Briefe</strong>, die in den<br />

ersten Jahren täglich, vielfach zweimal am Tage zwischen Wald-<br />

heim und Leipzig gewechselt wurden. Ohne die Trennung hätte<br />

es die <strong>Briefe</strong> nicht gegeben, die wir nun als <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s Be-<br />

kenntnisse und Vermächtnis lesen.<br />

Die Sorge um die junge Lehrerin und ihre beiden Töchter<br />

hatte <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s Leben seit 1947, da er ihr in einem kri-<br />

tischen Augenblick als Leiter der <strong>Waldheim</strong>er Volksschule ge-<br />

holfen hatte, ihre Gesundheit wiederherzustellen, immer stär-<br />

ker <strong>aus</strong>gefüllt. Noch sechs Jahre nach dem Umzug nach Leipzig<br />

spürt man den Schmerz der Trennung, wenn er am 22. Sep-<br />

tember 1966 nach einer verzweifelten Klage über die geistige<br />

Verwüstung Deutschlands bedauernd hinzusetzt: „Entschul-<br />

dige dieses – ich hab hier niemand, mit dem ich darüber re-<br />

den kann.“<br />

8 9<br />

3<br />

Drastisch wie er war, hüllte <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> den Schmerz der<br />

Trennung in das Gewand rücksichtsloser Selbstbezichtigung.<br />

Was liege schon an ihm, dem „hinfälligen Greis“, dem „wack-<br />

ligen Gestell“ und „alten Knacker“, dem „leergeräumten Stein-<br />

bruch“, der „klapprigen Ruine“! Sei er nicht „überständig alt<br />

geworden“, eine „unerwünschte Versteinerung <strong>aus</strong> vergange-<br />

ner Epoche“, von „Altersblödsinn“ heimgesucht, gleichsam der<br />

„geborene Nichtsnutz“? Auch an dem Lehrer <strong>Pfeifer</strong> läßt er kein<br />

gutes Haar. Er wird nicht müde, sich einen „verkalkten Kunst-<br />

erzieher“ und „armen Teufel <strong>aus</strong> der Provinz“ zu nennen, einen<br />

„minderen Magister“ und „pedantischen Schulmeister“, der<br />

diese ewigen „Lehrbriefe“ <strong>aus</strong> <strong>Waldheim</strong> schreibt.<br />

Bis in das übermütig-wehmütige Spiel mit den Bedeutun-<br />

gen des Wortes „aufgeben“, das zum einen sein tägliches Post-<br />

geschäft, zum anderen sein bedrohtes seelisches Gleichgewicht<br />

meinte, wurde die Klage darüber laut, von der Freundin ge-<br />

trennt zu sein. Am 18. Oktober 1960 fügt er sich in das Unabän-<br />

derliche, wenn er zu einer aufzugebenden Sendung nach Leip-<br />

zig schreibt: „Am liebsten schlüpfte ich selber in den großen<br />

Briefumschlag – aber wie soll ich mich dann aufgeben. (Eigent-<br />

lich hab ich mich schon aufgegeben.)“<br />

4<br />

Sicher darf man davon <strong>aus</strong>gehen, daß das so raffinierte<br />

wie riskante Lamento nicht nur Abwehrzauber gegen die wirk-


lichen Beschwerden des Alters war, sondern in gleichem Maße<br />

– und <strong>aus</strong> dem Zauber erwachsend – Redefigur, Stilmittel der<br />

Altersepistel, B<strong>aus</strong>tein für einen „spritzigen Brief“, der dem<br />

Schreiber bis zuletzt vorschwebte. Das groß entfaltete Bild<br />

der Hinfälligkeit machte es ihm möglich, um so eindrucksvol-<br />

ler den Alltag eines Virtuosen zu schildern, der eine beklagens-<br />

wert seltene Kunst <strong>aus</strong>übte: die Kunst der Menschenbehand-<br />

lung. Da war <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> in seinem Element, da gab er sich<br />

die passenderen Namen. Er sah sich als „Ermittler“, als „Wei-<br />

chensteller“, als „Orakel von Delphi“; sein Türschild könnte<br />

lauten „,Auskunftei“ oder „Rat in Alltagsfragen“. Prinzen- oder<br />

Prinzessinnenerzieher in der Goethezeit gewesen zu sein, hat<br />

er sich gut vorstellen können. Nichts brachte den Lehrer so in<br />

Rage wie die Schreckensvision, die Erziehung geriete vollends<br />

in die Hände des „Erziehungsingenieurs“, der die Zöglinge mit<br />

der „Memorierramme“ traktiert. Am Fehlen des Erlebens schei-<br />

tere die Schule. „Man sollte immer daran denken“, mahnt er<br />

am 4. November 1963, „seelische Glanzlichter in die Gemüter<br />

zu setzen.“<br />

5<br />

<strong>Briefe</strong> <strong>aus</strong> <strong>Waldheim</strong>. Sie kamen nicht nur <strong>aus</strong> <strong>Waldheim</strong>, sie<br />

handelten von <strong>Waldheim</strong>, vom Dasein eines <strong>Waldheim</strong>ers, und<br />

<strong>Waldheim</strong> sorgte für die besondere Leuchtkraft der „Glanzlich-<br />

ter“, die <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> in die Gemüter zu setzen bestrebt war.<br />

In Dresden geboren und auf das Lehrerseminar gegangen,<br />

war <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> – nach kurzem Studium in Leipzig – 19o8<br />

Bürger von <strong>Waldheim</strong> geworden und hat die alte sächsische<br />

Stadt an der Zschopau nur unter Zwang während der natio-<br />

nal-sozialistischen Herrschaft vorübergehend verlassen. Bis zu<br />

seinem Tod 1976 wohnte er unterhalb des Wachbergturms am<br />

oberen Ende der Turmstraße; das H<strong>aus</strong> trägt heute eine Erin-<br />

nerungstafel.<br />

<strong>Waldheim</strong> wurde <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s Schicksal.<br />

Hier hat er seine Familie gegründet, mit seiner Frau zwei<br />

Kinder großgezogen, sein Lehramt <strong>aus</strong>geübt und 1914 das<br />

Buch „Technik der geistigen Arbeit“ verfaßt. Hier hat der er-<br />

fahrene Erzieher zur Zeit der Weimarer Republik an der säch-<br />

sischen Schulreform mitgewirkt und zwölf Jahre lang die städ-<br />

tische Volkshochschule geleitet. Von <strong>Waldheim</strong> <strong>aus</strong> brach er<br />

nach Holland, Frankreich, England, Österreich, in die Schweiz<br />

und die Tschechoslowakei auf, um mit der Autorität des streit-<br />

baren Pazifisten und der Kompetenz des Sprachkundigen an<br />

den Debatten des Internationalen Versöhnungsbundes teilzu-<br />

nehmen. Aus <strong>Waldheim</strong> wurde er von den Nazis vertrieben<br />

und nach Zschopau, später Oederan versetzt. Sein Sohn Hans<br />

mußte für zwei Jahre ins Zuchth<strong>aus</strong> <strong>Waldheim</strong>, weil er als Kom-<br />

munist die deutsche Übersetzung eines Artikels <strong>aus</strong> der eng-<br />

lischen Presse über die Hintergründe des Reichstagsbrandpro-<br />

zesses in der Stadt verteilt hatte. Nach <strong>Waldheim</strong> kehrte <strong>Arthur</strong><br />

<strong>Pfeifer</strong> im Mai 1945 zurück, wo ihm 1946 die Leitung der Volks-<br />

schule übertragen wurde.<br />

So gab es eigentlich keinen <strong>Waldheim</strong>er, der <strong>Arthur</strong> Pfei-<br />

fer nicht als Schüler, Kollege, Freund oder Gesprächspartner<br />

begegnet wäre. Er kannte die Lehrer, Ärzte, Unternehmer und<br />

Gewerbetreibenden von <strong>Waldheim</strong>. Er kannte den Buchhänd-<br />

ler, den Pfarrer, den Kantor, den Friedhofsgärtner. Auch küm-<br />

merte er sich um das geistige Erbe <strong>Waldheim</strong>s, vor allem um<br />

die <strong>Waldheim</strong>er Arbeiten Georg Kolbes, des großen deutschen<br />

Bildhauers, der <strong>aus</strong> der Stadt stammte und dem man hier neu-<br />

estens wieder die gebührende Beachtung schenkt.<br />

In einem weiteren Kreise kamen die Freunde <strong>aus</strong> der Zscho-<br />

pauer Verbannungszeit hinzu, Kurt Schumann und Helmut Sei-<br />

del, die er regelmäßig besuchte, sowie die Goethe-Freunde,<br />

mit denen er über die Weimarer Goethe-Gesellschaft verbunden<br />

war. Und in einem weitesten Zirkel verkehrte <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> mit<br />

10 11


den dankbar verehrten Lehrern und Anregern, mit dem Ethiker<br />

Friedrich Wilhelm Foerster und dessen Bruder, dem Gartenphi-<br />

losophen Karl Foerster, mit Hermann Hesse und den bewähr-<br />

ten Mitstreitern <strong>aus</strong> dem Internationalen Versöhnungsbund, der<br />

Lehrerin Gerda Baumann und dem Pfarrer Alfred Dedo Müller.<br />

Jedem stand es frei, geistige Freude und geistigen Gewinn<br />

<strong>aus</strong> dem Verkehr mit dem Mann von der Turmstraße zu ziehen.<br />

<strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> besaß die seltene Gabe, zwischen dem Heimat-<br />

lich-Regionalen und dem Globalen, zwischen <strong>Waldheim</strong> und der<br />

Welt zu vermitteln. Scherzhaft nimmt er es sogar mit dem Kos-<br />

mos auf, wenn er im Brief vom 17. September 1976 schreibt:<br />

„Im ,All‘ bin ich auch in meiner Stube.“<br />

6<br />

Charme und lebendige Dauer verdanken <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s<br />

<strong>Briefe</strong> dieser Kunst, zwischen <strong>Waldheim</strong> und der Welt zu ver-<br />

mitteln. Kein Ereignis war zu gering, als daß es nicht in sei-<br />

nen weitreichenden Folgen beobachtet werden konnte und es<br />

war gerade das H<strong>aus</strong>wirtschaftlich-Praktische, was den Philo-<br />

sophen her<strong>aus</strong>forderte.<br />

Viele Male entwarf er in Gedanken Bücher, meist Bilderbü-<br />

cher, die im <strong>Waldheim</strong>er Alltag die Welt aufscheinen lassen wür-<br />

den. „Weltgarten am Fenster“ könnte der Bericht von einer bo-<br />

tanischen Weltreise heißen, in dem alle als Zimmerpflanzen ge-<br />

pflegten Gewächse in ihrer heutigen Gärtnerzüchtung und an<br />

ihrem Heimatort abgebildet würden, etwa die Usambaraveil-<br />

chen, die in Ostafrika so üppig wachsen wie in Deutschland<br />

die Buschwindröschen. Denkbar wäre auch, in dieser Art die<br />

„Entwicklung einer Krokuspflanze“, das Phänomen der opti-<br />

schen Täuschungen, das Sonnenlicht oder den verborgenen Zu-<br />

sammenhang von Kristallbildung und Komposition von Musik<br />

zu behandeln. Einmal fotografierte <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> die Aufzucht<br />

junger Amseln, deren Eltern sich an seinem Fenster eingenistet<br />

hatten, und dar<strong>aus</strong> entstand tatsächlich ein Büchlein für seine<br />

Enkel in Nürnberg.<br />

Ging es hier vom Kleinen ins Große, so galt umgekehrt das-<br />

selbe. Noch das Entfernteste sah er in die Nähe dringen und<br />

die alltäglichen Entschlüsse und Geschäfte prägen. „Sind wir<br />

ein Spiel von jedem Druck der Luft?“, pflegte <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> mit<br />

F<strong>aus</strong>t zu fragen. Er spürte diesen Druck im Seelischen, Wirt-<br />

schaftlichen und Politischen ebenso wie im Atmosphärischen.<br />

Wer sich an <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> um Auskunft wandte, mußte ge-<br />

wärtigen, die zur Rede stehende Sache gleich viel grundsätz-<br />

licher angepackt zu finden, als er selber das vielleicht gewollt<br />

hatte. Atombombenversuche, „Prager Frühling“, Mondlandung,<br />

Computertechnik, Europaunion oder Vietnamkrieg – immer sah<br />

<strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> Aspekte, die zu seiner Zeit kaum ins Bewußt-<br />

sein drangen. Wenn er seine Ansichten gern als die Privatmei-<br />

nungen eines kleinen Mannes <strong>aus</strong> der sächsischen Provinz be-<br />

zeichnete, dann zeigt sich heute, wie genau der empfindsame<br />

Mann auf die leisesten Schwankungen im Gleichgewicht der<br />

Welt reagierte.<br />

Wie er die Erschütterung von dem Erdbeben im 6oo km ent-<br />

fernten Triest wahrnahm, so spürte er die ungeahnten Konse-<br />

quenzen der technischen und politischen Erschütterungen – im<br />

Positiven wie im Negativen:<br />

Im Juni 1962 galt das für die Verseuchung der Atmosphäre<br />

durch die Atombombenversuche.<br />

Im November 1968 für die Aussichtslosigkeit der militäri-<br />

schen Aktion gegen die Freiheitsbestrebungen in Prag.<br />

Im Juli 1969 für die „ungeahnten Folgerungen“ <strong>aus</strong> der<br />

amerikanischen Mondlandung, einer Organisationsleistung,<br />

die sich auf das „Ziel eines friedlichen Zusammenlebens“ hätte<br />

richten können, aber doch nur eine Weltraumverschmutzung<br />

größten Stils einleitete.<br />

12 13


Im Juni 197o für die Revolution in der Unterrichtsmethodik<br />

durch die „Lernmaschinen“, die Computer, auf die er in Berich-<br />

ten über die Internationale Lehrmittelmesse in Basel aufmerk-<br />

sam wurde.<br />

Im Januar 1972 für die Gründung der „Vereinigten Staaten<br />

von Europa“ in Brüssel, ein Ereignis, das „in den künftigen Ge-<br />

schichtsbüchern ein bemerkenswertes Datum sein“ dürfte.<br />

Im März 1975 endlich für die dank der Fernsehreportage ga-<br />

rantierte gefahrlose „Genießbarkeit“ der Verbrechen des Viet-<br />

namkrieges.<br />

„Die technische Entwicklung rast davon mit der Barbarei,<br />

weil der Beherrschung der äußeren Natur die der inneren nicht<br />

parallel lief“, heißt es am 7. November 1967.<br />

7<br />

Als Photograph, Buchbinder, Blumenmaler, Mikroskopierer,<br />

Kristallograph und Kalligraph in vielerlei Handwerk gut bewan-<br />

dert, schätzte <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> die Segnungen der Technik viel zu<br />

sehr, als daß er etwa einer Technikfeindlichkeit das Wort hätte<br />

reden können. Was ihn beunruhigte und quälte, war der gefähr-<br />

liche Irrglaube, technische Überlegenheit führe mit der Zeit auch<br />

zu größerer Freiheit der Person. Das Gegenteil sei der Fall.<br />

Geblendet vom Glanz der Erfindungen, verfalle der Mensch<br />

leicht einem versklavenden Neuerungswahn, der sich am ver-<br />

hängnisvollsten im Tempor<strong>aus</strong>ch äußere.<br />

Wie ein roter Faden zieht sich die Mahnung durch diese<br />

<strong>Briefe</strong>: Haltet inne! Gemach! Besinnt euch! Seid unzeitgemäß!<br />

Gönnt euch Muße! Spielt Haydn und lest Stifter! Haltet euch an<br />

das Schöne! Bildet euch in der Stille!<br />

Diese Botschaft zu bekräftigen ist auch der tiefste Sinn der<br />

erlesenen Zitate, mit denen der Schreiber seine <strong>Briefe</strong> in so rei-<br />

chem Maße versieht. In Zeiten, da der Einzelne sich über Ge-<br />

bühr bedrängt und eingezwängt findet, geben sie den Blick frei<br />

auf die unerschöpflichen Möglichkeiten persönlicher Entfaltung<br />

in Stille und Verborgenheit.<br />

„,Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst‘, sagt Goethe,<br />

der davon etwas verstand“, schreibt der Siebenundsiebzigjäh-<br />

rige seiner Freundin am 19. Juni 1961. „Das bedeutet also, daß<br />

zuviel Sturm das Leben selber bedroht und seinem eigentli-<br />

chen Zwecke entfremdet, es soll genossen werden! Dir wird<br />

man da noch einige Lektionen erteilen müssen.“<br />

14 15<br />

8<br />

Die <strong>Briefe</strong> <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s befinden sich mit den Gegenbrie-<br />

fen von Gertrud Schade heute in der Obhut des <strong>Waldheim</strong>er<br />

„<strong>Freundeskreis</strong>es ‚<strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>‘ e.V.“, der auch die mehrere<br />

t<strong>aus</strong>end Bände umfassende Bibliothek des Lehrers betreut.<br />

Unterstützt von Gertrud Schades Tochter, der Musikerin und<br />

Malerin Gisela Neuenhahn, dem Vereinsvorsitzenden Rechtsan-<br />

walt Gottfried Schlesier und seiner Frau Christine Schlesier ha-<br />

ben die Her<strong>aus</strong>geber zusammen mit Sibylle Mierau die 3ooo<br />

<strong>Briefe</strong> gelesen, annotiert und mit einem Personenregister ver-<br />

sehen.<br />

Das Ergebnis dieser Lektüre befindet sich als Datei beim<br />

Verein. Die Her<strong>aus</strong>geber hätten den oft überraschenden Gedan-<br />

kengängen, den Verknüpfungen von Weltgeschehen und per-<br />

sönlichen Reminiszenzen nicht mit dem erhofften Gewinn fol-<br />

gen können, wären nicht viele von <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s Verwandten,<br />

Lehrerkollegen, Schülern, Freunden und Bekannten bereit ge-<br />

wesen, mit Erinnerungen und eigenen Nachforschungen das<br />

Ihre zur Aufklärung beizutragen. Ihnen gilt der herzliche Dank<br />

der Her<strong>aus</strong>geber, die hier nun ihre Auswahl <strong>aus</strong> dem Briefwerk<br />

vorlegen.<br />

Es handelt sich bei der Auswahl grundsätzlich um Auszüge.<br />

Durch eckige Klammern sind lediglich Auslassungen in einem<br />

fortlaufenden Briefteil gekennzeichnet.


Die Textgestalt der <strong>Briefe</strong> folgt in Rechtschreibung und Zei-<br />

chensetzung den Originalen. Stillschweigend korrigiert wurden<br />

allein offensichtliche Verschreibungen des Verfassers und Häu-<br />

fungen von Gedankenstrichen, nicht dagegen unbedeutende<br />

Abweichungen bzw. absichtlich aktualisierende Veränderungen<br />

von Zitaten, die <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> meist <strong>aus</strong> dem Kopf wiedergibt.<br />

Die behutsame Kommentierung konzentriert sich auf den<br />

Nachweis von Zitaten, auf Auskünfte über <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s Ver-<br />

wandten-, Freundes- und Bekanntenkreis, auf Hinweise zu sei-<br />

ner Tätigkeit im Internationalen Versöhnungsbund sowie An-<br />

gaben zu ihm persönlich nahestehenden Opfern des Nazire-<br />

gimes.<br />

Für die Lektüre der <strong>Briefe</strong> möge nun gelten, was <strong>Arthur</strong><br />

<strong>Pfeifer</strong> in einer freilich heiklen Lage am 12. Dezember 1968<br />

schrieb: „Ob einer, falls er meine <strong>Briefe</strong> durchleuchtet, erleuch-<br />

tet ist, wird von ihm selber abhängen.“<br />

Fritz Mierau<br />

16 17<br />

1960<br />

<strong>Waldheim</strong>, den 4. Februar<br />

Heute war ich bei P<strong>aus</strong>e 1 , ihm H<strong>aus</strong>buch und Schlüssel zu<br />

geben und Eure Abschiedsgrüße zu bestellen; ich habe das mit<br />

entsprechenden Worten getan, daß dem alten Mann die Tränen<br />

kamen und er beteuerte, wie gern er Euch in dem H<strong>aus</strong>e ge-<br />

habt hat. Er stand an der Kreissäge – die keinerlei Schutzvor-<br />

richtung hatte – und sägt daran den ganzen Tag und Tag für<br />

Tag seine Fabrikeinrichtung zu Feuerholz, auch eine traurige<br />

Beschäftigung, die Geräte zu vernichten, mit denen man seinen<br />

Lebensunterhalt verdiente.<br />

Dann hab ich die letzte Rechnung des Wasserwerkes über-<br />

wiesen, Quittung lege ich bei (aber laßt Euch nicht einfallen,<br />

das Geld zu schicken, das freß ich bei Euch ab!) Aber Ihr mögt<br />

die Quittung eine Zeit aufheben, damit die Leute nicht noch<br />

mal was fordern. Den Strombetrag überweise ich, da es mir –<br />

trotz des Erkletterns eines dreistöckigen H<strong>aus</strong>es und Herumfra-<br />

gens nicht gelang, den sagenhaften Elektrizitätswerk-Winkler<br />

zu ermitteln. Quittung folgt; Kasse Donn. nachm. geschlossen.<br />

Den Rock wird Markert fertig machen, so daß ich ihn mitbrin-<br />

gen kann.<br />

Was ist nun etwa noch zu erledigen? Schreibt getrost, was<br />

etwa nötig oder erwünscht ist; es wird alles bestens besorgt.<br />

1 Otto P<strong>aus</strong>e, H<strong>aus</strong>wirt von Gertrud Schade (1917–1978) in <strong>Waldheim</strong>, Härtelstraße 34,<br />

ehemaliger Mitinhaber der Zigarrenfabrik P<strong>aus</strong>e und Leonhard.


1960<br />

Jetzt will ich erst mal in meiner Bude aufräumen, wo seit 4<br />

Wochen alles liegen geblieben ist und ein holländischer Still-<br />

leben-maler hunderte von Motiven finden könnte des unge-<br />

wöhnlichen Beisammenseins der Dinge. Zwischen Lessing und<br />

Erasmus lehnt eine Reißschiene, Symbol für die Rechtwinklig-<br />

keit der beiden Geister – aber sie gehört doch nicht dahin. Und<br />

so bin ich ein Mosaik <strong>aus</strong> lauter Ungehörigkeiten – aber das<br />

wird anders und morgen geht das Ordnungstiften los, wahr-<br />

scheinlich mit dem Effekt, daß dann nichts mehr auffindbar<br />

sein wird.<br />

Hans 2 erhielt vom FDGB 3 einen 14 Tage-Erholungsaufent-<br />

halt in der ČSR und schrieb heute eine Karte <strong>aus</strong> Spindelmühl<br />

im Riesengebirge, 4½ Stunden von der Schneekoppe und 2<br />

Stunden vom Geburtsort meines Vaters 4 entfernt. Vielleicht hat<br />

er Zeit, mal den Heimatort seiner Voreltern aufzusuchen, der<br />

sonst für uns unzugänglich ist. Ich wäre sonst auch gern mal<br />

durch jene Ferienlandschaft meiner Kinderzeit geschlendert,<br />

wenn sich auch in 70 Jahren dort vieles sehr gewandelt hat.<br />

Um mich sollst Du Dir keine Sorgen machen, ich habe al-<br />

les gut überstanden und werde schon wieder völlig in Form<br />

kommen; ich lege mich abends beizeiten lang und lese in<br />

Burckhardt’s „Cicerone“ 5 , in dem die Werke von über 1100<br />

Künstlern besprochen werden, soweit sie Burckhardt hat se-<br />

hen können. Ich staune immer wieder über diese Fülle von Wis-<br />

sen, Erinnerung an Gesehenes, Unterscheidungsvermögen, Stil-<br />

gefühl. Er bringt es fertig, an einem mehrfigurigen Monument<br />

festzustellen, von wem die einzelnen Gestalten geschaffen wur-<br />

2 Hans <strong>Pfeifer</strong> (1908–2002), Sohn von <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>, stellvertretender Direktor und<br />

Leiter der Kartenabteilung der Sächsischen Landesbibliothek Dresden.<br />

3 Freier Deutscher Gewerkschaftsbund<br />

4 Josef <strong>Pfeifer</strong> (1856–1942), geb. in Oberrochlitz im Riesengebirge, Glas- später Porzel-<br />

lanmaler, s. Brief vom 27. April 1973.<br />

5 Jacob Burckhardt, Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens.<br />

den, wie ein Weinkenner die Sorten bestimmen kann. Und da<br />

packt mich manchmal ein Ingrimm, daß wir diese Kunstschätze<br />

Italiens nur in ärmlichen Photographien oder überhaupt nicht<br />

zu sehen bekommen. Es ist vieles zum Rasendwerden.<br />

Übrigens: Du hast noch nicht alles eingeräumt: Hier ist in-<br />

zwischen noch ein Bilderkasten für Landschaften fertig gewor-<br />

den, und zwei (für Tiere und Pflanzen) stehen noch bevor. Aber<br />

das soll ja nur Deine Ordnung erleichtern, ohne Dir den Raum<br />

zu beengen. In Stupsens 6 Regal möchte also noch für drei Käs-<br />

ten Platz bleiben.<br />

Sorgt mir, daß ich nur gesunde Menschen antreffe, wenn<br />

ich zu Euch komme!<br />

Allen die herzlichsten Grüße!<br />

(Eben steht schrägüber der Essenkehrer mit Cylinder als<br />

schönes Schattenbild vor dem opalfarbigen Winterhimmel und<br />

fegt schorn. Das mag Glück für Euch bedeuten!)<br />

9. Februar<br />

Ich las heute bei Johann Peter Hebel, der 1760 geboren<br />

wurde – also die Zeitverhältnisse von vor 200 Jahren erlebte:<br />

„Gerne erleichtern wir uns und beschönigen zwar unsere Ar-<br />

beitseligkeit mit der Gemeinstelle, daß die Not die wohlthä-<br />

tige Weckerin unserer Kräfte sei und Übung durch Arbeit sie zur<br />

Vollkommenheit <strong>aus</strong>bilde. Schön gesagt, wenns nicht am Tag<br />

läge, was bei diesem nordischen Unfug her<strong>aus</strong>kömmt. Nur we-<br />

nige von uns erfahren etwas von der Bildung, der Aufklärung<br />

und dem Lebensgenusse, der allen gebührt. Die meisten übri-<br />

gen leben und sterben etwas besser als das Tier, ohne Charak-<br />

ter, ohne Vaterlandsliebe und Mut, ohne Tugend. Auch die we-<br />

nigen bringens nicht weit. – Wir halten uns für die gelehrteste<br />

Nation. Wir sinds auch leider, wenigstens die schreib- und le-<br />

6 Kosename für Gertrud Schades Tochter Gisela.<br />

Johann Peter Hebel<br />

18 19


1960 Fragetechnik im Unterricht<br />

selustigste, wenns damit getan wäre. Aber wo ist der reine, le-<br />

bendige Sinn, der das Wahre und Schöne überall und unmittel-<br />

bar <strong>aus</strong> der Natur und dem Leben saugt? wo das innige, rege<br />

Gefühl, mit welchem der wahre Mensch das Wahre und Schöne<br />

sich vereigentumt? wo die hohe, göttliche Phantasie, beides<br />

aneinander zu verherrlichen und in unsterbliche Ideale zu ver-<br />

schmelzen? wo die Gabe, rein und klar wiederzugeben, was<br />

man so empfangen hat, und so warm, als es im eignen Her-<br />

zen lag, in ein fremdes zu legen? Verdampft, schon frühe im<br />

Schweiß der Schulen und später am harten toten Pult und un-<br />

ter dem Druck der Folianten und Schatzungsmonate, die auf<br />

uns liegen.“ 7<br />

Na, was sagst Du dazu? Das schreibt ein Zeitgenosse Goe-<br />

thes und Schillers. Und da solltest Du froh sein, daß in dieser<br />

sich durch Jahrhunderte ersteckenden Kulturwüste – Wüsten<br />

sind nicht nur Räume, sondern auch Zeiten – <strong>aus</strong>gerechnet Du<br />

erlesen bist, an einer Oase teil zu haben, die Stups heißt und<br />

das hat, was oben von Hebel vermißt wird, den reinen, leben-<br />

digen Sinn für das Wahre und Schöne – und all das, was in den<br />

folgenden Zeilen steht. Denke an die Schilderung des Krähen-<br />

fluges an der Nixkluft, um nur ein Beispiel zu nennen – das ist<br />

die „Gabe, rein und klar wiederzugeben, was man so empfan-<br />

gen hat“ – und da sollen uns die armen Schulnarren nun schon<br />

gar nicht irre machen.<br />

12. Februar<br />

Heute vormittag kam, von *** geschickt, so ein Lehrerprak-<br />

tikant zu mir, wie sie jetzt in den Schulen grasen, hospitieren,<br />

Stunden halten und Nöte haben. Er [...] ist <strong>aus</strong> <strong>Waldheim</strong>, wo er<br />

vor vielleicht ein, zwei Jahren <strong>aus</strong> der Lutherschule nach Leipzig<br />

7 Johann Peter Hebel, Werke und <strong>Briefe</strong>: Gedanken <strong>aus</strong> verschiedenen Schriften, 2,<br />

Leipzig 1943, S. 629.<br />

ging. Ihm macht die „Fragetechnik“ im Unterrichte Sorgen, und<br />

da wollte er sich mal belehren lassen. Na, das war für mich eine<br />

vergnügliche Stunde, in der ich einige Raketen steigen ließ,<br />

von denen er in Leipzig noch nichts gesehen hatte. Und es fie-<br />

len mir dabei manche hübsche Bilder ein, die ihn kapieren lie-<br />

ßen, worauf es ankommt. Ich erinnerte ihn an die elektrische<br />

Induktion: fließt in einer Spule ein noch so feiner Strom, dann<br />

wird eine benachbarte – ohne mit der Stromquelle verbunden<br />

zu sein – elektrisch erregt. Wenn nun der Lehrer die eine, die<br />

Klasse die andre Spule vorstellt, kann in der Klasse nur dann<br />

etwas vor sich gehen, wenn der Strom der Begeisterung durch<br />

den Lehrer fließt. Liest er also – innerlich ganz unbeteiligt – ein<br />

Lehrbuch vor, so erfolgt in der Klasse – nichts. Und dann wun-<br />

dert sich so ein Tölpel noch. – Auch der Hinweis, sich auf die<br />

eigene Schulzeit zu besinnen, sich der erfolgreichen und der<br />

erfolglosen Lehrer zu erinnern und nun im Hinblick auf den zu<br />

erlernenden Beruf sich zu fragen, warum man wohl des einen<br />

dankbar gedenkt und den andern verflucht und dar<strong>aus</strong> Leitli-<br />

nien für die eigene Arbeit zu entwickeln, auch dies war in Leip-<br />

zig nie erwähnt worden, obwohl es so nahe liegt und viel an-<br />

schaulicher ist als alle Methodik, die erst nach solcher Selbst-<br />

besinnung Aussicht hat, ernstlich beachtet zu werden. Beinahe<br />

hätte ich Lust, mich an so eine Lehrerbrutstätte zu melden –<br />

aber nein, man würde mich gar nicht nehmen.<br />

21. Februar<br />

Du wirst fragen, was ich zu arbeiten habe? Ja, am 5. März<br />

ist der Geburtstag der Zwillinge 8 ; nun hab ich durch den Um-<br />

zug und die darauffolgende faule Zeit sehr viel Zeit verloren –<br />

und jetzt muß etwas geschehen. Da fiel mir ein, daß die Kinder<br />

8 Frieder und Sibylle Strauß, Kinder von <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s Tochter Irene Strauß (1911–<br />

20 21<br />

1996).


1960 Teppichkauf<br />

in dem Jahrgang sind, in denen ihnen herkömmlicherweise die<br />

Beschäftigung mit der Landkarte verekelt wird, weil die Lehrer<br />

das Zwischenglied – den Übergang von der dreidimensionalen<br />

Wirklichkeit zur zweidimensionalen Darstellung – nicht zu über-<br />

brücken wissen, Laien, wie sie nun eben sind. Und da mußte<br />

Rat werden. Ich ließ mich damit allerdings in ein uferloses Un-<br />

ternehmen ein. Erst baute ich ein kleines Modell eines Nürnber-<br />

ger Torturmes, dann eine Fahrzeugfabrik, dann sollte eine Kir-<br />

che ins Dorf, na, die hat Zeit gekostet, denn buchstäblich unter<br />

der Hand wuchs da ein romanischer Grundbau mit zwei Türmen<br />

und einem angebauten gotischen Chor, siebeneckig. Was da<br />

bei der Dachkonstruktion zu bedenken war! Mein Respekt vor<br />

den alten Baumeistern wurde durch diese Überlegungen sehr<br />

vertieft. Dann sollte eine Sternwarte in den Ort. Es fehlen nun<br />

noch sehr viele Wohngebäude, denn die Leute <strong>aus</strong> Kirche und<br />

Fabrik müssen ja irgendwo wohnen. Auch der Text für die Han-<br />

tierung mit den Modellen schwebt sozusagen nur in meinem<br />

Kopfe – und so ein Tag ist doch so schnell herum. Damit Du<br />

siehst, wozu ich die Zeit so nötig brauche! Aber meine Kirche<br />

gefällt mir, der Bau ist 23cm lang, Türme 25cm hoch.<br />

8. März<br />

Gestern fuhr ich früh 6 35 mit dem Bus nach Dresden. Dort<br />

bin ich nun in Altstadt und in Neustadt durch die Geschäfte ge-<br />

zogen, die Teppiche und Läufer haben – oder haben sollten.<br />

Fand sich schon ein passender Stoff, war er wieder zu schmal.<br />

Und der die rechte Breite hatte, war rot mit einfältigen Mustern.<br />

Im ganzen jämmerlich. Übrigens ist Dresden eine tote Stadt:<br />

weite Plätze mit Unkraut, hier u. da ein Gebäude, neu, im Bau-<br />

kastenstil, und straßenweit kann man laufen, ohne einen Men-<br />

schen zu treffen.<br />

Ich denke, wir machen das nun so: entweder fahr ich mal<br />

nach Berlin – oder wir versuchen in Leipzig, wenn das mit dem<br />

Läufer nicht klappen will, einen guten passenden Teppich für<br />

Dein Zimmer zu bekommen. In Dresden sagte man, ich solle<br />

in einer Woche wieder kommen, da wäre vielleicht neue Ware<br />

da. Es gab einige schöne Geschäfte in Dresden, das muß man<br />

sagen. Ein letzter Nachklang des guten Geschmackes, der dort<br />

seit August dem Starken, also seit fast 300 Jahren, Tradition ist<br />

und trotz der furchtbaren Katastrophe – deren Ausmaß von den<br />

meisten unterschätzt wird – noch am Leben ist. An einer Stelle<br />

warf eine einsame Trümmerfrau große Steine auf einen Wagen,<br />

das kann sie t<strong>aus</strong>end Jahre machen, ohne fertig zu werden.<br />

22 23<br />

18. März<br />

Schönen Dank für <strong>Briefe</strong>. Ich hoffe ja, daß die 2 Päckel in-<br />

zwischen anlangten (eins mit 6 Eiern, 1 Suppe, 1 T. Schok. –<br />

das andre 3 Pfund Möhren + 3 Pfund Schwarzwurzeln). Denn<br />

klauen lassen wollen wir sie nicht, dann schick ich sowas ein-<br />

geschrieben – oder ich komm mal vorbei, legs auf den Abstrei-<br />

cher, klingle – und reiße <strong>aus</strong>, das Schimpfen nur fern abdon-<br />

nernd vernehmend.<br />

Gestern war ich mal in Kriebethal. Heute – eben sind sie<br />

weg – waren Deine Eltern 9 hier. Großvati hatte in der Stadt zu<br />

tun. Da hab ich ihnen einige Kristalle im Citoplast vorgeführt.<br />

Merkwürdig, wie die einzelnen Naturgebilde, genau betrachtet,<br />

immer wieder das Staunen wecken. Nur das Weltganze macht<br />

einen schrecklichen Eindruck. […]<br />

Jetzt führe ich mir die „Kunst der Renaissance“ 10 von Jacob<br />

Burckhardt zu Gemüte, nicht ohne zu bedauern, daß ich nicht<br />

in Italien bin. Es ist unglaublich, welche Fülle von Kunstwerken<br />

Burckhardt da gesehen und notiert und beschrieben hat. Nun<br />

9 Johanna Sauer (1890–1968) und Georg Sauer (1880–1967), Eltern von Gertrud Scha-<br />

de, in der Folge auch als „Großmutti“ und „Großvati“ bezeichnet; näheres über<br />

Georg Sauer s. Brief vom 14. März 1966.<br />

10 Vermutlich Die Kultur der Renaissance in Italien.


1960 Die Distel am Wege<br />

mag im letzten Jahrhundert vieles davon zerstört und geraubt<br />

und verkauft worden sein – es muß selbst da noch Unglaubli-<br />

ches zu finden sein. Dabei sieht man erst mal, wie armselig es<br />

bei uns in bezug auf Kunst bestellt ist; was es dort in Städten,<br />

nicht größer als Hartha oder Mittweida, an Kostbarkeiten gibt!<br />

Hier konzentriert sich das Wenige in den Großstädten – und es<br />

zu bewundern – z.B. Dich – bedarf es erst einer Reise. Ich will<br />

noch mehr wiedersehen als die Dioskuren.<br />

Die erste meiner Amaryllen blüht dunkelrot; jetzt sieht man<br />

bereits am Ende des Stengels vier Knospen von verschiedener<br />

Größe. Aber ich glaube, auch die weiße hat bereits angesetzt,<br />

den andern werde ich es auch noch beibringen.<br />

23. März<br />

Was ist Citoplast? fragst Du – und hast doch schon oft durch-<br />

geschaut: es ist das Mikroskop, mit dem ganze Gruppen kleiner<br />

Gesteine oder Kristalle in mäßiger Vergrößerung (bis 100 x) be-<br />

trachtet werden können und die Bilder ihre Tiefenschärfe be-<br />

halten. Außerdem kann man 6–8 cm Abstand vom Objekt ein-<br />

halten. Das andre Mikroskop – in dem wir die Dünnschliffe im<br />

polarisierten Lichte sahen – ist ein normales. Und als solches<br />

gibt es natürlich nur das haarscharf, was in einer Ebene liegt.<br />

Hier kann man bis 1500 fach oder noch höher vergrößern, aber<br />

die Objekte müssen lichtdurchlässig sein oder gemacht werden<br />

und möglichst dünn und genau in der Ebene.<br />

3. April<br />

Heute ist hier völlig klarer Himmel – und wahrscheinlich<br />

auch über Leipzig. Versucht doch mal ein kleines Stück in die<br />

Gegend zu gehen, um zu sehen, was es da noch an Schönem<br />

gibt; auch hier muß man sich mühen, das Positive zu finden.<br />

Und Du kannst das! Beweis: Die Distel am Wege, die den meis-<br />

ten ein lästiges häßliches Unkraut ist – und Du hast sie gese-<br />

hen. Ich bin doch auch so ein Stacheltier.<br />

Ein schmaler Sonnenstreifen fiel diagonal über vier Fächer<br />

meines Goethe-Regales. Er wanderte über Goethes Tagebücher,<br />

ließ die <strong>Briefe</strong> des Kanzlers Müller grellrot aufleuchten, strei-<br />

chelte Mercks <strong>Briefe</strong>, um sich schließlich in dem Bande „Wil-<br />

helm Meister“ zu verlieren, den ich mit 13 Jahren zum ersten<br />

Male las. Es ist nicht zu glauben, mit welcher Eile er sechs<br />

Bände Kant durchstudierte. Jetzt langt er auch noch quer über<br />

den Bücherschrank und eilt über das Regal mit den Naturwis-<br />

senschaften. Er könnte als Sonnenuhr dienen. Ich bedaure nur,<br />

daß ich nicht so geschwind durch die Bücher komme.<br />

24 25<br />

Montag<br />

Schönen Dank für Deine Karte. Aber Du sollst Dich nicht wie<br />

hingesetzt fühlen. Ich bin immer bei Dir, halte mir Deine Bilder<br />

vor Augen, die ich längst „<strong>aus</strong>wendig gelernt“ habe, wie das<br />

Burckhardt angesichts der Meisterwerke fordert.<br />

Du hast doch andern vieles vor<strong>aus</strong>. Du siehst die sich ent-<br />

faltende Distel am Wege und kannst Dich ihrer Schönheit und<br />

ihrer Genügsamkeit freuen, wie sie dem ärmlichen Standorte<br />

Leben abgewinnt. Das ist immer unsre Aufgabe, an jedem Orte.<br />

Andre würden sie als lästiges Unkraut weghacken und haben<br />

nichts von ihr. Sie ist Symbol, ganz ähnlich wie die genügsa-<br />

men Stachelkakteen, die noch am Rande der Wüste leben. Und<br />

so gibt es für Dich noch vieles Positive.<br />

7. April<br />

Die Bewohner kleiner Städte und Dörfer wie H[ermann]<br />

H[esse] haben eben keinen Blick für die Zusammenballung der<br />

Kultur im gewaltigen Steinpalaste der Großstadt (<strong>aus</strong> Platten).<br />

Außerdem sind sie hilflos gegenüber dem Tempo des machtvoll<br />

r<strong>aus</strong>chenden Lebens zusammengefaßter Energien der Hundert-


1960 Kunst in England<br />

t<strong>aus</strong>ende schaffender, strebender, wirkender, lernender, über al-<br />

lem Durchschnitt stehender Menschen, die allen voran trium-<br />

phierend ins Künftige schreiten und in mächtigen Chören das<br />

(jeweils) Neue verkünden (das morgen schon alt ist). Da steht<br />

kein Unkraut; auf spiegelndem Asphalt rollen Maschinen. Nicht<br />

verwirren Vögel und Wolken den sicheren Blick; dank der hohen<br />

Gebäude stören vom Himmel nur schmale Streifen. Sprechende<br />

Lichter tanzen am Abend auf Giebeln und Dächern und ver-<br />

scheuchen die Nacht. – Sooo muß man als „moderner Mensch“<br />

die Wirklichkeit sehen, mit Sonnenbrille (auch wenn gar keine<br />

scheint), geschützt gegen Blendung durch bloße „Natur“.<br />

Nun in Kriebethal: wie immer. Großvati macht jetzt ei-<br />

nen ganz munteren Eindruck, nun er eine Vorstellung von Eu-<br />

rem Existenzrahmen zu haben glaubt. – Von Richzenhain bin<br />

ich am Sonntag allerdings per pedes im Sonnenscheine ohne<br />

Schutzbrille hereinspaziert. Das ist doch nichts Besondres, es<br />

geht doch da immer bergab. Und diese Wege fallen mir nicht<br />

schwer.<br />

Übrigens zu Deiner Frage nach der „Kaltnadel-Arbeit“. Es<br />

wird mit schräg gehaltener Radiernadel genau wie bei der Ra-<br />

dierung die Zeichnung in das blanke Kupfer geritzt (beim Kup-<br />

ferstich wird mit dem Stichel geschoben, daß Späne <strong>aus</strong> dem<br />

Kupfer rollen). Mit der Nadel entsteht nur längs der Furche ein<br />

feiner Grat von seitwärts gedrängtem Metall. Dort bleibt die<br />

Farbe hängen, die dann abgedruckt wird. „Kalt“ heißt das Ver-<br />

fahren, weil nicht mit Säure geätzt wird (wobei sich Wärme ent-<br />

wickelt). Klar?<br />

Da der „Grat“, den die Nadel erzeugt, sehr fein ist, hält die<br />

Platte etwa zwölf Drucke <strong>aus</strong>. Sie muß verstählt werden, wenn<br />

sie viele Drucke hergeben soll.<br />

So, das wäre für zwanzch Fennche Auskunft. Und jetzt über-<br />

schleiert sich der Himmel. Vielleicht gibt es doch mal wieder<br />

Regen, der sehr nötig wäre.<br />

Burckhardt zitiert gelegentlich einen Dr. Waagen <strong>aus</strong> Ber-<br />

lin. Na, denk ich, von dem ist doch was da. Und finde den al-<br />

ten Schmöker wieder: „Kunstwerke und Künstler in England“,<br />

<strong>Briefe</strong> von 1837. Das ist sehr interessant.<br />

26 27<br />

11. April<br />

Die Corneliuskirsche auf dem Friedhofe hinten am Eingang<br />

bot neulich ein meist nicht beobachtetes Farbenphänomen. Die<br />

dunklen Äste waren von einem kurzen Regen feucht und glänz-<br />

ten tief bl<strong>aus</strong>chwarz; dadurch gewann das Gelb der Blüten eine<br />

ganz unwahrscheinliche Leuchtkraft.<br />

In dem alten Buche, das ich jetzt lese: Waagen, „Kunst-<br />

werke und Künstler in England“, vom Jahre 1837 (bei dem be-<br />

rühmten Nicolai in Berlin gedruckt 11 , den Goethe u. Schiller<br />

in den „Xenien“ massieren) werden 107 Schlösser von engli-<br />

schen „Großen“ aufgeführt, die Waagen zum größten Teile be-<br />

sucht hat. Dort finden sich Millionenschätze an Kunstwerken<br />

in eigens dazu gebauten Sälen, oft in abgelegenen Winkeln<br />

des Landes, inmitten prächtiger und weitläufiger Garten- und<br />

Parkanlagen. Man gewinnt fast den Eindruck, daß der Kunst-<br />

besitz dieser Magnaten mehr enthält als öffentliche Museen.<br />

Und an keiner Stelle der 1100 Seiten kommt dem Verfasser die<br />

Frage: woher stammen die Mittel zu diesen Riesenvermögen<br />

der Leute, denen buchstäblich nichts zu wünschen übrigbleibt.<br />

Beim Herzog von Devonshire: „Nie sah ich [...] die berühmten<br />

Fluß- und Kalkspathe in so wunderbarer Größe und Pracht, und<br />

dieses ist auch ganz begreiflich, da der Herzog Besitzer der<br />

Bergwerke ist, wo diese Mineralien vorkommen.“ 12 Aha, daher<br />

die Millionen. Daß in diesen Bergwerken damals Kinder, von 4<br />

Jahren an, Hunderte von Metern unter der Erde Hilfsarbeiten<br />

11 Verlag des Berliner Aufklärers und Buchhändlers Christoph Friedrich Nicolai (1733–<br />

1811).<br />

12 Waagen, Bd. 2, Berlin 1838, S. 446.


1960 Dresden<br />

leisteten, hat der Verfasser entweder nicht gewußt oder nicht<br />

für wichtig gehalten. Es ist schon gut, wenn inzwischen die<br />

Berggeister erwachen, wenn der Ochse merkt, wie stark er ist.<br />

In einem Schlosse war noch ein Zimmer zu sehen, in dem<br />

Elisabeth von England übernachtete, als sie ihren Liebling, den<br />

Grafen Essex, besuchte: „das Bett noch so wie sie es verlassen<br />

hat“ 13 . Sie hat ihn dann 1601 hinrichten lassen.<br />

Bd. II, 78: „Faßt man alles zusammen, so kann man wohl<br />

behaupten, daß niemand das Leben auf eine so edle und man-<br />

nigfaltige Weise genießt, als Engländer <strong>aus</strong> den höheren Krei-<br />

sen der Gesellschaft, welche sich neben dem Reichthum auch<br />

einer allgemeineren geistigen Bildung erfreuen. Nimm zu jenen<br />

würdigen, erhebenden Umgebungen bildender Kunst, zu jenen<br />

musikalischen Genüssen, den bequemsten Gebrauch von al-<br />

len Schätzen der Literatur, welcher ihnen durch ihre trefflichen<br />

Privat-Bibliotheken geboten wird, den Aufenthalt auf den rei-<br />

zendsten Landsitzen, oder die Reisen in den schönsten Gegen-<br />

den Europa’s, endlich die vielseitigste und interessanteste ge-<br />

sellige Berührung, so wirst Du mir zugeben, daß ihnen nicht<br />

viel zu wünschen übrig bleibt.“ – Aber die unwürdige Grund-<br />

lage dieser Art von Leben sieht der reisende Professor nicht.<br />

Man braucht sich nicht zu wundern, daß Marx, der in London<br />

beides sah – die Arbeiter<strong>aus</strong>beutung und die Edelfäule der<br />

oberen Gesellschaft – 1848 das „Kommunistische Manifest“ he-<br />

r<strong>aus</strong>schleuderte.<br />

13. April<br />

Gestern abend las ich eine Charakteristik Napoleons 14 von<br />

Jacob Burckhardt, die muß ich Dir mal bieten, wenn wir Zeit<br />

dazu finden. Die Überschätzung dieses „Großen“ durch Goethe<br />

13 Ebenda, S. 489.<br />

14 Napoleon I. nach den neuesten Quellen (Vortrag, Februar 1881). In: Gesamt<strong>aus</strong>-<br />

gabe. Bd. 14, Berlin und Leipzig 1933, S. 221–243.<br />

tut einem dann doch recht leid – um Goethes willen, der sich<br />

da als ein zu optimistischer Beurteiler der in dieser niedrigen<br />

Gestalt verkörperten menschlichen Natur erwiesen hat. Aber die<br />

Reihe der „Großen“ – Constantin, Alexander III., Heinrich VIII.,<br />

Philipp II., Napoleon, Hitler – wird leider nie <strong>aus</strong>sterben und in<br />

den verschiedensten Formaten – vom H<strong>aus</strong>- und Schultyrannen<br />

bis zum Weltverwüster – sich fortpflanzen.<br />

Dresden, den 20. April<br />

Das Schreiben von Ort und Datum ist so ungewohnt, es ruft<br />

Erinnerungen an Schulzeiten hervor, da jedes Diktat mit der<br />

Zeile begann: Dresden, den … Ich muß mein Urteil über diese<br />

Stadt revidieren: nur das frühere Centrum macht einen fried-<br />

hofsmäßigen Eindruck. Hier in Neustadt – ich schreibe dies auf<br />

einer Bank am Nordplatz sitzend, wo Büsche und Bäume und<br />

Sonnenschein und Weiträumigkeit herrschen, hier ist ein Groß-<br />

stadtbetrieb, wie man ihn sich nicht lebhafter wünschen kann –<br />

wenn man so etwas überhaupt wünschen sollte. Vorüber gehen<br />

Schulkinder vom Unterrichte heim: alle sprechen russisch, die<br />

Jungen tragen graue Uniformen und Militärmützen und rotes<br />

Halstuch, die Mädel sind sehr verschieden, aber gut bürgerlich,<br />

mit Zöpfchen und Haarschleifen. Russische Soldaten in langen<br />

Kolonnen, dicht besetzte Militärautos: ich komme mir vor, als<br />

sei ich im Ausland. Hans wohnt in einer durch Gärten aufgelo-<br />

ckerten Straße, die zwar Tag und Nacht von Auto, Autobus und<br />

Elektrischer durchrast wird – aber eine Minute über die Straße<br />

gehend, betritt man den Wald – Dresdener Heide, in dem stun-<br />

denlange Wanderungen möglich sind. – Heute vormittag war<br />

ich in der Bibliothek, mir Verschiedenes anzusehen, das mich<br />

interessierte. Allerdings schon angesichts der Katalogsäle kann<br />

man vor der Fülle des Vorhandenen verzweifeln. (Jetzt fahren<br />

wieder Dutzende vollbesetzte russ. Militärautos vorbei. Ich<br />

glaube, sogar die Hunde bellen anders.) Schön steht das zarte<br />

28 29


1960 Die DDR und das Schöne<br />

Laub jetzt vor dem blauen Himmel. Hinter mir hab ich die „Gar-<br />

nisonkirche“ im Baukastenstil, diesmal romanisch. Dort werden<br />

die Waffen gesegnet. Wie viele Soldaten, die hier seit 1914 den<br />

Segen empfingen, sind damit <strong>aus</strong> der Welt gefahren!<br />

So, jetzt werde ich langsam die Stadt durchqueren und ¾6<br />

nach <strong>Waldheim</strong> fahren.<br />

<strong>Waldheim</strong>, den 21. April<br />

Zweifellos hat die Großstadt auch ihre positiven Seiten, die<br />

man erst entdecken muß. So erschien mir gestern Dresden<br />

auch in einem erfreulicheren Lichte als damals, als ich nach<br />

dem Läufer vergeblich forschte. Das Leben pulsiert in langen<br />

Rhythmen in solcher Stadt, und dieselbe Gegend kann an ge-<br />

wissen Tagen oder Stunden tot erscheinen, an denen sie zu an-<br />

dern Zeiten voller Leben ist. Gebaut wird dort an vielen Stel-<br />

len, es sind auch ungeheure Flächen leer gefegt. In der völ-<br />

lig wieder verglasten Halle des Hauptbahnhofes sang gestern<br />

nachmittag eine Amsel ganz unbekümmert, sie freute sich of-<br />

fenbar der guten Akustik, die vom Lautsprecher gelegentlich<br />

mißbraucht wurde. Die berühmte Blumen<strong>aus</strong>stellung war leider<br />

bereits wieder geschlossen, ich sah nur, wie ein Maljüngling<br />

mit einem Zeichenblock behutsam einen blühenden Magnoli-<br />

enzweig von dort davontrug, den er offenbar erbeutet hatte.<br />

Das Blühen ist dort viel weiter fortgeschritten als hier. Und im-<br />

mer wieder quält es mich zu sehen, wie eine durch ihre geo-<br />

graphische Lage, ihr Klima und ihre Geschichte so <strong>aus</strong>gezeich-<br />

nete Stadt wie Dresden so furchtbar geschändet ist durch den<br />

Zerstörungskrieg.<br />

Ich schrieb Dir gestern von einer Bank auf dem Nordplatze.<br />

Hoffentlich hast Du heute den Brief, den ich ½4h am Altmarkt<br />

in den Kasten warf. Ich ging, eine Tasse Kaffee zu trinken, in<br />

ein Café an der Ecke der König-Johann-Straße und des Altmark-<br />

tes. Nur mit Mühe fand ich ein Eckchen an einem Tisch, wo<br />

andre Leute die fadesten Gespräche führten über Kleider und<br />

Schuhe und Pullover, und wenn ich nicht schon den Kaffee be-<br />

stellt gehabt hätte, wäre ich augenblicklich davon gelaufen. –<br />

Die Rückfahrt erfolgte diesmal ohne Panne und Verspätung. Als<br />

ich nämlich von <strong>Waldheim</strong> nach Dresden fuhr mit dem Frühbus,<br />

kam mir in Kriebethal schon das Niesen des Motors verdächtig<br />

vor […] und man kam 35 Minuten verspätet in Dresden an. Auch<br />

an meinem alten Seminar 15 fuhren wir vorbei – aber da war<br />

ein leerer Platz, nur die Turnhalle stand noch, und der schöne<br />

Schulgarten war in einen seltenen Wirrwarr von Schrebergär-<br />

ten zerlegt. Sic transit gloria mundi [So vergeht der Ruhm der<br />

Welt]: Wer hätte sich das vor 60 Jahren träumen lassen.<br />

30 31<br />

1. Mai<br />

Daß Du – möglichst bald – mal der Zeichenlehrerin einige<br />

Arbeiten von Stups zeigst, halte ich für angebracht, nachdem<br />

in dem Elternabend darauf hingewiesen wurde. Man soll nicht<br />

warten, bis die Schule die von ihr gegebenen Hinweise wieder<br />

vergessen hat. Daß wir bereits in der Hochschule für graphi-<br />

sche Künste waren, brauchst Du dabei nicht zu erwähnen; sie<br />

mag von sich <strong>aus</strong> urteilen. Und seid bei der Auswahl der Bei-<br />

spiele nicht einseitig, es sollten auch Blätter ohne politischen<br />

Inhalt dabei sein. Und wenn etwa bei Landschaften und Stille-<br />

ben herablassend gelächelt wird, dann kann man ruhig einflie-<br />

ßen lassen, daß die Darstellung des Schönen in der DDR durch-<br />

<strong>aus</strong> ihre politische Bedeutung und Berechtigung hat, denn es<br />

sollte den Leuten das Vorurteil genommen werden, im Westen<br />

sei alles besser. Dagegen kann auch der sturste Einfaltspinsel<br />

nichts sagen. Stimmts? Die sollen noch Respekt vor Dir bekom-<br />

men. Wir werden denen beweisen, daß sie mit ihrer Vernachläs-<br />

sigung des Schönen auch politisch „schief liegen“.<br />

15 Das Lehrerseminar in Dresden-Friedrichstadt besuchte <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> von 1902–1906.


1960<br />

3. Mai<br />

Gestern nachmittag war ich bei den Großeltern in Krie-<br />

bethal. Sie sind beide ganz munter. Sie wollen – besonders<br />

drängte Großvati – bereits am Sonnabend früh nach Leipzig<br />

fahren. Ich rate Dir, Deinen Fleischeinkauf für Sonntag bereits<br />

am Freitag zu erledigen; für die späteren Tage überlaß das<br />

Großmutti; ich weiß, daß ihr das Spaß macht. Vielleicht wäre<br />

es gut zu wissen – genau – wann am Sonnabend in der Tho-<br />

mas-Kirche die Musik stattfindet und mit beiden dahin zu fah-<br />

ren, da sie hier so etwas nie hören können. Ich habe nicht mit<br />

ihnen davon gesprochen, Du kannst sie damit überraschen.<br />

Und mit der 24 fahrt Ihr ja bis vor die Tür. Es ist also gar nicht<br />

umständlich.<br />

Schönen Dank für den eben erhaltenen „Tasso“-Brief. Da<br />

hast Du Dir wieder etwas Schönes zu Gemüte geführt. Das ist<br />

sehr gut, denn der Zug der Zeit geht – wie der Elternabend<br />

lehrte – fast <strong>aus</strong>schließlich auf das bloß Nützliche, eine elend<br />

prosaische Angelegenheit, deren Bedeutung ich durch<strong>aus</strong> nicht<br />

verkenne, aber das genügt nicht zum Leben. Ich besuchte ein-<br />

mal im Dachsteingebiet 16 einen wundervollen Wasserfall, der<br />

dort in der Einsamkeit einer Alpenschlucht an großen Felsblö-<br />

cken zerstäubte. Ringsum blühten massenweise die kleinen<br />

wilden Alpenveilchen. Moose, Flechten, Algen strahlten leuch-<br />

tend grün in dieser feuchten Luft. Da kam ein Wanderer des<br />

Wegs daher, betrachtete, photographierte den Wasserfall und<br />

fing ein Gespräch an. Nichts sah er von der Schönheit der Na-<br />

tur, staunte bloß, daß man deswegen dasitze. „Ich habe als<br />

Ingenieur nur den Auftrag, die mögliche elektrische Kapazität<br />

abzuschätzen, die man bei geeigneten Bauten dieser Wasser-<br />

menge entnehmen könnte.“ Nun ja, man braucht Licht, Wärme,<br />

16 Den Dachstein besuchte <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> 1925 während der Konferenz des Internationa-<br />

len Versöhnungsbundes in Gaming (Österreich), s. auch Brief vom 12. Juli 1972.<br />

Kraft – alles richtig, aber daß man nichts weiter sieht, als was<br />

die technische Brille zeigt, das ist das Schreckliche. In Burck-<br />

hardts Rede ist es das „räderschnurrende Elend dieses Säcu-<br />

lums“ 17 , dessen Fehlen in Rom ihn so angenehm erfreute. Von<br />

diesem Utilitätsprincip nicht mit erfaßt zu werden – das ist<br />

unsre Aufgabe. Und deshalb geht zu der Motette, solange es<br />

das noch gibt.<br />

Ein Witzbold ist der *** am Markt. Er hat ein Plakat in sei-<br />

nem Fenster: „1. Mai Kampftag der Nation“, darunter hat er quer<br />

eine alte Armbrust aufgeheftet, wobei zu lesen: „mit solcher<br />

Armbrust kämpfte Tell für Freiheit, Recht, Unabhängigkeit“. Ich<br />

werde ihn fragen, ob er etwa auf Heereslieferungen rechnet.<br />

32 33<br />

17. Mai<br />

Es gibt hier einiges Geräume, denn morgen kommt der Ma-<br />

ler, um Küche, Bad, kleines Zimmer und Vorsaal wieder in ei-<br />

nen menschenwürdigen Zustand zu bringen. Hoffentlich hat er<br />

es eilig; ich denke, daß in drei Tagen die kleinen Räume gepin-<br />

selt sein können. Na, Du kennst ja so etwas.<br />

Recht schönen Dank für die Tabaquaren [scherzhaft] – aber<br />

Du solltest das nicht tun, Du bringst meinen vor einigen Ta-<br />

gen gefaßten Vorsatz, das Rauchen abzustellen, ins Wanken.<br />

Nicht weil ich unter die Gesundheitsapostel geraten wäre, son-<br />

dern um vermeidbare Ausgaben zu unterlassen, wollte ich der<br />

Congregation der Nichtraucher beitreten. Man ist ja bei so vie-<br />

lem dabei: Zeitgenosse, Zeitungsleser, Reisender, Mitreisender,<br />

Wartender (immer auf etwas), Patient, Verbraucher etcetera –<br />

es läßt sich kaum feststellen, wievielen „Kreisen“ man ange-<br />

hört (auch „Greis“!), zwangsläufig, denn trete ich bei den Rau-<br />

chern <strong>aus</strong>, bin ich bei den Nichtrauchern. Da sieht man mal das<br />

Verwickelte der gesellschaftlichen Ordnung; denn entweder ge-<br />

17 Vgl. Brief an Gottfried und Johanna Kinkel vom 9. März 1846.<br />

Der Wasserfall


1960 Pestalozzi<br />

hörst Du zu den Briefmarkensammlern (Philatelisten) oder zu<br />

denen, die das nicht tun, zu den Vogel-lieb-habern oder zu de-<br />

nen, die sich davon freihalten; zu den Habern oder den Nichts-<br />

habern.<br />

22. Mai<br />

Burckhardt wußte, daß mit großen Mitteln zwar von allen<br />

Seiten für die Forschung gesorgt werde, weil das Jahrhundert<br />

und seine Mächtigen sie brauchen, daß aber eines Tages die<br />

Mutter aller Forschung, die Bildung, abhanden kommen könne.<br />

– Nun, der Tag wäre da. Denn Flugzeuge und Atombomben<br />

brauchen keine Bildung, sie haben Rechenmaschinen und ein<br />

stark entwickeltes Selbstbewußtsein, das sie ihre Werke für<br />

das höchste an menschlicher Leistung hinstellen läßt – was nur<br />

dadurch möglich ist, daß die große Masse der Beherrschten<br />

das glaubt und bezahlt. Es wird nämlich um diese Atomphysik<br />

genau so ein Weihrauchnebel verbreitet wie um irgendeine mit-<br />

telalterliche Heiligenzehe. Dantes Gott überläßt das ganze De-<br />

tail en bloc einem dämonischen Wesen, welches für nichts als<br />

für Veränderung sorgt, für das Durcheinanderschütteln der Er-<br />

dendinge (s. „Inferno“ VII, 73–96).<br />

Aber ich wollte doch nichts mehr sagen.<br />

27. Mai<br />

Die ersten Amseleier sind aufgegangen, gestern und heute.<br />

Kleine nackte Dinger mit zwei riesigen Augen – das ist das<br />

größte an ihnen. Auch der Vater der Familie läßt sich jetzt zum<br />

Futter bringen herbei, aber er ist sehr scheu. Während sie sich<br />

ohne Schüchternheit in allen Lagen photographieren läßt, ist er<br />

offenbar Mohammedaner und mag von seinem Bilde nichts wis-<br />

sen. Ich bin sehr gespannt, ob von den bisherigen Aufnahmen<br />

bei teilweise schlechten Lichtverhältnissen etwas Brauchbares<br />

her<strong>aus</strong>kommt. Ich hoffe, daß ich sie nächste Woche entwickeln<br />

kann. Ich hab auch den Filmpack mit den Planfilmen verknipst<br />

(da sollte ursprünglich sehr was andres draufkommen).<br />

Auf Deine Frage, was ich tue, kann ich nur antworten: zäh-<br />

len. – Und dann bin ich, eine Belegstelle <strong>aus</strong> Burckhardt su-<br />

chend, in den „Kosmos“ von Alexander von Humboldt – den<br />

Burckhardt noch als Student in Berlin gesehen – hineingeraten<br />

und werde die vier Bände in einem Zuge lesen. Obwohl zwan-<br />

zig Jahre später geboren als Goethe, kann man ihn schon als<br />

Zeit- und Ranggenossen des alten Herrn von Weimar ansehen.<br />

Ein Feuerwerk von Ideen in allen Zweigen der Naturforschung,<br />

eine eiserne Energie, beständig etwas Vernünftiges zu tun, ein<br />

wirklich weltweiter Horizont, eine stählerne Gesundheit: in den<br />

Tropen Südamerikas wie im Eise Rußlands, Bergsteiger, See-<br />

fahrer – damals um 1800 – und dazu die Begabung auch in ei-<br />

nem gefährlichen Unternehmen nicht zu verzagen, sondern das<br />

zu finden, was dabei schön und erhaben ist, eine ungeheure<br />

Belesenheit in den Schriftstellern der Antike wie in denen der<br />

Gegenwart, seiner selbstverständlich – und bei alldem ist der<br />

Mann 90 Jahre alt geworden. – Ich komme mir dabei sehr klein<br />

und unnütz vor: Was ist das Resultat all meiner Mühe? Nichts.<br />

Als einer der von Burckhardt mit offnem Hohn betrachteten<br />

Schulmeister hat man seine Zeit und sein Leben damit hinge-<br />

bracht, „den dreckigen Kindern von fremden Leuten das ABC<br />

und das Einmaleins einzutrichtern“, damit den Weltzustand be-<br />

fördernd, den wir jetzt haben. Merkwürdig bleibt, daß Burck-<br />

hardt das sociale Problem nie berührt hat, in einem Lande, in<br />

dem Pestalozzi starb, als Burckhardt neun Jahre alt war, Pesta-<br />

lozzi, der gesagt hatte: „Mich jammerte des Elends, in das ich<br />

das Volk um mich her versunken sah.“ 18 Freilich in der reichen<br />

Philisterstadt Basel ist ihm da wohl nicht viel zu Gesicht ge-<br />

kommen. Es ist immer die Frage: Ist „Iphigenie“ nur für Leute<br />

18 Frei nach Johann Heinrich Pestalozzi, Wie Gertrud ihre Kinder lehrt.<br />

34 35


1960<br />

da, die 8–10 M Eintrittsgeld bezahlen können? Ist das „Volk“,<br />

dessen oft widrige Arbeit man stillschweigend als selbstver-<br />

ständlich hinnimmt, auch zu den „Menschen“ zu zählen? Erst<br />

wenn die Scheißgrube überläuft, wenn man auf dem Glatteis<br />

die Knochen bricht, regt man sich über die auf, die das hätten<br />

verhüten sollen. Aber ich wollte ja nichts mehr sagen.<br />

28. Mai<br />

Gestern kam ein Schüler der 10. Klasse der Hanno-Günter-<br />

Schule zu mir, ein Enkel des früheren Polizeikommissars Voigt 19 ,<br />

der ein kreuzbraver Mensch war. Der Junge suchte Material<br />

zur Geschichte von <strong>Waldheim</strong>. Rührend, wie so etwas immer<br />

mal wieder lebendig wird, dieses Interesse am Speziellen ei-<br />

ner Vergangenheit, die doch sehr lückenhaft überliefert ist. (Ich<br />

könnte Dir Dinge sagen, die keiner weiß!) Er muß nach seinem<br />

19 Als nach dem Ende des NS-Regimes eine Bürgschaft nötig war, schrieb <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>:<br />

Gutachten<br />

„<strong>Waldheim</strong>, den 16.4.1946<br />

Herr Polizei-Kommissar Paul V o i g t ist mir <strong>aus</strong> seiner dienstlichen Tätigkeit seit<br />

vielen Jahren bekannt. Bereits vor 1933 unterschied er sich vom durchschnittli-<br />

chen Polizeibeamten durch eine feine Kunst der Menschenbehandlung. Seine Ar-<br />

beiterfreundlichkeit, sein Mitgefühl mit den Bedrückten werden vielen noch in<br />

Erinnerung sein. Um ein Beispiel anzuführen: Es war immerhin ein seltnes Bild,<br />

zu sehen, wie der Polizeigewaltige im Dienst seine Zigaretten an Arbeitslose ver-<br />

teilte, die gerade an der Marktecke standen. Im Jahre 1933 wurde Herr Voigt sel-<br />

ber verhaftet; die neuen Machthaber fühlten sehr deutlich, daß dies nicht ihr<br />

Mann war. Ich selbst wurde am 17. März 1933 wegen Gefährdung des nationalen<br />

Aufbaues <strong>aus</strong> dem Dienst entfernt. Herr Voigt blieb mir gegenüber unverändert<br />

freundlich, während mancher andere es streng vermied, mit mir gesehen zu wer-<br />

den. Bei der Beurteilung der Bedeutung der Zugehörigkeit zur NSDAP möchte<br />

doch klar unterschieden werden, ob jemand in seiner täglichen Lebenspraxis na-<br />

tionalsozialistische Methoden angewendet oder ob er nur Parteibeträge bezahlt<br />

hat, wie man sie etwa in eine Versicherung einzahlt, um gegen gewisse Unfälle<br />

geschützt zu sein. Dieser letzteren Gruppe von Parteigenossen sollte baldigst die<br />

Möglichkeit gegeben werden, ihren guten Willen, ihre Kenntnisse und Begabun-<br />

gen in den Dienst des Neuaufbaues zu stellen. <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> Schulleiter“.<br />

Mittelschulabschluß 2 praktische Jahre durchmachen – und will<br />

dann Geschichte studieren. Davor hab ich ihn allerdings ge-<br />

warnt und werde diese Warnung wiederholen. Denn dieser Be-<br />

trieb ist sehr einseitig, wie er das zu 95% immer war. Man soll<br />

sich nicht dazu drängen, durch Brillen zu gucken, die jeweils<br />

Mode sind, es gibt noch genug Dinge auf der Welt, an deren<br />

Anblick mit eigenen Augen man sich freuen mag.<br />

36 37<br />

3. Juni<br />

Heute früh war das Amselnest leer! Ich erschrak zunächst<br />

und fürchtete, ein Räuber habe die fünf kleinen Vögel geholt.<br />

Aber dann sah ich sie hinter dem H<strong>aus</strong>e auf der Wiese herum-<br />

hüpfen – die Alten immer in der Nähe – dann die Erdbeeranlage<br />

des H<strong>aus</strong>wirtes [Döhlert] besichtigen. Nach den Mitteilungen im<br />

Vogelbuche stimmt das auch annähernd, da werden etwa 13<br />

Tage als Dauer des „Nestlingslebens“ angegeben. Heute abend<br />

will ich mit dem Entwickeln beginnen. Ich bin sehr gespannt,<br />

ob etwas Gescheites und Brauchbares her<strong>aus</strong>kommt. Das dau-<br />

ert bloß seine Zeit, weil diese panchromatischen Platten und<br />

Filme jeder 10 Minuten in absoluter Finsternis entwickelt wer-<br />

den müssen. Jedenfalls wenn die Lichtverhältnisse einigerma-<br />

ßen <strong>aus</strong>reichend waren bei den Aufnahmen, dann müßte eine<br />

recht nette Serie von Bildern her<strong>aus</strong>kommen. Ich fürchte nur<br />

immer die Reflexwirkungen der Fensterscheibe, hinter der das<br />

Nest steht. Na, wir werden das ja heute abend sehen.<br />

6. Juni<br />

Amselfotografie<br />

Gestern, zum 1. Feiertag, ging ich freiwillig zu einer „Kund-<br />

gebung“ junger Pioniere auf dem Markte. Es sprach nämlich<br />

der frühere Rennfahrer Manfred von Brauchitsch, der 1954 von<br />

drüben nach hüben überging. Er begründete das mit dem ganz<br />

offenen Wiederaufleben des Nazismus in der Bundesrepublik.<br />

Er stammt <strong>aus</strong> einer alt-preußischen Offiziersfamilie, sein On-


1960 Nürnberg<br />

kel 20 hatte seinerzeit das 100000 Mann-Heer der „Reichswehr“<br />

aufgebaut und ist, soviel ich mich erinnere, durch Hitler umge-<br />

kommen. Was dabei der ganzen Familie zugefügt wurde, weiß<br />

man nicht. Aber es erklärt, daß dieser Herr – der drüben als Re-<br />

präsentationsfigur bei Mercedes eine sehr <strong>aus</strong>kömmliche Stelle<br />

haben könnte – lieber hier zum Kampfe gegen den Nazismus<br />

auftritt. Nach der Marktrede ging es nach der Dresdener Straße,<br />

wo ein „Autorennen junger Pioniere“ stattfand mit selbstge-<br />

bauten, vierräderigen Karren, einer saß drauf, einer schob.<br />

Nach 50 m Platzwechsel, dann noch 150 m mit einer Umkehr-<br />

kurve drin. Eine Tribüne war am Ende der Straße aufgebaut, wo<br />

die Leiter und Brauchitsch das Rennen abnahmen, das heute<br />

in Leipzig von den Siegern in den kleinen Orten gefahren wird.<br />

[…] Brauchitsch machte einen guten Eindruck, einfach, klar und<br />

in anständiger Haltung.<br />

Nürnberg, den 30. Juni<br />

Gestern abend 8h besuchte ich einen Vortrag von Niemöl-<br />

ler – das war zunächst rhetorisch eine Meisterleistung, etwa<br />

1¼ Stunde klar, tapfer, gescheit und ohne jeden pastoralen<br />

Ton. Weder der Amerikaner noch der Russe würden eine Gip-<br />

felkonferenz zustande bringen. Wenn es eine gäbe, dann 1985<br />

aber veranstaltet von Peking, Delhi und Johannisburg, da wer-<br />

den die Gelben, die Braunen, Inder und die Schwarzen Afrikas<br />

über das Schicksal der Weißen entscheiden. – Die waffenlosen<br />

20000 Studenten in Tokio sind die bedeutendsten Sieger der<br />

letzten Wochen gewesen.<br />

Heute abend – den ganzen Tag von ½7 h früh bis ½ 6<br />

abends hab ich Türen und Fenster gestrichen – gehe ich in das<br />

Orgelkonzert in der Lorenzkirche. Morgen geht das Pinseln wei-<br />

ter und jetzt geht die Tinte <strong>aus</strong>. […]<br />

20 Walther von Brauchitsch (1881–1948), Oberbefehlshaber des Heeres von 1938–<br />

1941, starb vor seinem Prozeß vor einem britischer Militärgericht.<br />

Kann ich denn mit nach Seiffen kommen? Da wollen wir uns<br />

mal so richtig <strong>aus</strong>ruhen; Du denkst, ich verjubele hier in der<br />

westlichen Großstadt – o, so was Naives. Ich sah von der Stadt<br />

nichts, ich hab einmal rasch ein paar eilige Wege besorgt, wo<br />

ich erst die Straßen suchen mußte. Daß ich einen Schnapper<br />

für Stupsens Türe fand, war das Beste dabei. Der muß passen<br />

– oder ich hacke die Tür klar oder reiße die Wand weg.<br />

Du magst es glauben oder nicht: Mir imponiert nichts von<br />

der westlichen Welt. Schon die Zeitung – ich lerne jetzt unsre<br />

schätzen. Ich werde versuchen, ein paar von hier mitzubringen,<br />

sonst glaubt man mir nicht. Gewiß, es gibt viele neue schöne<br />

Häuser, eine großartige Drogerie, wo ich Farbe hole, alles rich-<br />

tig. Aber diese schönen Kulissen stehen am Wege zur Hölle.<br />

Sonntag abend, den 3. Juli<br />

Heute vormittag war ich im Germanischen Museum, wo ein<br />

Dr. August Bickel (im Rahmen der Internationalen Orgelwoche)<br />

einen Vortrag hielt in einer Sonder<strong>aus</strong>stellung „Das Musik-In-<br />

strumentarium in Kunstwerken des Mittelalters“. Man hatte im<br />

Refektorium des Museums eine Anzahl von Photographien, jede<br />

etwa 50 x 70 cm, <strong>aus</strong>gestellt, auf denen Ausschnitte <strong>aus</strong> mittel-<br />

alterlichen Bildwerken zu sehen sind, in denen Instrumente<br />

gespielt werden. Der Vortrag, sehr gut, ging auf diese Bilder<br />

in historischer Reihe ein und gab bei den meisten Instrumen-<br />

ten durch ein Tonband eine erhaltene Musik mit dem betr. In-<br />

strument wieder, ganze Stücke, nicht bloß einzelne Tonproben.<br />

Ein Schlußsatz ist so bemerkenswert, daß ich ihn Dir schreibe:<br />

„Wer selbst musiziert, tritt in ein ganz anderes Verhältnis zur<br />

Vergangenheit als wer nur Bilder betrachtet. Er schlüpft gewis-<br />

sermaßen in die Haut der Vergangenheit und erlebt sie von in-<br />

nen her.“ Das ist richtig. Und ich freue mich immer wieder, wie<br />

wir in dem klingenden H<strong>aus</strong> am Eichberg 21 in den letzten Jah-<br />

21 Vormalige Wohnung der Familie Schade in <strong>Waldheim</strong>, Andreas-Hecht-Straße 1.<br />

38 39


1960 Einzelner und Gemeinschaft<br />

ren selbst erlebten, wie man in die Musik hineinwachsen kann.<br />

Und dabei haben wir – wir alle – ganz unbewußt einiges mit-<br />

bekommen, Kunst und Kultur vergangener Jahrhunderte von ei-<br />

ner tieferen Grundlage her zu erfassen als es bei einer bloß in-<br />

tellektuellen Bemühung möglich ist. Uns klingt Barock und Ro-<br />

koko mit Corelli, Bach, Mozart in den Ohren.<br />

<strong>Waldheim</strong>, Mittwoch, den 10. August<br />

Bei dem Büchner 22 vergiß nicht, bei Unklarheiten in das<br />

sehr <strong>aus</strong>führliche Register zu schauen, da ist allerhand erklärt.<br />

Daß den Schülern mal der ganze Revolutionskram über sein<br />

wird, verstehe ich. Mir ist auch die Kristallwelt viel lieber als die<br />

Unmenschlichkeiten und die armseligen Menschlichkeiten des<br />

revolutionären Getriebes, in dem in vergrößertem Maßstabe die<br />

Erbärmlichkeit des homo sapiens sichtbar wird.<br />

Gestern hab ich Briketts aufgeschichtet und muß das heute<br />

fertig machen. So ein Brikettstoß kann als großes Kristallmo-<br />

dell angesehen werden, in dem die einzelnen Briketts die Mo-<br />

leküle vorstellen, <strong>aus</strong> denen der Kristall sich aufbaut. Nur – der<br />

macht das selber und hier bin ich der Erbauer, den dann die<br />

halben Stücke verdrießen.<br />

12. August<br />

Bei der Lektüre des Büchner vergiß nie, daß es die Schrif-<br />

ten eines sehr jungen, früh gestorbenen Menschen sind, der<br />

die Schriften vielleicht nicht alle in dieser Form hätte drucken<br />

lassen.<br />

26. August<br />

Lies beiliegenden Zeitungs<strong>aus</strong>schnitt, heb ihn bei den Ver-<br />

ordnungsblättern auf – und beachtet ihn. Das heißt in diesem<br />

22 Gemeint ist vermutlich die Gesamt<strong>aus</strong>gabe im Insel-Verlag: Georg Büchner, Werke<br />

und <strong>Briefe</strong>, Wiesbaden 1958.<br />

Falle, von der Freiwilligkeit zur Teilnahme an der „Ganztags-<br />

schule“ Gebrauch machen. Ich weiß, daß möglicherweise ein<br />

gelinder Druck <strong>aus</strong>geübt wird, der diese „Freiwilligkeit“ <strong>aus</strong>lö-<br />

sen soll. Aber da heißt es „principiis obsta!“ [Widerstehe den<br />

Anfängen!] Die Kinder sollen sich von Anbeginn da auf nichts<br />

einlassen, die „Freiwilligkeit“ betonen und einfach nicht hinge-<br />

hen. Wenn die Gemeinschaft gedeihen soll, muß erst der Ein-<br />

zelne für sich allein sich zu einem Wertfaktor entwickeln. Das<br />

geschieht eben nicht in der Herde. Jeder Schäferhund wird ein-<br />

zeln abgerichtet. Und daß sie dauernd Faulen und Unfähigen<br />

helfen sollen, ist nicht nötig. Gesetze sind da, um beachtet zu<br />

werden, auch die, die für den Einzelnen günstig sind. Kein Di-<br />

alektiker – oft Fremdwort für „Schwätzer“ – wird mich von die-<br />

ser Meinung abbringen. Man muß schon den Mut haben, zu<br />

sagen, daß auch Konzilien – in diesem Falle Parteisitzungen –<br />

irren können. Ich denke nicht dran, meinen Verstand für man-<br />

gelhafter zu halten als den in einer Parteisitzung entwickelten<br />

und wenn diese in 8800 m Höhe stattfindet.<br />

2. September 9 30 früh<br />

Schönsten Dank für den eben erhaltenen lieben Brief. Ges-<br />

tern hab ich – um die letzten Filme des Filmpacks zu verknip-<br />

sen – einige meiner Kristalle photographiert und dann abends<br />

von 8 h bis 12 30 neun von dem Filmpack entwickelt; ich glaube,<br />

es werden sich ganz nette Bilder ergeben. Heute abend will ich<br />

mal Kopien davon machen. Wenn sie gut werden, bringt Dir<br />

Großmutti Abzüge mit. Von allen?<br />

Heute 16 30 werde ich den Daumen halten. Es wäre falsch,<br />

zu sagen, ich will an Euch denken – das geschieht ununter-<br />

brochen. Aber gespannt bin ich auf das Ergebnis des so lange<br />

erwarteten Vorspielens. Daß Stups so fleißig geübt hat, freut<br />

mich ganz <strong>aus</strong>nehmend. […] Dabei sind Gewandtheit im Spiel<br />

und Verständnis für echte Musik zugleich mit gewachsen. Die-<br />

40 41


1960 „Ersatzgott“<br />

sen Besitz kann ihr niemand nehmen. Und Dir auch nicht. Ich<br />

sehe noch Dein skeptisches Gesicht in dem Moment, als ich<br />

Dir sagte: Du lernst eben mit. Du bedauertest, daß der kleine<br />

Stups mit seinem Violinchen allein zu Pönisch 23 stapfen sollte.<br />

Wieviel hast Du dabei selber gewonnen. Die damals uns über-<br />

legen belächelt haben, mögen sich wohl nicht gern daran erin-<br />

nern. Wenn ein Mensch sich etwas fest vornimmt, ist ihm mehr<br />

möglich als man glaubt. Außerdem ist es mir ziemlich gleich-<br />

gültig, was „man“ glaubt.<br />

Entschließt Euch noch, wenigstens teelöffelweise, etwas<br />

von der Musiktheorie zu erfassen. Und wenn es täglich eine<br />

Kleinigkeit ist von zehn Minuten. Hilfsbücher habt Ihr. Und was<br />

im Harmonielehrebuch nicht beim ersten Überlesen klar wird,<br />

kann durch Nachlesen im Riemann [Musiklexikon] geklärt wer-<br />

den. Wie hat sich Beethoven oder Bach und Mozart, die man<br />

nicht als verknöcherte Grammatiker betrachten kann, mit dem<br />

Erwerben der theoretischen Einsichten abgemüht. Einfach weil<br />

sie erkannten, daß hinter der Schönheit des melodischen Klan-<br />

ges und der Harmonie geheime Gesetze wirksam sind – die<br />

man kennen sollte. Das ist ähnlich wie in der Kristallwelt: es<br />

genügt nicht, sich an der schönen Form zu freuen. Diese Freude<br />

wird immer größer, je mehr man von der geheim waltenden Ge-<br />

setzmäßigkeit des Aufb<strong>aus</strong> versteht. Daß das nicht immer leicht<br />

ist, weiß ich. Aber es ist hier ähnlich wie beim Üben, das an-<br />

fangs auch nur pflichtmäßig geschieht – bis man erfaßte, wo-<br />

rauf es ankommt. Na, der Knoten wird auch noch reißen. Na-<br />

türlich, zuletzt bleibt es ein Geheimnis, ein ewiges Rätsel: wie<br />

kommt es, daß mathematisch bestimmbare Schwingungen der<br />

Luft, die man durch Blasen von Flöten, Orgelpfeifen, durch Zup-<br />

fen, Schlagen, Streichen von Saiten hervorbringt, Erschütterun-<br />

gen bewirken, wie wir das bei einer Sonate erleben.<br />

23 Gisela Schades Geigenlehrer in <strong>Waldheim</strong>.<br />

6. September<br />

Bitte reg Dich nicht auf! Es ist doch lächerlich, daß Leute<br />

sich beklagen, daß Ihr seit ½ Jahre in L [eipzig] seid und sie<br />

noch nicht „eingeladen“ habt. Als wenn es nicht auch so mög-<br />

lich wäre, daß ich eine befreundete Familie, die zugezogen ist,<br />

von mir <strong>aus</strong> – ohne besondre Einladung – mit einem netten<br />

Einzugsgeschenk überraschte und dabei mal nach meinem Pa-<br />

tenkinde sehe. Das ist jedenfalls der mir gemäße Standpunkt.<br />

Von Überheblichkeit ist höchstens bei denen die Rede, die je-<br />

den in ihren Lebensstil zwingen wollen. Davon ist aber bei<br />

Euch doch nichts zu spüren, niemand verlangt, daß die andern<br />

auch Musik machen sollen. […] Diese Narren! Ich las in den<br />

Schaufenstern ein Plakat für eine Kirchenmusik mit der Über-<br />

schrift: „Gebt unserm Gott die Ehre“. Bitte betone dabei das<br />

Wort „unserm“ – da hast Du diese ganz verfluchte Massenhal-<br />

tung: wir essen Bockwurst – also müßt Ihr welche essen; wir<br />

schätzen Café-Besuche (besonders wenn sie andre bezahlen)<br />

also müßt Ihr das auch tun. Wir verplempern die Zeit – also<br />

müßt Ihr sie auch verplempern. Der „Gott“ ist nämlich für je-<br />

den etwas andres: Theater, Kino, Cigarre, Klatsch – alles kann<br />

schlechterdings „Gott“ sein, das heißt höchster Lebenswert.<br />

Dort steckt die wahre „Überheblichkeit“, sie sollen getrost bei<br />

ihrem „Gottersatz“ oder „Ersatzgott“ bleiben – aber nicht die<br />

für überheblich erklären, denen die höchstmögliche Entwick-<br />

lung der Kräfte ihrer Kinder als wichtigste Erziehungsaufgabe<br />

vorschwebt. […]<br />

Daß das so schwer ist – den andern gelten lassen, das<br />

sollte man nicht für möglich halten.<br />

Dresden, den 16. September<br />

Was hat Stups auf dem Bau zu tun? Nur Vorsicht, daß sie<br />

sich dabei nicht beschädigt. Was wollte die Schule tun, wenn<br />

die Eltern sich geschlossen dem widersetzen? Wo bleibt die be-<br />

42 43


1960 „F<strong>aus</strong>t“<br />

rühmte „Befreiung“? Jawohl, im Rahmen des Erlaubten dürft Ihr<br />

frei umhergehen, jeder von einer Zellenwand zur andern, oder<br />

auch an der Wand lang, möglichst an der Hand eines „Führen-<br />

den“, der „Anleitung“ oder „Hinweise“ gibt.<br />

<strong>Waldheim</strong>, den 4. Oktober<br />

Lies mal ruhig das Foerster 24 -Büchlein, „Warnung und Er-<br />

mutigung“; vielleicht gibt das einige Hinweise für Umgang mit<br />

schwierigen Leuten. Daß sehr viel Selbstbeherrschung nötig ist<br />

– das verstehe ich. Aber sie ist in diesem Falle nötig. Es wäre<br />

jedenfalls sehr verkehrt, in der gleichen Tonart aufzuspielen,<br />

weil das vielleicht erwartet wird. Es ist immer besser, das Uner-<br />

wartete zu tun, der Unfreundlichkeit eine gleichmäßige Freund-<br />

lichkeit entgegenzusetzen und nie mit gleicher Münze zu be-<br />

zahlen. Bosheit muß man erschweren, nicht erwidern.<br />

Daß die „natürliche“ Reaktion anders ist, das weiß ich auch<br />

– aber dabei ist noch weniger zu erreichen.<br />

3. November<br />

Merkwürdig, wie selten man jemand trifft, der Chrust-<br />

schows Sprache – mit dem Schuh auf den Tisch trommeln – für<br />

den ersten Naturlaut nimmt, der im „gebildeten Diplomaten-<br />

gespräch“ jener wohlgekleideten Lackaffen hörbar wird. Da re-<br />

den die Leute auf einmal von „Anstand“, von „Manieren“ – als<br />

ob es eben „anständig“ wäre, Millionen in den Tod zu jagen<br />

– es muß nur mit den wohlgezirkelten Diplomatensätzen ge-<br />

schehen. Ich habe Lust, nur noch mit <strong>aus</strong>gefransten Hosen, Lö-<br />

chern im Ellbogen etcetera zu gehen, nur um mich von dieser<br />

Welt auch in der äußeren Form des Auftretens zu unterschei-<br />

den. Diese „Äh-äh“-Welt.<br />

24 Karl Foerster (1874–1970), Blumenzüchter und Schriftsteller. <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> besuchte<br />

Karl Foerster des öfteren in seiner Gärtnerei in Potsdam-Bornim.<br />

9. November<br />

Was ich tue, fragst Du. Ich brüte über dem zu Weihnachten<br />

fälligen Bilderbuche, das ich nun so rasch als möglich fördern<br />

muß, weil ich es Dir vorher mal zeigen will. Ich hoffe, daß es<br />

ganz nett wird. Es ist die Amselgeschichte, von der ich einige<br />

sehr nette Photographien habe, die das Brutgeschäft in einzel-<br />

nen Etappen zeigen. Es ist also nicht so, daß „nichts“ dabei<br />

her<strong>aus</strong>gekommen wäre.<br />

Den „F<strong>aus</strong>t“ in einem Zuge zu interpretieren, ist natürlich<br />

nicht einfach – denn es stecken sechzig Jahre Arbeit eines Ge-<br />

nies in diesen bedruckten Seiten. Man kann da nur sehr an-<br />

deutungsweise etwas Zusammenfassendes sagen. Die Haupt-<br />

sache bleibt, die Schüler zur dauernden Beschäftigung mit die-<br />

sem Weltgedicht zu verlocken. Fatal wäre der Versuch, diesen<br />

Geniestreich Goethes zur Glorifizierung heutiger Wunschbilder<br />

zu verwenden. Aber vielleicht muß selbst das Einmaleins dazu<br />

herhalten. Sollte nicht in der Goethe-Gesellschaft der uns von<br />

Weimar her bekannte Mayer 25 über ein ähnliches Thema im No-<br />

vember sprechen? Ich hab – wegen eigener Mangelhaftigkeit –<br />

die Ankündigung damals nicht recht verstanden. Vielleicht fin-<br />

dest Du Zeit und Thema in dem Monatsprogramm der „kulturel-<br />

len“ Veranstaltungen angezeigt. Sieh doch bitte mal nach und<br />

schreib mir das mit.<br />

12. November<br />

Daß man auf den ersten Anhieb den „F<strong>aus</strong>t“ „verstehe“ –<br />

ist weder möglich noch nötig. Ich denke an den Leutnant, der<br />

im Schützengraben einen lesenden Soldaten fragte: „Was liest<br />

Du denn da?“ – „Goethes F<strong>aus</strong>t, Herr Leutnant.“ – „Verstehst Du<br />

denn das?“ – „Nein, Herr Leutnant, aber es ist wunderschön!“<br />

25 Hans Mayer (1907–2001), Germanist.<br />

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1960 Lyrik und Physik<br />

Das traf das Richtige; denn darauf kommt es an. Und all-<br />

mählich wird sich auch dies und das dem Verstand und dem<br />

Wissen erschließen, die nach einem Gesangbuchliede 26 „mit<br />

Finsternis umhüllet“ sind – „umhüllet“, das heißt sie selber<br />

können hell sein, nur drum herum ist Finsternis.<br />

17. November<br />

Ich las diese Nacht ein furchtbares Buch: Lord Russell<br />

of Liverpool „Geißel der Menschheit“, in dem an Hand von<br />

Kriegsverbrecherakten die in Polen, Böhmen, Deutschland,<br />

Frankreich, Holland von den Nazis verübten Greueltaten dar-<br />

gestellt werden. Am liebsten schriebe ich dem Verfasser einige<br />

nötige ergänzende Gedanken, die er zu denken vergessen hat.<br />

Oder soll ich der Partei beitreten und politisch tätig werden?<br />

Ich glaube nicht, daß ich in diesen Pflaumentoffelverein passe.<br />

– Goethe und seine Zeit haben auch ihre Sorgen gehabt, aber<br />

solche nicht wie wir heute.<br />

19. Dezember<br />

Was ist eine ZSGL 27 -Sitzung? Ich kann mir dabei gar nichts<br />

vorstellen. So ungebildet läuft wohl außer mir niemand durch<br />

die Gegend.<br />

Jugend: Es wäre doch falsch zu glauben, daß es „der Ju-<br />

gend“ heute schlechter gehe als früher. Ich fuhr zwar keine<br />

Straßenbahn, aber ich gab – in dem weiträumigen Dresden –<br />

mit 17 Jahren etwa 15 Privatstunden in der Woche, dazu der ei-<br />

gene Unterricht, in dem 34 Stunden verpaßt wurden, dazu täg-<br />

lich mit der Eisenbahn zur Schule fahren. Schularbeiten gab es<br />

damals auch in Fülle. Ohne mein sehr gutes Gedächtnis hätte<br />

ich das nicht leisten können. Gelegentlich schrieb ich nächte-<br />

26 Liebster Jesu, wir sind hier (17. Jhdt.)<br />

27 Zentrale Schulgruppenleitung (der Freien Deutschen Jugend).<br />

lang Manuskripte eines Zeitungsromanschreiberehepaares ins<br />

Reine, die Folioseite für 15 Pfennige. Daß man dabei keine Zeit<br />

für „Vergnügungen“ hatte, dürfte einleuchten. Die Lustbarkei-<br />

ten der Großstadt konnten nicht gefährlich werden, man war<br />

froh, wenn man seinen Kram zu Rande brachte und fiel dann<br />

todmüde zusammen.<br />

Mit meinen Arbeiten sehe ich jetzt etwas lichter, das zweite<br />

Exemplar des Vogelbuches wird morgen fertig und wird dann<br />

nach Dresden kommen. Das Nürnberger ist heute „dringend“<br />

weggeschickt und wird dann noch rechtzeitig ankommen. Von<br />

Dr. Kröpp und von Seidel bekam ich ein Päckchen, das zu öff-<br />

nen noch keine Zeit war. Ich bin eben nicht mehr so flink wie<br />

in früheren Zeiten. Und wie Du!<br />

30. Dezember Freitag abends 7 30<br />

Das Treffen 28 um 3h war sehr inhaltreich. Nach belanglosen<br />

Worten des Sandner sprachen drei ehemalige Schüler – jetzt<br />

würdige Herren – angekündigt von einem vierten, Dr. Wolf.<br />

1) Der erste erschien wie ein glänzender Meteor: Fritz<br />

Mierau, jetzt Assistent mit Vorlesungsauftrag am slawistischen<br />

Universitätsinstitut Berlin, sprach zu dem selbstgewählten<br />

Thema: „Lyrik und Physik“ und widerlegte mit Geschick und<br />

in elegantester Form die heute aufkommende These, daß Ge-<br />

dichte sich eigentlich überlebt haben. Er erzählte Erlebnisse<br />

<strong>aus</strong> seiner Studienzeit in Moskau und Leningrad, von einer<br />

dort lebendigen – nicht organisierten – Begeisterung für das<br />

Gedicht, brachte: Hermann Hesse („Seltsam, im Nebel zu wan-<br />

dern…“), Brecht, Majakowski, Ehrenburg. „Wer das Gedicht in-<br />

nerlich versteht, ist nach der Lektüre ein andrer: es hat ge-<br />

wirkt.“ – Physik ist nur eine Seite, nicht das Ganze. – Und das<br />

28 Gemeint ist das Schülertreffen an der Döbelner Lessing-Oberschule, deren Rektor<br />

von 1955–1974 Karl Sandner war.<br />

46 47


1960<br />

alles mit Temperament in glänzend gebauten Sätzen, die man<br />

hätte nachschreiben sollen.<br />

2) Wegerdt (Ingenieur) sprach über Grundlagen in der Me-<br />

tallindustrie: auch weitgespannte Gedanken. Geschickt, wie er<br />

die Rolle von Empirie und Wissenschaft, Handwerk u. Industrie<br />

darstellte und jedem seinen Wert gab.<br />

3) Fischer erzählte von elektronischen Rechenmaschinen,<br />

gewandt, frei. Wie er die Phrase vom „Elektronengehirn“ auf-<br />

löste, geistreich liebenswürdig.<br />

Ich muß sagen, wenn diese Generation die Ruder recht in<br />

die Hand bekommen wird, wozu sie auf dem besten Wege sind,<br />

da wird vieles gerettet werden.<br />

48 49<br />

1961<br />

<strong>Waldheim</strong>, den 1. Januar<br />

Heute las ich wieder mal die „Symbolische Physik“ von<br />

Eberhard Buchwald, den wir in Weimar über Goethes Farben-<br />

lehre 1 hörten. Es ist doch ein gescheites Buch. Ich kam durch<br />

den Vortrag von Mierau wieder darauf. Da es in elender Draht-<br />

heftung nur broschiert herumstand, habe ich gleich meine Heft-<br />

nadel vorgeholt, den Draht entfernt, es neu geheftet, Papp-<br />

deckel zugeschnitten und nun liegt es in der Presse, daß der<br />

Kleister trockne. Morgen kriegt es Rücken und Frack und hat<br />

dadurch „einen Wertzuwachs erfahren“. So sagt man das wohl.<br />

Ich sehe allerdings hier noch einiges herumstehen, dem das<br />

auch bekommen würde. Es ist bloß gut, daß man das selber<br />

machen kann – und das kostet weniger Zeit, als wenn ich erst<br />

zum nächsten Buchbinder nach Hartha fahre, dort Bittgesuche<br />

loslasse, wochenlang warte, paarmal vergeblich hingehe und<br />

so weiter. Und Geld kostet es keinen Pfennig. Und das ist für<br />

einen <strong>aus</strong>gesprochenen Geizkragen auch wichtig! […]<br />

Sylvester und Neujahr vergingen in Stille. Heute vormittag<br />

erschien Brückner – der ehemalige Schüler <strong>aus</strong> Roßwein, der<br />

zum Besuche seiner Eltern hier ist, mit Kind und Kegel, ohne<br />

Einreiseschwierigkeiten. Aber drüben bei der Ausreise hat man<br />

Bedenken geäußert und gewarnt, daß er nicht mit einem Spio-<br />

nage-Auftrag <strong>aus</strong> dem Osten zurückkommen solle. Er ist als<br />

1 Der Physiker Eberhard Buchwald (1886–1975) hielt auf der Hauptversammlung der<br />

Goethe-Gesellschaft am 11. Juni 1954 in Weimar den Festvortrag: Farbenlehre als<br />

Geistesgeschichte. In: Goethe. N. F. des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft. Bd.<br />

16, Weimar 1954, S. 1–13.


1961 Die jungen Leute<br />

Physiker an einem Atom-Forschungs-Reaktor bei Karlsruhe sehr<br />

gut bezahlt beschäftigt. Aber vielleicht sollte man das alles gar<br />

nicht schreiben in dieser verrückten Welt, der „Spionage“ so<br />

eine Art Lebensluft zu sein scheint.<br />

2. Januar ½ 6 h abends<br />

Ich erinnere nicht mehr, ob ich Dir gestern von dem Be-<br />

suche des ehemaligen Schülers Brückner schrieb. Der ist mal<br />

eine Zeit studienhalber in einem Institut in Schweden gewesen,<br />

sah dort in der Bibliothek das „Glasperlenspiel“ von Hermann<br />

Hesse stehen, erinnerte sich, daß ich das im Unterricht emp-<br />

fohlen – und las in Schweden Herm. Hesse. Das ist doch ein<br />

schönes Beispiel von „Fernzündung“ – und von Aufmerksam-<br />

keit eines Schülers, der sich nach Jahren der Bemerkung eines<br />

Lehrers erinnert, in einer Umgebung, die seine Aufmerksamkeit<br />

durch viel Neues in Anspruch nimmt. Es ist also durch<strong>aus</strong> nicht<br />

alles „danebengefallen“, was so nebenher <strong>aus</strong>gestreut wurde.<br />

4. Januar nachm. 5 h<br />

Wenn ich an die jungen Leute denke am Freitag in der Dö-<br />

belner Oberschule, dann hab ich die Hoffnung, daß sie mal die<br />

armseligen Toffel, die heute sich sehr wichtig machen, zur Seite<br />

schieben werden. Leider dauert das noch einige Jahre. Aber<br />

kommen wird es bestimmt – wenn nicht inzwischen eine Ge-<br />

waltlösung die ganze Welt in Verwirrung bringt.<br />

10. Januar<br />

Eben bekam ich einen sehr guten Brief von Fritz Mierau,<br />

der in Döbeln über „Lyrik und Physik“ sprach, mit dem Sonder-<br />

druck eines seiner Aufsätze (20 S.) über „Die Rezeption der so-<br />

wjetischen Literatur in Deutschland in den Jahren 1920–1924“ 2 ;<br />

2 In: Zeitschrift für Slawistik, 1958, Bd. 3, Heft 2–4, S. 620–638.<br />

er verdanke dieser Arbeit seine Reise zum Slawistenkongreß<br />

nach Moskau. Eine Dissertation will er schreiben: „Der sowje-<br />

tische Roman in Deutschland 1927–1933“, dann Studien über<br />

einige russische Dichter Brjussow, Blok, Jessenin; über die Wir-<br />

kung einiger früherer Aufsätze Gorkis – und dann schreibt er<br />

für den Deutschlandsender regelmäßig Buchbesprechungen<br />

(Schatzkästlein, Sonntag 9 h). – So wachsen die Kerle heran,<br />

die man da auf den Bänken vor sich hatte: lang, schlaksig, die<br />

Jackenärmel wurden zu kurz – und nun stehen sie auf den Ka-<br />

thedern. – Schaut man zurück – dann ist das Leben doch recht<br />

schnell vorbeigegangen.<br />

Wor<strong>aus</strong> zu lernen: sich nicht aufregen – dazu ist viel zu we-<br />

nig Zeit. Es ist immer noch das Beste, sich am Schönen und an<br />

allem Positiven zu freuen – und vieles Negative durch einfaches<br />

Nichtbeachten zu vernichten.<br />

30. Januar<br />

Der „Grischa“ 3 ist ein beachtenswertes Buch, in dem der<br />

Kampf zwischen dem preußisch-deutschen Machtmechanismus<br />

und dem Sinn für das Recht an einem Einzelschicksal eines<br />

ganz kleinen Menschen – eben des Kriegsgefangenen Grischa –<br />

in sehr anschaulicher Weise dargestellt ist. Gewisse Kapitel muß<br />

man laut lesen, wie das Gartenfest der Offiziere bei dem Gene-<br />

ral von Lychow, wo der österreichische Offizier mal <strong>aus</strong>bricht. –<br />

Inzwischen hat sich diese Welt schon wieder sehr verwandelt.<br />

Der gestrige Tag verlief wie jeder – lautlos. […] Ich hab in<br />

dem Winckelmann von Dir gelesen. Der Her<strong>aus</strong>geber 4 stellt sich<br />

in dem „Einführung“ genannten Nachwort am Ende des Bu-<br />

ches als ein sehr intelligenter Marxist her<strong>aus</strong>. Man sieht, daß<br />

3 Arnold Zweig, Der Streit um den Sergeanten Grischa.<br />

4 Johann Joachim Winckelmann, Kleine Schriften und <strong>Briefe</strong>, Auswahl, Einführung und<br />

Anmerkungen von Wilhelm Senff, Weimar 1960.<br />

50 51


1961<br />

jedes Zeitalter ein Prisma ist – jeweils verschiedener Winkelver-<br />

hältnisse – das das Licht, das von den Dingen und den Men-<br />

schen <strong>aus</strong>geht immer wieder in andrer Weise bricht. Dieselben<br />

Menschen, Ideen, Vorgänge projizieren sich durch die Apparate<br />

der jeweils modernen Weltanschauungen in sehr verschiedener<br />

Weise. Und da sich diese Apparate dauernd wandeln, ändern<br />

sich die Bilder der Welt und der Menschen un<strong>aus</strong>gesetzt. Und<br />

nicht nur diese: Machtverhältnisse wandeln sich, kein Stein<br />

bleibt auf dem andern, Städte werden gebaut und zerstört.<br />

Eins bleibt: das ist das Schöne. Trotz aller weltanschaulicher<br />

Versuche, auch dieses in das Prokrustesbett der durch die je-<br />

weilige Macht sanktionierten Confessionen zu zwingen.<br />

20. Februar<br />

Ob ich den Stein „zum Guten Glück“ oder „zum guten<br />

Glück“ erkannte? Neieiein, ich las das auf der Karte – aber wie<br />

ich eben beim Nachsehen feststelle, steht da bloß: „Weimar,<br />

Stein des Glücks“. Es ist der Stein, den Goethe mit Beratung<br />

Oesers (bei dem Winckelmann in Dresden gewohnt hatte, ehe<br />

Oeser als Akademiedirektor nach Leipzig ging, wo Goethe ihn<br />

als Student kennenlernte und bei ihm zeichnete) am 5. April<br />

1777 errichtete. Der Kubus stellt „die feste Individualität“ dar<br />

und die Kugel den „Einfluß des Glücks“ auf diese, den Einfluß,<br />

den Verhältnisse und Menschen von außen unvorhersehbar auf<br />

das Individuum <strong>aus</strong>üben. Es ist das Monument des modernen<br />

Individualitätsbewußtseins. Es ist das Gegensymbol zum christ-<br />

lichen Kreuz. Das Denkmal ist ein Teil der gesammelten Werke<br />

Goethes, in dem er nicht in Worten, sondern im Symbol seine<br />

damalige Überzeugung <strong>aus</strong>spricht.<br />

Die Mond-Venus-Konstellation hab ich auch von meinem<br />

Fenster <strong>aus</strong> gesehen.<br />

Theoretisch ist der Satz, es sei undenkbar ohne weltan-<br />

schauliche Gebundenheit zu schreiben, schwer anzuzweifeln.<br />

Denn es ist eben jeder in seinen Anschauungsformen durch<br />

Daimon und Tyche, durch Individualität und „Glück“ bestimmt,<br />

ganz gleich, ob er sich dessen theoretisch bewußt ist oder<br />

nicht. Nur geschieht das Merkwürdige, daß die Schreiber mit<br />

theoretisch klarem Bewußtsein ihrer weltanschaulichen Stel-<br />

lung den normalen gesunden Menschen weniger ansprechen<br />

als die andern. Beweis: Mörikes Frühlingslied („Frühling läßt<br />

sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte“) ist so ein<br />

theoretisch nicht beengter Jubelruf eines gesunden Menschen<br />

– und spricht jeden nicht Beschränkten an. Das kann man von<br />

den weltanschaulich bewußt gebundenen Gesangbuchsliedern<br />

nicht behaupten. Ferner: Mozarts Melodien, Goethes Gedichte<br />

haben schon Leute sehr verschiedener religiöser, politischer,<br />

philosophischer Dogmatiken, die in den Zeiten wechselten,<br />

beglückt und werden das weiter tun. Aber schon die formell<br />

doch einwandfreien Lieder des Börries von Münchh<strong>aus</strong>en ster-<br />

ben mit einem Verein, wie der „Stahlhelm“ war oder ist, wenn<br />

nämlich dieser „Stahlhelm“ ein so unmodernes Kleidungsstück<br />

sein wird wie eine Ritterrüstung <strong>aus</strong> der Zeit vor Erfindung des<br />

Schießpulvers.<br />

Warum das so ist? Wer weiß das? Höchstes Leben ist zu-<br />

weilen wohl meist im Unbewußten. Und schließlich kommt es<br />

auf das Leben an und nicht auf theoretische Interpretationsbe-<br />

mühungen.<br />

52 53<br />

7. März<br />

Mörikes Frühlingslied<br />

Daß das Hören des Menuhin auf Stupsens Spiel wirkt, ist<br />

zweifellos. Ich kann mir vorstellen, wie sie sich daran gefreut<br />

hat und freue mich Euretwegen mit. Da war es nicht nötig, nach<br />

der Fernsehübertragung zu laufen, die nicht einmal stattgefun-<br />

den hat. Der Satz „Halte Dich im Leben an das Schöne!“ ist auf<br />

alle Fälle richtig. – Welch ungeheurer Fleiß hinter dem Spiel des<br />

Menuhin stehen mag, das werden sich die wenigsten Konzert-


1961<br />

besucher klar machen. Die Mühe liegt vor dem Konzert – und<br />

der Genießer spürt davon nichts mehr.<br />

Es ist doch etwas Wunderbares, wie einer <strong>aus</strong> den vier Sai-<br />

ten Klänge hervorzaubert, die T<strong>aus</strong>ende fesseln können; daß<br />

die Klangfolge in den schwarzen Notenköpfen für Jahrhunderte<br />

erhalten bleibt und immer wieder hörbar werden kann. Und<br />

daß Ihr Euch dazu hinaufgearbeitet habt, solch Wunder richtig<br />

zu genießen – das ist auch ein Anlaß, sich zu freuen. Denn das<br />

kann Euch niemand nehmen.<br />

8. März<br />

Welch ein Vorzimmer der Hölle hast Du da geschildert?!<br />

Wollen sich die Leute außer mit Schnaps noch mit grell-bunten<br />

Farben besaufen? Oder spricht <strong>aus</strong> solch technisch raffinierter<br />

Geistlosigkeit nicht im Grunde eine innere Angst vor der eige-<br />

nen Leere und Verlassenheit?<br />

Wie kannst Du nur so geblendet sein und Deine Behau-<br />

sung „Rumpelkammer“ nennen? Ausgerechnet im Vergleich mit<br />

einem Plunderpalast, den <strong>aus</strong>zustatten einen das verwendete<br />

Holz dauern kann. Guck Dir Goethes Arbeitszimmer an oder<br />

Schillers Stube oder gar Beethovens. Freilich – dreieckige Ti-<br />

sche, das ist was ganz Modernes. Vielleicht bekommt das Volk<br />

noch dreieckige Köpfe, dreckige hat es schon. Da hängen dreie-<br />

ckige Kacheln an den Wänden mit albernen Ornamenten – aber<br />

was geht uns das an? Man könnte höchstens bedauern, daß<br />

Material und Arbeitskraft soo vergeudet werden; aber selbst<br />

das braucht uns nicht aufzuregen. Das sind doch kümmerli-<br />

che Versuche, sich selbst und andre über die innere Leere zu<br />

täuschen – auch wenn man diese nur dunkel ahnt; denn käme<br />

sie zum Bewußtsein, wäre der Tiefpunkt der Kurve erreicht<br />

und Hoffnung auf Besserung vorhanden. Nur Du sollst Dich<br />

nicht darüber aufregen, daß Du nicht solche Karnevalswelt der<br />

Selbsttäuschung um Dich hast. Sollst Dich an Deinem Bettvor-<br />

leger freuen, den ein armer alter Rentner mit Liebe unter Deine<br />

Füße legte. Und wenn Du Dich von solcher Fastnacht betören<br />

läßt, laß ich einen Keramikhund bauen, der im Takte des Cho-<br />

pinschen Trauermarsches vorn und hinten feurigen Rauch <strong>aus</strong>-<br />

stößt oder eine Katze, die Choräle miaut – Du Dummhut! Es<br />

wird Zeit, daß ich Dir mal den Kopf wasche!<br />

54 55<br />

13. März<br />

In dem sehr interessanten Briefwechsel Goethe–Hein-<br />

rich Meyer kommen ergötzliche Sachen vor. 1793 ist Goethe<br />

mit dem Herzoge [Carl August] in Frankreich und kommt über<br />

Frankfurt langsam zurück. Meyer in Weimar besorgt inzwi-<br />

schen die Renovierung des Goetheschen H<strong>aus</strong>es. Er braucht<br />

(braucht!) neue Türknöpfe, die in Form von Rosen damals<br />

Mode gewesen zu sein scheinen und gibt nun nach der Mes-<br />

sestadt Frankfurt seine Bestellungen auf. Da antwortet Goethe:<br />

„Nach Rosen will ich mich umsehen, auch wegen der Teppiche<br />

und sonst mir Bekanntschaft machen. Leider ist alles, was wir<br />

verlangen, nicht currente Waare. Wenn wir nicht eilen, finden<br />

wirs doch.“ 5 – Er hat also damals schon bei seinen Einkaufs-<br />

bemühungen hören müssen: Das haben wir nicht, das kriegen<br />

wir erst wieder herein. – Und Meyer, müht sich inzwischen mit<br />

Handwerkern, die sich Zeit lassen und nichts übereilen. Beide<br />

konnten nicht ahnen, daß ihre <strong>Briefe</strong> mal späteren Zeiten tröst-<br />

lich werden könnten.<br />

14. März<br />

Schönen Dank für den Brief. Natürlich sind das die Pla-<br />

tanen, unter den Socrates mit Plato im Gespräche wandelte,<br />

wie wohl im „Phaidon“ zu lesen. Du erkennst sie auch daran,<br />

daß sie von Zeit zu Zeit Rindenstücke vom Stamme abstoßen<br />

5 Brief vom 10. Juli 1793.<br />

Möbelsorgen


1961 Arme Menschenwelt<br />

und dann grau und gelb gefleckt dastehen. Aber nun möchte<br />

ich endlich das Gerede von der armen Wohnung <strong>aus</strong>räumen:<br />

„Vergnügungs“lokal Bildungsstätte<br />

„H<strong>aus</strong>bar“ Bücher, Bilder, Plastiken<br />

= Sammlung von Flaschen, = Sammlung von Büchern,<br />

die nach Gebrauch leer, die Jahrhunderte helfen,<br />

also sehr vergänglich dauerhaft<br />

Dummen imponierend Dumme beängstigend<br />

von Klugen gemieden von Klugen geschätzt<br />

krank machend gesund machend<br />

v<br />

und so weiter<br />

Nun wähle! Verkoof also die Bücher, Bilder etc. und koof Dir<br />

Flaschen. Benachrichtige mich vorher, da ich als Käufer auf-<br />

trete. Und wenn Dir die Flaschen so imponieren bei bunter Be-<br />

leuchtigung, dann kannst Du <strong>aus</strong> vorstehendem Schema die<br />

Kategorie ablesen, zu der ich – und ich nicht allein – diese an<br />

Flaschen interessierten Leute zähle.<br />

4. April<br />

Morgen geht nun wohl der Schulbetrieb wieder los, und Du<br />

schiebst allein das ganze Karussell. Denke an Dich! Heb Dich<br />

auf! An diesen alten Satz von mir erinnerte jetzt Seidel 6 – der<br />

Studienrat in Schwerte – wieder. Wir hatten diesen Spruch als<br />

Trost in den finstern Nazitagen in Zschopau, um uns nicht un-<br />

terkriegen zu lassen.<br />

6 Die Freundschaft <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s mit dem Lehrer und Cellospieler Helmut Seidel<br />

(*1903), der die Fächer Mathematik, Physik und Geographie unterrichtete, datiert<br />

<strong>aus</strong> der Zschopauer Zeit 1934–1943, s. Brief vom 28. August 1965. – Ende der<br />

40er Jahre ging Helmut Seidel nach Westdeutschland, wo <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> ihn mehr-<br />

fach besuchte, zuerst in Letmathe und Schwerte (Westfalen), dann in Schein-<br />

feld.<br />

56 57<br />

28. April<br />

Weit wichtiger ist mir, zu wissen wie es Euch ergeht. Es<br />

wäre sehr gut, nein, höchst nötig, vom Presto allmählich zum<br />

Largo im Lebenstrubel zu kommen. Geht doch – bei jedem Wet-<br />

ter – ein Ringel durch den Eutritzscher Park oder die benach-<br />

barten Gartenstadtstraßen – und wenn es eine knappe Stunde<br />

ist. Das kommt sicher Eurer Musik zugute. Dabei könnt Ihr<br />

auch an den Straßenschildern die Geschichte der Philosophie<br />

des 19. Jahrhunderts, von Hegel bis Nietzsche, Euch einprägen,<br />

den Specht und das Eichhörnchen und die Gartenblumen, die<br />

Bäume und die Zwergenwelt beobachten, die in den Gärten ihr<br />

Wesen treibt. Und die arme Menschenwelt, die den Park be-<br />

völkert, solltet Ihr auch als Staffage der Landschaft ansehen<br />

lernen und nicht als unerwünschte Zutat. Jedes von ihnen hat<br />

doch sein eigenes armes Schicksal, trägt seinen Kummer und<br />

seine Freude, seinen Lebenshunger durch die Parkwege, ist be-<br />

drückt, oder gedankenlos – aber hätten diese Unbekannten<br />

nicht einen – ihnen vielleicht unbewußten – Drang nach dem<br />

Schönen, würden sie nicht dieses Stückchen Natur aufsuchen,<br />

sondern im „Parkrestaurant“ sich Freude in der Flasche kaufen.<br />

(Aber da haben die wieder „Ruhetag“!)<br />

Hernach fahre ich nach Kriebethal (ohne die Butter zu ver-<br />

gessen!)<br />

Eben erhalte ich Deine Karte. Dir darf durch<strong>aus</strong> nicht alles<br />

„wurscht“ sein. Zu dem Päckel von Hesse 7 beglückwünsche ich<br />

Dich, es kam da gerade im rechten Augenblick. Da hat der Alte<br />

in Montagnola mal einen vernünftigen Zeitpunkt gewählt. Mon-<br />

tagnola, das ist aber ein komischer Ortsname! Wahrscheinlich,<br />

um es von dem anderen Nola zu unterscheiden, das nicht weit<br />

von Neapel ostwärts hinter dem Vesuv liegt. Die „Morgenland-<br />

7 Gertrud Schade stand seit 1952 im Briefwechsel mit Hermann Hesse; 22 ihrer <strong>Briefe</strong><br />

befinden sich im Schweizerischen Literaturarchiv Bern.


1961 Freue Dich am Schönen<br />

fahrt“ ist ein Vorspiel zu dem „Glasperlenspiel“. „Klein und<br />

Wagner“ eine zweiseitige Selbstanalyse. Ich glaube, wir lasen<br />

das früher einmal.<br />

28. Mai<br />

Das Weiblein mit dem Lumpenwagen, das wir in der Goe-<br />

the-Gesellschaft trafen, beweist doch, daß hier so einfache<br />

Leute wie Lumpenkarrenschieber auf einem sehr hohen Bil-<br />

dungsniveau stehen! Oder willst Du das anders erklären? Hier<br />

siehst Du wieder mal schön die Vieldeutigkeit der Erscheinun-<br />

gen. Dasselbe Phänomen kann man als Aufstieg wie als Abstieg<br />

hinstellen, je nachdem auf welchen Schleichwegen des Verstan-<br />

des man hintrottet.<br />

Montag früh<br />

Es freut mich, daß Du den Rümelin 8 brauchen kannst als<br />

B<strong>aus</strong>tein in Dein Shakespeare-Fach. Nochmal studieren? Ja, das<br />

würde ich auch gern, so wie der alte Goethe in Jena, der sich<br />

in die Vorlesungen der ihm – als dem obersten Kurator – unter-<br />

stellten Professoren einfach hineinsetzen konnte. Aber hier und<br />

heute? Man müßte erst Fragebogen <strong>aus</strong>füllen, Öl auf die Glau-<br />

benslampe gießen, um damit einen täuschenden Schein hervor-<br />

zubringen – nein, dann helfen wir uns lieber selber fort und hal-<br />

ten uns an die Originale. An den unterschiedlichen Betrachtun-<br />

gen Vischers 9 und Rümelins und anderer zeigt sich doch wieder,<br />

daß eben die Verschiedenartigkeit der Standpunkte auch ver-<br />

schiedene Anblicke bietet – genau wie bei der Lumpensamm-<br />

lerin mit dem Goethe-Niveau. Ändre den Standpunkt – und<br />

Schwarz wird Weiß: Schneeflocken gegen das Licht gesehen fal-<br />

len dunkel – am Boden sehen sie weiß <strong>aus</strong>; wenn das schon im<br />

8 Gustav Rümelin, Shakespearestudien, Stuttgart 1866.<br />

9 Gemeint ist hier Friedrich Theodor Vischers „F<strong>aus</strong>t, der Tragödie dritter Theil“, Tübin-<br />

gen 1862, von <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> des öfteren mit kritischen Bemerkungen bedacht.<br />

physikalischen Bereich gilt – wieviel mehr im literarischen, his-<br />

torischen, künstlerischen. Man lernt, das zu registrieren, ohne<br />

sich darüber aufzuregen. Manchem ists doch sogar fraglich, ob<br />

es den Shakespeare oder den Jesus überhaupt gegeben hat.<br />

Freue Dich am Schönen und laß die Meinungen der Professoren<br />

als Curiosa stehen. Was glaubst Du wohl, was alles in einer ka-<br />

tholischen Goethe-Biografie zu lesen ist? Oder in einer Reforma-<br />

tionsgeschichte eines Jesuiten? Jeder richtet das Lämpchen sei-<br />

nes Verstandes in dem Winkel auf die Objekte, der ihm von sei-<br />

ner „Weltanschauung“ vorgeschrieben wird. Eine Tänzerin auf<br />

einer Bühne nimmt sich sehr verschieden <strong>aus</strong>, je nach dem, ob<br />

die Lampen vorn an der Rampe, oben, unten, hinten, seitlich<br />

angebracht sind. Vielleicht verschwindet die Erscheinung über-<br />

haupt, wenn alle Lampen zugleich leuchten – oder verlöschen.<br />

58 59<br />

7. Juni<br />

Gestern wurde ich auf der Straße von der Frau *** angehakt:<br />

ich sollte zur Wahl der Kreisgewerkschaftsleitung! Sie machte<br />

das recht schnell und geschickt, […] also dirigierte sie mich in<br />

den Laden ihres Vaters, holte <strong>aus</strong> einem Auto einen Pappkas-<br />

ten mit einem Spalt, das war die „Wahlurne“, drückte mir ein<br />

paar mit unbekannten Namen bedruckte Zettel in die Hand, die<br />

ich in den Pappkasten legte – sooo ein Humbug, noch dazu ei-<br />

ner, den alle als solchen betrachten. Da wird Papier, Druckkos-<br />

ten, Zeit verramscht für nichts! Nein, nicht für nichts – um zu<br />

probieren, wie lange wir uns diese Tyrannei noch gefallen las-<br />

sen. Es sind bloße Geduldsproben, die wir noch selber bezah-<br />

len. Man möchte <strong>aus</strong> diesem Pferch <strong>aus</strong>brechen. Aber überall<br />

schnuppern die Wachhunde.<br />

7. Juni<br />

Eben besuchte mich der Vater der Doris Wittig, die mal<br />

Schulsekretär bei mir war. Ein Sohn von ihm, den er 20 Jahre


1961 Der Fachmensch<br />

nicht gesehen hat, ist Bergmann in Frankreich, hat ihn eingela-<br />

den, ihn zu besuchen. Ja, da müssen erst mal 7 Formulare für<br />

das französische Consulat <strong>aus</strong>gefüllt werden, die brachte er<br />

nun, und da kann ich dem alten Knaben den Gefallen tun. Der<br />

Papierkrieg um so eine einfache Sache, daß ein alter Vater sei-<br />

nen Sohn besuchen möchte, der ist wirklich schauerlich. Müs-<br />

sen die Leute eine Angst haben. Nur die Tyrannen reisen frei.<br />

16. Juni<br />

Nun rege Dich nicht mehr auf über mangelndes Verständnis<br />

für Stupsens „gesellschaftliche Betätigung“! Wie es Leute gibt,<br />

die farbenblind oder unmusikalisch sind, so muß man eben<br />

damit rechnen, daß bei diesem und jenem auch das, was man<br />

„Gemüt“ nennt, mangelhaft entwickelt sein kann. Daß diese<br />

Leute ärmer sind als andre, ist nicht zu bezweifeln. Deshalb<br />

sind sie wohl mehr zu beklagen. Es fehlt ein Organ, so wie wir<br />

alle keins haben, etwa magnetische oder elektrische Erschei-<br />

nungen ohne deren Übersetzung in andre Hilfsmittel zu begrei-<br />

fen. Erst durch sichtbare oder hörbare Experimente läßt sich<br />

feststellen, ob ein Stück Eisen magnetisch ist oder ob in einer<br />

Spule ein Strom läuft.<br />

19. Juni<br />

Für Stups war es ganz gut, mal in dem großen Raum vor<br />

den Menschenmassen zu stehen, ohne Lampenfieber zu krie-<br />

gen. Das ist eine ganz schöne Vorübung gewesen. Nun ist aber<br />

sehr zu wünschen, daß mal eine etwas ruhigere Lebensweise<br />

eintrete. Es kommt schon alles zu seiner Zeit, und es ist nicht<br />

nötig, auch nicht wünschenswert, das Tempo zu sehr zu stei-<br />

gern. „Das still-vergnügte Streichquartett“ 10 hieß das nette Bü-<br />

chel <strong>aus</strong> dem Heimeran-Verlag. Auf dem „still-vergnügt“ liegt<br />

10 Bruno Aulich / Ernst Heimeran, Das still-vergnügte Streichquartett, München 1936.<br />

so ein Schimmer von biedermeyerlicher Behaglichkeit, um die<br />

uns das Tempo des technischen Zeitalters gebracht hat – die<br />

aber lebensnotwendig ist, wenn die Irrenärzte nicht überlas-<br />

tet werden sollen. Daran sollte immer gedacht werden, ehe ir-<br />

gend etwas Stürmisches in Angriff genommen wird. „Der Sinn<br />

des Lebens ist das Leben selbst“ 11 , sagt Goethe, der davon et-<br />

was verstand. Das bedeutet also, daß zuviel Sturm das Leben<br />

selber bedroht und seinem eigentlichen Zwecke entfremdet, es<br />

soll genossen werden! Dir wird man da noch einige Lektionen<br />

erteilen müssen.<br />

60 61<br />

29. Juni<br />

Seidel schrieb einen sehr interessanten Brief, den ich mal<br />

mitbringe. „Studium“ ist dort genau so eine gehetzte, geplante,<br />

mit Prüfungen überladene Specialarbeit geworden wie hier. Ich<br />

gewinne mehr und mehr den Eindruck, daß das „Zeitalter der<br />

Bildung“, wie es einst vielen vorschwebte, vorüber ist. Es wird<br />

der Fachmensch gezüchtet, der auf einem engen Sondergebiet<br />

arbeitet, und den alles andre nicht kümmern darf. So wird je-<br />

der eine Art „Mosaiksteinchen“ – ob freilich das Zusammensein<br />

vieler solcher Steinchen ein Gesamtbild ergibt oder nur einen<br />

bunten Haufen – das ist noch nicht so sicher. Von meinem wohl<br />

veralteten Standpunkte gesehen ist der Zustand wenig erfreu-<br />

lich. Aber der Gang scheint unaufhaltsam. Die kleinen Bremsen,<br />

die man mit „Kulturbemühung“ – schreibender Arbeiter, junger<br />

Talente, Volkskünstler etcetera – anzusetzen versucht, geraten<br />

bald in gleiches Tempo. Es ist das Zeitalter der Rastlosigkeit.<br />

Goethe hat zwar auch jede Minute genützt, aber doch dabei um<br />

sich und für viele ein Klima der Besinnung geschaffen, für die<br />

heute kaum noch Zeit bleibt. Auch in dem gepriesenen „Golde-<br />

nen Westen“ nicht. Denn auch die dort über das Land ziehen-<br />

11 Brief an Johann Heinrich Meyer vom 8. Februar 1796.


1961 Muß sich denn alles lohnen?<br />

den Schwaden des Weihrauchnebels trüben nur die Sicht für<br />

viele Dinge. (Den Weihrauch, nur mit etwas andrem Geruch, ha-<br />

ben wir wohl hier auch.)<br />

2. Juli<br />

Heute Sonntag früh ½ 8 h klingelt es: Dr. Schumann 12 mit<br />

Frau und Frau Weber stehen im Auto vor der Tür! Sie wollten<br />

nach Döbeln und noch nach einem Dorfe nördlich davon und<br />

mich dann abholen nach Zschopau! Soo geht es natürlich nicht.<br />

Es wird nun so gemacht: Am Donnerstag früh fahre ich von hier<br />

für ein paar Tage nach Zschopau. […]<br />

Mir fällt noch ein: Dr. Schumann erzählte eine nette Ge-<br />

schichte, die ihm Prof. Weicker 13 erzählt hat. Weicker ist an Sil-<br />

vester in der von ihm jahrzehntelang durchforschten Sächsi-<br />

12 Der Dresdner Reformpädagoge Kurt Schumann (1885–1970) war bis 1933 Lehrer<br />

an der Dürerschule in Dresden. Wie <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> wurde er 1934 nach Zscho-<br />

pau strafversetzt. Er war dort Lehrer an der Jungen-Oberschule (mit Internat)<br />

und von 1945–1950 dann der Leiter der Schule. Nach seiner Entlassung 1954,<br />

weil er sich der Verleumdung der bundesrepublikanischen Schule widersetzte,<br />

wirkte er als Heimatforscher weiter (vgl. u.a. sein Wanderheft Rund um die Au-<br />

gustusburg, Dresden 1952). <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> war ein gern gesehener Gast bei Kurt<br />

Schumann, seiner Frau Martha und seinem Sohn Karsten im H<strong>aus</strong> am Bleichweg.<br />

<strong>Pfeifer</strong> und Schumann, der sich selbst als „denkenden Wanderer“ bezeichnete,<br />

machten zusammen natur- und heimatkundliche Wanderungen in der Zschopauer<br />

Umgebung. Eine andere gemeinsame Leidenschaft war der Garten; beide waren<br />

Anhänger des Blumenzüchters Karl Foerster. – Gertrud Weber ist die H<strong>aus</strong>halts-<br />

hilfe der Familie Schumann seit dem Schlaganfall von Martha Schumann, durch<br />

den diese teilweise rechtsseitig gelähmt war. – Über Kurt Schumann vgl. die bio-<br />

graphische Studie von Andreas Pehnke, „Ich gehöre auf die Zonengrenze“, Beu-<br />

cha bei Leipzig 2004.<br />

13 Der Lehrer und Heimatforscher Oberstudienrat Gotthold Weicker (1879–1962) war<br />

der Direktor des Wettiner Gymnasiums in Dresden, an dem der junge Kurt Schu-<br />

mann als Lehrer tätig war. Nach 1945 beteiligte er Kurt Schumann, an der Neu-<br />

gründung der Geographischen Gesellschaft in Dresden. Als Kurt Schumann 1954<br />

in Zschopau geächtet wurde, bot Gottlob Weicker ihm das „Du“ an, die Entlas-<br />

sung <strong>aus</strong> der Zschopauer Oberschule verstand er als Adelszeugnis.<br />

schen Schweiz gewesen und hat da einen Kahnfahrer gefun-<br />

den, der ihn an diesem Tage durch die Klamm ruderte. Weicker<br />

sagt dem Manne: das lohnt sich doch da für Sie gar nicht. Wo-<br />

rauf dieser erwidert: „Muß sich denn alles lohnen?“ Schumann<br />

meint, dieser Satz ersetze ihm jede Predigt.<br />

Zschopau, den 11. Juli<br />

Du fragst, was ich hier tue: Wenn Du Dir die vielen Fens-<br />

ter dieses H<strong>aus</strong>es vorstellst und wie sie bedauerlich verwittert<br />

sind, dann kannst Du Dir vorstellen, daß ich von früh bis spät<br />

zu tun habe. Erst muß alter Farbrest mit Drahtbürste und Sand-<br />

papier entfernt werden. Dann sind die rohen Stellen mit Öl zu<br />

behandeln, hierauf folgt ein Anstrich mit Grundfarbe, am über-<br />

nächsten Tage mit Lackfarbe, und wenn ich noch dazu komme,<br />

ist mit Rasierklinge Farbe von Fensterscheiben zu entfernen, das<br />

Auskitten hätte ich beinahe zu erwähnen vergessen. Am Abend<br />

zeigt mir Dr. Schumann <strong>aus</strong> seinem sehr reichen Photographien-<br />

schatz oder liest <strong>aus</strong> <strong>Briefe</strong>n vor, die er <strong>aus</strong> allen Erdteilen hat.<br />

Vor kurzem hat ihn ein früherer Schüler 14 besucht, der als Mete-<br />

orologe sehr lange mit einer russischen Expedition am Südpol<br />

war. – Da gibt es <strong>Briefe</strong> von Spranger 15 , von Litt 16 , vom Minis-<br />

14 Joachim Kolbig (1933–1999), Leiter der Abteilung Technische Meteorologie im<br />

Hauptamt für Klimatologie Potsdam und Sekretär der Kommission „Reinhaltung<br />

der Luft“ des Forschungsrates der DDR, verbrachte anderthalb Jahre auf der so-<br />

wjetischen Antarktisstation „Mirny“ (1959–1961). Angeleitet von seinem Lehrer<br />

Kurt Schumann in Zschopau, beschäftigte er sich bereits als Schüler mit der Wet-<br />

terbeobachtung.<br />

15 Der Philosoph, Psychologe und Pädagoge Eduard Spranger (1882–1963) war der<br />

Doktorvater von Kurt Schumann und betreute dessen Arbeit über die Erziehungs-<br />

maximen in Philip Dormer Stanhope of Chesterfields <strong>Briefe</strong>n an seinen Sohn<br />

(1774): Die pädagogischen Ansichten des Grafen Chesterfield, Langensalza 1917.<br />

16 Theodor Litt (1880–1962), Philosoph und Pädagoge, s. auch Brief vom 18. Dezem-<br />

62 63<br />

ber 1972.


1961 Der „dünne Wasserfaden der Hauptsache“<br />

ter Hartsch 17 , vom Lord Chesterfield – einem Nachkommen des<br />

berühmten Schriftstellers <strong>aus</strong> dem 18. Jahrhundert, von Hans<br />

Grundig, dem Dresdener Maler, und so weiter. Dr. Schumann<br />

sitzt da in einem Kreise mit unendlich vielen Radien.<br />

13. Juli<br />

Sobald es hier dunkelt, muß ich den Pinsel weglegen, da<br />

gibt es dann vielerlei Interessantes zu lesen. Ich las z.B. den<br />

ersten Teil einer Autobiographie von Curt Goetz 18 (der den<br />

„Hiob Prätorius“, „Die tote Tante“ = „H<strong>aus</strong> in Montevideo“<br />

schrieb), sah das bereits erwähnte Buch vom Alten Dresden 19<br />

durch, worin ich meine Mutter entdeckte, ein Buch 20 über die<br />

Sächsische Schweiz von 1837 mit schönen Stahlstichen, las ei-<br />

niges in der Autobiographie von Victor de Kowa 21 (dem <strong>aus</strong> Fil-<br />

men bekannten Sch<strong>aus</strong>pieler). Das ist ein recht bedeutendes<br />

Buch, bei Glock und Lutz in Nürnberg erschienen. Ich werde<br />

versuchen, es zu beschaffen, hörte viele Berichte von Dr. Schu-<br />

mann, befestigte meine Abneigung gegen das Radio.<br />

17 Erwin Hartsch (1890–1948), Volksschullehrer in Mylau/Vogtland, später Lehrer am<br />

Wettiner Gymnasium in Dresden, SPD-Mitglied, 1926–1932 Landtagsabgeordneter,<br />

1932–1933 Reichstagsabgeordneter, 1933 <strong>aus</strong> dem Schuldienst entlassen, 1933–<br />

1934 KZ, danach in der Verlagsbuchhandlung Koehler & Volckmar und in der Le-<br />

bensversicherung Leipzig tätig. 1946–1948 Minister für Volksbildung in Sachsen.<br />

Als dieser wollte er, daß Kurt Schumann die reformorientierte Dürerschule in Dres-<br />

den neu gründete, doch Schumann lehnte ab, er wollte Zschopau nicht verlassen.<br />

– Vgl. Wilhelm Heinz Schröder, Sozialdemokratische Parlamentarier in den deut-<br />

schen Reichs- und Landtagen 1867–1933, Düsseldorf 1995, S. 489.<br />

18 Die Memoiren des Peterhans von Binningen, Berlin 1960.<br />

19 S. <strong>Briefe</strong> vom 23. Dezember 1964, 18. Dezember 1968, 4. Januar 1969.<br />

20 Johann Sporschil, Leipzig, Meissen, Dresden und die sächsische Schweiz, Leip-<br />

zig 1844.<br />

21 Als ich noch Prinz war von Arkadien, Nürnberg 1955.<br />

<strong>Waldheim</strong>, den 26. Juli<br />

Frau Schmidt 22 schickte mir einige Cigarren und einen Brief<br />

mit dem Denkmal Hermanns des Cheruskers – ein 7m langes<br />

Schwert hebt er – auf dem Teutoburger Wald. Das ist dersel-<br />

bige, der im Jahre 9 p. n. Chr. das Vordringen der römischen<br />

Kultur nach Osten aufgehalten und damit vielleicht schon die<br />

Grundlinien des gegenwärtigen Zustandes gezogen hat. Das<br />

findest Du in keinem Geschichtsbuche bemerkt. Prof. Friedr.<br />

Wilhelm Foerster 23 – der Bruder des Gärtners [Karl Foerster] –<br />

dem ich dies einmal mitteilte, fand diese Deutung sehr gut und<br />

treffend. Es ist doch auch praktisch so gewesen. Aber niemand<br />

will es so sehen – weil dadurch der Ruhm des Cheruskers emp-<br />

findlich geschmälert wird.<br />

64 65<br />

27. Juli<br />

Mit den Lehrern ist es doch etwa so: die echten vermögen,<br />

das Wunderbare, das Welt und Natur geben, erleben zu las-<br />

sen; die andern – denen das ganz versagt ist – bemühen sich,<br />

das zu „erklären“. Das gelingt nur mehr oder weniger, meist<br />

weniger. Am Fehlen des Erlebens scheitert die Schule. Sie gibt<br />

eben den schon von Stifter gerügten „dünnen Wasserfaden der<br />

Hauptsache“ 24 . Mag sein, daß uns manches an dieser „Haupt-<br />

sache“ entgeht. Aber wir haben eben andre Hauptsachen. Und<br />

Mozart und Beethoven und Goethe hatten auch andre.<br />

22 Margarete Schmidt in Salzuflen war die H<strong>aus</strong>hälterin des angesehenen <strong>Waldheim</strong>er<br />

Arztes Adolf Mohr (1871–1966), der 60 Jahre in <strong>Waldheim</strong> praktizierte (vgl. Johan-<br />

nes W. E. Büttner, Die medizinische Versorgung der Stadt <strong>Waldheim</strong> (Sachsen) im<br />

18. und 19. Jahrhundert, <strong>Waldheim</strong> 1972). Adolf Mohr war bis zu seiner Übersied-<br />

lung in die Bundesrepublik <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s H<strong>aus</strong>arzt.<br />

23 Mit den Brüdern Foerster fühlte sich <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> zeitlebens verbunden. Die Be-<br />

kanntschaft mit dem christlichen Ethiker und streitbaren Pazifisten Friedrich Wil-<br />

helm Foerster (1869–1966) war einer der Anklagepunkte bei <strong>Pfeifer</strong>s Entlassung<br />

<strong>aus</strong> dem Schuldienst 1933 durch die Nationalsozialisten.<br />

24 Aus der Erzählung Der Waldsteig.


1961<br />

24. August<br />

Reinhard hat sich so zum Landpastor entwickelt, obwohl<br />

das Lieberose sich „Stadt“ nennt, mit 2000 Einwohnern. Da er-<br />

fuhr ich, daß Albrecht Tunger 25 (Kantor in Davos) jetzt eine Wo-<br />

che hier ist und mich mal sprechen wollte. Um ihn nicht ver-<br />

geblich laufen zu lassen, war ich vorhin mal dort. Er arbeitete<br />

in der Kirche – in einem schönen, hinter der Kanzel befindli-<br />

chen großen Raum – an der Durchforschung alter kirchenmusi-<br />

kalischer Akten und wollte einiges zur Stadtgeschichte wissen.<br />

Er ist Mitarbeiter an einem internationalen musikalischen Quel-<br />

lenlexikon und hat auch in dieser Eigenschaft die Einreisege-<br />

nehmigung bekommen. Die Redaktion des Werkes sitzt in Pa-<br />

ris, die DDR und Polen gehören nebst den Westländern zu den<br />

Staaten, die sich an der Arbeit beteiligen. Es ist erstaunlich, wie<br />

hier mit größter Genauigkeit allerhand alten Kantoreien, Kir-<br />

chenmusiken, Noten vor allem, nachgespürt wird, welche Mühe<br />

man sich macht, Sachen wieder aufzufinden, die durch die Un-<br />

achtsamkeit früherer „Verwalter“ solcher Dinge verlorengegan-<br />

gen sind; z.B. Noten von Motetten, die nur handschriftlich exis-<br />

tieren – und von denen eine oder zwei Stimmen fehlen. Wie<br />

vieles mag verbrannt worden sein, oder an die falsche Stelle<br />

gelegt ohne zu ahnen, daß sich nach drei Jahrhunderten einer<br />

damit befaßt, das Verschwundene zu suchen.<br />

25 Frucht der musikwissenschaftlichen Arbeit in der Bibliothek der <strong>Waldheim</strong>er Stadt-<br />

kirche St. Nicolai waren Neu<strong>aus</strong>gaben der Rosenmüller-Kernsprüche und der<br />

Calvisius-Motetten im Hässler-Verlag Stuttgart 1965 und der Aufsatz 400 Jahre<br />

<strong>Waldheim</strong>er Kantorei (Privatdruck). Die Zuarbeit zum internationalen, von der<br />

UNESCO geförderten Quellenlexikon der Musik Répertoire international des sour-<br />

ces musicales (RISM) beschränkt sich auf den Schwanen Gesang, <strong>aus</strong> dem 90.<br />

Psalm Davids, Vers 10 von Sethus Calvisius, veröffentl. 1972 im Bd. Einzeldru-<br />

cke vor 1800.<br />

27. August<br />

Hier montieren die Leute ihre West-Fernsehantennen wie-<br />

der ab, nachdem auf einem mehrere Quadratmeter großen Pla-<br />

kat die angeprangert waren, die welche hatten. Warum man<br />

die Dinger ihnen erst für teures Geld verkauft hat, ist schwer<br />

zu begreifen.<br />

30. August<br />

Morgen haben die Schüler hier „Tag der Bereitschaft“ 26 , d.h.<br />

sie bekommen die Stundenpläne! Es ist doch erstaunlich, wie<br />

man für ganz nebensächliche Dinge – die sich unter Umständen<br />

schon in der ersten Woche nicht durchführen lassen, großspu-<br />

rige Vokabeln bereit hat. Da wollen etwa zwei Klassen zugleich in<br />

dasselbe Zimmer, oder zwei Lehrer in dieselbe Klasse, weil Zim-<br />

merpläne mit Lehrerplänen und Klassenplänen nicht übereinkom-<br />

men – ich bin froh, damit heute nichts mehr zu tun zu haben.<br />

In der Einleitung von Jacob Burckhardts „Griechischer Kul-<br />

turgeschichte“ wird gemahnt, den humanistischen „Schulsack“<br />

in Ehren zu halten, um ein persönliches Verhältnis zu den Auto-<br />

ren der Antike zu gewinnen. „Man weiß nie zu viele Sprachen.“<br />

– „Wohl berechtigt ist die Beihilfe von Übersetzungen und<br />

Kommentaren, welche durchgängig und gut vorhanden sind.<br />

Es ist keine Schande, mit Thukydides nicht ohne Hilfe fertig<br />

zu werden, da Dionys von Halikarnass und Cicero bekennen,<br />

ihn nicht überall zu verstehen, und zwar wegen der Ausdrucks-<br />

weise. Wer ohne Hilfe vordringen will, läßt ihn unterwegs bald<br />

irgendwo liegen, statt ihn ganz durchzulesen. Weiter muß uns<br />

zum Ganzdurchlesen der Autoren die Einsicht bestimmen, daß<br />

das, was für uns wichtig ist, nur wir finden.“ Und mit diesen<br />

26 In der DDR letzter Ferientag der Schüler vor Schuljahresbeginn, an dem organi-<br />

satorische Fragen (Stundenplan, Verkehrsverbindungen für Auswärtige u.a.) be-<br />

sprochen, Schulbücher <strong>aus</strong>gegeben und gegebenenfalls politische Tagesfragen<br />

behandelt wurden.<br />

Der humanistische „Schulsack“<br />

66 67


1961 Kühlschränke?<br />

goldnen Hinweisen verbindet er eine Warnung vor der „jetzti-<br />

gen“ (1870!) Literatur und dem Zeitunglesen. Wenn er geahnt<br />

hätte, daß mal die Zeitung das Studium der Alten ersetzen und<br />

verdrängen würde. Der Satz vom Ganz-durchlesen gilt natürlich<br />

nicht nur für die antiken Autoren, er gilt auch für Goethe, Les-<br />

sing u.s.w. Es heißt Kräfte sammeln, wenn man jeden Tag einen<br />

Satz, ein Gedicht von Goethe <strong>aus</strong>wendig lernt, da man nie wis-<br />

sen kann, wann man mal von Büchern abgesperrt sein kann.<br />

So ein gelernter Satz kann wichtiger werden als eine Tüte ge-<br />

hamsterter Reis.<br />

7. September<br />

Gutes Gelingen wünsche ich zu dem „Bezirks<strong>aus</strong>scheid“ –<br />

obwohl mir solche Ringkämpfe genau so zuwider sind wie die<br />

der Boxer – ja wie die zwischen Sophokles und Euripides. Aber<br />

ich bin eben ein halber Mensch, dem für ein Wettrennen zwi-<br />

schen Schiller und Goethe alles Verständnis fehlt. Man mag<br />

also feststellen, wer das a a-iger anstreichen kann, eine Wur-<br />

zel wurzliger zieht, ein Buch schneller durchliest – na und? Was<br />

hat man davon? Hier siehst Du also wie mit zunehmendem Al-<br />

ter der Verstand schwindet.<br />

16. Oktober<br />

Sind bei der Besprechung, die Stups gehabt hat, noch gei-<br />

gende Talente aufgetreten oder war sie die einzige Geigerin.<br />

„Gewandh<strong>aus</strong>direktor?“ was heißt das, wer ist das? Ein Musi-<br />

ker – oder ein politischer Kapitän? Ich muß gestehen, ich lege<br />

auf diese Beurteilungen nicht den Wert, den man vielleicht die-<br />

sen Wettstreiten beimißt. Hauptsache bleibt, sie übt so gut als<br />

es die Zeit erlaubt und hat ihre Freude am Werke und nicht an<br />

den Lobsprüchen irgendwelcher Leute. Auch diese Berliner Ex-<br />

cursion ist mir halbwichtig. Da braucht niemand intrigiert zu<br />

haben. Es genügt schon, wenn jener Kapitän am politischen<br />

Akzent etwas zu bemängeln fand. Das sagt er kaum – aber er<br />

setzt dann die sachliche Leistung herab, weil er weiß, daß das<br />

viel mehr empfunden wird als die politische Kritik. Dabei will<br />

er sich auch nicht in die Karten gucken lassen. Arbeitet Ihr nur<br />

weiter bei der erprobten Lehrerin [Renate Schönert], geht zu<br />

den von Bosse 27 veranstalteten Sachen und laßt das „Auftre-<br />

ten“ mal etwas seltener werden. Musik lebt – wie alles Kultu-<br />

relle – in ihrem eigenen Reiche und darf nicht zum Knecht poli-<br />

tischer oder religiöser Machtansprüche erniedrigt werden. (Für<br />

diesen Satz kannst Du mich einsperren lassen.)<br />

18. Oktober<br />

Gestern war endlich wieder mal der Küchengeräteladen von<br />

[Frieda] Jahn in der Schloßstraße geöffnet. Der Mann ist we-<br />

gen Blutvergiftung im Krankenh<strong>aus</strong>e gewesen und noch nicht<br />

wieder im Laden, beinahe hätte man ihm ein Bein abgenom-<br />

men. „Kühlschränke?“ Ja, sagte die Frau, etwa in 3 ½ Jahren,<br />

über 250 Voranmeldungen, und im laufenden Jahre haben sie<br />

12 Stück gehabt. Und ein dreigliedriger Ausschuß entscheidet,<br />

wer einen kaufen darf, „damit es gerecht zugeht!“ Was ist da<br />

68 69<br />

zu tun?<br />

21. Oktober<br />

Im Traume schrieb ich Dir diese Nacht in einem französi-<br />

schen <strong>Briefe</strong> que je partirai pour Paris lundi prochain. Mon<br />

adresse: Paris, Bibliothèque Nationale (Inspection). J’y resterai<br />

jusque Pâques [daß ich nächsten Montag nach Paris fahre.<br />

Meine Adresse: Paris, Bibliothèque Nationale (Aufsicht). Ich<br />

bleibe bis Ostern]. Da hast Du es, vielleicht wird es aber doch<br />

nichts, denn daß ich dahin keinen Pass kriege, ist wohl klar,<br />

27 Gerhard Bosse (*1922), Geiger, Konzertmeister des Gewandh<strong>aus</strong>-Orchesters und<br />

Professor an der Hochschule für Musik in Leipzig.


1961<br />

wenn ich auch der Mittel wegen keine Sorge hätte. Bleiben wir<br />

also hier im herrlichen Inland.<br />

Markneukirchen (Hotel zur Post) 26. Oktober<br />

Heute früh 5 h fuhr ich von <strong>Waldheim</strong> weg – und jetzt am<br />

Abend kommt es mir vor, als sei ich eine Woche unterwegs.<br />

Sehr schön war die Fahrt, im langsamen Tempo, meist allein im<br />

Abteil durch Fluß- und Bachtäler aufwärts, von 185 m in Wald-<br />

heim bis 767 m in Schöneck und dann wieder hinab auf 470 m<br />

in Siebenbrunn, wieder auf 500 m in Markneukirchen. Stups<br />

hätte alle Augenblicke die Notbremse gezogen, um Malens we-<br />

gen <strong>aus</strong>zusteigen. Am Bachlaufe, neben dem die Bahn dem<br />

Wasser entgegen, aufwärts strebt, stehen Weiden, hinter de-<br />

nen goldner Bergahorn, Birken, Eichen, unten Farnkrautflächen,<br />

hohe Eschen, zuweilen noch grün, oft sehr schöne einzelne Ge-<br />

stalten, und hinter dieser Laubkulisse weiter oben Fichtenbe-<br />

stände. Je höher man kommt, desto geringer wird der Laub-<br />

wald und schließlich steigen die vorher nur auf Höhen wach-<br />

senden Fichten in mächtigen Gestalten bis an die Bahn – nein,<br />

umgekehrt, die Bahn steigt doch. Bei 600m werden auch die<br />

Birken seltener, bei 750 m nur noch große Fichten, durch de-<br />

ren Wipfel graue Nebelschwaden schlichen. Und beim Herab-<br />

fahren schwanden diese, und hier stand ein leicht verschleier-<br />

ter Himmel mit blauen Öffnungen im Gewölke. Das Schwinden<br />

des Laubwaldes bei zunehmender Höhe zu beobachten war bei<br />

der langsamen Fahrt ein Genuß. Auch geologisch gab es inter-<br />

essante Bilder. Auf die Minute genau war ich 13 09 hier. Zimmer<br />

gesucht, gespeist und mit der reparaturbedürftigen Laute die<br />

Mosenstraße gesucht. Der Mann [Kurth Zöphel] – alter Knabe<br />

– h<strong>aus</strong>t da mit einer – wie natürlich – noch urälteren Mutter<br />

und baut Geigen in der Wohnküche. Er hatte etwa ein Dutzend<br />

da hängen, nach Schweden bestimmt, 80 M etwa eine. Klage –<br />

begründete – über die Erdrosselung des Handwerks durch die<br />

Bürokratie der Handelsorganisation. – Jedes zweite H<strong>aus</strong> hat<br />

mit dem Bau von Musikinstrumenten zu tun, manche als Spe-<br />

zialbetriebe, die nur bestimmte Teile herstellen. (Da macht ein<br />

Mann <strong>aus</strong> Leichen ... die weltbekannten Geichenlacke!) Dann<br />

telegraphiert. Dann Museum für Musikinstrumente. Dort gleich<br />

Kontakt mit dem Museumsleiter und mit dem Geigensachver-<br />

ständigen. Er redet etwas viel und lobenswert von sich selber;<br />

aber da die Aussicht, eine Stradivari auf einem Oberboden zu<br />

finden fast gleich Null ist, hab ich mit ihm folgendes verabre-<br />

det. Er wird von dem sagenhaften Alten, der hier eine wertvolle<br />

Sammlung besitzt, eine Anzahl her<strong>aus</strong>angeln. Stups spielt die<br />

Instrumente durch und sucht die zwei oder drei besten her<strong>aus</strong><br />

(ohne daß sie etwas vom Preise erfährt). Diese <strong>aus</strong>gesuchten<br />

Instrumente darf sie auf mein ehrliches Gesicht vierzehn Tage<br />

mit nach Leipzig nehmen, dort vielleicht Frl. Schönert u. Herrn<br />

Prof. Bosse um Gehör bitten – und dann die beste Geige am<br />

Halse packen. Die übrigen schaffe ich wieder hierher. Damit war<br />

der Nachmittag vorbei, ich mußte erst eine Führung zu Ende<br />

gehen lassen – die ich durch Zwischenbemerkungen erheiterte<br />

und konnte erst danach die Verhandlung zu obigem Ender-<br />

gebnis führen. Es möchte – soweit das möglich – ohne „Be-<br />

trug“ abgehen (was ich auch besprochen, weil meist einer be-<br />

trogen wird, entweder indem der Verkäufer zu wenig bekommt<br />

– das kann dann später manchmal dem Besitzer nicht beson-<br />

ders angenehm sein – oder indem der Käufer übervorteilt wird<br />

– wobei, wie ich dem Sachverständigen sagte, das Gefühl, den<br />

Dummen gemacht zu haben, mir peinlicher ist als der Verlust<br />

von hundert Mark. Keiner soll sich „ins Fäustchen lachen“, wie<br />

der Volksmund sagt.<br />

Auf Geigensuche<br />

70 71


72 73<br />

1962<br />

<strong>Waldheim</strong>, den 30. Januar<br />

Vorratswirtschaft: Haltet jetzt immer drei Stück Butter be-<br />

reit, sie ist zur Zeit zu haben und jeweils 10 Eier – die zu 4,40 M<br />

– die großen. Es war bisher jedes gut. […]<br />

Nach Briefblocks werde ich forschen. Der Parteigenosse<br />

wird für das Fehlen dieser Dinge schon eine „Erklärung“ haben<br />

– aber auf die kann man leider nichts schreiben. Und Papier<br />

können wir auch schwerlich selber machen, höchstens „hand-<br />

geschöpftes Bütten“, wenn wir uns die Mühe machen, das im<br />

Waschkessel zu probieren. Wenn alle Stränge reißen, probiere<br />

ich auch das. Was ein paar gefangene chinesische Soldaten so<br />

um 930 in Babylon verraten und <strong>aus</strong>geführt haben, muß doch<br />

heute auch noch gelingen.<br />

4. Februar<br />

Ich stelle Dir eine Aufgabe: Du nimmst das neue Goethe-<br />

Jahrbuch, das Weihnachten ankam, schlägst die Seite 99 auf<br />

und liest mit wachsender Anteilnahme den Aufsatz von Hans-<br />

Heinrich Reuter „Goethe im Spiegel seiner Tagebücher“. Das<br />

ist eine ganz vortreffliche Arbeit, die ich heute nachmittag in<br />

einem Zuge durchgelesen habe. Und weil ich Dir gerne einen<br />

Genuß verschaffe – „für den Du bist“ – mache ich Dich drin-<br />

gend darauf aufmerksam. Man hat nichts von seinen Schät-<br />

zen, wenn man sie im Regal stehen läßt und allwöchentlich ab-<br />

staubt. Schieb also in den Arbeitstag mal ein paar Lesestun-<br />

den ein; denn es ist keine Bettlektüre. Da sollst Du schlafen


1962 Autorität und Automat<br />

und nichts andres tun! Außerdem ist das Buchformat dazu we-<br />

nig geeignet.<br />

5. Februar<br />

Ich stand erst 10 15 auf, schlief die Nacht elend, weil mein<br />

Schädel Xenien bastelte contra. Eine lange Arbeit 1 im Goethe-<br />

jahrbuch berichtet über die Neueinrichtung des Goethemuse-<br />

ums in Weimar.<br />

Goethe ging vorige Nacht durch die hellerleuchteten Säle,<br />

sagte vernehmlich: Hm, hm. Meyer erwidert: So ischts!<br />

niemals hatten wir vor, zu Funktionären zu werden –<br />

die sich wandelnde Zeit wandelt schließlich auch uns!<br />

Hm, hm, sagte drauf Goethe, ich will ein Beispiel erzählen:<br />

Karl der Große bereits rauchte Cigarren <strong>aus</strong> Cuba<br />

mitten im Cölner Dom – der damals noch nicht gebaut.<br />

Alles glaubet die Menge, wird sie gehörig belehret,<br />

und für Schüler ist doch dieses Museum erdacht.<br />

Schließlich glauben wir selbst, wir sind für Fortschritt gewesen –<br />

gehn wir lieber zurück in uns gemäßere Zeit.<br />

Sprachs und bestieg mit Meyern ein mephistophelisches Flugzeug,<br />

aufwärts hoben sie sich, wurden hier nicht mehr gesehn.<br />

Laß Dir nicht einfallen, solche Xenien in Weimar zu ver-<br />

breiten oder sonstwo! Das ist das Ergebnis der Lektüre von<br />

S. 154–200 des Goethe-Jahrbuchs. Wie recht hat doch Wachs-<br />

muths Thema vom „Wandel des Goethe-Bildes“ 2 . Doch wer hat<br />

Goethen selber?<br />

Und die mitgeteilten Themen sind auch nichts andres als<br />

Brillen, die Unerkennbares deutlicher machen sollen und es<br />

verzerren. Man nimmt Sätze <strong>aus</strong> einem nicht gegebenen Zu-<br />

1 Alfred Jericke, Die Neugestaltung des Goethe-Museums in Weimar. In: Goethe. N. F.<br />

des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft. Bd. 23, Weimar 1961.<br />

2 In: Goethe. Bd. 22, Weimar 1960, S. 1–20.<br />

sammenhang zum Anlaß unverbindlichen Geredes, stellt als<br />

„Tatsache‘‘ etwas hin, dessen Tatsächlichkeit erst zu untersu-<br />

chen wäre. Beispiel: „Sinken der Autorität“ – was meint man<br />

damit? Hätte man noch vom Wandel der Autoritäten gespro-<br />

chen! Der auch durch<strong>aus</strong> nicht überall auftritt! Die des Paps-<br />

tes z.B. ist nach und vielleicht gerade durch Luther gewachsen<br />

– und das sind viele Millionen. Oder: das oben genannte Mu-<br />

seum bemüht sich mit Aufwand großer Mittel, Goethes Autori-<br />

tät als Schutzheiligen der eignen Bemühungen wirksam zu ma-<br />

chen. Man kann genau so gut von einer Verknechtung unter<br />

„Autoritäten“ reden. Jede Art von „Schulung“ ist ein Bestreben<br />

in dieser Richtung.<br />

[Hierzu die Fußnote von <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>:] Goethes Betonung<br />

der „Ehrfurcht“ im „Wilh. Meister“ läßt darauf schließen, daß<br />

er es damals für nötig hielt, diese Erziehungskraft stark zu be-<br />

74 75<br />

tonen.<br />

Und das Geschwätz vom „selbständigen Automaten“! Von<br />

der Wäscheklammer an – die zwei Finger ersetzt – bis zur Fern-<br />

sehkiste, die dem Betrachter Gleichzeitiges oder Vergangenes<br />

<strong>aus</strong> räumlicher Weite heranbringt, ist jedes Werkzeug, einfach<br />

oder kompliziert, eine Projektion menschlicher Organe (Finger<br />

zum Halten, zum Bohren von Löchern, gleichviel ob in einen<br />

kranken Zahn oder in einen Felsen, Augen für Kleinstes im Mi-<br />

kroskop, für weit Entferntes in der Sternwarte und soo weiter).<br />

Wer aber diese Werkzeuge gebraucht, bleibt immer noch ihr<br />

Herr. Der Automat steht „zur Verfügung“ – er ist willenlos; nur<br />

der Wille des Menschen läßt ihn funktionieren. Du schaltest die<br />

Lampe an und schimpfst höchstens, wenn sie mal den Dienst<br />

versagt – und Du schaltest sie <strong>aus</strong>, wenn Du willst. […]<br />

Ich sehe hinter allen diesen Themen eine Art romantischen<br />

Ressentiments ergrauter Studienräte, deren Weltverständnis<br />

mit dem Wachsen ihres Selbstbewußtseins nicht Schritt hält.<br />

„So ischts!“ sagte Heinrich Meyer.


1962 „Egmont“-Vortrag<br />

Oistrachs Geige ist vielleicht ein paar hundert Jahre alt, er<br />

denkt nicht daran, sie für einen vollkommenen Automaten hin-<br />

zugeben und reist mit ihr wie Menuhin rund um den Globus.<br />

Niemand kriegt Karten, weil alles dieses „unvollkommene“ Ge-<br />

rät hören möchte.<br />

10. März<br />

Die Postbelegschaft will am 28. März nach Chemnitz in den<br />

„Egmont“ fahren und bittet, ihr vorher einen Einführungsvor-<br />

trag zu halten! Das ist doch gut. Sie hätten doch für ihr Geld<br />

auch einen Saufabend ansetzen können. Das gefällt mir. Ich<br />

halte also am Montag, den 26. März abends 8 h im Kultursaal<br />

der Post diesen Vortrag, der mir erlaubt, mein Gedächtnis zu<br />

erproben.<br />

13. März<br />

Daß Du am Montag keine Post hattest – die war eben wider<br />

Erwarten Dir am Sonntag gebracht worden. Wer konnte ahnen,<br />

daß man – wahrscheinlich um auf die Messegäste einen guten<br />

Eindruck zu machen – diesmal am Sonntage <strong>aus</strong>tragen würde?<br />

Das Stäbchen an der Amaryllis kannst Du nun wieder wegneh-<br />

men, es hat seinen Zweck erfüllt, indem es uns belehrte, daß<br />

der Blütenstiel täglich 2cm emporwuchs. Schreib mir, wann sie<br />

aufblüht und welche Farbe die Blüte hat.<br />

Mit dem „Egmont“ hab ich mich täglich befaßt, ihn mehr-<br />

mals gelesen; alles gelesen, was Goethe selber darüber gesagt<br />

hat, was die Sch<strong>aus</strong>pieler, die ihn in Weimar unter Schillers Lei-<br />

tung aufgeführt haben, an Erinnerungen hinterlassen haben.<br />

Auch der historische Hintergrund ist klar. Den werde ich kurz<br />

entwickeln. Und als Hauptteil lese ich das Ganze so vor, daß es<br />

die Zuhörer nicht vergessen. Dabei werde ich Zwischenerklärun-<br />

gen ganz knapp halten. Man muß doch bedenken, daß die we-<br />

nigsten das Stück kennen werden. Sind sie dann mit dem In-<br />

halte vertraut, werden sie die Aufführung leichter verstehen. Wer<br />

Fragen hat, mag sie dann stellen. Es hätte für diese Zuhörer we-<br />

nig Wert, literarische und philologische „Gelehrtheit“ <strong>aus</strong>zukra-<br />

men, wie es falsch wäre, einen Diamanten <strong>aus</strong>führlich zu be-<br />

schreiben, alles Kristallographische, Chemische, Physikalische<br />

darüber zu berichten – statt ihn im Lichte vor den Zuhörern blit-<br />

zen zu lassen. Es ist immer dasselbe: nicht die Speisekarte le-<br />

sen, sondern den Braten genießen. Leider ist sehr vieles, was<br />

sich „Unterricht“ nennt, nur Speisekartenlektüre, aber nicht<br />

Speisung. Und wie einfach scheint es mir, das zu begreifen. […]<br />

Sonntag war hier schönstes Frühlingswetter – aber seit ges-<br />

tern ist wieder Winter, und es schneit.<br />

Gestern bekam ich nur noch den „Morgen“, die Zeitung der<br />

LDP auf der Post. Dummes Zeug steht da. Z.B. wird Goethe mit<br />

Leipzig u. der Messe in Verbindung gebracht mit seinem völlig<br />

ironisch gemeinten Satze: „Mein Leipzig lob’ ich mir! / Es ist ein<br />

klein Paris, und bildet seine Leute.“ 3 Das sagt allerdings nicht<br />

Goethe, sondern ein dummer zotiger Saufbruder in Auerbachs<br />

Keller, wo Proben dieser „Bildung“ zu erleben sind und zehn<br />

Zeilen vorher gesagt wird: „Mit wenig Witz und viel Behagen /<br />

Dreht jeder sich im engen Zirkeltanz...“ Darauf sollte man diese<br />

Zeitungsschreiber mal hinweisen, aber sie wissen offenbar sel-<br />

ber nicht, in welchem Zusammenhang diese Verhöhnung der<br />

Leipziger steht. Und sie merken nicht, wie lächerlich es wirkt,<br />

dieses traditionslose Kuhdorf mit Paris zu vergleichen.<br />

Es stimmt schon, Jahrhunderte müssen noch hingehen,<br />

bis Goethe verstanden wird. Wenn die Leipziger Verstand hät-<br />

ten, ließen sie „Auerbachs Keller“ nicht mit aufführen, weil die<br />

ganze Scene eine Darstellung der gedankenlos unbeschwerten<br />

Leichtlebigkeit dieses Volkes ist. Aber sie fühlen die Hiebe nicht<br />

und halten sich für geehrt, diese Schildbürger.<br />

3 F<strong>aus</strong>t I. Auerbachs Keller in Leipzig.<br />

76 77


1962<br />

17. März<br />

17. März – das ist der Tag, an dem ich 1933 <strong>aus</strong> dem Dienst<br />

geschickt und den Bestien zum Fraße vorgeworfen wurde.<br />

Der Elternabend muß schön gewesen sein – endlich mal<br />

sagt jemand etwas. Ganz natürlich mußte es dahin kommen:<br />

unten der kommandierte Zustrom von „höheren“ Schülern, die<br />

alle Ingenieure, Ärzte und was weiß ich werden wollten; oben<br />

floß dann ein großer Teil nach dem Studium westwärts ab, un-<br />

dankbar, wie sie waren. Jetzt ist diese Abflußröhre zugedreht –<br />

und man weiß nicht mehr, wohin mit den Leuten. Man tut sich<br />

was, daß es hier keine Arbeitslosen gibt, nein, die gibt es nicht;<br />

denn sie sitzen vier Jahre lang auf Schulbänken und in Kaser-<br />

nen. Und wie viele fahren mit Aktentaschen – keine Angst, da-<br />

rin sind die Fettbemmen – in der Gegend herum, machen „In-<br />

venturen“, begucken leere Regale, auf die sie dann große Pho-<br />

tographien stellen, vom Ballett – wie in dem großen Laden auf<br />

der Grimmaischen Straße, mit einem Nachthemd für 180 M, und<br />

bebilderten Schaufenstern. Freilich, Ballett spart Textilien. Stellt<br />

Nackttänze hin, is more attractive und täuscht über das Nicht-<br />

vorhandene.<br />

Nun könnte man wohl den Strom in das veraltete „Hand-<br />

werk“ lenken, die letzten Erfahrungen absterbender Meister zu<br />

beleben und weiter zu geben – aber wenn das die Meister be-<br />

zahlen sollen, werden sie verständlicherweise schwerhörig und<br />

verzichten auf so teure Lehrlinge. Außerdem: wie soll einer<br />

Buchbinder werden, wenn die Pappe fehlt, der Zwirn reißt, die<br />

Werkzeuge bloß zum Ansehen gut sind, aber beim Gebrauche<br />

schnell kaputt gehen? […]<br />

Morgen früh 6 35 fahre ich nach Dresden. Freilich so bei<br />

Nacht aufstehen und durch die Gegend fahren ist nicht gerade<br />

schön – aber diese Sache interessiert mich doch. Es ist mög-<br />

lich, daß da einem etwas eingefallen ist. Spiele mit Kurven, Flä-<br />

chen und Licht – das klingt recht verlockend, da werde ich die<br />

Abneigung gegen das Wegfahren überwinden. Abend 8 h bin<br />

ich wieder in meinem Bau. […]<br />

Gestern und heute wurden noch 4 Bände Galsworthy ge-<br />

bunden, noch nicht ganz fertig. Ich hab also 7 Bände von die-<br />

sem Autor. In einem lag noch ein Kassenzettel vom Mai 1923:<br />

da kostete so ein Band nicht mehr 1,60 M wie vorher, sondern<br />

4000 M, später 1,80 M und jetzt? Nicht zu haben.<br />

Gut, daß Du Montag in die Geigenstunde gehst.<br />

Montag, den 19. März<br />

Auf diesem Blatte wollte ich Dir von Dresden <strong>aus</strong> schrei-<br />

ben – aber ich kam nicht dazu. Früh (oder nachts) 6 35 fuhr ich<br />

mit dem Bus über Kriebethal nach Dresden und ging bei einer<br />

für Dresden unerwartet unangenehmen kalten Spätwinterluft<br />

nach der Technischen Hochschule, wo ich bereits ¼ 10 h einen<br />

guten Platz in dem riesigen Mathematikhörsaal besetzte. Und<br />

das war gut, denn 10 h als es los ging, standen viele Leute in<br />

den Gängen des mit 800 bis 1000 Menschen gefüllten Raumes.<br />

Der Professor Bereis 4 – ein Österreicher – sprach frei ohne je-<br />

den Zettel und führte, unterstützt von drei Assistenten, herrli-<br />

che Experimente vor. Modelle <strong>aus</strong> Draht und <strong>aus</strong> Perlon wurden<br />

mit einem winzigen Projektor angeleuchtet, auf einem schwarz<br />

gedeckten „Altar der Wissenschaft“ aufgestellt und von einem<br />

Assistenten in schwarzen Handschuhen bedient, so daß die Il-<br />

lusion eines Zauberers vollkommen war. Durch Pyramiden und<br />

Zylinder <strong>aus</strong> Perlongaze legten sich Lichtebenen, wandernd in<br />

einem gedrehten Zycloidenmodell. Seltsame Flächen erschie-<br />

nen, gebildet <strong>aus</strong> wandernden Kurven. Schraubtangenten<br />

tropften in Lichtpunkten. Spirische Kurven 4. Ordnung, Lemnis-<br />

4 Rudolf Bereis (1902–1966), Professor für Mathematik und theoretische Mechanik an<br />

der Technischen Hochschule Wien, 1957–1966 Direktor des Instituts für Geometrie<br />

an der Technischen Hochschule Dresden.<br />

Professor Bereis<br />

78 79


1962 Meine alte Vorliebe für Schrift<br />

katen, Loxodrome. Kegel-, Pyramiden- u. Cylinderschnitte sah<br />

man entstehen als Lichtflächen. Das war eine sehr genußrei-<br />

che Sache.<br />

9. April<br />

Heute werde ich mit den 848 Seiten des Kriegsbuches 5 fer-<br />

tig, das mir Dr. Toepel 6 vor seiner Abreise gebracht hat. Das ist<br />

ein sogenanntes „berühmtes Buch“. Aber es tut mir leid, Hugo<br />

von Hofmannsthal widersprechen zu müssen, der es für eins<br />

der schönsten Bücher erklärt, die er je gelesen. „Dieser Mensch<br />

ist ebenso bewundernswert und der wahre Typus des Helden,<br />

unserer Zeit angehörig wie jeder früheren, als er von einer un-<br />

vergleichlichen Eleganz und innerer Grazie ist – und dazu wun-<br />

derbarerweise ein so großer Schriftsteller wie Sallust. Ich weiß<br />

nicht, was ich geben würde, ihm zu begegnen.“ Und so weiter.<br />

Carl Burckhardt urteilt viel sachlicher. 7 Und ich verfluche den<br />

Kerl samt dem Buche: Der Verfasser hat 1) einen alten Minder-<br />

wertigkeitskomplex (der nur in einer halben Zeile des dicken<br />

Wälzers sichtbar wird), 2) er hat in früher Jugend ein schweres<br />

psychisches Trauma versetzt bekommen (ist <strong>aus</strong> einem Satze<br />

zu erschließen) – <strong>aus</strong> diesen psychischen Schäden erhebt sich<br />

der politische und persönliche Ehrgeiz eines Abenteurers, der<br />

mit allen Mitteln die Welt erstaunen lassen will. Und – siehe<br />

Hofmannsthal – es gelingt ihm. Da werden Menschen ohne Zahl<br />

sinnlos gemordet, Städte zerstört, fahrende Eisenbahnzüge mit<br />

Bomben in die Luft gejagt und so weiter. – „Der wahre Ty-<br />

pus des Helden“ sagt der Romantiker Hofmannsthal, der win-<br />

5 Thomas Edward Lawrence, Die sieben Säulen der Weisheit.<br />

6 Der praktische Arzt Sanitätsrat Dr. Curt Töpel (1902–1979) war nach Dr. Adolf Mohrs<br />

Weggang <strong>aus</strong> <strong>Waldheim</strong> <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s H<strong>aus</strong>arzt und Gesprächspartner. <strong>Arthur</strong><br />

<strong>Pfeifer</strong> besuchte ihn zuzeiten jeden Sonntag.<br />

7 <strong>Briefe</strong> vom 20. bzw. 29. Dezember 1927. Vgl. Hugo von Hofmannsthal / Carl J. Burck-<br />

hardt, Briefwechsel, Frankfurt am Main 1991 (Neu<strong>aus</strong>gabe von 1956), S. 253–255.<br />

selt, wenn der Kaffee alle ist; aber hier sieht er vielleicht so ei-<br />

nen nachträglichen Kreuzfahrer. In das Schicksal eines Betrof-<br />

fenen können sich die Leute nicht versetzen. Wenn ein eitler<br />

Mensch mit einer stolzen Entschiedenheit auftritt, blendet er<br />

selbst gescheite Leute, denen man ein selbständiges Urteil zu-<br />

trauen sollte.<br />

80 81<br />

10. April<br />

Schönen Dank für den Brief, plena novarum rerum [voller<br />

Neuigkeiten]. Ich hab nun doch die 15 M von der Post und noch<br />

10 M dazu für mich verpulvert und mir so ein Schriftblatt des<br />

leider in Einzelblätter zerlegten spanischen Psalters schicken<br />

lassen, zunächst bloß <strong>aus</strong> meiner alten Vorliebe für „Schrift“.<br />

Es gelingt langsam – vorhin erhielt ich das Blatt – den Sinn<br />

zu entziffern. Das ist dadurch erschwert, daß die alten Schrei-<br />

ber Abkürzungen anbrachten, die nicht immer leicht zu deuten<br />

sind, z.B. Du liest aia und kommst nach und nach dahinter, daß<br />

das anima besagt. Also die umgekehrte Schreibweise wie im<br />

Hebräischen, wo die Vokale ungeschrieben bleiben. Der letzte<br />

Satz des Blattes ist als Wandspruch oder auch groß als „Trans-<br />

parent“ möglich: „obstructum est os loquentium iniqua“: Der<br />

Mund derer, die Ungerechtes reden, muß verstopft werden. 8<br />

Wenn das Sitte würde, bekämt Ihr täglich weißes Papier als<br />

Zeitung, eine große Erleichterung der Zeitungsschau 9 (= kommt<br />

als Abkürzung vom „Schauerlichen“!)<br />

12. April<br />

Bäßler lieh mir die Photokopie einer Zeitungsseite der<br />

„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 11. Juli 1959, enthaltend<br />

ein Stück „Schreibtischliteratur“, einen Aufsatz 10 des westdeut-<br />

8 Nach Psalm 63,12<br />

9 Kurze politische Unterweisung vor dem Unterricht anhand der Staatspresse.<br />

10 Zum Thema Geschichte


1962 Ein schmucker Arbeiter-Palast<br />

schen Dichters Gottfried Benn <strong>aus</strong> dem Jahre 1943, nie veröf-<br />

fentlicht, weil für den Verfasser lebensgefährlich, gerichtet ge-<br />

gen das „Dritte Reich“, erhaben rücksichtslos. Nun aber das zu<br />

Beachtende: auch nach 1945 wurde nicht gewagt, dies zu dru-<br />

cken, und so erscheint er 1959 zum ersten Male in einem Band I<br />

der „Essays, Reden und Aufsätze“ des Dichters – dessen Tod<br />

man abgewartet hat, ehe man dies zu drucken wagte, weil der<br />

Verfasser vermutlich vor seinem Tode gestorben worden wäre.<br />

Das zeigt deutlicher als vieles andre das westliche Klima. – Daß<br />

drüben der Mörder 11 Liebknechts und Rosa Luxemburgs sich<br />

jetzt (jetzt) seiner Tat gerühmt hat, wirst Du gelesen haben. –<br />

Nein, pflückt Gänseblümchen, und lest nichts mehr. Die „Raum-<br />

schiffe“ sind symbolisch, es wird Zeit, den S<strong>aus</strong>tall „Erde“ zu<br />

verlassen.<br />

13. April<br />

Eine umfassende Krähenvergiftung ist angeordnet: man<br />

lernt nichts! Das hatte schon mal der Göring angestellt mit<br />

der Wirkung, daß sich die Feldmäuse in schauriger Weise ver-<br />

mehrten. Das hab ich damals in der Zschopauer Gegend gese-<br />

hen: die Felder waren zersiebt von Mäuselöchern, deren Be-<br />

wohner man in Riesenzahlen ungestört beobachten konnte. Ob<br />

diese nun weniger Flurschaden machen als die Krähen, die de-<br />

ren Zahl verringerten? Aber „wir sind stolz“ – immer – „wir be-<br />

herrschen die Natur!“ Leider nicht die eigene. – Schneider ***,<br />

der 1917 an der syrischen Front war – wo dieser Lawrence die<br />

Araber aufwiegelte – bestätigte, daß vor allem häufig Einzel-<br />

posten von den Arabern umgebracht wurden – eine herrliche<br />

Welt. – Leider fehlen für die Jugendgeschichte des Caesar alle<br />

Quellen. Aber <strong>aus</strong> den späteren Verbrechen dieses Helden kann<br />

11 Waldemar Pabst (1880–1970) war der Organisator des Doppelmordes, vgl. sein In-<br />

terview in: Der Spiegel vom 18. April 1962.<br />

man wohl auch auf einen Psychopathen schließen. Ob schon<br />

mal einer eine vergleichende Geistesgeschichte der „Helden“<br />

geschrieben hat?<br />

82 83<br />

30. April<br />

Eben kam wieder eine Handvoll Schnee durch die Luft ge-<br />

wirbelt. Das erfüllt mich mit Kummer, weil ich daran denke, daß<br />

Du eigentlich im Sonnenschein durch Wald und Flur streifen<br />

solltest. – Der alte Mann schrägüber ist von pöbelhafter Rüs-<br />

tigkeit, baut, gärtnert, schleppt, hämmert – und das als Rent-<br />

ner! Der sollte in den „Arbeitsprocess“ gespannt werden. Es ist<br />

aufreizend, so einen zu sehen. Allerdings hat er ein Leben lang<br />

seine Kraft gespart, denn er stand früher als „Aufseher“ bei<br />

den Gefangenen herum, ohne selbst etwas zu tun – und jetzt<br />

genießt er aufgesparte Kraft. Wenn ich dabei meine Hinfällig-<br />

keit merke, verdrießt mich das; schön ist das nicht. Ganz unbe-<br />

kümmert nagelt er bei dem Schneegestöber seine neuen Zaun-<br />

latten an, heftig den Hammer schwingend.<br />

5. Mai Sonnabend nachm.<br />

Ob bei Dir jetzt auch die Sonne scheint? Hier ist mal einen<br />

Nachmittag ein klarer Himmel. Am Fliederbusch stehen bereits<br />

die neuen Blütenrispen noch in Knospen und warten auf war-<br />

mes Wetter, wie ich. Drüben wuselt der fleißige Alte mit zwei<br />

Maurern beim Bau von einem halben Dutzend Gartensäulen,<br />

nachdem sie erst eine neue Grundmauer im Florentiner Rustica-<br />

Stil aufgeführt haben. So ist in den letzten Jahren dieses alte<br />

H<strong>aus</strong> nach und nach ein schmucker Arbeiter-Palast geworden:<br />

in einem Jahr ein neues Dach, im andern das ganze H<strong>aus</strong> neu<br />

verputzt, im dritten eine Garage gebaut für das eigene Auto,<br />

jetzt ist Gartenmauer und Tor neu errichtet. Das muß man eben<br />

auch sehen; vor 50 Jahren wäre so etwas kaum möglich gewe-


1962 Buchmaler und Schreiber<br />

sen, es sei denn der Arbeiter hätte eine Erbschaft gemacht oder<br />

in der Lotterie gewonnen, beides sehr seltene Fälle.<br />

4. Juni<br />

Der von den Atombombenversuchen verseuchte Himmel<br />

hängt wieder grau vor dem Fenster. Wirklich, eine recht erbauli-<br />

che Welt. – Das ist nun wohl der Gipfel, der nicht mehr zu über-<br />

gipfeln ist: „Tabletten, die mit Sicherheit bewirken, daß man<br />

den Ereignissen des Lebens ruhiger begegnet.“ Was von in-<br />

nen her – durch geistige Bemeisterung der Erscheinungen – bei<br />

wachem Bewußtsein zu geschehen hätte, wird nun von außen<br />

durch etwas Freßbares zu erzwingen versucht, durch eine teil-<br />

weise physiologische Narkose. Ich muß schon sagen: Wäre ich<br />

Gesundheitsminister, ließe ich diesen ganzen Vorrat dieser Tab-<br />

letten ins Wasser werfen, auf die Gefahr hin, daß die Fische dem<br />

Geangeltwerden mit völliger Seelenruhe entgegenschwimmen.<br />

Nach und nach scheint freilich alles wahnsinnig zu werden. […]<br />

Im Amselnest sind zwei Junge bereits geschlüpft, vier Eier<br />

liegen noch drin und werden bebrütet; bloß den Alten sah ich<br />

noch nicht, er will offenbar in übertriebener Bescheidenheit<br />

nicht als Verfasser seiner Werke erkannt werden und meidet<br />

Begegnungen mit Menschen.<br />

Fahrpläne. Interessante Armseligkeit ist es doch: Da gibt es<br />

(„gibt“ – wirklich) einen „Internationalen Fahrplan“ für die Be-<br />

nutzer von Interzonenzügen – aber einen für Reisen innerhalb<br />

dieses Gefängnisses sucht man vergeblich! Da muß man auf<br />

dem Bahnhofe sich umsehen. Nun frage ich mich, wer wohl den<br />

Interzonenfahrplan braucht. Freilich: „die wieder zurückreisen“<br />

– aber es kommt kaum jemand herein, und wenn schon, dann<br />

wird er so gefesselt sein, daß er hier bleibt. Wozu dann dieser<br />

Fahrplan? (Beruhigungstablette!)<br />

Hattest Du eigentlich heute Geigenstunde? Das hab ich<br />

ganz vergessen, wie das geregelt war, obwohl ich es doch mit<br />

angehört habe. Alles Wirkung der Bombenluft! (Tablette!) Je-<br />

denfalls sind die kümmerlichen Figuren, die im Mittelalter und<br />

bei „F<strong>aus</strong>t“ als Teufel so den Ausbund der Bosheit darstel-<br />

len sollten, doch ganz armselige Dilettanten gegenüber diesen<br />

Atomfritzen, denen auch niemand beikommen kann.<br />

84 85<br />

4./5. Juli<br />

Ich hab gleich noch zwei Bücher gebunden. Den Gluck, den<br />

ich Dir schickte, kannst Du doch, wenn Du ihn gelesen hast, als<br />

„kunstgewerbliche Ware“ an [das Antiquariat] Engewald ver-<br />

kaufen und dabei das mehrfache des Einkaufspreises erzie-<br />

len. Man muß immer sehen, daß man zu etwas kommt. Solche<br />

Bastelei ist eine ganz vergnügliche Sache. Ich könnte mir den-<br />

ken, daß ich so vor 600 Jahren als Buchmaler und Schreiber in<br />

irgendeinem Benediktiner-Kloster allerhand nette Sächelchen<br />

gepinselt hätte.<br />

Daß Du in mehreren Geschäften Anstand lernst, ist fast<br />

strafbar. Eier sind jetzt sogar in Kriebethal knapp! Warum? Die<br />

Hühnerhalter bekommen Körnerfutter nur nach der Zahl der<br />

von ihnen an der Sammelstelle abgelieferten Eier. Wenn sie<br />

also selber Eier für sich haben wollen, sind sie gezwungen, je-<br />

des übrige abzuliefern, weil es eben an Körnerfutter fehlt, das<br />

sonst nirgends zu haben ist. So greift eins ins andre. Und zau-<br />

bern kann eben niemand.<br />

In „Wilhelm Meisters Wanderjahren“, I. Buch 12. Kapitel,<br />

tritt ein Alter auf, der in einem jahrhunderte alten H<strong>aus</strong>rate<br />

wohnt und den sehr anschaulich schildert, wobei sehr ver-<br />

nünftige Begründungen gegeben werden. „Anteil und Tätigkeit<br />

konnt’ ich daher auf gar viele andere Gegenstände wenden,<br />

weil ich mich mit der Veränderung dieser äußern Bedürfnisse,<br />

die so vieler Menschen Zeit und Kräfte wegnimmt, nicht weiter<br />

beschäftigte“ u.s.w. Der Mann sollte sich heute durch die Stra-<br />

ßen bewegen und von all den Plakaten anschrein lassen, die


1962 Albert Schweitzer<br />

ihn auffordern, „sich neu zu kleiden“ – warum? Um seine Auf-<br />

merksamkeit von Wesentlichem auf Unwesentliches abzuleiten.<br />

Die wenigsten wissen oder ahnen, was mit ihnen alles ange-<br />

stellt wird, kriegen völlig unnötige Sorgen aufgehalst und las-<br />

sen sich treiben und jagen.<br />

5. Juli<br />

Den „Wilhelm Meister“ (über 1000 Seiten) hab ich nun wie-<br />

der einmal durchgelesen. Schillers Begeisterung über dieses<br />

schöne Werk ist mir heute noch verständlich. Wie viel Erleb-<br />

tes, Autobiographisches ist da hinein gebaut. Und welche Fülle<br />

gediegener Lebenserfahrung ist in klugen Sätzen kristallisiert.<br />

Es ist ein großer Fehler gewesen, nicht in jenen Jahrzehnten in<br />

Weimar gelebt zu haben. Ich hätte doch einen guten Prinzen-<br />

oder Prinzessinnenerzieher abgegeben. Die Leute wären dabei<br />

auch in gute Gesellschaft gekommen. Goethe hätte ein Modell<br />

mehr gehabt für sein Figurenkabinett. Das ist nun alles in der<br />

Weltgeschichte <strong>aus</strong>gefallen.<br />

Jetzt lese ich nun die Bemerkungen zu „Wilhelm Meister“,<br />

die – von Goethe selbst stammend – im Gräf 12 zusammenge-<br />

stellt sind, wo sie 375 Seiten einnehmen. Es ist eine ungeheuer<br />

fleißige und genaue Arbeit, in der alle Erwähnungen des Wer-<br />

kes, die bei Goethe in <strong>Briefe</strong>n oder Gesprächen aufzufinden<br />

waren, in zeitlicher Folge zusammengestellt sind. Man schaut<br />

da in die Werkstatt des Dichters und entdeckt Beziehungen<br />

und Hinweise, die für das Verständnis des Ganzen sehr wertvoll<br />

sind. V. Buch, 1. Kapitel: Serlo „pflegte zu sagen: ,Der Mensch<br />

ist so geneigt, sich mit dem Gemeinsten abzugeben, Geist und<br />

Sinne stumpfen sich so leicht gegen die Eindrücke des Schö-<br />

nen und Vollkommenen ab, daß man die Fähigkeit, es zu emp-<br />

12 Hans Gerhard Gräf (Hg.), Goethe über seine Dichtungen. Theil 1, Bd. 2: Die epischen<br />

Dichtungen, Frankfurt am Main 1902.<br />

finden, bei sich auf alle Weise erhalten sollte. Denn einen sol-<br />

chen Genuß kann niemand ganz entbehren, und nur die Un-<br />

gewohntheit, etwas Gutes zu genießen, ist Ursache, daß viele<br />

Menschen schon am Albernen und Abgeschmackten, wenn es<br />

nur neu ist, Vergnügen finden. Man sollte‘, sagte er, ,alle Tage<br />

wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein<br />

treffliches Gemälde sehen und, wenn es möglich zu machen<br />

wäre, einige vernünftige Worte sprechen.‘“<br />

86 87<br />

8. Juli<br />

Winterliche Kleidung ist anzuraten, da Ihr ja nicht die Fä-<br />

higkeit habt, das Wetter günstig zu gestalten, das von andern<br />

Leuten nach „genauester wissenschaftlicher Überlegung“ ver-<br />

saut wird. Daß Albert Schweitzer auf die Gefahr der Beschä-<br />

digung der Atmosphäre ernstlich hingewiesen hat, freut mich<br />

sehr, besonders weil dieser Gedanke mir seit Jahren geläufig ist<br />

und von denen nicht widerlegt – sondern nur belächelt werden<br />

konnte, die der „Wissenschaft“ frönen. Man wird natürlich auch<br />

dem Urwalddoktor die Berechtigung absprechen, über diese<br />

Experimente als „Nicht-Fachmann“ sich Gedanken zu machen<br />

und diese zu verbreiten. […]<br />

Beim Lesen des „Wilhelm Meister“, auch des erst 1910 aufge-<br />

fundenen ersten Entwurfes „Wilhelm Meisters theatralische Sen-<br />

dung“ merkt man erst, was man dem Leser im 18. Jahrhundert<br />

zumuten konnte. Und ferner: neben diesen Sachen erscheinen<br />

mir viele heutige etwa wie Maulwurfshaufen am Matterhorn.<br />

24. Juli<br />

Gespräch auf der Polizei wegen einer Einreise: „Warum ist<br />

er denn damals illegal nüber?“ – „Sein Musikprofessor war hin-<br />

übergegangen, bei dem er weiter studieren wollte.“ – „Na, das<br />

hättr nich needch gehabbt, wo mir doch ooch große Mussiger<br />

ham, wie Bach zum Beischbiel.“


1962 Schlangestehen<br />

Das ist doch rührend. Man kann nicht von jedem verlangen,<br />

daß er Musikgeschichte studiert. Für den ist also Bach nicht ge-<br />

storben. Was will man mehr? Das nenne ich lebendiges Kultur-<br />

gut! (Oder hab ich Dir das bereits geschrieben? Fange ich an,<br />

zu verwirren?)<br />

25. August<br />

Die „Götterlehre“ von Karl Philipp Moritz lese ich bereits<br />

zum zweiten Male; das ist eine entzückende Arbeit, die den<br />

Geist der Zeit atmet, da Goethe mit Moritz in Italien war. Dieser<br />

arme Teufel hatte von einem Buchhändler einen Vorschuß auf<br />

ein anzulegendes Römisches Tagebuch erhalten, sah ein, daß<br />

das nicht so einfach sei und geriet auf das Thema seiner Göt-<br />

terlehre. An manchen Wendungen merkt man den Nachklang<br />

von Gesprächen mit Goethe. […]<br />

Wenn Du in Leipzig ein Päckel Mona-Kaffee bekommen<br />

kannst, bringe für Großmutti eins mit. Viel Hoffnung hab ich<br />

nicht, denn wenn hier etwas knapp ist, wird es meist überall<br />

so sein. Wasser brauchst Du für Kriebethal nicht mitzubringen.<br />

Hier stehe ich nachts auf, welches abzufüllen, da das so zwi-<br />

schen 1 h und 3 h möglich ist. Tagsüber kommt kein Tropfen.<br />

Und am Tage nach dem oben an der Ecke haltenden Wasser-<br />

wagen zu gehen und dort unter Umständen nach Wasser an-<br />

zustehen fehlt mir die Begeisterung für gemeinschaftliche Er-<br />

lebnisse.<br />

12. September<br />

Aus den <strong>Briefe</strong>n von Anna Amalia und Karl August an<br />

Merck 13 gewinnt man das vorteilhafteste Bild dieser beiden<br />

ganz außergewöhnlichen Menschen. Dagegen wird auch die<br />

neue Ideologie nichts einwenden können; denn das Bild des<br />

13 Karl Wagner (Hg.), <strong>Briefe</strong> an Johann Heinrich Merck von Goethe, Herder, Wieland<br />

und anderen bedeutenden Zeitgenossen, Darmstadt 1835.<br />

„absoluten Fürsten“, das so heutzutage in den Geschichtsklit-<br />

terungen dargeboten wird, hat nicht das geringste mit dieser<br />

Weimarischen Wirklichkeit zu tun. Auch heute würde man so<br />

bedeutende Leute mit der Laterne suchen müssen – vielleicht<br />

ohne Aussicht, sie zu finden.<br />

14. September<br />

Ja, die Ordnung der verschiedenen Zeiten, da Läden ge-<br />

öffnet sind, fängt an, eine Wissenschaft zu werden. Es kann<br />

auch vorkommen, daß so ein Plan sich über Nacht ändert oder<br />

„daß wegen Inventur“ geschlossen ist. – Die Kartoffeln hätte<br />

ich auch holen können; das unangenehmste dabei ist doch das<br />

Warten, erst beim Bezahlen, dann beim Holen. Man sollte die<br />

Schlangen photographieren und könnte dem „einschreitenden<br />

Polizisten“ sagen: „Sehen Sie, ich will den Fortschritt im Bilde<br />

festhalten. Alle diese Leute, die hier stehen, haben sich früher<br />

nie Milch oder Fleisch kaufen können; die saßen um diese Zeit<br />

an einer schlecht gelohnten Arbeit, in Lumpen gehüllt, bei ei-<br />

ner Tranfunzel. Heute stehen sie hier, gut gekleidet, an der fri-<br />

schen Luft, unterhalten sich und schleppen dann ihren Anteil<br />

am Überflusse heim, wo sie schlemmen und dämmen wie frü-<br />

her nur die Fürsten!“<br />

„Ohne jede Voreingenommenheit die Welt zu betrachten“ –<br />

das ist ein frommer Wunsch, den keiner verwirklichen kann. Ei-<br />

nen Standpunkt hat eben jeder. Wir haben früher mal an „ge-<br />

sicherte Ergebnisse der Wissenschaft“ geglaubt – aber eben<br />

„geglaubt“, denn das gibt es auch nicht. Man wird sich doch<br />

entschließen müssen, Unerklärbares auf sich beruhen zu lassen<br />

und sich an die Sphäre des Schönen zu halten. Jeder steht im<br />

Mittelpunkte seines Horizontes, und die wenigsten bedenken,<br />

daß sich diese Kreise selten decken und daß jenseits dieser<br />

Grenze unentdeckte und unüberschaubare Gebiete liegen, die<br />

wahrscheinlich viel größer sind als die überblickbaren Räume.<br />

88 89


1962<br />

1./2. Oktober<br />

Im Begriffe, mal in den Garten an der Mühle zu gehen, traf<br />

ich H[errn] Pönisch, vor seinem H<strong>aus</strong>e stehend. Er hat jetzt<br />

eine Woche Ferien, und man hat „die Alten“ vom Kartoffel-<br />

ernten befreit. Er kann also tun, was ihm beliebt. Trotzdem<br />

herrscht die fruchtlose Nörgelstimmung vor. Daß vieles wider-<br />

wärtig ist, weiß ich auch. Aber welchen Gewinn es bringen soll,<br />

diesen alten Moder ewig um und um zu schaufeln – das sehe<br />

ich nicht. Warum soll man sich die kurze Zeit damit verderben,<br />

zumal es genug unantastbar Schönes gibt? Da bleib ich lieber<br />

einsam in meiner Bude. Grüßen soll ich Euch von ihm. […]<br />

Daß Stups „Don Giovanni“ zu sehen oder vielmehr zu hören<br />

bekommt, ist recht erfreulich. Lest bitte das Kapitel darüber in<br />

dem Mozartbuche von Schurig 14 (weißer + blauer Pergamentrü-<br />

cken). Das ist sehr nötig und erhebend.<br />

Wie sich die Arbeit an der Musik-Hochschule entwickeln<br />

wird, das interessiert mich sehr. Na, wir werden sehen und hö-<br />

ren und wollen nichts durch Nörgeln uns verbittern. Was hilft<br />

alle Quengelei? Diese müde Art des Krittelns ist mir durch die<br />

Begegnung mit Pönisch gestern in ihrer ganzen Unfruchtbarkeit<br />

recht deutlich geworden. Hier gilt noch heute der alte Satz der<br />

Scholastiker: „e meris negativis nihil sequitur = <strong>aus</strong> bloßen<br />

Verneinungen geht nicht das geringste hervor“. Das bleibt rich-<br />

tig, ja es geht die Lähmung der Lebensfreude und der Lebens-<br />

kraft davon <strong>aus</strong> – und das soll man unterlassen. Du siehst, daß<br />

mich die sprichwörtliche griesgrämliche Altersdenkweise noch<br />

nicht gepackt hat und auch hoffentlich nicht erfassen wird. Wie<br />

froh bin ich, Dich in einem erfreulichen, gesundheitlichen Kräf-<br />

tezustand hier gesehen zu haben! Das ist etwas Positives, dem<br />

gegenüber so manches Mißbehagen in bloßen Rauch aufgeht.<br />

14 Wolfgang Amadeus Mozart. Sein Leben und sein Werk, Leipzig 1913.<br />

4. Oktober<br />

Hier mal wieder was zu Eurer „Büldung“: ein nicht übler<br />

Aufsatz über Elly Ney 15 . Und auf der Rückseite ist die „Schön-<br />

heit in einer morbiden Welt“ und die Klavierkonzertreportage<br />

auch lesbar. Nur – als ob es je eine andre als eine morbide<br />

Welt gegeben hätte – niemals; bloß gut, daß es Schönheit ge-<br />

geben hat und gibt!<br />

Im Verordnungsblatt steht eine Verfügung: „Grundsätze für<br />

die Planung, Organisation und Leitung der pädagogischen For-<br />

schung zur weiteren Entwicklung des sozialistischen Volksbil-<br />

dungswesens der DDR“ – das heißt also: das Denken über pae-<br />

dagogische Fragen wird bereits nach Vorschriften <strong>aus</strong>geführt,<br />

so wie ein Pudding nach Rezept zu kochen ist. Ein Genie wäre<br />

demnach auf diesem Gebiete nicht mehr möglich – innerhalb<br />

dieses kleinen Ländchens, das doch nur eine Großstadt ist, die<br />

<strong>aus</strong> Schilda oder Abdera 16 sich entwickelt hat. Aber immerhin.<br />

So ein geschraubtes, überhebliches Gerede. Da hätte sich also<br />

Pestalozzi – ehe er eine paed. Schrift verfaßte – erst bei der Ko-<br />

ordinierungsstelle pflichtgemäß melden, sein Forschungsvorha-<br />

ben angeben, in die Forschungskartei aufnehmen lassen müs-<br />

sen – müssen – müssen und dann – wäre abzuwarten, ob er<br />

eine Erlaubnis zu forschen bekäme. Dieses System ist ein geis-<br />

tiger Versteinerungsvorgang; unterschrieben vom Nachfolger 17<br />

des Staatssekretärs für Hochschulwesen, den wir in Weimar<br />

hörten – und dessen Name mir entfallen ist. Die „Kartei“ – das<br />

ist so das höchste, zu dem man aufsteigt.<br />

Gehen wir in die „Trostbude“. Was ist das? Jacob Burck-<br />

hardt erzählt, der Redner Antiphon (etwa 450 vor Chr.!) soll in<br />

15 Vermutlich zum 80. Geburtstag der Pianistin.<br />

16 Vgl. Christoph Martin Wieland, Geschichte der Abderiten.<br />

17 Ernst-Joachim Gießmann (*1919), 1962–1967 Staatssekretär für Hoch- und Fach-<br />

schulwesen der DDR.<br />

Antiphons „Trostbude“<br />

90 91


1962<br />

Korinth, wo er sich offenbar als Verbannter aufhielt, eine Trost-<br />

bude eröffnet haben mit der Aufschrift: er könne die Betrüb-<br />

ten durch Reden heilen. Wenn die Leute dann kamen, horchte<br />

er sie <strong>aus</strong>, wo es ihnen fehlte, und redete ihnen dann durch<br />

seine trauerstillenden Vorträge das Unglück <strong>aus</strong>. Dies würde<br />

zum stärksten gehören, was menschliche Rede sich zugetraut.<br />

Man frage sich, wem in unsrer Zeit ein solcher Gedanke kom-<br />

men könnte. So Burckhardt gegen Ausgang des vorigen Jahr-<br />

hunderts; er hat eben Freud und die Psychoanalyse nicht mehr<br />

kennengelernt.<br />

12./13. Oktober<br />

Mitternacht – Bilder sind noch <strong>aus</strong>zuwässern. Einiges hab<br />

ich nochmal kopiert, auf kleinerem Format aber besserem Pa-<br />

pier, das ich noch bei Frl. Rieger bekam, allerdings ein letzter<br />

Rest, da sie keine Amateurarbeiten mehr <strong>aus</strong>führt, nichts im<br />

Kontaktverfahren kopiert, sondern alles auf Bromsilberpapier,<br />

das ich nicht verwenden kann, weil es mit Vergrößerungsap-<br />

parat belichtet wird, wobei sie natürlich Zeit spart. Und da sie<br />

keine Leute kriegt, beschränkt sie sich auf die Sachen, die von<br />

denen anfallen, die sich von ihr „abnehmen“ lassen. Fortschritt<br />

– wie überall. Wir hatten hier früher 7 Übernachtungsgaststät-<br />

ten – heute eine; wir hatten 4 Drogerien, wo man Chemikalien<br />

kaufen konnte – gibt es heute in keiner; wir hatten vier Buch-<br />

bindereien – heute keine. Und so geht der Fortschritt fort! Ein<br />

Geschäft (HO) gibt es, wo die allernötigsten Fotosachen angeb-<br />

lich zu haben sind. Ich verlange Fixiernatron; die „Verkäuferin“:<br />

„Mir ham bloß Fixiersalz.“ – „Zeigen Sie es her! Natürlich ist es<br />

Fixiernatron, chemisch Natriumthiosulfat“ – höchst erstauntes<br />

Gesicht, wie bei Moliere, wo einer – ein Parvenue – sich einen<br />

Lehrer nimmt und sehr erstaunt ist, als er lernt, daß seine ge-<br />

wöhnliche Redeweise „Prosa“ ist. Er bewundert sich selbst. So<br />

ist das beschissene Leben schon seit Jahrt<strong>aus</strong>enden. […]<br />

13. X. Im Wasser sahen die Bildchen besser <strong>aus</strong> als im fer-<br />

tigen Zustande. Bei den Großeltern sah ich eine Photographie<br />

<strong>aus</strong> Wolfsburg: bestes Papier, beneidenswert schön – aber<br />

es stellte einen „Aufmarsch“ uniformierter alter Knacker vor,<br />

Schützenfest oder so etwas. Dazu gibt es dort gutes Papier. Der<br />

Deutsche wird eben in Uniform geboren und beerdigt.<br />

16. Oktober<br />

Der Dresdener [Erich] Strauß will nach dem Westen gehen,<br />

das sei jetzt für alte Leute sehr erleichtert, nämlich hier fort zu<br />

kommen. Man will vielleicht alte Rentner abstoßen. Dr. Schu-<br />

mann schrieb auch davon, er will aber hier bleiben. Ich auch.<br />

9./10. November<br />

Natriumthiosulfat<br />

Heute hatte Konrad Schlesier seinen Vetter R<strong>aus</strong>chenbach<br />

mit in die Englische Stunde gebracht. Das war sehr interes-<br />

sant: dieser, in der 12. Klasse, hat 7 (sieben) Jahre Englisch […].<br />

Aber beinah kann ich sagen, daß der andre in 7 Wochen bes-<br />

ser spricht und liest als dieses Oberschulerzeugnis, dem die<br />

elementarsten Vor<strong>aus</strong>setzungen einer richtigen Aussprache nie<br />

klar gemacht worden sind. Daß die Klangbildung der Vocale<br />

von der Artikulationsbasis der Konsonanten bedingt ist, daß<br />

die Klangfarbe eines Instruments durch seine Form bedingt ist<br />

– keine Ahnung. Daß man automatisch zur richtigen Vokalisa-<br />

tion kommt, wenn die Zunge die richtige Ansatzstelle findet,<br />

ist nie deutlich gemacht worden. Was wissen denn diese Leute<br />

überhaupt? „Poverty“, „Elendsviertel“ und dergleichen abge-<br />

droschenes Zeug. Ein armseliges Lehrbuch braucht natürlich<br />

armselige Lehrer, ein anderer könnte diese Aufgabe gar nicht<br />

übernehmen. Denn auf Buch und Plan verzichten ist wegen<br />

herrschender „Kontrolle“ ganz unmöglich. Dieser Verfall des<br />

Unterrichtes, der bei den Nazis begann, ist zu einem Grade fort-<br />

geschritten, wie man es sich früher nie hätte träumen lassen.<br />

92 93


1962<br />

Wenn früher hier und da ein armer Tropf hinter dem Katheder<br />

stand, wurde er mit verbraucht – heute sind andre gar nicht<br />

möglich. Die Dürftigkeit im Geist ist systematisiert, wird über-<br />

wacht. Gewiß, es kostet kein Schulgeld, ist aber auch keinen<br />

Pfennig wert, raubt den Schülern nur die Zeit. Der alles erfas-<br />

sende „Fortschritt“ hat auch der Verdummung einen bedeuten-<br />

den Auftrieb gegeben. – Aber, man soll sich nicht ärgern. […]<br />

Nun, sehen wir, nehmen wir auf, regen uns so wenig auf<br />

als irgend möglich ist. Schade um jeden Tropfen Energie, den<br />

man an die Überwindung negativer Erlebnisse vergeudet. Wir<br />

werden besser tun, für positive zu sorgen. Das sollte man von<br />

Goethe gelernt haben. Bleiben wir also vornehm. Trotz der Zeit<br />

der Pöbelherrschaft. Auch dazu wäre einiges zu sagen, das vom<br />

Papiere nicht ertragen wird.<br />

31. Dezember<br />

Eben entdecke ich, daß heute der letzte Tag des Jahres<br />

1962 ist und daß ich Dir einen Neujahrswunsch zu schreiben<br />

habe. Das tue ich aber jeden Tag des Jahres. Also kann diese<br />

Zähleinrichtung des Kalenders nichts Besonderes sein. Das ist<br />

uns in unserer Kinderzeit beigebracht worden. Da mußten wir<br />

in den letzten Vorweihnachtstagen einen „Neujahrswunsch“<br />

schön geschrieben in einen besonderen Bogen schreiben, für<br />

den der Lehrer einen Fünfer oder einen Groschen kassierte –<br />

zum Besten von Lehrerswitwen und -waisen. Die Bogen ver-<br />

trieb der Pestalozzi-Verein 18 . Der Lehrer schrieb da ein zwei Sei-<br />

18 In den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts innerhalb des Allgemeinen Sächsischen<br />

Lehrervereins auf Anregung des Pädagogischen Vereins zu Dresden als Wohltä-<br />

tigkeitsverein für Lehrer gegründet. Ging es anfangs um die Lehrerwaisenversor-<br />

gung und die Versorgung mit Lesestoffen und Formularen, so kam 1866 die Leh-<br />

rerwitwenversorgung hinzu. Die Einnahmen setzten sich <strong>aus</strong> Mitgliedsbeiträgen,<br />

Schenkungen, Konzerteinnahmen, Verlosungen, verlagsbuchhändlerischen Unter-<br />

nehmungen (Jugendschriften, Klassenlesestoffe, Schulzeitungen, -kalender, Lan-<br />

ten langes Gedicht an die Wandtafel, verfaßt von einem poe-<br />

tisierenden Schulmeister. Das mußte sauber und fehlerlos<br />

abgeschrieben, <strong>aus</strong>wendig gelernt und bei Überreichung des<br />

Schriftstückes vorgetragen werden. Oft pflegte dabei etwas zu<br />

passieren: ein Klecks, die Feder spritzte (es war eine neue!),<br />

einer drehte sich um, verschob das Löschblatt – <strong>aus</strong>gewischte<br />

Schrift: „Der hat mir eine Zeile <strong>aus</strong>gewischt.“ Da fing die Plage<br />

von vorn an, und man schrieb den Kram noch einmal, immer<br />

in der Erwartung, daß zuletzt noch was schief gehe. So eine<br />

unsinnige Plage. Aber sie wurde pädagogisch begründet. Ich<br />

sehe diese mit Gold und Blau vorn geschmückten Kostbarkei-<br />

ten noch vor mir.<br />

deslehrerbücher) und seit 1888 <strong>aus</strong> Steuermitteln zusammen, vgl. Julius Richter,<br />

Geschichte der Sächsischen Volksschule, Berlin 1930, S. 602f.<br />

Pestalozzi-Verein<br />

94 95


96 97<br />

1963<br />

<strong>Waldheim</strong>, den 10. Januar<br />

Ich las eine sehr ketzerische Äußerung: „… lassen Sie uns<br />

in unsern Wesen beharren, das Ganze kümmert sich nicht um<br />

uns, warum sollten wir uns mehr als billig um das Ganze be-<br />

kümmern.“ Und wer sagt oder schreibt das? Rate!<br />

Das schreibt Goethe am 13. Junius 1796 an Heinrich Meyer.<br />

Und ein paar Tage später 1 : „Von Schillern bin ich gewiß, daß er<br />

nicht rückwärts geht, dagegen hat Freund Humanus“ (das ist<br />

Herder!) „in dem 8. Bande der <strong>Briefe</strong> über Humanität, vor kur-<br />

zem noch ein böses Beyspiel gegeben, was Willkührlichkeit im<br />

Urtheil, wenn man sie sich einmal erlaubt, bey dem größten<br />

Verstande für traurige Folgen nach sich zieht. Eine Parentation“<br />

(d.i. Leichen<strong>aus</strong>stellung!) „kann nicht lahmer seyn als das, was<br />

über deutsche Literatur in gedachter Schrift gesagt wird. Eine<br />

unglaubliche Duldung gegen das Mittelmäßige, eine redneri-<br />

sche Vermischung des Guten und des Unbedeutenden, eine<br />

Verehrung des Abgestorbenen und Vermoderten, eine Gleich-<br />

gültigkeit gegen das Lebendige und Strebende, daß man den<br />

Zustand des Verfassers recht bedauern muß, <strong>aus</strong> dem eine so<br />

traurige Composition entspringen konnte. Und so schnurrt wie-<br />

der durch das Ganze die alte, halbwahre Philisterleyer: daß die<br />

1 Am 20. Juni 1796.


1963 Anders-Sein<br />

Künste das Sittengesetz anerkennen und sich ihm unterordnen<br />

sollen. Das erste haben sie immer gethan und müssen es thun,<br />

weil ihre Gesetze so gut als das Sittengesetz <strong>aus</strong> der Vernunft<br />

entspringen; thäten sie aber das zweyte, so wären sie verlo-<br />

ren, und es wäre besser, daß man ihnen gleich einen Mühlstein<br />

an den Hals hinge und sie ersäufte, als daß man sie nach und<br />

nach ins Nützlich-Platte absterben ließe.“ Da hat er seinem<br />

Herzen Luft gemacht. Was würde er heute schreiben über die<br />

„gelenkte“ Literatur!<br />

31. Januar<br />

Woher einer wissen soll, daß Du „keine Zeit“ hast! Du bist<br />

doch sehr naiv. Es ist das natürlichste Ding von der Welt, daß<br />

Rentner mal hier mal da mit ihren Verwandten sich unterhal-<br />

ten, und da – nach Goethe – „das Studium der Menschheit der<br />

Mensch ist“ 2 , reden sie eben von den Menschen und nicht nur<br />

vom Mond und von der Kälte. Und daß da eine „H<strong>aus</strong>frau“,<br />

die Geige spielt und sich mit ihren Kindern mehr beschäftigt<br />

als das die dafür zuständige Schule tut und demzufolge „keine<br />

Zeit hat“, einen Gesprächsstoff bildet – das ist doch unbeschäf-<br />

tigten Leuten nicht zu verübeln! Welches Zerrbild ist von dem<br />

Goethe entworfen worden, der für die üblichen „Gesprächs-<br />

stoffe“ keine Teilnahme heuchelte. Selbst Leute wie Jean Paul<br />

und Seume fühlten sich dort erkältet. Seume hat auch im „Erb-<br />

prinzen“ übernachtet, der jetzt „Park-Hotel“ heißt (ich weiß<br />

nicht ob Du Dich dieses alten Gebäudes noch erinnerst). Es<br />

ist völlig verkehrt, den Leuten das übel zu nehmen, daß sie<br />

die Köpfe schütteln wegen des „Anders-Seins“ anderer Leute.<br />

Ich erinnere immer wieder die erste Versammlung des Wald-<br />

heimer „Pädagogischen Vereins“ 1908 im Ratskeller, die mit<br />

¾ Stunde Verspätung begann. Dort wurde ich teilnehmend ge-<br />

2 Die Wahlverwandtschaften. Zweiter Teil. Siebentes Kapitel. Aus Ottiliens Tagebuche.<br />

fragt, ob ich magenkrank sei. „Weshalb?“ – „Nu, warum trinken<br />

Sie da kein Bier!“ Und dieses Aus-der-Reihe-Tanzen meinerseits<br />

brachte die andern auf, formierte sie zu einem Block, verkit-<br />

tete den Staub zu Zement! Das solltest Du endlich gelernt ha-<br />

ben, diesen sich auf der ganzen Welt wiederholenden Vorgang<br />

zu verstehen und zu übersehen. Was heißt da: die Leute ließen<br />

sich leicht schlecht beeinflussen? Da bedarf es gar keiner Be-<br />

einflussung: das bloße „Anders-Sein“ des einen vereint die an-<br />

dern ganz automatisch, da ist gar keine Propaganda nötig. Der<br />

Kanarienvogel ist nur ein Sperling mit gelbem Frack – sowie er<br />

als einzelner unter die braunen Sperlinge gerät, fallen die über<br />

ihn her – nur wegen seines Federkleides, das er sich nicht mal<br />

selbst <strong>aus</strong>suchte.<br />

11. Februar<br />

Bei Friedrich Ratzel „Über Naturschilderung“ – das Buch,<br />

das ich seit Jahren jährlich einmal lese – da steht S. 156: „Wer<br />

sich angesichts des bekannten ,Angelus‘ von Millet nach dem<br />

Grunde des tiefen Eindrucks fragt, der von diesem Bilde <strong>aus</strong>-<br />

geht, wird natürlich an die Abendfeier nach hartem Tagwerk, an<br />

das Gebet, in das die beiden Gestalten versunken sind, zuerst<br />

denken. Dann aber wird ihm auch in dem großartig Elementa-<br />

ren zweier einfachen, aufrecht vor dem Abendhimmel stehen-<br />

den, von der Horizontlinie geschnittenen Figuren ein Erhabe-<br />

nes erscheinen.“ Das Kapitel hat die Überschrift: „Das Erha-<br />

bene im Weiten“. Du darfst nicht alles, was heute als „Kunst“<br />

<strong>aus</strong>gestellt wird, für Kunst nehmen. Da liegt ein Fehler des Be-<br />

trachters, veranlaßt durch die Absichten der Sch<strong>aus</strong>teller, die<br />

„Kunst“ als Mittel einer bestimmt gerichteten Propaganda ver-<br />

wenden. Daß es neben der Schundliteratur eine Schundkunst<br />

gibt, scheint niemand aufzufallen – beide werden im Zeiten-<br />

laufe vergessen. Man denke an Fr. v. Logau: „Die Ros’ ist ohn<br />

Warumb – sie blühet weil sie blühet – sie acht’ nicht ihrer<br />

98 99


1963<br />

selbst – fragt nicht, ob man sie siehet.“ 3 Das ist haargenau das<br />

Richtige, was an Kritik zu jeder Kunstleistung zu sagen wäre,<br />

gleichviel ob Plastik, Malerei, Gedicht, Musik, Tanz. Sobald eine<br />

Sache mit dem Schielen nach dem „ob man sie siehet“ zu-<br />

stande kommt, ist es <strong>aus</strong> damit. Ob da einer Geld verdienen,<br />

von den Mächtigen gewürdigt, von Verzückten verehrt werden<br />

will, ist gleichgiltig; wo solche Gedanken oder vielmehr Absich-<br />

ten mitsprechen, ist es mit dem Blühen der Rose vorbei.<br />

5. März<br />

Ich las jetzt – oder begann zu lesen: Mark Twain „Ein Yan-<br />

kee an König Artus Hof“. So richtig manches in der Beurteilung<br />

mittelalterlicher europäischer Geschichte ist, so geschmacklos<br />

kommt mir das Ganze vor. Plakatmalerei, mit der der Verfasser<br />

viel Geld verdient hat. Ich werde die Schwarte einem Antiquar<br />

verschachern – und wenn bloß ein Stück Kuchen für Dich dabei<br />

her<strong>aus</strong>kommt, das ist immer noch besser. Denn verschenken<br />

kann ich so etwas nicht, was mir selber nicht gefällt.<br />

5. März<br />

Mit einigem Widerwillen las ich in diesem Mark Twain weiter<br />

„Ein Yankee an König Artus Hof“ – das ist ein Machwerk. So mi-<br />

serabel, daß ich nicht weiß, wohin ich die Scharteke stellen soll.<br />

Seitenlange Glossen über die Unbequemlichkeit der Rüstung<br />

mittelalterlicher Ritter – als ob die moderne Beengung in der<br />

Demokratie durch massive Knochenköpfe nicht weit übler wäre.<br />

6. März<br />

Nach dem Mark Twain zog ich ein altes Buch – 1808 in Paris<br />

erschienen – hervor: „Lettres choisies de M me de Sévigné“, die<br />

zur Zeit Ludwigs XIV. lebte und deren <strong>Briefe</strong> an ihre Tochter hier<br />

3 Die Verse stammen <strong>aus</strong> dem Cherubinischen Wandersmann von Angelus Silesius.<br />

französisch und englisch gedruckt sind. Es ist, als ob man erst<br />

bei dem Mark Twain durch Schwaden von Kanalgeruch gegan-<br />

gen wäre und nun auf eine besonnte Parkwiese käme, auf der<br />

t<strong>aus</strong>ende von Veilchen duften. Erzähle das nicht weiter, man<br />

hielte mich für einen Erzreaktionär.<br />

100 101<br />

9. März<br />

In den <strong>Briefe</strong>n der Madame Sévigné kann man – so zwi-<br />

schen den Zeilen und als späterer Leser – sehen, wie Ludwig<br />

XIV. mit seinen „Ruhmestaten“ den Boden eifrig vorbereitet,<br />

auf dem dann ein Jahrhundert später die Revolution wachsen<br />

mußte. Die mit der „Vorarbeit“ Beschäftigten konnten nicht<br />

ahnen, was für Wirkungen <strong>aus</strong> ihrem Lebensstil hervorgehen<br />

mußten. Die französischen Originalbriefe wirken ganz köstlich,<br />

in der daneben stehenden englischen Übersetzung geht man-<br />

cher Zauber verloren.<br />

13. März<br />

Gestern fragt mich Bergmann: „Was heeßt denn das hier<br />

– linquenda?“ Ich sage: „Das zu Verlassende, wie kommen Sie<br />

darauf?“ – „Das steht in Kriebethal an Niethammers 4 Villa.“ Ich:<br />

4 Albert Niethammer (1833–1908) gründete mit seinem Freund Friedrich Kübler (1833–<br />

1865) die Papierfabrik Kübler & Niethammer in Kriebstein (1856). Als liberalde-<br />

mokratischer Politiker in Gebiets-, Landes- und Reichskörperschaften kümmerte<br />

sich der Geheime Kommerzienrat Albert Niethammer intensiv um den Straßen-,<br />

Brücken- und Eisenbahnbau in der Region. Für seine Arbeiter baute er eine Sied-<br />

lung und eröffnete einen Kindergarten (1879). Die Namen treuer Arbeiter ließ er<br />

in Marmor meißeln. Er selbst wurde Ehrenbürger der Stadt <strong>Waldheim</strong>. Von 1879<br />

an traten seine drei Söhne Albert (1857–1910), Walter (1859–1922) und Konrad<br />

(1863–1931) in die Firma ein, die Konrad ab 1910 allein weiterführte. 1945 von der<br />

sowjetischen Besatzungsmacht beschlagnahmt, wurde die Fabrik 1946 enteignet<br />

und in einen Volkseigenen Betrieb umgewandelt. 1990 ging die Fabrik unter dem<br />

Namen Kübler & Niethammer Papierfabrik Kriebstein AG wieder in Familienbesitz<br />

über. Vgl. Sächsische Lebensbilder. Bd. 1, Dresden 1930, sowie Neue deutsche<br />

Biographie. Bd. 19.<br />

Linquenda


1963 Romain Rollands „Johann Christof“<br />

„Da scheint ein gewitzter Spottvogel die Wand beschrieben zu<br />

haben.“ – „Nee, das ist in Marmor gemeiselt!“ – „Dann“, sag<br />

ich, „ist das vor 1910 vom alten Kommerzienrat N. angebracht<br />

worden, der ein sehr lutherischer Mann war und mit dem Worte<br />

auf die Vergänglichkeit des irdischen Besitzes hindeuten wollte.<br />

Freilich, die Doppeldeutigkeit, die das Wort durch die 1945 er-<br />

folgte Vertreibung der Erben dieser Millionen bekam – die hat<br />

der alte Herr kaum vor<strong>aus</strong> geahnt.“ Du siehst, es geschehen<br />

sehr seltsame Dinge, die nicht nur dadurch sonderbar werden,<br />

daß wir sie in irgendeinen Zusammenhang bringen.<br />

20. März<br />

Den „Dr. F<strong>aus</strong>tus“ von Thomas Mann bringe ich mit, ich lege<br />

ihn dann gleich in den Koffer, ihn nicht zu vergessen. „Ich würde<br />

raten“, mit dem Rolland zu beginnen, der ist am ehesten zu ver-<br />

stehen. Immerhin ist erstaunlich, daß diese Auswahl getroffen<br />

wird. Legt noch „Wilhelm Meister“ und „Nachsommer“ 5 dazu!<br />

31. März<br />

Gestern abend nahm ich mir gleich mal den Band „Johann<br />

Christof“ vor, den Stups liest. Und dazu versammelten sich<br />

noch ein paar Bücher um mich, <strong>aus</strong> denen sich manches in dem<br />

Rollandschen Buche wird erklären lassen. Man muß sich klar<br />

sein, daß Rolland einerseits ein sehr gelehrter Professor der<br />

Musikgeschichte an einer Pariser Hochschule war (im Riemann<br />

nachlesen) und zudem ein Dichter hohen Ranges. Und als Dich-<br />

ter schaltet er völlig frei über das historische Material. Im Rie-<br />

mann steht zum Joh. Christof: „der Held ist ein deutscher Musi-<br />

ker“. Und in dieses Heldenleben hat Rolland viele Wesenszüge<br />

Beethovens einwachsen lassen, völlig frei damit schaltend –<br />

5 Romain Rolland, Johann Christof; Goethe, Wilhelm Meister; Adalbert Stifter, Der<br />

Nachsommer.<br />

wird doch stellenweise Beethoven als längst gewesen genannt.<br />

Daß aber vor allem <strong>aus</strong> der Jugendgeschichte Beethovens sehr<br />

viele Züge auf Johann Christof übergegangen sind, liegt ganz<br />

offen zu Tage. Vieles ist dabei in ein anderes Lebensalter ver-<br />

legt. Das werde ich an einem Beispiele morgen genauer her<strong>aus</strong>-<br />

schreiben. Viele Gestalten sind auch anders genannt oder er-<br />

funden oder zeitlich anders eingeordnet. Der Haßler dürfte der<br />

Deckname für Haydn sein, der 1790 anläßlich seiner 1. Londo-<br />

ner Reise am Hofe des Bonner Kurfürsten 6 gastierte und dabei<br />

dem 19jährigen Beethoven, der Mitglied der Kapelle war, zum<br />

ersten Male begegnete. Rolland legt diese Begegnung in ein<br />

früheres Alter Beethovens. – Es ist im „Glasperlenspiele“ ähn-<br />

lich. Hesse bringt da auch Thomas Mann und Jacob Burckhardt<br />

zusammen, die sich im Leben nie gesehen haben. Und viel-<br />

leicht ist es gar nicht so nötig, da alles aufschlüsseln zu wollen.<br />

Der Dichter läßt die Gestalten seiner Phantasie vor dem Leser<br />

auftreten und begabt sie mit Erlebnissen oder Eigenschaften,<br />

die schon einmal an einem – oder an mehreren – Menschen<br />

vorhanden waren. Sags Stupsen.<br />

102 103<br />

2. April<br />

„Man“ – nein, ich vermute Haydn unter Haßler. Die Zeitun-<br />

terschiede dürfen uns nicht irren. Rolland schaltet da sehr ei-<br />

genmächtig – es ist eben keine Beethovenbiographie – kom-<br />

men doch Wagner und Richard Strauß (nochmal Richard wie<br />

Wagner) als schon vorhanden vor. Grundzüge des deutschen<br />

Nationalcharakters – gute wie üble – Elemente des Wesens, das<br />

Beethoven hieß, werden durcheinander geknetet. Das beste<br />

sind die jugendpsychologisch so wertvollen ersten 300 Seiten.<br />

Zu breit werden dann die Weibergeschichten. Ich lese das Buch<br />

jetzt abends noch einmal und werde mir Auffallendes noch be-<br />

6 Maximilian Franz von Österreich (1756–1801), seit 1784 Kurfürst von Köln


1963 Die Normalstaatsameise<br />

richten. Es ließen sich auch eine Anzahl gescheiter Sprüche da-<br />

rin sammeln. […]<br />

Wer die Zeitungen beobachtete, konnte folgendes finden:<br />

1. Chrustschow sprach in Moskau über Politik u. Kunst u. Li-<br />

teratur<br />

2. Ulbricht " " Leipzig " " " "<br />

3. Eine Versammlung von Künstlern u. Schriftstellern in Berlin<br />

4. " " " " " in Dresden<br />

5. „Staatliche Kommission“ zur Gestaltung des einheitlichen<br />

sozialistischen Bildungswesens…<br />

Die ersten Berichte schickte ich Dir.<br />

Erstaunlich ist die Geschwindigkeit, mit der hier von der<br />

ersten rhetorischen Äußerung an die Revolution zu einer ge-<br />

setzlichen Formulierung und zu einer sachlichen Umgestaltung<br />

vorantreibt. Hier geschieht vor unsern Augen etwas ungeheuer<br />

Wichtiges, das sehr ernst zu nehmen ist! Aber wir sollen das<br />

ohne uns darüber aufzuregen zur Kenntnis nehmen. Und uns<br />

klar machen, daß die Ausbreitung des Christentums von Con-<br />

stantin bis Karl d. Gr., daß Humanismus und Renaissance ähnli-<br />

che Umbrüche des geistigen Lebens gewesen sind. Freilich wur-<br />

den weit weniger Menschen davon berührt.<br />

4. April<br />

In der Zeitung lag gestern ein Teil einer Rede eines Profes-<br />

sors Kurt Hager 7 vor Schriftstellern und Künstlern am 25. März.<br />

Ein H<strong>aus</strong>knecht oder SA Mann hätte von seinem Standpunkt<br />

<strong>aus</strong> das gleiche sagen können. Nur Machtanspruch – ohne<br />

Nachweis innerer Mächtigkeit. „Eine Fülle von Fragen taucht<br />

bei jedem Schriftsteller und Künstler im Zusammenhang mit<br />

7 Kurt Hager (1912–1998), Leiter der Ideologischen Kommission des Politbüros der<br />

SED. Am 24. und 25. März 1963 fand eine Beratung des SED-Politbüros mit<br />

Schriftstellern und Künstlern statt.<br />

seiner Arbeit auf, die er nicht allein lösen kann, für deren Klä-<br />

rung er die Diskussion braucht. Grundlage für die Lösung der<br />

neuen Schaffensfragen ist jedoch die Klarheit in den politisch-<br />

ideologischen Grundfragen.“ So steht da! Goethe – der auch<br />

widerrechtlich zitiert wird – hat also offenbar erst Betriebsbe-<br />

sprechungen mit seiner Belegschaft gehalten, ehe er an „Iphi-<br />

genie“ oder „F<strong>aus</strong>t“ heranging, da er ja die Fragen nicht allein<br />

lösen konnte. Es ist alles so trostlos.<br />

104 105<br />

23. April<br />

Eben brachte ich ein paar Zeilen für Dich zur Post und bei<br />

der Rückkehr finde ich zwei <strong>Briefe</strong> von Dir vom 11. und 12. und<br />

einen von Dr. Schumann vom 11.<br />

Daß Dein Eiervorrat aufgefrischt wurde, ist doch recht er-<br />

freulich, auch daß Du Dein Brathuhn hast (wie liest man Brat-<br />

huhn englisch?) 8<br />

Es freut zu hören, daß Stups so ein paar schöne Tage er-<br />

lebte statt einen geheuchelten Abituraufsatz über das „Leben“<br />

zu schreiben. Jeder ungetrübt verbrachte Tag ist noch in der Er-<br />

innerung zu genießen.<br />

Die Unterschiede in den Lehrmethoden der einzelnen Mu-<br />

sikhochschullehrer zeigen, daß dort die klare einheitliche Aus-<br />

richtung noch fehlt. Das ist also bisher den Vorschriftenma-<br />

chern entgangen, die doch nach und nach alles „normen“ bis<br />

die Normalstaatsameise her<strong>aus</strong>kommt, an der nichts mehr nor-<br />

mal ist. Rolland würde da wohl auch bedenklich werden, trotz<br />

seiner Neigung für Rußland, wo er einmal festlich empfangen<br />

wurde. Lenin wollte ihn für dauernd dahin mitnehmen, und Sta-<br />

lin begrüßte ihn. Aber als Rolland dann mal (oder mehrmals) an<br />

diesen schrieb wegen zweier unschuldig Gefangener, hat er nie<br />

wieder eine Antwort bekommen.<br />

8 Vermutlich Anspielung auf die in der DDR gebräuchliche Bezeichnung „Broiler“ für<br />

Brathähnchen.


1963<br />

Schumann schreibt, daß er mich am 16.4. in Zschopau erwarte.<br />

Da bin ich aber in Moritzburg. Das verschiebe ich nicht –<br />

<strong>aus</strong> mehreren Gründen. Aber irgend wann in den nächsten Wochen<br />

muß ich schon mal nach Zschopau fahren. Man kann sich<br />

doch nicht zerteilen. Und wohin ich am liebsten führe – das<br />

sage ich niemand.<br />

Die Crocus im Erzgebirge, die zu besuchen die erste Absicht<br />

Schumanns war, haben sehr gelitten unter Frost und Dürre,<br />

auch in dem berühmten Crocusgebiet von Drebach, wo sie vor<br />

über hundert Jahren von einem Pfarrer angesiedelt worden<br />

sind. Damit hat er dem Wirtschaftsleben, besonders der Gastwirte,<br />

durch Jahrzehnte Gewinne eingebracht. Denn hunderte<br />

und hunderte von Autos und Autobussen zerfurchen schon seit<br />

Jahren um diese Zeit die Straßen und die ländliche Stille, um<br />

den Großstädtern einen kleinen Blick in „Natur“ zu verschaffen.<br />

Das stille Dorf hallt wider vom Gesange der Motoren aller<br />

Art – so wie das Talsperrengebiet als Magnet die Großstädter<br />

anzieht – bis durch die Verteilung auf viele T<strong>aus</strong>ende der Anteil<br />

des einzelnen am „Genuß“ so klein geworden sein wird, daß er<br />

nicht mehr zu merken ist. Und man fragt sich: „Weshalb sind<br />

wir bloß hierher gefahren?“<br />

28. April<br />

Wir werden versuchen, die in der Zeitung erwähnte Shakespeare-Bibliothek<br />

in der Weimarer Landes-Bibliothek uns einmal<br />

anzusehen. Wenn wir auch nicht dazu kommen werden, sie<br />

durchzulesen – es ist jedenfalls gut, mal zu sehen, was da alles<br />

vorhanden ist. Hoffentlich sind die Bücher da bereits zugänglich<br />

aufgestellt und nicht im Magazin gestapelt. Auch das Naturkunde-Museum<br />

in der alten Herder-Schule sahen wir bisher noch<br />

nicht. Es ist also doch noch einiges vorhanden, Dir die Langeweile<br />

zu vertreiben. Dafür muß man als Reiseleiter sorgen.<br />

Ich lege diesem <strong>Briefe</strong> einen Aufsatz von Karl Foerster bei,<br />

„April-Mahnung“, den Du aufheben magst, wenn Du ihn gele-<br />

Thomas Manns „Dr. F<strong>aus</strong>tus“<br />

sen hast. Es ist eine sehr schöne Reihe von guten Anregungen.<br />

Ich staune immer wieder über die geistige Spannweite und die<br />

Ausdruckskraft dieses 89jährigen Mannes, von dem so viel zu<br />

lernen ist. Der ist nicht auf dem Motorrad an „Sehenswürdigkeiten“<br />

vorüber gerast. Jedenfalls heb den Aufsatz auf, er ist<br />

es wert, öfter gelesen zu werden. Denkt man da an so einen<br />

armen Biologielehrer wie den von Stups, der die Existenz der<br />

Schwanzmeise bezweifelt – dann merkt man, daß gleichzeitig<br />

im selben Lande Leute leben, die durch 100 000 Jahre Entwicklung<br />

getrennt sind. Und vielleicht ist sogar der Mensch der Eiszeit<br />

in der Natur besser zu H<strong>aus</strong>e gewesen.<br />

2. Mai<br />

Daß der „Dr. F<strong>aus</strong>tus“ schwer zu lesen ist – das wird niemand<br />

bezweifeln, der nicht gerade ein Flachkopf ist. Schon<br />

die sehr merkwürdige Architektur des Buches: es wird <strong>aus</strong><br />

zeitlich verschiedenen Kulissen gesprochen; im Theater kann<br />

man durch räumliche Kulissen gleichzeitig Geschehendes überschaubar<br />

machen. (Denke an die Apfelschußscene im „Tell“, wo<br />

gleichzeitig das Gespräch Rudenz’ mit Bertha den Zuschauer<br />

faßt.) Hier zieht durch das ganze Buch der sonderbare Stil, daß<br />

stellenweise der etwa 1942/43 schreibende Autor von den Sorgen<br />

seiner Tage spricht, und dann kehrt er zu seinem Hauptthema<br />

zurück, zum Schatten Nietzsches um die Jahrhundertwende.<br />

Er erzählt das Geschick eines hochbegabten aber kranken<br />

Menschen, den er als Vertreter eines Zeitalters auftreten<br />

läßt. Und wenn Du am Schlusse – Aufhebung und Zurücknahme<br />

der „9. Symphonie“ – das Buch an die Wand werfen willst – so<br />

war es mir zu Mute, als ich es vor Jahren zum ersten Male las<br />

– dann denke nicht nur an die Mühe, es neu zu binden, sondern<br />

daran, daß es ein Geisteskranker, ein Paralytiker ist, der<br />

das spricht – und der damit einer kranken Zeit das Urteil verkündet.<br />

Daß es keine angenehme Lektüre ist, kein erholsames<br />

Buch – das hab ich Dir gesagt. Es ist ein ungeheurer Krank-<br />

106 107


1963 Lebendige Sprache<br />

heitsbericht, geschrieben von einem sehr gescheiten, sehr kühlen<br />

Menschen, der sich der Sprache bedient als ein höchst geschickter<br />

Kunstgewerbler des Wortes – und damit bis zu einer<br />

Grenze gelangt, wo diese Kunst anfängt, peinlich zu werden.<br />

Du wirst selber erleben, ob dieser Eindruck richtig ist; was ich<br />

hier meinte, ist das Urteil eines Wilden <strong>aus</strong> dem Urwald.<br />

Dieser Tage wird mir wieder deutlich, wie klärend das Wiederlesen<br />

alter guter Bücher ist. Ich las Nietzsches „Geburt der<br />

Tragödie <strong>aus</strong> dem Geiste der Musik“ und die ersten drei der<br />

„Unzeitgemäßen Betrachtungen“, deren Titel eine contradictio<br />

in adjecto ist: sie sind heute noch genau so zeitgemäß wie<br />

ehedem; manche Sätze sind durch den Zeitenlauf noch inhaltreicher<br />

geworden. Sind doch die ältesten Gedanken nur dann<br />

lebendige, wenn sie durch lebende Gehirne ziehen; ihre Conservierung<br />

in den Büchern entspricht dem in einem Akkumulator<br />

gespeicherten Strom, der Jahr und Tag dort warten kann<br />

bis er wieder eine Lampe leuchten macht. Und wenn jemand<br />

Bach spielt, ist die Musik das unmittelbare Weiterklingen in<br />

dem Musiker von dem, was im Komponisten tönte. Die Noten<br />

und die Jahre oder Jahrhunderte, die Meister und Schüler trennen<br />

(oder verbinden) sind stumm. War ein Kunstwerk – Plastik,<br />

Buch, Bild, Musik – jahrhundertelang vergraben, es ist, als<br />

ob diese Zeit überhaupt nicht gewesen wäre; das heißt: die ältesten<br />

Meister sind weit jünger als das die Mechanik des Kalenders<br />

meldet.<br />

1. Juni<br />

10 40 Eben erhalte ich Deine beiden <strong>Briefe</strong>. Recht herzlichen<br />

Dank. Nietzsche X, 144: „Die geistige Tätigkeit von Jahrt<strong>aus</strong>enden<br />

ist in der Sprache niedergelegt.“ 9 Vielleicht wäre<br />

das letzte Wort besser durch „lebendig“ zu ersetzen; denn das<br />

9 Nach der Ausgabe in <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s Bibliothek: Nietzsche’s Werke. Zweite Abthei-<br />

lung. Bd. X: Nachgelassene Werke <strong>aus</strong> den Jahren 1872/73–1875/76, Leipzig<br />

1903, S. 144.<br />

in der Schrift oder im Druck festgelegte Wort ist solange tot,<br />

bis es ein Lebender <strong>aus</strong>spricht. Das ist doch z.B. mit solchen<br />

Handschriften der Fall, die bis heute noch niemand entziffern<br />

konnte, deren Sinngehalt also Geheimnis geblieben ist. Und<br />

wieviel Schönes bleibt verborgen, weil niemand es erkennt, betrachtet<br />

und in sich aufnimmt.<br />

4. Juni<br />

Zu der Bemerkung, daß in der Sprache geistige Bemühungen<br />

von Jahrt<strong>aus</strong>enden leben, wäre an die viert<strong>aus</strong>end Jahre alten<br />

Riesenbäume zu erinnern, in deren Körper und Belaubung<br />

Zellen von großen Altersunterschieden – jahrt<strong>aus</strong>endealte und<br />

eben entstehende – zu einem lebendigen Wesen vereinigt sind.<br />

Denke an Riesen im Weimarer Parke: die Rüstern mit Wurzeln,<br />

die sich vielleicht schon vor Goethe in den Boden drängten<br />

und mit den geflügelten Samen, die dieses Frühjahr wuchsen.<br />

Sie hörten wohl Goethesche Verse noch von ihm selber – und<br />

durch ihre Zweige schwingen heute die Radiowellen mit dem<br />

eben gesprochenen Worte.<br />

15. Juni<br />

Als ich hier ankam, traf ich einen alten <strong>Waldheim</strong>er, der seit<br />

Jahren in Reichenbach im Vogtlande den „Feuerpastor“ macht.<br />

Er war früher ein sehr strebsamer und belesener Arbeiter, dann<br />

Fleischbeschauer am Schlachthofe und wußte wunder was zu<br />

erzählen von meinen früheren Volkshochschulkursen, Sachen,<br />

die ich längst vergessen hatte, fragt um einiges über Rollands<br />

„Johann Christof“ und Hauptmanns „Eulenspiegel“ 10 . Da laufen<br />

also Leute herum, die früher von mir geprägte Sätze jahrzehntelang<br />

im Kopfe haben. Es ist doch kaum glaublich.<br />

10 Gerhart Hauptmann, Des großen Kampffliegers, Landfahrers, Gauklers und Magi-<br />

ers Till Eulenspiegel Abenteuer, Streiche, Gaukeleien, Gesichte und Träume, Ber-<br />

108 109<br />

lin 1928.


1963<br />

5. Juli<br />

Bring mich nicht auf mit „Gewi“ 11 – so blöde wie die Be-<br />

zeichnung ist die Sache. Weißt Du vielleicht, was Politökonomie<br />

ist? Ich nicht. Aber ich sehe, daß es Teilstücke sind im größten<br />

Abschnitt der „Geschichte der menschlichen Dummheit“.<br />

Kindergartenkinder waren in der Regel nur frecher im 1.<br />

Schuljahre als die von der Straße Kommenden. Kindergarten<br />

wurde erfunden als Behelf zur Ermöglichung der Frauenarbeit,<br />

zur Fütterung des Kapitalismus, den man <strong>aus</strong>zurotten vorgibt,<br />

aber nur intensiver entwickelt.<br />

Gerade als ich an Seidel in Schwerte dachte, erhielt ich ei-<br />

nen interessanten Brief von ihm. „Wenn sich Deutsche <strong>aus</strong> Mit-<br />

tel- und Westdeutschland treffen wollen, müssen sie es in Bu-<br />

dapest oder am Plattensee vereinbaren, da geht es.“ Was er<br />

über die Schule schreibt, ist wenig erbaulich. Und was hier<br />

dazu zu sagen ist, ist es ebensowenig. „Und Gott sah an al-<br />

les, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut“ [1. Mose<br />

1,31] – inzwischen haben sich die Konstruktionsfehler gewaltig<br />

entwickelt und das „bomböse“ Ende des ganzen Zaubers liegt<br />

nicht mehr sehr ferne. […]<br />

Aber ich will aufhören, sonst komme ich ins „Raisonnie-<br />

ren“ und schlage irgendetwas klar. Stell Dir in meinem Namen<br />

eine Blume in eine Vase, denke an Stifter oder Storm und sei<br />

unzeitgemäß!<br />

16. Juli<br />

Kleine interessante Begebnisse sind zuweilen sehr erleuch-<br />

tend. Der Neffe der Ph. R., Candidat der Chemie in Wien, der<br />

sehr gern mal wieder hierher zu Besuch käme, wagt das des-<br />

halb nicht, weil ihm dadurch ein in Aussicht stehender Studien-<br />

11 Gesellschaftswissenschaft: Obligatorisches Studienfach an den Universitäten der<br />

DDR, das die ideologischen Grundlagen des Sozialismus vermittelte.<br />

aufenthalt in Amerika zu nichte gemacht würde, wie das andre<br />

Commilitonen bereits erlebt haben. Das sind doch sehr vielsa-<br />

gende „Vorsichtsmaßregeln“ einer freien Demokratie (USA). Zu<br />

Deutsch: Müssen die Leute eine Angst haben! Anderseits: Wie<br />

ekelhaft ist diese von Spionage und Verdächtigung unterwühlte<br />

Welt! Die menschliche Beziehung spielt gar keine Rolle vor den<br />

sogenannten „Erfordernissen der Staatsraison“, die mit Raison<br />

nichts mehr zu tun hat.<br />

2. August<br />

In Goethes Arbeit über Winckelmann steht eine sehr beach-<br />

tenswerte Kritik an der Schulbildung: „… seitdem es den Erzie-<br />

hungskünstlern gelungen ist, dem Genius der Zeit gehorchend,<br />

die meisten zur Veredlung und Würde des Geistes führenden<br />

Studien zu verseichten, und die besten Kräfte fast allein sol-<br />

chen Wissenschaften zuzuwenden, wodurch Gewerbe und Fi-<br />

nanzen und Krieg zu Lande und zu Wasser gedeihen, seitdem<br />

bleibt für jemand, der hie und da den unverdorbenen Jüng-<br />

ling mit fremder Stimme in ein edleres Leben rufen möchte,<br />

außer den Alten, die man <strong>aus</strong> ihren Schulwinkeln noch nicht<br />

ganz verdrängte, nichts anderes übrig, als Geschichte der Er-<br />

ziehung und Bildung von Männern, die im Kampf mit den Hin-<br />

dernissen der Zeit und den innern Schwierigkeiten der Sachen<br />

durch angestrengte Kraft das Höchste in dem gewählten Kreise<br />

erstrebten.“ 12<br />

Was wäre von ihm zu erwarten, sollte er über die „Er-<br />

ziehungskünstler“ der Gegenwart ein kräftig Wörtlein sagen?<br />

„Fortschritt“ heißt die Parole. Wovon wird „fort“ geschritten?<br />

Wohin lenkt der sogenannte Zeitgeist die Schritte? Worin ist<br />

z.B. der kulturelle Gewinn der Flugtechnik zu sehen? Daß man<br />

12 Gemeint ist hier der Aufsatz Winckelmann III, den Friedrich August Wolf auf Bitten<br />

Goethes verfaßte.<br />

Erziehungskünstler<br />

110 111


1963 Das Kolbe-Kind<br />

– in 50 Minuten – von hier nach Berlin kommen kann, daß es<br />

aber in 45 Minuten möglich war, Jahrhunderte angesammelte<br />

Kulturschätze in Dresden zu zerstören! Freilich, Schule, Film,<br />

Zeitung, Radio prägen den armen Teufeln ein, das sei eben<br />

„Fortschritt“, das muß man „anerkennen“, „bewundern“, „vor-<br />

antreiben“. Dabei ist dieses „man muß“ das Empörende. Den-<br />

ken ist von vorn herein verdächtig, man hat zuzustimmen, „das<br />

gehört sich“. – Oder ist Goethe veraltet?<br />

20. August<br />

Heute wagte ich es, den Ofenrußer Jahn, der im Häusel gear-<br />

beitet hatte, auf der Straße anzureden und dazu zu bringen, daß<br />

er heute in 8 Tagen nach ½ 5 h meinen Ofen rußen will – vor<strong>aus</strong>-<br />

gesetzt, daß ich einen Lehmziegel beschaffe. Es geht doch nichts<br />

ohne eine Komplikation; nun suche ich den zu ergattern. […]<br />

Nachmittags: Ha – ich hab einen Lehmziegel ergattert! Das<br />

erste Hindernis ist also beseitigt. – Dann gab ich Metzner das<br />

geliehene Buch 13 von Victor Mann zurück. Er kam auf das Kol-<br />

bekind auf dem Friedhofe und sagte, daß kein Mensch sa-<br />

gen könne, was es bedeute. Worauf ich nur antworten konnte:<br />

„Vielleicht mich <strong>aus</strong>genommen.“ Als ich ihm nun sagte: Hier<br />

l<strong>aus</strong>cht ein Kind an der Stätte des Todes auf den Pulsschlag<br />

des Lebens in dem Herzen des Vogels, den es an sich drückt<br />

– da machte er große Augen. Und bat mich, ihm das aufzu-<br />

schreiben, was ich zu den Kolbefiguren 14 zu sagen wüßte, die<br />

auf dem Friedhofe stehen. Komisch, daß ein Heide den Erklä-<br />

13 Wir waren fünf, Konstanz 1949.<br />

14 Mit dem in <strong>Waldheim</strong> geborenen Bildhauer Georg Kolbe (1877–1947) fühlte sich Ar-<br />

thur <strong>Pfeifer</strong> geistig eng verbunden. Er besuchte Kolbe mehrfach in Berlin, sprach<br />

1948 auf einer <strong>Waldheim</strong>er Gedenkfeier für den Bildhauer und schrieb in den<br />

siebziger Jahren einen längeren Begleittext für die von ihm zusammengestellte<br />

Mappe mit Abbildungen der <strong>Waldheim</strong>er Kolbe-Plastiken. S. auch Brief vom 14.<br />

September 1972.<br />

rer machen muß. Dabei ist in dem oben stehenden Satze nicht<br />

mehr gesagt als was jeder sehen kann: das Kind „l<strong>aus</strong>cht“,<br />

das zeigt die Haltung des Kopfes und der Ausdruck der Augen<br />

– an der Stätte des Todes: der Stein ist von Anbeginn für den<br />

Friedhof bestimmt, für das Grab der Eltern. Und den angedrück-<br />

ten Vogel sieht auch jeder. Diese Allverständlichkeit für den<br />

wachen Betrachter ist auch so ein Kennzeichen echter Kunst.<br />

Diese Plastik braucht so wenig eine „Erklärung“ wie Mozarts<br />

„Nachtmusik“.<br />

22. August<br />

Dr. Schumann, den ich beauftragte, seinen Sohn um eine<br />

knappe Zusammenfassung der Grundlehren des Existentialis-<br />

mus zu bitten, berichtet, daß dieser Studienrat auch nichts Zu-<br />

längliches davon weiß. Ob ich nun mal bei Sartre in Paris an-<br />

frage oder bei Jaspers in Basel? Aber die antworten wohl nicht.<br />

Und so geht man <strong>aus</strong> der Welt, ohne Wesentliches über geis-<br />

tige Verhältnisse seines Lebensabends zu wissen. Und Erich<br />

Kästner gesteht in einem Aufsatz 15 , daß er mit einem Pack von<br />

Büchern dieser Art in ein einsames, verregnetes Dorf gefahren<br />

– nur zu diesem Zwecke, Klarheit darüber zu gewinnen, des-<br />

halb der Regen – aber er habe von den Büchern nichts ver-<br />

stehen können. Vielleicht ist der Verstand als solcher <strong>aus</strong> der<br />

Mode gekommen? Man kann den vielleicht ebenso abschaffen<br />

wie die Zugehörigkeit zu einer Kirche. Mir gefällt das gar nicht,<br />

so wenig wie das jetzt herrschende kalte Regenwetter, wie al-<br />

les Herrschende.<br />

23. August<br />

Dienstag gegen 5 h nachm. erwarte ich den Ofenrußer, seit<br />

Jahren, den kann ich nicht verschieben (aber vielleicht ver-<br />

15 Ist Existentialismus heilbar? In: Die kleine Freiheit, Zürich und Berlin 1952.<br />

112 113


1963 Hans Mayer bleibt im Westen<br />

schiebt er sich selber, wer kann das wissen in dieser unberechenbaren<br />

Welt „höchster mathematischer Leistungen“). Kubin<br />

hat schon recht, überall grinsende Fratzen zu sehen, die sich<br />

freuen einem zu schaden. Ich seh auch solche Grimassen des<br />

Hohnes schneidende Teufel.<br />

13. September<br />

Dem Pf [arrer] Metzner hab ich eine Zusammenstellung über<br />

Kolbes Bildwerke in <strong>Waldheim</strong> zugestellt, damit er wisse, was<br />

er hier hat. Ich bedaure, nicht vor zwanzig Jahren eine Kopie<br />

des Kindes mit dem Vogel mir verschafft zu haben. Man hätte<br />

das damals sollen abgießen lassen, wenn es auch nur in Gips<br />

gewesen wäre. Das Leben ist eben eine Reihe verpaßter Gelegenheiten<br />

– in mehr als einem Sinne.<br />

17. September<br />

Einen Ausschnitt hab ich: „Schwerer Prestigeverlust für das<br />

akademische Leben in der Zone: Prof. Hans Mayer bleibt im<br />

Westen. Von einem Besuch in der Bundesrepublik kehrt er nicht<br />

mehr nach Leipzig zurück.“ Dazu ein vielleicht 25 Jahre zurückliegendes<br />

Bild. „Weil er keine Möglichkeit mehr sah, weiter<br />

zu amtieren. Alle Vorbereitungen, ihn ,abzuschießen‘ und den<br />

freien Kontakt mit seinen Studenten zu unterbinden, waren getroffen.“<br />

Was das nun konkret eigentlich heißt, müßte in Leipzig<br />

ermittelt werden. Denn unter diesen Zeitungsphrasen kann<br />

ich mir vieles oder auch nichts vorstellen. Das eine nur ist deutlich:<br />

ein Scheißverein ist das.<br />

18. September<br />

Hast Du was über Mayer gehört? Daß man ihn drüben mit<br />

großer Begeisterung aufnehmen wird, ist nicht wahrscheinlich.<br />

Er gilt als „Verfechter der marxistischen Theorie“, ist Jude und<br />

seit 1948, also seit 15 Jahren, hier. Sein Buch „Ansichten zur Li-<br />

teratur der Zeit“ habe ihm hier geschadet.<br />

20. September<br />

Ich bin gespannt, ob Du da etwas über den Universitäts-<br />

skandal um Mayer erfahren wirst. Viel kaum, denn das „Insti-<br />

tut für Deutsche Literaturgeschichte an der Karl-Marx-Universi-<br />

tät“ gab eine „Erklärung“ ab, in der gesagt wird, er habe „in<br />

all den Jahren seiner Tätigkeit alle Möglichkeiten gehabt, vor<br />

den Studenten und dem wissenschaftlichen Nachwuchs seine<br />

Meinungen zu äußern“. In dieser „Erklärung“ wird doch von<br />

den Lesern eine Glaubenskraft gefordert, die einen hohen Grad<br />

von Dummheit zur Vor<strong>aus</strong>setzung hat. Daß ein ganzes Insti-<br />

tut, doch wohl einstimmig, das annehmen kann – ich kann den<br />

Satz nicht beenden.<br />

23. September<br />

„Neue Literatur“ zu lesen wäre auch eine starke Zumutung;<br />

denn diese ist, mit einem <strong>aus</strong> der Mode gekommenen Worte<br />

gesagt, ein „Gebresten“, ist kein Naturgewächs, sondern eine<br />

Züchtung. Zudem wäre da doch nur das hier Erschienene der<br />

Gegenstand, es gibt aber noch eine deutsche Literatur in West-<br />

deutschland, Oesterreich, der Schweiz – die ist auch zu beach-<br />

ten, aber doch nicht zu bekommen. Und wenn der Professor sie<br />

<strong>aus</strong>nahmsweise bekäme, wäre es eine halbe Sache, wenn der<br />

Student sie nicht auch in der Hand hat. Und dann gibt es noch<br />

eine teilweise ungeschriebene oder ungedruckte ostzonale Li-<br />

teratur, die meist im Embryonalzustande abstirbt. Was wäre <strong>aus</strong><br />

dem „Werther“ geworden, hätte Goethe bei jedem Satze erst<br />

überlegen sollen, ob nicht irgendeine „Vorschrift“, die vor der<br />

Schrift besteht, verletzt würde – das Buch wäre ungeschrieben<br />

geblieben. Und so ist das heute. Wie viele Memoiren könnten<br />

geschrieben werden bei der Erlebensfülle, die in den letzten<br />

dreißig Jahren an uns verschwendet wurde – und wie wenige<br />

wagen, etwas Derartiges zu Papier zu bringen, oder sind er-<br />

schöpft und von der Zwecklosigkeit des Unternehmens so über-<br />

114 115


1963<br />

zeugt, daß sie alles für sich behalten. Schon zu wissen, daß<br />

allerhand Censoren zu entscheiden haben, ob etwas gedruckt<br />

werde, was etwa zu streichen oder anders zu beleuchten sei –<br />

das nimmt doch jedem zu schreibenden Buche gleich beim Ent-<br />

stehen die unbefangene Frische. Also unterbleibt es. Und was<br />

kommt, ist eine Art „H<strong>aus</strong>zeitung“ eines Gefängnisses, wie es<br />

sie mal in der Anstalt 16 gab. Aber dieser Zustand begann 1933,<br />

er währt also bereits eine Generation von 30 Jahren.<br />

10. Oktober<br />

Auf der von mir nicht besuchten Versammlung der „Aktivis-<br />

ten der ersten Stunde“ 17 vorige Woche in Döbeln sind <strong>aus</strong> dem<br />

ganzen Kreise 17 Mann da gewesen. Ich hätte also kein großes<br />

Publikum gehabt, hätte ich da eine Ansprache halten wollen, ob-<br />

wohl es erheiternd ist, durch unerwartete Sätze die Zuhörer da-<br />

hin zu bringen, daß sie staunende Schafsgesichter aufsetzen.<br />

13. Oktober<br />

Die „Gewerkschaft“ meldete sich bereits wieder mit einer<br />

Einladung zur Besichtigung einer neuen Schule in Ostrau, am<br />

30. X. soll das sein, mit dem Bus ab Döbeln 13 h und zurück<br />

am Hbf. Döbeln 17 h; bis 16. X. soll die Meldung erfolgen. Ich<br />

weiß doch gar nicht, ob ich da bin, an dem Tage. Wie man nur<br />

plötzlich auf die Altlehrer sich so eifrig stürzt. Wenn ich nur<br />

wüßte, was dahinter steckt. Kein Mensch ist seiner Ruhe sicher;<br />

vom Säugling bis zum Altersrentner wird alles auf die Beine ge-<br />

bracht; jeder soll beunruhigt werden, denn keiner weiß, wie<br />

man ihn gelegentlich zu beschädigen denkt.<br />

16 Gemeint ist das Zuchth<strong>aus</strong> <strong>Waldheim</strong>.<br />

17 Als Leiter der Volksschule <strong>Waldheim</strong> (1946–1949) hatte <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> wesentlichen<br />

Anteil am demokratischen Neuaufbau des Schulwesens in Sachsen.<br />

14. Oktober<br />

Eben war die erste Meise am Fenster und sagte den Winter<br />

an, dessen Ende ich eher herbeiwünschte.<br />

Beim Wiederlesen von „Wilhelm Meisters Lehrjahren“ u.<br />

„Wanderjahren“ – ich weiß nicht, zum wievielten Male – ent-<br />

decke ich immer mehr neue Schönheiten und begreife nicht,<br />

wie es Leute geben kann, die dieses mit Weisheit angefüllte<br />

Werk langweilig finden können. Gewiß, es stehen Sentenzen<br />

in großer Zahl auf diesen Seiten; man könnte sie her<strong>aus</strong>heben<br />

und ein großes Spruchbuch dar<strong>aus</strong> bilden. Aber dabei ist doch<br />

Handlung in dem Ganzen, die den Leser immer in Spannung<br />

hält. Viele Gestalten sind in ihrem Wesen klar erkennbar, selbst<br />

Nebenfiguren werden deutlich. Und die Symbolisierung des-<br />

sen, was man „Schicksal“ nennt in den lenkenden Figuren des<br />

Turmes ist doch ein großer Gedanke. Hier gilt bestimmt Lich-<br />

tenbergs Satz: Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen<br />

und es klingt hohl – dann ist es nicht das Buch. 18 Viel kommt<br />

auch darauf an, in welchem Alter einer dieses Buch liest oder<br />

wieder liest; mir ist es mit jeder neuen Lesung bedeutsamer<br />

geworden. Man muß nicht notwendigerweise mit den Jahren<br />

dümmer werden. Eine t<strong>aus</strong>endjährige Eiche bringt mehr hervor<br />

als eine zehnjährige: an Holz, an Laub, an Früchten. Jeder Jah-<br />

resring, wie man ihn auf dem Querschnitte sieht, ist doch nur<br />

die Projektion eines räumlichen Gebildes in eine zweidimensio-<br />

nale Fläche, ist das Bild eines den ganzen Stamm umhüllenden<br />

Schlauches, ein lebendiges Gebilde von viel größerer Fläche als<br />

der Mantel des jungen Baumes.<br />

„Wilhelm Meister“ wiedergelesen<br />

Nun lächle über die Anmaßung eines alten Mannes.<br />

18 Frei nach Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D 396.<br />

116 117


1963 Gewi-Unwesen<br />

9. November<br />

Die Frage „Bleiben die Türen so?“ ist eine Kritik an der Fa-<br />

brikation des von allen Malern verachteten schlechten Lackes,<br />

den die DDR produziert und verkauft. Freilich, ich hätte sol-<br />

chen Lack <strong>aus</strong> dem Westen kommen lassen, der dann mögli-<br />

cherweise <strong>aus</strong> Glaubensgründen abgelehnt würde. Ein Anstrich<br />

in der Farbe der Primitiven – Knallrot – kann jederzeit erfolgen.<br />

So ein Westlack fließt wie beste Sahne, während die hiesige<br />

Brühe mit dem Rückstand von Magermilch zu vergleichen ist.<br />

Gläubige sehen das freilich nicht. Aber die Versendung des La-<br />

ckes macht Schwierigkeiten. Wird das Paket geöffnet, ist er ver-<br />

loren, denn die Versendung von Blechbüchsen ist verboten. Ich<br />

hätte den auch lieber verarbeitet. […]<br />

Hier stand gestern eine Schlange nach Bananen. Ich konnte<br />

mich nicht entschließen, mich da anzureihen: die Dinger wa-<br />

ren mir zu klein, kaum halb so groß wie die in London normal<br />

verkauften. Da die Schale stets um so größer ist, je kleiner das<br />

Gebilde, das sie umschließt, ging ich weiter, so gern ich Euch<br />

ein paar solche Dinger geschickt hätte. Das Motto, das in den<br />

zwanziger Jahren den Vertrieb des „Rheinischen Apfelkrautes“<br />

begleitete – „Das deutsche Schwein frißt alles“ – ist offenbar<br />

noch heute im „Welthandel“ oder da es sich um eine Hälfte<br />

handelt, im „Halbwelthandel“ gültig.<br />

11. November<br />

Das ist doch herrlich, wie der Gewi-Dozent „droht“, daß<br />

sich so etwas nicht würdelos vorkommt! „Wir haben Mittel!“<br />

das hab ich schon früher und heute mehrfach gehört, drohend:<br />

„Wir haben Mittel! Wir haben noch andere Mittel!“ Jawohl, ihr<br />

Scheißer – aber ihr habt keinen Zweck. Macht die Funktionäre<br />

zu Hundekuchen. Sollten diese Leute nicht mal darüber nach-<br />

denken, wie sie ihre Anziehungskraft entwickeln? So etwas<br />

wirkt aber immer nur abstoßend. Und dann wird mit der Macht<br />

gedroht – und diese ließe sich vielleicht mit Mut zerschlagen.<br />

Meine Amaryllisknospe ist seit gestern 1 cm gewachsen. –<br />

Der Czerny 19 ist eingebunden, die Armseligkeit, daß ein Papp-<br />

deckel <strong>aus</strong> mehreren dünnen Zeichenblockunterlagen in der<br />

Fläche verleimt ist wie Sperrholz, ist durch ein munteres Papier<br />

verhüllt. Nicht mal anständige Pappe gibt es hier zu kaufen,<br />

weil die paar Lumpen statt wie früher zu Pappe wieder zu Lap-<br />

pen für das putzsüchtige Weibsvolk verarbeitet werden. Und<br />

unsereins kann in den Mond gucken. […]<br />

Ich werde heute mittag 14 h 22 die Eltern vom Bus abholen<br />

und nach Kriebethal verstauen. Aber keine Zeile hab ich über<br />

Deinen gesundheitlichen Zustand, der das einzig Wichtige ist.<br />

Was geht mich sonst die Zeitgeschichte an, das Gewi-Unwesen,<br />

die nationalen Tröpfe?<br />

15. November<br />

Gespannt bin ich, wie wohl morgen die Pünktlichkeit der<br />

Züge beschaffen sein wird, nachdem mir heute ein mir bekann-<br />

ter Billettverkäufer versicherte, es sei besser damit geworden –<br />

alles wegen des einen 1945 geraubten Schienenstranges. Dazu<br />

pflegen Genossen mit den Achseln zu zucken, zu schweigen<br />

oder zu sagen, man müsse das im Zusammenhange sehen – ja-<br />

wohl im Zusammenhange der Verknechtung.<br />

Dafür ist ein Blick in die erleuchteten Schaufenster sehr er-<br />

holsam; man freut sich über die Fülle der Dinge, die man nicht<br />

braucht. Wer braucht etwa so etwas wie eine „Schreibmappe“<br />

<strong>aus</strong> gepresstem Kunstleder, unförmig, für 20 M? Und der Kitsch<br />

<strong>aus</strong> Porzellan, Glas, Keramik. Ist denn überhaupt wer, der das<br />

Zeug „braucht“? Ich hab nun 80 Jahre lang allerhand geschrie-<br />

ben – und nie eine Schreibmappe gebraucht. Das ist offenbar<br />

für Leute, die nicht schreiben.<br />

19 Carl Czerny, Die Schule der Geläufigkeit, Wien 1834.<br />

118 119


1963 Musik und Kristall<br />

16. Dezember<br />

Heute kam keine Post. Das wundert mich nach dem Er-<br />

lebnis mit der Eisenbahn nicht mehr. Je mehr von „Plan“ ge-<br />

redet wird, desto planloser verläuft die Wirklichkeit. Goethe:<br />

„Was man nicht hat, das eben brauchte man, und was man<br />

hat, kann man nicht brauchen.“ 20 Grammatisch zwei Subjekts-<br />

sätze mit gleichlautendem Subjekt verschiedener Bedeutung.<br />

In den „Was-Sätzen“ ist unter „man“ der Laden zu verstehen<br />

und in den „Hauptsätzen“ der Kunde. Erstaunlich bleibt, daß<br />

Goethe auch das schon ahnen konnte und den Zustand so tref-<br />

fend <strong>aus</strong>drückte. Lache nicht! Sooo ist es, sooo ist es! Denn<br />

was man hat, ist Murks, und was man braucht, gibt es nicht.<br />

Z.B. die hiesige Tusche ist ein Schlamm, mit dem keine saubere<br />

Schrift geschrieben werden kann.<br />

In meinem Kristallheft konnte ich beim Hinweise darauf,<br />

daß der naive Betrachter vergeblich in der Kristallwelt ein Pen-<br />

tagondodekaëder sucht, in dem die Seiten der begrenzenden<br />

Fünfecke gleich lang sind – weil das kristallographisch unmög-<br />

lich ist, da dabei die Verhältnisse der Achsenabschnitte irratio-<br />

nal werden – mußte ich hinzufügen: „Wor<strong>aus</strong> zu lernen wäre,<br />

eine Sache nie nach der äußeren Erscheinung zu beurteilen,<br />

sondern ihre innere Gesetzmäßigkeit zu erforschen und zu ach-<br />

ten. Was der Kristall im Raume ist – eine in Schönheit strah-<br />

lende Gesetzmäßigkeit – das ist die Musik in der Zeit.“ Ob frei-<br />

lich die Anwendung dieser Sätze auf menschliche Beziehun-<br />

gen erfaßt wird, bleibt abzuwarten. Aber es ist so. Du siehst,<br />

es kann auch einem achtzigjährigen Zittergreise noch mal et-<br />

was einfallen, was eigentlich auf der Hand liegt, und vielleicht<br />

wird es gerade wegen seiner Einfachheit übersehen. Daß in der<br />

so abliegenden Kristallographie Einsichten von allgemeiner Be-<br />

deutung stecken, ahnt man zunächst nicht.<br />

20 F<strong>aus</strong>t I. Vor dem Tor: „Was man nicht weiß, das eben brauchte man, / Und was man<br />

weiß, kann man nicht brauchen.“<br />

18. Dezember<br />

Der Vergleich der Musik mit dem Kristall liegt doch nahe:<br />

der Kristall – wie auch die Pflanze, ein Pferd – ein Geordnet-<br />

sein im Raume, das zugleich mit einem Blick erfaßt werden<br />

kann, so wie ein Blick auf eine Landschaft für immer ein Bild<br />

ins Bewußtsein prägen kann. Die Musik – eine Abfolge von Tö-<br />

nen verschiedener Dauer, Höhe, Combination, Intensität, die<br />

nur in der Abfolge der Zeit aufzufassen sind. Und dahinter ste-<br />

hen einerseits die räumlichen Baugesetze – kristallographische,<br />

anatomische – und anderseits die Kontrapunktlehre der Mu-<br />

sik, oder in der Dichtung gewisse Stilgesetze, deren Befolgung<br />

oder Vernachlässigung dann im Gesamteindrucke fühlbar wer-<br />

den, auch wenn der Leser oder Hörer gar keine theoretische<br />

Ahnung oder Kenntnis dieser Gesetze hat.<br />

Halte Dich nur überall an das Schöne!<br />

120 121


122 123<br />

1964<br />

<strong>Waldheim</strong>, den 7. Januar<br />

In einer Vorrede – ich glaube zu den „Bunten Steinen“ –<br />

weist Stifter darauf hin, wie er sich nach ersten, mehr zufälligen<br />

Anfängen gedrängt fühlt, etwas zu „schaffen“ 1 – darauf scheint<br />

Hebbels Bosheit zu zielen:<br />

„Auf Manchen.<br />

Freilich thut es dir not, zu schaffen, ich glaub’ es, doch<br />

leider! / Thut es der Welt nicht noth, daß sie besitzt, was du<br />

schaffst.“<br />

Und ferner:<br />

„Die alten Naturdichter und die neuen.<br />

(Brockes und Geßner, Stifter [, Kompert] u.s.w.)<br />

Wißt ihr, warum euch die Käfer, die Butterblumen so glü-<br />

cken? / Weil ihr die Menschen nicht kennt, weil ihr die Sterne<br />

nicht seht! / Schautet ihr tief in die Herzen, wie könntet ihr<br />

schwärmen für Käfer? / Säht ihr das Sonnensystem, sagt doch,<br />

was wär euch ein Strauß? / Aber das mußte so sein; damit ihr<br />

das Kleine vortrefflich / Liefertet, hat die Natur klug euch das<br />

Große entrückt.“ 2<br />

1 Sinngemäß in der Vorrede zu Adalbert Stifters Studien.<br />

2 Friedrich Hebbel, Sämtliche Werke. Bd. 6: Gedichte I, Epigramme und Verwandtes,<br />

Berlin 1902, S. 349.


1964 Bücherbeschaffung<br />

In Hebbels „Litteraturbriefen“ 3 (VIII) soll eine absprechende<br />

Kritik des „Nachsommer“ stehen. (Hab ich nicht.) Mag der Heb-<br />

bel noch so laut als Bühnentechniker gepriesen werden – ich<br />

kann mich nicht daran begeistern. Als Mensch und als Dichter<br />

steht mir Stifter viel höher.<br />

22. Januar<br />

Der Thyssen, der das einzigartige Museum in Lugano vor<br />

vielleicht 10–12 Jahren baute, ist einer <strong>aus</strong> der Stahlkönigsfa-<br />

milie, der in Wien lebte, aber der Meinung war, seine Sachen<br />

seien in der Schweiz eher vor irgendwelchen Zugriffen gesi-<br />

chert. Ich hab meine Wissenschaft auch über Heuß’ Bemühun-<br />

gen <strong>aus</strong> der Schweiz, woher ich auch ein Büchlein über Alber-<br />

tus Magnus und eins von Jaspers zu erwarten hätte – aber es<br />

kommt nicht an. Die verlogene DDR schreibt da gestern ganz<br />

frech die Äußerungen eines Staatssekretärs Erich Wendt 4 : „Es<br />

muß festgestellt werden, daß es nach wie vor kein Verbot für<br />

unsre Bürger gibt, Buchsendungen von Freunden und Verwand-<br />

ten <strong>aus</strong> Westdeutschland zu empfangen. In diesem Zusammen-<br />

hange sei aber darauf hingewiesen, daß die Zollstellen der<br />

DDR leider gezwungen sind, Sendungen, angesichts der im-<br />

mer wiederkehrenden Versuche, Literatur, die der Rassen- und<br />

Kriegshetze dient, sowie Schund- und Schmutzliteratur in Mas-<br />

sen einzuschmuggeln, zu kontrollieren.“ Diese Lumpen! Schafft<br />

mich ins Zuchth<strong>aus</strong>! Lügner. Du darfst Dir Bücher schicken las-<br />

sen, damit die Zöllner was zu m<strong>aus</strong>en haben! So wäre dieser<br />

obige Schlangensatz klar und wahr. Die regen sich darüber auf,<br />

daß der westdeutsche Börsenverein der Buchhändler seinen<br />

Mitgliedern rät, der Leipziger Messe fern zu bleiben. Ja, was<br />

hätte es für Sinn, hier zu erscheinen, wo nicht gekauft und nur<br />

geraubt wird?<br />

3 Hebbel, Sämtliche Werke. Bd. 12: Kritische Arbeiten III, Berlin 1903, S. 184f..<br />

4 Erich Wendt (1902–1965), 1957–1965 stellvertretender Minister für Kultur der DDR.<br />

24. Januar<br />

Daß ich gestern das kleine Büchlein „Goethes <strong>Briefe</strong> an die<br />

Gräfin Auguste zu Stolberg“ rasch einmal durchlas, ist doch zu<br />

verzeihen. Vier Wochen nachdem es bestellt war, traf es ein; ich<br />

hatte schon die Hoffnung völlig aufgegeben. Das Buch, 1839<br />

gedruckt, war offenbar noch von niemand gelesen, ein paar<br />

Seiten des Vorwortes <strong>aus</strong>genommen. Denn daß es etwa 1900,<br />

mindestens vor dem ersten Weltkriege, gebunden wurde und<br />

also da beschnitten worden ist, lehrt der Einband. Es ist noch<br />

auf Band geheftet, und der schmale Rücken trägt den Titel in<br />

Goldprägung. Das hat dann aufgehört, man hätte zwei – statt<br />

drei – Bünde gemacht, oder mit Draht geheftet oder auf Gaze.<br />

Und Goldtitel gab es dann auch kaum. Ab 1933 waren diese<br />

überhaupt verboten, selbst wenn der Buchbinder noch das Ma-<br />

terial dazu besaß. Auch diese scheinbar kleinen Züge gehören<br />

zum Bilde des Nazismus, der das Gold für die Tressen seiner<br />

Würdenträger und deren Maitressen brauchte.<br />

27. Januar<br />

Gestern las ich den zweiten Band zu Ende von Goethes<br />

Übersetzung der Autobiographie von Benvenuto Cellini sowie<br />

seine Bemerkungen zu diesem stürmischen Leben. Was er in<br />

dem Anhang an kunsthistorischen, ästhetischen, psychologi-<br />

schen, geschichtsphilosophischen Weisheiten bringt, ist unbe-<br />

schreiblich schön. Man lernt den Satz verstehen: „Wenn ich mir<br />

mein Ende vorstelle, darf ich nicht denken, welche Organisa-<br />

tion dabei zerstört wird“ 5 – das ist keine Überhebung, so ist<br />

es. In diesem Kopfe war nicht bloß ein Gelehrter oder Künstler,<br />

nein, da war eine ganze Akademie, wie es selten eine geben<br />

wird, auch wenn sie hundert Mitglieder hat. Sich täglich mit so<br />

schönen Sachen beschäftigen zu können – das muß man zu<br />

5 Goethe, Maximen und Reflexionen (997), hrsg. von Max Hecker, Weimar 1907.<br />

124 125


1964 Luftschutz in Westdeutschland<br />

würdigen wissen. Und Leute wie Zelter und Meyer haben das<br />

auch mit Bewußtsein genossen und völlig verstanden, weshalb<br />

sie ihm auch im selben Jahre 1832 nachgestorben sind.<br />

29. Januar<br />

Zu dem [Goethe-]Zelter-Briefwechsel ist folgendes zu er-<br />

klären: Diese drei Bände erschienen 1913 und die folgenden<br />

Jahre im Inselverlage und wurden von dem Vater der Jutta He-<br />

cker nach Vergleich mit den im Weimarer Archiv ruhenden Ori-<br />

ginalbriefen Goethes und Zelters gedruckt. Das wäre also der<br />

reine Brieftext. Insel hatte einen vierten Band mit Kommen-<br />

tar und Register von Anbeginn geplant. Zu dessen Bearbei-<br />

tung fand sich aber niemand und Hecker starb inzwischen. Auf<br />

meine Frage* an Dr. Bach 6 erhielt ich die mich überraschende<br />

Antwort, diese Sache zu übernehmen, er würde Nachricht ge-<br />

ben. Das ist alles. So wie der Briefwechsel Goethe-Schiller, der<br />

zwei Textbände und einen Band Kommentar von Prof. Alb[ert]<br />

Leitzmann enthält, oder Goethe-Meyer: drei Bände <strong>Briefe</strong> und<br />

ein Band Kommentar, den auch Hecker verfaßte und in dem er<br />

seine Tochter Jutta Hecker als Mitarbeiterin nennt.<br />

*(Die Frage lautete nur: ob der Kommentar noch beabsich-<br />

tigt sei und wann man auf dessen Erscheinen zählen könne.)<br />

Lassen wir die Sache sich entwickeln.<br />

2./3. Februar<br />

Heute bekam ich von Gerda Baumann 7 ein Buch von Theo-<br />

dor Schwenk, „Das sensible Chaos – Strömendes Formenschaf-<br />

6 Rudolf Bach, Lektor im Insel-Verlag, Leipzig.<br />

7 Mit der Lehrerin Gerda Baumann (1893–1975), Tochter eines Textilkaufmanns in<br />

<strong>Waldheim</strong>, die <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> auf das Lehrerexamen in Leipzig vorbereitete, ver-<br />

band ihn eine lebenslange Freundschaft, wie der Briefwechsel von 1935–1975<br />

bezeugt (vgl. Archiv des <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>-Vereins, <strong>Waldheim</strong>). Wie <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> war<br />

Gerda Baumann in der Deutschen Sektion des Internationalen Versöhnungsbun-<br />

fen in Wasser und Luft“, Verlag Freies Geistesleben Stuttgart,<br />

das sie durch eine Nürnberger Buchhandlung hat schicken las-<br />

sen. Viele interessante Abbildungen. Es kam an, trotzdem die<br />

Buchhandlung meinen Namen falsch verstanden hatte und ich<br />

Reigler auf der Adresse hieß. Es kommt offenbar <strong>aus</strong> der im An-<br />

schluß an Goethes Naturwissenschaft entstandenen Anthropo-<br />

sophie, ein sehr verschwenderisch <strong>aus</strong>gestattetes Buch (28 M<br />

126 127<br />

West!)<br />

9. Februar<br />

Bei Seidel hatte ich angefragt, ob die hier abgedruckte<br />

neue Lebensmittelkarte <strong>aus</strong> Westdeutschland ein Schwindel<br />

sei. Er hat sich sofort umgetan: es ist kein Fastnachtsscherz,<br />

sondern eine vorsorgliche Maßnahme, <strong>aus</strong> der gar kein beson-<br />

dres Geheimnis gemacht werde. Ebenso sei Luftschutz in West-<br />

deutschland und besonders in der Schweiz sehr an der Tages-<br />

ordnung. – Er erwähnt auch, daß es den „verkannten Dumm-<br />

köpfen 1945 gelang, das braune Ehrenkleid zu verfeuern und<br />

sich wiederum in hohe Positionen hinein- und die Bälle ge-<br />

genseitig zuzuspielen. Die ganze Polizei, das Gerichtswesen,<br />

aber auch die Verwaltung wimmelt nur von solchen Kadet-<br />

ten. Von Zeit zu Zeit tut sich die Kloake mal auf – wie eben<br />

im Auschwitz-Proceß – und dann kann sich keiner der Beteilig-<br />

ten mehr entsinnen, etwas Unrechtes getan zu haben, was ihm<br />

seine mittlerweile wohlerworbenen Stellung als Polizeikommis-<br />

sar, Arzt oder dergl. gefährden könne. Vermutlich haben sich<br />

die Juden selber vergast“.<br />

des tätig (Kassenführerin). Seit 1928 unterrichtete sie sächsische Kinder in der<br />

Lungenheilstätte Agra bei Lugano. Sie war Mitglied in der von Rudolf Steiner<br />

begründeten Christengemeinschaft. Die letzten Jahre, in denen sie <strong>Arthur</strong> Pfei-<br />

fer des öfteren besuchte, lebte sie bei ihrer Nichte in Karlsruhe, die ihren Nach-<br />

laß bewahrt.


1964 Leipziger Messe<br />

In der Zeitung war zu lesen, daß der Leibwächter von Ade-<br />

nauer und Erhard, der ihn auf allen Reisen begleitete, verhaf-<br />

tet werden mußte, wegen früherer Judenmorde, und sich in der<br />

Zelle umgebracht habe.<br />

Es ist wirklich eine herrliche Zeit, in der wir leben. Dieses<br />

20. Jahrhundert ist eins der dunkelsten.<br />

23. Februar<br />

In Goethes „Maximen und Reflexionen über Kunst“ steht<br />

der bemerkenswerte Satz: „Das Schöne ist eine Manifesta-<br />

tion geheimer Naturgesetze, die uns ohne dessen Erscheinung<br />

ewig wären verborgen geblieben.“ 8 Damit hat er wieder ins<br />

Schwarze getroffen. Denn das Grundgesetz der Kristallbildung<br />

[ist], daß alle von den Begrenzungsflächen bewirkten Achsen-<br />

abschnitte untereinander in einem einfachen rationalen Ver-<br />

hältnis stehen. Oder umgekehrt: Eine Fläche, die keine rationa-<br />

len Indices hat, ist eine kristallographisch unmögliche Fläche.<br />

Damit wird das Gesetz von der Konstanz der Kantenwinkel be-<br />

stätigt. Diese innere Gesetzlichkeit des Aufb<strong>aus</strong> der Kristalle ist<br />

die geheime Ursache davon, daß uns die Form der Kristalle be-<br />

zaubert – auch den, der von diesen Verhältnissen nichts ahnt<br />

und weiß. Woher es oft kommen mag, daß man die Regelmä-<br />

ßigkeit schöner Kristallformen für künstlich hergestellte Ge-<br />

bilde hält, weil wenige diesen Zusammenhang ahnen oder be-<br />

greifen. Und im Aufbau einer Blüte, eines stachligen Kaktus,<br />

einer Musik sind ähnliche Gesetze wirksam. – Um so unbegreif-<br />

licher wird dann der menschliche Wirrwarr, wie er sich in jeder<br />

Zeitung spiegelt.<br />

11. März<br />

Jede dieser Blüten der Amaryllis hat ihre Zeit, nach der sie<br />

wieder vergeht. Die Du bei mir sahst, war da auch schon et-<br />

8 Hecker: 183<br />

was über ihren Höhepunkt. An ihrer Stelle steht jetzt die kleine<br />

Zwiebel mit zwei Knospen, deren erste sich gerade öffnet. Und<br />

Dir bringe ich nächste Woche wieder eine mit zwei Blütenknos-<br />

pen, an deren Entwicklung Du Dich einige Zeit freuen kannst.<br />

Daß dieses Aufblühen reihenweise nacheinander erfolgt, hat<br />

doch sein Gutes. Ich kann da immer mal Dir einen Spaß ma-<br />

chen. Das ist in diesen Monaten doch ganz schön gelungen.<br />

Die abgeblühten Töpfe nehm ich wieder zurück in das Som-<br />

merquartier. Das ist überhaupt ein Verbesserungsvorschlag für<br />

Blumenhändler: Blüten<strong>aus</strong>leihstation. Viel besser als Handel;<br />

denn wie oft mögen gute Pflanzen, bloß weil sie verblüht sind,<br />

in den Müll wandern, obwohl sie in den folgenden Jahren noch<br />

schöner blühen könnten, wenn sie die ihnen gemäße Pflege<br />

hätten, die in vielen Fällen gar keine Mühe macht, sondern nur<br />

ein wenig Aufmerksamkeit verlangt. – Schneeglöckchen – die<br />

auch in die Gruppe der Amaryllisgewächse gehören – sind hier<br />

noch nicht weiter als zu der Zeit, da Du hier warst, hier und da<br />

guckt eine Spitze her<strong>aus</strong>, noch unzufrieden mit der Temperatur,<br />

die den Schnee noch nicht völlig beseitigt hat.<br />

Daß *** „Messebesucher“ ist! Ich staune nur. Denn die<br />

[Leipziger] Messe ist doch erstens nur Warenschau für das Aus-<br />

land, da die hiesigen Einzelhändler dort nicht einmal Bestellun-<br />

gen aufgeben können, sondern an ein Handelskontor verwie-<br />

sen werden. Und zweitens – und hauptsächlich – ist sie „Fa-<br />

milientag“ von Leuten <strong>aus</strong> Ost und West, die da ohne größere<br />

Paßschwierigkeiten sich einmal wiedersehen. Dadurch wird au-<br />

ßerdem der Eindruck der „Fülle“ verstärkt, wird gesorgt, daß<br />

die Gasth<strong>aus</strong>stühle nicht <strong>aus</strong>kühlen. Der „kolossale Andrang“<br />

gilt also weniger den <strong>aus</strong>gestellten Dingen als der Begegnung<br />

mit Freunden und Verwandten. In der Zeitung steht das nicht.<br />

Ich setze es nicht hinein.<br />

128 129


1964<br />

21. März<br />

Hier stand in der Zeitung 9 ein Bericht über die Auffindung<br />

eines Burschen, der in Dresden eine 84jährige Frau mit einem<br />

Meißel ermordet und dann beraubt hatte. Ermittelt wurde er<br />

nach vergeblichen Versuchen durch ein Brillenglas, das man in<br />

den Kleidern der Ermordeten fand, 80 Optiker mußten ihre Kar-<br />

teien prüfen, es stellte sich her<strong>aus</strong>, wem das Glas gehörte: es<br />

war <strong>aus</strong> einer Brille der Mutter des Mörders, der diese Brille<br />

wegen „Verkleidung“ aufgesetzt hatte. Bei dem Kampfe mit der<br />

alten Frau war das Glas her<strong>aus</strong>gefallen. Der Täter wurde zu le-<br />

benslänglichem Zuchth<strong>aus</strong>e verurteilt. Die Ermittlung ist ein kri-<br />

minalistisches Meisterwerk, an dem man sieht, daß dieser Be-<br />

ruf recht interessant sein kann.<br />

28. März<br />

Auf einem Kongreß bildender Künstler ergab sich folgen-<br />

des: Zu Prof. F[ritz] Cremers Äußerung: „Wir brauchen keine<br />

volkstümliche Kunst“ vertrat Minister Bentzien 10 nachdrücklich<br />

die Meinung, daß Volksverbundenheit und Volkstümlichkeit zu<br />

den unabdingbaren Prinzipien des sozialistischen Künstlers ge-<br />

hören. Der Künstler sei nicht nur sich selbst gegenüber verant-<br />

wortlich, denn natürlich habe jeder Künstler Rechenschaft vor<br />

seinem Gewissen abzulegen, aber auch vor dem Volk. „Wem<br />

wollen wir denn die Kunst widmen, wenn nicht dem Volk, wel-<br />

che andere Möglichkeit zu wirken gibt es denn, wenn nicht im<br />

Volk?“<br />

Nun frage ich nur: Was heißt „Volk“? Das ist eine vollkom-<br />

men mystische Größe: ein Götze, wie etwa „Nation“. Der echte<br />

Künstler stellt sein Erlebnis mit den ihm geläufigen Mitteln dar –<br />

ohne nach einer Wirkung zu schielen. Ob das „verstanden“ oder<br />

9 <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> hatte die Dresdner Bezirkszeitung der CDU Die Union abonniert.<br />

10 Hans Bentzien (*1927) war 1961–1966 Minister für Kultur der DDR.<br />

„ergriffen“ werde – das ist keinesfalls die Sorge des Künstlers;<br />

das ist eine Angelegenheit dieses mystischen Volkes, das zuwei-<br />

len zu Leb- und Wirkungszeiten des Künstlers noch gar nicht ge-<br />

boren ist. Was hätten die alten Germanen mit Sophokles’ „An-<br />

tigone“ anfangen können? Wie wenig wurde Bach bei Lebzei-<br />

ten ergriffen? Welchen Unsinn hat noch Fr. Th. Vischer über den<br />

zweiten Teil des „F<strong>aus</strong>t“ vorgebracht? Welche Widerstände wa-<br />

ren zu überwinden, Shakespeare zu erfassen! Wie viele herrli-<br />

che gotische Bildwerke hat das „Volk“ in der französischen Re-<br />

volution zerschlagen, weil die bis Luther wirksam gewesene re-<br />

ligiöse Bindung nicht mehr und künstlerisches Verstehen noch<br />

nicht entwickelt waren. Widerlege mich – wenn Du kannst. Und<br />

lies mal in der Leipziger Käsezeitung 11 nach, was da über den V.<br />

Kongreß Bildender Künstler Deutschlands gefabelt wird.<br />

28. März<br />

Der selbständige Geist – und das ist der Künstler – soll<br />

sich knechten lassen vom Volke, von der Masse, die unter den<br />

Händen ihrer Führer jede Form annimmt, die diese ihm auf-<br />

prägen, das heißt: das „Volk“ ist ein Vorwand in den Händen<br />

der Macht, die das „Böse“ an sich ist, ist das Mittel – das Volk<br />

nämlich – mit dem die Macht die von ihr gesetzten Ziele zu er-<br />

reichen strebt. Der absolute Herrscher früherer Zeiten konnte<br />

sich diesen Umweg ersparen.<br />

130 131<br />

31. März<br />

In den „Noten zum West-östlichen Divan“ schreibt Goe-<br />

the (W[eimarer] A[usgabe] I, 7, S. 93): „Überhaupt pflegt man<br />

bei Beurteilung der verschiedenen Regierungsformen nicht ge-<br />

nug zu beachten, daß in allen, wie sie auch heißen, Freiheit<br />

und Knechtschaft zugleich polarisch existiere. Steht die Ge-<br />

11 Gemeint ist die Leipziger Volkszeitung.<br />

Was heißt Volk?


1964 Geschichte des Weimarer Theaters<br />

walt bei einem, so ist die Menge unterwürfig, ist die Gewalt<br />

bei der Menge, so steht der einzelne im Nachteil; dieses geht<br />

denn durch alle Stufen durch, bis sich vielleicht irgendwo ein<br />

Gleichgewicht, jedoch nur auf kurze Zeit, finden kann. Dem Ge-<br />

schichtsforscher ist es kein Geheimnis; in bewegten Augenbli-<br />

cken des Lebens jedoch kann man darüber nicht ins klare kom-<br />

men. Wie man denn niemals mehr von Freiheit reden hört, als<br />

wenn eine Partei die andere unterjochen will und es auf wei-<br />

ter nichts angesehen ist, als daß Gewalt, Einfluß und Vermögen<br />

<strong>aus</strong> einer Hand in die andere gehen sollen. Freiheit ist die leise<br />

Parole heimlich Verschworener, das laute Feldgeschrei der öf-<br />

fentlich Umwälzenden, ja das Losungswort der Despotie selbst,<br />

wenn sie ihre unterjochte Masse gegen den Feind anführt, und<br />

ihr von <strong>aus</strong>wärtigem Druck Erlösung auf alle Zeiten verspricht.“<br />

So ist es, so haben wir es erlebt – in einem Leben sind wir<br />

durch alle Regierungsformen gequält worden.<br />

15. April<br />

Zu dem <strong>Briefe</strong> Goethes an Schultz v. 10. Sept. 1820 wird ein<br />

Satz von Schubarth erwähnt, den Goethe in einem von dessen<br />

Büchern angestrichen hat: „Ich will nicht verhehlen, daß der<br />

Zug unsrer geistigen Richtung, wo fast alles von Kunst, Wissen<br />

und Religion, und allem, was sonst ins Privatleben gehörte, die<br />

Richtung ins Oeffentliche und vornehmlich zur Politik nimmt,<br />

mich anwidert. Eine Verflachung und Versandung muß notwen-<br />

dig dadurch herbeigeführt werden. Wie wir ja Griechen, Römer<br />

und Hebräer eben daran untergehen sehen, indem Politik, und<br />

was ihr ähnlich, jedes andere Bestreben des Einzelnen zuletzt<br />

verzehrt.“ Hätte der Mann noch den Hitler erlebt, konnte er die<br />

Deutschen den Griechen und Römern hinsichtlich deren Unter-<br />

gang durch Politisierung anschließen. Nur eben: es ist noch nie<br />

etwas <strong>aus</strong> der Geschichte gelernt worden.<br />

132 133<br />

18. April<br />

Nun möchtest Du eine „Geschichte des Theaters der Stadt<br />

Weimar“ griffbereit haben. Lies mal in Deinen Lexicis unter „Wei-<br />

mar“, ich vermute, daß da vielleicht etwas zu finden ist. Sonst<br />

sagst Du mal im Goethe-Schiller-Archiv, daß ein Bedürfnis nach<br />

einer Geschichte des Weimarer Theaters vorhanden sei und sie<br />

einen ihrer Mitarbeiter für diese Arbeit freistellen müssen. Das<br />

kann freilich einige Jahre dauern, wenn es gründlichst gemacht<br />

wird: ein Textband und ein Bilderband. Das lernt kosten, das<br />

läuft ins Geld, das wird teuer. Aber: ein Abnehmer ist doch schon<br />

gesichert. Und daß das immer ein „fortschrittliches“ Theater war,<br />

braucht nicht gedruckt zu werden; das wußten wir so schon.<br />

Welchen Wert könnte heute ein Pappkasten – oder mehrere –<br />

haben, in denen sämtliche Theaterzettel gesammelt wären, die<br />

die Besucher achtlos weggeworfen haben! Dazu die Autogramme<br />

großer Theaterleiter, Sch<strong>aus</strong>pieler, Komponisten, Dirigenten – es<br />

ist nicht <strong>aus</strong>zudenken, welche Vermögenswerte vergeudet wor-<br />

den sind. Hätte man 200 Jahre dort gelebt, auf Credit meinetwe-<br />

gen – man könnte alle Schulden <strong>aus</strong> diesen Kästen bezahlen.<br />

Und dann schrieb ich meine „Erinnerungen als Theaterportier am<br />

Hoftheater zu Weimar“, ein mehrbändiges Werk, gestrotzte voll<br />

von Anekdoten, Kritiken, Skandalgeschichten, weisen Bemer-<br />

kungen und ironischen Glossen. Dazu ein Bildband mit Bühnen-<br />

bildern, Portraits von Sch<strong>aus</strong>pielern, Dichtern, Kritikern, Inten-<br />

danten, Dirigenten, Bildern von den Besuchern in dem Wandel<br />

der Festkostüme von 200 Jahren, wie sie <strong>aus</strong> Sänften, Kutschen,<br />

Waagen steigen, Perücken einst – und heute wieder, gepudert,<br />

bemalt, auf Stöckelschuhen, in griechischen Sandalen, Gesich-<br />

ter, <strong>aus</strong> denen Würde, Selbstbewußtsein, harmlose Freude, Lan-<br />

geweile, Enttäuschung abzulesen sind. Das gäbe Bilder zur Psy-<br />

chologie des Menschen als Gesellschaftswesen. Diese Gesichter!<br />

Wirkliche (einige wenigstens) und zur Schau getragene. – Aber<br />

Du hast doch schon lange aufgehört, das Dir anzuhören.


1964 Die Döbelner Steinsammlung<br />

21. April<br />

Mitbringen werde ich Dir ein paar nette Zeilen von Dr. Vul-<br />

pius – Weimar, dem ich ein paar Sätze geschrieben, nachdem<br />

ich sein Buch 12 über Walther v. Goethe zweimal in drei Tagen<br />

durchgelesen hatte. Darüber hat er sich offenbar recht gefreut,<br />

da er mit einer solchen Wirkung seines Buches gar nicht ge-<br />

rechnet habe. „Viel eher hatte ich damit gerechnet, daß mir die<br />

Geschichte dieses traurigen Helden alle Sympathien verküm-<br />

mern würde, die mir das ‚Christiane‘-Büchlein 13 eingebracht<br />

hatte.“ Eine recht sinnige Karte mit einem Spruche Goethes hat<br />

er beigelegt. Ich bring das zusamt dem Buche mit, damit Du<br />

Dich daran ergetzen kannst. Denn Dich mit irgend etwas zu er-<br />

freuen – dazu sind wir schließlich noch da.<br />

23. April<br />

Jetzt am Abend will ich erst ämal ruchen nach der Arbeit<br />

mit einigen Fenstern. Ich hoffe am Montag damit zu Ende zu<br />

kommen. Es war Zeit, das vorzunehmen; das merkte man beim<br />

Abreiben mit Sandpapier, es rieselte abgesprungene alte Farb-<br />

plättchen. Nun ist das Außen-Streichen zwar Sache des H<strong>aus</strong>-<br />

wirtes [Döhlert], aber ehe ich mir da von dem einen Maler schi-<br />

cken lasse, mach ich das lieber selber. Die Hauptarbeit: das<br />

Abräumen der Blumenstöcke bleibt mir da auch, und ich bin<br />

kein Freund von Besuchern in meiner Kl<strong>aus</strong>e. Das Geschnake,<br />

was ich mal nach meinem Tode mit „den vielen Biechern“ ma-<br />

che, das hab ich satt. Ich könnte sagen: andre fahren dafür bei<br />

Lebzeiten leere Flaschen im Handwagen zur Sammelstelle; das<br />

hab ich nicht nötig. Aber ich komme als Gespenst und schee-<br />

che [spuke]. Du siehst, ich bin ein ganz ungeselliger Wilder. –<br />

12 Wolfgang Vulpius, Walther Wolfgang von Goethe und der Nachlaß seines Großva-<br />

ters. Aus archivalischen Quellen, Weimar 1962.<br />

13 Christiane. Lebenskunst und Menschlichkeit in Goethes Ehe, Weimar 1949.<br />

Mich erfreuen zwei große leuchtend rote Amaryllisblüten. Fünf<br />

Monate lang hab ich diesmal diese kostbaren Verwandten der<br />

Schneeglöckchen bei mir blühen gehabt.<br />

134 135<br />

27. Mai<br />

Eben bringt die Post ein höflichen Schrieb von dem Neu-<br />

lehrer Werner <strong>Pfeifer</strong> <strong>aus</strong> Großbauchlitz, in dem er bittet, ihm<br />

beim Aufstellen einer der Schule verabreichten, in Verwirrung<br />

geratenen Steinsammlung behilflich zu sein. Es scheint also in<br />

Döbeln niemand zu geben für so eine Angelegenheit, die ihre<br />

Schwierigkeiten hat. Ich möchte ihn nun damit nicht sitzen las-<br />

sen und werde dieser Tage mal hinüber fahren, mir die Sache<br />

anzusehen, um festzustellen, was etwa zu machen sein wird.<br />

28. Mai<br />

Früh 8 h fuhr ich mit dem Bus nach Döbeln, lief 20 Minu-<br />

ten nach der Oberschule Großbauchlitz, wo man sich entschul-<br />

digte, mich mit meinen 70 Jahren bemühen zu müssen. Worauf<br />

ich stolz noch 10 Jahre zugeben konnte. Die Steine – Reste ei-<br />

ner vor Jahrzehnten bedeutenden Sammlung – sind durch viel-<br />

faches Umräumen (und Bestehlen) ganz durcheinander. Man-<br />

ches schöne Stück ist dabei. Untergebracht sind sie in etwa<br />

20 Schubfächern eines Stahlschrankes mit einem Glasauf-<br />

bau, in den ich zwei terrassenförmige Holzgestelle, schwarz<br />

gebeizt, setzen lasse. Der Glasbau ist 53 cm tief, 93 cm hoch<br />

und 240 cm breit. Dahinein kommen also die zwei Holztreppen,<br />

auf denen die schönsten Stücke, gut beschriftet, sichtbar ge-<br />

macht werden, nachdem sie sauber gewaschen sind. Doppel-<br />

stücke und das weniger auffallende – aber trotzdem instruktive<br />

Material – werden in die Schubladen gebracht, alles beschrif-<br />

tet, mit kleinen, unten aufgeklebten Nummern versehen, in ei-<br />

nem Texthefte erläutert. Gewaschen müssen die Stücke auch<br />

werden. Ob alle bestimmbar sind, ist noch nicht zu beurtei-


1964 Vom Staunen<br />

len. Wenn man auch die Art angeben kann, bleibt die Ortsbe-<br />

zeichnung sehr schwierig. Ausstellungstechnisch möchte alles<br />

so gut wie möglich sein. Zu diesem Behufe fahre ich morgen<br />

früh mal nach Freiberg, um mich wieder mal im Museum der<br />

Bergakademie umzusehen, wo wohl die Sachen am besten auf-<br />

gestellt sind, zumal eben eine internationale Bergingenieurta-<br />

gung gewesen ist.<br />

1. Juni<br />

In der Schule erhielt ich ein Mittagessen und ein Kännchen<br />

Mokka von der Art, wie wir ihn in dem Kaffeestübl am Wieland-<br />

platze in Weimar hatten. Heute bin ich ein Stück vorgerückt<br />

mit der Arbeit. Es ist für mich eine Art kristallographisch-mine-<br />

ralogisch-petrographischen Praktikums, bei dem ich sehe, ob<br />

ich was gelernt habe und bei dem ich noch einiges hinzulerne.<br />

Man muß sich nur erst durch das Dickicht der Verwirrung ei-<br />

nen Weg bahnen. Da sind eine Menge Kalkspate <strong>aus</strong> den Kalk-<br />

gruben nördlich von Döbeln, schöne Stücke darunter. Da sind<br />

Reste zur Geologie des mittelsächsischen Gebietes, die vermut-<br />

lich auf Dr. Herrmann 14 zurückgehen, und was noch alles zu<br />

Tage treten wird, muß sich noch zeigen.<br />

9. Juni<br />

So, da säßen wir wieder in unseren vier Wänden, etwas<br />

müde freilich, aber ich habe heute immerhin achtzig Minera-<br />

lien beschriftet. Es freut, einen zweifelhaften Obsidian richtig<br />

bestimmt zu haben und nachträglich auf dem Boden des Kas-<br />

14 Mit dem Studienrat Reinhold Herrmann (1886–1953), Lehrer für Naturwissenschaf-<br />

ten am Realgymnasium Döbeln (1912–1945), an der Betriebsberufsschule der<br />

Döbelner „Technischen Metallwarenfabrik“ (TEWA), an der Technikerfachschule<br />

Roßwein, endlich an der Oberschule Erkner bei Berlin und ehemaligen Leiter des<br />

Heimatmuseums Döbeln, hatte <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> 1949 die geologische Abteilung des<br />

Kreismuseums Burg Kriebstein aufgebaut.<br />

tens einen Zettel vom Jahre 1833 von alter Hand zu finden, in<br />

dem zu lesen, daß besagtes Stück 1831 <strong>aus</strong> Mexiko nach Dö-<br />

beln kam. Mir ist dieser Zwang zur genauen Betrachtung der<br />

Stücke sehr heilsam. Selbst Spuren von Kupfer, Azurit, Malachit<br />

entgehen mir nicht – und ich weiß, daß das Stück in dieser Aus-<br />

stattung von Tsumeb in Afrika gekommen sein muß. Man lernt<br />

dabei, die Augen aufzumachen. Und ich kann mir denken, daß<br />

das mit der Anatomie ganz ähnlich ist. Wer sich da gewöhnt,<br />

die genauen Einzelheiten des Objekts nicht flüchtig zu betrach-<br />

ten, kommt rascher voran als jemand, der die Begriffsakrobatik<br />

etwa der Hegelschen Philosophie sich klar zu machen hat. Von<br />

der ganz individuellen Erscheinung des konkreten Sachverhal-<br />

tes <strong>aus</strong>zugehen – wie in Mineralogie, Botanik, Anatomie – ist<br />

leichter zu fassen als der umgekehrte Gang von einer Abstrak-<br />

tion <strong>aus</strong>. – Spaßig ist, daß ich in den Unterrichtsp<strong>aus</strong>en Unter-<br />

richt halte, weil immer Gruppen von Kindern aller Altersstufen<br />

mich belagern und freiwillig sich unterrichten lassen. Und son-<br />

derbar: ich kann das noch! Heute, eine Kleine, vielleicht zwei-<br />

tes Schuljahr: ich sagte einem größeren Jungen, daß das von<br />

ihm gefragte Stück Analcim sei. Da sagt die Kleine: „das fängt<br />

mit A an und ich mit B“. – „Wie heißt Du denn?“ – „Bedra!“ (Sie<br />

meinte Petra!) – „Ja, da heißest Du Petra, und das bedeutet<br />

,Stein‘, Du wirst also immer Deinen Kopf durchsetzen. Aber ich<br />

setze Dich mit zu den andern Steinen in diesen Glasschrank!“<br />

Das Interesse vieler Kinder ist jedenfalls staunenswert, bei die-<br />

sen abgelegenen Sachen. Selbst ein Lehrer kam zum Staunen,<br />

als ich ihm das bei der Kristallbildung obwaltende Gesetz von<br />

der Rationalität der Verhältnisse der Achsenabschnitte bei der<br />

Entstehung der Kristalle klar machte. Alle echte Wissenschaft<br />

beginnt mit dem Staunen (was schon Plato wußte).<br />

136 137


1964 <strong>Waldheim</strong>er Heimatfest<br />

28. Juni<br />

Gestern Sonnabend abend sah ich in der Kirche den Film<br />

„Albert Schweitzer“, von 8 –½ 11 h auf Kirchenbank! Der Strei-<br />

fen ist eine Autofilmoskopie des Lebens und Werkes des gro-<br />

ßen Mannes, das unsereiner kennt; für die, so es nicht kennen,<br />

eine staunenweckende Autobiographie in Bild und Wort (er<br />

spricht den ganzen Film selbst), die zusätzlich erkennen läßt,<br />

daß der Mann nicht nur groß ist in seiner Orgelkunst, seiner<br />

medizinischen Arbeit, seiner Naturliebe, sondern daß er auch<br />

ein Meister ist in der Kunst der Propaganda.<br />

1. Juli<br />

Es scheint nur so, daß ein Rentner müßig sei: Ich käme<br />

nicht mal ins Kino. Und hab so ein hoch entwickeltes Talent<br />

zur Faulheit. Aber an die alten Talente denkt niemand, nur an<br />

die jungen. Die Arbeit in Großbauchlitz kann gar nicht bezahlt<br />

werden, weil das einiges kosten würde und weil die Leute gar<br />

kein Geld haben. Ich hätte das ablehnen können, aber erstens<br />

dauerten mich die Steine und die schönen Stücke von Verstei-<br />

nerungen und zweitens gibt es doch manche Kinder, die da-<br />

bei sich freuen.<br />

23. August<br />

Heute sah ich mir den „Festzug“ 15 an. Man kann sagen: „Er<br />

übertraf alle Erwartungen.“ Denn obwohl ich mir einigen Mist<br />

vorgestellt hatte – die Wirklichkeit bot mehr. Ich wundre mich<br />

nicht mehr darüber, daß der Dr. Kunis von den Verhandlungen<br />

darüber erkrankte. Du kannst Dir an Hand der Festschrift eine<br />

Übersicht über das Gezeigte verschaffen, keine Vorstellung:<br />

an solche Erscheinungen reicht keine Phantasie. In der „Fest-<br />

schrift“, die der Oberschul-Weber verfaßt hat, wird nur beiläufig<br />

15 Zum Heimatfest der Stadt <strong>Waldheim</strong>.<br />

erwähnt, daß man „Material“ <strong>aus</strong> der Sammlung des Dr. Bütt-<br />

ner 16 benutzt habe. Wahrscheinlich hat er also auch versagt.<br />

Festschrift und Festzug waren gleich wertvoll als Dokumente<br />

der Zeit. – Und da muß mir die Erinnerung an die Panathenäen<br />

in den Friesfeldern der Akropolis aufsteigen, die einen Festzug<br />

nach der damaligen Wirklichkeit im Marmor abbildeten. Welch<br />

ein Kontrast zwischen echter Schönheit und jämmerlichen Ka-<br />

rikaturen. Zur Verspottung des „Bürgertums“ mußte die lange<br />

Tochter von *** als „Gouvernante“ in langen, schwarzen, wohl<br />

noch von ihrer Großmutter geerbten sehr guten Kleidern mit vier<br />

Mädchen spazieren. Nur ein Bauer, der einen alten Planwagen<br />

führte, tanzte <strong>aus</strong> der Reihe und rief vernehmlich: „Ja das waren<br />

noch Zeiten!“ Und es war überzeugend, wie er das sagte.<br />

24. August<br />

Daß ich mir an der Ecke Dresdener und Mortelstraße den<br />

Festzug ansah, war alles. Wir sind danach die Mortelstraße hin-<br />

ter gegangen. Da besah ich mir mein Denkmal. Wie der Bürger-<br />

meister Dreßner die auf sein Wort auf den Markt gepflanzten<br />

Linden als das ansah, was von seiner Tätigkeit hier bliebe, so<br />

habe ich an der Mortelstraße eine Reihe von Akazien, die der<br />

damalige Amtshauptmann Dr. Drechsel auf meine Veranlassung<br />

pflanzen ließ. Dann gingen wir die Mortel-Rodelbahn hinauf<br />

nach Schönberg. Dort sind landschaftlich schöne Bilder zu se-<br />

hen. – Von der „Verkehrsdichte“ auf dem Markte bei der Abfahrt<br />

der Autobusse nach Dresden kann man sich kaum eine Vorstel-<br />

lung machen. Seltsam, wie der Rummel die Leute anzieht.<br />

16 Johannes W. E. Büttner (1916–2000), Arzt und Heimatforscher. Seit 1996 Ehrenbür-<br />

ger der Stadt <strong>Waldheim</strong>.<br />

138 139


1964 Gesinnungswächter<br />

25. August<br />

Die Unkosten des Heimatfestes sind auf 62 000 M ver-<br />

anschlagt worden. Der Festzug allein kostet 10 000 M, eine<br />

Abendveranstaltung der Leipziger Konzert- u. Gastspieldirek-<br />

tion 6000 M.<br />

30. August<br />

Gestern abend prasselte ein teures Feuerwerk in die Luft.<br />

Ich hab kein Verständnis dafür, t<strong>aus</strong>ende von Mark so in 20 Mi-<br />

nuten zu verpuffen. Sollten sie dafür Bäume und Blumen pflan-<br />

zen – würden sie ihre schon mit 20 Jahren vergrauten Kohl-<br />

köpfe schütteln und nicht begreifen, daß ein Blumenfeuerwerk<br />

sehr viel dauerhafter ist, wie die Weimarer Anlagen beweisen.<br />

Nun werden hoffentlich die Fahnenlappen verschwinden und<br />

der „Schmuck“ der Papierguirlanden. Alles Talmi.<br />

1. September<br />

Kaum ist hier der Festrummel vorbei, fährt eine Meinungs-<br />

kanone (= Lautsprecherwagen) der „bewaffneten Organe“<br />

durch die Straßen und ruft zu einem „Sportfeste“ auf. Wie hieß<br />

es von Goering: „De Fahnen hoch leiern – Feste feiern – de But-<br />

ter verdeiern.“<br />

25. September<br />

Wissen möchte ich, ob die drei Schulleiter [einer Schule]<br />

auch jeder ein eigenes Geschäftszimmer haben. Wohl möglich.<br />

Und dann klagen sie über Raummangel! Dabei sind insgesamt<br />

400–500 Kinder weniger als damals zu der Umsiedlerzeit, wo ich<br />

1850 Kinder in dem Bau zu versorgen hatte, Kohlen- und Schuh-<br />

beschaffung, Raumnot, Läuse, Statistiken, Kommandanten das<br />

Leben erschwerten, die Klassen viel zu stark besetzt waren.<br />

5. Oktober<br />

Frl. Lehzen: red ihr <strong>aus</strong>, irgend etwas zu schicken. Denn<br />

sich ein Buch zu bestellen, ist sinnlos, weil ich auf keinen Fall<br />

den Dieben eine Gelegenheit zum Postraube geben will. Das<br />

ist zu ärgerlich. Diese Dummköpfe, die als Gesinnungswächter<br />

sich wichtig nehmen und wie die Raben m<strong>aus</strong>en, sollen nicht<br />

noch sich an mir bereichern. Vielleicht gibt es später in der<br />

Hölle eine Bibliothek verbotener Schriften, da kann man das<br />

Versäumte nachholen.<br />

9. Oktober<br />

Die beiden Schlesierjungen ernten noch Kartoffeln in Meck-<br />

lenburg. Eine Gruppe von Schülern einer Textilmaschinenbau-<br />

schule <strong>aus</strong> dem Vogtlande war übel untergebracht, auf 100<br />

Leute zwei Waschbecken, Essen miserabel. Worauf der Direk-<br />

tor der Schule erklärt hat, er würde seine Leute zurückrufen,<br />

wenn das nicht augenblicklich geändert sei. Das hat gewirkt.<br />

Freilich in der Zeitung liest man so etwas nicht. Da ist alles vor-<br />

züglich, erfüllt und übererfüllt: der Zug von morgen früh fuhr<br />

gestern bereits ab.<br />

13. Oktober<br />

Die beiden Bücher wurden über Nacht gepreßt und sind<br />

nun fertig gebunden. Sie machen einen guten Eindruck, bei<br />

mir wenigstens. Das eine sind die Steinlisten für die Samm-<br />

lung in Großbauchlitz, das andre eine Ausgabe der <strong>Briefe</strong> von<br />

Anna Amalia und Karl August an Merck. Da war der Einband<br />

nicht schön, ich hatte das Buch vor langen Jahren mal im An-<br />

tiquariat gekauft. Der Rücken sollte Pergament vorgaukeln, es<br />

war aber ein mit irgendwelcher Kunsthaut bezogener Karton,<br />

der Einband nicht mehr ganz fest. Dem ist jetzt abgeholfen.<br />

Ein neuer Rücken mit dem alten Schild, ein passender Bezug,<br />

neues Vorsatzblatt <strong>aus</strong> einem alten Papier, dem des Buches<br />

140 141


1964 Moritzburger Karpfen<br />

entsprechend. Ich hüte nämlich noch eine kleine Menge älte-<br />

ren Papieres für solche Zwecke. Auf diese Idee kam ich schon<br />

vor Jahren. Und jetzt las ich in dem amerikanischen Buche über<br />

Buchpflege 17 , daß man das in den großen Bibliotheken – British<br />

Museum und amerikanische Bibliotheken – auch so macht. Es<br />

werden also die gleichen Erfindungen an verschiedenen Stellen<br />

unabhängig von einander gemacht.<br />

17. Oktober<br />

Daß keine Ostdeutschen in Mallorca anzutreffen sind, kann<br />

nicht auf die höhere moralische Qualität dieser Leute zurück-<br />

geführt werden. Ich wäre z.B. so verworfen, morgen dorthin zu<br />

reisen, wenn dazu die Möglichkeit bestünde. Die „Bescheiden-<br />

heit“ der Ostdeutschen – womit man wohl die Gewöhnung an<br />

Ärmlichkeit und Gehorsam etwas aufschmückend bezeichnet –<br />

ist doch ein Zwangsergebnis des finanziellen und politischen<br />

Druckes. Ganz abgesehen davon, daß man die 7500 westdeut-<br />

schen Touristen nicht als die Vertreter eines Volkes von 50 Mil-<br />

lionen ansehen darf. (Die 7500 sind nämlich ein und ein halber<br />

von 1000, also 0,15 %.) Vor 50–60 Jahren hatte man in frem-<br />

den Ländern von „den Deutschen“ durch<strong>aus</strong> nicht den besten<br />

Eindruck, weil damals ein größter Teil dieser Besucher von Pa-<br />

ris, Rom, Riviera, Venedig <strong>aus</strong> den Kreisen des viel Geld be-<br />

sitzenden Pöbels kam und sich dem entsprechend aufführte.<br />

Wer nach diesen Mustern die ganze Nation beurteilte, irrte sich<br />

gründlich. Mir sind noch Beispiele solcher Deutscher im Aus-<br />

lande im Gedächtnis. – Und den „bescheidenen Ostdeutschen“<br />

kann man beim Einsteigen in eine Elektrische, in einen Bus,<br />

an einer Theatergarderobe, in einer Lebensmittelschlange auch<br />

besser kennenlernen als wenn man – vielleicht als Mitglied ei-<br />

ner Delegation – herumgereicht wird.<br />

17 Harry Miller Lydenberg / John Archer, Über die Pflege und das Ausbessern von Bü-<br />

chern, Hamburg 1953.<br />

20. Oktober<br />

Ich möchte mal Antiquariate in Frankfurt, Nürnberg, München,<br />

Zürich, Mailand, Paris und London durchstöbern. Wie glücklich<br />

müssen die Leute sein, die ohne solche Wünsche leben!<br />

24. Oktober<br />

Meine Wachsamkeit auf Karpfen blieb die ganze Woche un-<br />

belohnt. In den Teichen von Moritzburg sollen viele gefangen<br />

worden sein. Aber ich glaube nicht, daß ich Großmutti zu einer<br />

Fahrt nach Moritzburg bewegen kann, obwohl sich das in einem<br />

Tage machen läßt: Bus nach Dresden, von da Bus nach Moritz-<br />

burg, wo man zeitig genug zum Essen ankommt. Dann Bummel<br />

durch den Wald, zurück nach Dresden und mit dem Abendbus<br />

wieder hierher. Nur weiß man nicht, ob Moritzburger Karpfen in<br />

Moritzburg zu haben sind, da die Waren doch oft auf den ver-<br />

schlungenen Handelswegen sonstwohin gebracht werden. Oder<br />

das Gasth<strong>aus</strong> hat gerade Ruhetag oder Betriebsferien oder wird<br />

renoviert, oder die Bestecks sind geklaut worden, oder eine<br />

Kontrollkommission macht Inventur. Jetzt weiß ich, warum auf<br />

der Olympiade das „Hindernislaufen“ geübt wird: das ist die al-<br />

lernötigste Kunst, da das Leben übervoll von Hindernissen ist!<br />

– Ich sag ja schon kein Wort mehr dazu!<br />

27. Oktober<br />

Heute kam das bestellte Buch von Hans Kayser, „Lehr-<br />

buch der Harmonik“, endlich an. Erschienen im Occident Ver-<br />

lag Zürich 1950, auf feinstes Papier gedruckt, mit echtem Per-<br />

gamentrücken, 38 cm hoch, 27 cm breit, 5 cm stark, 380 Seiten.<br />

Preis 162,80 Schweizer Franken. Es darf eigentlich nur im Bi-<br />

bliotheksraume gelesen werden, aber das Büchermädchen hier<br />

hat offenbar den Zettel gar nicht gesehen, auf dem das ver-<br />

merkt ist.<br />

142 143


1964 Die Zahl Sieben<br />

29. Oktober<br />

Die „Harmonik“ des Hans Kayser ist ein recht eigenartiges<br />

Buch, das sich in einer Gegenstellung zu dem was man „zu-<br />

künftige Wissenschaft“ nennt, befindet. In manchen Sätzen er-<br />

innert es an die Anthroposophie des Rudolf Steiner, ohne etwa<br />

ihn zu zitieren. Es bleibt jedoch eine eigene Sache, poetische<br />

Ahnungen begründeten Erkenntnissen gleichzusetzen, obwohl<br />

man wiederum nicht leugnen kann, daß vieles scheinbar gut<br />

begründete Wissen eines Tages von einem besser begründeten<br />

abgelöst wird – und alles relativ bleibt, alles „Glasperlenspiel“,<br />

das dient, die Geister zu beschäftigen und zu schärfen – bis sie<br />

wieder in Dumpfheit versinken. Hier wäre das Buch kaum ge-<br />

druckt worden und daß es auf meine Veranlassung in die Bibli-<br />

othek kam, ist auch zu wundern.<br />

Ob etwa Platos „Staat“ eine große Ironie ist? Und Jahrtau-<br />

sende nahmen die Sätze ernst!<br />

30. Oktober<br />

Die „Septem artes liberales“ sind die sieben freien Künste,<br />

die sieben „Säulen der Weisheit“, die sich in das Trivium (da-<br />

her Trivialschulen, die dort standen, wo drei Wege zusammen-<br />

kamen) und Quadrivium gliederten. Zum Trivium gehörten drei<br />

sprachliche Fächer: 1. Grammatik, 2. Rhetorik, 3. Dialektik (=<br />

Logik), zum Quadrivium 4. Arithmetik, 5. Geometrie, 6. Astro-<br />

nomie, 7. Theorie der Musik (alle vier mathematische Fächer).<br />

Die „Heiligkeit“ der Sieben kam von den sieben Planeten (weil<br />

man mangels Fernrohr nur sieben kannte), wonach die sieben<br />

Wochentage ihnen geweiht, die sieben Weisen anerkannt, sie-<br />

ben Weltwunder, sieben Seligkeiten, sieben Todsünden, sieben<br />

Teufel (die böse Sieben), der siebenarmige Leuchter, sieben<br />

Geburtsorte Homers, die Sieben gegen Theben, sieben Hügel<br />

Roms, sieben Könige Roms, und vor vierzig Jahren erst aufge-<br />

stellt, „die sieben Jahreszeiten“ – von Karl Foerster im „Stein-<br />

garten der sieben Jahreszeiten“. Man glaubte, auch im Ablauf<br />

des Lebens einen Siebenjahresrhythmus zu finden: 7 J. Zahn-<br />

wechsel, 14 J. Konfirmation, 21 J. „Mündigwerden“ und so wei-<br />

ter. Die sieben Töne der Tonleiter, die sieben Regenbogenfar-<br />

ben gehören auch hierher (obwohl es viel mehr sind, man<br />

brauchte der Tonleiter nur mehr Sprossen einzusetzen, die<br />

zweifellos da sind und nur wenn man sie anstreicht, für „un-<br />

sauber“ erklärt werden. Der Wille zündet auch hier die Laterne<br />

des Verstandes an 18 ). Adam hatte sieben Söhne, Niobe eben-<br />

falls und noch sieben Töchter dazu (ist die aber fleißig gewe-<br />

sen!) Nun nimm Deine sieben Sachen zusammen, flechte Deine<br />

sieben Haare, sei nicht so siebengescheit, bringe zum heil’gen<br />

O’md siemerla [Abend, siebenerlei] Gericht auf den Tisch, den<br />

die sieben Zwerge heranrücken. Von denen laß Dir auch „Sie-<br />

bengezeit“ (Lotum urbanum) = Steinklee bringen: etliche Wei-<br />

ber pflegen diß Kraut wider die Gespenster und Gifft über die<br />

Tische und Betten zu hängen (tu das ja!), auch pfleget man das<br />

truckene Kraut zu den Kleidern zu legen, die Schwaben (nicht<br />

die sieben Schwaben) dadurch zu vertreiben [gemeint sind die<br />

Schaben], die desselben Geruch nicht wol leiden können. Nun<br />

will ich mich nur mit den Siebenmeilenstiefeln davon machen,<br />

am liebsten bis in das Land der Siebenschläfer. – Langt es für<br />

144 145<br />

septem?<br />

1. November<br />

Das „Lehrbuch der Harmonik“ ist recht interessant. Man<br />

möchte sich ein besonderes Monochord dazu bauen, wozu die<br />

Zeichnungen gegeben sind. Es erinnert in mancher Beziehung<br />

an Goethes Farbenlehre. Der Mann beschränkt sich nicht auf<br />

rein musikalische Dinge, sondern bringt eine Unmenge Bezie-<br />

18 Die Bemerkung bezieht sich auf <strong>Arthur</strong> Schopenhauer, den <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> sehr<br />

schätzte.


1964 Hans Kaysers „Lehrbuch der Harmonik“<br />

hungen zu allen möglichen Fragen aufs Tapet, ob das das Buch<br />

„Harmonice mundi“ des Kepler ist (nicht mit Mundharmonika<br />

zu übersetzen) oder die Baugesetze eines Kristalls – er schweift<br />

durch alle Gebiete.<br />

Ein Holzkasten als Resonanzraum, der oben mit einer (da-<br />

her Mono-chord) Saite bespannt ist. Manchmal sind auch zu<br />

Vergleichen mehrere Saiten drauf, von denen eine über eine<br />

Rolle geführt mit einem Gewichte gestrafft werden kann. Da<br />

wird klar, daß mit größerer Beschwerung – strafferer Spannung<br />

– der Ton höher wird. Gewöhnlich ist die Saite genau 120 cm<br />

lang, der Deckel trägt die Centimetereinteilung. Ein bewegli-<br />

cher Steg kann an jeder beliebigen Stelle zur Teilung der Saite<br />

eingeschoben werden. Du erlebst das Wunder, daß bei Halbie-<br />

rung der Saite genau die Oktave erklingt (60 cm); bei 72 cm<br />

die Sexte, 80 cm Quinte, 90 cm Quarte, 96 cm Terz. An diesem<br />

Gerät haben sich bereits die Pythagoreer, vielleicht schon die<br />

Ägypter den Kopf zerbrochen. Das Phänomen hat zwei Seiten:<br />

einmal, das Erlebnis des harmonischen Intervalls – anderseits<br />

die Erkenntnis der Maßbeziehungen. So wichtig diese letztere<br />

ist, hält Kayser doch die Vernachlässigung des Musikerlebnis-<br />

ses für ein Grundübel der Zeit. Er sucht – und findet – „Bezie-<br />

hungen“ des Ton- und Maßverhältnisses zum Pflanzenaufbau,<br />

zum Kristall, zur Proportion der menschlichen Gestalt, zur Ar-<br />

chitektur, zu allem möglichen. – Ich kann mich an der herrli-<br />

chen Akustik der Naschmarktbörse [in Leipzig] freuen (das ist<br />

das „Erlebnis“) – und ich kann sie genau <strong>aus</strong>messen und die<br />

Raumproportionen feststellen (das ist die „Erkenntnis“).<br />

7. November<br />

Heute blüht die erste Knospe an dem seit einem Jahre <strong>aus</strong><br />

einem Blatte erwachsenen Usambara-Veilchen. Ihm zu Ehren<br />

schlage ich vor, für den Winter in das Wugiri-Sanatorium zu fah-<br />

ren, das im Waldgebirge des Usambaralandes liegt. Wo das ist?<br />

Im ehemaligen Deutsch-Ostafrika, später englisch Tanganyika;<br />

was es heute ist, werden wir dabei sehen. Dort wachsen diese<br />

Pflänzchen wie hier die Buschwindröschen und zudem noch ei-<br />

niges andere. Auf den bis 2000 m hohen Bergen wird die Hitze<br />

nicht lähmend. Da könnte man ganze Fluren dieser dunkel-<br />

blauen Blüten photographieren. Überhaupt wäre eine botani-<br />

sche Weltreise eine schöne Sache. Dar<strong>aus</strong> ließe sich ein sehr<br />

nettes Bilderbuch machen: „Weltgarten am Fenster“, in dem<br />

alle hier als Zimmerpflanzen gepflegten Gewächse in ihren heu-<br />

tigen Gärtnerzüchtungen und an ihrem Heimatorte abgebildet<br />

würden; gute Karten gehörten auch dazu und ein ansprechen-<br />

der Text – und schon wäre ein nettes Geschenkbuch fertig. Frei-<br />

lich, da es sehr gut würde, könnte es hier niemand haben, weil<br />

es dann „in den Export“ gelenkt würde. – Also lassen wir das.<br />

Der Berg von dem, was wir nicht genossen haben, ist sowieso<br />

viel größer als das Genossene.<br />

12. November<br />

Dieses Buch von Hans Kayser, „Lehrbuch der Harmonik“ ist<br />

recht interessant. Meine Vermutung, die ich nur als Analogie<br />

dachte, daß die rationalen Verhältnisse der Achsenabschnitte<br />

eines Kristalls musikalisch gedeutet werden könnten, wird hier<br />

als Tatsache behauptet. Von diesem Gedanken <strong>aus</strong> sind wir<br />

doch überhaupt erst auf das Buch gekommen, als ich Stup-<br />

sen das sagte und sie sich an das Buch erinnerte. Freilich zu-<br />

weilen irrt sich der Verfasser. Er sagt z.B. S. 267: „Die akkor-<br />

dischen Normen eines Kristalls sind ein für allemal fixiert, sie<br />

können nicht mehr frei ,modulieren‘, sie sind vorhanden aber<br />

146 147


1964 Der Salon der Großmutter<br />

eingezwängt in das Infinite des Systems der Naturgesetze.“<br />

Das trifft nicht immer zu. Ich habe eine kleine Gruppe Quarz-<br />

kristalle, da stecken an der Seite ein paar ganz kleine Pyrite.<br />

Diese zeigen sich oft als Würfel, während der Quarz sechsseitig<br />

sich <strong>aus</strong>bildet. Hier haben aber einige Quarzkristalle die Wür-<br />

felform des Pyrits angenommen, sie erlauben sich einen Witz<br />

und treten maskiert auf, d.h. sie bieten, wie ein Witz, das Nicht-<br />

erwartete. An einem andern Stück ahmt Quarz die Kristallform<br />

des Schwerspates nach. Das gibt es also doch. Hier haben wir<br />

das „Modulieren“.<br />

21. November<br />

Von der „Gewerkschaft Unterricht u. Erziehung“ werden die<br />

„Lehrerveteranen“ für Mittwoch, d. 9. Dez. von 13–16 Uhr zu ei-<br />

nem Farb-Lichtbildervortrag eingeladen, im Klub der Intelligenz<br />

in Döbeln. Es ist leider nicht gesagt, wo sich dieser Klub in dem<br />

lang <strong>aus</strong>gedehnten Döbeln finden wird. Na, das wird sich noch<br />

feststellen lassen. Vielleicht geh ich mal hin, wenn es auch nur<br />

dazu dient, dem „Gewerkschaftssekretär“ einen Schein seiner<br />

Daseinsberechtigung zu geben. Wie sich doch dieses Wesen<br />

aufgebläht hat: Vor 1933 hatten wir für den gesamten Sächsi-<br />

schen Lehrerverein zwei von dem Verein angestellte Kollegen<br />

in Dresden, und dabei hatte der Sächsische Lehrerverein noch<br />

viele Funktionen, die er heute nicht mehr hat: eine wöchentlich<br />

erscheinende Fachzeitung, eine Kranken- und Begräbniskasse,<br />

eine Feuerversicherung, eine Haftpflichtversicherung und noch<br />

so und so viele Fach<strong>aus</strong>schüsse. Das ist doch heute alles nicht<br />

mehr da. Aber die „Sekretäre“ haben sich vervielfacht.<br />

9. Dezember<br />

Heute fuhr ich 9 40 mit Bahn nach Döbeln, besorgte einiges,<br />

speiste im Ratskeller – leider ohne Dich – begab mich dann in<br />

den „Club der Intelligenz“, sah und hörte einen Lichtbildervor-<br />

trag über Leipzig (mit mancherlei Unsinn), wurde mit 2 Tassen<br />

Kaffee, 1 St. Stollen, 1 St. Torte, 3 Zigarren, 1 Glas Wein abge-<br />

füttert. Ich traf da Frau Nowakowski 19 , von der ich Dich recht<br />

herzlich grüßen soll. Auch den alten Schulleiter [Rudolf] Mül-<br />

ler – der von meinem Dresdener Kasten 20 ist, eine Klasse un-<br />

ter mir – fand ich vor. Die Frau Nowakowski ist auch „in Rente“<br />

gegangen, weil sie sich der neusten Schulreform nicht gewach-<br />

sen fühlte. Da ist eine Woche um die andre „Unterricht“, jede<br />

zweite Woche ist „Produktion“, wobei das wieder vergessen<br />

wird, was in der Unterrichtswoche erarbeitet wurde. Das findet<br />

in dieser Form nur in Sachsen statt, als einem Experimentierge-<br />

biet für Schulreform. In der übrigen DDR geht der Schulbetrieb<br />

fortlaufend wie früher. Wahrscheinlich traut man den „hellen<br />

Sachsen“ zu, daß sie solche Versuche vertragen.<br />

23. Dezember<br />

Nun muß ich meine Trödelbude in Ordnung bringen, das<br />

wird höchste Zeit. Staub ist allgegenwärtig wie der Heilige<br />

Geist, und wo gearbeitet wird, kann es nicht wie „Salon“ <strong>aus</strong>-<br />

sehen, so etwas gab es früher. Meine Großmutter 21 hatte noch<br />

einen Salon, mit großem Prunkspiegel vom Fußboden bis zur<br />

Decke des sehr hohen Zimmers, mit Möbeln von rotem Samt<br />

und vielfach ornamental geschnitztem pechschwarzen Holze,<br />

Ölbildern und Photos <strong>aus</strong> den Anfangszeiten der Photographie<br />

19 Die Englischlehrerin Elisabeth Nowakowski war in den 50er Jahren <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s<br />

Kollegin an der Lessing-Oberschule in Döbeln.<br />

20 Gemeint ist das Lehrerseminar in Dresden-Friedrichstadt.<br />

21 <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s Großmutter, in der Familie „die Renkern“ genannt – sie hatte ei-<br />

nen Schuhmacher namens Renker geheiratet – war nach den Erzählungen der<br />

Schwester <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s zeitweilig Gesellschaftsdame eines russischen Barons<br />

und lebte wechselweise in Dresden und St. Petersburg. Deren Mutter, die Urgroß-<br />

mutter <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s, war die ehemalige Hofdame am sächsischen Hof Henriette<br />

von Pflugk, die einen Bürgerlichen, den Kapellmeister Winkler, geheiratet hatte, s.<br />

auch <strong>Briefe</strong> vom 13. Juli 1961, 18. Dezember 1968 und 4. Januar 1969.<br />

148 149


1964<br />

– nichts blieb; alles wurde samt meiner Schwester in der Dres-<br />

dener Bombennacht vernichtet. Hätte man … aber sie war nicht<br />

zu bewegen, Dresden vorher zu verlassen, weil alle Dresdener<br />

glaubten, sie wären vom Schicksal andrer Städte verschont.<br />

Das ist auch in den ersten Kriegsjahren auffällig gewesen. Aber<br />

zuletzt kam es gründlicher als an jedem andern Orte. Das war<br />

„Gottes unerforschlicher Ratschluß“, doch ein recht würdiger<br />

Gedanke.<br />

150 151<br />

1965<br />

7305 <strong>Waldheim</strong>/Sachs., den 13. Januar<br />

Der von Wiechert 1 geschilderte SS-Mann mag häufiger sein<br />

als man ahnt. Da sind die Leute in die Maschinerie des Nazis-<br />

mus hineingeraten, ein Rädchen in dem Verbrecherapparat ge-<br />

worden, das über Zusammenhang und Hintergrund der Untaten<br />

gar nicht dachte, sondern zwangsläufig „Befehle“ <strong>aus</strong>führte,<br />

weil das „Ausführen“ zum Wesen des Befehls gehört. Wie Ab-<br />

raham, der seinen Sohn auf Gottes Befehl zu opfern bereit ist,<br />

oder Kalchas die Iphigenie. Wer sich da nicht am Anfang wider-<br />

setzte, geriet unfehlbar in ein schreckliches Getriebe. Ich ver-<br />

gesse nicht, wie energisch sich mein Sohn Hans 2 gegen einen<br />

Dolmetscherdienst widersetzte, lieber die Front, die Sorge für<br />

das Pferd, das er hatte, die Mühe mit Abhören und Überset-<br />

zen von Radiosendungen für die Herren Offiziere auf sich nahm<br />

als die viel bequemere, aber gefährliche Dolmetscherei, die ihn<br />

zum Gehilfen von Kriegsgerichten gemacht hätte. Daß er so-<br />

1 Ernst Wiechert, Der Totenwald, München 1945.<br />

2 Nach einem Anglistik- und Romanistikstudium in Leipzig trat Hans <strong>Pfeifer</strong> 1932 der<br />

KPD bei. Weil er einen Artikel über den Reichstagsbrand im Daily Mail übersetzt<br />

und mit seiner Widerstandsgruppe verteilt hatte, war er von 1933–1935 im Zucht-<br />

h<strong>aus</strong> <strong>Waldheim</strong> inhaftiert. Den 2. Weltkrieg machte er an der Westfront in Frank-<br />

reich und von 1941–1943 als berittener Funker an der Ostfront mit. Bis 1947 war<br />

er in amerikanischer Kriegsgefangenschaft in Frankreich, wo ihn 1946 auf seine<br />

Bitte ein alter Bekannter seines Vaters <strong>aus</strong> dem Internationalen Versöhnungs-<br />

bund, der französische Pfarrer und Pazifist Henri Roser, besuchte.


1965<br />

fort die Gefahr neben der Erleichterung sah, hat ihm gehol-<br />

fen. Denn wer da A sagte, mußte B sagen; da gab es kein Zu-<br />

rück. Wer da den sogenannten „Ehrgeiz“ hatte, „etwas zu wer-<br />

den“, der fiel in eine unlösbare Verstrickung. Da mögen noch<br />

viele herumlaufen, denen sich erst jetzt der Strick am Halse zu-<br />

sammenzuziehen droht – weshalb man es drüben so eilig hat,<br />

diese Sachen durch „Verjährung“ zu Ende zu bringen. Wenn<br />

nichts vorläge, das „verjähren“ müßte, würde die Sache nicht<br />

so heftig betrieben.<br />

23. Januar<br />

Manchmal freilich hab ich „Einfälle“ – wie ein altes H<strong>aus</strong>.<br />

So z.B.: ich besitze das einzige Exemplar des Heftes, das der<br />

„Kgl. Sächs. Major Oberreit 3 “ als Dienstanweisung für die Her-<br />

stellung seines berühmten Kartenwerkes von Sachsen verfaßt<br />

hat. Das Original – von dem mein Heft eine Abschrift ist – ging<br />

1945 in Dresden in Flammen auf. Ich könnte mir denken, daß<br />

ein Abdruck dieser sehr interessanten „Anleitung“, versehen<br />

mit einem Nachwort und einigen sauberen Nachdrucken von<br />

Teilen dieser über<strong>aus</strong> schönen Karte ein nettes und anregendes<br />

Büchlein ergeben könnte. Sollten sich ferner in der Landesbib-<br />

liothek etwa noch <strong>Briefe</strong> Oberreits finden lassen, was durch<strong>aus</strong><br />

möglich ist, da er in Dresden lebte, könnte man diese dazuge-<br />

ben und etwas „kulturell Wertvolles“ an das Licht des Tages<br />

bringen. Ich werde wohl mal in Dresden danach forschen.<br />

3 Der sächsische Generalmajor Hermann Oberreit (1777–1856), Chef der Königlichen<br />

Militärplankammer und Kommandant des Ingenieurkorps, war der Schöpfer des<br />

berühmten Topographischen Atlas von Sachsen, kurz „der Oberreit“ genannt.<br />

Sein Verdienst ist die Verwendung der geheimen militärischen topographischen<br />

Kenntnisse für zivile Karten. Seine Dienstanweisung ruft die mit den Vermes-<br />

sungsaufgaben betrauten Offiziere zu größter Genauigkeit angesichts der zu er-<br />

wartenden strengen öffentlichen Kritik auf, vgl. Sächsische Lebensbilder, Bd. 1,<br />

Dresden 1930, S. 294–299.<br />

24. Januar<br />

Dr. Töpel beklagte seine alle Tage bis zur Erschöpfung dau-<br />

ernde Arbeit. Früh ½ 8 h beginnt seine Sprechstunde und bis<br />

abends 7 h geht es dann laufend, fahrend, Treppen steigend<br />

fort. Dauernde Aufmerksamkeit ist der Verantwortung wegen<br />

gefordert. Er sei auch zu abgespannt, sich dieses Jahr zu ei-<br />

ner größeren Reise zu entschließen, nur Weimar käme in Frage.<br />

Die Zeiten, in denen der junge Dr. med. Ernst Häckel 4 in Berlin<br />

in 6 Monaten zwei Patienten zu sehen bekam, es lag ihm frei-<br />

lich auch nichts daran, überlaufen zu werden, diese Zeiten sind<br />

vorbei. – Er erzählte vom alten Professor Hertel, bei dem er in<br />

Döbeln noch im Realgymnasium Unterricht hatte und der dann<br />

Professor für Sanscrit und indische Dialekte an der Universität<br />

Leipzig wurde: Hertel wohnte in Großbauchlitz und studierte<br />

auf dem Wege zur Schule in einem von der englischen Bibel-<br />

gesellschaft gedruckten Neuen Testament mit Hilfe eines deut-<br />

schen Neuen Testaments irgendeinen indischen Dialekt. Das ist<br />

genau die Methode, eine Sprache zu lernen, die Goethe in ei-<br />

nem <strong>Briefe</strong> an Sophie von La Roche 5 für das Griechische emp-<br />

fahl, da sollte eine „Odyssee“ verwendet werden.<br />

31. Januar/1. Februar Sonntag/Montag<br />

Fränzchen [Franz Weißker], dem ich das Goethe-Zitat ser-<br />

vierte, hatte einzuwenden, daß die „Partei“, von der Goethe<br />

spricht, „alles“ sein werde und nicht nur „pars“. Ich hatte nicht<br />

Zeit ihm zu sagen, daß zur totalitären Partei auch die ver-<br />

schwiegenen Teile – als zum Ganzen gehörig – gezählt werden<br />

müssen, also p[ars] plus Emigranten, plus Buchenwald, plus<br />

Auschwitz, plus dem ähnlichen „Erziehungslagern“. Und wenn<br />

pars auch sehr viele Nullen hat – in jedem Sinne – wiegen die<br />

4 Ernst Haeckel (1834–1919) spielte in der Familie <strong>Pfeifer</strong> eine große Rolle, die Eltern<br />

von <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> gehörten Haeckels „Monistenbund“ an.<br />

5 Brief vom 20. November 1774.<br />

Der Oberreit<br />

152 153


1965<br />

andern doch recht schwer. Es ist also Essig mit dem Totalitä-<br />

ren. In der griechischen Demokratie ist das bereits vorgespielt,<br />

Aristides mußte ins Exil (und viele andre), Sokrates wurde ver-<br />

giftet. Es gab die berühmten Asebieprocesse, Anklage wegen<br />

Beleidigung der Staatgötter. Das war gefährlicher als Mord und<br />

Diebstahl und Unterschlagung. Der „Reinigungsprozeß“ mit der<br />

Verbannung half stets nur für kurze Zeit, weil eben – siehe die<br />

berühmte Dialektik –, der „Widerspruch“ schon mit dem „Spru-<br />

che“ neu geboren wird. Mancher scheint seinen eigenen Ge-<br />

dankenhandwerkskasten noch nicht richtig zu verstehen.<br />

11. Februar<br />

In Kriebethal ist gerade an der Kreuzung von Straße und<br />

Eisenbahn eine Maschine mit Wagen <strong>aus</strong> der vereisten Eisen-<br />

bahnschiene gesprungen und sperrt die Straße; es wurden He-<br />

bemaschinen <strong>aus</strong> Chemnitz erwartet. Ist doch alles möglich:<br />

Mit vereinten Kräften werfen Billionen von zierlichen Schnee-<br />

kristallen so einen Koloss auf die Seite und wehren ihm die<br />

Weiterfahrt. Wor<strong>aus</strong> wir lernen könnten, Tyrannen zu stürzen.<br />

11. Februar<br />

In den „Geschichten von 1001 Nacht“ sieht man in eine<br />

ständige Bedrohung des Lebens: Räuber lauern, Mörder, Ver-<br />

gifter, Untiere, Drachen, Löwen, Schlangen, Krankheiten, Lau-<br />

nen der Despoten, die den Scharfrichter Masrûr, den „Träger<br />

des Schwertes“, stets tatbereit mit sich führen, Kriege brechen<br />

los <strong>aus</strong> heitrem Himmel – und man begrüßt einander mit „Sa-<br />

lem“, „Friede sei mit euch“, „er bot den Friedensgruß“: das<br />

heißt also: das Gegenteil des Wirklichen wird als Begrüßungs-<br />

wunsch herbeigerufen. Das ist etwa wie „Freundschaft“ in ei-<br />

ner atomisierten Gesellschaft, in der keiner dem andern traut,<br />

weil es von Spitzeln, Spionen, Mißtrauenden nur so wimmelt.<br />

Der größte Unheilstifter der Geschichte ließ sich mit „Heil“ be-<br />

grüßen. Freilich, es war höchst nötig, dies zu wünschen – aber<br />

ganz ohne Wirkung blieb der Gruß.<br />

20. Februar<br />

Von dem Hamburger Schulkameraden bekam ich ¼ Kaf-<br />

fee; das ist ganz gut vermindert die Ausgaben und ist von bes-<br />

serer Beschaffenheit. Kaffee ist sozusagen eine Währungsein-<br />

heit, wie früher der Priem im Zuchth<strong>aus</strong>e, bei dem es sogar<br />

steigenden und fallenden Kurs gab; denn gegen Ende des Mo-<br />

nats stand sein Wert am höchsten bei der innerbetrieblichen<br />

Kaupelei. Der Bedarf wuchs, das Angebot sank – und dadurch<br />

stieg der Preis, der in Speck gezahlt wurde. Wie in der soge-<br />

nannten „freien Wirtschaft“.<br />

24. Februar<br />

Wer über den naiven Glauben der alten Araber lächelt, daß<br />

Zauberer einen in einen Vogel oder in einen Maulesel verwan-<br />

delten, der bedenke, daß das heute täglich geschieht, wo die<br />

einen in Lastkamele, andre in Spürhunde, wieder welche in<br />

stacheltragende Wespen, jene in sinnlos durcheinander wim-<br />

melnde Ameisen verzaubert werden.<br />

154 155<br />

9. März<br />

Daß Westbesucher alles ohne Anstehen bekommen – schön<br />

– aber daß sie vielerlei zu spottbilligen Preisen erhalten, wie<br />

ich von einem Messebesucher [der Leipziger Messe] hörte, das<br />

ist sehr übel. Wahrscheinlich sind es eben „Gastgeschenke“,<br />

die zum Wiederkommen locken sollen. […]<br />

Geschichten <strong>aus</strong> 1001 Nacht<br />

Es wäre eine recht nötige Aufgabe, eine „Geschichte der<br />

Zensur“ zu schreiben, die bis in die gegenwärtige Praxis<br />

reichte. Dabei dürfte sich her<strong>aus</strong>stellen, daß selbst der päpst-<br />

liche „Index librorum prohibitorum“ [Verzeichnis der verbote-<br />

nen Bücher] toleranter war als die derzeitigen Zensoren. Wenn


1965 Kinder kehren die Schulzimmer<br />

in einer Druckerei, die einem römischen Nonnenkloster ge-<br />

hörte, der Boccaccio gedruckt werden konnte – bis auf eine<br />

Geschichte – in dem doch an der herrschenden Pfaffenklasse<br />

eine derbe Kritik geübt wird, wenn das „Lob der Torheit“ des<br />

Erasmus in vielen Auflagen sich erhalten konnte, dann ist das<br />

doch Beweis genug für eine recht duldsame Kritik. Es sollte<br />

mal heute jemand derartige Zeituntersuchungen anstellen! Das<br />

mindeste wäre, daß er überhaupt keinen Drucker fände, kein<br />

Papier bekäme. Die Feen- und Zaubergeschichten der Romantik<br />

als Flucht <strong>aus</strong> der unerträglichen Umwelt anzusehen, halte ich<br />

für primitiv. Solche Fluchtversuche sind heute nicht mal mög-<br />

lich – und dar<strong>aus</strong> schließt man, daß alles Gegenwärtige sehr in<br />

Ordnung sei. Auf der weiten Flur der papierenen Welt ist kein<br />

verdächtiges Rascheln zu hören. Man frage, warum nicht!<br />

30. März<br />

Daß Du bereits „Briefmarkenexperte“ bist – das ist sehr zu<br />

bestaunen. Was Du nicht alles noch lernst. Ich werde Deine An-<br />

weisung beachten. Gestern durchwühlte so ein Briefmarken-<br />

forscher den in der Post stehenden großen Papierkorb, wahr-<br />

scheinlich in der Hoffnung, dort etwa weggeworfene Marken zu<br />

finden. Was bloß die Leute zur Goethezeit gemacht haben mö-<br />

gen, als es noch keine Briefmarken gab, kein Kino, kein Radio,<br />

kein Fernsehen, kein Auto, keine Eisenbahn, keine H<strong>aus</strong>halts-<br />

maschinerie. Kein Wunder, daß sie nicht mehr leben, sie sind<br />

vor Langerweile gestorben. Fußball und Sportolympiaden hat-<br />

ten sie auch nicht – ja, was hatten sie denn überhaupt?<br />

Ich las wieder mal etwas von Wilhelm Busch. Seltsam – er<br />

schreibt mal: „Wie langweilig ist der Briefwechsel mit Frau von<br />

Stein, wo es sich immer ums Essen und Trinken handelt.“ 6 Daß<br />

die frühen Erdbeeren und Spargel, die Goethe <strong>aus</strong> seinem Gar-<br />

6 Aus Gesprächen. In: Sämtliche Werke. Bd. 7, München 1943, S. 439.<br />

ten der Frau von Stein schickt, nur Masken seiner Liebe sind –<br />

das ist dem Busch nicht aufgegangen.<br />

22./23. April<br />

Kein Mensch kann sagen, ob überhaupt und welchen Sinn<br />

diese sogenannten „Gewerkschaftswahlen“ haben. Man steckt<br />

vier Zettel mit Namen unbekannter Leute in einen Pappkarton.<br />

Welchen Zweck der FDGB habe? „Die ideologische Ausrichtung<br />

seiner Mitglieder.“ Die Beiträge sind offenbar das Honorar für<br />

eine unerwünschte Gehirnmassage. – Ich guckte mal in das<br />

Zimmer 27, wo ich vor 57 Jahren hier anfing: da wurden Jun-<br />

gen mit Gewehrschießen gedrillt. Und als ich *** traf, sagte der:<br />

„eine halbe Stunde vorher hätten Sie die Kinder beim Kehren<br />

des Zimmers antreffen können; es gibt keine Kehrfrauen.“ Seit<br />

dem Gesetz von 1873 war es verboten, <strong>aus</strong> gesundheitlichen<br />

Gründen, Kinder die Schulzimmer kehren zu lassen. Daß man<br />

bei dem Hochstand der Technik mindestens für jedes Stock-<br />

werk einen starken Hotelstaubsauger einstellen sollte, kommt<br />

diesen „Jugenderziehern“ nicht in den Sinn. Was da als „Wand-<br />

schmuck“ herumhängt – armselig. Ob das Kinder interessieren<br />

kann – ich vermag mir das nicht vorzustellen.<br />

Die Kohlen liegen vor der Tür, hoffentlich kommen nun<br />

auch die zugesagten Kohlenträger von der Irrenanstalt, die ich<br />

als rettende Engel begrüßen werde. Ich schreibe an ***, er soll<br />

einen Vorschlag in seiner Dienststelle vorbringen, den ich vor<br />

39 Jahren machte, der aber damals als verstiegen und großspu-<br />

rig angesehen wurde: 1) ein Kollege und eine H<strong>aus</strong>frau besich-<br />

tigen in einem großen modernen Hotel die dort geübten Me-<br />

thoden der Zimmerreinigung, 2) für jedes Stockwerk der Schule<br />

wird mindestens ein starker großer Staubsauger beschafft, der<br />

in dem Stockwerk bleibt und nur von Zimmer zu Zimmer geht.<br />

Vielleicht bestätigt dann in absehbarer Zeit der Röntgenappa-<br />

rat, daß das richtig ist.<br />

156 157


1965<br />

24. April<br />

Den „Demian“ von Hesse bringe ich Dir mit. Vielleicht findet<br />

sich „Siddhartha“ wieder. Daß ich es verliehen habe, ist<br />

<strong>aus</strong>geschlossen, da es hier Bücher gibt, die außer Dir niemand<br />

von mir bekommt. Dazu zählen alle Hessebände und gewisse<br />

Rara der Goethezeit wie die <strong>Briefe</strong> von Merck, der Briefwechsel<br />

mit Jacobi, Goethes mit Christiane, Kestners <strong>Briefe</strong> <strong>aus</strong> der<br />

Wertherzeit, <strong>Briefe</strong> von Goethes Mutter, Gräfin Stolberg, Lavater,<br />

Schultz, Meyer, Zelter, Riemer, Sophie von La Roche, Graf<br />

Sternberg, Döbereiner, Stein, Carl August, Ottilie, Voigt, Runge,<br />

Trebra. Du wirst kaum so viel Stühle haben, diese Leute zu einem<br />

Tee zu versammeln.<br />

19. Juni<br />

Eben erhielt ich ein Päckel von Frau Schmidt, schade, daß<br />

es nicht gestern kam, Dir die Tasche noch mit vier Apfelsinen<br />

und vier Zitronen zu füllen. Den Tabak hättest Du nicht gekriegt.<br />

Und die Nescafé trinkst Du, wenn Du mal hier bist.<br />

20. Juni<br />

Chesterfields <strong>Briefe</strong> an seinen Sohn las ich gestern zu Ende.<br />

Ich möchte wissen, was <strong>aus</strong> den Nachkommen dieses Sohnes<br />

wurde, der vielleicht die teuerste Erziehung genossen hat, die<br />

je an einen Knaben gewendet wurde. Herbart 7 hielt die Erziehung<br />

des „Emile“ bei Rousseau für zu teuer, da das Leben eines<br />

Hofmeisters an einen Knaben verschwendet werde, von<br />

dem man nicht wisse, ob sich dieser Aufwand lohnen werde.<br />

Chesterfield ließ den Sohn bedeutend mehr verbrauchen. Dieser<br />

war sozusagen „das Werk“ seines Lebens. Dieses 18. Jahrhundert<br />

ist ein recht erziehungsfreudiges Zeitalter gewesen,<br />

von den Versuchen Pestalozzis an den Kindern der Armen bis<br />

zu dem großen Aufwande, den Chesterfield trieb. Und Salomo<br />

7 Johann Friedrich Herbart (1776–1841), Philosoph und Pädagoge.<br />

fragt: Welches Resultat hat der Mensch von all seiner Mühe?<br />

„Alles ist eitel und Streben nach Wind.“ [Prediger]<br />

158 159<br />

28. Juni<br />

Gestern war ich bei den Eltern. Großmutti klagte über die<br />

Gewitterhitze am Sonnabend; gestern war es besser. Erdbee-<br />

ren: wir wissen noch nicht genau wann sie werden zu haben<br />

sein. Vielleicht ließe es sich einrichten, daß ich sie Dir mit Bus<br />

bis zum Hauptbahnhof brächte, dort abends ½ 7 h ankäme<br />

und 7 h wieder zurückführe. Das bedeutet, daß Du mit größe-<br />

rem Korbe an den Bus kämest, wir die Beeren dort umfüllten<br />

und ich den Korb gleich wieder mit zurück nähme. Die einzige<br />

Schwierigkeit ist die Benachrichtigung. Großmutti meinte, daß<br />

sich das am nächsten Sonntage entscheide.<br />

9. Juli<br />

Entschuldige, daß ich nicht noch mit Dir in das Café ging<br />

– den Namen vergaß ich, Altersschwäche – aber die Luftwolke<br />

darin stieß mich um, und ich mußte fürchten, dort zusammen-<br />

zusinken. Auf dem Weg zum Bahnhof wurde das langsam bes-<br />

ser. Im Bus erwischte ich schnell meinen Platz und kam gut in<br />

<strong>Waldheim</strong> an, um 9 h mit 10 Minuten Verspätung wegen der<br />

geschlängelten Umleitung, die der Wagen zur Zeit wegen des<br />

Straßenbaues fahren muß.<br />

23. Juli<br />

Alles ist eitel<br />

Ich las wieder einmal das Buch des Jenaer Medizinprofes-<br />

sors Veil: „Goethe als Patient“. Es ist derselbe Veil, der 1945<br />

den Dr. Knye bei der Rettung der Särge Goethes und Schillers<br />

beraten und diesen versteckt hat, als er wegen Ungehorsams<br />

standrechtlich erschossen werden sollte. Was für ungeheure<br />

Zeiten haben wir doch durchlebt! Und ein jüdischer, von den<br />

Nazis <strong>aus</strong>gebürgerter Schriftsteller, Emil Ludwig, geleitete die


1965 Praktische Psychologie<br />

Särge als amerikanischer „Kulturoffizier“ zurück nach Weimar in<br />

die Fürstengruft, nachdem sie von Goebbels zur Verbrennung<br />

bestimmt waren. In einem Schundroman berichtet, könnte die<br />

Geschichte unglaublich erscheinen. Also ist wohl die Weltge-<br />

schichte eigentlich ein Schundroman, von einem Kollektiv –<br />

nicht von einem Genie – verfaßt.<br />

28. Juli<br />

In dem beiliegenden Überblick über Konzerte von DDR-Mu-<br />

sikanten im Auslande in den kommenden Monaten (Dresdener<br />

„Union“ vom 27. Juli 1965) werdet Ihr einige Euch bekannte<br />

Namen finden. Lest diese paar Zeilen einmal durch. Man sieht,<br />

das wird heute alles durch zentrale Organisationen geordnet.<br />

Händel, Haydn, Mozart reisten noch allein. Das 19. Jahrhundert<br />

erfand den Impresario, den einzelnen Mann, der für den ein-<br />

zelnen Künstler das Geschäftliche erledigte – und sich dabei<br />

von ihm nicht schlecht ernährte. Heute macht das die „Deut-<br />

sche Künstleragentur“, wie das hier zu lesen ist. Das sind drei<br />

Stufen einer Entwicklung, die in der Musikgeschichte betrach-<br />

tet werden sollte, die Frage zu beantworten: Wie wird dem Zu-<br />

hörer die Kunst vermittelt.<br />

Dank für die Mitteilungen! Ja, ob ich noch „Ansager“ ma-<br />

chen kann? Wahrscheinlich machst Du das besser. Aber es mag<br />

sein, wie Du es vorgesehen. Nur beklage sich niemand über<br />

veraltetes Gerede eines veralteten Mannes. Die Dauer des Vor-<br />

trages der einzelnen Stücke zu wissen ist mir erwünscht. Denn<br />

diese ist gegeben. Da man die Aufmerksamkeit der Zuhörer<br />

nicht überfordern darf, muß sich die Ansage danach richten,<br />

denn die ist abkürzbar. Den Chopin’schen Trauermarsch kann<br />

man wohl kaum prestissimo spielen. Wiederholungen einzel-<br />

ner Musiksätze wegzulassen, ist nicht gerade ein Zeichen be-<br />

sonderen Kunstverständnisses. Mozart wußte sehr wohl, wes-<br />

halb er Wiederholungszeichen setzte. Wer das nicht beachtet,<br />

zerstört die Architektur des Kunstwerkes. Das ist also keines-<br />

falls erlaubt, mögen heute manche Musikanten darüber sagen,<br />

was sie wollen.<br />

160 161<br />

29. Juli<br />

Wenn man auch sagen könnte, es wird niemand unter den<br />

alten Leuten sein, der mir eine Ungenauigkeit nachweisen kann<br />

– das ist nicht wichtig; aber daß man die Sachen genau und<br />

richtig bringe, ist schon im bloßen Selbstgespräch nötig. […] Ich<br />

will nur wenig sagen, aber Einprägsames.<br />

6. August<br />

In den „Unterhaltungen des Kanzlers v. Müller mit Goethe“<br />

steht S. 55: „Nun kam er auf eine förmliche Theorie der Un-<br />

zufriedenheit. ,Was wir in uns nähren, das wächst, dies ist ein<br />

ewiges Naturgesetz. – Es gibt ein Organ des Mißwollens, der<br />

Unzufriedenheit, wie es eines der Opposition, der Zweifelsucht<br />

gibt. Je mehr wir ihm Nahrung zuführen, es üben, je mächtiger<br />

wird es, bis es sich zuletzt <strong>aus</strong> einem Organ in ein krankhaftes<br />

Geschwüre umwandelt und verderblich um sich frißt, alle guten<br />

Säfte aufzehrend und erstickend. Dann setzt sich Reue, Vorwurf<br />

und andere Absurdität daran, wir werden ungerecht gegen an-<br />

dere und gegen uns selbst. Die Freude am fremden und eige-<br />

nen Gelingen und Vollbringen geht verloren, <strong>aus</strong> Verzweiflung<br />

suchen wir zuletzt den Grund alles Übels außer uns, statt es<br />

in unserer Verkehrtheit zu finden. Man nehme doch jeden Men-<br />

schen, jedes Ereignis in seinem eigentümlichen Sinne, gehe <strong>aus</strong><br />

sich her<strong>aus</strong>, um desto freier wieder bei sich einzukehren.‘“<br />

Diese „praktische Psychologie“ sieht anders <strong>aus</strong> als die<br />

der Lehrbücher. Er konnte wie Rousseau sagen: „Je sens mon<br />

coeur, et je connais les hommes.“ [Ich fühle mein Herz und ich<br />

kenne die Menschen.] 8<br />

8 Bekenntnisse. Erstes Buch.


1965 Testament gemacht<br />

28. August<br />

Einen guten Brief erhielt ich von H[errn] Seidel <strong>aus</strong><br />

Schwerte, der seinen Urlaub in einem Walde von Hessen ver-<br />

bracht hat und bei dieser Gelegenheit das Goetheh<strong>aus</strong> in<br />

Frankfurt mit Begeisterung besuchte. Er will Ostern seine Ver-<br />

wandten in Dresden besuchen. Daß ich da hin fahre ist klar<br />

– aber nicht, ihm einen Altar zu errichten, sondern weil er ein<br />

tüchtiger Mensch ist, der manche Kämpfe in der Nazizeit mit<br />

mir gemeinsam durchgefochten. Das ist keine Huldigung für die<br />

geographische Situation der westlicheren Lage, sondern eine<br />

rein menschlich verständliche Begegnung. Das gibt es auch. Er<br />

hält den Ausgang der westlichen Wahlen für „unwichtig inso-<br />

fern, als eine Änderung der jetzigen Innen- und Außenpolitik<br />

in wesentlichen Fragen kaum möglich ist, gleichviel, wer ans<br />

Ruder kommt. Wichtig ist erst mal, daß wir vernünftiges Som-<br />

merwetter kriegen; hier im Ruhrgebiet steht noch viel auf dem<br />

Halm und ist in Gefahr zu verderben“. Als ehemaliger Staffelka-<br />

pitän und Fluglehrer hat er sich den Frankfurter Flughafen an-<br />

gesehen, wo „durchschnittlich alle 5 Minuten ein solcher Zau-<br />

bermantel <strong>aus</strong> allen Erdteilen angeschwebt kam“. Seidel meint,<br />

daß Goethe heute sein Frankfurt kaum wieder erkennen und<br />

davon kaum erbaut sein dürfte. Er legte eine Karte des Goethe-<br />

h<strong>aus</strong>es bei, das Ernst Beutler 9 nach der Zertrümmerung wieder<br />

aufgebaut hat, genau so, wie es war. Die im H<strong>aus</strong>e gewesenen<br />

Möbel, Bilder usw., waren von Beutler rechtzeitig in Sicherheit<br />

gebracht worden.<br />

5. September<br />

So, Testament gemacht, Koffer gepackt, und morgen Mon-<br />

tag früh 20 Minuten vor 5 h wird abspaziert. 5 h fährt der Bus<br />

9 Ernst Beutler (1885–1960), Direktor des Goethe-H<strong>aus</strong>es und -Museums in Frank-<br />

furt am Main.<br />

vom Markte zum Bahnhof, und 5 31 h geht es von da nach Chemnitz,<br />

wo 9 38 der Zug nach Nürnberg abfährt, der 14 44 dort auf<br />

dem Hauptbahnhofe ankommen soll. […]<br />

Pflichtgemäß wog ich die paar Kleinigkeiten ab für die Zollerklärung:<br />

Puppe + Stuhl = 470 g<br />

2 Schnitzfiguren = 18 g<br />

7 Zahnbürsten = 70 g<br />

2 Kinderbücher = 700 g<br />

1258 Gramm<br />

also 1 ¼ Kilo<br />

85 Nürnberg, Krelingstr. 21, den 25. September<br />

Ich verlebte sehr schöne und eindrucksreiche Tage in Löhne<br />

bei den lieben Leuten, Dr. Kröpp, seinen Kindern und Enkeln,<br />

die Einzelheiten zu hören wirst Du einen Sonderurlaub<br />

nehmen müssen. […] Am Montag nachmittag fuhren wir nach<br />

Schluß der Sprechstunde zu der Porta Westfalica, die ich früher<br />

nur mal von einem D-Zug <strong>aus</strong> von ferne sah. Herrlichstes<br />

Wetter, weit <strong>aus</strong>gedehnte Laubwälder, die bunt sich zu färben<br />

beginnen. Tadellose Straßen, bequemes Wandern im Sitzen,<br />

wie es sich Lamme wünschte in Costers „Uilenspiegel“, überall<br />

schöne, gut gepflegte Häuser in Gärten, keinerlei Armutsbaracken,<br />

die Orte aufgelockert, fast so, daß der eine in den andern<br />

überging; denn dazwischen lagen überschaubare Feldfluren,<br />

wo wie bei uns selten einer bei der Arbeit zu sehen war.<br />

Traktoren arbeiten, zuweilen auch nachts, im Scheinwerferlicht.<br />

Wohlstand ganz allgemein, über seine Herkunft sprechen wir<br />

noch. Das sind Vorgänge, die sich teilweise durchschauen lassen;<br />

an langen Hebelarmen werden die menschlichen Schicksale<br />

gelenkt. Ich glaube, uns fällt es leichter, das Getriebe zu<br />

durchschauen. […] Donnerstag verabschiedete ich mich von<br />

Kröpps und fuhr nach Schwerte zu Seidels. Dort kam ich mittags<br />

an. Er zeigte mir seine Schule, ein sehr gut gebautes Mäd-<br />

162 163


1965 Ost und West<br />

chengymnasium, mit reichlicher Ausstattung an physikalischen<br />

Geräten zur Betrachtung neuster Ergebnisse der physikalischen<br />

Forschung, sehr angenehme und interessante Arbeit. Gestern,<br />

Freitag, reiste ich zurück nach Nürnberg, 685km D-Zug. Ich wähl-<br />

te die Fahrt über Essen–Köln–Bonn–Bad Godesberg–Koblenz–<br />

Bingen–Frankfurt–Würzburg, sah also das Ruhrgebiet und das<br />

wundervolle Rheintal, die Laubwälder in beginnender Färbung<br />

im Glanze der Sonne. Freilich: das Beste fehlte: Du hättest die<br />

ganze Reise mitmachen sollen, Du hättest mit in den Kölner<br />

Dom gehen müssen. Ich wählte die Zugverbindung mir so <strong>aus</strong>,<br />

daß ich in Köln etwa 2 ½ Stunde Zeit hatte, den Kölner Dom<br />

zu besuchen. Dazu hat man keine weiten Wege zu laufen: man<br />

überschreitet vor dem Bahnhofe eine nicht sehr breite Straße<br />

und ist an der Domtreppe. Der Eindruck bleibt unvergeßlich.<br />

Die hoch aufstrebenden Säulen tragen ein gotisches Rippen-<br />

gewölbe, farbige Fenster in glühenden Tönen von der Sonne<br />

durchleuchtet, daß auf den Bänken und dem Fußboden – Mo-<br />

saik – die bunten Lichter spielten. Die Domschatzkammer war<br />

geöffnet, seltene alte wertvolle Pergamenthandschriften, mit<br />

Edelsteinen geschmückte Schatztruhen und Abendmahlsgeräte<br />

von Silber und Gold, Reliquien, ich sah in einem Ziergefäße ei-<br />

nige Knochen der heiligen Almanda; Gläubige knieten vor ei-<br />

nem Marienaltar, vor dem sehr viele Kerzen brannten und den<br />

Sonnenglanz übertreffen wollten. Zwei Dominikanermönche in<br />

roten Kutten hielten schweigend ihre Sammelbüchsen den Be-<br />

suchern hin, ohne etwa aufdringlich sich zu gebärden. Ein Au-<br />

gustinermönch in brauner Kutte ging vorüber. Es war ein leben-<br />

dig gewordenes Mittelalter. – Dann ging es mit Aufmerksamkeit<br />

auf der Straße durch die Ströme von Automobilen, und die alte<br />

Zeit versank im R<strong>aus</strong>che der Modernität. […]<br />

Der äußerste Termin der Rückreise ist der 3. Oktober. An<br />

diesem Tage muß ich die Grenze überschreiten, natürlich wie-<br />

der in Gutenfürst. […]<br />

Daß dieser ganze Betrieb hier „blendend“ ist, kann man<br />

nicht leugnen – aber: nur für den, der sich den glitzernden<br />

Sand in die blöden Augen werfen läßt. Davor bin ich sicher.<br />

Die Hintergründe mögen, rein verstandesmäßig gesehen, inte-<br />

ressant sein – wer von einer Goetheschen Gesamtschau erfüllt<br />

ist, sieht daß der Teufel mit seiner scharfen Intelligenz sehr leb-<br />

haft am Werke ist.<br />

7305 <strong>Waldheim</strong>, Turmstr. 7, den 4. Oktober, Montag<br />

Mit dem <strong>Briefe</strong> geht ein Paket, enthaltend: Flesch (zwei<br />

Bände) 10 + 1 kg Bananen + 1 Bluse für Dich (weiß) neu, die hof-<br />

fentlich passen wird + zwei Sätze Pirastro-Saiten, ein Satz ist<br />

für Stups und ein Satz ist für Deine Geige, es darf nicht die<br />

Geige vermodern und der Teufel Triumphe feiern, + 1 Schachtel<br />

Eichenblätter + 1 Viol + 1 Kolophonium + 1 kl. Erdnußschach-<br />

tel + 1 Kakao. – Hoffentlich geben auf beiden Geigen die sehr<br />

teuren Saiten recht angenehmen Klang. Eine in der Liste ange-<br />

zeigte G-Saite in Gold (echt) war leider nicht zu haben, sonst<br />

hättet Ihr diese erhalten, so nehmt sie in Silber.<br />

5. Oktober<br />

Ost und West sind beide Kriegskrüppel; der Unterschied<br />

ist darin, daß der östliche sich mühselig seine Krücken sel-<br />

ber schnitzt, während der westliche vergoldete Stützapparate<br />

gleich erhält – leihweise. Damit kann er auf den östlichen her-<br />

absehen, ohne daß er sich etwas darauf einzubilden hat.<br />

6. Oktober<br />

Zu dem Ost-West-Konflikt ist mir auf dieser Reise man-<br />

ches deutlich geworden, was nicht in den Zeitungen zu lesen<br />

ist. Die Amerikaner bauen da einen im Bewußtsein der West-<br />

10 Carl Flesch, Die Kunst des Violinspiels, Berlin 1923, 1928<br />

164 165


1965 Bettelbrief wegen Vogelfutter<br />

deutschen gegründeten Wall auf von bedeutender Wirksam-<br />

keit – und sie lassen sich das auch noch recht reichlich bezah-<br />

len. Kein Mensch ist mir begegnet, der auch nur den leisesten<br />

Wunsch hätte, den Zustand seines augenblicklichen Daseins zu<br />

ändern. „Uns ist es nie so gut gegangen“ ist etwa die allge-<br />

meine Meinung. Sogar die Gewerkschaft der Postangestellten<br />

forderte auf ihrem Kongreß, die Post außer am Sonntage auch<br />

am Sonnabend in Ruhe zu lassen, also keine Briefzustellung an<br />

diesen beiden Tagen. Die Auspolsterung des äußeren Daseins<br />

kann kaum noch überboten werden. Daß man sich auch daran<br />

sehr rasch gewöhnen kann, merkte ich deutlich.<br />

13. Oktober<br />

Es sollen bis jetzt 600 000 Rentner drüben gewesen sein. Das<br />

bedeutet, daß die Bundesrepublik dafür mindestens 60 000 000<br />

= 60 Millionen bar <strong>aus</strong>gegeben hat, abgesehen von dem, was die<br />

Leute in dieser Zeit verzehrten und in ihrem Rückkehrergepäck<br />

her<strong>aus</strong>geschleppt haben. Das ist mindestens nochmal derselbe<br />

Betrag. Ob sich das auf die Dauer wird fortsetzen lassen, ist recht<br />

fraglich. Ich hab denen noch weit mehr Kosten auferlegt.<br />

Mich wundert, was mein Gehirn alles <strong>aus</strong>gehalten hat und<br />

noch <strong>aus</strong>halten muß.<br />

13. Oktober<br />

Abends ½ 11 h: Goethes Briefwechsel mit Carl August bringt<br />

mich wieder in eine mir gemäße Welt. Es ist nur zu beklagen,<br />

daß dieser wirkliche Fürst nicht ein Jahrhundert später das<br />

Deutsche Reich regierte. Da wäre der Welt sehr viel Unglück er-<br />

spart worden. Aber leider sind wohl in diesem Berufe die ech-<br />

ten Genies noch seltener als in anderen.<br />

1. November<br />

An Dr. Büttner schrieb ich eine versteckte Bemerkung Goe-<br />

thes: ein ungarischer Gelehrter hatte an den Jenaer Mineralo-<br />

gen Prof. Lenz für die Goetheschen Sammlungen bestimmte Mi-<br />

neralien einer Sendung an Fischer von <strong>Waldheim</strong> 11 beigepackt<br />

und nach Moskau geschickt, was Lenzen wegen der damit be-<br />

kundeten sehr mangelhaften geographischen Kenntnisse der<br />

Absender aufregte. Dieses nette Histörchen schrieb ich an Bütt-<br />

ner, der sich dafür herzlich bedankt. („Sie haben mir damit eine<br />

sehr große Freude bereitet. Ich kannte die betr. Erwähnung Fi-<br />

schers v. <strong>Waldheim</strong> noch nicht, so daß ich Ihren Brief gern zu<br />

meinem übrigen Fischer-Materialien füge.“) Du siehst, mit wie<br />

wenigem man einem Menschen einen Spaß machen kann.<br />

Man sollte solche Gelegenheiten öfter beachten, es ist so<br />

etwas wie Öl im Betrieb des menschlichen Verkehrs.<br />

22. November<br />

Meine Vögel picken sich <strong>aus</strong> dem sogenannten „Vogelfut-<br />

ter“ das ihnen Gemäße <strong>aus</strong>. Übrigens hab ich in dieser Sache<br />

einen Bettelbrief nach dem Westen geschrieben, der erste in<br />

zwanzig Jahren. Aber für die Vögel darf man das wohl tun.<br />

Merkwürdig: es gibt Bilderbücher über viele Länder der<br />

Erde – nur nicht über Westdeutschland.<br />

23. November<br />

Dieses Jahr 1965 ist wirklich ein unglückliches und sehr an-<br />

strengendes Stück Leben gewesen; hoffen wir nur, daß sich<br />

11 Der Arzt und Naturforscher Johann Gotthelf Fischer von <strong>Waldheim</strong> (1771–1853),<br />

Prof. für Naturgeschichte in Mainz, wurde 1804 an die Moskauer Universität be-<br />

rufen, er hatte großen Anteil an der naturgeschichtlichen Erforschung Rußlands<br />

auf den Gebieten Geologie, Mineralogie, Paläontologie und Entomologie, vgl. Jo-<br />

hannes W. E. Büttner, Fischer von <strong>Waldheim</strong> [= Freiberger Forschungshefte. Reihe<br />

D 15], Berlin 1956.<br />

166 167


1965 Blumenbilder<br />

im kommenden Jahre einige Auswege zeigen. – Aber wie? Hier<br />

sucht das Rath<strong>aus</strong> jemand, der 24 Stunden die Woche Dienst<br />

im Referat „Volksbildung“ tue. Ich wollte mich schon – pecuniae<br />

c<strong>aus</strong>a [<strong>aus</strong> Geldgründen] – dazu melden, jedoch wer wird<br />

einen 82jährigen alten Mann, der nicht der Partei angehört,<br />

nicht „geschult“ ist in der vorgeschriebenen Lehre auf diesen<br />

Posten stellen? Das ist wohl von vornherein <strong>aus</strong>sichtslos, sich<br />

dazu zu melden. Trostlos, daß man zu nichts mehr wert ist,<br />

daß alle früheren Einnahmequellen – Vorträge, Zeitschriftenaufsätze,<br />

Unterricht – versiegt sind. Wozu bin ich dann überhaupt<br />

noch da? Das frage ich mich stündlich.<br />

Um nicht dauernd zermürbt zu werden, pinsle ich jetzt ein<br />

paar Blumenbilder für die kleine Karin in Nürnberg. […]<br />

Diese Nacht nahm ich – leider nur in einem Traume – seltsam<br />

schönes Geld für Euch ein: Ihr spieltet in einer alten Barockstadt<br />

und in der Barockzeit ein Konzert. Ich erhielt große<br />

Silbermünzen wundervollster Prägung, die eine oval, neun Zentimeter<br />

lang, fast 1 cm stark, mit Hochrelieffiguren und Elfenbeinschmuckteilen.<br />

Wir waren in Raum und Zeit in eine völlig<br />

andere Welt geraten. Ein großer Marmorengel mit wehendem<br />

Gewande stand auf dem Markte. Durch den Marmormantel<br />

schien gedämpft die Sonne. Aber dann war das Geld nicht mehr<br />

da, obwohl ich es doch in der Hand gehabt hatte und so froh<br />

war, das für Euch einzunehmen.<br />

25. November<br />

Als ich vorhin für Großmutti einen Abreißkalender besorgte,<br />

fragte ich Münch, für wieviel Stundenlohn ich bei ihm eingestellt<br />

werden könnte. „1,40 bis 1,50 DM“ – er schien das gar<br />

nicht ernst zu nehmen. Aber ich überlege das noch, täglich 4<br />

Stunden gäben im Monat etwa 150 M. Denn mehr wird man für<br />

„Arbeit“ nicht bekommen. Die armen Irren, die die Gräber auf<br />

dem Friedhofe schaufeln – eine sehr schwere Arbeit – bekommen<br />

auch nur 1,50 M in der Stunde.<br />

28. November<br />

Von meinen Blumenbildern sind jetzt zehn Blatt fertig.<br />

Diese Woche nehme ich diese mal mit nach Döbeln. Ich will<br />

Langner mal fragen, ob man diese verkaufen kann und zu wel-<br />

chen Preisen. Wenn das gelänge, hätten wir einen schönen<br />

Finanz<strong>aus</strong>gleich. Halte den Daumen! Denn eine solche Arbeit<br />

wäre mir lieber als Hefte zu verkaufen und Buntpapier. Also<br />

sorge, daß ich für meine Ware Absatz finde!!!<br />

7. Dezember<br />

Die Analphabeten hatten es doch gut, sich nicht um Stifte,<br />

Tinte, Papier, Umschläge sorgen zu müssen. Jeder sogenannte<br />

„Kulturfortschritt“ ist ein Weg in zunehmende Abhängigkeiten<br />

von Handwerkern, Fabriken, Händlern, Zöllnern, Politikern und<br />

wie das ganze Zeug heißt. – Nicht vergeß ich das hämisch grin-<br />

sende Gesicht dieses ekelhaften Busschaffners ***, als er ges-<br />

tern am Marienfels die Leute nötigte, durch den ganzen Wa-<br />

gen sich zu arbeiten, weil „hinten“ <strong>aus</strong>zusteigen sei. Dieses<br />

Gesicht, diese Fratze, hätte man photographieren sollen. Das<br />

sind Bilder, die man nicht vergißt und die für den Unterricht in<br />

Psychologie oder auch in einer Schule für Sch<strong>aus</strong>pieler äußerst<br />

wertvoll wären. Naturdokumente der Gemeinheit – nur lassen<br />

sie sich schwer aufnehmen. […]<br />

Die Lektüre alter Goethe-Jahrbücher bringt manches Verges-<br />

sene wieder in Erinnerung. Ich las gestern abend in dem von<br />

1923 einen Aufsatz 12 über eine Totenfeier für Goethe 1832 in<br />

Wien und über die erste dort veranstaltete F<strong>aus</strong>taufführung. Es<br />

ist empörend, wie Metternich damals mit seinen Censurskla-<br />

ven an Goetheschen Texten „korrigiert“ hat, daß ja kein Wort<br />

gegen „Pfaffen“ oder gegen die Regierung gesagt werde. Der<br />

12 Richard Ornstein, Goethes Totenfeier und der erste „F<strong>aus</strong>t“ in Wien. In: Jahrbuch<br />

der Goethe-Gesellschaft. Bd. 9, Weimar 1922, S. 88–107.<br />

168 169


1965 „Große Knieende“<br />

Wortlaut ist oft völlig verändert. Das ist der Busschaffner ***<br />

in einer anderen Stellung mit dem gleichen hämischen Aus-<br />

druck des „Machthabers“. Solche Fratzen sind an keinen so-<br />

ciologischen oder intellektuellen Standort gebunden; sie sind<br />

überall nicht nur möglich, sondern wirklich vorhanden. Das ist<br />

doch furchtbar.<br />

14. Dezember<br />

Max Planck: es darf nicht übersehen werden, daß die Nazi<br />

seinen hochbegabten Sohn ermordet haben! Daß hinterher<br />

die Gewitheorie – <strong>aus</strong> „kulturellem Schmuckbedürfnis“ – viele<br />

Übeltaten verschweigt und große Leute so umlügt, daß alles<br />

andre als die „Wahrheit“ bleibt. Durch irgendeine „vorgeschrie-<br />

bene Brille“ gesehen, nehmen sich viele Dinge ganz anders<br />

<strong>aus</strong> als wenn man sich bemüht, Menschen und Probleme ohne<br />

solche Filter zu betrachten – soweit das erkenntnismäßig über-<br />

haupt möglich ist.<br />

Es freut mich sehr, daß Du nicht allein zu dem Vortrage der<br />

Goethe-Gesellschaft gehen brauchst. Es handelt sich bei dieser<br />

Farbenlehre auch um zwei verschiedene Standpunkte der Be-<br />

trachtung: Newton strebt nach einer physikalischen Erklärung<br />

des Objektes „Farbe“ – Goethe geht von der subjektiven Emp-<br />

findungswelt der Farbeneindrücke <strong>aus</strong> und bemüht sich, diese<br />

zu verstehen. Genau so, wie man an einer Sinfonie mit physi-<br />

kalischen Mitteln eine Tonanalyse vornehmen – oder sich den<br />

durch sie geweckten Empfindungen hingeben kann, oder wie<br />

man einen Blumenstrauß biologisch-botanisch betrachten oder<br />

sich an Duft, Farben, Formen freuen und ihn wie de Heem dar-<br />

stellen kann. […]<br />

Das Lesen früherer Jahrbücher der Goethe-Gesellschaft ist<br />

eine Art Morphium, mit dessen Hilfe man sich der unerquickli-<br />

chen Gegenwart entziehen kann, wenigstens auf einige Zeit.<br />

21. Dezember<br />

Am Kolbe-Denkmal hat man die Grasfläche mit abgesägten<br />

Fichten besteckt und grell bemalte <strong>aus</strong> irgendeiner Pappe ge-<br />

schnittene „Märchengestalten“ hingestellt – die Geschmacklo-<br />

sigkeit ist nicht zu übertreffen. Das zeigt, daß die „erzieheri-<br />

sche Wirkung“ des schönen Gebäudes und der Kolbe-Gestalt 13<br />

nur in den Hirnen verkalkter „Kunsterzieher“ vorhanden ist. Es<br />

müßte sich doch jeder scheuen, den Platz zu verunstalten –<br />

keineswegs. Ich hätte große Lust, das zu zerstören.<br />

24. Dezember<br />

Bei der „Großen Knieenden“ wäre zu bedenken, daß sie als<br />

ein sehr ernstes Denkmal des Krieges aufgefaßt werden kann:<br />

eine Frau, mit einer Pflanzarbeit am Boden beschäftigt, ver-<br />

nimmt (oder glaubt zu vernehmen) den Ruf eines Vaters, Soh-<br />

nes, Mannes, der in der unendlichen Weite des Krieges verlo-<br />

renging, erhebt sich rasch, mit dem linken Arme das Gleichge-<br />

wicht haltend, mit der Rechten die Blendung durch die Sonne<br />

abschirmend und schaut in die Ferne. […]<br />

Vergleiche Goethes „Iphigenie“: „Der Frauen Schicksal ist<br />

beklagenswert –“ 14<br />

13 Georg Kolbe, Große Knieende (1935/36), s. auch Brief vom 12. August 1974.<br />

14 Iphigenie auf Tauris. Erster Aufzug. Erster Auftritt: „Der Frauen Zustand ist bekla-<br />

170 171<br />

genswert.“


172 173<br />

1966<br />

7305 <strong>Waldheim</strong>/Sa., Turmstr. 7, den 18. Januar<br />

Auf die Frage: „Was tun Sie eigentlich den ganzen Tag?“<br />

kann man mit dem Worte antworten: „Frieren“. Das scheint<br />

noch einige Zeit so anhalten zu wollen: erst ein kühler Sommer,<br />

dann ein kalter Winter. Ergebnis: man empfindet den Aufenthalt<br />

auf dem Planeten Erde immer weniger angenehm.<br />

Gestern kaufte ich mir etwas, wofür ich in den 82 Jahren<br />

meines Daseins noch niemals Geld <strong>aus</strong>gab. Rate!<br />

Der Strom bleibt wieder mal weg, er ist wahrscheinlich zu<br />

dünn und unterernährt. Wenn das in New York geschieht, steht<br />

es hier am andern Tage in der Zeitung. So gut ist der Nachrich-<br />

tendienst.<br />

20. Januar<br />

Was ich mir kaufte – hast Du nicht geraten. Einen Hut? Wo-<br />

ohzuh? Meiner hat noch kein Loch, außer dem, in das man den<br />

Kopf steckt. Einen Pelz? Zu spät; das hätte ich vor zwanzig Jah-<br />

ren tun sollen, jetzt werde ich höchstens Dir noch einen kaufen.<br />

Nein – alles falsch. Aber für 7,50 M Cognac, Schnaps, kaufte ich<br />

mir – wie der alte Rembrandt. Du siehst, der „Fortschritt“ kann<br />

sich auch abwärts bewegen, vielleicht ist das überhaupt der<br />

ihm bestimmte Weg. Aber keine Sorge, daß ich mir das Sau-<br />

fen angewöhne! Dieses Zeug ist nicht verlockend, das es hier<br />

zu kaufen gibt. Da muß ich schon lieber nach Gera oder nach<br />

Nürnberg fahren. Man sollte hier überhaupt nur das Allernot-<br />

wendigste kaufen. Warum? Das erkläre ich Dir mündlich!


1966 Bärte in der Geschichte<br />

21. Januar<br />

Daß ich mir für 7,50M eine Flasche kaufte, schrieb ich wohl<br />

bereits, auch daß ich das nicht wiederholen werde, da das<br />

DDR-Zeug nichts taugt. Wie einer davon sich besaufen könnte,<br />

ist mir völlig rätselhaft. Das kann man Säuglingen unverdünnt<br />

geben.<br />

22. Januar<br />

„Technik – Fortschritt“ – vergiß bitte nicht, daß die Amerikaner<br />

den Westen anders <strong>aus</strong>beuten als die Russen den Osten.<br />

Das erklärt sich <strong>aus</strong> der ungeheuren Distanz in der Zivilisation<br />

der beiden. Die unsern nehmen, was sie greifen können – die<br />

andern geben etwas, für das sie sich sehr gut bezahlen lassen.<br />

Z.B. da sie Absatz für ihren Ölvorrat suchen, veranlassen sie,<br />

Ölheizungen zu bauen und sie haben einen wahrhaft laufenden<br />

Gewinn dar<strong>aus</strong>. Dort ist der englische, weitblickende Egoismus<br />

am Werke: schaffe den Leuten Bedürfnisse, für deren Befriedigung<br />

du dich dann sehr gut bezahlen lassen kannst.<br />

25. Januar<br />

Saiten: Es ist gut, die Cello-Saiten zu besorgen. Bitte schick<br />

sie her. Ob sich es empfiehlt, Violin-Saiten herüber schicken zu<br />

lassen, ist fraglich, nachdem Ihr selbst erfahren habt, daß diese<br />

beschädigt hier ankamen. Ich denke, diesen Sommer, wenn<br />

ich es schaffen kann, bestimmt nochmal zu fahren und bringe<br />

dann die Saiten mit. Denn sie sich von solch einem Strolch anzwicken<br />

zu lassen, ist zu verdrießlich, weil man diese Burschen<br />

nicht erwischen und verdreschen kann. Mich empört bei solchen<br />

Angelegenheiten weniger der Sachschaden als das Übertölpelt<br />

werden.<br />

27. Januar<br />

Da wurde in früheren Zeiten „Kaisers Geburtstag“ gefeiert,<br />

nämlich des 1859 geborenen Wilhelm II., der durch seine<br />

Schnurrbartform „Es ist erreicht“ bekannt war, die Fabrikation<br />

der Bartbinde in Gang und den ersten Weltkrieg zum Ausbruch<br />

gebracht hat. Die Bärte sind Symbole: da ist Kaiser Rotbart 1 ,<br />

dessen Bart durch den Marmortisch im Kyffhäuser gewachsen,<br />

Eberhard der R<strong>aus</strong>chebart 2 <strong>aus</strong> Schwaben, Hitler mit dem Zahn-<br />

bürstenbart, einer mit Spitzbart 3 , bis zu dem Kranzbart des Cu-<br />

baners Fidel Castro, den man hier an Studenten eine Zeit lang<br />

sah. Man kann die Geschichte an Hand der Bärte erzählen.<br />

30. Januar<br />

Hier hat ein Werber für verlängerten Kasernendienst recht<br />

unglaubliches Zeug gesagt! Da ist an den kleinen Jungen zu<br />

denken, der dem die Geige stimmenden Lehrer zurief: „Du<br />

wirst noch so lange dran rum mährn, bis Dir der Droht nei de<br />

Freß’ springt“ – ein sehr ernster Ausspruch eines ABC-Schüt-<br />

zen – sooo ist es!<br />

1. Februar<br />

Wo wird sich der Unfug mit der Stoppuhr in der Beobach-<br />

tung der Ärzte abspielen? Nur in Döbeln oder auch in Leipzig?<br />

Die Methode ist an sich nicht neu; sie kam im und nach dem<br />

ersten Weltkriege in der amerikanischen Industrie auf als das<br />

nach seinem Erfinder benannte Taylor-System, das den neuen<br />

Beruf des Zeitstudieningenieurs hervorbrachte. Man wollte da-<br />

mit die optimalen, nicht die maximalen Arbeitsmethoden ermit-<br />

teln. Das erstreckte sich auch auf die Form der Werkzeuge: eine<br />

Kolonne Schaufler z.B. in den Bethlehem Steel Works hatte,<br />

dieselbe Schaufel in der Hand, bald Koks, bald Erz zu schau-<br />

feln. Man fand her<strong>aus</strong>, daß das falsch war, da die für Erz pas-<br />

1 Friedrich I. Barbarossa (1122–1190).<br />

2 Eberhard I. im Bart (Barbatus, 1445–1496), Herzog von Württemberg.<br />

3 Staatsratsvorsitzender der DDR Walter Ulbricht (1893–1973).<br />

174 175


1966 Im HO-Papierladen<br />

sende Schaufel kleiner sein mußte als die für den leichten Koks<br />

geeignete. Man nahm Ermüdungskurven auf, nach denen die<br />

P<strong>aus</strong>en festgesetzt wurden, die der Arbeiter einhalten mußte.<br />

Scientific management nannten sich diese Methoden: Ärztli-<br />

che Beratung ist aber etwas anderes als Holz fällen oder Koks<br />

schaufeln. Hier wandelt sich die Klinik zum Sportplatze. Opera-<br />

tionen sind in Rekordzeiten <strong>aus</strong>zuführen. Wie das dem Patien-<br />

ten bekommt, ist nicht weiter wichtig. Das sind Aussichten!<br />

6. Februar<br />

Was in den apokalyptischen Reitern den alten Propheten<br />

wie ein schwerer Traum vor Augen schwebte, geht mit Riesen-<br />

schritten seiner Verwirklichung mit wunderbaren technischen<br />

Mitteln entgegen. Ein Narr, der auf einen Machtknopf drückt,<br />

kann eine Kettenreaktion <strong>aus</strong>lösen, deren Wirkung sich keiner<br />

– auch nicht durch eine Flucht auf den Mond – entziehen kann.<br />

Und dieser Narr wird sich bald finden. Nur bleibt dann keiner,<br />

der ihm ein Denkmal setzt, weil keiner mehr da ist, den dies<br />

interessieren könnte.<br />

Ich lese jetzt die wundervollen Essays von Beutler; darin<br />

stehen Aufsätze, die Dir und mir bisher unbekannt geblieben,<br />

z.B. über Goethes Lili und über Eckermann. Sobald ich damit<br />

zu Ende bin, wirst Du diese Sachen lesen und dar<strong>aus</strong> vieles<br />

lernen. Am Schlusse steht eine ganz feine Arbeit Wachsmuths<br />

über Ernst Beutler. 4 Das ist endlich wieder einmal ein Buch, mit<br />

dem man „streuen“ möchte, d.h. mal eine ganze Auflage kau-<br />

fen und verschenken. An solchen schönen Sachen gemessen,<br />

fällt das Machwerk dieses Friedenthal 5 tief in den Orkus – man<br />

hört nur noch die Jauchengrube der „öffentlichen Meinung“ ein-<br />

mal aufplätschern, in die es hineinplumpst.<br />

4 Ernst Beutler, Essays um Goethe, Bremen 6 1962.<br />

5 Richard Friedenthal, Goethe. Sein Leben und seine Zeit, München 1963.<br />

176 177<br />

10. März<br />

„Drei Briefblöcke, Din A4 ohne Linien bitte!“ – „Da ist gar<br />

nichts da.“ – „Dann zweihundert Blatt Schreibmaschinenpapier,<br />

weiß, Din A4.“ – „Da haben wir nur das einfache.“ – „Bitte<br />

zeigen Sie es mir!“ – „Hier bitte“ – „Danke, das möchte ich<br />

nicht, das wird drüben nicht mal als Closettpapier verkauft.“<br />

– „200 Umschläge, weiß!“ – „Da haben wir nur die einfachen.“<br />

– „Bitte, zeigen Sie her! Da muß man den Klebstoff selbst auf-<br />

tragen? Das ist ja bei Briefmarken auch so.“ – Also keine Angst,<br />

daß ich Euch ein Fuder Schreibmaschinenblätter zuschicke.<br />

Was oben steht, geschah wörtlich im HO 6 -Papier-Laden. Das<br />

sind die Wirkungen. Sie werden noch deutlicher werden. Es soll<br />

sich zeigen, daß der goldene Westen nichts von dem hat, was<br />

wir besitzen. Und da heißt es immer, dort gäbe es alles!<br />

Martin Buber – Hermann Hesse: Martin Buber, ein jüdischer<br />

Gelehrter und Schriftsteller, dessen Name schon vor etwa 50<br />

Jahren genannt wurde und der nach dem zweiten Weltkriege –<br />

soviel ich weiß – in Palästina gestorben ist, müßte doch Hesse<br />

bekannt sein. In dem Bändchen „<strong>Briefe</strong>“ von Hermann Hesse<br />

– 434 Seiten, 1954 erschienen – steht auf S. 302 ein Brief Hes-<br />

ses an Buber, in dem sich Hesse nach dem Erscheinen der<br />

Gesamt<strong>aus</strong>gabe von Bubers Chassidischen Erzählungen 7 be-<br />

dankt, Ende November 1949. Am Ende steht: „Ich habe, seit<br />

wir uns zuletzt sahen, viele Male Freude an Ihren Schriften ge-<br />

habt, am meisten an jenem holländischen Vortrag und an ih-<br />

rem so tapfer-heiteren Beitrag zur Existentialphilosophie. Auch<br />

dafür danke ich Ihnen.“ Ob wir hier jemals diesen Vortrag er-<br />

langen können, das ist sehr zu bezweifeln. Ich wage nicht, ihn<br />

mir <strong>aus</strong> dem Westen kommen zu lassen, weil ich annehme, daß<br />

6 Handelsorganisation; seit 1948 bestehender volkseigener Einzelhandel der DDR.<br />

7 Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 1949. Martin Buber (1878–1965) starb in Je-<br />

rusalem.


1966 Mitschuldige?<br />

er gestohlen werden wird. „Heiß mich nicht reden, heiß mich<br />

schweigen“ 8 . Es könnten Flüche laut werden, die in der gesam-<br />

ten Weltliteratur noch unbekannt sind.<br />

12. März<br />

Martin Buber ist in dem Hesse-Briefband mehrfach vertre-<br />

ten (ein Register fehlt, weshalb ich gleich mal den ganzen Band<br />

durchlas). Es ist auch ein Schreiben Hesses an die Schwedi-<br />

sche Akademie abgedruckt, in dem Hesse den Buber für den<br />

Nobel-Preis vorschlägt. Das Ergebnis dieser Lektüre von Brie-<br />

fen, die teilweise „Trostbriefe“ waren, ist die Einsicht in das<br />

Trostlose der Weltlage. Der mehrfach hörbare Vorwurf, daß „wir<br />

alle“ die Nazigreuel verschuldet und unser Schicksal verdient<br />

haben, läßt darauf schließen, daß die damalige Zwangslage je-<br />

des Deutschen denen, die von ferne zusahen, nicht vorstell-<br />

bar gewesen ist, obwohl gerade Hesse nicht schlecht infor-<br />

miert wurde. Selbst seine Dichterphantasie reichte nicht <strong>aus</strong>,<br />

sich das Reale vorzustellen. Und warum haben denn die from-<br />

men Engländer, die frömmelnden Amerikaner, die geschäfts-<br />

tüchtigen Schweizer, die bedauernswerten Franzosen erst von<br />

1933–1939 zugesehen, wie die Verknechtung Deutschlands ra-<br />

send um sich griff, wie die „Wehrmacht“ aufgebaut wurde, wie<br />

man den Luftschutz und das Hungern übte? Im Jahre 1933 war<br />

die Gelegenheit noch da, das Drohende mit Mitteln zu ersti-<br />

cken, die viel geringer gewesen wären als der lange Krieg. Man<br />

labte sich am Gruseln, das die Berichte der ersten Emigranten<br />

hervorriefen, die man dann nach und nach als „lästig“ immer<br />

weiter reichte. Auch Hesse ist hier unzureichend informiert. Als<br />

es noch so <strong>aus</strong>sah, daß „nur“ die Deutschen zu leiden hatten,<br />

sah man das mitleidig lächelnd an, teilweise ungläubig, aber<br />

im Gefühle der eigenen Sicherheit, als dann die bisherigen Zu-<br />

8 Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, Fünftes Buch, Sechzehntes Kapitel.<br />

schauer etwas abkriegten, da war der Teufel los, und die be-<br />

reits sechs Jahre gequälten Deutschen wurden als „Mitschul-<br />

dige“ der Hauptverbrecher verdammt. Freilich, wir hätten uns<br />

alle in die Konzentrationslager schleppen und vergasen las-<br />

sen sollen, an denen man mit genauer Not gerade noch vorbei<br />

kam. Das wäre für uns besser gewesen. 9<br />

178 179<br />

14. März<br />

Heute kam die Post erst gegen 12h mittags. Die Eltern be-<br />

suchte ich gestern in Kriebethal und fand beide recht munter.<br />

Dein Vater fühlt sich natürlicherweise noch etwas schwach; wer<br />

wäre das in diesem Alter nicht? Er lieh mir ein Heft über das<br />

Königliche Krankenstift Zwickau, verfaßt von dem Prof. Braun 10 ,<br />

erschienen 1912. Das ist eine sehr interessante und wertvolle<br />

Arbeit, die ich gleich gestern durchlas. Da der Prof. Braun der<br />

Mann ist, von dem Dein Vater 11 <strong>aus</strong>gebildet wurde, werde ich<br />

mir von ihm nächsten Sonntag diktieren lassen, welche Einze-<br />

lerinnerungen noch lebendig sind und diese dann zusammen<br />

schreiben und mit dem Berichte von Braun zu einem kleinen<br />

Bändchen verbinden. Die Sache ist der Mühe wert – und zu-<br />

gleich mache ich Deinem Vater einen Spaß damit. Ich schick<br />

ihm heute ein paar Zeilen mit der Bitte, sich im Laufe der Wo-<br />

9 Von 1941–1943 lief ein Verfahren gegen <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> wegen „Herabsetzung des<br />

deutschen Wesens“ und englandfreundlicher Haltung. Im Urteil wurde auf die<br />

Verwarnung der Gestapo Chemnitz hingewiesen, den Beschuldigten im Wiederho-<br />

lungsfall in Schutzhaft zu nehmen.<br />

10 Heinrich Braun (1862–1934), Chirurg, 1906 Leiter des Königlichen Sächsischen Kran-<br />

kenstifts in Zwickau, vgl. Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte der<br />

letzten fünfzig Jahre. Bd. 1, Berlin, Wien 1932, S. 165; Die Medizin der Gegenwart<br />

in Selbstdarstellungen. Bd. 5, Leipzig 1925, S. 1.<br />

11 Der Sanitätsbeamte Georg Sauer erhielt seine Ausbildung als Assistent, Röntgenas-<br />

sistent und Laborant bei Heinrich Braun in Leipzig und in der Anstalt für Epilep-<br />

tiker in Hochweitzschen. Ab 1918 war er in der Heil- und Pflegeanstalt im Zucht-<br />

h<strong>aus</strong> <strong>Waldheim</strong> tätig. Nach seiner Pensionierung führte er eine sehr gesuchte Pri-<br />

vatpraxis in <strong>Waldheim</strong>.


1966 „Das tägliche Englisch“<br />

che seine Erinnerungen an Braun zu überlegen und mir dann<br />

diese zu diktieren.<br />

Herr Seidel hat endlich die Cello-Saiten erhalten, die am<br />

16. Feb. als eingeschriebene Eilsendung an ihn abgeschickt<br />

wurden und über zwei Wochen unterwegs waren. Sein Brief<br />

war acht Tage unterwegs. Gisela 12 betreffend schreibt er: „Bitte<br />

danken Sie auch ihr, sie schickte mir einmal einen hübschen,<br />

selbst gefertigten Scherenschnitt. Geiger sind Mangelware ge-<br />

worden, gute ganz besonders. Wie schön wäre es, wenn man<br />

so einen jungen Menschen mal einladen und zum Musizieren<br />

auffordern könnte!“<br />

22. März<br />

Die Frage: where is your husband ist – zwar neugierig –<br />

aber sprachlich richtig. Die Frage nach der Frau wäre in fami-<br />

liärer Ausdrucksweise – your wife. Ansonsten müßte man den<br />

Namen nennen: Is Mrs. Mohr at home? auch wenn die Frage an<br />

den Mann gerichtet ist, madam schreibt Muret-Sanders klein,<br />

aber Mrs. groß. – Die Schwierigkeit, die Bezeichnungen neu<br />

entstandener Berufe richtig zu finden, ist groß.<br />

Ich schicke Dir mit gleicher Post ein Heft 1) „Das tägliche<br />

Englisch“ 13 , in dem auf S. 81 eine (unvollständige) Liste von<br />

Berufen steht. Beim Durchblättern wirst Du auch sonst noch<br />

manches Brauchbare finden. 2) liegt bei Harold E. Palmer „Eve-<br />

ryday Sentences in Spoken English“. Das ist in phonetischer<br />

Umschrift gedruckt, aber sehr geschickt angelegt. 3) Auf bei-<br />

liegenden geschriebenen Zetteln findest Du die Umschrift der<br />

Sätze ab Seite 51 des Palmer. Die Kombination der Table I A mit<br />

den 80 Infinitiven von I B ergibt bereits etwa 20 000 Sätze! 14<br />

12 Die Enkelin von Georg Sauer, Gisela Schade, wurde Geigerin und Malerin.<br />

13 Karl Schneider, Das tägliche Englisch, Gera 1945<br />

14 Gertrud Schade gab an der Karl-Marx-Universität Leipzig Englisch für Veterinärmedi-<br />

ziner, Physiker u.a. und arbeitete an einem Fachwörterbuch für Englisch mit.<br />

Beim Suchen dieser Dinge fiel mir noch eine Erklärungsliste<br />

für lateinische Pflanzennamen in die Hand (2 Blätter), die ich<br />

mal vor 40 Jahren für den Gartenbauverein 15 anlegte. Vielleicht<br />

interessiert sie Dich für einen Augenblick.<br />

23. März<br />

Daß Du Dich nach Englisch hin orientieren willst, ist recht<br />

gut. Auch wenn anfangs viel Wörterbuch zu wälzen ist und Vo-<br />

kabeln gesucht werden müssen – was bei den ersten dreißig<br />

Seiten ganz genau zu machen ist – da geht das dann ganz ge-<br />

läufig. Lies die „Forsyte-Saga“ von Galsworthy. Das ist moder-<br />

nes Englisch. Vielleicht kannst Du in einer Mehrsprachen-Buch-<br />

handlung – ich glaube am Markte Ecke Petersstraße ist so et-<br />

was – das „Kommunistische Manifest“ in deutscher und in<br />

englischer Ausgabe besorgen. Das ist ein dünnes Heft, in ei-<br />

ner bezwingenden Sprache geschrieben, trotz aller Fehler in-<br />

teressant.<br />

Zeichnungen? Ich mußte mal wieder etwas mit der Hand<br />

machen. Da den Kindern in Nürnberg die „optischen Täuschun-<br />

gen“, die ich ihnen zum Geburtstage schickte, gefallen haben,<br />

ergänze ich diese durch ein Dutzend neue.<br />

Ansonsten lese ich jeden Tag Goethe, auch vieles an Frag-<br />

menten, die sonst niemand liest. Vielleicht komme ich noch-<br />

mal durch alle Bände durch. – Aufgeregt erzählte mir neulich<br />

der Dr. Haase, im Radio habe ein Herr Girnus 16 Luther – Les-<br />

15 Auf <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s Anregung war in <strong>Waldheim</strong> ein Gartenbauverein gegründet wor-<br />

den. Er selbst besaß seit 1912 einen Garten an der Wachbergstraße. – Die Fami-<br />

lie <strong>Pfeifer</strong>, Mitglied in Ernst Haeckels Monistenbund, hatte wissenschaftliche In-<br />

teressen und ging des öfteren in den Botanischen Garten in Dresden. Schon als<br />

Schüler ordnete <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> das Herbarium eines adligen Herrn, woher nach ei-<br />

gener Aussage seine botanischen Kenntnisse stammten. 1916 besuchte er einen<br />

Gartenbaukursus in Bautzen.<br />

16 Wilhelm Girnus (1906–1985), Werklehrer und Kunsterzieher, befand sich wegen sei-<br />

ner illegalen Arbeit als KPD-Funktionär von 1937–1945 in KZ-Haft. Als leitender<br />

180 181


1966 Banner der Arbeit<br />

sing – Karl Marx als die größten Meister der deutschen Spra-<br />

che gepriesen: „Goethe wurde überhaupt nicht erwähnt.“ Haa-<br />

ses Aufregung gab mir Spaß! Man muß sich wundern, daß Gir-<br />

nus auch Lichtenberg, Schopenhauer und Nietzsche vergessen<br />

hat. Daß der Mann sehr verblendet ist, wohl auch geschlagen<br />

durch seine Erlebnisse, das wurde doch schon in dem „Tasso“-<br />

Vortrage klar. Daß er Marx in diese Reihe rückt, ist verständlich<br />

und – wie schon an der Sprache des „Manifestes“ zu merken –<br />

sachlich berechtigt, aber er durfte die andern nicht vergessen.<br />

Da verfällt er in den Fehler seiner politischen Gegner, die ihrer-<br />

seits den Marx vergaßen. Es ist schon ein Affenspiel, dieser auf-<br />

geregte Literaturbetrieb.<br />

Auf einer Drucksache <strong>aus</strong> dem Westen sehe ich eine West-<br />

briefmarke mit einem Bildchen eines Zwingerpavillons und der<br />

Unterschrift: Dresden/Sachsen! Das ist doch erstaunlich! Wenn<br />

man nun hier mal den Kölner Dom auf einer Briefmarke abbil-<br />

dete! Das sind „Wege zur Einheit Deutschlands“ mit billigen<br />

Mitteln! Übrigens ist das das doppelte Porto (10 Pf.!), was die<br />

gleiche Sache von hier <strong>aus</strong> nach dem Westen kostet, das sind<br />

bis 50 g nur 5 Pf.!<br />

2. April<br />

Girnus hat einen Orden gekriegt: „Banner der Arbeit“ (ob<br />

man da die Arbeit verbannen muß?) als Chef-Redakteur der Zeit-<br />

schrift „Sinn und Form“ (welche ich nicht lese!) Oder sollte man<br />

sie lesen? Nein – meine Zeit ist dazu zu kostbar, jeder Tag wird<br />

wertvoller. „Banner der Arbeit!“ So erhielt Casanova den nied-<br />

rigsten Orden des Papstes, er wurde damit „Ritter vom Goldnen<br />

Sporn“. Durch einige darum gesetzte Edelsteine ließ Casanova<br />

Funktionär in der DDR war er u.a. seit 1952 im Vorstand der Goethe-Gesellschaft,<br />

von 1957–1962 Staatssekretär für Hoch- und Fachschulwesen, von 1962–1971<br />

Professor für Allgemeine Literaturwissenschaft in Berlin und von 1964–1981 Chef-<br />

redakteur der Zeitschrift Sinn und Form.<br />

das Ding als etwas Besseres erscheinen. Auch „Teufelsbanner“<br />

gab es – aber „Banner der Arbeit“? Ein komischer Beruf.<br />

182 183<br />

9. April<br />

Gestern mittag stand ein pompöses Auto vor meiner Tür:<br />

Maler Busch und Auto-Walther, der mich wegen einiger Stein-<br />

blöcke, die er geholt hatte für seinen Steingarten, um Rat fra-<br />

gen wollte und staunte als ich ihm zunächst sagte: „Diese Stü-<br />

cke sind <strong>aus</strong> dem sogenannten ‚Zwischengebirge‘ von Fran-<br />

kenberg-Hainichen <strong>aus</strong> dem Grenzgebiete des Granulits. Es<br />

ist silifiziertes Holz der Braunkohlenzeit.“ Na – und – er hat<br />

mich eingeladen, seinen Garten zu besuchen, „für guten Kaffee<br />

werde er sorgen“! Na – und.<br />

14. April<br />

Im Mai hat Rost’s Buchhandlung das Jubiläum des 125jäh-<br />

rigen Bestehens. Sie baten mich um einen geeigneten Schau-<br />

fensterspruch, hielten aber den von Lichtenberg, den ich gleich<br />

angab („Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen und es<br />

klingt hohl, ist das allemal im Buch?“) für nicht recht geeignet.<br />

Ich schreib ihnen ein paar andere auf. Es dürfte sich da ver-<br />

schiedenes finden.<br />

28. April<br />

Gestern war hier die Luft verrückt: von früh an bis nach Mit-<br />

ternacht knatterten in jeder Viertelstunde zwei Knallflugzeuge<br />

mit je zwei Detonationen durch, daß die Fenster klirrten. Diese<br />

Welt ist die beste aller möglichen, sagte Leibniz; freilich hatte<br />

er sehr unzureichende Kenntnisse von diesen Wirklichkeiten.<br />

Oder er war sehr anspruchslos.<br />

Auf dem „Werder“, den ich mir gestern mal mit Wolf (früher<br />

Rath<strong>aus</strong>) besah, ist ein „Ehrenmal“ für Opfer des Faschismus im<br />

Bau, das ich zunächst für einen Kugelfang einer Schießanlage


1966 Existentialismus<br />

hielt. Daß man nur kein Stück Natur ungeschändet lasse und<br />

überall Erinnerungen an die große Schmach von 1933 anbringe.<br />

29. April<br />

Der Satz von Hermann Hesse, der groß in Münchs Schau-<br />

fenster prangt, lautet: „Ohne Wort, ohne Schrift und Bücher<br />

gibt es keine Geschichte, gibt es nicht den Begriff der Mensch-<br />

heit.“ Das steht in einem kleinen Aufsatz mit dem Titel „Magie<br />

des Buches“. Das Schaufenster könnte sich in jeder Großstadt<br />

sehen lassen; sie haben es recht geschmackvoll aufgebaut.<br />

Gestern – Fränzchen. Den fragte ich, mit welcher Summe<br />

man das Kreis-Gesundheits-Amt wohl bestechen müsse, um<br />

mal nach Brambach zu kommen. Worauf er zu sagen wußte:<br />

„Ich wohne zwar bei dieser Stelle – oder vielmehr: die wohnt<br />

bei mir. Aber Sie erinnern sich wohl, daß man in der Nazizeit<br />

,lebenswertes‘ und ,lebensunwertes‘ Leben unterschied. Dies<br />

hat man beibehalten – und wir gehören demnach heute zu der<br />

zweiten Kategorie.“ – Du siehst dar<strong>aus</strong>, daß der Mann klarer<br />

sieht als man ihm zutraut.<br />

30. April<br />

Vorhin war ich auf dem Friedhofe, um durch die Frau Schle-<br />

sier (die Mutter des Biologiestudenten Bernhard Schlesier) eine<br />

für ihn als Biologen sehr interessante Sache photographieren<br />

zu lassen. Ich hätte das selbst getan, kriege aber kein Mate-<br />

rial 9 x 12. Da hat die Wurzel einer Fichte eine etwa drei Zentner<br />

schwere Steinplatte 13 cm hoch gehoben mit Hilfe ihres jahre-<br />

lang wirksamen Wurzeldruckes. Solche Sachen bekommt man<br />

nicht zu häufig vor die Linse. […] Der von der Wurzel <strong>aus</strong>geübte<br />

Druck ist jedenfalls sehr bedeutend, denn drei Zentner (und<br />

150 g genau) hebt nicht gleich einer hoch und hält sie Tag und<br />

Nacht. Du denkst, ich hätte den Stein auf der Briefwaage gewo-<br />

gen. Keinesfalls – aber mit der Schmiege <strong>aus</strong>messen und den<br />

Kubikinhalt mit dem spezifischen Gewichte berechnen ergibt<br />

ohne Anstrengung den Betrag der Last. Da kann einer bei der<br />

Auferstehung noch vom eigenen Grabstein erschlagen werden.<br />

Heute herrscht endlich mal ein frühlinghaftes Wetter – wie<br />

lange? Gestern hörte ich von einem, daß ich gestorben sei – er<br />

hatte mich mit jemand verwechselt –, aber der war es auch nicht,<br />

sondern ein anderer. Eine etwas verwickelte Sache. Man kann sich<br />

nicht auf das verlassen, was man hört. Das stimmt nicht immer.<br />

184 185<br />

12. Mai<br />

Das sehr seltsame Buch 17 über den Existentialismus, das<br />

mir Karsten Schumann schickte, regt zu mancherlei Gedanken<br />

an. Der Verstand und die in der Logik zusammengefaßten Ge-<br />

setze seiner Funktionen ist durch<strong>aus</strong> nicht das Ursprüngliche<br />

im Menschen. Das kleine Kind bewegt sich, schreit (!), lächelt,<br />

freut sich – lange bevor es denkt und spricht. Es will – oder<br />

will nicht. Viele kommen über diese Entwicklungsstufe wenig<br />

oder nicht hin<strong>aus</strong>. Sie müssen handeln um jeden Preis, auch<br />

wenn es unvernünftig ist und zur Selbstzerstörung führt: Xer-<br />

xes, Napoleon, Hitler und alle in ihrer Nachfolge. Auch in die<br />

Bemühungen ernster Denker klingen die Grundakkorde <strong>aus</strong><br />

dem Bereiche des Irrationalen viel bestimmender hinein als<br />

sie und ihre Anhänger glauben. Eitelkeit und Ehrgeiz und zü-<br />

gelloses Selbstbewußtsein haben am Aufbau des Systems von<br />

Karl Marx einen beträchtlichen Anteil, wie an jeder politischen<br />

Ideologie. In eine ganz andre Dimension greift der Künstler,<br />

der seine Empfindungswelt – nicht Denkprodukte – in die voll-<br />

kommene Form zu bringen sucht. Goethes „Marienbader Ele-<br />

gie“ hebt einen Seelenzustand in die Glorie, der jedem „Ver-<br />

ständigen“ absurd erscheint, von den Tatsachen her gesehen.<br />

Raffael malt in den vielen Madonnen seine Geliebte [Fornarina]<br />

17 Fritz Heinemann, Existenzphilosophie, lebendig oder tot?, Stuttgart 1954.


1966 Gartensinfonie<br />

in unvergänglicher Schönheit. Das Dogma der „unbefleckten<br />

Empfängnis“ wird einleuchtend <strong>aus</strong> dem Bestreben, die Blüte<br />

der Schönheit auch nach der Frucht zu erhalten. Betrachte ein<br />

von der Sonne beschienenes Blütenblatt einer roten Amaryl-<br />

lis durch eine gute Lupe: Du siehst da Gold und Diamanten für<br />

wenige Tage in feinstem Staube glänzen. Da wird der Wunsch<br />

lebendig, das Geheimnis dieser Schönheit über die Frucht hin-<br />

<strong>aus</strong> – deren Ziel die Blüte doch scheinbar ist – zu erhalten. In<br />

diesem Urgefühle wurzelt dieses Dogma, <strong>aus</strong> ihm entstanden<br />

die Madonnenbilder. Das alles hat mit dem „Verstande“ das al-<br />

lermindeste zu tun.<br />

Warum mir Karsten das Büchlein schickte? Weil ich ihn vor<br />

Jahren, als ich ihn das letzte Mal sah – es ist lange her – nach<br />

dieser Modephilosophie fragte, er mir damals keine Auskunft<br />

geben konnte und jetzt diesem Buche begegnend sich meiner<br />

Frage erinnerte. Er selbst gibt zu verstehen, daß er mit die-<br />

sen Sätzen nichts anzufangen weiß und meint, vielleicht gibt<br />

es diesen „Existentialismus“ überhaupt nicht. Ich finde das<br />

herrlich, die Nicht-Existenz einer Sache festzustellen, die ge-<br />

rade ihre „Existenz“ verkündet. Bemerkenswert bleibt der Zu-<br />

sammenhang dieser „Lehre“ mit Hegel, den einige politische<br />

Systeme als geistigen Vater betrachten. Mir wird das Büchlein<br />

wichtig, nicht der „Lehren“ wegen, die es verkündet, sondern<br />

wegen der Denkanstöße, die von ihm <strong>aus</strong>gehen. Und ich bin<br />

sehr froh darüber, ein Dokument dieser Gedankenspiele in der<br />

Hand zu haben.<br />

17. Mai<br />

Da ich in diesen Wochen einiges anstreichen will, besorgte<br />

ich gestern Farbe, die <strong>aus</strong>nahmsweise da war. Pinsel – gibt es<br />

nicht. Nur gut, daß ich da noch zwei alte habe und zur Not auch<br />

einen nicht weggeworfenen alten Rasierpinsel zum Instrument<br />

der Kunst adeln kann. Heb ja Deine alten Pinsel gut auf, es<br />

empfiehlt sich, diese in heißes Imi-Wasser zu bringen und gut<br />

<strong>aus</strong>zuwaschen. Sind sie bereits hart geworden, so laß sie ein<br />

paar Tage in Imi-Wasser sich erweichen und wasche sie zuletzt<br />

mit klarem Wasser <strong>aus</strong>. Dann kannst Du sie in einer Cellophan-<br />

tüte für spätere Verwendung aufheben. Es wird mit der allmäh-<br />

lichen Verknappung vieler Dinge immer toller.<br />

186 187<br />

18. Mai<br />

Die Tochter von Dr. Kröpp – die mit dem Landgerichtsdirek-<br />

tor verheiratet ist – will sich ein H<strong>aus</strong> bauen, im Glauben, daß<br />

sei billiger als mehr und mehr steigende Mieten zu zahlen. Nun<br />

soll ich ihr für den anzulegenden Garten einiges sagen. Garten<br />

kann eine Sinfonie sein, in der mancherlei Instrumente sich nach<br />

ihnen gemäßen Gesetzen zu einem schönen Ganzen zusammen-<br />

ordnen. Den Generalbaß muß man freilich kennen. Farben – For-<br />

men – Größen der Gestalten – Blütezeiten – Sonnen- oder Schat-<br />

tenliebe – Wasserbedürfnis oder Wunsch nach Trockenheit sind<br />

die Grundfaktoren, die man kennen möchte, um jeder Pflanze<br />

die Daseinsbedingungen zu geben, die sie allen andern vor-<br />

zieht. Da kann sich einer sehr <strong>aus</strong>führlich damit beschäftigen.<br />

20. Mai<br />

Leipzig bereitet für den Herbst eine Vorstellung von „F<strong>aus</strong>t“<br />

2. Teil vor. Dazu sollen die hiesigen Oberschüler von ihren be-<br />

rühmten Deutsch-Lehrern hingeführt werden, wie ich von Gott-<br />

fried Schlesier erfuhr. Da werden also diese Knaben mit einem<br />

Schlage verstehen, wozu Goethe sechzig Jahre Arbeit, Studium,<br />

Leben aufgebracht hat. Die Interpretation kann ich mir vorstel-<br />

len: F<strong>aus</strong>t (Goethe) endet als Wasserbauingenieur eines sozia-<br />

listischen Staates („Gemeindrang eilt, die Lücke zu verschlie-<br />

ßen“ 18 ). Der Individualismus – vertreten durch Philemon und<br />

18 F<strong>aus</strong>t II. Fünfter Akt. Großer Vorhof des Palasts.


1966 Krawall<br />

Baucis in ihrem Hüttchen unter den alten Linden – wird <strong>aus</strong>ge-<br />

rottet. Nur vergißt man, daß das der Teufel als Chef-Architekt<br />

der Unternehmung mit Eifer besorgt. Die Ironie nimmt man für<br />

Goethes letzten Weisheitsspruch und überhört, daß F<strong>aus</strong>t die Tat<br />

verdammt, die er als altersschwacher, von Not und Sorge heim-<br />

gesuchter Blinder nicht verhindern konnte. „Die Menschen sind<br />

im ganzen Leben blind, / Nun, F<strong>aus</strong>te, werde du’s am Ende!“ 19<br />

Deutlich genug für den, der lesen kann. Wer hier die Apotheose<br />

moderner Theorien vermutet, der irrt sich gründlich.<br />

25. Mai<br />

Was gehen uns die andern an? Mögen sie mit Geldbeutel,<br />

Naturferne, übersteigertem Selbstgefühl durch die Gegend fah-<br />

ren, reiten, laufen, hüpfen – das ist doch ganz ohne Wirkung.<br />

Und völlig gleichgiltig, wofür sie sich oder mich halten. Auch<br />

die Geldbeutel sind mir gleichgiltig. Was hilft der große Beu-<br />

tel – wenn die Wünsche noch größer sind? Und darauf kommt<br />

allein die praktische Einrichtung dieser armen Existenz an: auf<br />

die Vergleiche verzichten und eben den R<strong>aus</strong>ch der Oberflächli-<br />

chen nicht mitzumachen. Das Kritisieren reibt uns auf und hilft<br />

in keiner Weise. Das kleinste Naturgedicht von H. Hesse oder<br />

Goethe wiegt ganze Bibliotheken des Voltaireschen Wutgeheuls<br />

auf: „Die Canaille regiert“, na wenn schon. Es kommt nur dar-<br />

auf an, ob ich mich regieren lasse. Aber Voltaire hätte selber<br />

gerne geherrscht. Verdrängte Complexe heulen da.<br />

1. Juni<br />

*** muß seine „Diplomarbeit“ (große Worte) nicht wie er<br />

geplant über die Talsperre anfertigen: geographische oder ge-<br />

ologische Betrachtungen sind unnötig. Er soll über die Papier-<br />

fabrikation in Kriebstein 20 in ökonomischer Hinsicht etwas zu-<br />

19 F<strong>aus</strong>t II. Fünfter Akt. Mitternacht.<br />

20 S. auch Brief vom 13. März 1963.<br />

sammenstellen. Ich hatte mir geschworen, nie wieder bei ei-<br />

ner Studentenarbeit ein Wort zu sagen. Nun hab ich ihm doch<br />

ein paar Bücher bereit gestellt. Das Archiv der Fabrik ist 1945<br />

vernichtet worden bei der Ausplünderung. Jetzt sind auch die<br />

neuen Fabrikleiter in Verlegenheit. Das Gedächtnis einstiger<br />

Größe wurde planmäßig zerstört. – Ich bin schon still.<br />

188 189<br />

6. Juni<br />

Auf der Straße wollte mir ein Russe seine Armbanduhr ver-<br />

kaufen, malte mit dem Finger eine 80 auf den Fußweg, sagte<br />

wie zur Empfehlung von der Uhr „russisch“ – sonst ohne<br />

Deutsch. Wat es nich allens jibt. Wer weiß, wo er sie her hatte!<br />

Ich beobachtete dann, wie er das noch mit verschiedenen an-<br />

deren versuchte. Den könnte ich nur bedauern, der auf ein so<br />

dunkles Geschäft einginge. Am Ende ist das Ding vielleicht so-<br />

gar kaputt, „Maschinist tot“. Man hätte ihn nach dem Ausweise<br />

fragen sollen; heißt der nicht propúsk? Das mußt Du wissen.<br />

25. Juni<br />

Ein gestriges Kurzgewitter hat die Wärme so vertrieben,<br />

daß man sie sich zurückwünscht.<br />

Daß man „mit Getöse“ die Mülltonnen füllt – das darf doch<br />

nicht wundern. „Krawall“ ist der Beweis, daß einer lebt, man<br />

fühlt sich als Ursache einer Wirkung, man verscheucht die bö-<br />

sen Geister, man kann sich im Zertrümmern ergehen. Eine sin-<br />

gende oder gröhlende Kolonne will sich nicht etwa musikalisch<br />

ergehen, sondern eben akustische Existenzbeweise von sich<br />

geben. Böllerschießen, Kanonenkrachen, Polterabend ist ganz<br />

dasselbe, Schüsse über das Grab, Schlachtgebrüll (schon vor<br />

Troja), Kommersgesang, Radau in Schulen. „Wenn das Gewölbe<br />

widerhallt, genießt man erst des Basses Grundgewalt!“ 21 Also<br />

21 F<strong>aus</strong>t I. Auerbachs Keller in Leipzig: „Wenn das Gewölbe widerschallt, / Fühlt man<br />

erst recht des Basses Grundgewalt.“


1966 Amaryllis, Alpenveilchen<br />

ein Genuß ist bei der Sache, Selbstgenuß. Da hilft nichts als<br />

eben Mitmachen. Der bloße Zuhörer ist freilich enttäuscht: die<br />

Harmonie „an sich“ ist unerfreulich – nur die Aktivität erhöht<br />

die Daseinsfreude. Ich hätte oft große Lust, mich daran zu be-<br />

teiligen! Das ist keine Erkrankung, sondern eine normale Äuße-<br />

rung schöpferischen Grolles. Aber wer versteht das?<br />

21. Juli<br />

Hat man das mit dem Lager 22 vorher gesagt? Da wäre doch<br />

ein Einsatz mit der Geige vorzuziehen gewesen. Denn das wird<br />

sie [die Tochter] jetzt kaum vermeiden können. Der Wind in<br />

dieser Richtung beginnt schärfer zu wehen – und so wenig wie<br />

möglich aufzufallen muß jetzt hingenommen werden. Man weiß<br />

nie vorher, wozu solche Sachen angestellt werden; aber eins ist<br />

sicher, daß es sich um Fallen handelt, die Leute sich darin sel-<br />

ber fangen zu lassen, die mit irgendeinem Vorwande sich fern-<br />

halten wollen. Ich kann – so sehr ich das bedaure – nur raten,<br />

in den sauren Apfel zu beißen und den Betrieb zu ertragen.<br />

Wahrscheinlich lauert man nur darauf, daß Einzelne sich durch<br />

ihr Fernbleiben bemerkbar machen, die man dann mit einer<br />

scheinbaren Begründung abweisen kann. Auch für ein etwai-<br />

ges Stipendium fällt das ins Gewicht, da das erste Wort in die-<br />

ser Kommission der politische Rektor hat. Das ist bedauerlich,<br />

aber wir können daran gar nichts ändern; Widerstand ist in die-<br />

sem Falle nicht nur zwecklos, sondern dumm und unvorsichtig,<br />

kurzsichtig. Und wenn schon dabei Schießübungen vorkämen,<br />

wäre auch das ohne Bedenken mitzumachen. Es ist nie vor<strong>aus</strong>-<br />

zusehen, wozu etwas Gelerntes einmal sehr gut sein kann. Ich<br />

denke hier durch<strong>aus</strong> realistisch.<br />

22 Vermutlich ist ein Lager der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) gemeint.<br />

Diese Lager dienten der vormilitärischen Ausbildung der Schüler in der DDR.<br />

190 191<br />

27. Juli<br />

Heute holte ich mir erstmal einen Eimer Erde und setzte ei-<br />

nige Amarylliszwiebeln in neuen Boden. Leider kann ich kein<br />

Glash<strong>aus</strong> bauen, die Brutzwiebeln so sachgemäß als möglich<br />

weiter zu kultivieren. Und in meiner Stube bin ich bereits „Volk<br />

ohne Raum“ 23 . Zwei kleine Alpenveilchen, die in einem Winkel<br />

ohne einen Tropfen Wasser eingezogen gelebt hatten, zeigen<br />

neue kleine Ansätze zu Blättern und Knospen. Sie wurden auch<br />

zur Belohnung in neue Erde gebracht – die alte war staubtro-<br />

cken – und nach Monaten erstmals gegossen. Vielleicht geden-<br />

ken sie doch, im Spätherbst oder Winter zu blühen. Eine Ama-<br />

ryllis ließ es sich einfallen, jetzt zu blühen. Mit Brutzwiebeln<br />

könnte ich handeln. Aber die meisten Leute möchten eine, die<br />

sofort blüht; Geduld, sie in mehreren Jahren heranzuziehen, hat<br />

niemand. Deshalb sind auch die fertigen Pflanzen dann im Ver-<br />

kauf ziemlich teuer. Die Gärtnerei muß sich eine mehrjährige Ar-<br />

beit – Platzanspruch, Frostfreiheit, Umsetzen, Gießen – bezah-<br />

len lassen, das ist doch einzusehen.<br />

Das <strong>aus</strong> dem Seiffener Senker von 5 cm Länge erwachsene<br />

Glockenblumenstöckchen hat eine Unmenge kleiner Knospen<br />

angesetzt. Die Pflanze stammt <strong>aus</strong> den Ligurischen Alpen am<br />

Mittelmeer, etwas östlich der berühmten Riviera. In diesem<br />

Klima blüht sie wahrscheinlich recht üppig in Polstern im Stein-<br />

gerölle. Hier hat sie Kakteen <strong>aus</strong> Mexiko, Amaryllis <strong>aus</strong> Süda-<br />

merika als Nachbarn. Diese internationale Versammlung ersetzt<br />

weite Reisen in ferne Länder, die wir sowieso nicht unterneh-<br />

men können. „Bleibe im Lande und nähre dich kümmerlich.“ 24<br />

23 Ironische Anspielung auf den im Nationalsozialismus zum Schlagwort gewordenen<br />

Titel des 1926 erschienenen Romans von Hans Grimm.<br />

24 Ironisch nach Psalm 37,3: „... bleibe im Lande und nähre dich redlich.“


1966 Hesse-Sammlung<br />

19. August<br />

Wo ist der Grund für meine Unfähigkeit zu suchen? Darin,<br />

daß ich von Jugend auf einer idealistischen Bescheidenheit ver-<br />

fiel, statt in einem gesunden und handfesten Materialismus<br />

meine Fähigkeiten zu Gelde zu machen.<br />

22. August<br />

Die <strong>aus</strong> Ostasien stammenden Buddleia (auch Buddlea ge-<br />

schrieben) gehört zur Verwandtschaft der Strychnosgewächse,<br />

denen das Strychnin zu verdanken ist. Diese Sträucher wären<br />

in Zoologischen Gärten am Platze, um den Besuchern lebende<br />

Schmetterlinge mühelos vorzuführen. Die schönsten Sträucher<br />

dieser Art sah ich vor dreißig Jahren im Botanischen Garten von<br />

Nymphenburg bei München.<br />

25. August<br />

Heute besuchte mich einer, der 1915 zu mir in die Schule<br />

ging und seit etwa vierzig Jahren in Spanien lebt. Was er zu<br />

erzählen hatte, klang recht anders als das, was hier gelegent-<br />

lich in Zeitungen steht. Es gibt demnach noch Länder, wo Men-<br />

schen leben und nicht in beständiger Angst sich hinfristen. Er<br />

ist von Beruf Automonteur, kann aber schwärmen von Bildern<br />

Goyas, Grecos, Tizians, die er im Prado in Madrid gesehen, von<br />

Picasso, von Casals, von guter Musik, von seltenen Büchern,<br />

hat eine recht klare Kenntnis der spanischen Geschichte und<br />

des Volkscharakters. Ich staune, wie sich ein Mensch in einem<br />

gesunden Klima entwickelt.<br />

26. August<br />

Ich erhielt ein Päckel 25 mit folgenden Hesse-Sachen:<br />

1) „Piktors Verwandlungen“<br />

25 Geschenk von Gerda Baumann <strong>aus</strong> Agra (Schweiz), s. auch Brief vom 2./3. Feb-<br />

ruar 1964.<br />

2) „Hermann Hesse zum Gedächtnis“ (enthaltend die letzten<br />

Gedichte und den Bericht vom Begräbnis)<br />

3) „Besuch bei Hermann Hesse. Bilder <strong>aus</strong> Montagnola“ von<br />

Martin Hesse<br />

4) Hermann Hesse, „Gedichte des Malers“<br />

5) Hermann Hesse, „Abendwolken“<br />

6) Hermann Hesse, „Nächtliche Spiele“<br />

7) Hermann Hesse, „Wache Nacht“ (Einzeldruck des Gedichtes)<br />

8) Einige Zeitungsaufsätze über Kokoschka<br />

Uneröffnet sind diese Drucksachen wohlverschnürt hier an-<br />

gekommen. In so dichter Verschnürung würde hier von der Post<br />

eine Drucksache gar nicht angenommen. Einiges davon hast Du<br />

selbst in Deiner Hesse-Sammlung. Die beiden Bildhefte dürf-<br />

ten Dir aber neu sein. Du wirst sie Dir ansehen, sobald Du mal<br />

die Schwelle meiner Kl<strong>aus</strong>e überschreitest. Die von dem Sohne<br />

Martin Hesse aufgenommenen Bilder zeigen, daß er von der<br />

Kunst der Photographie mehr versteht als ein durchschnittli-<br />

cher Amateur. Vielleicht ist er sogar Porträt-Photograph von Be-<br />

ruf; denn danach sehen die Bilder <strong>aus</strong>. Da wurden Linsen und<br />

Negativmaterial benutzt, die Fachleute anzuwenden pflegen.<br />

Das eine Heft „Besuch bei Hermann Hesse“ ist bereits im Juni<br />

1957 gedruckt, das „Gedächtnisbuch“ 1962.<br />

Die reine Alpenluft auf diesen Bildern steht in krassem Ge-<br />

gensatz zu der, die diese Nacht sich über <strong>Waldheim</strong> wälzte, of-<br />

fenbar direkt von Böhlen und Borna kommend. So ein inten-<br />

siver Gestank von verschwelenden Kohlen ist lange nicht be-<br />

merkbar gewesen, das reinste Gift.<br />

2. September<br />

Gestern las ich wieder mal in den „<strong>Briefe</strong>n deutscher Klassi-<br />

ker“, die 1941 gedruckt sind. Die Einleitung [von Albert Haueis],<br />

in großartiger Stilisierung, wirkt heute sehr seltsam, wenn man<br />

bedenkt, daß zur Zeit ihres Erscheinens die deutschen Truppen<br />

192 193


1966 Die Häkelnadel<br />

die Welt zerstörten und in den Konzentrationslagern T<strong>aus</strong>ende<br />

als Rauch <strong>aus</strong> den Essen der Verbrennungsanlagen aufstiegen.<br />

In dem Buche ist auch der „Ermahnungsbrief“ 26 Klopstocks an<br />

Goethe nach Weimar und Goethes Antwort 27 abgedruckt. Man<br />

las sonst meist nur den Brief Goethes. Das Buch behält trotz<br />

der völlig weltfremden Einleitung seinen Wert. Vielleicht hätte<br />

es damals ohne dieses Vorwort gar nicht gedruckt werden kön-<br />

nen. Es ist in den Dieterich-Ausgaben erschienen.<br />

3. September<br />

Sofort nach Empfang Deines <strong>Briefe</strong>s ging ich zu Schunke, die<br />

gewünschte Nadel zu bekommen – nichts. Dann zu Frau May. Er-<br />

gebnis: Es gibt nicht mal Stricknadeln. Dann in das früher Bau-<br />

mannsche, jetzt HO-Geschäft. Da gab es nur diese beiliegende<br />

Nadel. Ob es die gewünschte ist, bezweifle ich noch. Es bleibt<br />

dann nur übrig, nach Euren möglichst genauen Angaben (Haken-<br />

größe, Länge, Stärke der Nadel) so ein Ding anzufertigen.<br />

6. September<br />

Daß die Häkelnadel brauchbar ist, freut mich. Ich hätte<br />

sonst eine herstellen müssen <strong>aus</strong> Corneliuskirsche. Odysseus<br />

schwang eine Lanze <strong>aus</strong> diesem Holze. Romulus stieß eine sol-<br />

che Lanze auf dem Palatinischen Hügel in die Erde; er hatte da-<br />

mit die Grenze der zu gründenden Stadt Rom bezeichnet. Noch<br />

bis in die Zeiten des Caligula stand dort der <strong>aus</strong> jener Lanze er-<br />

wachsene Cornelkirschenbaum. Das rötlich-braune Holz ist sehr<br />

hart; cornus ist = Horn; es könnte sich – gut poliert – zu einer<br />

solchen Nadel eignen. Vielleicht ist auch eine <strong>aus</strong> Plaste her-<br />

stellbar, aber man wird leichter einen Ast Corneliuskirsche als<br />

ein passendes Stück Plaste bekommen können.<br />

26 Brief vom 8. Mai 1776.<br />

27 Brief vom 21. Mai 1776.<br />

16. September<br />

Gestern begrüßte mich einer, der als Schüler des 7. u. 8.<br />

Schuljahres so 1923 in einer Klasse bei mir war. Vorher hatte<br />

ich die hervorragende Klasse entlassen, in der Schlesier Hans<br />

– der Vater von Konrad und Bernhard – gewesen war. Bei der<br />

Neuzuteilung von Klassen übernahm ich nach dieser erstklas-<br />

sigen Gesellschaft eine sogenannte C-Klasse. Da waren damals<br />

die Kinder beisammen, die im Durchschnitt die Censur drei hat-<br />

ten und die selten einer nehmen mochte. Und gerade diese war<br />

als große Rüpelklasse gefürchtet. Da nahm ich sie, schon um<br />

die Eifersucht der Kollegen zu dämpfen, die meine Erfolge in<br />

der vorhergehenden 1A mit Verdruß gesehen hatten. Der mich<br />

gestern ansprechende, heute Tiefbauarbeiter, erinnerte sich mit<br />

großer Freude jener Rabaukenzeit, führte die verschiedenen<br />

Kameraden an, die dabei waren, brachte recht genaue Unter-<br />

richtserlebnisse vor, physikalische Versuche, Gartenarbeit, Wan-<br />

derungen und hat nun vor, mit einigen Überbliebenen dieser<br />

Zeit einen „Wiedersehensabend“ mit mir anzustellen. So etwas<br />

kann einem nach 43 Jahren begegnen.<br />

20. September<br />

Es ist doch furchtbar, diese systematische Rückkehr zu den<br />

primitiven Zuständen der Urzeit mit der Devise: Jeder macht al-<br />

les selber, was er braucht, oder er verzichtet überhaupt. Aber<br />

wir stehen eben im 27. Jahre des zweiten Weltkrieges, das darf<br />

man nicht vergessen – aber auch nicht erzählen.<br />

21. September<br />

Ich bin dabei, einen alten Duden Deines Vaters im Einbande<br />

zu erneuern. Ihm ist das Buch recht wertvoll, als Geschenk ei-<br />

nes längst vergangenen Patienten. Da muß man ihm schon die-<br />

sen Gefallen tun. Das ist so ein Fall für den „Philosophieleh-<br />

rer“ der „Ober“-Schule: hier ist das Materielle nämlich völlig<br />

194 195


1966 A, B und C-Bomben<br />

belanglos (= Null), das Ideelle jedoch der einzige Wert. So wie<br />

etwa der materielle Wert der Mondstrahlen nichtig ist, vergli-<br />

chen mit den vielen „Liedern an den Mond“ in allen Literaturen<br />

– herab bis zu den Nachtgesängen der Kater. […]<br />

Was alles in einem Jahrhundert gleichzeitig lebte –<br />

1815–1898 Bismarck<br />

1813–1883 Rich. Wagner<br />

1818–1897 Jacob Burckhardt<br />

1818–1883 Karl Marx<br />

1844–1900 Fr. Nietzsche<br />

– alles Leute, die ihre Zeit oder die folgende formten, instru-<br />

mentierten, betrachteten, einander widersprachen. Und das Er-<br />

gebnis löffeln wir <strong>aus</strong> – ein Gericht giftiger Pilze, ohne zu wis-<br />

sen, wer und was alles dabei zu Grunde gehen wird.<br />

22. September<br />

Zur Liste der für ein historisches Buch zu ordnenden Figu-<br />

ren, die ich Dir wohl gestern nannte, wären ergänzend anzufü-<br />

gen: Hitler als Vollstrecker der geschichtlichen Rache und der<br />

späte (bereits kranke) Nietzsche, der den Machthabern von<br />

1933–1945 das gute Gewissen zu bösen Taten verschaffte. Lei-<br />

der ist diese Überschau in keinem Lande zu drucken, weil in<br />

jedem Leute sitzen, die durch das eine oder das andere Bild<br />

in ihren heiligen Gefühlen tief verletzt werden. Denn es gibt<br />

Schwärmer für Bismarck, für die Hochfinanz, für die Großindus-<br />

trie, für Richard Wagner, für Karl Marx, für Hitler, für Nietzsche<br />

– nur für Jacob Burckhardt werden es sehr wenige sein – und<br />

ebenso viele Gegner der einzelnen Gestalten. Bismarcks Teu-<br />

felei spricht sich bereits in einem seiner Lieblingssprüche <strong>aus</strong>:<br />

„flectere si nequeo superos, Acheronta movebo“, kann ich die<br />

Götter nicht beugen, ruf ich Dämonen herbei. Diese Beschwö-<br />

rung der Unterwelt vollendete sich 1945 mit der Zerstörung<br />

Deutschlands, die täglich fortgesetzt wird. Furchtbar ist es, das<br />

zu durchschauen und zugleich zu bemerken, daß auf dem Bay-<br />

reuther Capitol Scharen von Gänsen schnattern, die nichts be-<br />

greifen. – Wie hoch steht Mozart über diesem Getümmel von<br />

Schurken und Narren. Ein mit Jacob Burckhardt befreundeter<br />

Architekt und Kunsthistoriker sagt, er könne den „Don Juan“<br />

nur mit der Peterskirche in Rom vergleichen 28 (Baron von Gey-<br />

196 197<br />

müller).<br />

Entschuldige dieses – ich hab hier niemand, mit dem ich<br />

darüber reden könnte.<br />

5. Oktober<br />

Gestern hörte ich, daß die Kinder im ersten Monat des ers-<br />

ten Schuljahres über A, B und C-Bomben belehrt worden seien!<br />

Nur so weiter!<br />

28 Brief vom 8. April 1897. In: Jakob Burckhardt, Briefwechsel mit Heinrich von Gey-<br />

müller, München 1914, S. 144.


198 199<br />

1967<br />

7305 <strong>Waldheim</strong> i. Sa., den 8. Januar<br />

Am 27. Januar steht mir eine Fahrt nach Dresden bevor, die<br />

ich kaum abschlagen kann. Bis dahin hoffe ich von Dir noch<br />

etwas über diese Transformationsgrammatik zu erfahren, um<br />

vielleicht in der Landesbibliothek Näheres ermitteln zu kön-<br />

nen. Man müßte doch her<strong>aus</strong>bekommen, ob es sich dabei nur<br />

um eine andere Klassifikationsmethode bisheriger grammati-<br />

scher Festsetzungen handelt oder um einen Versuch, die Ge-<br />

heimnisse der Sprachbildung aufzuhellen, die Vorgänge der<br />

Projektion von Gedanken, Gefühlen, Willensregungen in akus-<br />

tische Erscheinungen zu klären. Dies würde ein bedeutendes<br />

Wissen vor<strong>aus</strong>setzen, alle Hintergründe aufzuhellen, <strong>aus</strong> de-<br />

nen im Laufe von vielleicht hundertt<strong>aus</strong>end Jahren eine heu-<br />

tige Kultursprache sich entwickelte. Die Schulgrammatik ist ein<br />

bloßes Kochbuch mit Rezepten, deren ernährungsphysiologi-<br />

sche und chemische Erklärung ganz im Dunklen bleibt. Und ob<br />

eine vollständige Klärung der damit gegebenen Probleme dem<br />

menschlichen Verstande überhaupt gelingen kann, ist zweifel-<br />

haft. Auf höchster Stufe ist der sprachliche Ausdruck der Musik<br />

verwandt, die wohl auch <strong>aus</strong> geistigen Vorgängen hervorgeht,<br />

zu denen die Musiktheorie nicht ganz emporsteigt.


1967 Apoll in der Maske des Dionys<br />

12. Januar<br />

Heute steht als Schlagzeile in der Zeitung: „Kunst gedeiht<br />

nur im Kampf“ – dann ist also Raffael und Leonardo, Dürer und<br />

Holbein, Goethe nicht zur Kunst zu rechnen. Oder Mozart! Bei<br />

diesem wäre also der Kampf um die paar Pfennige die Vor<strong>aus</strong>-<br />

setzung seiner Meisterwerke. Seine Notlage war also kunstför-<br />

dernd. Die Kn<strong>aus</strong>rigkeit des Kaisers in Wien ist dann pädago-<br />

gisch gerechtfertigter Weitblick und nicht spießerhafte Spar-<br />

samkeit gewesen. Es ist doch erstaunlich, mit welcher Frechheit<br />

dieser Kulturminister Gysi 1 in die Gegend faselt.<br />

4. April<br />

„The proletarians have nothing to lose but their chains. They<br />

have a world to win. / Working men of all countries, unite!“ 2<br />

Da staunst Du! Ja, da darfst Du nicht solche Aufträge geben.<br />

Aus dem „Progress Publishers Moscow“ hab ich hier das „Ma-<br />

nifesto of the Communist Party“! Wann willst Du dies im Un-<br />

terricht verwenden? Ich kann dieses Exemplar Dir sofort schi-<br />

cken, und ich könnte mir denken, daß Du soviel Exemplare als<br />

nötig für die Kursteilnehmer erhalten kannst – das Stück kos-<br />

tet nur 0,80 M, obwohl direkt <strong>aus</strong> Moskau, wenn die nötige An-<br />

zahl in der Russischen Buchhandlung Ecke Grimmaische und<br />

Petersstraße bestellt wird. Es ist sehr sauber auf gutem Pa-<br />

pier gedruckt.<br />

Hemmungen bei Schülern lassen sich vielleicht mit folgen-<br />

der Überlegung überwinden:<br />

Ein Wort, das nur ein Hauch des Mundes ist, vermag alle Be-<br />

wohner der Welt zu erschüttern.<br />

Merken!<br />

1. Die Weisheiten des Confuzius hielten Millionen Chinesen in<br />

Bann.<br />

1 Kl<strong>aus</strong> Gysi (1912–1999), 1966–1973 Kulturminister der DDR.<br />

2. Buddhas Reden beherrschen noch heute Südasien.<br />

3. Die Bibel hat in fast 2000 Jahren auf der ganzen Welt Leser<br />

und Hörer.<br />

4. Der arabische Koran Mohammeds gilt in weiten Gebieten Af-<br />

rikas und Asiens.<br />

5. Das Kommunistische Manifest zwingt alle, sich mit ihm zu<br />

beschäftigen, obwohl es erst 120 Jahre alt ist.<br />

Es zwingt auch die Gegner, sich damit zu befassen.<br />

Alle diese Dokumente waren nicht etwa „Unterhaltungslek-<br />

türe“, sondern sie waren und sind Instrumente der Weltverän-<br />

derung, ganz gleich ob Millionen anderer Meinung sind.<br />

200 201<br />

19. Juni<br />

„Statt vorzuspielen“ – das erinnert mich an den Prof. Ja-<br />

ques-Dalcroze 2 , einen französischen Schweizer, dem die Hel-<br />

lerauer Werkstätten eine geräumige Tanzschule mit großem<br />

Saale gebaut hatten und dessen Sachen ich mal in Montreux<br />

sah: Herein trat ein „älterer Herr“ so Ende Fünfzig mit leicht er-<br />

grautem Haar, ebensolchem Kinnbart und rundlichem Bauche,<br />

Würstchenfinger – und hielt einen recht guten Vortrag, setzte<br />

sich an den Flügel, und herein kamen seine Schülerinnen, die<br />

sein wechselndes Spiel mit den köstlichsten Tanzfiguren in das<br />

Optische übersetzten, hier und da ein kurzer Zuruf; hätte die-<br />

ser Zauberer hinter einem Vorhang gesessen, wäre niemand da<br />

gewesen, der sich solch eine behäbige Figur als den Schöpfer<br />

dieser graziösen Bewegungen vorgestellt hätte: Das war Apoll<br />

in der Maske des Dionys.<br />

2 Der Musikerzieher und Komponist Émile Jaques-Dalcroze (1865–1950) lehrte seine<br />

Methode der rhythmisch-musikalischen Erziehung von 1910–1914 vor einem gro-<br />

ßen internationalen Schülerkreis an der speziell für ihn erbauten Bildungsanstalt<br />

für Musik und Rhythmus in Dresden-Hellerau. 1915, nach Ausbruch des 1. Welt-<br />

kriegs, gründete er das Jaques-Dalcroze-Institut in Genf. <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> erlebte ihn<br />

auf der Zweiten Internationalen Erziehungskonferenz 1923 in Montreux.


1967 Spießer im Westen wie im Osten<br />

20. Juni<br />

Am Nachmittag traf mich Hermann (ehem. Rechtsanwalt)<br />

eifrig fragend, wo in der Literatur etwas von „fetten Männern“<br />

steht! Er meinte natürlich Shakespeare im „Julius Cäsar“ I. Akt<br />

2. Scene: „Let me have men about me that are fat…“ – „Ja<br />

aber woher hat das Shakespeare?“ – „Aus Plutarch, wo das fast<br />

ebenso lautet.“ – „Wieso kannte Shakespeare den Plutarch?“<br />

Die Leute haben keine Ahnung. Er wollte das wissen, weil eine<br />

ihm bekannte junge Ärztin, hier am Krankenh<strong>aus</strong>e beschäftigt,<br />

eine Doktorarbeit über „Fettsucht“ zu schreiben habe und man<br />

für die Einleitung den nur dunkel geahnten Ausspruch genau<br />

brauche, da doch bei einer Doktorarbeit „alles mit Quellenan-<br />

gaben belegt sein müsse“. Ich suchte also meinen Plutarch,<br />

in dem ich nach zwei Minuten die Stelle fand. Dort stehen die<br />

Sätze: „Was haltet Ihr vom Cassius. Mit gefällt er wegen seiner<br />

blassen Farbe gar nicht. – Ich fürchte mich nicht vor den Fetten<br />

und Gekräuselten, sondern vor den Bleichen und Hagern.“ 3 Das<br />

ist die historische Quelle für Shakespeare, der das mit fat und<br />

sleek-headed (mit „Schniegelköpfen“) wiedergibt.<br />

Es wäre eine ganz interessante Arbeit, solche Themen wie<br />

die pädagogische Wirkung des Plutarch – die sehr bedeutend<br />

war – zu bearbeiten. Es gibt deren noch mehr: Homer – Bi-<br />

bel – Aristoteles – Plato – Dante u.s.w. Noch vor 100 Jahren<br />

gab es in Venedig Gondelführer, die ganze Gesänge <strong>aus</strong> Dante<br />

oder Sonette des Petrarca rezitierten. So hat Plutarch durch<br />

Jahrhunderte gewirkt. Eine Zeit lang spielte Goethe bis etwa<br />

in den Anfang dieses Jahrhunderts diese Rolle, bis sich dann<br />

der „Bildungsjahrmarkt“ etablierte, der T<strong>aus</strong>ende Dinge anbot,<br />

viele ohne Nährwert, zum schnellen Verbrauch, um jeweils das<br />

„Neuste“ der raschen Abnutzung zuzuführen. Und manches<br />

massenhaft Verbreitete, wie etwa Hitler „Mein Kampf“, stand<br />

3 Lebensbeschreibungen. Caesar.<br />

in Bücherschränken ungelesen, vor oder neben Cigarrenkisten<br />

und Likörflaschen.<br />

202 203<br />

21. Juli<br />

Berichten soll ich Dir über das Treffen? Ja, schön. [...] Ge-<br />

samteindruck: kleinbürgerlicher Gesichtskreis, sehr kleinbür-<br />

gerlich, spießerhaft. Das Zentralgestirn *** erwähnte als Kenn-<br />

zeichen ungesunder westlicher Zustände z.B., daß eine Reine-<br />

machfrau nach Mallorka reist. Das ist doch spießig, wen geht<br />

es etwas an, wofür jemand das reichlich verdiente Geld wie-<br />

der <strong>aus</strong>gibt! Daß so ein pensionierter *** im Monat 1190 Mark<br />

Rente bezieht, wurde nicht als „ungesund“ empfunden. „Ich<br />

hab im letzten Jahre allein 32 Pakete geschickt.“ (Erwähnens-<br />

wert!) – Für die klugen Überlegungen der vom weitblickenden<br />

Egoismus gelenkten Maßnahmen der amerikanischen Wirt-<br />

schaftsführer mußte ich erst einigen – wenigen – die Augen öff-<br />

nen. Daß man durch die raffinierte Erziehung zum Konsumenten<br />

den hochbezahlten Arbeitern den Überschuß geschickt wieder<br />

abnimmt, um die Rotation des Kapitals zu beschleunigen – wo-<br />

mit Riesengewinne verbunden sind, daß man die Entdeckun-<br />

gen von Karl Marx zum großen eigenen Vorteil anzuwenden<br />

versteht – davon haben diese Leute keine Ahnung. Die Haupt-<br />

sache war wohl eine recht opulente Gasterei, die den Westlern<br />

einen reichlich falschen Eindruck geben mußte. Mein alter Satz:<br />

„Was nicht gut ist zum Leben, ist gut zur Erkenntnis“ hat sich<br />

wieder mal bestätigt. Das ist der etwas dürftige Gewinn dieser<br />

Begegnung für mich, und ich hätte besser getan, Dich zum Bus<br />

zu begleiten. Aber nun ist es einmal geschehen, und ich sah,<br />

mit wie wenig Weisheit man auch <strong>aus</strong>kommen kann.<br />

23. Juli<br />

Daß es viele solche Spießer gibt – im Westen wie im Osten<br />

– ist nicht zu bezweifeln, aber, und dieses Aber will bedacht


1967<br />

sein, es wäre höchst verkehrt, alle in einen Topf zu werfen und<br />

zu sagen: So sind die Leute im Westen! Durch<strong>aus</strong> nicht alle ha-<br />

ben dies bescheidene geistige Format.<br />

31. Juli<br />

Heute besuchte mich Christian mit einem Theologiestuden-<br />

ten <strong>aus</strong> Tübingen. „Fahr hin, Original, in deiner Pracht.“ 4 Auch<br />

hier hat Goethe schon vor fast 200 Jahren Richtiges gesehen.<br />

Der Junge, der den Berg des Lebens vor sich sieht, muß wohl<br />

im Hinansteigen andre Gedanken haben als der Alte, der den<br />

Gipfel überwand und Dinge rundum sah, die dem Knaben erst<br />

noch bevorstehen. Daß auch innerhalb der mathematisch zu<br />

bewältigenden, berechenbaren Wirklichkeit Kräfte wirken, die<br />

sich jeder Berechnung entziehen, ist diesen Leuten erst noch<br />

beizubringen. Das ist durch Belehrung kaum möglich, die Dä-<br />

monen h<strong>aus</strong>en offenbar unterhalb der Hirnrinde, auf der sich<br />

der Intellekt angesiedelt hat. Der weiß oft nicht, daß seine<br />

scheinbare Logik von den Dämonen gesteuert wird, die in ei-<br />

ner anderen Dimension zu H<strong>aus</strong>e sind. Der wird einen sonder-<br />

baren Begriff von mir mitgenommen haben. […]<br />

Interessant erschien an dem Studenten die Undankbarkeit<br />

gegen Erhard, der in den Jahren nach dem Kriege das westliche<br />

Wirtschaftswunder herbeigezaubert hat, <strong>aus</strong> einem besiegten,<br />

schwer zerstörten Lande einen Wohlfahrtsstaat aufzubauen. Er<br />

ist doch daran völlig unschuldig, daß z.B. durch die zuneh-<br />

mende Verbreitung der Ölheizung – wobei vor allem die Ame-<br />

rikaner ihr Öl billiger verkaufen als die <strong>aus</strong> großen Tiefen zu<br />

holende Ruhrkohle angeboten werden kann – der Abbau von<br />

Kohle verringert werden muß. So etwas ist ebenso unvermeid-<br />

lich wie ein Erdbeben, ein Hochwasser, eine Wetterkatastrophe.<br />

Selbst Leute, die sich als sogenannte „Akademiker“ etwas ein-<br />

4 F<strong>aus</strong>t II. Zweiter Akt. Hochgewölbtes enges gotisches Zimmer.<br />

bilden, scheinen oft im Denken ungeübt und staunen, wenn<br />

man ihnen Zusammenhänge zeigt, die sie nicht sahen.<br />

1. August<br />

Am Nachmittag kamen 15 Säcke Hartholzabschnitte durch<br />

Frau Schlesier(-R<strong>aus</strong>chenbach). Nun müssen mal die Kohlen er-<br />

ledigt werden, das Hauptübel des Jahres. Na, auch dieses wird<br />

ertragen werden, wie manches andre Übel. Warum ich mir nicht<br />

abends im Ratskeller eine Flasche einfülle?<br />

3. August<br />

Gestern abend gab es hier ein sehr blitzreiches Gewitter,<br />

leider mit wenig Regen. Offenbar erhitzten die hunderte von<br />

Blitzen die Luft oben so stark, daß die sich bildenden Regen-<br />

tropfen rasch wieder verdampfen mußten, da ein Blitz so etwa<br />

3000 Grad Hitze verschwendet. So ein Gewitter könnte man als<br />

Stromrechnung überhaupt nicht bezahlen. Da kostet ein Blitz<br />

etwa die Summe, die man in zwanzig Jahren an das Werk zu<br />

zahlen hat für den häuslichen Stromverbrauch. So eine Ver-<br />

schwendung erlaubt sich die Natur. Da jeden Tag im Jahre<br />

schätzungsweise vierzigt<strong>aus</strong>end Gewitter rund um den Erdball<br />

sich abspielen, könnte man Milliardär werden, wenn man sie<br />

nutzbar verkaufen könnte! Ganz abgesehen von den Beträgen,<br />

die von den Feuerversicherungen gespart würden.<br />

11. August<br />

Was ein Blitz kostet<br />

Alles ist so umständlich: Kartoffeln werden in einem Laden<br />

am Niedermarkte <strong>aus</strong>gegeben; du mußt sie aber vorher in ei-<br />

nem andern gegen Quittung bezahlen. Für dieses Wertpapier<br />

bekommst du dann im eigentlichen Kartoffelladen die Knollen.<br />

Brot im Konsum – Bäcker haben geschlossen – liegt in Cello-<br />

phantüte da, diese wird an der Kasse abgezogen und zurück-<br />

behalten. Am Postschalter ewiges Warten, weil die Briefmarken-<br />

204 205


1967 Buchhändler Langner<br />

sammler viel Zeit brauchen, <strong>aus</strong> dem reichhaltigen Angebot der<br />

bunten Papierschnitzel zu wählen. Telephonieren nach Döbeln<br />

ist am Schalter zu bestellen, dann muß man sich beeilen, in<br />

der Zelle den Anschluß nicht zu verpassen. Will man dann den<br />

Postminister mit einem Citat <strong>aus</strong> Goetz von Berlichingen begrü-<br />

ßen, ist der im Urlaub. (Da heißt es „im“, nicht am!)<br />

11. Oktober<br />

Raten möchte ich, sich in dem Gewi-Betrieb recht gescheit<br />

zu verhalten. So sehr ich die Haltung der Teilnehmer verstehe,<br />

es führt nur zur Selbstbeschädigung sich „heldenhaft“ zu be-<br />

nehmen, indem man da durch Widerstand auffällt. Hier gilt<br />

ganz besonders das „Bene vixit, qui bene latuit“ [Der hat gut<br />

gelebt, der sich gut verborgen hielt], in keiner Weise auffal-<br />

len und die Abneigung armer Leute zu provozieren, die mit<br />

der Gewalt <strong>aus</strong>gestattet sind, dem Schüler sehr empfindlich zu<br />

schaden. Äußerste Vorsicht und Zurückhaltung ist da allein am<br />

Platze. Das dürfte weniger schwer fallen, wenn man sich dar-<br />

über klar ist, sich nicht innerlich an Nebendingen zu ereifern,<br />

und seine Kraft für das Wesentliche zu schonen. Widerspruch<br />

ruft da nicht die Logik auf den Plan, sondern das Machtbe-<br />

wußtsein. Es ist sinnlos, mit Weidenruten gegen Gewehre vor-<br />

gehen zu wollen.<br />

13. Oktober<br />

Jetzt ist es 5 vor halb Zwölf nachts – ich komme eben von<br />

der Begegnung mit Herrn Langner, dem Buchhändler <strong>aus</strong> Dö-<br />

beln, der mich zu „einer Flasche Wein“ eingeladen hatte – es<br />

wurden ein paar Flaschen eines sehr guten ungarischen Weiß-<br />

weines, bei denen wir uns recht gut unterhalten haben. Seine<br />

Buchhandlung wird ab 1. Januar in eine „christliche Volksbuch-<br />

handlung“ umgewandelt, wobei er sich als deren Leiter nicht<br />

schlechter stehen wird, finanziell, als bisher. Und daß es ihm<br />

in dieser Hinsicht gut geht, ist zu spüren. Der Abend war recht<br />

interessant, denn der Mann sieht doch von seinem Berufe <strong>aus</strong><br />

gar mancherlei. Ganz abgesehen davon, daß er einen ganz in-<br />

teressanten Lebensgang hatte. Erst Gymnasium, Vater war Di-<br />

rektor der Straßenbahnen von Hagen im Ruhrgebiet, dann Han-<br />

delshochschule Leipzig, hierauf Eisengroßhandel, dann Buch-<br />

halter in der Seifenfabrik Schmidt in Döbeln, dann „Volontär“<br />

in einer Leipziger Buchhandlung, darauf Buchhändler in Dö-<br />

beln, wo er die zweifellos bedeutendste Buchhandlung entwi-<br />

ckelt hat, von der manche großstädtische lernen könnte. Denn<br />

so etwas gibt es nur selten. Daß er es sich leisten kann, wegen<br />

eines Gespräches mit mir, mit der Taxe von Döbeln hierher und<br />

zurück zu fahren, läßt den Schluß zu, daß er die Scheine nicht<br />

genau anzusehen braucht. Wir saßen im Löwen, weil der Rats-<br />

keller am Freitag bereits um 7 h abends seine Pforten schließt.<br />

Das wußte ich nicht, da meine Kneipenkenntnisse doch recht<br />

gering sind.<br />

17. Oktober<br />

Heute erhielt ich von dem Buchhändler H[errn] Langner <strong>aus</strong><br />

Döbeln zwei dicke Bücherkataloge und – leihweise – von Ina<br />

Seidel das Buch „Michaela“, das 1959 in Stuttgart erschien; ein<br />

Roman <strong>aus</strong> der Nazizeit, 950 Seiten stark. Es wird jedenfalls<br />

ganz interessant sein, zu lesen, was ein so begabter Mensch<br />

<strong>aus</strong> jener Zeit zu sagen hat. In einem Vorspruch warnt die Ver-<br />

fasserin, sich bei ihren Gestalten an reale Vorbilder zu halten;<br />

sie seien, wie die engeren Schauplätze und die Handlung, ent-<br />

sprechend dem zeitgeschichtlichen Hintergrund frei erfunden.<br />

Ich bin gespannt, ob ich dieses große Buch bewältige. Denn im<br />

allgemeinen hab ich nicht viel Lust, nachträgliche Auseinander-<br />

setzungen, mit der „großen Zeit“ zu lesen – ich kannte diese<br />

Größe zu gut, noch als sie erst im Begriffe war, sich aufzurich-<br />

ten und habe ab 17. März 1933 bis 1945 die eiserne F<strong>aus</strong>t zu<br />

206 207


1967 Kriegsbeschädigte Kinder<br />

spüren bekommen. 5 Unvergessen bleibt mir ein Nachtgespräch<br />

im November 1932 bei Berbigs, wo noch König und Quack da-<br />

bei waren und die ganze Gesellschaft meine Prognose als Kas-<br />

sandra-Rufe und Schwarzsehen belachte. Sie konnten dann<br />

später einsehen, daß ich nur Skizzen an die Wand projiziert<br />

hatte, als die Wirklichkeit auch über sie hereinbrach, bei dem<br />

einen früher, beim andern erst später. Und deshalb lese ich we-<br />

nig über diese Jahre, man kann mir kaum etwas Neues erzäh-<br />

len. Na, ich werde sehen, ob doch in diesem Buche etwas Über-<br />

raschendes gesagt wird.<br />

21. Oktober Sonnabend<br />

Das Buch der Ina Seidel, „Michaela“, las ich in wenigen Ta-<br />

gen durch. Es ist eine geschickte Arbeit, aber wer lernt etwas<br />

<strong>aus</strong> der Darstellung von Qualen vergangener Zeiten, die lei-<br />

der nicht so vergangen sind als es nötig und erwünscht wäre.<br />

Dummheit, Niedertracht, Bosheit werden täglich neu geboren.<br />

2. November<br />

In der Zeitung steht – hier – im Wortlaut eine Rede des<br />

Stellvertreters des Vorsitzenden des Staatsrates Gerald Götting<br />

von der CDU über Luthers reformatorische Tat und ihre Bedeu-<br />

tung. Da wird den Ruhmrednern Luthers früherer Zeiten vorge-<br />

worfen, daß sie ihn mißbrauchten, ihre politischen Absichten<br />

zu untermalen – und dann tut der heutige Festredner dasselbe.<br />

Dieses Puppenspiel hätte man lieber nicht aufführen sollen.<br />

Mir bestätigt sich darin die alte Überzeugung, daß die Ge-<br />

schichte stets dasselbe Spiel vorführt, in veränderten Kostü-<br />

men und vor wechselnden Kulissen. Man muß zufrieden sein,<br />

auf diesem Theater nicht als Bühnenarbeiter beschäftigt zu<br />

sein. So ein Festredner hat es freilich nicht leicht.<br />

5 1933 Entlassung in <strong>Waldheim</strong>, 1934 Strafversetzung nach Zschopau, 1941–1943 Dienst-<br />

strafverfahren, 1943 Versetzung nach Oederan, s. auch Brief vom 19. März 1968.<br />

6. November<br />

Ich las wieder mal ein 1936 – also vor dreißig Jahren – er-<br />

schienenes Buch 6 von dem holländischen Gelehrten J. Huizin-<br />

ga, das erstaunlich prophetische Sätze enthält. Während des<br />

deutschen Überfalls wurde er in Holland festgenommen, als<br />

Geisel in ein Lager gebracht, dann krankheitshalber in einen<br />

Verbannungsort geschickt, wo er Februar 1945 starb. So wurde<br />

die Vernunft zerstört.<br />

7. November<br />

Bei Beantwortung des <strong>Briefe</strong>s von Seidel, der über die Un-<br />

rast der Studenten drüben schrieb, ist mir eins deutlich gewor-<br />

den: Die in den Jahren 1930–1950 zur Welt gekommenen Kin-<br />

der sind zu einem großen Teil als kriegsbeschädigt anzusehen,<br />

beschädigt nicht allein durch die materiellen Entbehrungen, de-<br />

nen sie <strong>aus</strong>gesetzt waren, als vielmehr durch die beständige<br />

Angst, in der bereits die Mütter vor der Geburt der Kinder leb-<br />

ten. In den westlichen Einzugsgebieten der Bombengeschwa-<br />

der – es sind die größten Industriezentren – war jede Nacht<br />

Alarm. Daß unter solchen Angstzuständen die sich bildenden<br />

Gehirne beeinträchtigt wurden, ist wohl klar, da in der gesam-<br />

ten Natur die feinsten und zuletzt entwickelten Gebilde zuerst<br />

gefährdet sind. Dann kamen Schulen, denen die Grundlage je-<br />

der Bildung – Stetigkeit – fehlte. Dazu das Überschüttetwer-<br />

den mit fertigen Urteilen <strong>aus</strong> allen Wissensgebieten in Zeitung,<br />

Radio, Kino, Fernsehen – alles Erziehung zur Oberflächlichkeit.<br />

Nicht zu vergessen ist der R<strong>aus</strong>ch, die Hybris, die sich <strong>aus</strong> der<br />

raschen Überwindung des Raumes mit Hilfe motorisierter Fahr-<br />

zeuge entwickeln müssen. Das sah bereits Goethe vor fast 200<br />

Jahren: „Wenn ich sechs Hengste zahlen kann, / Sind ihre Kräfte<br />

6 Johan Huizinga, Im Schatten von morgen. Eine Diagnose des kulturellen Leidens<br />

unsrer Zeit. Deutsch von Werner Kaegi, Bern und Leipzig 1935.<br />

208 209


1967 Amerikanische Weihnachtssprüche<br />

nicht die meinen?“ 7 Heute fährt man mit mehr als sechs Hengs-<br />

ten. Und dann wundert sich die Welt der Erwachsenen – die<br />

das alles angestellt haben – über die unerwünschten Ergeb-<br />

nisse ihrer Bemühungen – statt sich aufzuhängen, wie es ihre<br />

Pflicht wäre. Die technische Entwicklung rast davon mit der<br />

Barbarei, weil der Beherrschung der äußeren Natur die der in-<br />

neren nicht parallel lief. Diese letztere aber ist die Essenz der<br />

Kultur. Mit dem sogenannten „Ende“ des Krieges haben keines-<br />

wegs seine Übel ihr Ende gefunden; solche erschütternden Ein-<br />

griffe in die lebendige Substanz zittern Jahrzehnte nach. Blei-<br />

bende, immer wieder schmerzende Narben.<br />

16. November<br />

Forsche zunächst mal nicht weiter nach dem „Daily Wor-<br />

ker“. […] Ich vermute, die Zeitung hat sich hier irgendwie unbe-<br />

liebt gemacht oder ist auf Forderungen und Wünsche nicht ein-<br />

gegangen und wird deshalb hier unbeliebt. – Als im Juli 1914<br />

der Deutsche Botschafter 8 in Wien von der Reichsregierung auf-<br />

gefordert wurde, Zeitungen aller Länder zu deutschfreundlichen<br />

Haltungen zu bewegen – „Gelder stehen unbegrenzt zur Ver-<br />

fügung“ – erwiderte der Botschafter Zimmermann 9 , es sei völ-<br />

lig <strong>aus</strong>geschlossen, irgendeine englische Zeitung für Geld zum<br />

Abdruck irgendwelcher fremder Meinungen zu bewegen. Für<br />

andre Großstädte Europas gab er Personen an, die als Mit-<br />

telsmänner zu befragen seien. Einen Ausweg fand dann – für<br />

die Schweiz – in der Nazizeit der Goebbels, der da eine neue<br />

Zeitung 10 gründete, die eigentlich nur dazu diente, im „Völki-<br />

schen Beobachter“ als „Auslandsstimme“ zitiert zu werden, um<br />

7 F<strong>aus</strong>t I. Studierzimmer, 2.<br />

8 Heinrich von Tschirschky und Bögendorff (1858–1916).<br />

9 Artur Zimmermann (1864–1940), Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt.<br />

10 Vermutlich die Deutsche Zeitung in der Schweiz, erschienen von 1938 bis 5. Mai<br />

1945 in Bern.<br />

hier den Eindruck einer „Zustimmung“ hervorzurufen, die gar<br />

nicht vorhanden war, weil draußen niemand dieses Käseblätt-<br />

chen las. So ungeheuer und teuer solcher Schwindel ist, sol-<br />

che Methoden wurden geübt. Ganz zu schweigen von der Be-<br />

einflussung <strong>aus</strong>ländischer Zeitungen, wie sie vom Pressebüro<br />

der Kruppwerke in Essen 1913 in Gang gesetzt wurde. Sachen<br />

gibt es, von denen sich der harmlose Spießbürger nichts träu-<br />

men läßt.<br />

1. Dezember<br />

Ob es zu raten ist, amerikanische Weihnachtssprüche – die<br />

an Sentimentalität den deutschen Phrasen ähnlich sind – hier<br />

in einem Kurs als Unterrichtsstoff zu verwenden?? Ich würde mir<br />

so etwas sehr überlegen und dies unterlassen. Nicht nur, weil<br />

man diese kapitalistischen Kulturgüter <strong>aus</strong> politischen Gründen<br />

– mit Gründen – anfechten könnte, sondern weil ich nicht sehe,<br />

was dabei Positives her<strong>aus</strong>kommen soll. Es ist doch nicht nö-<br />

tig, mit solchen Dingen sich in ein Gefahrenfeld zu begeben!<br />

Laß da einen sein, der das mißvergnügt als „unzeitgemäß“ be-<br />

urteilt, etwas entstellt weiter gibt – und Du hast nichts als Sor-<br />

gen und Gefahren. Also bitte ich Dich in Deinem Interesse: Laß<br />

das sein! Es gibt nur Verdruß. Halte getrost bis zuletzt korrek-<br />

ten Unterricht. Diese „Schulweihnachtsfeiern“ sind mehr als<br />

überflüssig, genau so wie die „Ladenweihnachtsfeiern“.<br />

4. Dezember<br />

Graue Wolken ziehen mit bedeutender Geschwindigkeit vor-<br />

über. Das Erdbeben in Mazedonien glaube ich hier empfunden<br />

zu haben in der vergangenen Woche. Es muß an seinem Zen-<br />

trum sehr stark gewesen sein. Diese Erschütterungswellen ha-<br />

ben eine sehr große Reichweite.<br />

Heute fahr ich halb drei mal nach Döbeln in die Buchhand-<br />

lung von Langner, um mich nach dem Katholischen Kalender<br />

210 211


1967<br />

und nach ein paar Weihnachtsbüchern umzusehen. Ich wun-<br />

dere mich jetzt manchmal, daß ich solche Fahrten jahrelang<br />

täglich gemacht habe und jetzt dazu nur wenig Lust verspüre.<br />

Gestern fiel mir ein Büchlein 11 in die Hand mit den alten Fa-<br />

beln von Hey und den Bildern von Speckter. Gleich die erste<br />

von dem Raben im Winter brachte mich in mein erstes Schul-<br />

jahr, wo ich – noch nicht sieben Jahre alt – bestimmt wurde,<br />

diese Verse bei einer Weihnachtsfeier in der festlichen Schul-<br />

turnhalle der 11. Bezirksschule in der Pestalozzistraße in Dres-<br />

den dem versammelten Publiko vorzudeklamieren. Das ist also<br />

anno 1890 kurz vor Weihnachten gewesen. Wie doch die Zeit<br />

vergeht.<br />

13. Dezember<br />

Seidel schickte ein Päckel und einen gescheiten Brief, <strong>aus</strong><br />

dem hervorgeht, daß es in der andern Welt in der Jugend er-<br />

hebliche Verwirrungen gibt: eine von einem Fußballspiel heim-<br />

fahrende Gruppe zerstörte z.B. in England einen ganzen Ei-<br />

senbahnzug. Oder ein Abiturient in Schwerte warnt einen Leh-<br />

rer, einem Schüler eine 5 zu geben, da dann er – der Lehrer<br />

– „nicht mehr lange leben würde“. Der Lehrer benachrichtigte<br />

den Vater des Jungen, der dann antwortet, daß er seinem<br />

Sohne, dem Oberprimaner, die erste Ohrfeige in seinem Leben<br />

gegeben habe. Wor<strong>aus</strong> ich schließe, daß der Vater nicht bes-<br />

ser ist als sein Sohn, nicht einmal klüger. Nun hat es extreme<br />

Fälle auch in anderen Zeiten gegeben: etwa 1913 erschoß ein<br />

durchgefallener Abiturient den Lehrer, den er für schuld hielt,<br />

im Klassenzimmer und dann sich selbst. Und das war in einer<br />

Zeit, in der die Entwertung des menschlichen Lebens, die durch<br />

die Kriege verbreitet wurde, noch nicht in den Köpfen spukte.<br />

Der Fall geschah in Posen.<br />

11 Wilhelm Hey, Funfzig Fabeln für Kinder, Hamburg 1836.<br />

212 213<br />

1968<br />

7305 <strong>Waldheim</strong> i. Sa., den 22. Januar<br />

Dem Dr. Toepel graut es etwas vor seiner Pensionierung,<br />

d.h. davor, die Berufsarbeit aufzugeben, und er beklagt es<br />

jetzt, bisher sich viel zu wenig um seinen Garten bekümmert<br />

zu haben. Als ob sich das nicht nachholen ließe! Er wird wohl<br />

schon des Geldes wegen noch eine Weile weiter mitmachen,<br />

ganz abgesehen davon, daß er sehr oft zu irgendwelchen me-<br />

dizinischen Wochenend- und Fortbildungskursen fährt. Derglei-<br />

chen wird in reichlicher Fülle veranstaltet. Man muß sich wun-<br />

dern, daß es überhaupt noch kranke Leute gibt. Nachdem man<br />

Herzen operativ <strong>aus</strong>gewechselt hat, kann man das mal mit Ge-<br />

hirnen probieren – ich verkaufe meins. Das könnte herrliche<br />

Überraschungen ergeben, wenn sich dann einer an Erlebnisse<br />

erinnert, die er nie gehabt hat, seine früheren Bekannten und<br />

Verwandten nicht mehr kennt, Sachen weiß, die er nie stu-<br />

dierte, sich rückläufig eines neuen Lebensverlaufes erinnert.<br />

Darüber ließe sich ein komischer Film drehen. Shakespeare hat<br />

freilich im „Sommernachtstraum“ mit Zettels Verwandlung in<br />

einen Esel das Experiment bereits erfolgreich durchgeführt. Der<br />

Künstler nimmt auch hier mit seiner Phantasie vor<strong>aus</strong>, was eine<br />

später entwickelte Technik <strong>aus</strong>führt.<br />

24. Januar<br />

Aus einer Nürnberger Zeitung erhielt ich einen kurzen, gu-<br />

ten Aufsatz zum 90. Geburtstage von Georg Kolbe, dessen man<br />

dort gedachte. […]


1968 Anti-Lärm-Verein<br />

Der Busch-Freund *** hat das eben erschienene Buschbuch 1<br />

– das schlechte – gekauft und an die Wilhelm-Busch-Gesell-<br />

schaft nach Hannover geschickt mit der Bitte, es zu kritisieren!<br />

Das ist anzuerkennen!<br />

25. Januar<br />

Von Dr. Schumann erhielt ich heute ein Geburtstagsbuch<br />

nebst einem <strong>Briefe</strong>. Er hatte <strong>aus</strong> Worms (!) erfahren, ich sei<br />

nach dem Westen übergesiedelt. Seit Jahren weiß ich von kei-<br />

ner Verbindung mit Leuten in Worms – wie wohl solche Falsch-<br />

meldungen entstehen mögen? Niemals sagte ich, daß ich jetzt<br />

nach dem Westen gehen wolle. Dazu ist es viel zu spät. Es<br />

wäre interessant, zu wissen, wie man da in ein Nachrichten-<br />

netz einbezogen ist, wer einen da beobachtet und dann aller-<br />

hand Mist verbreitet.<br />

2. Februar<br />

Seidel berichtete, daß drüben neue „Ferienordnungen“ be-<br />

vorstehen, „damit Gaststätten, Kurorte, Eisenbahnen etc. rati-<br />

oneller <strong>aus</strong>genutzt werden“. „Das Bedürfnis des Kindes, das<br />

psychologische Moment, spielt bei den amtlichen Erörterungen<br />

bezeichnenderweise überhaupt keine Rolle.“ Er freut sich, am<br />

31.7. <strong>aus</strong> dem Dienst zu gehen und höchstens noch ein paar<br />

Stunden zu übernehmen. Daß man da wieder einen höchst be-<br />

gabten Lehrer los wird, merken die Kerle gar nicht. Wäre ich<br />

sein Schulleiter, dann gäbe ich mir alle Mühe, ihn noch länger<br />

festzuhalten und diese kostbare Arbeitskraft den Kindern zu<br />

schenken. Das ist Energievergeudung schlimmster Art.<br />

6. Februar<br />

Ja, die Geschichte von dem stillgelegten Nachtwächter in<br />

Pyrmont ist eine köstliche Sache! Kommt da so ein vornehmer<br />

1 Vermutlich Gerhard Flügge, Wilhelm Busch, Leipzig 1967.<br />

Badegast und legt die nächtliche Polizeiordnung still. Wer mag<br />

sich da nicht aufgeregt haben, daß dadurch seine Gewohnhei-<br />

ten – den Nachtwächter die Stunden abtuten zu hören – gestört<br />

wurde! Denn daß diesem oder jenem Spießer die Gesänge des<br />

Nachtwächters eine staatserhaltende Ordnung waren, ist nicht<br />

zu bezweifeln. Es gab vor dem ersten Weltkriege in Deutsch-<br />

land einen „Anti-Lärm-Verein“, der sich besonders in den grö-<br />

ßeren Städten um die Herstellung der Stille bemühte. Der Vor-<br />

sitzende, ein Philosoph des Namens Lessing 2 , ist – weil er ein<br />

Jude war – im Anfang der Nazizeit in Karlsbad ermordet wor-<br />

den. Eine Partei, deren Element der Radau war, konnte selbst-<br />

verständlich Bemühungen nicht dulden, die ihrem Lebensele-<br />

ment zuwider waren.<br />

8. Februar<br />

Als ich <strong>aus</strong> dem Altersheim ging, kam gerade Dr. Toepel he-<br />

rein. Er hatte am Tage zuvor Geburtstag gehabt (66.), und ich<br />

hatte ihm statt einer Geburtstagskarte eine kleine Malerei ge-<br />

schickt. Der Karte wegen hätte ich in die Stadt gehen und eine<br />

Stunde Zeit verlieren müssen, in der Zeit hatte mein Pinsel das<br />

fertig gebracht und ich hatte 40–50 Pfennig und die Lauferei<br />

gespart. Und da ließ der Mann ein Loblied los, das in keinem<br />

Verhältnis zur Sache stand. Ich sollte einen Sang auf meinen<br />

guten Pinsel anstimmen: vor 42 Jahren kaufte ich den besten<br />

– als Verschwender – der damals zu haben war, für den damals<br />

hohen Preis von 2,50 M. Heute gibt es hier so etwas überhaupt<br />

nicht. Also war ich vielleicht kein Verschwender, sondern nur<br />

ein weitblickender Egoist?<br />

2 Theodor Lessing (1872–1933) gründete 1908 in Hannover den Antilärm-Verein und<br />

gab die Zeitschrift Der Antirüpel her<strong>aus</strong>. Nach dem Machtantritt der National-<br />

sozialisten emigrierte er nach Marienbad, wo er am 30. August 1933 ermordet<br />

214 215<br />

wurde.


1968 Zukunftslinien der Literatur<br />

16. Februar<br />

Diese Nacht schlief ich so nach halb drei ein – bis halb<br />

fünf eine Elektronenzelle in meinem Gehirn „Ammianus Mar-<br />

cellinus“ meldete, an den ich Jahrzehnte nicht gedacht! Er war<br />

der um 400 nach Chr. gestorbene bedeutendste römische His-<br />

toriker nach Tacitus, der die Zeit von 96–378 n. Chr. beschrie-<br />

ben hat. Jetzt muß ich nun mal versuchen, <strong>aus</strong> einer Bibliothek<br />

seine opera quae supersunt (leider nicht omnia) zu bekommen.<br />

Vielleicht erfahre ich dar<strong>aus</strong>, was er so mitten in der Nacht von<br />

mir gewollt hat. Eine recht sonderbare Besuchszeit hat er frei-<br />

lich gewählt. Aber schließlich darf man sich über nichts mehr<br />

wundern. Vielleicht haben diese alten Herren eben andere Sit-<br />

ten und Gewohnheiten und „Anstandsregeln“, oder sie neh-<br />

men sich die Freiheit, solche nicht zu beachten. Wie er trotz<br />

des „Sicherheitsschlosses“ hereinkam, müßte mit dem Schlos-<br />

ser erörtert werden.<br />

27. Februar<br />

Eben der kalten Fahrzeuge wegen zog es Dr. Toepel vor, mit<br />

der Eisenbahn am Sonnabend zurückzufahren, nachdem er sein<br />

Auto am Donnerstag nach <strong>Waldheim</strong> zurückgeschickt hatte. Die<br />

gute alte Eisenbahn hat schon einige empfehlende Eigenschaf-<br />

ten. Alexandre de Villers 3 hatte über alle Reiserei seine beson-<br />

deren Ansichten und mag davon nichts wissen, nachdem er<br />

mal wieder von Wien nach Paris gefahren war – erster Klasse<br />

– bloß um jemand zu besuchen. Wie froh ist er, dann wieder<br />

in seinem Dorfe zu sein, Neulengbach, wo er eine kleine Wirt-<br />

schaft für sich ganz allein betreibt.<br />

3 Vgl. das von <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> sehr geschätzte Buch <strong>Briefe</strong> eines Unbekannten, s. auch<br />

Brief vom 27. Oktober 1970.<br />

29. Februar<br />

In Leipzig wird – nach einer Kulturbundmitteilung am 8.3.<br />

Girnus über „Zukunftslinien der Literatur“ 4 sich ergehen. Jetzt<br />

werden wohl auch die etwa künftig zu schreibenden Liebesge-<br />

dichte „geplant“, Romane „in Auftrag gegeben“ wie eine Hose<br />

beim Schneider oder ein Paar Stiefel beim Schuster.<br />

Die Goethe-Gesellschaft Leipzig wird sich mit der „F<strong>aus</strong>t-<br />

Rezeption Maxim Gorkis“ 5 befassen, am 15.3.1968. Auch mit<br />

Brecht kannst Du Dich vergnügen, denn der darf nicht fehlen.<br />

Alles Sachen, die mich nicht interessieren können. Das sollten<br />

sich die Meßgäste anhören, um ein Bild zu bekommen – aber<br />

diese werden sich kaum dafür interessieren, da ihnen billig ein-<br />

zukaufen und teuer zu verkaufen doch am nächsten liegt. Viel-<br />

leicht ist das auch vernünftiger als die „Zukunftslinien der Li-<br />

teratur“ berechnen zu wollen, ein Unternehmen, das doch nur<br />

in einer durch Befehle und Verbote gelenkten Gesellschaft ge-<br />

lingen kann. In einem geschlossenen Gebäude zu bestimmen,<br />

welche Temperatur und welche Luftfeuchtigkeit darin das ganze<br />

Jahr zu herrschen habe, ist keine Kunst, nur die Gewitter und<br />

die Stürme außerhalb des Baues lassen sich weder lenken<br />

noch vor<strong>aus</strong>sehen.<br />

Daß ich mir heute ein <strong>aus</strong> den Fugen gehendes – weil mit<br />

Draht geheftetes – Inselbuch frisch gebunden hab, halte ich für<br />

viel vernünftiger als solche Bestimmung von „Zukunftslinien“.<br />

Die Welt dürfte durch die allseitige Reglementierung nach und<br />

nach immer einförmiger, immer langweiliger werden. Wozu soll<br />

man ein Buch lesen, dessen Tendenz vorher bekannt und be-<br />

stimmt ist? Diese patentierte Kindernahrung kauf ich nicht.<br />

4 Vgl. Wilhelm Girnus, Zukunftslinien. Überlegungen zur Theorie des sozialistischen<br />

Realismus, Berlin 1974.<br />

5 Gemeint ist ein Vortrag des Slawisten Ralf Schröder (1927–2001).<br />

216 217


1968 „Ihr Kopf muß fallen!“<br />

3. März<br />

Seidel in Schwerte trägt sich mit dem Gedanken, nach sei-<br />

ner Pensionierung <strong>aus</strong> dem rauchigen Ruhrgebiet in eine ge-<br />

sündere Luft, etwa Bayreuth, zu übersiedeln. Am besten dürfte<br />

der daran sein, der mit seinem Flugzeug jeweils dahin fliegt,<br />

wo gerade Frühling ist, um dort ein angenehmes wirtshäusli-<br />

ches Leben zu führen. Dabei wird sich dann allmählich der Hun-<br />

ger nach Primitivität bemerkbar machen, den er durch den Be-<br />

such von Ausstellungen moderner Kunst zu stillen hat. Es ist<br />

doch für alles gesorgt. Ein neuer Beruf wäre „Diplom-Architekt<br />

für modernen Lebensstil“ – das wäre doch was für mich. Da<br />

könnte man durch Verarbeitung gegebener Wünsche – für teu-<br />

res Geld – „Lebenspläne für Genießer“ entwerfen. Aber „so was<br />

kommt nie an unsereinen“, sagte Dr. Schumann in Zschopau.<br />

5. März<br />

Bei der Erinnerung, daß ein großer Teil von West- und Süd-<br />

deutschland alter römischer Kulturboden ist, soll nicht verges-<br />

sen werden, daß das alte Österreich und die Schweiz auch auf<br />

römischen Kulturen erwachsen sind, daß Wien <strong>aus</strong> dem römi-<br />

schen Vindobona entstand, wo im Jahre 180 der Kaiser Marc<br />

Aurel, der Philosoph, starb, daß diese Kultur auch Steiermark<br />

und den Donaulauf bis zum Schwarzen Meere erfaßte, an des-<br />

sen Gestade Ovid begraben liegt. Auch hier wäre also die öster-<br />

reichische Kultur als Nachklang römischen Wesens aufzufassen.<br />

Die schreckliche Tatsache, daß wir in Ost- und Mitteldeutsch-<br />

land durch diesen blödsinnigen Sieg im Teutoburger Walde 6 im<br />

Jahre 9 um die Vorteile der römischen Kultur betrogen wurden,<br />

kann mich immer wieder aufbringen. Ebenso die völlig dumme<br />

Verherrlichung dieses Sieges in den Schulbüchern und den<br />

6 Hermann der Cherusker (Arminius) siegte dort über den römischen Heerführer Varus;<br />

damit scheiterte der Plan, die römische Reichsgrenze bis an die Elbe zu verlegen.<br />

deutschen Geschichtsschreibern, die offenbar die Erhaltung der<br />

Barbarei für einen Gewinn halten.<br />

218 219<br />

7. März<br />

Gestern geriet ich auf ein paar <strong>Briefe</strong>, die Rilke einem Wie-<br />

ner Kadetten 7 geschrieben, <strong>aus</strong>gezeichnete <strong>Briefe</strong>, die allein<br />

schon die Beurteilung, die Rilke von Literaturlehrern erfahren<br />

muß, als völlig irrsinnig erscheinen läßt. Wohin ist diese Welt<br />

geraten? Und welche Literatur wird verbreitet werden, wenn<br />

erst die „Zukunftslinien“, die Girnus ankündigt, verbindlich sein<br />

werden? Sollte in Eurer Zeitung am Sonnabend oder Anfang<br />

nächster Woche ein Bericht über den Vortrag von Girnus kom-<br />

men, so schick mir diesen. Daß es sich um Irrwegweiser han-<br />

delt, ist mir jedenfalls klar. Kunst ist nicht das Ergebnis verstan-<br />

desmäßiger Überlegungen oder politischer Lenkungsabsichten.<br />

Mich wird das nicht weiter lange interessieren. Daß damit<br />

das äußerste an Knechtschaft zu erreichen ist, möchte begrif-<br />

fen werden. Selbst das wird viele nicht berühren.<br />

19. März<br />

Heute vor 35 Jahren wurde ich <strong>aus</strong> dem Dienste getan,<br />

wurde mir von einer braunen, stark vergoldeten Uniform in Dö-<br />

beln in einem Keller gesagt: „Ihr Kopf muß fallen! Schade um<br />

den blendenden Kopf!“ Auch ein Gedenktag!<br />

Gestern – Montag – besuchte mich Dr. Toepel, so 5–6 h<br />

nachmittags, ohne mir die Erlaubnis zu geben, auf die Straße<br />

zu gehen. Er will morgen wieder kommen. Daß sich der Zustand<br />

gebessert hat, ist zu merken, wenn auch noch große Schwäche<br />

fühlbar bleibt. Diese Tabletten sind also wirksam. Bedrückend<br />

bleibt die Untätigkeit, dieses Nichtstun und bloße Dahindäm-<br />

mern, dieses „Sich-nicht-entschließen können“. Das ist der Zu-<br />

7 Die <strong>Briefe</strong> an Franz Xaver Kappus (1883–1966) erschienen unter dem Titel <strong>Briefe</strong> an<br />

einen jungen Dichter 1929 in der Leipziger Insel-Bücherei.


1968 Gruft mit Lesesaal<br />

stand, auf dem das Elend der Welt beruht – weil es nicht immer<br />

die Besten sind, die sich hemmungslos entschließen.<br />

1. April<br />

Bitte, keinerlei Schmeichelei, ich weiß besser als der Jurist<br />

Hermann, wie heruntergekommen ich bin. Die Lampe selbst<br />

merkt nichts davon, daß sie allmählich düsterer brennt, das se-<br />

hen nur die andern. Der Abnahme der körperlichen Ausdauer<br />

geht der Schwund der geistigen Energie nicht parallel, sondern<br />

vor<strong>aus</strong>, da das zuletzt Entwickelte zuerst verfällt. Die andern<br />

sehen nur das Äußere der Ruine – ich gehe oder schleiche in<br />

ihren immer leerer werdenden Hallen umher. […]<br />

Auf dem Markte begrüßte mich am Sonntag einer, der tief<br />

den Hut abzog und sagte: „Du warst mein alter Lehrer, bei dem<br />

ich sehr viel gelernt habe.“ Es stellte sich her<strong>aus</strong>, daß er etwa<br />

1910/11 im 6. Schuljahr bei mir gewesen, also vor 58 Jahren. So<br />

laufen einzelne Exemplare meiner gesammelten Werke durch<br />

die Gegend.<br />

10. April<br />

Gestern tafelte das Eichhörnchen 40 Minuten am Fenster,<br />

lehnte sich dann mit den Vorderpfötchen auf das Blumenbrett,<br />

die Vorüberkommenden wie ein Rentier betrachtend und ließ<br />

sich von der Sonne den Pelz wärmen, räkelte sich vor Wohlbe-<br />

hagen und gab das Bild eines Wesens, das den Augenblick ge-<br />

nießt und weder an gestern, noch an morgen denkt. Sollte der<br />

indische Gedanke der Seelenwanderung richtig sein, wäre das<br />

gar keine üble Daseinsweise.<br />

11. April<br />

Es ist weder gut, noch richtig, noch genau möglich, den<br />

Verlauf der letzten Tage zurückzurufen. Daß Großmutti die al-<br />

lermeiste Zeit in einem Schlafe lag, ist ganz klar. Die Kraft des<br />

Widerstandes war bereits erschöpft, zu staunen, daß das Ende 8<br />

nicht bereits früher erfolgte. Außerdem ist die Zeitangabe in<br />

Deinem <strong>Briefe</strong> sehr überdehnt. Daß sich am Dienstag niemand<br />

um sie gekümmert habe, ist nicht denkbar. „Helfen“ konnte<br />

hier niemand – auch Du nicht. Tröste Dich damit, zu wissen,<br />

daß sie diese Übel, die sie monatelang gequält haben, los ist.<br />

Das ist wohl der Untergrund des Wortes „Erlösung“ – eine Pein<br />

„los“ werden. Wie oft hat sie anderen, die sich die letzten Le-<br />

benstage in einem Krankenh<strong>aus</strong>e plagten, gewünscht: „Wenn<br />

er nur endlich erlöst würde!“ Behalten wir das Bildnis dieser<br />

guten und klugen Frau so in der Erinnerung, wie es jeder ha-<br />

ben muß, der sie gekannt hat. Wie der Wagen von der Halle ab<br />

in ein sonniges Frühlingsbild langsam hineinrollte, mag sie [in]<br />

einem Frühling der Erinnerung uns gegenwärtig sein.<br />

220 221<br />

19. April<br />

Gestern besuchte mich dieser Herr ***, der vor 17 Jahren<br />

hier von der Schule als Neulehrer flüchtete. Er lebt in Lands-<br />

hut, etwa 40 km von München als Beamter am Fernmeldeamt,<br />

wofür er zwei Jahre Ausbildung erhalten hat und fühlt sich da-<br />

bei wohl aufgehoben. Er hängte mir dann eine Photo-Postkarte<br />

der Nürnberger Lorenzkirche ab, die er hier gern einem Freunde<br />

schenken wolle, der solche Sachen sammle. Nun ja. Auch die<br />

von mir mehrfach gehörte Frage, was nach meinem Tode <strong>aus</strong><br />

meinen Büchern werde, mußte er stellen. Ich werde mir nun da-<br />

für eine Antwort stilisieren, vielleicht, daß ich eine Gruft mit gut<br />

beleuchtetem Lesesaal bauen lasse, in der ich dann p<strong>aus</strong>enlos<br />

diesem Laster fröne. Daß die Leute den Tod als meinen nächs-<br />

ten Begleiter bemerken, ist nicht zu verwundern; nur finde ich<br />

es etwas geschmackswidrig, das zu erwähnen.<br />

8 Tod von Johanna Sauer, der Mutter von Gertrud Schade.


1968 Eichhörnchenbesuch<br />

20. April<br />

Einen interessanten Brief erhielt ich von Seidel, dem Studi-<br />

enrat in Schwerte, der zur Zeit eine Kur im Allgäu durchmacht,<br />

so eine Art Hungerkur. Was da an sonderbaren Sachen in Schü-<br />

lerzeitschriften verbreitet wird, ist erstaunlich. Eine Censur<br />

scheint es dort nicht zu geben. Hier geht jede Traueranzeige<br />

in einer Zeitung durch eine Censurstelle, die auch gelegentlich<br />

den Abdruck verweigert, wie ich <strong>aus</strong> einem Falle weiß.<br />

29. April<br />

In der Zeit – Mitte Mai – will Irene 9 mal einige Tage zu mir<br />

kommen, falls die Einreisegenehmigung morgen da sein wird.<br />

Da sie nicht an einem andern Orte übernachten darf als die Ge-<br />

nehmigung angibt, kann sie natürlich nicht mit nach Leipzig<br />

kommen. Und eine „Genehmigung“ müßte man sich in Döbeln<br />

erst besorgen. Ob man sie erhielte, ist sehr unsicher und kostet<br />

einen Tag in Döbeln. Nach dem Konzert mit einer Taxe von Leip-<br />

zig nach <strong>Waldheim</strong> zu fahren dürfte sehr teuer sein, wenn man<br />

überhaupt einen Fahrer bekäme, was sehr fraglich ist. […]<br />

Von der Kirchensprengung 10 und dem Schweigemarsch stand<br />

bisher nichts in der Zeitung, obwohl doch diese Angelegenheit<br />

sehr viele Leute interessieren könnte und sonst von viel we-<br />

niger wertvollen Bauwerken lange Artikel verfaßt werden, z.B.<br />

von der Neu-Einrichtung eines Ausflugscafés. An den Platz von<br />

Kirche und Universität wird man vielleicht wieder einen großen<br />

Hotel-Kasten setzen, der durch teure Zimmerpreise das Geld<br />

wieder hereinbringen soll, das die Sache kostet. Vielleicht wird<br />

über diese Dinge nur in westlichen Blättern berichtet.<br />

9 Irene Strauß, <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s Tochter, wohnte in Nürnberg.<br />

10 Gemeint ist die Leipziger Paulinerkirche, seit 1545 evangelische Universitätskirche,<br />

die trotz größten Widerstands am 30. Mai 1968 gesprengt wurde.<br />

222 223<br />

16. Mai<br />

Auf der Paßstelle war man bemerkenswert unfreundlich. Die<br />

Krawalle im Westen erhöhen hier das Selbstbewußtsein – ge-<br />

lernt hat niemand etwas, weder hier noch anderwärts. Kurs ist<br />

jetzt 100 Ostmark = 26,50 Westm. oder demnach eine West-<br />

mark 3,77 M Ost. Die Westler würden sehr billig in der Tschechei<br />

reisen, wenn nicht für jede Person 20 WM für die Einreiseerlaub-<br />

nis gezahlt werden müßte, für einen Wagen wird eine noch hö-<br />

here Gebühr verlangt. So gleicht sich dann das wieder <strong>aus</strong>, und<br />

die Prager dämpfen durch die hohe Gebühr die Lust, dahin zu<br />

fahren; sie schneiden sich damit in das eigene Fleisch.<br />

Eben sehe ich ein zweites Eichhörnchen auf meinem Fens-<br />

ter, es sieht licht rotbraun <strong>aus</strong>, während mein altes, das vor ei-<br />

ner Stunde da war, dunkelschokoladenfarbig ist. Ob das dunkle<br />

dem hellen den Ort beschrieben hat, wo etwas zu finden ist?<br />

Wer kann das wissen. Das neue trägt auch ganz hellbraune<br />

Handschuhe, während das erste schwarze Glacéhandschuhe<br />

angelegt hat. Neugierig sind beide, gucken dreist zum Fenster<br />

herein, schauen mich <strong>aus</strong> großer Nähe mit ihren großen Augen<br />

an und springen nur davon, wenn auf der Straße Leute kom-<br />

men. Körper und Schwanz sind ein schönes Spiel von Kurven.<br />

Ich lese jetzt die Lebenserinnerungen von Zuckmayer 11 , die<br />

mir <strong>aus</strong> Nürnberg zukamen, ein hochinteressantes Buch.<br />

Eben erscheint ein drittes Eichhörnchen, klein, schwarz –<br />

da muß doch eins dem andern etwas von dem Futterplatze ge-<br />

sagt haben! Die Gesichtszüge sind verschieden, dieses kleine<br />

hat eine ganz wenig anders gekrümmte Nase. Es erschrickt ge-<br />

waltig vor dem Knall in der Luft.<br />

Zuckmayer ist 1896 geboren, schildert also auch die Zeit,<br />

die ich durchlebte. Er hat das Sch<strong>aus</strong>piel von dem Hauptmann<br />

von Köpenick verfaßt und noch manche andere, ist vor den Na-<br />

11 Carl Zuckmayer, Als wär’s ein Stück von mir.


1968 „Es wird durchgeblüht“<br />

zis <strong>aus</strong> Österreich geflüchtet, über die Schweiz und dann nach<br />

Nordamerika. Der Kontrast zwischen den Machtansprüchen des<br />

Nazi-Staates (jedes Staates!) und den Kräften der Kultur müßte<br />

jedem deutlich werden.<br />

8. Juni<br />

Als ich eben von der Post, der ich einen Brief an Dich gab,<br />

daß er am Montage ankomme, zurückkehre, halten mich zwei<br />

Herren auf, die eben bei mir gewesen waren ohne mich anzu-<br />

treffen: zwei Schüler, die 1916–1918 einer von mir geführten<br />

Klasse angehörten. Sie schwärmten mir viel vor, wie schöne<br />

Jahre das gewesen (im Kriege!). Da sagte der eine: „Und die<br />

Wanderungen damals in den Wald!“ Worauf ich erwiderte: „Be-<br />

sonders die am 2. Juli 1917 nach dem Nonnenwald. Nur daß<br />

auf dem Rückwege ein Windstoß Ihren Strohhut so weit in ein<br />

Ährenfeld entführte, daß er verloren ging.“ Da waren die bei-<br />

den sehr überrascht, daß ich mich daran erinnerte. Klar wurde<br />

mir dabei: das Übermitteln von „Kenntnissen“ in irgendeiner<br />

Schule ist etwa das „Setzen“ von Bohnenstangen. Wenn sich an<br />

diesen nicht die Pflanzen der Lebenshilfe hinaufranken, ist von<br />

ihnen nichts zu ernten. Bildung wächst nur in der lebendigen<br />

Beziehung. Das bedeutet: ein nackter Unterricht mit Hilfe von<br />

Maschinen pflanzt Bohnenstangen, die keine Früchte tragen.<br />

1. Juli<br />

Das Buch des 94jährigen Karl Foerster „Es wird durchge-<br />

blüht“ las ich gestern, und ich schicke es dann nach Nürnberg.<br />

Ich will versuchen, noch ein paar Exemplare davon zu finden.<br />

Freilich, dieser feierliche Stil ist zunächst nicht jedermanns Sa-<br />

che. Aber es steckt eine Fülle von Weisheit und von Kenntnis-<br />

sen in dem schmalen Bändchen, trotz aller romantischen Ver-<br />

klärung. Romantik ist eben nicht nur eine bestimmte, längst<br />

verklungene Periode der Kunst- und Literaturentwicklung, son-<br />

dern ein Zustand, eine Betrachtungsweise, die jederzeit wieder<br />

lebendig werden können. Es sind doch auch eine Menge exak-<br />

ter Angaben in diesen Blättern. So z.B. daß 1721 – Ende des<br />

Nordischen Krieges – die ersten Beutel mit Sonnenrosensamen<br />

<strong>aus</strong> Mittel- und Südamerika nach Paris kamen und von dort <strong>aus</strong><br />

sich über Europa verbreiteten. Man sollte einmal eine „Welt-<br />

pflanzenkarte“ entwerfen, auf der deutlich würde, wie heute<br />

von jedem Garten, von jedem Fensterbrett mit Blumen, <strong>aus</strong> Fel-<br />

dern und Obstgärten Verbindungen von Pflanzen in alle Erd-<br />

teile bestehen, nicht gerechnet, was in Gewächshäusern großer<br />

Botanischer Gärten an fremden Pflanzen gepflegt wird. Dann<br />

würde man die Übersicht verlieren, weil <strong>aus</strong> der gesamten<br />

Weltflora Gewächse anzuführen wären. Reiften doch in einem<br />

Gewächsh<strong>aus</strong>e in Dahlem ganz normale Bananen.<br />

224 225<br />

11. Juli<br />

Gestern sah ich den Film „My fair Lady“ nach einem Stück<br />

von Shaw an. Sehr gut! Zunächst technisch schon. In der Farb-<br />

gebung ganz hervorragend; ein Fehler war, daß man ihn in ei-<br />

nem zu raschen Tempo abkurbelte, wodurch sprachlich viel ver-<br />

loren ging. Jetzt möchte ich das Stück lesen. Man sollte bei<br />

solchen guten Sachen Textbücher verkaufen. Ein Sprachgelehr-<br />

ter drillt in eiserner Arbeit ein Blumenmädchen in sechs Mo-<br />

naten so, daß er sie an die Spitze der „besten Gesellschaft“<br />

bringt – wobei er zugleich diese „Gesellschaft“ kritisiert. Die<br />

Sch<strong>aus</strong>pielerin, die das Mädchen darstellt, ist in der Vielfalt ih-<br />

res Gesichts<strong>aus</strong>druckes nicht zu übertreffen. Da wird an keiner<br />

Stelle „mit Fleisch und Mädchenbeinen“ der Zuschauer abge-<br />

lenkt. Bedeutsame Sätze über den Wert einer guten Sprache.<br />

„Das beste Englisch wird nicht in England, sondern von Auslän-<br />

dern gesprochen.“ Den Film möchte ich in natürlichem Tempo<br />

in London hören.


1968 Beruf Einsiedler<br />

29. Juli<br />

Auf dem Friedhofe überfiel mich „die Begegnerin“ mit ei-<br />

nem Vortrage, daß sie „Philosophin“ sei und „philosophische<br />

Abhandlungen“ schreibe. Ich konnte mir nicht anders helfen,<br />

als diese Tätigkeit für höchst überflüssig zu erklären, mit der<br />

Bemerkung, man solle allen „Philosophen“ einen Spaten und<br />

eine Mistgabel mit Gebrauchsanweisung geben. Ich hoffe, sie<br />

hält mich nunmehr für einen un<strong>aus</strong>stehlichen Ban<strong>aus</strong>en, der<br />

ich ja auch bin. – Auf einer Grabstelle blüht dort ein 60 cm ho-<br />

hes Schneeglöckchen orientalischer Herkunft, das an dem Blü-<br />

tenschaft eine pyramidale Blütenrispe entwickelt hat mit zwan-<br />

zig Blüten, die jede einem großen Märzbecher gleichen. Das ist<br />

doch wesentlich interessanter als der Gehirndunst in den Köp-<br />

fen sogenannter „Philosophen“!<br />

30. Juli<br />

Heute vor 70 Jahren starb Bismarck, ich erinnere mich noch<br />

an die im [Lehrer-]Seminar veranstaltete Feier. Daß er in die<br />

Grundlagen des Deutschen Reiches bereits die Kräfte zu des-<br />

sen Zerstörung einbaute, ahnten damals nur sehr wenige ein-<br />

zelne Leute. Der größte Aufschwung technischer Art begann:<br />

die ersten elektrischen Straßenbahnen fuhren, das erste Auto-<br />

mobil zeigte sich in den Straßen von Dresden, wo Pferdewa-<br />

gen noch die Regel waren. Freiballonflüge gab es im Sommer<br />

häufig, und die ersten Flugzeuge erhoben sich. In den Straßen<br />

kam der Eiswagen, an dem die Dienstmädchen Eisblöcke für<br />

den Eisschrank der feinen Leute in Eimern holten. Noch rollten<br />

keine Filme über die Leinwand. Kein Radiokasten verbreitete<br />

Meinungen und musikähnliche Geräusche. Die Kronprinzessin<br />

Luise durchbrach die Schranken der gesellschaftlichen Ordnung<br />

und „brannte mit einem Sprachlehrer durch“. Was haben wir in<br />

diesen Jahrzehnten durchgekostet.<br />

5. August<br />

Von Dr. T[oepel] hörte ich, daß die Begegnerin wegen Schi-<br />

zophrenie Invalidin ist – zur „Korrespondentin“ ist freilich ein<br />

derart beschädigtes Gehirn noch <strong>aus</strong>reichend – wie es bereits<br />

bei Hitler und Stalin <strong>aus</strong>reichte, Staaten zu Grunde zu richten.<br />

Solche Leute können also recht gefährlich werden.<br />

Ein berühmter Psychiater 12 in Freiburg ist dafür bekannt,<br />

daß er jeden Tag einige Scenen im Shakespeare liest: dies sei<br />

der größte Psychologe aller Zeiten. Da dürfte er nicht Unrecht<br />

226 227<br />

haben.<br />

17. August<br />

Hans hat einige Befürchtungen, daß ihm sein Betrieb zu sei-<br />

nem bevorstehenden 60. Geburtstag eine große Gratulationscour<br />

anrichten werde. Das kann ich mir vorstellen. Ich soll zwar auch<br />

hinkommen, aber das werde ich noch überlegen müssen. Ich bin<br />

für derlei ungeeignet und diene nicht zur Verzierung. Mein Beruf<br />

als „Einsiedler“ ist mir nachgerade ganz angemessen.<br />

19. August<br />

Das kommt gar nicht in Frage, daß Dein Besuch hier am<br />

kommenden Sonnabend, den 24. August verschoben werde,<br />

nein, nein. Ich denke, daß ich morgen von Gera Nachricht habe.<br />

Falls ich am 22. nach Gera fahre, komm ich am selben Abend<br />

zurück. Ich bin früher mal einen Tag nach Weimar gefahren,<br />

früh hier weg und um Mitternacht war ich wieder hier und hatte<br />

noch das Weimarbild von Franz Huth 13 zu tragen, das in meiner<br />

Stube hängt. Ich erwarte Dich am Sonnabend den 24. 11 22<br />

hier am Markte. Ob wir uns auf dem Wege zu mir die 12 h ange-<br />

12 Vgl. Alfred Erich Hoche, Shakespeare und die Psychiatrie, in: Archiv für Psychia-<br />

trie und Nervenkrankheiten. Bd. 33, H. 2, Berlin 1900, S. 666–673.<br />

13 Mit dem Maler Franz Huth (1876–1970), seit 1922 in Weimar ansässig, fühlte sich<br />

<strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> freundschaftlich verbunden.


1968 Nürnberger Lektüre<br />

setzte Hochzeit von Bernhard Schlesier anhören mit dem Spiel<br />

von Pönisch, magst Du entscheiden. Dann essen wir gemütlich<br />

auf der „Goldenen Höhe“. Auch nach Jena fuhr ich zweimal je<br />

an einem Tage hin und zurück. So groß ist das Land nicht. Oder<br />

1943 Dresden–München–Innsbruck–Feldkirch in Vorarlberg (20<br />

Minuten vor der Schweizer Grenze) D-Zug abends 10 h ab Dres-<br />

den, am nächsten Nachmittag 16 h (nach 860 km Stehplatz) in<br />

Feldkirch, oder Leipzig–Hoek van Holland–Harwich–London in<br />

26 Stunden! Oder Leipzig–Stuttgart–Zürich–Bern–Montreux am<br />

Genfer See, auch bis Stuttgart Stehplatz; oder vom Vierwald-<br />

stätter See über Basel–Frankfurt – nach Leipzig. Ohne etwas zu<br />

verlieren als einen alten Hut, der in Bern beim Umsteigen lie-<br />

gen blieb und ohne Fahrkarte nach Mailand weiter fuhr. Also<br />

keine Sorge, im Eisenbahnfahren leiste ich was, obwohl ich nie<br />

eine Spielzeug-Eisenbahn besessen habe.<br />

20. August<br />

Jetzt bastle ich eine kleine Mappe mit ein paar Kolbe-<br />

bildern, die ich dem Bernhard Schlesier als Hochzeitsgabe<br />

schenke mit einem kurzen Texte, der die <strong>Waldheim</strong>er Plastiken<br />

ins Licht rückt. Ich denke, das müßte gehen.<br />

21. August<br />

Es ist wahr, der Stil Karl Foersters ist etwas Ungewohntes.<br />

Man muß aber sich bemühen, das zu verstehen: eine äußerst<br />

umfangreiche Kenntnis der Natur drängt nach konzentriertem<br />

Ausdruck in einer von Goethe durchsonnten Sprache, getragen<br />

von einer nie alternden Begeisterung für die Wunder des Le-<br />

bens in Formen und Farben und Düften. Daß der Leser, durch<br />

eine Lindenallee gehend, den Duft der Blüten, den Glockenton<br />

der Bienen, den warmen Frühsommerhauch, das Blau des zwi-<br />

schen dem Astwerk leuchtenden Himmels – in kleinen Stücken<br />

wie bei Spitzweg – das Trommeln eines Spechtes, das Herab-<br />

tänzeln eines gelben Blattes gleichzeitig gewahr werde, das<br />

fordert eine spielend wache Aufmerksamkeit. Nicht die Darstel-<br />

lung ist kompliziert – die wirkliche Welt ist es, die in den zwei<br />

Dutzend Buchstaben des Alphabetes gespiegelt werden soll.<br />

Eben sitzt wieder eine Grasmücke auf dem inneren Fenster-<br />

brett und schaut mich groß an und kommt bis auf einen hal-<br />

ben Meter heran. Dagegen sind Kohlmeisen recht schüchtern<br />

und wagen sich kaum an das Futter heran, wenn andre Vögel<br />

da sind, ja, sie fliegen oft rasch wieder weg, ohne ein Körn-<br />

chen geholt zu haben. Ein Grünfink staunt über die waghalsige<br />

Grasmücke. Daß Walther von der Vogelweide sein überbliebe-<br />

nes Geld mit der Bestimmung hinterließ, <strong>aus</strong> den Zinsen einen<br />

Futterplatz für die Vögel auf seinem Grabe in Würzburg zu un-<br />

terhalten, ist gut zu verstehen.<br />

085 Nürnberg-Eibach, den 27. September<br />

Ich fahre dann gleich mal in die große Staatsbibliothek, um<br />

zu sehen, ob sich da ein Wörterbuch vorfindet, in dem ich die<br />

gesuchten Vokabeln zu finden hoffe – oder wenigstens eine<br />

hinreichende Auskunft, ob und wo ich in Nürnberg darüber<br />

Klarheit bekommen kann.<br />

7305 <strong>Waldheim</strong> i. Sa., den 9. Oktober<br />

Ich las [in Nürnberg] Rolf Hochhuth, „Soldaten: Nekrolog<br />

auf Genf“<br />

Marg[arete] Buber-Neumann, „Als Gefangene bei Stalin und Hit-<br />

228 229<br />

ler“<br />

Wolfg[ang] Borchert, „Draußen vor der Tür“<br />

Georg Ried, „Wesen und Werden der deutschen Dichtung“<br />

Alice Herdan-Zuckmayer, „Das Kästchen (Geheimnisse einer<br />

Kindheit)“<br />

Ernst Bäumler, „Das maßlose Molekül“<br />

Max Frisch, „Andorra“


1968<br />

[Alexander] Spoerl, „Memoiren eines mittelmäßigen Schülers“<br />

Heinrich Böll, „Das Brot der frühen Jahre“<br />

Günter Grass, „Katz und M<strong>aus</strong>“<br />

[Heinz D.] Stuckmann, „Es ist so schön, Soldat zu sein oder<br />

Staatsbürger in Uniform“ [am Rand:] das neuste Lehrbuch der<br />

Geschichte.<br />

Daneben erntete ich Deine Vokabeln in der Stadtbibliothek,<br />

ein wissenschaftliches Institut, und besuchte auch die „Städ-<br />

tische Bücherei“, eine sehr große allgemeine Bibliothek. Dort<br />

sah ich auch seltsame Stücke moderner graphischer Kunst, mit<br />

denen die Wände eines Zeitungssaales „geschmückt“ waren.<br />

Gut ist auch das neu eingerichtete geologische Museum. Und<br />

ganz besonders anziehend bleibt mir ein großer Juwelier-La-<br />

den am Hauptmarkte, gegenüber der Frauenkirche. Geld hätte<br />

ich haben sollen, viel Geld; das wäre in diesen Laden gewan-<br />

dert. Aber es langte nicht mal für einen Buchladen, den ich des-<br />

halb gar nicht erst betreten habe. Mir fällt ein, daß ich so als<br />

Schuljunge sehr oft vor einem Juwelierladen am Georg-Platze<br />

in Dresden stand, der eine Menge Schmuck mit herrlichen Tür-<br />

kisen zeigte. Nicht daß ich damals an ein Mädchen gedacht<br />

hätte, die damit zu beschenken sei. Damals nicht!<br />

19. Oktober<br />

Die Fräulein Lehzen hat doch einen staunenswerten Mut;<br />

sie ist doch in die neunzig und läßt sich noch operieren. Frei-<br />

lich, sie ist eine stadtbekannte Persönlichkeit des alten Han-<br />

nover, die man wie ein Denkmal als Erinnerung an eine große<br />

Zeit – da Hannover noch Königreich war – eine Zeit, die dort<br />

noch in den Erinnerungen spukt, behandeln wird. Ganz abge-<br />

sehen davon, daß sie das Kestner-Museum früher geleitet hat,<br />

das Erinnerungen an den Mann der Wetzlarer Lotte – die Leute,<br />

die Goethes „Werther“ als Modell dienten – und die großarti-<br />

gen Kunstsammlungen eines der Söhne Lottes bewahrt, der als<br />

Gesandter in Rom die günstige Gelegenheiten der Stadt und<br />

seiner Stellung für seine Sammlungen zu nutzen verstand, ein<br />

Museum, das zu den Glanzstücken von Hannover gezählt wird.<br />

Dieser Sohn gab auch eine Sammlung von Goethebriefen <strong>aus</strong><br />

der Wetzlarer Zeit seiner Mutter her<strong>aus</strong>, die lange Zeit niemand<br />

gekannt hatte. 14 Es ist zu bedauern, daß diese Gestalten durch<br />

das schlechte Buch von Thomas Mann „Lotte in Weimar“ ge-<br />

trübt worden sind. Das zeigt wieder, wie nötig es ist, sich im-<br />

mer an die Originale zu halten und solche Darstellungen <strong>aus</strong><br />

zweiter Hand dem Papierkorbe zu überlassen.<br />

23. Oktober<br />

Rolf Hochhuths „Stellvertreter“<br />

Gestern las ich das sehr erschütternde Buch von Rolf Hoch-<br />

huth, „Der Stellvertreter“, in dem das völlige Versagen des<br />

Papstes Pius XII. (ehemals als Nuntius Pacelli in Berlin) wäh-<br />

rend des 2. Weltkrieges in der Behandlung der von der SS ver-<br />

übten Verbrechen besonders in Auschwitz dargestellt wird, mit<br />

beigefügten amtlichen Dokumenten, die als Grundlagen der Be-<br />

weise wichtig sind. Furchtbare Sachen werden dort unvergeß-<br />

bar dargestellt. Da hätte der Teufel selber noch Neues lernen<br />

können. Daß eine Anzahl der Verbrecher heute noch in aller-<br />

hand Beamtenstellungen verschiedener Höhen als „brave Bür-<br />

ger“ es <strong>aus</strong>halten, weiter zu leben, beweist einen sehr ho-<br />

hen Grad moralischer Abhärtung. Freilich, Churchill, der sich<br />

mit der von ihm organisierten Ermordung der Civilbevölkerung<br />

Deutschlands und der planmäßigen Zerstörung der deutschen<br />

Städte ebenfalls als <strong>aus</strong>gesuchter Satan erwies, hat seine<br />

Schandtaten auch überdauert. Ich möchte seine vielbändigen<br />

14 Johann Christian Kestner (1741–1800) und seine Frau Charlotte geb. Buff (1753–<br />

1828) sind die Prototypen für Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther. Zu-<br />

sammengestellt von ihrem Sohn August Kestner (1777–1853) kam 1854 im Cotta-<br />

Verlag Stuttgart und Augsburg das Buch Goethe und Werther. <strong>Briefe</strong> Goethe’s,<br />

meistens <strong>aus</strong> seiner Jugendzeit, mit erläuternden Documenten her<strong>aus</strong>.<br />

230 231


1968 Prag, Prag...!<br />

Memoiren 15 lesen, in denen er seine Heldentaten berichtet. Ge-<br />

fühl für das Unerhörte seiner Morde besaß er so wenig wie die<br />

KZ-Ganoven in Auschwitz oder Buchenwald. Daß man als Zeit-<br />

genosse solcher Bestien dahinzuleben hatte, ist das Schreck-<br />

liche der eigenen Existenz – ohne irgendetwas verhindern zu<br />

können, erlebte man die bisher wohl größten Verbrechen der<br />

Geschichte, die weit über das hin<strong>aus</strong>gingen, was die „großen<br />

Helden“ der Vergangenheit verübt hatten.<br />

30. Oktober<br />

Die Darstellung bei Hochhuth ist erschütternd. Denke aber<br />

niemand, daß die Judenmorde von Auschwitz etwas Neues ge-<br />

wesen sind. Um 1600 wurden unter Philipp III. von Spanien<br />

800 000 Moriskos – Mischlinge von Arabern, Negern, Juden –<br />

vertrieben oder umgebracht. Das läßt sich mit den Schand-<br />

taten Hitlers durch<strong>aus</strong> vergleichen, besonders wenn man be-<br />

denkt, daß die Bevölkerungsanzahl damals nur einen Bruchteil<br />

der heutigen bedeutet. Auch Spanien hat damals an seinem ei-<br />

genen Ruin gearbeitet und sich für Jahrhunderte wirtschaftlich<br />

schwer geschädigt.<br />

1. November<br />

Als ich gestern abend an H[errn] Morgenstern meinen Zent-<br />

ner Kartoffeln bezahlte, wurde da gerade „ferngesehen“, und<br />

ich gewann einen Eindruck von der geistigen Anspruchslosig-<br />

keit derer, die mit so etwas sich „die Zeit vertreiben“. Über<br />

die Leute, die vor 80 Jahren einander die Romane von Mar-<br />

litt, Heimburg, Ganghofer, Rosegger vorlasen <strong>aus</strong> der berühm-<br />

ten „Gartenlaube“ oder <strong>aus</strong> dem „Daheim“ oder „Velhagen<br />

und Klasings Monatsheften“, wird heute ganz mit Unrecht ge-<br />

lächelt. Die Fernsehfilme sind weit primitiver als jene Romane.<br />

15 Winston Churchill, Der zweite Weltkrieg, 6 Bde., Stuttgart, Hamburg 1949–1954.<br />

Wenn man in einem Stadtteil in einen Wald von Fernsehanten-<br />

nen gerät, kann man mit Sicherheit schließen, durch die Wohn-<br />

gebiete der Primitiven zu wandern. Aus einem Gewirr von ra-<br />

senden Autos, Barscenen, quäkender Musik, streng blickenden<br />

Verbrechern, Pistolenschüssen, nackten Weibern wird ein Mo-<br />

saikbild zusammengebastelt ohne Sinn und Verstand, nur um<br />

die Leute zu benebeln, Gespräche zu verhindern, Denken <strong>aus</strong>-<br />

zulöschen. Alle sind zu beneiden, die diesen „Kulturfortschritt“<br />

nicht mehr erlebten. Wie die bedeutende Erfindung der Schrift<br />

in der Herstellung der Schundliteratur entwürdigt wurde, so<br />

geht es hier mit der Möglichkeit, durch die Photographie Bil-<br />

der festzuhalten.<br />

5. November<br />

Es wurde erzählt, die Krähen wurden alle umgebracht, weil<br />

sie immer Prag, Prag rufen.<br />

7. November<br />

So, das wäre vorüber: 4 Eimer und 4 Aschekästen voll Ruß<br />

und Asche sind eben <strong>aus</strong> meinem Ofen geholt worden. Ich bin<br />

froh, daß das endlich geschafft wurde. Erst zahlt man für Holz<br />

und Kohlen und dann wieder für das Wegschaffen der Reste.<br />

Der 19jährige Sohn des Ofenkehrers wird „Prediger“ auf einer<br />

„Missionsschule“ einer Sekte – was es nicht alles gibt! Der wird<br />

dann die Seelen <strong>aus</strong>rußen. […]<br />

Ein neu erschienenes Wilhelm-Busch-Buch 16 <strong>aus</strong> dem Ver-<br />

lage Rütten und Loening ist entbehrlich. Am Anfange stehen<br />

zehn Seiten unnötigen Senfes; dann folgen einige Gedichte;<br />

der „Heilige Antonius von Padua“, „Balduin Bählamm“ und<br />

„Eduards Traum“ – 8,70 Mark – das kann man sich sparen. Ver-<br />

16 Kurzes Referat über die kurzen Würste des Herrn Lang, hrsg. von Rudolf Mingau<br />

und Rolf Lorenz, Berlin 1968.<br />

232 233


1968 Ernst Niekischs „Widerstand“<br />

schenken mag ich so etwas nicht, wegen der schiefen Beleuch-<br />

tung. Ich erhielt es von Münch „zur Ansicht“ – nun nach meiner<br />

Ansicht möchte ich nicht mit dem Wurme eine Angel schlucken.<br />

Goethe sagte mal zu Riemer über den Gymnasiallehrer Bötti-<br />

ger: er ähnelt den Harpyen, er muß erst in das hineinscheißen,<br />

was er einem vorsetzt, so ist das mit solchen „Vorreden“. Ich<br />

sehe nicht ein, warum ich für dieses Harpyenzeug einen Pfen-<br />

nig <strong>aus</strong>geben soll. Dieses Ansichtsexemplar geht heute zurück.<br />

Leider wird es immer mehr Mode, ältere Sachen – die den Ver-<br />

leger gar nichts kosten – mit derartigen Vor- oder Nachworten<br />

zu garnieren. Das sollen sie mal schön für sich behalten, nie-<br />

mand sollte ihnen dieses Zeug abkaufen. – Als Goethe mit Rie-<br />

mer in Karlsbad war, begegnete ihnen jener Böttiger, und Goe-<br />

the sagte: „Der sah doch dem Böttiger ähnlich!“ „Das war er<br />

selber“, antwortete Riemer. Darauf Goethe: „Na Gott sei Dank,<br />

daß er nicht noch ein zweites solches Arschgesicht geschaffen<br />

hat!“ 17 Der Herr Geheimbde Rat konnte sich doch recht volks-<br />

tümlich <strong>aus</strong>drücken.<br />

Heute erhielt ich ein Päckel von Gerda Baumann, in dem<br />

steckte eine elektrische Kaffeemühle. Diese hab ich eben ein-<br />

mal mahlen lassen und stelle dabei fest, daß der fertige Kaffee<br />

wesentlich stärker ist, von der gleichen Menge Kaffeebohnen,<br />

die ich sonst zu mahlen pflegte. Das ist der Erfolg der feineren<br />

Mahlung. Da in 30 Sekunden alles erledigt ist, kann ich 150 mal<br />

Kaffee mahlen für 1 Pfennig Strom! Sonst drehte ich zwei Minu-<br />

ten etwa die Kurbel, jetzt drückt man auf einen Knopf.<br />

16. November<br />

Gestern sind 10° minus erreicht worden, heute früh lag der<br />

erste Schnee. Die Rhododendronblätter rollen sich zu Röhren<br />

17 Diese Anekdote überlieferte Ernst Moritz Arndt in Meine Wanderungen und Wande-<br />

lungen mit dem Reichsfreiherrn Heinrich Karl Friedrich vom Stein (1858).<br />

und hängen abwärts. Durch das Einrollen werden die Spaltöff-<br />

nungen der Blatt-Unterseite dem <strong>aus</strong>trocknenden Winde entzo-<br />

gen; es kann weniger Wasser <strong>aus</strong> dem Blatte verdunsten. Und<br />

das ist deshalb vernünftig, weil bei dieser niederen Tempera-<br />

tur die Wurzeln kein Wasser aufnehmen können. Die Pflanze<br />

würde vertrocknen, am Wassermangel eingehen. Es gibt also<br />

Vernünftiges – nur leider spricht das Unvernünftige lauter, öf-<br />

ter, p<strong>aus</strong>enlos.<br />

6. Dezember<br />

Merkwürdig, wie manchmal das Gedächtnis funktioniert:<br />

Seit gestern abend grub ich es um, den Namen eines Mannes<br />

wiederzufinden, der im Anfang der Nazizeit eine Zeitschrift her-<br />

<strong>aus</strong>gab, die er „Der Widerstand“ benannte und in der oft recht<br />

kühne Betrachtungen zu den Vorgängen in Deutschland stan-<br />

den. Allerdings lebte die Zeitschrift nicht sehr lange, vielleicht<br />

bis Ende 1934 oder Anfang 1935. Wie es dem Her<strong>aus</strong>geber er-<br />

ging, weiß ich nicht. Darin stand ein Aufsatz eines Kieler Arztes<br />

mit dem Titel „Die Rache der letzten Bank“, in dem die törich-<br />

ten Maßnahmen einer Anzahl zu hohen Funktionen gelangter<br />

Leute scharf beleuchtet wurden und zur Erklärung jeweils hin-<br />

zugefügt war, wie diese Unbegabten kraft ihrer Glaubensstärke<br />

hoch gekommen seien und nun als geistig Minderbemittelte<br />

Rache an ihren Lehrern zu nehmen suchten. So etwas mußte<br />

eingehen. Heute, als ich gar nicht daran dachte, sah ich in Ge-<br />

danken den gut gedruckten Zeitschrifttitel vor mir, las, daß der<br />

Her<strong>aus</strong>geber Niekisch 18 hieß – wie der damals nicht mehr le-<br />

18 Ernst Niekisch (1889–1967) gab den Widerstand. Zeitschrift für nationalrevo-<br />

lutionäre Politik (1926–1934) her<strong>aus</strong>. 1937 verhaftet und wegen Hochverrats<br />

zu lebenslanger Haft verurteilt, überlebte er und schrieb das Buch über Hitler-<br />

Deutschland Das Reich der niederen Dämonen, Hamburg 1953. Seit 1945 lebte er<br />

in Westberlin, war Mitglied der SED und hatte eine Professur an der Ostberliner<br />

Humboldt-Universität. Nach dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR<br />

Bruch mit der SED.<br />

234 235


1968 Schnürsenkel<br />

bende Generalmusikdirektor des Leipziger Gewandh<strong>aus</strong>orches-<br />

ters. 19 Es ist doch seltsam, wie im Unbewußten in den Gehirn-<br />

zellen gesucht und dann auch das Gesuchte gefunden und im<br />

engen Hirnkasten ungerufen projiziert wird wie ein Lichtbild.<br />

Selbst die bemerkenswert gute, tiefschwarze Druckfarbe wurde<br />

deutlich. Wie sich solche Eindrücke nur 35 Jahre erhalten kön-<br />

nen, das bleibt dunkel. Und welche Unmasse gemerkten Ge-<br />

rümpels trägt man in seinem Hirnkasten herum! Gesichter, Hal-<br />

tungen, Stimmen, Landschaften, Kunstgebilde – wer da Inven-<br />

tur machen wollte, käme lange nicht zu Ende. Was da alles in<br />

dieser „Merkei“ gespeichert ist! denn Kartei kann man nicht sa-<br />

gen, weil dazu großer Raum nötig wäre.<br />

12. Dezember<br />

Ob einer, falls er meine <strong>Briefe</strong> durchleuchtet, erleuchtet ist,<br />

wird von ihm selber abhängen. Daß solche Manipulationen<br />

überhaupt vermutet werden, ist ein übles Zeichen.<br />

18. Dezember<br />

An Erika schick ich noch eine Kopie des Bildes <strong>aus</strong> einem<br />

älteren Geschichtsbuche der Stadt Dresden 20 , auf dem meine<br />

Mutter, also Karins Ururgroßmutter und deren Mutter, ihre Ur-<br />

ururgroßmutter zu sehen sind. Meine Mutter war damals 1871<br />

noch nicht ganz elf Jahre alt und hatte beim Einzuge des säch-<br />

sischen Kronprinzen, am 11. Juli 1871, diesen mit Gedicht und<br />

Lorbeerkranz zu begrüßen. Hoffentlich kommt mein Brief in<br />

Nürnberg an. Es könnte sich jemand aufregen, weil Fahnen und<br />

19 Dieser hieß <strong>Arthur</strong> Nikisch (1855–1922).<br />

20 Das alte Dresden. Bilder und Dokumente <strong>aus</strong> zwei Jahrhunderten, gesammelt und<br />

hrsg. von Erich Haenel und Eugen Kalkschmidt, München 1925. Das Bild auf S.<br />

285, ein Gemälde von Friedrich Wilhelm Heine, trägt die Unterschrift „Einzug des<br />

Kronprinzen Albert mit den siegreichen sächsischen Truppen am 11. Juli 1871“, s.<br />

auch <strong>Briefe</strong> vom 13. Juli 1961, 23. Dezember 1964, 4. Januar 1969.<br />

Uniformen und Helmspitzen auch zu sehen sind. Die Botenfrau<br />

wäre mir lieber.<br />

20. Dezember<br />

Um ein paar lange, braune Schnürsenkel zu kaufen, be-<br />

suchte ich – zuletzt <strong>aus</strong> wissenschaftlicher Neugier – gestern<br />

drei Läden, bis sie ganz unerwarteter Weise zu kaufen waren.<br />

Ein „Kauflustiger“ wird zu einem „Lauflustigen“; die Zivilisation<br />

hindert die Weiterentwicklung zu einem „Rauflustigen“ oder zu<br />

einem „Sauflustigen“, was durch<strong>aus</strong> denkbar wäre. Die christli-<br />

che Erziehung zur Geduld – „Harre, meine Seele“ 21 und derglei-<br />

chen – hat also doch bis heute nachklingende Erfolge gebracht.<br />

Wer wird dieses „Kulturerbe“ vergessen!<br />

21 Geistliches Lied (19. Jh.), Melodie: César Malan, Text: Friedrich Räder.<br />

236 237


238 239<br />

1969<br />

7305 <strong>Waldheim</strong> i. Sa., den 4. Januar<br />

Hoffen wir, daß der Brief, den ich vorhin ¼ 4 h in den Kas-<br />

ten am Markt steckte, am Montage ankam. Die Klappen des<br />

Briefkastens waren angefroren und nur mit Gewalt die eine zu<br />

öffnen, die andre überhaupt nicht. Von einer lecken Dachrinne<br />

war offenbar regelmäßig Wasser herabgerieselt und dann in<br />

bindfadenartigen, dicken, senkrechten Streifen gefroren. Hier<br />

fand ich außer den Zeitungen achtzehn <strong>Briefe</strong> vor, die nun zu<br />

beantworten sind. In meinem Zimmer zeigte das Thermometer<br />

drei Grad plus; jetzt hab ich dreizehn Grad. Das ist zwar noch<br />

nicht gerade behaglich, aber doch erträglich.<br />

Ein neues Bild von meiner Urenkelin Karin schickte Erika.<br />

Es ist erstaunlich, welche Wandlungen der Ausdruck eines Kin-<br />

dergesichtes durchläuft. Leider ist die Physiognomik noch nicht<br />

zu einer Wissenschaft entwickelt, mit deren Hilfe man Künfti-<br />

ges erraten könnte. Über das Bild 1 der Urur- und der Ururur-<br />

großmutter haben sie sich sehr gefreut. Ich bin auch froh, daß<br />

es ankam, denn es hätte auch als Triumphbild des Einzugs ei-<br />

nes Königs nebst Gefolge und Fahnen beschlagnahmt werden<br />

können. Jedenfalls freuen sie sich, nun Bilder von sechs ein-<br />

ander folgenden Generationen zu haben, zumal der historische<br />

1 S. <strong>Briefe</strong> vom 13. Juli 1961, 23. Dezember 1964, 18. Dezember 1968.


1969 Staub<br />

Sinn sich dort allgemein zu beleben scheint, sogar bei Leuten,<br />

die sich dieses Phänomens kaum hell bewußt sind. Es scheint<br />

doch eine Art geistiger Wellenbewegung durch die Zeiten zu ge-<br />

hen. In einem vielbeachteten Werke 2 des Heidelberger Ordina-<br />

rius für Philosophie über den Historismus, das etwa vor einem<br />

halben Jahrhundert die Gemüter beschäftigte, schien man das<br />

Grabgeläute historischer Besinnung zu vernehmen angesichts<br />

der beschleunigten Entfaltung der Naturwissenschaften und<br />

des Austriebes völlig neuer ungeahnter Zweige der Mathema-<br />

tik. Das Interesse richtete seine Scheinwerfer der Aufmerksam-<br />

keit mehr und mehr auf Künftiges. Wir stehen hier und heute<br />

geradezu auf einem Aussichtsturme dieser Betrachtungsweise,<br />

und die Leuchtturmwärter merken noch nicht, daß sich bereits<br />

Kräfte regen, die die Lampen wieder einmal 180 Grad drehen<br />

wollen, um den zurückgelegten Weg zu betrachten. Es ist denk-<br />

bar, daß der Terminus „Renaissance“ nicht nur ein einmal ge-<br />

wesenes Phänomen bezeichnet, sondern daß gewisse Antriebe<br />

wiederholt im Entwicklungsgange wirksam werden können. Mit<br />

Marschmusik, mit Pauken und Fanfaren, im preußischen Stech-<br />

schritt, im passo Romano schritten die Zerstörer alter Kultur<br />

über die Bühne der Historie – vielleicht ziehen, noch unhörbar,<br />

auf leisen Sohlen ganz andere Kräfte heran. Das kann zur Zeit<br />

keiner beweisen und keiner widerlegen. Auch kann niemand<br />

behaupten, daß diese Auffassung mystischer Natur sei.<br />

17. Januar<br />

Heute erhob ich mich erst 11 h vormittags. Das bietet den<br />

Vorteil, das Frühstück zum Mittagessen zu ernennen und dabei<br />

Zeit, Geld und Arbeit zu sparen. Dann erweist man denen, die<br />

2 Vermutlich das Buch von Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen<br />

Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, Frei-<br />

burg, Leipzig 1896.<br />

das tadeln, einen Dienst: das gesteigerte Selbstgefühl des Tad-<br />

lers steigert seine Lebensfreude.<br />

Ich geriet wieder mal an den „Uilenspiegel“ von de Cos-<br />

ter. Das liest sich heute nach den Erlebnissen der letzten fünf<br />

Jahrzehnte noch ganz anders. Und es zeigt sich dabei, daß die<br />

Kriegsmethoden sich gleich bleiben, wenn sich auch die Waf-<br />

fen und die Uniformen wandeln. Hinter diesem Buche steckt<br />

eine gewaltige Arbeit: <strong>aus</strong> alten Akten, Stadtchroniken und Le-<br />

genden die konkreten Unterlagen herbeizuschaffen – das will<br />

etwas heißen. […]<br />

Was alte Leute griesgrämig macht, ist wohl weniger der<br />

Mangel einer Beschäftigung als die Minderung ihres Einflusses<br />

auf andere: Macht an sich ist böse – aber jeder möchte befeh-<br />

len, anordnen, das Tun der andern lenken, „gelden“. Die Mög-<br />

lichkeiten solcher Selbstbestätigung werden von Jahr zu Jahr<br />

geringer, und das verdrießt.<br />

24. Januar<br />

Daß der 29. Januar 3 als „Festtag“ anzusehen sei, ist mir<br />

nicht geläufig. Ich werde froh sein, wenn ich ihn ohne Belästi-<br />

gung hinter mir haben werde. Kinder mögen an solchen Tagen<br />

ihren Spaß haben; jedoch das legt sich mit der Zeit. Zumal man<br />

zuvor noch allerhand Arbeit hat, seine Bude „aufzuräumen“,<br />

um den kritischen Blicken etwaiger Besucher keine Ziele zu ge-<br />

ben. Das ist zwar ganz unmöglich. Aber man tut doch etwas.<br />

Da nun das Kritisieren denen, die es tun, eine Bestätigung ihrer<br />

eigenen Vortrefflichkeit ist, sollte man eigentlich ihnen dieses<br />

Behagen nicht verkümmern. Warum wird z.B. Staub, der sich ir-<br />

gendwo zur Ruhe gesetzt hat, immer wieder mit Staubtüchern<br />

in die Unruhe sich bewegender Luftwirbel gebracht? Er ist die<br />

letzte sichtbare Form des Seienden, die Form, zu der alles zer-<br />

3 <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s Geburtstag.<br />

240 241


1969<br />

fällt, das Elementarteilchen organischer und anorganischer Ma-<br />

terie; er ist bereit, zu neuen Formen sich zusammenzuordnen<br />

und ruht nur ein weniges <strong>aus</strong>; er kann unter langem Drucke zu<br />

Stein erstarren; er kann in den Aufbauprozess des Organischen<br />

wieder eingeordnet zu Blättern und Blüten umgebaut werden –<br />

aber er wird „gewischt“, in Unruhe versetzt, als unerwünschte<br />

Erinnerung an die Hinfälligkeit alles Seienden, nicht geachtet<br />

als Durchgangsform von Gestalt zu Gestalt. So Tabakasche:<br />

unter äquatorialer Sonne in großer Plantage zu riesigen Blät-<br />

tern herangewachsen, erfüllt mit den narkotischen Kräften ei-<br />

ner üppigen Natur, um die halbe Welt gereist, in Fabriken um-<br />

geformt, durch Handelsorganisationen umhergeschickt, zuletzt<br />

verbrannt; als Asche bereit, in neue Formen einzugehen – acht-<br />

los verworfen und „bekämpft“.<br />

29. Januar<br />

Heute stand ich bereits 5 30 auf. Wenn man schlafen könnte<br />

– das wäre schön, so wie es Sokrates in seinem Gespräch mit<br />

den Freunden im Gefängnis von Athen beschreibt, kurz bevor<br />

er wegen der angeblichen Beleidigung der Staatsgötter den<br />

Schierlingsbecher kredenzt bekommt.<br />

Gestern kam ich mit dem ehemaligen Direktor [Penzel] der<br />

Notenbank in ein Gespräch über die Harmonik in der Musik, in<br />

der Pythagoräischen Sphärentheorie, in der Architektur, in der<br />

Rationalität der Indices im Aufbau der Kristalle, in der Symmet-<br />

rie organischer Gebilde – und da sagt der Mann, ihm werde da-<br />

bei schwindlig, das sei nicht zu begreifen. Und ich hab mir im-<br />

mer gedacht, meine Fähigkeit, etwas Kompliziertes – ohne es<br />

zu verwässern – begreiflich darzustellen, sei eigentlich das Ein-<br />

zige, das ich verstehe. Man kann sich also über seine eigenen<br />

Begabungen sehr täuschen.<br />

8. Februar<br />

Dann traf ich den 78jährigen Studienrat Dr. Fiedler, der<br />

seinerzeit von der Neroslow 4 furchtbar gepeinigt wurde – bis<br />

er schließlich in Mittweida seine letzten Dienstjahre zu Ende<br />

brachte; er wohnt noch dort. Das ist noch ein friedensmäßig<br />

<strong>aus</strong>gebildeter Germanist gewesen, der wahrscheinlich unter<br />

diesem Direktorialgespenst am meisten gelitten hat. Rabelais,<br />

der im 16. Jahrhundert von den Ketzerrichtern der Sorbonne<br />

in Paris dem Scheiterhaufen bedrohlich nahe gebracht wurde,<br />

mußte auch auf der Hut sein – er konnte aber noch nach Ita-<br />

lien, nach Westdeutschland, nach Südfrankreich <strong>aus</strong>weichen<br />

und sich in Sicherheit bringen. Mittlerweile wurde die Welt klei-<br />

ner, jedoch die Bosheit nicht geringer. Das Leben scheint zu<br />

allen Zeiten ein gefährliches Abenteuer zu sein. Entgeht einer<br />

den Wölfen, so umzingeln ihn die Schlangen.<br />

10. Februar<br />

Auf der Goldenen Höhe traf ich gestern mittag den Musik-<br />

lehrer Opitz <strong>aus</strong> Döbeln, den Du auch mal in einem seiner Kon-<br />

zerte in der Oberschule Döbeln sahst, wo der Bassist Wollrad<br />

sang. Dieser ist zur Zeit an der Landesbühne Radebeul-Dres-<br />

den und kommt demnächst an die Oper in Dresden. Opitz ist<br />

seit fünf Jahren nicht mehr an der Lessing-Oberschule Döbeln,<br />

sondern an der Körnerplatzschule, von Sandner vertrieben,<br />

der ihm seine Mitarbeit bei kirchlichen Musikveranstaltungen<br />

verübelte. Frau Nowakowski ist Rentnerin und „mag sich ihre<br />

Schuhe nicht durch Betreten der Lessing-Oberschule beschmut-<br />

4 Gertrud Neroslow (1889–1957) war 1942 zusammen mit ihrem Mann, dem Maler<br />

Alexander Neroslow (1891–1971), wegen ihrer Widerstandsarbeit gegen das NS-<br />

Regime zu lebenslänglichem Zuchth<strong>aus</strong> verurteilt worden, eine Strafe, die sie im<br />

Zuchth<strong>aus</strong> <strong>Waldheim</strong> verbüßen mußten. Vgl. auch Hans Grundig, Zwischen Karne-<br />

val und Aschermittwoch, Berlin 1955. Von 1945–1951 leitete Gertrud Neroslow die<br />

damalige Luther-Schule in <strong>Waldheim</strong>.<br />

Entgeht einer den Wölfen...<br />

242 243


1969 Devisen<br />

zen“. Von den alten Lehrern sei niemand mehr da. Solche Zer-<br />

störungen kann ein einziger Schädling anrichten.<br />

19. Februar<br />

Eben schickte mir Münch das Inselbuch Nr. 803: Hermann<br />

Hesse, „Die späten Gedichte“ (1968). Vieles davon dürftest Du<br />

zwar haben; aber manchmal will man so ein Büchlein an einen<br />

geeigneten Menschen weiterreichen, wenn es auch nicht viele<br />

davon gibt. (Ich meine Menschen.)<br />

Theater mit Rücknahme von Flaschen: Sieh doch, worum es<br />

sich handelt! Der kleine Mensch im Laden, im „Organisations-<br />

büro“, der an der „Ordnung“ arbeitet – will zur „Geltung“ kom-<br />

men, etwas „bedeuten“, etwas „zu sagen haben“, „wer sein“,<br />

„am Aufbau helfen“ und so weiter. Aus der Fülle der Ausdrucks-<br />

möglichkeiten siehst Du, wie verbreitet dieses Streben ist. Und<br />

nun „ordnet“ jeder dort, wo sich ihm eine Gelegenheit bietet,<br />

heute so – morgen anders – und dann wieder anders. Das Be-<br />

wußtsein: „Das hab ich zu bestimmen“ ist so köstlich, daß ir-<br />

gendwelche Stimme der Vernunft überhaupt nichts bedeutet,<br />

nicht mehr als das Knarren einer Tür.<br />

Und mit dieser Gesinnungs-Roentgenbrille lies die Zeitung,<br />

lies bis zu welchen gefährlichen Punkten sich der Prestigewille<br />

dieser wie jener aufschaukelt, daß Lumpereien lebensbedroh-<br />

lich werden. Der bornierte Wille ist unbelehrbar seit Jahrtau-<br />

senden. Zwei dreijährige Kinder zeigten das mir gestern wieder<br />

auf der Straße, sie werden in dreißig, sechzig, hundert Jahren<br />

genau so dumm aufeinander losgehen, nur hantieren sie dann<br />

mit anderen Waffen. Das besagt nichts Wesentliches.<br />

Heute ist es wieder kälter geworden, die Sonne verbirgt<br />

sich, um das alles nicht mehr zu sehen.<br />

Manchmal kann eine Notiz von einer Zeile das Charakter-<br />

bild eines Menschen wesentlich bereichern: Der Verleger Barth,<br />

der die „Gargantua“-Übersetzung von Regis her<strong>aus</strong>zugeben zu-<br />

gesagt hatte – so etwa 1825 – verzögerte den Druck ungebühr-<br />

lich. Da wurde er vom damaligen Prinzen Johann – später Kö-<br />

nig von Sachsen – stark ermahnt: dieser selbe Johann war der<br />

Übersetzer von Dante, ein sehr kenntnisreicher Herr, Katholik,<br />

in der Theologie des Thomas von Aquino zu H<strong>aus</strong>e wie selten<br />

einer, und dieser selbe beförderte die Arbeit des guten Regis,<br />

in der die päpstliche Welt meisterhaft karikiert wird. Johann<br />

achtete die Meisterschaft, den Fleiß des Regis. Das macht den<br />

Prinzen sympathisch.<br />

25. Februar<br />

Wie kann man sich nur über den Mangel an Insel-Bändchen<br />

aufregen! Das ist doch eine ganz natürliche Sache. Diese Bänd-<br />

chen werden drüben für 3,50 oder 4 Westmark rasch verkauft;<br />

sie bringen also Devisen auf die einfache Weise wie die Engels-<br />

figuren von Wendt und Kühn in Grünhainichen. Ein ganz gerin-<br />

ger Aufwand an Material ergibt einen hohen Gewinn. Das ist<br />

wirtschaftlich vollkommen richtig gedacht. Genau so war es mit<br />

dem schönen Band von Merian-Bildern 5 , von dem vor 2 Jahren<br />

die ganze Auflage nach Holland und Westberlin ging. Die Aus-<br />

gabe kostete hier laut Börsenblatt 38 Mark – aber es war kein<br />

Exemplar zu kaufen. Wie hoch der Preis drüben war, werde ich<br />

vielleicht noch erfahren. Daß ihre Arbeit einmal mit Banka-Zinn<br />

und Java-Kaffee bezahlt werden würde, hat die Sibylle Merian<br />

kaum geahnt. Da heißt es eben „Haltung trainieren“, die keine<br />

Aufregung zuläßt, dabei werden nur Energien vergeudet.<br />

Zu dem, der sich darüber wundert, daß Shakespeare vor<br />

300 Jahren vieles wußte, wäre zu sagen, was Goethe bereits<br />

feststellte, daß man nichts Neues denken kann, das nicht die<br />

Vorwelt schon gedacht, daß nur auf dem Gebiete des Verstan-<br />

des und seiner technischen Anwendung „Fortschritte“ vorkom-<br />

5 M. Merians des Älteren seel. Tochter Neues Blumenbuch, Leipzig 1966 (Reprint).<br />

244 245


1969 Phänologischer Wetterdienst<br />

men, daß aber alles Gefühls- und Willensmäßige sich durch<br />

Jahrt<strong>aus</strong>ende gleich bleibt: der „Wille zur Macht“ war bei Xerxes<br />

oder Alexander oder Nero nicht anders als bei Hitler oder<br />

Stalin oder bei einem kleinen H<strong>aus</strong>besitzer, der seine Mieter<br />

schikaniert, „H<strong>aus</strong>ordnungen“, „Waschh<strong>aus</strong>regelungen“ aufstellt,<br />

wobei es gar nicht um die Beseitigung des Staubes geht,<br />

sondern um die Ausübung der „Befehlsgewalt“. Man muß lernen,<br />

mit Roentgen-Augen die Konstruktionsgerüste im seelischen<br />

Getriebe der Menschen zu erkennen.<br />

1. März<br />

Ich las wieder den Aufsatz 6 von Hermann Hesse über die<br />

Brüder Karamasoff vom Jahre 1919 – inzwischen ging ein halbes<br />

Jahrhundert dahin. Auch ein kluger Mann kann auf einen<br />

Holzweg geraten.<br />

3. März<br />

Ich las einiges von Hermann Hesse. Die Arbeit „Kinderseele“<br />

wäre eine sehr geeignete Grundlage für einen Kurs<br />

über „Kinderpsychologie“ mit Eltern und Lehrern. Wer dar<strong>aus</strong><br />

nichts zu lernen vermag, soll sich nicht mit Kindern befassen,<br />

soll auch keine „Lehrbücher der Psychologie“ schreiben. Aber<br />

das wissen diese Leute meist nicht. Was gebraucht wird, kennen<br />

sie nicht, und was sie „kennen“, wird nicht gebraucht. Sie<br />

wollen „die Welt verändern“ ohne zu ahnen, daß sie sich erst<br />

selbst verändern müßten.<br />

15. März Sonnabend 16 h<br />

Vorhin zählte ich zwanzig Vögel an meinem Fenster: 2 Amseln,<br />

4 Heckenbraunellen, 2 Zaunkönige und ein Dutzend Grün-<br />

6 Hermann Hesse, Fedor Michailowitsch Dostojewski. Die Brüder Karamasoff (Rez.).<br />

In: Vivos voco, (Leipzig, Bern) 1919/1920, 1, S. 201, oder: Die Brüder Karamasoff<br />

oder der Untergang Europas. Einfälle bei der Lektüre Dostojewskis. In: Die neue<br />

Rundschau, (Berlin) 1920, 31, S. 376–388.<br />

finken. Diese große Gesellschaft räumt mal ordentlich auf. Nur<br />

die Eichhörnchen fehlten. Eine Haubenmeise kam auch, also 21!<br />

Jetzt koch ich einen Tee, um den Rum etwas zu verdünnen,<br />

obwohl er auch unverdünnt genießbar ist.<br />

Montag. Wer Winterlandschaft liebt, kann sie sich hier an-<br />

sehen; nur ein geübter Naturbeobachter kann leise Andeutun-<br />

gen des Frühlings wahrnehmen: Knospen der Corneliuskirsche,<br />

leicht nach oben gebogene Ästchen an Bäumen, hellere Tö-<br />

nung der Rinde von Zweigen der Weide – und die Ankündi-<br />

gungen von Frühjahrskleidern in den Textilgeschäften. Das hat<br />

freilich mit dem Laufe der Jahreszeiten weniger zu tun als mit<br />

dem Anreizen zu Geld<strong>aus</strong>gaben für meist recht geschmacklose<br />

Dinge, aber „man trägt jetzt…“ Wer ist denn dieser befehlende<br />

„man“? Zunächst wohl der, der das Geld haben will. Da liegen<br />

noch seltsame Schatten kapitalistischer Wirtschaftsweisen auf<br />

dem sozialistischen Paradiese.<br />

28. März<br />

Heute morgen sieht man das gewohnte Bild des reichli-<br />

chen Schneefalls – immer das gleiche, Gärten und Dächer, Wäl-<br />

der und Zäune weiß, die kleinen Trupps vorwitziger Schnee-<br />

glöckchen müssen einen neuen Krater schmelzen, um <strong>aus</strong> dem<br />

Schnee an die Luft zu kommen. Crocus blühen noch nicht, auch<br />

nicht die Corneliuskirsche. Primula Juliae, die kleine rotblü-<br />

hende erste Primel, ist nicht zu sehen; sie galt früher im phäno-<br />

logischen Wetterdienst als erster Bote des Frühlings. Was „phä-<br />

nologischer Dienst“ ist? Eine Art der Wetterbeobachtung, die<br />

sich nicht der physikalischen Meßinstrumente – Thermometer,<br />

Barometer, Hygrometer – bedient, sondern das Wachsen und<br />

Blühen einer <strong>aus</strong>gewählten Reihe von Garten-, Wiesen-, Feld-<br />

und Waldgewächsen nach den Tagen des Erblühens notiert und<br />

so ein gewissermaßen gewachsenes Bild vom Wechsel der Jah-<br />

reszeiten zustande bringt (phänologisch vom Phänomen, dem<br />

246 247


1969 Hermann Hesses „Glasperlenspiel“<br />

Erscheinungsbilde). Man mißt also nicht die Ursachen – Wärme,<br />

Luftdruck, Feuchtigkeit – sondern deren Wirkungen auf die<br />

wachsende Welt sind zu beobachten. Das gibt dieses Jahr sehr<br />

viele „Verspätungen“ – also nicht bloß auf der Eisenbahn. Verbindet<br />

man auf einer Karte, z.B. von Sachsen, jeweils die Orte<br />

des gleichzeitigen Aufblühens der zu beobachtenden Pflanzen,<br />

so erhält man Linien, Isochronen = Gleichzeitigkeitslinien, an<br />

denen man die Höhennatur der Gebiete ähnlich zu sehen bekommt<br />

wie auf Höhenlinienkarten. Es ist das dann eine gewachsene<br />

Klimakarte, eine sehr interessante Sache. An der Reihenfolge<br />

der Linien erhält man sozusagen die Treppe, auf der<br />

der „Frühling auf die Berge steigt“. Wir erlebten ähnliches mal<br />

auf einer Fahrt nach Ilmenau, wo das Blühen, das in Weimar<br />

uns umgab, noch in den Knospen steckte. Man kann sich damit<br />

die Frühlingsfreude dadurch verlängern, daß man jeweils in die<br />

Gegend reist, wo Büsche und Blumen gerade in voller Pracht<br />

stehen, etwa in der Reihe Dresden–Freiberg–Marienberg–Seiffen,<br />

dann erlebt man ein sehr langes Frühjahr. Das schiebt sich<br />

in diesem Jahre um Wochen hin<strong>aus</strong>.<br />

31. März<br />

Eben – 11 30 h – frühstückt das kleine schwarze Eichhörnchen<br />

auf meinem Fenster; gegen 8 h war bereits das braune da.<br />

Dieses „Futterstreuen“ ist nun gerade noch mein Lebenszweck<br />

– man wird nach und nach recht bescheiden. […]<br />

Wie manchmal ein Wort eine ganze Welt erleuchtet! Im<br />

„Glasperlenspiel“ verlegt H. Hesse das Kloster der Spieler in<br />

eine ideale Landschaft, die er Kastalien nennt. Das geht zurück<br />

auf den Kastalischen Quell auf Delphos, der am reichlichsten<br />

von allen griechischen Quellen fließt und <strong>aus</strong> dem die neun<br />

Musen kamen, die Symbole aller Kunst und Weisheit der Antike.<br />

Damit ist angedeutet, welche bewahrende Arbeit die Benediktiner<br />

Klöster vor allem übernahmen, die Welt vom Humanismus<br />

her zu betrachten. Am Ende tritt dann der weltzuge-<br />

wandte Freund Designori in das Geschehen, der Mann der Tat,<br />

dessen Sohn zu erziehen Josef Knecht übernehmen will, also<br />

die „moderne“ Welt, wobei er zu Grunde geht.<br />

8. April<br />

Nächste Woche werden 120 Personenautos voll Rentner in<br />

geschlossener Kolonne über Dresden nach Pillnitz gefahren,<br />

dort mit Kaffee und Kuchen bewirtet und in eben dem Festzuge<br />

zurückgebracht. An der Spitze fährt *** mit Fahne – am<br />

Schlusse ein Autoreparaturwagen. [...] Ich habe mit bestem<br />

Danke darauf verzichtet, mich an diesem Vergnügen zu beteiligen.<br />

Verkehrspolizei sorgt unterwegs für störungsfreie ununterbrochene<br />

Fahrt. Na, wenn das nichts ist, das Lebensgefühl<br />

der Insassen zu erheben und das Bewußtsein ihrer Wichtigkeit<br />

zu steigern! Die Pläsiere der Könige werden zu Amusementen<br />

des Volkes. Na, noch muß man so etwas nicht mitmachen!<br />

Vielleicht werden auch die „Vergnügungen“ noch mal Pflicht.<br />

So zur Übung, während der Fahrt den Schnabel zu halten. Das<br />

kann ich in meiner Kl<strong>aus</strong>e viel besser tun.<br />

12. April<br />

Das Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 1968 und der 2. Band<br />

von „Goethes Amtlichen Schriften“ wären nun in der ersten Lesung<br />

verschlungen. Nun käme eine zweite Lektüre, die Kostbarkeiten<br />

zu vertiefen. Man sollte nicht für möglich halten, daß<br />

man <strong>aus</strong> einem Akten-Bande soviel Neues, Gutes, Schönes ernten<br />

könne. Ohne zu wissen oder zu ahnen, daß diese „geheimen<br />

Aktenstücke“ jemals von jemand wieder gelesen werden<br />

würden, haben sich darin Goethe, Voigt, Carl August Denkmäler<br />

ihrer Menschlichkeit, ihres Weitblickes, ihrer gesunden Urteilskraft<br />

gesetzt, die ihre Größe immer erstaunlicher erscheinen<br />

lassen. Daß diese drei Männer in Thüringen gleichzeitig<br />

das Land regierten, ist ein Glücksfall seltener Art in der Ge-<br />

schichte. Welch ein Strom von Weisheit und Güte ist damals<br />

248 249


1969 Sarrasani<br />

über dieses Land geflossen! Aus der täglich wechselnden Fülle<br />

sehr verschiedenartiger Forderungen könnte jeder Politiker ler-<br />

nen, was alles zur „Kunst der Menschenbehandlung“ gehört. Es<br />

wird deutlich, daß Goethes Spruch: „Was aber ist deine Pflicht?<br />

Die Forderung des Tages“ 7 ein Leitsatz seines Handelns war. Ich<br />

bin sehr froh, diese Veröffentlichung noch erlebt zu haben. Man<br />

sollte sich vor der Auffassung hüten, ein Aktenstück müsse tro-<br />

cken und langweilig sein. Jedes Aktenblatt enthält kristallisier-<br />

tes Leben. Welcher Zug von Gestalten geht da am Leser vor-<br />

über, vom Fürsten angefangen bis zum ärmsten Bittsteller ist<br />

vielerlei vertreten: randalierende Studenten, arme Strumpfwe-<br />

ber in Apolda, strebsame Handwerker, selbstbewußte Profes-<br />

soren, der einfache Soldat, bescheidene und anspruchsvolle<br />

Leute. Verwickelte Sachgebiete fordern ein strenges Sich-Ein-<br />

arbeiten: die Ordnung des bedrohten Geldwesens der durch<br />

Kriege erschütterten Währungen, die Beruhigung der aufgereg-<br />

ten Studenten von Jena, Bauangelegenheiten, Universitätsfra-<br />

gen, Ausbildung geeigneter Hilfskräfte, Berufungen geeigne-<br />

ter Professoren, Einrichtung einer Akademie, Rechtsfragen des<br />

Lehnswesens. An Sachkenntnis, an die Kunst der Menschenbe-<br />

handlung, an einfach menschliche Güte werden hohe Anforde-<br />

rungen gestellt. Und mit welcher Kunst der Formulierung sind<br />

schließlich die Vorschläge und Entschließungen zusammenge-<br />

faßt. Für heutige Leser sind diese Aktenstücke nach fast zwei-<br />

hundert Jahren Spiegelungen der Verfasser, die glaubten, daß<br />

diese Dokumente ungelesen in den Archiven lagern würden.<br />

25. April<br />

Ich bin tief in den „Wilhelm Meister“ geraten und bewun-<br />

dere immer mehr dieses Kunstgebäude, das ich vor 73 Jahren<br />

das erste Mal las und das man nie <strong>aus</strong>lesen wird.<br />

7 Maximen und Reflexionen (Hecker: 443).<br />

250 251<br />

28. April<br />

Nach Wildes „Dorian Gray“ sehe ich. Das ist sozusagen eine<br />

Parallele zu Balzacs „Chagrinleder“, wo das Dissipationsgesetz<br />

der Energetik zu Grunde liegt. Das picture bei Wilde entspricht<br />

der peau de chagrin bei Balzac als Symbol des Überganges le-<br />

bender Energie in tote, ein nicht umkehrbarer Vorgang. Ich er-<br />

innere mich noch genau, das Buch Wildes an einem sonnigen<br />

Tage der Pfingstwoche auf einer Wiese liegend gelesen zu ha-<br />

ben; das war etwa 1912, ist also schon ein paar Jahre her.<br />

29. April<br />

Die Einladung zu dem von der Gewerkschaft in Döbeln ver-<br />

anstalteten „Eichendorff-Nachmittag“ ließ ich an mir vorüberge-<br />

hen; denn man muß immer fürchten, daß alte liebe Worte in mo-<br />

derne Verbindungen gebracht und dadurch entstellt werden. […]<br />

Gestern zeigte mir *** ein kleines glänzendes Mineral mit<br />

einem wohl <strong>aus</strong>gebildeten Kristall – klein – <strong>aus</strong> dem schwar-<br />

zen Biotitglimmer. Er hatte es sich von einer Arbeiterin gelie-<br />

hen, um es mir zu zeigen; er war ganz begeistert. Das schätze<br />

ich an diesem Manne; er unterscheidet sich da sehr von seines-<br />

gleichen. Die Arbeiterin stammt <strong>aus</strong> Halsbrücke, wo das Stück<br />

wohl auf einer Halde gefunden wurde.<br />

30. April<br />

*** gab mir ein höchst interessantes Buch von einem „Tier-<br />

bändiger“ – er nennt sich selbst „Tierlehrer“ – und jeder Leh-<br />

rer könnte von ihm lernen: Otto Sailer-Jackson, „Löwen – meine<br />

besten Freunde“. Etwa 300 Seiten, die ich gestern abend ab 7 h<br />

in einem Zuge zu Ende las. Ich hab den Mann mal in Dresden<br />

gesehen, als mich Sarrasani 8 durch die Ställe führte. Der Mann<br />

saß in seinem Löwenkäfig. Sarrasani: „Na nu, Sie haben doch<br />

8 Hans Stosch-Sarrasani (1873–1934), Zirkusdirektor in Dresden.


1969 Eckermann<br />

heute einen freien Tag!“ Antwort: „Was soll ich in der Stadt? Ich<br />

bin doch viel lieber bei meinen Tieren.“ Er war dann Inspektor<br />

im Zoologischen Garten von Dresden und schildert am Ende<br />

des Buches die grauenhafte Zerstörung am 13. Februar 1945,<br />

die er mit den Tieren erlebt hat.<br />

5. Mai<br />

Heute ist hier eine drückende Schwüle, die Wärme läßt<br />

die Bodenfeuchte verdampfen, und das wird mir sehr unange-<br />

nehm. Kaffeesahne sei erst nächste Woche zu erwarten, wurde<br />

mir eben gesagt. Das Intermittierende der Versorgung gehört<br />

zu den Vorzügen dieses Systems, der Mensch wird immer in<br />

Spannung gehalten, während die im Westen herrschende Dau-<br />

erversorgung mit allen Waren zur Langweiligkeit des dort herr-<br />

schenden Lebens verhilft. Ich las die Rede eines mit dem Pro-<br />

fessortitel verzierten Arschlochs, in der behauptet wird: „Ein er-<br />

schreckender geistiger Verfall, die Zurücknahme und bewußte<br />

Zerstörung humanistischer Traditionen, die Her<strong>aus</strong>stellung des<br />

Abnormen, des Pornographischen und Sadistischen kennzeich-<br />

net die gegenwärtige Entwicklung der westdeutschen Kunst<br />

und Kultur“, und so geht es zwei Zeitungsseiten voll. Dieses<br />

Professorchen ist offenbar nur auf Pornographisches abonniert<br />

und erfährt vom übrigen nichts, weil ihn das nicht interessiert.<br />

Diese Schweine. Daß drüben gleichzeitig drei große Goethe-<br />

Ausgaben veranstaltet werden: die Hamburger, die Züricher Ar-<br />

temis-Ausgabe und eine bei Rowohlt – das wird nicht gewußt.<br />

Warum man dann hier westdeutsche, amerikanische, französi-<br />

sche, englische, italienische Filme laufen läßt, ist nicht zu ver-<br />

stehen. Der Kerl ist die Neu-Ausgabe von Goebbels. Bücher<br />

verlegen ist zunächst ein Geschäft, und der Verleger kann sein<br />

Geld verlieren, wenn er die Möglichkeit, seine Ware zu verkau-<br />

fen, falsch beurteilt. Ehe also ein solcher Unternehmer sich in<br />

diese Unkosten stürzt, Klassiker-Ausgaben, die pro Exemplar<br />

hunderte von Mark oder Franken kosten zu drucken, läßt er<br />

die Bedürfnisse danach von Fachleuten abschätzen. Auflagen-<br />

zahl und -höhe werden so zu einem Gradmesser der Bildungs-<br />

bedürfnisse einer Zeit. […]<br />

Abeken hat sich erledigt: der Titel stand in der Liste einer<br />

Goethe-Bibliothek, die der Besitzer, ein Dr. Weinreich in Senf-<br />

tenberg, für 1500 M verkaufen wollte. Ich schickte ihm die Liste<br />

dankend zurück mit der Bemerkung, daß ich dar<strong>aus</strong> nur den<br />

Band von Abeken 9 und ein Buch von Houben über Eckermann<br />

kaufen würde. Heute schreibt er, daß er die beiden für je 6.– M<br />

mir zusenden will. Das ist ein annehmbarer Preis. Erst wollte<br />

er die Sammlung nur geschlossen abgeben; aber offenbar hat<br />

sich niemand gefunden.<br />

252 253<br />

12. Mai<br />

Heute würdest Du merken, daß auch hier die Luft schwül<br />

und drückend werden kann; ich bin froh, von der Post wieder<br />

in meiner Stube angelangt zu sein. Da fällt einem der „Anstieg“<br />

auf meinen Berg doch recht schwer.<br />

Mitternacht: Eben kam ich an die letzte Seite des Buches<br />

H. H. Houben, „Goethes Eckermann – Die Lebensgeschichte ei-<br />

nes bescheidenen Menschen“, 1934.<br />

Das ist eine erschütternde Darstellung! Der rasche Verfall<br />

Weimars nach dem Tode Karl Augusts, 10 die völlige Kunstlosig-<br />

keit des Thronfolgers, der Geiz des reichen Fürstenh<strong>aus</strong>es, das<br />

den Mitarbeiter Goethes in Armut verkommen läßt, der kalte<br />

Betrüger Brockh<strong>aus</strong> 11 in Leipzig, der ihn um den größten Teil<br />

9 Vermutlich Bernhard Rudolf Abeken, Goethe in meinem Leben. Erinnerungen und<br />

Betrachtungen, Weimar 1904.<br />

10 Dem Großherzog von Weimar Carl August (1757–1828) folgte sein ältester Sohn Carl<br />

Friedrich (1783–1853) in der Regierung nach.<br />

11 Gemeint ist der Verlag F. A. Brockh<strong>aus</strong>, der Eckermanns Gespräche mit Goethe 1846<br />

druckte. Den Rechtsstreit um das Honorar führte Eckermann mit den damaligen


1969 Spargelkauf<br />

seines Honorars bringt, das er <strong>aus</strong> seiner Arbeit „Goethes Ge-<br />

spräche“ zu bekommen hat – das gibt ein entsetzliches Bild <strong>aus</strong><br />

der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wie suchten diese Gau-<br />

ner in Hofuniform oder im glattgebügelten Bürgerrock zu impo-<br />

nieren, sich in der Hofloge im Theater oder im Ehrenstuhl der<br />

Kirche – einem anderen Theater – bestaunen zu lassen! Daß Re-<br />

volutionen als eine Art von socialem Erdbeben diese Welt zum<br />

Einsturz brachten, ist völlig verständlich. Aber, es entsteht im-<br />

mer von neuem die peinliche Frage an jeden Fürsten, Papst,<br />

Parteiführer: „Durch welche Gaunertricks sind Sie so reich ge-<br />

worden?“ Daß dieser Zustand in der ganzen langen Geschichte<br />

der Menschheit sich so gleich blieb wie die Mode, auf den Hin-<br />

terbeinen zu laufen, wird schon durch die Geschichte des Aris-<br />

tides bewiesen, den man den Gerechten nannte: sein Beiname<br />

erklärt sich <strong>aus</strong> der ungeheuren Seltenheit dieser Erscheinung,<br />

daß mal einer nicht dem Egoismus erlegen war.<br />

16. Mai<br />

Sehr enttäuscht kamen hier zwei zurück, die mit Auto nach<br />

der Lößnitz bei Dresden fuhren, Spargel für ein Festessen ein-<br />

zukaufen: ein Pfund war die ganze Beute. Rechnet man da die<br />

Unkosten an Zeit und Fahrgeld dazu, so wird das eine sehr<br />

teure Speise. Diese Feinschmeckerei wird den Leuten abge-<br />

wöhnt. Sie war freilich symbolisch für den sogenannten „Klas-<br />

senstaat“, da es gewissermaßen zum Unterstreichen besseren,<br />

bürgerlichen Wohlstandes gehörte, Spargel in größeren Men-<br />

gen einzukochen oder eine „Spargelkur“ zu machen. Oder we-<br />

nigstens zu verkünden, daß man Spargel eingekocht habe.<br />

Auch hier gab es gelegentlich auf dem Wochenmarkte das Bild<br />

deftigen holländischen Wesens, wie es Niederländer zuweilen<br />

Inhabern des Verlages, den Brüdern Friedrich und Heinrich Brockh<strong>aus</strong>, vgl. Hein-<br />

rich Hubert Houben, Ein Kriminalprozeß in dem erwähnten Buch, S. 316–328.<br />

gemalt: die bessere H<strong>aus</strong>frau, die auf dem Markte kauft, die<br />

Magd neben oder hinter sich, die diese Vorräte in den bauchi-<br />

gen Korb verstaut zu einem schönen farbigen Stilleben – und<br />

das Ganze ein Stilleben einer seelischen Haltung.<br />

254 255<br />

19. Mai<br />

Zweifellos ist es besser, an Deinen Übersetzungen weiter<br />

zu arbeiten, statt den Meinungsmarkt des Radiokastens zu be-<br />

suchen. […]<br />

Dr. Toepel begrüßte es sehr, daß jetzt so ein Apparat bei<br />

mir steht. Naja. Die Zeitgenauigkeit meiner Uhr ist mir immer<br />

noch das angenehmste. Den Vortrag über „Freizeit“ hab ich<br />

nicht gehört. Schon die Vokabel ist offenbar neueren Datums.<br />

Ich könnte mich nicht erinnern, das Wort bei Goethe etwa ge-<br />

lesen zu haben. Erst Schopenhauer spricht vom Gegensatz-<br />

paar Not – Langeweile. Wenn also die Not gewichen ist, tritt<br />

die Schwierigkeit auf, die Langeweile zu töten. – Dr. Toepel hat<br />

in Weimar als Ersatz für die „Räuber“ von Schiller – Schau-<br />

spieler waren erkrankt – ein modernes Stück ansehen müssen,<br />

die „Aula“ von einem gewissen Kant, in dem in schändlicher<br />

Weise frühere Schule verspottet werde. Man habe sich nicht<br />

gescheut, den sächsischen Landesbischof Noth (Neffe von Frl.<br />

Noth 12 ) auf der Bühne zu karikieren. Die Ärzte hatten nicht den<br />

Mut, diese Vorstellung <strong>aus</strong>zupfeifen oder aufzubrechen, ehe<br />

der Dreck zu Ende war. Was doch die menschliche Natur alles<br />

<strong>aus</strong>halten kann.<br />

Goethe-Gedichte – schlecht vorgetragen, z.B. „Wie herrlich<br />

leuchtet / Mir die Natur!“ 13 – sogar fehlerhaft, hörte ich ein Weil-<br />

chen an und lernte das Abdrehen.<br />

12 Die <strong>Waldheim</strong>er Lehrerin Mathilde Noth (*1877) war eine Kollegin <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s.<br />

13 Aus Goethes Gedicht Mailied.


1969<br />

10. Juni<br />

Meine Spitzwegmappe wird heute fertig; diese Arbeit war<br />

eine gesunde Kur. Man muß ab und zu etwas mit der Hand<br />

machen; „mundieren“ nannte das Goethe, wenn er versuchte,<br />

einem Manuskript durch Einheften in eine Mappe mit eigner<br />

Hand eine äußere Gestalt zu geben. Das Wort mag „verschö-<br />

nern“ bedeuten, von mundus = Kosmos = das Schöne.<br />

11. Juni<br />

Zählst Du vom Ende des zweiten Teils vom „F<strong>aus</strong>t“ etwa<br />

160 Zeilen zurück, kommst Du auf die Stelle der „vollendete-<br />

ren Engel“, die F<strong>aus</strong>tens „Unsterbliches“ aufwärts zum Him-<br />

mel tragen:<br />

„Uns bleibt ein Erdenrest<br />

Zu tragen peinlich,<br />

Und wär’ er von Asbest, (d.h. unverbrennlich)<br />

Er ist nicht reinlich.<br />

Wenn starke Geisteskraft Absage an den französischen<br />

Die Elemente Materialismus, den geistigen<br />

An sich herangerafft, Vater der französischen<br />

Kein Engel trennte Revolution<br />

Geeinte Zwienatur (auch das gegen Girnus!)<br />

Der innigen beiden,<br />

Die ewige Liebe nur<br />

Vermag’s zu scheiden.“ 14<br />

So, da hast Du erst mal den Zusammenhang und auch den<br />

geistesgeschichtlichen Ort (gegen den Materialismus), <strong>aus</strong> dem<br />

der Gedanke stammt.<br />

Vergleiche Prof. Wachsmuth und Girnus als lebende Reprä-<br />

sentanten entgegengesetzter Auffassungen von Goethes Ge-<br />

dankenwelt, dann siehst Du den Girnus mit Donnergepolter<br />

14 F<strong>aus</strong>t II. Bergschluchten.<br />

„ärschlings“ zur Hölle fahren, und es bleibt von ihm ein vom<br />

Wind verwehter Fetzen verbrannten Zeitungspapiers.<br />

Welch erfrischender Wind wäre durch den Saal gestrichen,<br />

hätte ich das in Weimar gesagt. Jedenfalls kann ich in diesem<br />

„Professor“ keinen Gelehrten, sondern nur einen Propaganda-<br />

redner sehen. […]<br />

Auf den Bildern von Spitzweg, die mit großer Genauigkeit<br />

oft Einzelheiten darstellen – man kann auf manchem die Ge-<br />

wächse im Vordergrunde bestimmen – ist immer wieder zu be-<br />

wundern, wie oft mit einem ganz winzigen Stück blauen Him-<br />

mels der Blick in das Unendliche gezogen wird.<br />

256 257<br />

12. Juni<br />

Grock-Film<br />

Bis Mitternacht hörte ich eine vorzügliche Sendung zur<br />

Erinnerung an Grock, den größten Clown, der alle Regierun-<br />

gen überlebte und von der Kaiserzeit an bis etwa 1954 Millio-<br />

nen Menschen das gab, was die Politik ihnen nahm: ein unbe-<br />

schwertes, herzliches Lachen, ein Lachen über Witze, die zuwei-<br />

len in einem einzigen Worte bestanden, einem Worte, das nicht<br />

erwartet war. Zudem gab er das Vorbild eines Menschen, der<br />

un<strong>aus</strong>gesetzt bemüht war, seine Fähigkeiten und seine Leistun-<br />

gen täglich zu entwickeln und zu steigern. Als ich 1932 – als al-<br />

les politisch kochte – eine mir anvertraute Gruppe von 67 Er-<br />

werbslosen im Alter von 17–33 Jahren in den damals laufen-<br />

den Film von Grock führen wollte, gab es Schwierigkeiten. Der<br />

Kinobesitzer wollte mir zwar die gewünschten Freikarten ge-<br />

ben, aber die Steuer, die auf jeder Karte lag, solle ich ihm nicht<br />

zumuten. Die Steuerbehörde lehnte ab, mir sie zu erlassen und<br />

fand es unerhört, daß ich mit den Arbeitslosen ins Kino laufen<br />

wolle, obwohl das ein Bildungsfilm ersten Ranges war, wenn er<br />

gut durchdacht wurde. Erst als ich erklärte, daß ich die Steuer<br />

selbst bezahlen werde, den Betrag jedoch durch einen Artikel<br />

zurückgewinnen würde, in dem nicht gerade das Lob der Be-


1969 Riesenorganismus „Goethe“<br />

hörde gesungen werde, wurde die Steuer erlassen. Der Kinob-<br />

esitzer war wesentlich klüger als die Steuerbehörde. Er begriff,<br />

welchen Propagandawert mein Bemühen für sein Kino haben<br />

würde. Durch die gestrige Radiosendung wurden die Erinne-<br />

rungen an jene Zeit wieder recht lebendig. Es ist immer wie-<br />

der merkwürdig zu erleben, was alles in dem kleinen Raum des<br />

Schädels aufgehoben wird, über Jahrzehnte hinweg.<br />

13. Juni<br />

Das Citat „geeinte Zwienatur“ 15 zu ermitteln, dazu gehört<br />

nicht viel Findigkeit. Symbolhaft dafür ist das Ginkgo-Blatt, die-<br />

ses von Japan <strong>aus</strong> in die botanischen Gärten übernommenen<br />

Baumes. Wesentlich ist dabei die Ablehnung des materialisti-<br />

schen Denkens, womit die Meinungen des Girnus wie Kreide-<br />

schrift vom Schwamme <strong>aus</strong>gelöscht werden. „Wissenschaft“ ist<br />

diesem „Professor“ fremd. Wer die Tatsachen erst verfälscht,<br />

um sie seinen vorgefaßten Wünschen anzupassen, kann nicht<br />

als „Gelehrter“ ernst genommen werden. Das hätte man ihm<br />

sagen müssen. Darin kommt doch eine würdelose Primitivi-<br />

tät zum Vorschein, die beweist, daß urzeitliche Deutungsversu-<br />

che trotz alles „Fortschrittes“ immer wieder neu geboren wer-<br />

den und in jeder Generation weiter leben. Der Glaube, daß die-<br />

ser Zustand einmal aufhören könne ist zwar notwendig, aber<br />

eben ein frommer Wunsch, den die Geschichte nicht erfüllt. Es<br />

sind immer nur einzelne, die sich dagegen behaupten und dar-<br />

auf verzichten, auf den bequemen Polstern eines „Glaubens“<br />

<strong>aus</strong>zuruhen. Das immer komplizierter werdende „technische<br />

Mobiliar“, mit dem man sich umgibt, beweist keineswegs ei-<br />

nen Fortschritt in der geistigen Welt, in der sich zu behaupten<br />

eine bedeutende Anstrengung verlangt. Der geistige Riesenor-<br />

15 S. den Brief vom 11. Juni 1969. Vgl. auch das Gedicht Gingo biloba in Goethes West-<br />

östlichem Divan.<br />

ganismus „Goethe“ hat sich in seinem langen, mit ungeheurem<br />

Fleiße entwickelten Leben so bereichert, daß es für Diebe aller<br />

Art ein Leichtes ist, sich <strong>aus</strong> dieser Schatzkammer das anzueig-<br />

nen, was ihnen in ihren Kram paßt. Darüber Aufsätze, Bücher,<br />

Hörspiele, Filme zu verfassen, die höchst verschieden einan-<br />

der widersprechen, dürfte keine große Anstrengung erfordern –<br />

aber welchen Sinn könnte es haben, seine Zeit an solche Auf-<br />

gaben zu verschwenden? Taumelt weiter wie gepeitschte Krei-<br />

sel auf flachen Platten, höhere Einsichten bleiben einer kleinen<br />

Aristokratie vorbehalten. Wie gewisse Farnkräuter des heutigen<br />

Waldes in Versteinerungen uralter Vergangenheit bereits ab-<br />

gedruckt sind, so erhalten sich primitive geistige Konstruktio-<br />

nen durch alle Zeiten. Sprachen, Vokabular, Ausdrucksweisen<br />

mögen wechseln – die Substanz des Irrtums, des Fehldenkens<br />

bleibt erhalten und wird täglich neu geboren. Auch „Denkma-<br />

schinen“ werden daran nichts ändern, da diese gar nicht „den-<br />

ken“, sondern an ihren Schaltknöpfen die Bedienung durch<br />

Menschen nötig haben.<br />

Ein Blick auf die farbige Blumenwelt in den Gärten auf dem<br />

Wege zur Goldenen Höhe muß einen angesichts dieses geisti-<br />

gen Zustandes entschädigen und davor bewahren, zum ewig<br />

unzufriedenen Griesgram zu werden.<br />

258 259<br />

14. Juni<br />

Ordnungswidrig blüht ein kleiner Löwenzahn an der Bord-<br />

kante und richtet sein rundes Blütengesicht so in den Raum,<br />

daß die Sonnenstrahlen rechtwinklig auftreffen. Welche Vor-<br />

gänge spielen sich da ab, daß die wachsenden Zellen des<br />

Stengels von der Strahlungsenergie des Lichtes genau gerich-<br />

tet werden. […]<br />

Das Blühen der Gärten wurde täglich schöner und richtete<br />

sich nach dem der Pflanze innewohnenden Kalender; so blü-<br />

hen rote Mohne und bunte Lupinen, Erigeron, Saxifragen, Jas-


1969<br />

min und erste Rosen; späte Pfingstrosen entfalten sich noch,<br />

Akazien blühen.<br />

1. Juli<br />

Gestern abend wurde Lübke in Bonn verabschiedet, wobei<br />

es 2500–3000 Gäste von Silberplatten zu bewirten galt und<br />

einige Flaschen Sekt zu leeren waren. Heute wurde der neue<br />

Bundespräsident Heinemann in Bonn vereidigt. Was müssen<br />

das für Räume sein in diesem Schlosse, um solche Mengen<br />

von Gästen „würdig“ aufzunehmen! Es waren 170 Kellner vor-<br />

gesehen, deren jeder also etwa 15 Gäste zu bedienen hat. (Und<br />

wenn dann ein Kellner einem Geizhals sagt: „Ich träumte, Ex-<br />

cellenz gaben mir zehn Mark Trinkgeld“, wird der Geizige erwi-<br />

dern: „Ein schöner Traum! Sie dürfen die zehn Mark behalten.“)<br />

Da hat also die Geschichte ein neues Blatt umgewendet! Wel-<br />

che Reihe von „Oberhäuptern“, die ich erlebt habe: Wilhelm I.<br />

– Friedrich – Wilhelm II. – Ebert – Hindenburg – Hitler – (Räder)<br />

– Heuss – Lübke – Heinemann und im Osten nach Hitler – Pi-<br />

eck – Ulbricht. Generalmusikdirektor eines Staates zu sein ist<br />

jedenfalls eine sehr schwere Aufgabe, weil dieser die zu diri-<br />

gierenden Partituren nicht vorher studieren kann, da sich diese<br />

stündlich neu komponieren, in neuen Tonarten, mit sich verän-<br />

dernden Instrumenten, stets wechselnden Musikanten.<br />

9. Juli<br />

Ich las ein sehr interessantes Buch, verfaßt von dem drit-<br />

ten Sohne des letzten sächsischen Königs, dem Prinzen Ernst<br />

Heinrich, „Mein Lebensweg vom Königsschloß zum Bauernhof“,<br />

1968 in München erschienen. Es ist das der letzte Bewohner<br />

des Schlosses Moritzburg, der Käthe Kollwitz <strong>aus</strong> dem zerbomb-<br />

ten Berlin nach Moritzburg holte, als man ihr ein Quartier neben<br />

einer V2 Waffenfabrik anwies, als sie <strong>aus</strong>gebombt war. Dresden<br />

wird sehr lebendig dargestellt, bis zum Untergang, den er dort<br />

noch erlebte. Die Nazis hatten ihn in ein KZ gebracht, ihn mit<br />

12 anderen bereits zum Erschießen an die Wand gestellt, als im<br />

letzten Augenblick der Schußbefehl zurückgezogen wurde, ähn-<br />

lich wie es Dostojewski in Petersburg erlebte. Nach unbemeß-<br />

baren Verlusten an Besitz – er war immerhin der Erbe der Wet-<br />

tiner, die 830 Jahre eine Fülle von Kunstschätzen gesammelt<br />

hatten. Nach 1947 hat er in einer weiten Einöde in Irland ein be-<br />

scheidenes H<strong>aus</strong> errichtet und lebt als Viehzüchter; Boden und<br />

Klima und Wirtschaftslage erschweren den Getreidebau, daß<br />

man dabei nichts gewinnen kann. Reuters Wort „zu sehen, was<br />

die menschliche Natur alles <strong>aus</strong>halten kann“ 16 trifft an diesem<br />

Schicksal sehr genau zu. Wer zur Teilnahme an einem mensch-<br />

lichen Schicksal befähigt ist, wird dieses Buch sehr hoch schät-<br />

zen und damit auch den Verfasser, der das erlebt hat, was er-<br />

zählt wird, und das in einer schlichten Form berichtet.<br />

260 261<br />

14. Juli<br />

Schönen Dank für den so anschaulichen „Reisebrief“ <strong>aus</strong><br />

dieser alten Stadt. Das gesuchte Gedicht ist wohl das von Her-<br />

mann Allmers, der ein Bauer war in Rechtenfleth bei Bremen<br />

und von 1821 bis 1902 lebte.<br />

„Feldeinsamkeit<br />

Ich ruhe still im hohen, grünen Gras<br />

Und sende lange meinen Blick nach oben,<br />

Von Grillen rings umschwirrt ohn’ Unterlaß,<br />

Von Himmelsbläue wundersam umwoben.<br />

Und schöne, weiße Wolken ziehn dahin<br />

Durch’s tiefe Blau, wie schöne stille Träume; –<br />

16 Frei nach Fritz Reuter, Ut mine Stromtid. Kapittel 8.<br />

Prinz Ernst Heinrich


1969<br />

Mir ist, als ob ich längst gestorben bin,<br />

Und ziehe selig mit durch ew’ge Räume.“<br />

Dies Gedicht komponierte Joh[annes] Brahms.<br />

*<br />

Von den Grillen ist heutzutage nichts mehr zu hören. Auffäl-<br />

lig auch, wie die Zahl der Vögel auf dem Friedhofe von Jahr zu<br />

Jahr geringer wird. Wir nähern uns dem an Tönen dieser Art ver-<br />

armten Naturzustand – oder vielmehr Kulturzustand – wie ihn<br />

die Amerikanerin Rachel Carson in ihrem Buche „Der stumme<br />

Frühling“ geschildert hat, eine wissenschaftliche Untersuchung<br />

über die Naturzerstörung mit Hilfe der Chemie.<br />

An der romantischen Träumerei von Allmers kann man sich<br />

den Doppelbegriff von „Romantik“ klar machen: einmal ist dies<br />

die Bezeichnung einer (Literatur) Periode der deutschen – auch<br />

der französischen und der englischen Kunst – und andererseits<br />

handelt es sich um einen Gemütszustand, der durch keiner-<br />

lei Jahreszahlen zu begrenzen ist, der immer dauert, wo emp-<br />

fängliche Menschen leben, bei den Flöte spielenden Hirten in<br />

den Zeiten Homers wie noch heute. Ein gut Teil dessen, was in<br />

den Gedichten von Hermann Hesse klingt, im Ton des Volkslie-<br />

des, den er zu treffen wußte, ist „Romantik“. Nur so amusische<br />

Menschen – wie etwa dieser Girnus – wären imstande, solche<br />

Kunst kalt zu belächeln. In diesen Versen – sehr vielen bei H.<br />

Hesse – tönt diese Romantik als eine Grundmelodie menschli-<br />

chen Empfindens, ebenso wie in chinesischen und japanischen<br />

Naturgedichten. Daß ich mich damit irre, müßte mir erst bewie-<br />

sen werden.<br />

25. Juli<br />

Ich möchte nur wünschen, einige konkrete Eindrücke in das<br />

Bewußtsein gepflanzt zu haben; das war der Sinn der Stereos-<br />

kopbetrachtungen und der Beschäftigung mit ein paar Kristal-<br />

len. Denn nur auf ganz bestimmten Einzeltatsachen lassen sich<br />

allgemeinere Auffassungen begründen. Sinn jeden Unterrichtes<br />

sollte sein, eine leise Ahnung des Unendlichen und einen Be-<br />

griff vom Dasein des Schönen in der Welt zu vermitteln. Dabei<br />

von der Blüte eines Unkrautes oder der Gesetzmäßigkeit der<br />

Form eines Sandkornes <strong>aus</strong>zugehen, bleibt einprägsamer als<br />

Gedankenkonstruktionen mehrdeutiger Ideologien zu verfol-<br />

gen. Ich hab noch eine Reihe von Möglichkeiten, solche Wege<br />

zu gehen, und ihr werdet vielleicht Euren Besuch mal wieder-<br />

holen müssen. Mein Museum ist nicht erschöpft.<br />

Die Mondfahrer 17 sind glücklich zurück gekommen – mit ei-<br />

ner Verspätung von sechsundzwanzig Sekunden – diese Tatsa-<br />

che und die scheinbar so einfache Handlung, auf der Mondo-<br />

berfläche ein paar Steine und einige Kilo Staub einzuschaufeln,<br />

diese ganz konkrete Handlung eröffnet ungeahnte Folgerungen.<br />

Der Weg in das Unendliche in jeder Beziehung beginnt beim<br />

Sandkorn. Diese unerhört kluge Methode der Amerikaner muß<br />

selbst den Widerspenstigen zum Schweigen, zum Nachdenken,<br />

zur Aufmerksamkeit, zur Anerkennung zwingen. Die drei Mond-<br />

fahrer – und die Viertelmillion ihrer Mitarbeiter – stellten da-<br />

mit die Weichen für die Weiterfahrt der Weltschicksale auf ein<br />

neues Gleis. Gezeigt wurde, daß es möglich ist, die ungeheure<br />

Summe von Energien vieler Menschen – und das Geld ist die<br />

konservierte Energie dabei – auf ein ganz konkretes Ziel wirken<br />

zu lassen. Der Gedanke liegt sehr nahe, diesen Modellfall auf<br />

ein anderes Ziel anzuwenden, wie etwa die Zusammenordnung<br />

aller menschlichen Kräfte auf das Ziel eines friedlichen Zusam-<br />

menlebens. Das gibt dieser Entdeckungsreise ihre universale<br />

Bedeutung, die nicht vergessen werden kann.<br />

Die Mondfahrer<br />

17 Edwin Aldrin, Neil Armstrong und Michael Collins (Besatzung von Apollo 11).<br />

262 263


1969 Adalbert Stifter<br />

26. Juli<br />

Christian gab mir einen Roman von Alfred Wellm zu lesen:<br />

„P<strong>aus</strong>e für Wanzka“. Es ist eine Geschichte um ein Lehrerkolle-<br />

gium neuer Art. Nach dieser Lektüre bin ich froh, mit diesen Sa-<br />

chen nichts mehr zu tun zu haben. Ich wäre dem nicht gewach-<br />

sen. An solcher Literatur merke ich mal, in wie hohem Grade<br />

ich veraltet bin.<br />

4. August<br />

Daß dem Nixon bei seiner „Reise um die Welt in zwölf<br />

Tagen“ alles Äußerliche abgenommen werde, ist nur in Ord-<br />

nung. Er bleibt trotzdem ein kühner Luftfahrer, der nicht wis-<br />

sen konnte, aber für möglich halten mußte, jeden Augenblick<br />

einem gedungenen Mörder zum Opfer zu fallen und der die-<br />

ses Wagnis in einem höchst kritischen Zeitpunkte dennoch ge-<br />

bracht hat. Was hier geschah, war eine höchst bedeutsame<br />

Tat der ganzen bisherigen Geschichte, wenn das auch von den<br />

wenigsten erkannt oder gar gewürdigt wird. Hier schon über-<br />

haupt nicht. (Diese Sache darfst Du im „Gespräch“ nicht beto-<br />

nen, denn die Leute verstehen das nicht!) Aber es ist gut, zu<br />

wissen, daß man ein großes historisches Ereignis als Zeitge-<br />

nosse erlebte.<br />

13./14. August<br />

Die „Gammler“ in den westlichen Ländern könnten sich auf<br />

ihre Ahnen besinnen, die etwa auf Sokrates und die Kyniker<br />

des Altertums zurückreichen und in den Bettelmönchen des<br />

Mittelalters zu erkennen sind, Leute, die mit einem drastischen<br />

Auftreten die „Werte“ der Gesellschaft in Frage stellen.<br />

Schönen Dank für Deine Zeilen! Ganz richtig, auch am Be-<br />

ginn einer wissenschaftlichen Entdeckung steht eine Idee, eine<br />

phantasiegeborene Intuition, deren „Richtigkeit“ dann mit den<br />

Mitteln des Verstandes, der Mathematik, den Experimenten,<br />

der logischen Überlegung, der technischen Gestaltung bewie-<br />

sen wird. Am Anfang steht Platos „Sichwundernkönnen“. Beide<br />

– der Künstler und der Gelehrte – schöpfen <strong>aus</strong> demselben<br />

Brunnen. Das „Staunen“ steht am Anfang der genialen Leis-<br />

tung. Das unterscheidet vom Ban<strong>aus</strong>en, vom Spießbürger, vom<br />

Philister: daß eben diese Kategorie sich über nichts wundert.<br />

Durch einen langweiligen Unterricht wird das den Kindern nach<br />

und nach verschüttet – bis sie Spießer werden, die Tingeltan-<br />

gelmusik jedem Mozart vorziehen.<br />

Gestern abend las ich mal wieder Adalbert Stifter, „Nach-<br />

kommenschaften“. Welch eine friedliche Welt wird da sichtbar.<br />

Erlebnis und Wunschbild durchdringen einander. Die dargestell-<br />

ten Menschen erscheinen so lebendig, daß man sie vor sich<br />

sieht, selbst Nebengestalten, die mit wenigen Worten geschil-<br />

dert werden. In der Landschaft wandert man mit umher, ge-<br />

nießt die Luft des Gebirges und kann sich die Anstrengungen<br />

einer Reise sparen.<br />

Mit heute erscheinender Literatur ist das Sonderbare ver-<br />

bunden, daß sie möglichst trübselig und auf keinen Fall erfreu-<br />

lich sei – diesen Zustand sucht man nicht – ich nicht.<br />

26. August<br />

Ich las gestern abend noch so 40 Seiten in einem Ro-<br />

man von Kellermann, „Der Tunnel“, der mir geliehen wurde,<br />

ich glaube kaum, daß ich das weiter lese. Das Buch wird als<br />

„gesellschaftskritisch wichtig“ bezeichnet – solche Sachen<br />

sind meist dick aufgetragen, <strong>aus</strong> der Tube gemalt. Wozu soll<br />

man sich Zeit und Laune verderben, Meinungen von Literaten<br />

über wirkliche oder vermeintliche Übelstände zu lesen? Oder<br />

ist meine Auffassung eben doch nur ein Fehler, der sich <strong>aus</strong><br />

der wachsenden Beschränktheit des Alters herschreibt? Dann<br />

kann ich das auch nicht ändern; nur wenige werden solcher Zu-<br />

standsveränderung entgehen. Ich bin schon zufrieden damit,<br />

264 265


1969 Germanisches Museum<br />

daß ich mich noch an der Schönheit von Formen und Farben<br />

freuen kann. Ich sah gestern eine ganz herrliche Muschelschale,<br />

etwa 20 Zentimeter im Durchmesser, die mir *** zeigte. Regel-<br />

mäßige farbige Bögen wurden von der geschliffenen Oberflä-<br />

che reflektiert und reizten dazu, über die physikalische Gesetz-<br />

mäßigkeit dieser Erscheinung nachzudenken. Sie rührt höchst-<br />

wahrscheinlich daher, daß das vielfarbige Licht ein wenig in die<br />

Oberfläche eindringt und dann <strong>aus</strong> verschiedenen Tiefen die-<br />

ser Haut – je nach seiner Wellenlänge – zurückgeworfen wird,<br />

wobei es sich um Unterschiede von millionstel Millimetern han-<br />

deln mag. Es erinnert an die farbigen Erscheinungen an Al-<br />

penseen und Alpenflüssen, wo diese Bilder in riesiger Vergrö-<br />

ßerung zu sehen sind und wobei ebenfalls die verschiedenen<br />

Farben durch Reflexion <strong>aus</strong> verschiedener Stärke der durch-<br />

leuchteten Wasserschichten zu deuten sind.<br />

1. September<br />

Der schöne Schmetterling, den wir gestern sahen, war ein<br />

„Großer Fuchs“ (Vanessa urticae), dessen Raupe auf Brennes-<br />

seln lebt, die also auch etwas sehr Schönes damit ernähren.<br />

Das sollte man der unscheinbaren und mißachteten Pflanze als<br />

gute Leistung anrechnen, die also auch – wie mancher wenig<br />

beachtete Mensch – etwas Unerwartetes hervorbringt und die<br />

Welt des Schönen damit bereichert. Man kann nicht genug von<br />

den Kleinigkeiten der Welt wissen. Das „Unkraut“ Brennessel<br />

ist deshalb genau so beachtenswert wie irgendein unschein-<br />

bares H<strong>aus</strong>, an dem eine Tafel verkündet, daß darin mal ein<br />

Großer gewohnt hat; wie am Löwen in <strong>Waldheim</strong> die Tatsache<br />

interessant ist, daß Goethe darin übernachtete (Fürst Pückler<br />

würde schreiben „er pernoktierte darin“!)<br />

085 Nürnberg-Eibach, Dahlienstr. 73,<br />

Sonnabend, den 27. September<br />

Am Dienstag besuchte ich das Germanische Museum, zu-<br />

nächst um wieder einmal das herrlich in kleinen Goldbuch-<br />

staben geschriebene Evangelienbuch von Echternach zu be-<br />

trachten, das als ganz besonders wertvolles Stück in dieser<br />

Sammlung <strong>aus</strong>gestellt ist, in ganz wunderbar sauberer irischer<br />

Unzialschrift geschrieben. Die Buchstaben sind wie kleine gol-<br />

dene Perlen aneinander gereiht. Dann ertönte <strong>aus</strong> dem Saale,<br />

in dem alte Musikinstrumente <strong>aus</strong>gestellt sind, Joh. Seb. Bach.<br />

Ich ging dahin. Da hielt ein sehr kluger noch junger Mann in<br />

italienischer Sprache einen Vortrag vor etwa 25–30 Schülern<br />

<strong>aus</strong> Italien, die mit einem begeisterten Lehrer zuhörten, ei-<br />

nen interessanten Vortrag über einige Instrumente, die er sehr<br />

gut spielte. Ab und zu ertönte auf seinen Wink an einen Die-<br />

ner <strong>aus</strong> einer tellergroßen Rosette an der Wand ganz rein ein<br />

Werk der klassischen Zeit. Zum Schluß bedankte sich der itali-<br />

enische Lehrer italienisch und deutsch, die Schüler sangen ein<br />

altes Madrigal. Man erlebte, welch hohen Bildungswert dieses<br />

Museum hat, wenn Menschen da sind, die mehr zu tun vermö-<br />

gen, als die Instrumente abzustauben.<br />

085 Nürnberg-Eibach, den 6. Oktober<br />

Daß das Ginkgo biloba-Blatt verloren ging, beweist die<br />

sorgfältige Kontrolle. Es wird alles auf die Spitze getrieben. Vor<br />

1914 gab es eine Pflanzenschutzbestimmung, der zufolge le-<br />

bende <strong>aus</strong>gegrabene Pflanzen <strong>aus</strong>ländischer Herkunft vor ih-<br />

rer Auslieferung von einer Pflanzenschutzstelle untersucht wer-<br />

den mußten, um die Einreise irgendwelcher Pflanzenschädlinge<br />

zu verhindern. Daß man das jetzt auf Herbariumblätter, die ge-<br />

trocknet sind, erweitert, zeugt doch von sehr großer Vorsicht.<br />

Oder wird die Einfuhr von Mikrofilmbildern auf Pflanzenblättern<br />

befürchtet? Wer weiß, ob man die Methode kennt. Man kann<br />

266 267


1969 Ein Kilo Speck<br />

in ein lebendes Blatt ein Negativ kopieren, das zunächst nicht<br />

sichtbar ist. Es kann dann in einer dünnen alkoholischen Jodlö-<br />

sung entwickelt werden, auch wenn das Blatt getrocknet ist.<br />

7305 <strong>Waldheim</strong> i. Sa., 29. Oktober<br />

Die Sache in Döbeln am Freitag 14 Uhr laß ich vorbeige-<br />

hen ohne hinzufahren. Es heißt in der Ankündigung: „Unter<br />

dem Motto<br />

,… hier in diesem Land,<br />

wo Freundlichkeit Gesetz ist‘<br />

wird Ihnen das Sprechkollektiv des FDJ-Kulturensembles<br />

,Klara Zetkin‘ Leipzig mit Gedichten und Geschichten <strong>aus</strong> uns-<br />

rer Republik eine Stunde der Unterhaltung und des Nachden-<br />

kens bescheren. Musikalisch umrahmt werden diese Vorträge<br />

von zwei Künstlern des Leipziger Rundfunks mit Werken unsres<br />

fortschrittlichen Musikschaffens.“<br />

Interessant: „wo Freundlichkeit Gesetz ist“! Ich brauche nur<br />

an den unhöflichen Busfahrer meiner Rückfahrt von Leipzig am<br />

Freitag abend zu denken. „Gesetz“ ist und war eine Zwangs-<br />

maßnahme, „Freundlichkeit“ die freiwillige Erscheinung eines<br />

Wesenszuges. Das soll also identisch sein, so eine Art „freiwil-<br />

liger Zwang“ oder „befohlene Freiwilligkeit“. Dafür noch Zeit,<br />

Fahrgeld, Gasth<strong>aus</strong>kosten <strong>aus</strong>zugeben, das sollte mich dauern.<br />

30. Oktober<br />

Wie anstrengend das „Sitzung <strong>aus</strong>halten“ wird, erfuhr ich<br />

gestern abend, als ich mich bereden ließ, der Einladung des<br />

Kulturbundes zu folgen, um mir eine Nadel an die Jacke ste-<br />

cken zu lassen: „Ehrenabzeichen des Deutschen Kulturbun-<br />

des“, nebst „Urkunde“. Dazu wurde ein Teller Abendbrot und<br />

ein Glas Wein serviert, das ich nur dadurch verzehren konnte,<br />

daß ich mich an die im letzten Vierteljahrhundert gezahlten<br />

Beiträge erinnerte, mit denen dieses „Gastmahl“ dutzendemal<br />

bezahlt ist. Dann wurden Lichtbilder von Reisen von Rügen<br />

bis zum Schwarzen Meer gezeigt, von denen ich kaum etwas<br />

sah, weil das Licht zu schwach und das Format zu klein war.<br />

Auch was dazu erzählt wurde, hätte getrost wegbleiben kön-<br />

nen. Mir ist dabei wieder deutlich geworden, welchen Qualen<br />

die Kinder <strong>aus</strong>gesetzt sind, die Tag für Tag fünf Stunden lang<br />

oder noch länger den „Sitzungen“ <strong>aus</strong>geliefert sind. Die oft be-<br />

klagte Disziplinlosigkeit ist doch nur der Abwehrkampf der ge-<br />

quälten Kreatur.<br />

13. November<br />

Gestern beim Fleischer erregte mein Wunsch nach einem<br />

Kilo Speck im Laden Gelächter, und ich wurde belehrt, daß die-<br />

ser als Mangelware höchstens 100 g-weise an Leute abgegeben<br />

werde, die Fleisch zum Braten kaufen, was ich ja nicht tue. Ich<br />

wurde von der Fleischersfrau gefragt: „Wozu brauchen Sie denn<br />

den Speck?“ – „Zum Verschenken!“ sagte ich. Heute soll ich<br />

nun etwas Schinkenspeck erhalten, wollen mal sehen, ob das<br />

stimmt. Den kriegst Du dann. Zwiebeln gibt es nicht; jedoch ist<br />

<strong>aus</strong> Berlin eine Untersuchungskommission nach Döbeln gekom-<br />

men, die nach der Ursache des Zwiebelmangels geforscht hat.<br />

„Forschen“, „wissenschaftlich arbeiten“, das ist ja das Schlag-<br />

wort der Zeit; da lernt man „Wissenschaft“ verachten.<br />

13. November<br />

Gleich will ich Dir die überraschende Nachricht geben: Als<br />

ich heute am Ladentisch des Fleischers stand, mir das für heute<br />

angekündigte Stückchen Schinkenspeck zu holen, ging die Frau<br />

<strong>aus</strong> dem Laden und legte, <strong>aus</strong> dem Hinterzimmer kommend,<br />

ein eingewickeltes Etwas vor mich. Zu H<strong>aus</strong>e <strong>aus</strong>gepackt: etwa<br />

zwei Pfund Speck!! […]<br />

Die Rückseite ist freilich, daß nun in etwa zwanzig ande-<br />

ren Töpfen die Rouladen ohne Speck gebraten werden müssen.<br />

268 269


1969 Notrufe nach Kohlen<br />

Aber das ist eben der Fall, den Goethe meinte, als er schrieb:<br />

„Wenn ich eine Fliege erschlage, darf ich nicht daran denken,<br />

welche Organisation dabei zerstört wird.“ 18<br />

2. Dezember<br />

Die Beziehung Hunnius–Hesse führt über das Baltikum,<br />

Hesses Vater stammte <strong>aus</strong> Weißenstein in Estland. Dem Groß-<br />

vater väterlicherseits – Kreisarzt und Staatsrat Hermann Hesse<br />

– hat Monika Hunnius 1921 als dessen Nichte „Erinnerungen“<br />

gewidmet, zu denen der Dichter ein Vorwort schrieb. Das Buch<br />

könnte in der Universitätsbibliothek vorhanden sein; ob es<br />

<strong>aus</strong>geliehen wird, ist eine andere Frage. Denn es gibt bei Bi-<br />

bliotheken „Sperrvorschriften“, nach denen Bücher gewisser<br />

Richtungen nur an Leute <strong>aus</strong>geliehen werden, die sich mit<br />

„Forschungsauftrag einer Akademie“ <strong>aus</strong>weisen. Und den be-<br />

kommt nicht jeder. Der Titel „Öffentliche Bibliothek“ ist irrefüh-<br />

rend: die im Staatswappen geführte Demokratie wird im Ver-<br />

waltungswege außer Kraft gesetzt. MUSEUM USUI PUBLICO PA-<br />

TENS stand früher am Gebäude der „Königlichen Bibliothek“<br />

in Dresden, die jetzt Landesbibliothek ist (wo Hans arbeitet).<br />

Seit ich die Inschrift lesen konnte, war ich begierig auf Latein,<br />

also sehr früh. Heute ist der Öffentliche Gebrauch, der Usus Pu-<br />

blicus, durch Dienstvorschriften eingeschränkt. Beneidenswert<br />

sind die Leute, die das an allen Ecken fühlbare Zwangssystem<br />

des allmächtigen Staates nirgend empfinden.<br />

3. Dezember<br />

Ein neues Spiel hat einer erfunden: er macht durch eine<br />

Verbindung von Kathodenstrahl-Oszillographen, Fernsehappa-<br />

ratur mit Chladnischen Klangfiguren Musik als farbiges Formen-<br />

18 „Wenn ich eine Fliege todtschlage...“ In: Weimarer Ausgabe. Naturwissenschaftliche<br />

Schriften. Bd. 13, S. 238.<br />

spiel sichtbar! Ein neues interessantes Spielzeug, an dem mich<br />

hauptsächlich interessiert, wie durch die Kombination der in<br />

jahrhundertelanger Folge entdeckten technischen Einzelheiten<br />

etwas Neues hervorgebracht wird. Diese Methode geht durch<br />

die ganze Geschichte der Technik: als Stock und Stein zum ers-<br />

ten Male verbunden wurden, entstand der Hammer, der eine<br />

künstliche F<strong>aus</strong>t, eine Organprojektion ist.<br />

22. Dezember<br />

Wüßte ich doch erst, wie Du durch diese Kälte hindurch-<br />

kommst! Es soll zwar bald wieder umschlagen, nachdem im<br />

westlichen Norddeutschland Regen mit Schnee zu Glatteis und<br />

Unfällen geführt haben. Auch hier wird ein Zurückgehen der<br />

Kälte angesagt. Ob sich das schwankende Wetter danach rich-<br />

ten wird, bleibt freilich abzuwarten. Meine Kalanchoë sieht et-<br />

was erkältet <strong>aus</strong>. Hier sind stellenweise Keller besichtigt wor-<br />

den, um sich von der Berechtigung der Notrufe nach Kohlen zu<br />

überzeugen. Es sollen sogar einige ein paar Kohlen erhalten<br />

haben. Jedoch wie rasch brennt das Zeug ab, dessen Heizwert<br />

außerdem nicht so ist, wie das früher üblich war. Herr Böhme 19<br />

hat Tag und Nacht zu tun, das Einfrieren von Leitungen, das<br />

Erfrieren von Äpfeln (für etwa 3000 Mark) in seinem Keller zu<br />

verhüten, die Hühner zu erwärmen. Dagegen war die Wohnung<br />

von Dr. Toepel schön warm. Züge sollen mit großer Verspätung<br />

verkehren. Da macht mir das Reisen der Kinder Sorge. Jede<br />

qualmende Esse gibt ein erfreuliches Winterbild, weil sie mel-<br />

det, daß man in dem H<strong>aus</strong>e heizen kann. Gestern mußte ich am<br />

Abend ein zweites Mal heizen, da zehn Grad im Zimmer etwas<br />

wenig sind. Am Markte waren abends 7 Uhr 15 Grad Kälte, in<br />

der Nacht sank das Quecksilber weiter. Die Straße ist unbelebt,<br />

19 Vermutlich der H<strong>aus</strong>meister des Altersheims in Kriebethal, in dem Gertrud Scha-<br />

des Eltern lebten.<br />

270 271


1969<br />

wer es vermeiden kann, geht nicht hin<strong>aus</strong>. Ich bin froh, heute<br />

nicht nach Dresden zu fahren, wie das für mich gedacht worden<br />

war. Der Bahnhof ist in der Gepäckabfertigung überladen, weil<br />

Paketwagen fehlen. So häufen sich Behinderungen und Unfälle,<br />

weil es einem Druckgefälle in der Atmosphäre beliebt, Schwan-<br />

kungen zu verlagern und nach leicht faßbaren physikalischen<br />

Gesetzen Ströme von Kaltluft <strong>aus</strong> Skandinavien südwärts über<br />

Europa schwimmen zu lassen. Ob wohl die Warenhäuser noch<br />

so von Wärme durchflutet sind? So war das bereits im Oktober<br />

in Nürnberg; an jedem Eingang stieg ein Vorhang heißer Luft<br />

empor, und innen war das ganze Gebäude warm wie ein Ge-<br />

wächsh<strong>aus</strong>. Der Wind soll nun von Süden kommen, aber von<br />

den dick verschneiten Ästen bewegt sich keiner; dem warmen<br />

Südwinde graut es offenbar auch vor der grimmigen Kälte. Und<br />

die Rauchfahne schleicht immer noch mehr westwärts, was das<br />

Vorhandensein kalter Ostluftbewegung anzeigt. Es ist eigent-<br />

lich naiv, nach solchen Zeichen <strong>aus</strong>zuschauen; denn „Nach ewi-<br />

gen, ehernen, / Großen Gesetzen / Müssen wir alle / unseres<br />

Daseins / Kreise vollenden“ 20 . Beim Aufziehen meiner Wand-<br />

uhr auf einem Stuhle stehend merke ich, daß es sinnvoll wäre,<br />

hohe Barhocker als Stühle anzuschaffen; in der Höhe ist es viel<br />

wärmer als in der Nähe des Fußbodens.<br />

20 Aus Goethes Gedicht Das Göttliche.<br />

272 273<br />

1970<br />

7305 <strong>Waldheim</strong> i. Sa., den 2. Januar, 21 h<br />

Frage nicht, was mir alles durch das Bewußtsein wogt. Was<br />

wissen wir über die Fernwirkung guter Wünsche und lieber Ge-<br />

danken. Wir bewundern die technischen Vollkommenheiten<br />

moderner elektronischer Maschinen, ohne daran zu denken,<br />

daß es vielleicht im Bereiche seelischer Funktionen Vorgänge<br />

gibt, die sich jeder verstandesmäßigen Analyse bisher entzo-<br />

gen – aber wirksam sind. Die alten Begriffe von „Segen“ oder<br />

„Fluch“, die gewissermaßen in eine „Kammer für Veraltetes“<br />

verwiesen sind, diese Begriffe rufen doch zum Nachdenken auf.<br />

Oder meinst Du, daß ich zu viel Alkohol zu mir nahm, als Teil<br />

meines einsamen Abendbrotes? Noch erfasse ich ohne Fehlgriff<br />

die Türklinke im Dunklen und glaube auch, ohne viele ortho-<br />

graphische Fehler zu schreiben, obwohl sich der Spiegel in der<br />

Weinbrandflasche bedenklich dem Boden nähert.<br />

Als ich diesen Nachmittag Deinen Brief zum Kasten brachte<br />

und Brot und sonst verschiedenes einkaufen wollte, begegnete<br />

mir ***, der gerade auf dem Wege war, mir einige Bücher zurück-<br />

zubringen und Cigarren und eine Flasche Wein. Er nahm mich<br />

gleich mit zum Kaffee, schickte eine ihn begleitende Verwandte,<br />

meine Einkäufe zu besorgen und brachte mich dann nach dem<br />

Kaffee in meinen Bau auf die Turmstraße. Er sagte ganz heiter,<br />

daß seine Kohlen noch acht Tage zu reichen versprechen.


1970 Orakel von Delphi<br />

7. Januar<br />

Eine „Gesprächsrunde“ im Radio über „Bildungsreform“<br />

machte die ungeheure Schwierigkeit dieser Sache sehr deutlich.<br />

Grundsätzliches scheint unklar oder überhaupt nicht bewußt zu<br />

sein; klar nur, daß sehr viel Geld nötig ist – 30 Milliarden bis<br />

1975 – daß man „anfangen“ muß, daß der „Beamtencharak-<br />

ter“ des künftigen Lehrers, Professors etc., zu verschwinden<br />

habe, daß die jungen Leute zukünftig mit 30 oder 40 Jahren<br />

die Berufe wechseln, Assistenten, Lehrer in die „Industrie“ ge-<br />

hen sollen und umgekehrt, daß Leute <strong>aus</strong> technischen und in-<br />

dustriellen Berufen Lehrämter übernehmen – alles in allem ein<br />

Eindruck völliger Auflösung älterer Denkweisen. Daß das zu er-<br />

ziehende Kind mit seinen Wachstums- und Bildungsgesetzen<br />

der Hauptgegenstand solcher Überlegungen sein müßte – das<br />

scheint niemand zu sehen. Und doch schrieb bereits 1890 Wil-<br />

helm Dilthey zur Schulreform: Diese Schulreform findet nicht<br />

statt in den Konferenzräumen eines Ministeriums, sondern in-<br />

nerhalb der vier Wände der Klassenzimmer. 1 Das ist deutlich.<br />

Ich muß mich über eine Buchbindearbeit hermachen. Mein<br />

„Wörterbuch der obersächsischen und erzgebirgischen Mundar-<br />

ten“ ist zwar 1914 in grünes Leinen gebunden erschienen, aber<br />

man hat damals an Wesentlichem gespart, nämlich an der Qua-<br />

lität des Fadens und der Bindebänder, und so beginnen sich die<br />

Lagen zu lösen. Das ist für ein solches Werk recht gefährlich.<br />

Solche Arbeit hat mehr Schwierigkeiten als das Einbinden eines<br />

bisher nur broschierten Buches, na, geben wir uns Mühe. […]<br />

Ein elfjähriger Enkel von Frau Henschel schickte mir einen<br />

Neujahrsgruß und bedauerte, daß ich so weit weg wohne. Er<br />

hat zu Weihnachten ein Mikroskop bekommen und möchte sich<br />

dabei gerne beraten lassen von mir. Das ist nun einer von der<br />

1 Vgl. Schulreform und Schulstuben: „Wirkliche Reformen werden nur durch eine ste-<br />

tige schwere pädagogische Arbeit in den Schulstuben vollbracht.“<br />

nächsten Generation, so eine Art Urenkel. Ich komme mir bald<br />

vor wie das Orakel von Delphi. Das war der Nabel der Erde.<br />

Und die Wahrsagerin Pythia saß auf einem Dreifuß über einem<br />

Erdspalt, <strong>aus</strong> dem betäubende Gase strömten. Dieser Apparat<br />

fehlt mir.<br />

9. Januar<br />

In West-Berlin ist man mit Begräbnissen infolge der Wet-<br />

terlage sehr in Rückstand gekommen, so daß Särge mit Toten<br />

in Kühlhallen 3–4 Wochen aufbewahrt werden. Früher geschah<br />

ähnliches auf hochgelegenen Alpenhütten, da stand mancher<br />

Sarg im Winter lange im Schnee. Umgekehrt wurden jetzt zwei<br />

Waggons Bananen in einem Sitzungssaale aufgestapelt, sie vor<br />

Frost zu schützen; bald tropfte Schwitzwasser der Früchte von<br />

der Decke des Raumes, dessen Tapete sich löste, was zu erneu-<br />

ern nun dem Direktor zufällt, der die Anordnung gegeben hatte.<br />

Der Frost scheint nicht zu wissen, was er alles anrichtet.<br />

29. Januar<br />

Dank Leukoplast auf meinen Sohlen kam ich ohne Sturz<br />

bis zum Briefkasten und zurück über die Turmstraße, die als<br />

Anschauungslandschaft für den Geographie-Unterricht dienen<br />

kann, wenn von Gletschern die Rede ist. Und hier – wie überall<br />

– ist die Anschauung das Fundament aller Erkenntnis. Der Weg<br />

über den Friedhof ist zwar leichter zu steigen, er ist aber jetzt<br />

so spiegelglatt, daß es besser ist, ihn nicht zu benutzen. Stürzt<br />

einer dort, kann er unter Umständen über Nacht liegen bleiben,<br />

weil gerade niemand kommt, ihm auf die Beine zu helfen. Das<br />

5 cm breite Leukoplast wird also am besten vor einem Bein-<br />

bruch angewendet. Sohle und Absatz damit bepflastert, kom-<br />

men nicht so leicht ins Rutschen.<br />

274 275


1970 Albrecht Dürer<br />

29./30. Januar<br />

Die „Frühgemüseerzeuger“ – deren es eine Anzahl in die-<br />

sem landwirtschaftlichen Kreise Döbeln gibt, einige haben be-<br />

reits Gurken – sind angewiesen, alles (einschließlich junger<br />

Kohlrüben) für die Messe nach Leipzig zu liefern, die „das<br />

Schaufenster der Republik“ sei. Einwände, daß sie doch die<br />

Lieferverträge mit den Vorbestellern einhalten müßten, wur-<br />

den streng abgewiesen. Da erleben dann die Meßonkels, wie<br />

gut doch hier die Ernährung im Gang ist, daß das nur für diese<br />

„Gastverpflegung“ zutrifft, wird nicht sichtbar. Aber sie können<br />

berichten, selber Gurkensalat und Frischgemüse genossen zu<br />

haben. – Im Zusammenhange mit einem Buche über Dürer 2 und<br />

seine Bilder zur Apokalypse las ich dieses letzte Buch der Bibel<br />

gestern abend gleich nochmal durch. Der Verfasser, Johannes,<br />

der Apostel, entwickelt da eine starke Phantasie der Schreck-<br />

nisse, die zu allen Zeiten – bald mehr, bald weniger – die Er-<br />

wartung eines Weltunterganges erregten. Lebte dieser Apostel<br />

heute, könnte er als Filmregisseur in Hollywood seine Entwürfe<br />

in großen Filmen darstellen. Dort stehen alle Ausrüstungen al-<br />

ler Zeiten in bester Ausführung zur Verfügung: zahllose Rüstun-<br />

gen, Waffen, Kostüme, Maschinen in bester Ausführung, Säle<br />

voll blanker SA-Stiefel, Waffen, bewegliche Untiere, Drachen<br />

etc. vielleicht sogar ein marinierter Hitler.<br />

31. Januar<br />

In der Apokalypse und auf Dürers apokalyptischen Reitern<br />

ist der mit Pfeil und Bogen der Erfinder des Bakterienkrieges;<br />

denn er verschießt die Pestilenz. Diese Geschichte ist also ur-<br />

alt, 2000 bis 3000 Jahre.<br />

2 Heinrich Woelfflin, Die Kunst Albrecht Dürers, München 1905, s. auch Brief vom 16.<br />

und 28. Februar 1970.<br />

5. Februar<br />

Hoffentlich kommen nun für Dich ein paar freie Tage; nach<br />

den bisherigen Erfahrungen werden da oft Erfindungen ge-<br />

macht, die Zeit mit „Sitzungen“ und anderen Beschäftigungen<br />

anzufüllen oder zu zerstückeln, nicht weil diese Zeitvertreibe<br />

„nötig“ wären, sondern weil alles in Bewegung und Unruhe ge-<br />

halten werden soll. Ich verstehe schon, daß man mich für ei-<br />

nen Reaktionär hält, der die „früheren Zeiten“ über den grünen<br />

Klee lobe. Das tu ich gar nicht, ich frage nur nach dem Sinn<br />

der Maßnahmen und erkenne leider zu vieles, was manchmal<br />

den Veranstaltern selber noch gar nicht als bedenkenswert er-<br />

scheint. Daß hinter dem kleinsten Ding – einem Körnchen Salz<br />

– eine Idee lebt und ebenso hinter jeder Handlung, das be-<br />

greift man nicht.<br />

16. Februar<br />

In dem Woelfflin’schen Dürerbuche fand ich in einer Be-<br />

trachtung eine Besprechung von Dürers Kupferstich „Melan-<br />

cholie“, die mir nicht recht geglückt scheint. Er kommt mit<br />

dem Kristallblock, der in der Blickrichtung des Betrachters in<br />

der Bildmitte liegt, nicht ins Reine. Dazu ließe sich anderes sa-<br />

gen. Zu Dürers Zeiten empfand man freilich nur etwas von dem<br />

magischen Zauber des Kristalls, noch ohne zu wissen, welche<br />

Wachstumsgesetze am Werke sind und bestimmte Formen er-<br />

zwingen. Daß die Rationalität der Achsenabschnitte z.B. nicht<br />

erlaubt, daß beim Pentagondodekaeder die fünfeckigen Be-<br />

grenzungsflächen regelmäßige Fünfecke sein können. Gewiß<br />

kann man einen solchen regelmäßigen Körper als Modell in ir-<br />

gendeinem Stoffe bauen – aber bei diesem werden dann die<br />

Proportionen der Achsenabschnitte irrational. Das ist bei natür-<br />

licher Kristallbildung völlig <strong>aus</strong>geschlossen. Es ist zu verglei-<br />

chen der Tatsache, daß ein völlig reiner Ton auf einer Geigen-<br />

saite nur an dem einen, für diesen Ton richtigen Punkte erklin-<br />

276 277


1970 Hesses Jugendjahre<br />

gen kann. Je genauer dieser Teilungspunkt bei jedem Tone von<br />

dem Spieler gefunden wird, desto reiner ist der Ton. So ist etwa<br />

ein Kristall ein erstarrter Akkord – der Kristall als Raumgebilde,<br />

der Akkord als Gesetzmäßigkeit im Zeitablaufe. Aber diese Ge-<br />

danken erscheinen wohl absurd.<br />

28. Februar<br />

Ich lese anschließend an das Woelfflinsche Buch, „Die<br />

Kunst Albrecht Dürers“ noch ein bei mir vorhandenes von<br />

Knackfuß, „Dürer“, um die Kenntnis dieses Künstlers und sei-<br />

ner Zeit noch mal zu befestigen, wenn das auch wenig Zweck<br />

haben mag, da ich niemand mehr nütze.<br />

2. März<br />

Dr. Toepel erzählte gestern, daß sich hier in <strong>Waldheim</strong> im<br />

Besitze einer Tochter des vor einiger Zeit hier gestorbenen letz-<br />

ten Gastwirtes der „Wilden Sau“ das Gästebuch dieses einst<br />

berühmten, jetzt zerfallenen Wirtsh<strong>aus</strong>es befinde. Das Buch ist<br />

1836 von durchwandernden Leipziger Studenten angelegt wor-<br />

den und enthält über ein Jahrhundert lang viele Einträge von<br />

Studenten vornehmlich. Es hat also einen gewissen kulturhis-<br />

torischen Wert. Ich werde die Dresdener Bibliothek darauf auf-<br />

merksam machen. Vielleicht kann sie es für ihre Sammlung Sa-<br />

xonica kaufen. Vom Gasthofe selbst ist nichts Nennenswertes<br />

mehr zu sehen; er ist nach 1945 zu einem großen Teile ver-<br />

fallen. Im Restgebäude hat man Wohnungen eingerichtet. Sic<br />

transit gloria mundi [So vergeht der Ruhm der Welt].<br />

3. März<br />

Dir die Jugendbriefe von Hermann Hesse 3 zu empfehlen, zö-<br />

gere ich. Das ist keine erfreuliche Lektüre, und ich zweifle, ob<br />

3 Kindheit und Jugend vor Neunzehnhundert. Hermann Hesse in <strong>Briefe</strong>n und Lebens-<br />

zeugnissen. 1877–1895, Frankfurt am Main 1966.<br />

es richtig war, dies nach Herm. Hesses Tode drucken zu lassen.<br />

Ich geb Dir zuerst das kleine Gedenkbuch von Hermann und<br />

Adele Hesse, „Zum Gedächtnis unseres Vaters“. Es enthält von<br />

Herm. Hesse: „Aus meiner Kindheit“ (S. 7–22), „Zum Gedächt-<br />

nis“ (S. 23–49), „Zwei <strong>Briefe</strong> von Johannes Hesse“ (S. 51–58)<br />

und von Adele Hesse „Lebensabriß“ (S. 59–82). Dies Büchlein<br />

ist sehr eindrucksvoll. Es ist denkbar, daß die von Ninon Hesse<br />

her<strong>aus</strong>gegebenen Jugendbriefe her<strong>aus</strong>gegeben sind, um dem<br />

von Dir gelesenen Buche ein Gegengewicht zu geben, da sich<br />

in Hesses Jugendbriefen die unsägliche Schwierigkeit zeigt, mit<br />

diesem sehr schwer erziehbaren Jungen fertig zu werden. Man<br />

muß sich klar machen, wie geistig eingeengt die Menschen<br />

„gut bürgerlicher Kreise“ vor hundert Jahren waren, auch die-<br />

jenigen, die nicht in der Theologie wurzelten. Kam, wie in dem<br />

H<strong>aus</strong>e in Calw, beides zusammen, war das doppelt mühevoll.<br />

Durchlief ein Sohn nicht ganz normal seine höhere Schule, war<br />

das ein gesellschaftlicher Makel in den Augen aller guten Bür-<br />

ger. Erinnere Dich, daß Pipers Vater ein halbes Jahr nicht mit<br />

seinem Sohne sprach, weil dieser in einer Klasse sitzen blieb.<br />

Diese Abhängigkeit vom Urteil der anderen war eine fürchterli-<br />

che Belastung, unter der das Schicksal des zunächst Betroffe-<br />

nen überhaupt nicht gesehen wurde. Niemand sah die Wunden,<br />

die die „Erziehung“ schlug. „Strenge“ erschien als unbedingt<br />

nötig. Wie bei der Bauern-Medizin, die als um so heilsamer<br />

galt, je miserabler sie schmeckte. Wieviele „Jugendjahre“ –<br />

Jahre, die später als „schön“ besungen wurden – sind völlig<br />

sinnlos verbittert und vergeudet worden. Das beläuft sich auf<br />

Jahrt<strong>aus</strong>ende, mehr als die Geschichte überhaupt hat. Denn<br />

man muß diese Zeit mit der Zahl der betroffenen Individuen<br />

multiplizieren. Die Schülerselbstmorde, die Selbstmorde un-<br />

glücklicher Mädchen – wer zählte diese? Das „Statistische Jahr-<br />

buch“ vielleicht, aber nur so weit es dazu in der Lage war und<br />

der Arzt den Selbstmord nicht als „Unfall“ – „ist ins Wasser ge-<br />

278 279


1970 Tod eines Freundes<br />

stürzt“ – und nicht „hat sich ins W. g.“ – registrierte. Denn auch<br />

der Makel, einen Selbstmörder im Friedhofswinkel zu verschar-<br />

ren, mußte vermieden werden. So stark war der Druck einer<br />

stinkigen Massenmeinung.<br />

7. März<br />

Aus den Höfen schaufeln alle Leute den Schnee auf die<br />

Straße, weil sie die Bewässerung ihrer Keller fürchten. Dabei<br />

zeigt sich der primitive Trieb zu plastischer Formgebung: man<br />

glättet die Berge seitlich mit Schippen und Schaufeln.<br />

10. März<br />

Gestern genoß ich noch das Mißgeschick, an der Kirche ge-<br />

nau vor dem dortigen Fleischerladen „der Länge nach“ hinzu-<br />

stürzen, weil dort nie gestreut wird (schon 1912 nicht, wo ich<br />

durch einen Sturz an derselben Stelle für ein Jahr außer Dienst<br />

geriet!) Glücklicherweise brach kein Knochen, und es blieben<br />

außer etwas beschädigter Haut an der Hand nur die Prellge-<br />

fühle im Rücken und etwas Schädelbrummen; denn das Denk-<br />

gehäuse war ziemlich hart auf hart getroffen. Nun sitz ich hier<br />

bekümmert und verdrossen, ohne daß sich durch solche Ge-<br />

mütsbewegungen etwas an der Sache ändern ließe.<br />

11. März<br />

Gestern erhielt ich durch die Fernleihe das Buch des Nobel-<br />

preisempfängers Samuel Beckett, Auswahl in einem Buch. Ich<br />

lese zuerst das vielgenannte Stück „Warten auf Godot“ – eine<br />

schwer zu verstehende Folge von Szenen. Der Verfasser ist Ire,<br />

lebt aber meist in Paris und schreibt vornehmlich französisch,<br />

manches auch englisch. Daß ich das Buch bekam, bedeutet<br />

eine besondere Vergünstigung; denn nach den Bibliotheksvor-<br />

schriften darf diese Literatur nur an Leute <strong>aus</strong>geliehen werden,<br />

die einen Forschungsauftrag einer Akademie vorlegen können.<br />

Was ich nicht gerade als eine „demokratische“ Vorschrift anse-<br />

hen kann. Ich werde das mehrmals lesen müssen, die Lektüre<br />

ist anstrengend. Das Buch – 388 Seiten – erschien bei Suhr-<br />

kamp in Frankfurt a. Main. Da liest man: „Wir finden doch im-<br />

mer was, um uns einzureden, daß wir existieren.“ – „Wir wer-<br />

den alle verrückt geboren. Einige bleiben es.“ 4<br />

Eben erhielt ich einen <strong>aus</strong>führlichen Brief vom Sohne von<br />

Dr. Schumann, Karsten Schumann in Gießen. Ich hatte sehr<br />

lange – trotz mehrerer <strong>Briefe</strong> und Bücher, die ich geschickt –<br />

nicht eine Antwort bekommen. Und nun erfahre ich, daß vor<br />

langer Zeit beide Schumanns in ein schreckliches Pflegeheim<br />

nach Ehrenfriedersdorf gebracht wurden, wo Frau Sch. kurz dar-<br />

auf gestorben ist, daß Dr. Sch. schließlich von Karsten nach<br />

Gießen geholt wurde, wo er am 12. Februar 1970 gestorben ist,<br />

nachdem sein Körper- und Geisteszustand immer hinfälliger ge-<br />

worden war. Das ist sehr schmerzlich. Zu sehen, wie kümmer-<br />

lich ein Leben eines Menschen zu Ende gehen kann, der in jahr-<br />

zehntelangem Bemühen so vielen anderen ein Ratgeber, Helfer,<br />

Wecker gewesen ist, Scharen begeisterter Schüler herangebil-<br />

det, erst als Leiter der Dürer-Schule in Dresden, dann an der<br />

Oberschule in Zschopau und im öffentlichen Leben.<br />

280 281<br />

16. März<br />

Gestern abend hörte ich mir eine Sendung an, die un-<br />

ter dem Titel „Von mir zu dir“ Grüße und Glückwünsche zwi-<br />

schen den beiden Teilen Deutschlands vermittelt. Das war in<br />

vieler Hinsicht sehr interessant. Da schickt man gewünschte<br />

Geburtstagsmusik; es war von älterer Musik alles dabei: Joh.<br />

Seb. Bach, Mozart, Händel, Beethoven („Mondscheinsonate“<br />

von Backh<strong>aus</strong> gespielt), [Johann] Strauß bis zu dem Erzgebirgs-<br />

sänger Anton Günther, aber kein einziger Takt von sogenann-<br />

4 Warten auf Godot. Zweiter Akt.


1970 „Warten auf Godot“<br />

ter „moderner“ Musik! Die Texte der Wünsche, herzlich und<br />

fromm, erinnern an die Zeit vor hundert Jahren, an das Bie-<br />

dermeier, eine Generation vorher. Da ist nichts von geschraub-<br />

ter moderner Intellektualität, eine altväterliche „Gemüt“lichkeit<br />

lehrt, daß das Emotionale das Primäre, das durch lange Zeit-<br />

räume Beständige ist; da erklang eine Bach’sche Orgelmusik<br />

über „Nun danket alle Gott“, auch der „Lindenbaum“ 5 wurde<br />

besungen wie vor alters. Das ist ein sehr lehrreicher Beitrag zur<br />

Zeitgeschichte, nicht nur mit dem, was geboten wird, sondern<br />

mit dem, was nicht vorkommt.<br />

18. März<br />

Schönen Dank für den guten Brief. Ja, das „auf neue Grund-<br />

lagen-Stellen“ ist ein Krebsübel, das allenthalben eben die ge-<br />

wünschten „Grundlagen“ ins Wanken bringen muß. Ein Grund<br />

mag sein, daß immer wieder neue Figuren zu dirigieren begin-<br />

nen, so daß die jeweiligen Personen „zur Geltung kommen“<br />

– oder auch nicht – notwendigerweise die Sache dabei leidet.<br />

Das „Sich-Wichtig-Nehmen“ der Interpreten verhindert eine ob-<br />

jektive Betrachtung. – Die Medizin entwickelte die Differential-<br />

Diagnose durch mehrere Ärzte mit gutem Grunde: die Subjek-<br />

tivität der Beurteilung durch einen Arzt durch Überlegen von<br />

mehreren soweit als möglich einzugrenzen. Es ist bemerkens-<br />

wert, daß solche Urteilskorrektur zunächst auf diesem Gebiete<br />

erfolgte, wo jede Fehlhandlung bald sichtbare und verhängnis-<br />

volle Folgen zeigt. Im Unterrichtswesen treten die Folgen einer<br />

Tätigkeit nicht ohne weiteres sichtbar zu Tage, aber sie wirken<br />

allmählich um so nachhaltiger. Merkwürdig bleibt, daß die „Bil-<br />

dung“ so selten als ein Wachstumsvorgang verstanden wird,<br />

der an die von der Natur gegebenen Wachstumsgesetze ge-<br />

bunden ist. Ein Park, der in jedem Herbst und Frühjahr von ei-<br />

5 Am Brunnen vor dem Tore... von Franz Schubert.<br />

nem neuen „Parkgestalter“ neu „geordnet“ wird, verwandelt<br />

sich in verhältnismäßig kurzer Zeit in ein wüstes Gelände, das<br />

niemand gern ansehen mag, trotzdem ein großer Aufwand an<br />

Mitteln dabei vergeudet wird. Daß dieser Grundsatz der Stetig-<br />

keit auch für andere Lebensbereiche gilt, wird heute den we-<br />

nigsten klar. Die „Mode“ hat ganz andere Grundlagen, da soll<br />

durch tägliche Entwertung des eben Erzeugten eine neue und<br />

dauernde Gewinnmöglichkeit erzeugt werden. Das geschieht<br />

mit der Wirkung, daß man bald nicht mehr weiß, was mit dem<br />

täglich größer werdenden Bergen von Abfall geschehen soll.<br />

Dem Modenwechsel im Bildungswesen steht aber dieser Aus-<br />

weg, die eben veralteten Arbeitsergebnisse einer Müllverbren-<br />

nung zu übergeben, nicht zur Verfügung.<br />

Samuel Beckett versammelt in dem Stück „Warten auf Go-<br />

dot“ vier Männer und einen Jungen. Der Godot, auf den der<br />

eine ganz besonders wartet, erscheint nicht, vielleicht Gott ge-<br />

meint. Diese – eine Art heruntergekommener Vagabunden –<br />

quälen sich durch das Stück mit „Warten“, sinnlos, ohne jedes<br />

andre Tun als Warten auf etwas, das nie kommt. Vielleicht soll<br />

das Sinnlose dargestellt werden, nichts zu tun als zu „warten“.<br />

Damit wäre eine Zeitvergeudung verbildlicht, die seit 1933 min-<br />

destens Millionen Menschen in einen trostlosen Wartestand<br />

versetzte: Warten auf Arbeit, auf politischen Wechsel, auf eine<br />

Schachtel Zündhölzer, auf Alarm, auf Entwarnung, auf verspä-<br />

tete Züge, darauf, daß es „was gibt“ – ganz gleich was. Milliar-<br />

den Stunden sind verwartet worden. Und dagegen stelle man<br />

Goethes Satz: „Es ist besser, das geringste Ding von der Welt<br />

zu tun, als eine halbe Stunde für gering halten.“ 6 So gewinnt<br />

dieses Stück einen Sinn.<br />

Brandt besucht morgen Buchenwald.<br />

6 Maximen und Reflexionen (Hecker: 752).<br />

282 283


1970<br />

18./19. März<br />

Das heutige Erfurter Gespräch 7 weckt die Erinnerung an den<br />

Fürstentag, den Napoleon 1808 in Erfurt abhielt, oder an 1181,<br />

als sich in dieser Stadt Heinrich der Löwe vor Friedrich Barba-<br />

rossa demütigte, oder an 1290, da Rudolf von Habsburg dort<br />

residierte, Streitigkeiten schlichtete und 29 Raubritter enthaup-<br />

ten und 66 Burgen zerstören ließ. Man befindet sich also in ei-<br />

ner Stadt mit bedeutender Vergangenheit. Wir wollen nur hof-<br />

fen, daß da alles gut abläuft.<br />

Im Radio ist eine stürmische Begrüßung in Erfurt zu hören,<br />

die kaum im Programm vorgesehen war. Trotz aller Absperrun-<br />

gen sind nach Angaben eines Reporters 1000–1500 Menschen<br />

auf den Platz am Erfurter Bahnhof vor das Hotel geflutet und<br />

rufen: „Willy Brandt an das Hotel-Fenster“.<br />

20. März<br />

Staunenswert bleibt die Leistung von Brandt, der am Mitt-<br />

woch abend 8 h von Bonn abfuhr, am Donnerstag früh 9 29 in Er-<br />

furt eintraf, schwierige Verhandlungen führte, nachmittags ½ 5 h<br />

nach Buchenwald fuhr, am Abend in Erfurt weiter konferierte,<br />

nach 10 h abends nach Bonn abreiste, früh dort ankam und<br />

heute früh ½ Stunde nach Verlassen des Zuges vor dem Bundes-<br />

tag seinen Bericht gab und die Debatte anzuhören hatte. Das ist<br />

doch schon rein physisch eine starke Anforderung, ganz abge-<br />

sehen von der un<strong>aus</strong>gesetzten Wachsamkeit auf jedes Wort.<br />

17. April<br />

Es wird berichtet, daß die Russen und auch andere Völker<br />

Marine-Einheiten anweisen, den Meeresteil aufzusuchen, wo<br />

das Ankommen des Mondfahrzeuges erwartet wird, um dort,<br />

7 Erstes innerdeutsches Gespräch zwischen dem Bundeskanzler Willy Brandt (1913–<br />

1992) und dem Ministerpräsidenten der DDR Willi Stoph (1914–1999).<br />

falls nötig, Hilfe zu leisten. Diese Tatsache ist wohl von ho-<br />

her Bedeutung: Mächte, die zum Teil zerstritten sind, verbin-<br />

den sich zu einer gemeinsamen Hilfeleistung. Es zeigt sich da,<br />

daß dieses Mondforschungs-Unternehmen außer seiner wis-<br />

senschaftlich-technischen eine hohe emotionale Bedeutung ha-<br />

ben kann, daß dem Verlust an möglichem Erkenntniszuwachs<br />

(infolge des Betriebsschadens) ein Gewinn an Bereitschaft zu<br />

internationaler Zusammenarbeit gegenübersteht, der einen<br />

neuen Anfang in der Vereinigung der Völker einleiten kann. Und<br />

Du kannst sagen: Ich bin mit dabei gewesen. 8 Es ist durch<strong>aus</strong><br />

denkbar, daß in Jahrzehnten in einem Geschichtsbuche diese<br />

Mondfahrt am Anfang einer neuen Geschichtsperiode verzeich-<br />

net werden wird. So wie die Entdeckung Amerikas 1492 durch<br />

Columbus den geographischen Horizont erweiterte, könnte hier<br />

eine neue Epoche in der Entwicklung menschlicher Beziehun-<br />

gen eingeleitet werden.<br />

284 285<br />

19. Mai<br />

Es wurmt mich immer, daß ich nicht fähig bin, ungehemmt<br />

mit Dir über Berg und Tal und durch Feld und Flur zu streifen.<br />

Und das alles nur wegen des Herzschadens, den ich mir in den<br />

Jahren von 1933 zugezogen habe. Welche quälende Mühsal mir<br />

da aufgeladen wurde, kann nur einer empfinden, dem es ähn-<br />

lich ergangen ist. Und wieviele sind das, auch Opfer des Fa-<br />

schismus, ungezählte.<br />

21. Mai<br />

Heute ist also der vielleicht denkwürdige Tag der Begeg-<br />

nung 9 in Cassel. Ob dabei ein so kluger Mann, wie der im Mu-<br />

8 In Anlehnung an Goethes Worte in der Campagne in Frankreich: „Von hier und heute<br />

geht eine neue Epoche der Weltgeschichte <strong>aus</strong>, und ihr könnt sagen, ihr seid da-<br />

bei gewesen.“<br />

9 Gegenbesuch von Willi Stoph in der Bundesrepublik Deutschland.<br />

Innerdeutsche Gespräche


1970<br />

seum von Cassel hängende, von Rembrandt gemalte und bis<br />

heute unbekannte und rätselhafte Bruyningh ein Wort sagen<br />

wird, bleibt abzuwarten. In diesem Portrait erscheinen Klugheit<br />

und Güte in einer gewachsenen Verbindung; das ist nicht nur<br />

ein Meisterstück der Malkunst. Man sollte dieses Bild im Kon-<br />

ferenz-Saale <strong>aus</strong>stellen.<br />

Beim Empfange hörte man die Brüllmasse. Was mögen das<br />

für Leute sein, die sich zu „Sprechchören“ zusammenrotten?<br />

Das Wort „Sprechchor“ ist eine Verschönerungsvokabel. Ein<br />

zusammengeschaufelter Haufen von Sandkörnern ergibt kei-<br />

nen Granitblock, der nächste Wind formt ihn um. Daß die Po-<br />

lizei in Cassel so etwas wie das Zerreißen der DDR-Fahne vor<br />

den Augen der Gäste nicht verhindern konnte, ist eine sehr<br />

üble Sache, die ihre Folgen haben wird. Diese „Schutztruppe“,<br />

die ihrer Berufsaufgabe nicht gewachsen war, sollte wegen Un-<br />

fähigkeit auf das Pflaster gesetzt werden. Sie haben nur den re-<br />

aktionären Kräften geholfen, und denen besonders, die in der<br />

DDR gegen jede Annäherung von Ost und West sind. Aber wer<br />

kann feststellen, welche Leute hinter solchen Handlungen ste-<br />

hen! Vermutungen haben einen weiten Spielraum.<br />

30. Mai<br />

„Anti-autoritäre Erziehung“, das ist doch hier ähnlich, das zu<br />

sehen, braucht man nicht nach Amerika oder nach Westdeutsch-<br />

land zu gehen. Die Pariser Straßenschlachten im Studentenvier-<br />

tel beweisen, daß das auch dort so ist. Daß das alles Nachwir-<br />

kungen der autoritären Haltung im dritten Reiche sind, dürfte<br />

klar sein. Denn denen, die auf ihre Autorität pochten, weisen<br />

die Ruinen den Erfolg ihres Tuns nach. Kein Wunder, wenn der<br />

unter diesem Erbe leidenden Jugend keiner mehr imponieren<br />

kann. Sie hat echte Autorität nie erlebt, nur Anmaßung.<br />

286 287<br />

2. Juni<br />

Brüllmasse<br />

Das lärmende Getöse „moderner Tänze“ – vergleiche damit<br />

ein gut gespieltes Menuett von Mozart – haben diese Tanzkapel-<br />

len mit dem religiösen Tanzgelärme primitiver Volksstämme ge-<br />

meinsam. Bei diesen wächst dies auf dem Grunde beständiger<br />

Furcht vor bösen Geistern, die beständig das Leben bedrohen.<br />

Damit ist noch das Geläute der Glocken in seinem Ursprunge<br />

zu vergleichen, auch das Lärmen und Schießen in der Silvester-<br />

nacht, am 1. Mai, das früher bei der Geburt eines Prinzen oder<br />

einer Prinzessin übliche Abschießen von Kanonen, das Schie-<br />

ßen am Grabe eines Generals oder sonst eines „verdienten Offi-<br />

ziers“ – alles hat die gleiche Wurzel der Angst vor dem Bedroh-<br />

lichen des Wirkens unbekannter dämonischer Mächte. Dieses<br />

Kanonenschießen bei der Geburt eines Kindes im Königsh<strong>aus</strong>e<br />

hab ich in meiner Jugend des öfteren erlebt. Da wurden eifrig<br />

die Abschüsse gezählt: 101 Schuß bei der Geburt eines Prinzen,<br />

100 Schuß für eine Prinzessin. Selbstverständlich war schon vor<br />

80 Jahren keine Erinnerung mehr vorhanden an den Ursprung<br />

dieses alten Gebrauches. Vielleicht wurzelt das moderne Getöse<br />

sogenannter Musik in ähnlichen, nicht bewußt werdenden See-<br />

lentiefen, so eine Art unterdrückter Lebensangst. Das Gebrüll<br />

eines einzelnen oder einer Horde, die durch die Finsternis wan-<br />

dert, ein einsamer Straßenbummler, der zu später Stunde mit<br />

seinem Stock an die Bordkante schlägt, das Lärmen der Brüll-<br />

affen im Urwalde beim Einbruch der Nacht – das weist alles in<br />

die gleiche Richtung. Solange einer Radau macht, lebt er noch<br />

und beweist sich damit die Tatsache seiner Existenz. Alle Musik<br />

ist Ausdruck eines Gemütszustandes, den man sehr selten mit<br />

den Mitteln des Verstandes zu erklären sucht. Sobald sich einer<br />

damit befaßt, wird er zum Ketzer, der an heilige Bräuche rührt.<br />

Sogar bei dem sogenannten „Polterabend“ wirkt das gleiche<br />

Motiv: mit dem Lärm der zerbrechenden Töpfe sollen von der<br />

neuen Ehe die bedrohlichen Geister verscheucht werden. Nicht


1970 Dämonen<br />

der Scherbenhaufen, sondern der bei seiner Herstellung entste-<br />

hende Lärm ist die Absicht. Abschreckend ist die Wirkung auf<br />

die Geister – und noch heute auf den Geist.<br />

4. Juni<br />

Daß man nicht dahin fahren kann, wohin zu reisen nötig<br />

wäre, ist ein Jammer. Da höre ich einen Bericht von einer inter-<br />

nationalen Lehrmittelmesse in Basel, die ich sehr gern gesehen<br />

hätte, weil dort die „Lernmaschinen“ in großer Zahl im Betriebe<br />

zu sehen und zu benutzen waren. Damit müßte man sich sehr<br />

genau beschäftigen können. Das bloße „Hören-Sagen“ gibt<br />

kein klares Bild von einer Sache, die bereits in großem Um-<br />

fange im Gange zu sein scheint. Es entwickelt sich da eine völ-<br />

lig neue Literatur und eine Methodik, von der man sich nichts<br />

hätte träumen lassen. Wie in der Medizin eine Umordnung er-<br />

folgt ist, eine ganz neuartige maschinelle Diagnostik und The-<br />

rapie, die den Arzt zum Physiker und Techniker wandelt, so<br />

scheint sich auf dem Gebiete des Unterrichts eine Technik zu<br />

entwickeln, die auf ganz ungewohnten Wegen zu vorher nicht<br />

zu ahnenden Ergebnissen führt. Es ist falsch, davor die Augen<br />

zu schließen und – ohne die Sache zu kennen – diese zu verur-<br />

teilen. Da entstehen in neuen Verlagen ganz neue Arten didak-<br />

tischer Literatur für die Maschinerie, die ungeahnte Ergebnisse<br />

hervorbringt. Und man weiß nichts Genaues davon.<br />

14. Juli<br />

Ich las ein paar Bände Nietzsche. Da fiel mir ein, daß ich so<br />

vor 10 Jahren für eine Schweizer Zeitung eine Buchbesprechung<br />

eines Werkes von Prof. Kesselring 10 , Psychiater u. Direktor der<br />

Irrenanstalt Burghölzli bei Zürich geschrieben habe – und „Fü-<br />

10 Max Kesselring, Nietzsche und sein Zarathustra in psychiatrischer Beleuchtung, Af-<br />

foltern 1954.<br />

gung“ – ohne danach gesucht zu haben, fiel mir vorhin beim<br />

Abstauben alter Papiere diese Niederschrift in die Hand.<br />

288 289<br />

21. Juli<br />

Interessant war ein Bericht über „psychokinetische Phäno-<br />

mene“ in einer Kanzlei in Rosenheim in Bayern 1969! Ein Frei-<br />

burger Professor der Parapsychologie [Alfred Hoche], der nebst<br />

vielen andern die Sache – ergebnislos – untersuchte. Eine<br />

19jährige Angestellte brachte, sobald sie das Kontor betrat,<br />

„Unordnung“: Lampen flackerten oder setzten <strong>aus</strong>, Telephone<br />

arbeiteten oder störten, eins rief p<strong>aus</strong>enlos nach der Zeitan-<br />

gabe, Akten verschoben sich, elektrische Einrichtungen wurden<br />

verwirrt, ohne daß Fachleute die Ursachen ermitteln konnten;<br />

ein Bild an der Wand drehte sich um 120 Grad. Ein halbes Hun-<br />

dert von Technikern und Gelehrten vermag keine Erklärung zu<br />

finden. Schwindel? Irrtum? Aprilscherz?<br />

22. Juli<br />

Drüben will man, die Jugend zu retten, mit Aufwand einer<br />

Millionensumme einen „Aufklärungsfeldzug“ gegen R<strong>aus</strong>ch-<br />

gifte – Haschisch, Heroin etc. – loslassen, als ob man Dämonen<br />

durch Belehrung bändigen könne. Was fehlt, ist eine das Leben<br />

lenkende große Idee, etwas Emotionales also, das keinesfalls<br />

durch bloße Aufklärung ersetzt werden kann. Dieses „Jugend-<br />

problem“ ist ein Teil des Trümmerhaufens, den der Krieg aufge-<br />

türmt hat. […] Daß „Aufklärung“ wenig zu bedeuten hat, lehrt<br />

am eindringlichsten die Nachwirkung der ersten Landung auf<br />

dem Monde, die doch den Erkenntnisraum der Menschheit au-<br />

ßerordentlich erweiterte und <strong>aus</strong> der man hätte lernen können,<br />

die Widerwärtigkeiten auf dem kleinen Erdball zu beseitigen –<br />

nichts davon geschah und geschieht, das „Interesse“ ist einge-<br />

schlafen, die „Belehrung“ durch die Horizonterweiterung blieb<br />

<strong>aus</strong>. Keine alle verbindende Begeisterung ergriff die Millionen.


1970 Neun Jahre hinter Stacheldraht<br />

13. August<br />

Neun Jahre hinter Stacheldraht. Auch heute brachte die Post<br />

– nichts; sie ging einfach vorüber, genau so bezahlt, als wenn<br />

sie Lasten befördert. Die Zeitung tut so, als ob sie plötzlich ihr<br />

blödes Geschimpf vergessen habe, das sie sonst täglich erschallen<br />

ließ. Offenbar hat sie von ihrem Herrn und Meister einen Befehl<br />

bekommen, den sie nun treu und bieder <strong>aus</strong>führt. Nicht mal<br />

ein Jubiläumsartikel zum Gedenken an die Errichtung der Mauer,<br />

alles brav und bieder. „Bauern trotzen dem Regen“ ist der einzige<br />

aggressive Satz in dem sonst so sehr angriffslustigen Blättchen,<br />

in dem erst „Kumpel trotzen dem Frost“, „Ernteeinsatz<br />

trotzt der Hitze“, „Wir trotzen dem Schlamm“ zu lesen war.<br />

Wiedenhofen bei Immenstadt im Allgäu, 11. Sept[ember]<br />

Ich bin am Donnerstag hierher gebracht worden bei hochsommerlichem<br />

Wetter; gestern nebelten sich die Berge ein und<br />

ab Mittag goß es so reichlich, daß ich das Steigen eines Gewässers<br />

beobachten konnte. Heute hat der Regen aufgehört, doch<br />

die Berge sind noch von Wolken verhüllt. Silberne, großblütige<br />

Wetterdisteln, blauer Enzian, kleine weiße Augentrostblümchen<br />

wachsen am Wege. Wie schön könnte das alles sein, wärest Du<br />

hier in dieser Stille, in die nur das Anschlagen der Glocken tönt,<br />

die die Kühe am Halse tragen.<br />

Das sind die Vorberge der Alpen. Der nächste ist der Grünten<br />

1738 m hoch. Immenstadt – ostwärts – und Lindau westlich,<br />

südlich Oberstdorf – das ist etwa das Gebiet, in das ich<br />

geraten bin.<br />

7305 <strong>Waldheim</strong> i. Sa., den 21. Oktober<br />

Freilich ist die Silberdistel ein Bild der Sonne und eine Verwandte<br />

der Sonnenrose und vieler anderer, die zum Familientage<br />

der Compositen kommen, wo das Gänseblümchen zur<br />

Sonnenrose sagen kann: „ich gehöre auch zur Familie“, ebenso<br />

wie Astern und Chrysanthemen, die vielgestaltige Gruppe der<br />

Disteln, die Flockenblumen und Artischocken, Bocksbart und<br />

Lattich, Habichtskräuter (zum Lattich der Kopfsalat!), Löwenzahn,<br />

das ist eine der Pflanzenfamilien, die einen großen Kreis<br />

von Verwandten haben. Es ist manchmal sehr gut, sich so einen<br />

„Familientag von Pflanzen“ vorzustellen; denn da kommen<br />

große und kleinste zusammen. Unwahrscheinliche Begegnungen<br />

gibt es da. Denn an die Verwandtschaft Deines Kopfsalates<br />

mit Löwenzahn, Sonnenblume und Silberdistel hast Du<br />

wohl kaum gedacht.<br />

27. Oktober<br />

Daß Du tief atmen kannst, des solltest Du sehr froh sein.<br />

Mir gelang das bis zu einem für mich ungewöhnlichen Grade<br />

erst, als ich einige Tage über t<strong>aus</strong>end Meter hoch zugebracht<br />

hatte. Je höher, desto besser ging das. Jetzt ist das eine angenehme<br />

Erinnerung. Man sollte sich wie Villers 11 seinen alpinen<br />

Wohnort wählen können und nur besuchsweise in niedrig gelegenen<br />

Ländern zubringen. Oder öfter größere Flugreisen unternehmen.<br />

Diese sind aber paßmäßig sehr umständlich und<br />

recht teuer, wenn man nicht in der Flugmaschine eine Anstellung<br />

findet, z.B. Staub wischen. Es wird aber zu viele Bewerber<br />

um solche Stellen geben.<br />

11. November<br />

Gestern kam bereits ein westdeutscher Nachruf auf den<br />

Tags zuvor gestorbenen de Gaulle. Das war sprachlich ein Meisterwerk;<br />

ich kann mir nur denken, daß dies schon lange vorher<br />

abgefaßt worden ist, denn es erscheint völlig unmöglich, so<br />

ein Kunstwerk – mit allerhand Dokumentationen – in 24 Stun-<br />

den abzufassen.<br />

11 Alexandre de Villers (1812–1880), der sächsischen Gesandtschaft angehörig,<br />

quittierte 1870 seinen Dienst und bezog das Wiesenh<strong>aus</strong> in Neulengbach/<br />

Niederösterreich, das ihn für die ungeliebte Arbeit als Diplomat entschädigte, s.<br />

auch Brief vom 27. Februar 1968.<br />

290 291


1970 Zukunftsschule<br />

30. November<br />

Im Alter von 97 Jahren starb am Freitag Karl Foerster. Leider<br />

trau ich mir die Fahrt zu der Trauerfeier am Donnerstag 13 Uhr<br />

in der Kirche Potsdam-Bornim nicht zu. Mit ihm ging einer der<br />

bedeutendsten Männer der letzten hundert Jahre davon.<br />

1. Dezember<br />

Fritz von Unruh 12 starb mit 85 Jahren, ein Schriftsteller, der<br />

sich in der Systemzeit (1919–1933) stark um den Frieden be-<br />

mühte und deshalb verfolgt wurde. Er lebte in der Nazizeit in<br />

Frankreich und den Vereinigten Staaten. Nach und nach ver-<br />

schwindet die alte Garde.<br />

5. Dezember<br />

Gestern hörte ich einen Vortrag von einem Felix von Kube<br />

zur bevorstehenden Gesamtschule im Westen. Da wurde der<br />

bisherigen Schule ihr autoritäres System vorgeworfen: sie sei<br />

ein Rest autoritativer Gesellschaft, der „Vorgesetzte“ herrsche,<br />

Lehrziele seien vorgeschrieben, ebenso die Wertung und Be-<br />

urteilung der Leistung; die „Jahrgangsklasse sei ein militäri-<br />

sches Relikt“, die „Schulordnung“ ein legales Zwangssystem,<br />

das Schulh<strong>aus</strong> ein steriles B<strong>aus</strong>ystem für Drill. Die Macht be-<br />

rufe sich auf metaphysische Instanzen. Die Schule solle sein<br />

„die Funktion einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft“.<br />

Hier wird Falschmünzerei mit dem mehrfachen Bedeutungsge-<br />

halt von Begriffen getrieben. „Autorität“ kann freilich als Ver-<br />

hältnis befehlender zu gehorchender Gesellschaft sein. Daß es<br />

auch die auf Ehrfurcht gewachsene freiwillig dargebotene „Au-<br />

torität“ gibt, bleibt dem Reformer unbekannt, wir schauen hin-<br />

12 Fritz von Unruh (1885–1970), nach seinen Erlebnissen im 1. Weltkrieg Pazifist, 1933<br />

Flucht, Ausbürgerung; Exil in Italien, Frankreich, USA, 1962 endgültige Rückkehr<br />

nach Deutschland.<br />

auf zu Goethe, zu Kolbe, zu Ehlers 13 in Weimar, zu Karl Foer-<br />

ster. So ist es in einer Schule, in der ein Meister in der Kunst<br />

der Menschenbehandlung lebt. Ferner merkt der Kritiker nicht,<br />

daß nicht nur die Jesuitenschule, oder die <strong>aus</strong>gesprochene pro-<br />

testantische oder die betont nationale oder internationale auf<br />

metaphysischen Vor<strong>aus</strong>setzungen ruht, sondern jede, auch die<br />

socialistische, die „freigeistige“, ja seine eigenen Vorschläge<br />

ruhen auf ihren Wertvorstellungen, Glaubenssätzen, Autori-<br />

täten. Fünf Stunden später brachte der Kritiker Fredericia 14<br />

eine „Zeitungsschau“ mit einer Darstellung solcher „Zukunfts-<br />

schule“. Scene: Klassenraum, erstes Schuljahr. Der Lehrer tritt<br />

ein, grüßt, steht am Pulte. Der „Klassensprecher“ sagt: „Setzen<br />

Sie sich!“ Lehrer setzt sich und sagt: „Ich dachte, wir lernen<br />

heute das R.“ Klassensprecher: „Darüber müssen wir abstim-<br />

men. Wer ist für das R? Zwei, vier, sechs … das ist die Minder-<br />

heit. Ich bitte um einen anderen Vorschlag!“ – „Das S.“ – „Gut,<br />

wir stimmen ab. 2, 4, 6, 8, 10, 12, 14 – das ist die Mehrheit. Wir<br />

lernen das S!“ Lehrer: „Ich schreib das S an die Tafel, und Sie<br />

schreiben es in Ihr Heft!“ Der Sprecher: „Was ist dazu Ihre Mei-<br />

nung?“ Ein Schüler: „Der Lehrer soll das S in die Hefte schrei-<br />

ben!“ Sprecher: „Wir stimmen darüber ab! 2, 4, 6, 8, 10, 12, 14<br />

– das ist die Mehrheit. Sie schreiben das S in die Hefte.“ Der<br />

Lehrer: „Ich schreib das S in die Hefte!“ Danach der Rundfunk-<br />

sprecher: „Jetzt sind wir noch nicht so weit, aber bald werden<br />

wir auch so weit sein.“ Ende.<br />

13 Fritz Ehlers (1911–1981), Geiger und Violinpädagoge an der Weimarer Musikhoch-<br />

schule, Begründer des Weimarer Kammerorchesters.<br />

14 Pseudonym von Walter Petwaidic (*1904).<br />

292 293


1970<br />

17. Dezember<br />

„Mein Vater ist ein Appenzeller –<br />

er frißt den Kas mitsamt dem Teller!“ 15<br />

Eben wird das Lied im Radio gesungen, es erinnert mich,<br />

daß das meine Mutter in meiner frühen Jugend – ich war so<br />

etwa sechs Jahre – ab und zu sang. Eben höre ich „Die Schellen<br />

klingen rein und hell“ und noch manch andres Volkslied,<br />

das damals zuweilen Vater und Mutter gemeinsam sangen. Das<br />

liegt nun mehr als 80 Jahre in der Vergangenheit. Da gab es<br />

ein handschriftliches Liederheft meines Vaters, es ist 1945 in<br />

Dresden mit vernichtet worden bei der Zerstörung der Stadt.<br />

Das hätte ich jetzt gern. Es war ein Denkmal der heute so geschmähten<br />

„kleinbürgerlichen“ Kultur, die nach ihrer Zerstörung<br />

durch Chansons und Jazz ersetzt wurde. Nur glaub ich<br />

nicht an den „Ersatz“. Wenn die Musik nicht so miserabel wäre,<br />

könnte man sich über die ärmlichen Texte trösten.<br />

31. Dezember<br />

Ich hörte einige Worte von Menuhin. Er leitet in London<br />

eine Musikschule für junge Kinder und setzt dabei vor<strong>aus</strong>: Musikalische<br />

Begabung – Fähigkeit zur Stille – und Begabung zum<br />

Fleiß, womit er sich mit Goethe trifft, der den Satz prägte: „Genie<br />

ist Fleiß“ 16 , was manchem fremd scheint. Es trifft aber das<br />

Wesentliche. Die wenigen Worte dieses großen Geigers lassen<br />

den Plunder vergessen, der von moderner Pädagogik dargeboten<br />

wird, die in den hohlen Nußschalen neu konstruierter Wörter<br />

das absolute Nichts anzubieten hat. Höchstens eine sehr<br />

gesteigerte Anmaßung.<br />

Mit der modernen Musik von Stockh<strong>aus</strong>en kann ich nichts<br />

anfangen. Dieser Lärm ist der Widerhall des Zusammenbruchs<br />

einer alten Kultur.<br />

15 Verballhornung des volkstümlichen Schweizer Liedes: „Mein Vater ist ein Appenzel-<br />

ler ... Hat weder Most noch Wein im Keller…“<br />

16 Sprichwörtliche Redensart, in Goethes Schriften nicht belegt.<br />

294 295<br />

1971<br />

7305 <strong>Waldheim</strong> i. Sa., den 9. Januar<br />

Der Mondschein, der wieder die Nacht erhellte und den<br />

Schlaf raubte, veranlaßte, daß ein ganzes Adreßbuch von Na-<br />

men durch das Gedächtnis zog. „Von Adele bis Xantippe“ („Von<br />

Adam bis Zebedaeus“) könnte man ein Namenbuch betiteln,<br />

das zu einem kleinen Lexikon anwachsen könnte, wenn man<br />

diesem und jenem Namen dazugehörige Anmerkungen beifügte.<br />

„Elisabeth“: da könnte von der heiligen Elisabeth erzählt wer-<br />

den und von der englischen Königin der Shakespearezeit. No-<br />

men est omen – wer dann die Geschichten liest, wird seine Kin-<br />

der lieber mit einer Nummer bezeichnen, um sie nicht mit ei-<br />

nem Namen vorher zu belasten. Da hieß mal ein Kollege „Eli“<br />

– wie so ein Hoherpriester im Alten Testament; zeitlebens war<br />

ihm sein Name zuwider. So etwas hat negative psychologische<br />

Wirkungen. Oder „Thomas“! Da ist zuerst der Ungläubige des<br />

Neuen Testamentes, dann Thomas Becket, der 1170 in Canter-<br />

bury ermordete Erzbischof, Thomas Morus, Lordkanzler Hein-<br />

richs VIII. (von diesem umgebracht), Thomas von Aquino † 1274,<br />

der Dominikaner und Begründer der scholastischen Philosophie<br />

– und dann „Thomas Mann“! Freilich ist das nur für Einfältige,<br />

denen das alles einfällt. Ich vergaß Thomas Müntzer. […]<br />

Heute erhielt ich einen Brief in einer klaren, mir zunächst<br />

unbekannten Schrift; eine in der Nähe von Zürich lebende frü-<br />

here Schülerin <strong>aus</strong> Zschopau schreibt da: „Lebhaft erinnere ich<br />

mich noch der Schulstunden vor 35 Jahren, ich war in der 3. u.


1971 Prellböcke<br />

4. Klasse und half oft im Schulgarten.“ Aber freilich erinnere ich<br />

mich, sie war damals etwa neun Jahre, ein sehr ruhiges, zartes<br />

Kind, klug und bescheiden, Tochter eines Schusters, von der Art,<br />

die als „unscheinbar“ übersehen werden, arme Leute. Jetzt lebt<br />

sie mit einem Schweizer verheiratet in guten Verhältnissen seit<br />

14 Jahren in der Schweiz. Zweierlei ist mir daran psychologisch<br />

interessant: einmal erinnern sich Menschen Mitte vierzig selten<br />

an ihre ersten Schuljahre; anderseits lebte ich damals in schreck-<br />

licher Bedrückung durch den Nationalsocialismus und es scheint<br />

doch, daß ich noch einprägsamen Unterricht erteilt habe.<br />

13. Januar<br />

Was die Leute gegen den Namen „Emil“ (Aemilius) ha-<br />

ben, ist mir dunkel. Hier gibt es einen Sokrates Müller, wenn<br />

er nicht weggezogen ist. Der hat jedenfalls durch seinen Vor-<br />

namen – den der Vater als Soldat in Athen häufig angetroffen<br />

hatte, ohne den echten Sokrates zu kennen – eine Sonderstel-<br />

lung unter den vielen Müllern erhalten. In England gab es ei-<br />

nen Verein der „Smith“ mit 40 000 Mitgliedern.<br />

20. Januar<br />

„Chor der 4000“ – groß, größer, noch größer, am größten.<br />

Aber das ist nichts Neues. Als Kaiser Wilhelm II. 1913, 25 Jahre<br />

nach seinem Regierungsantritt, Dresden besuchte – er konnte<br />

die Sachsen nicht leiden (so wie wir von den Preußen nichts<br />

wissen wollten) – wurde auf dem Theaterplatze in Dresden ein<br />

Militärkonzert von 4000 Militärmusikern dargebracht. Nun ja,<br />

Ameisen treten auch zu T<strong>aus</strong>enden auf, auch Flöhe, Fliegen,<br />

Läuse, Mücken. Also „zurück zur Natur“. Ich werde das wohl in<br />

meinem Radio nicht hören. – Mir fehlt mehr und mehr der Ver-<br />

stand. So freuen kleine Dinge meinen Geist, wie z.B. eine ganz<br />

hervorragende Rasierklinge, die mir Seidel schickte.<br />

26. Januar<br />

Disziplinzustände seltener Art scheinen an manchen Berufs-<br />

schulen zu herrschen. Wer das gesundheitlich <strong>aus</strong>halten kann,<br />

muß eine eiserne Natur haben. Die Phrase „Der Mensch ist gut“<br />

wird dort von einem Bodensatz von Leuten gründlichst wider-<br />

legt. Wer da in Illusionen lebt, durch „Erziehung“ sei jeder zu<br />

veredeln, der sollte das durch die praktische Lösung einer der-<br />

artigen Aufgabe erst einmal beweisen. Daß es den <strong>aus</strong>gemach-<br />

ten Schurken gibt, hat Shakespeare sehr anschaulich deutlich<br />

gemacht. Es ist doch äußerst oberflächlich, so wie es heute ge-<br />

schieht, alle üblen Gestalten als Produkte eines schlechten Mi-<br />

lieus anzunehmen und sich von einer Milieuveränderung einen<br />

Umbau eines bösartigen Charakters zu versprechen. Als Prell-<br />

böcke stehen da die Lehrer und Schulleiter in der Gegend he-<br />

rum. Die Theorienschreiber und Regierungsräte in Ministerien,<br />

in wohlgeheizten Räumen, in bequemen Sesseln sitzend, ihre<br />

Verfügungen diktierend und unterschreibend, haben keine Ah-<br />

nung von der harten Wirklichkeit, in die sie eingreifen wollen.<br />

30. Januar<br />

Heute erhielt ich einen Glückwunsch von Renate 1 , die von<br />

ihrem 6. bis 10. Lebensjahre in der üblen Zeit von 1945–1949,<br />

die Du in Deinem Tagebuche so eindrucksvoll geschildert hast,<br />

bei mir hier zugebracht hat. Sie schreibt da: „Ich weiß, daß<br />

meine Jahre in <strong>Waldheim</strong> meine schönsten Kinderjahre wa-<br />

ren und werde sie nie vergessen.“ Und das waren doch in Be-<br />

zug auf Ernährung, Heizung, Kleider, Schuhe die schrecklichs-<br />

ten und dürftigsten Zeiten. Wie doch Erinnerung vergolden<br />

1 Renate Strauß, verh. Schmidt-Rhaesa (*1938), lebte, weil ihre Mutter gestorben und<br />

ihr Vater an der Front war, zuerst bei ihrer Tante, <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s Tochter Irene (verh.<br />

Strauß), in der Nähe von Dresden und dann von 1945–1949 bei <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> in<br />

<strong>Waldheim</strong>, vgl. Renate Schmidt-Rhaesa, Heiter, gütig und weise. In: <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>.<br />

Ein sächsischer Schulmeister. <strong>Waldheim</strong>er Heimatblätter, Heft 15, 1999, S. 17f.<br />

296 297


1971 „Das gehört sich so“<br />

kann! Inzwischen ist sie 32 Jahre geworden und hat drei Jungen.<br />

Wie die Zeit vergangen ist! Freilich, die Erde soll Milliarden<br />

Jahre hinter sich haben, bis sie zu dem geworden ist, was<br />

wir heute erleben. Und welcher Wandel der Gestalten! Wenn es<br />

auch keine Saurier mehr gibt, so ist doch Anlaß genug, anzunehmen,<br />

daß sie nur ihre Teufelsfratzen gewandelt, von ihrer<br />

furchtbaren Bosheit, die <strong>aus</strong> ihren Gesichtern spricht, nicht das<br />

geringste verloren haben. Die Masken wandeln sich, nicht die<br />

Wesen. […] Richard III. hat kaum von seiner Tücke „gewußt“ –<br />

er hat sie genossen. Das Schlimmste bleibt, daß er unsterblich<br />

ist und uns täglich wieder begegnen kann.<br />

6. Februar<br />

Eben haben die Mondfahrer 2 ihre Mondstiefel und andere<br />

nicht mehr nötigen Dinge <strong>aus</strong> ihrer Kapsel geworfen und so<br />

als erstes Denkmal einen Schutthaufen, eins der Denkmäler<br />

der Gegenwart, angelegt. Und was hätten Antiquitätenhändler<br />

für diese Sachen gezahlt, mit denen der erste Mensch auf dem<br />

Monde herumspazierte. Diese Leute scheinen wenig Sinn für<br />

den Wert des Geldes zu haben. Versteigere man heute mal einen<br />

Nagel von der Arche Noahs, eine Armspange der Salome,<br />

einen Ziegel vom Tempel Salomos, das Echo einer Rede Ciceros<br />

auf dem römischen Forum, eine Kartoffelschale von dem Haufen,<br />

von dem der verlorene Sohn seinen Hunger stillte. Hätten<br />

die Mondfahrer einen Stempel mitgenommen, damit oben die<br />

ersten Briefmarken für Sammler abzustempeln – welch ein Geschäft<br />

könnte das werden! Das sind „verpaßte Gelegenheiten“!<br />

13. Februar<br />

Tag der Zerstörung von Dresden. Wann die kapitolinische<br />

Rede 3 von Bertha von Suttner gehalten wurde, muß ich noch<br />

2 Edgar Mitchell, Stuart Roosa und Alan Shepard (Besatzung von Apollo 14)<br />

3 Gemeint ist die Rede Bertha von Suttners (1843–1914) anläßlich des 3. Weltfriedens-<br />

kongresses 1891 auf dem Kapitol in Rom.<br />

ermitteln. Daß sie sich nicht von allen ererbten und erlernten<br />

Beschränktheiten ihrer Stellung befreien konnte, ist doch zu<br />

verstehen. Ihr Leute von heute habt von den Zwängen jener<br />

Zeit nicht den Schatten einer Ahnung. Ich erinnere mich noch<br />

des Skandals, der in den neunziger Jahren des vorigen Jahr-<br />

hunderts durch die Welt und durch die Zeitungen ging, von je-<br />

der Eierfrau mit Entsetzen besprochen wurde, als in Paris die<br />

Sch<strong>aus</strong>pielerin Sarah Bernhardt auf der Bühne in langen Her-<br />

renhosen aufgetreten war. Man glaubte, den Weltuntergang<br />

kommen zu sehen (vielleicht sah man sogar richtig). Nicht daß<br />

die Hosen ihn herbeigeführt hätten – sie waren nur ein Zei-<br />

chen einer fortschreitenden Auflösung jahrhundertealter Ord-<br />

nungen, von deren verpflichtender Strenge heute niemand eine<br />

Vorstellung hat. Daß auch eine so tapfere Frau wie B. v. Sutt-<br />

ner nicht von solchen Beschränkungen frei war, gar nicht frei<br />

sein konnte, versteht sich doch, da die damaligen „Ordnungs-<br />

gefüge“ von Ewigkeit zu Ewigkeit unerschütterlich zu gelten<br />

schienen und sich die meisten gar nicht darüber klar waren,<br />

daß da etwas geändert werden könne. Damals fuhr noch kein<br />

Auto, die erste elektrische Straßenbahn sah ich bauen, es gab<br />

weder Flugzeug, noch Kino oder gar Radio oder Fernsehen. Das<br />

waren bestenfalls Märchen, Themen von Zukunftsromanen, an<br />

deren Verwirklichung kein Mensch glaubte, selbst die Verfasser<br />

nicht. Von vielen uns heute sonderbar scheinenden Haltungen<br />

hieß es: „Das gehört sich so.“ Ich erinnere mich noch an Beleh-<br />

rungen, in denen mir meine Großmutter beibrachte, was „sich<br />

gehörte“. Hast Du jemals sagen müssen zu einem hohen Be-<br />

amten von Adel: „Alleruntertänigst Guten Tag, gnädiger Herr“?<br />

Nicht? Nun ich erlebte das mit zehn Jahren an mir selber.<br />

298 299<br />

2. März<br />

Heute früh kam das Eichhörnchen an das offene Fenster, ich<br />

hätte es fangen können, so nahe waren wir uns, guckte mich


1971 Ein arischer „Sommernachtstraum“<br />

neugierig an, knackte seine Kerne und hörte ein Cello-Konzert<br />

von Brahms an. […]<br />

Eine neu gebaute Schule bei Frankfurt ist ohne Fenster er-<br />

richtet worden, ein Darmstädter Architekt hat diesen Schild-<br />

bürgerbau errichtet mit der Begründung, daß darin intensiver<br />

gelernt werde. Jetzt weigern sich jedoch Eltern, ihre Kinder in<br />

dieses finstere Loch zu schicken. Nun soll „überprüft“ werden,<br />

ob man etwa Fenster einsetzen wird. Jede Verrücktheit ist also<br />

möglich. Da könnte man doch Schulen unterirdisch in stillge-<br />

legten Bergwerken unterbringen; da bliebe oben der Raum für<br />

ein Geschäftsh<strong>aus</strong>, das durch teure Mieten den Schulbetrieb<br />

finanzieren könnte. Interessant ist dabei die Tatsache, daß<br />

ein wortgewandter Baumeister eine Schulbehörde für solchen<br />

Wahnsinn überreden kann. Nichts ist von den Lehrern zu hö-<br />

ren, das müssen echte Papptoffel sein. Nun ja, hier gab es auch<br />

mal solche, die beantragten, die unteren Fensterscheiben an-<br />

zustreichen, weil sie ihrer Unterrichtskunst – mit Recht – nicht<br />

zutrauten, daß sie anziehender arbeiten konnten als ein Spatz<br />

auf dem Fenstersockel. Ich freue mich noch heute, wie ich da-<br />

mals diesen Antrag abgewürgt habe.<br />

In diesem Jahre zieht über Nürnberg ein Dauerregen von<br />

„Veranstaltungen zum Dürer-Jahr“ 1471 geb. – 1971. Ob das in<br />

seiner Fülle noch einen Sinn behält, erscheint recht zweifelhaft.<br />

Es werden alle „Kulturschleusen“ gezogen, um „Nürnbergs Be-<br />

lastung <strong>aus</strong> der NS-Zeit abzubauen und das Image der Stadt<br />

als das eines traditionsreichen europäischen Kulturzentrums<br />

darzustellen“. Ausstellungen, Vorträge (über das ganze Jahr<br />

hinweg!), Theater, Konzerte, bauliche Maßnahmen, Folklore,<br />

Literatur – so was war nie da. Es kann einer p<strong>aus</strong>enlos „Ver-<br />

anstaltungsgast“ sein – ein Jahr lang. Da muß einer Zeit, viel<br />

Geld und eine sehr gute Natur haben, um das <strong>aus</strong>zuhalten. Al-<br />

lein zehn Festkonzerte wurden von der Stadt Nürnberg „in Auf-<br />

trag gegeben“. Das riecht nach Hitler, der 1933 eine Musik zu<br />

Shakespeares „Sommernachtstraum“ „in Auftrag gab“ 4 , weil er<br />

den Mendelssohn als Juden gestürzt hatte.<br />

24. März<br />

Mein neues H<strong>aus</strong>tier – das Pfauenauge – das, fast erstarrt,<br />

sich kaum regte, lebt heute noch und flattert am Fenster, ohne<br />

zu wissen, daß er zu den letzten einer immer seltener werden-<br />

den Erscheinung des Schönen zählt.<br />

Die abgeblühten Hyazinthen kannst Du jetzt auf den Bal-<br />

kon stellen, gießen solange noch grüne Blätter da sind. Wenn<br />

diese abwelken, wird mit dem Gießen aufgehört und Du stellst<br />

die Töpfe in den Keller. Da kann ich sie im Oktober nochmal<br />

neu in Erde setzen. Laß sie auf dem Balkon nicht in einer fins-<br />

teren Ecke, Licht und Wasser ist gut, bis sie die Blätter einzie-<br />

hen und ihre Ruhezeit antreten.<br />

300 301<br />

5. April<br />

Ich erhielt eine Dankkarte von Frau Dr. Kröpp für das Te-<br />

legramm, das ich Ihr schickte, als er [Gustav Kröpp] – mit 70<br />

Jahren – gestorben war. Sie legte der gedruckten Danksagung<br />

eine Karte bei. Darauf stand zu lesen: „Drei Tage nach dem 3.3.<br />

wurde ein geschichtliches Problem angeschnitten. Unser Fried-<br />

rich nahm dazu ein Buch <strong>aus</strong> dem Regal: ,Kaiser Friedrich der<br />

Zweite‘. Ich schlug es auf. Ich hatte es jahrelang nicht mehr in<br />

der Hand gehabt. Da sah ich die Schrift meines Mannes: ,Er ist<br />

niemals gestorben! 5 26.11.53 Gustav‘.<br />

Sollte diese Widmung ein Zeichen sein?<br />

Ihre Margret Kröpp.“<br />

4 Vgl. Fred K. Prieberg, Ein Sommernachtstraum – arisch. In: Musik im NS-Staat, Frank-<br />

furt am Main 1982, S. 144–164.<br />

5 Vermutl. in Anlehnung an das Testament Friedrichs II., in dem es heißt: „daß wir<br />

noch zu leben scheinen, wenn wir bereits dem sichtbaren Leben entrückt sind“,<br />

vgl. Kurt Pfister, Kaiser Friedrich II., München 1942, S. 377.


1971 Schicksale des 20. Jahrhunderts<br />

Am 3.3. war Gustav Kröpp gestorben, nachdem er mehrere<br />

Jahre sehr pflegebedürftig gewesen war. Durch welche Nöte hat<br />

dieser Mann sich durchkämpfen müssen. Erst ohne alle Mit-<br />

tel buchstäblich durch ein Psychologie- und Philosophiestu-<br />

dium gehungert, summa cum laude promoviert, dann ein paar<br />

gute Jahre, so von 1929–1933 in <strong>Waldheim</strong>, 1933 von den Na-<br />

zis ohne einen Pfennig auf die Straße gesetzt, erneut Medizin<br />

in Bonn studiert, dabei gearbeitet u. gehungert, beste Prüfung,<br />

Dr. med., dann eine Praxis in Löhne langsam aufgebaut, kurz<br />

darauf Militärarzt, schwere Zeiten in Rußland, dort lange in Ge-<br />

fangenschaft, während die Frau die Praxis mit Vertretern bewäl-<br />

tigt, endlich Anfang der fünfziger Jahre Heimkehr, einige Jahre<br />

gute Arbeit, Schlaganfall, lange Behinderung, Wiederaufnahme<br />

der Praxis, schließlich genötigt, sie aufzugeben, im Rollstuhl<br />

noch so zwei Jahre – und dann mit 70 Jahren das Ende.<br />

Daß die Frau, die das alles durchgestanden hat, z.B. noch<br />

während Dr. Kröpp nach 45 in russischer Gefangenschaft war,<br />

erlebte sie die Beschlagnahme von Wohnung und Praxis durch<br />

die englische Besatzung, schnellstens für beide ein anderes<br />

Unterkommen suchen, umziehen, Apparaturen neu montieren,<br />

dann nach ein paar Jahren dasselbe zurück, Kröpp noch in<br />

Rußland, drei Kinder dazu, wenn auch die große bereits Stu-<br />

dent war, jetzt Dr. jur. Daß sie dann in dem Eintrag in dem his-<br />

torischen Buche ein magisches Zeichen zu sehen glaubt – wer<br />

kann sich darüber wundern? Ein Wunder eher, daß der Verstand<br />

nicht völlig still stehen bleibt und ein so geplagter Mensch nur<br />

in Erwartung neuer Schicksalsschläge weiter lebt.<br />

7. April<br />

Gestern tadelte Rechtsanwalt Hermann, daß ich Eichhörn-<br />

chen füttere: sie „rauben Eier <strong>aus</strong> Vogelnestern“ und müßten<br />

vernichtet werden. Als ich dann in meiner Stube darüber nach-<br />

dachte, fiel mir Schopenhauers Feststellung ein, daß das Emo-<br />

tionale (Gefühl und Wille) an erster Stelle stehe und erst nach-<br />

träglich die Laterne des Verstandes angezündet werde. Und so<br />

brachte ich sie denn zum Leuchten: jedes der drei Tiere, die zu<br />

mir kommen, verweilt fast eine Stunde täglich am Futterplatze,<br />

das sind also drei Stunden, in denen keine Nester von ihnen<br />

geplündert werden und zweitens gewöhne ich sie an eine ve-<br />

getarische Lebensweise. Das besagt also, daß ich mit der Füt-<br />

terung auch indirekt Vogelschutz betreibe. Na – wie steh ich<br />

da! Außerdem: wäre das Plündern der Nester so häufig, müßte<br />

man öfters auf dem Friedhofe Eierschalen liegen sehen. Das<br />

kommt jedoch recht selten vor. Ich glaube nicht, daß die Eich-<br />

hörnchen die Schalen verschlingen, wie jener Appenzeller, der<br />

fraß den Kas mitsamt dem Teller. 6<br />

302 303<br />

13. April<br />

Hier ist eine Neroslow 7 -Ausstellung seiner Bilder. Dazu war<br />

am Sonntag eine Feier, an der die zweite Frau von ihm und ei-<br />

nige der „Funktionäre“ von 1945 (üble Gestalten!) <strong>aus</strong> Berlin da<br />

waren. Ich war auch eingeladen – und vermißt worden, wie mir<br />

*** gestern sagte, hab aber die Einladung erst heute gefunden.<br />

Ich hatte sie übersehen. Das war gut so.<br />

15. April<br />

Heute sah ich mir die Bilder von Neroslow an, die in dem<br />

„Volkskunstkabinett“ <strong>aus</strong>gestellt sind. Es handelt sich um etwa<br />

35 Werke, meist Aquarelle, einige Ölbilder. In der Hauptsache<br />

stammen die Motive <strong>aus</strong> der Landschaft, überwiegend Bilder<br />

vom Tauwetter, einige Blumenstücke, einige Portraits, zwei Stil-<br />

leben, eine <strong>aus</strong>gezeichnete Copie eines Bildes (Portrait <strong>aus</strong><br />

dem Biedermeier), ein Bild mit blühenden Obstbäumen. Das<br />

Bild der Dir bekannten Frau Neroslow wirkt sehr fremdartig,<br />

6 S. Brief vom 17. Dezember 1970.<br />

7 S. Brief vom 8. Februar 1969.


1971<br />

enorm verjüngt und entgiftet – es gibt da etwas unangenehm<br />

Unwahres. Im Ganzen gesehen, muß gesagt werden, daß es<br />

guter Impressionismus der Vor-Weltkriegszeit ist, also <strong>aus</strong> dem<br />

ersten Viertel dieses Jahrhunderts.<br />

17. April<br />

Einige der Bilder von Neroslow sind während seines Auf-<br />

enthaltes im <strong>Waldheim</strong>er Zuchth<strong>aus</strong>e gemalt, sind also Erin-<br />

nerungen früher erlebter Landschaftseindrücke, was nicht <strong>aus</strong>-<br />

schließt, sie unter den Stilbegriff des Impressionismus einzu-<br />

ordnen. Es gibt sehr dauerhafte Erinnerungen im menschlichen<br />

Bewußtsein. Jedenfalls hat er sich nie im Gebiete expressio-<br />

nistischer Darstellungen aufgehalten. Das mag auch mit seiner<br />

Ausbildung an der Dresdener Akademie zu erklären sein, an<br />

der die impressionistische Malerei durch große Könner vertre-<br />

ten war, wie Oskar [richtig: Gotthardt] Kuehl und Fritz Beckert,<br />

[Carl Ludwig Noah] Bantzer.<br />

Gestern abend 10 30 bis 11 h wurde eine Sendung geboten:<br />

„In memoriam Rudolf Mauersberger“, dem im Februar gestor-<br />

benen Kantor des Kreuzchores in Dresden. (Übrigens bin ich<br />

in der Kreuzkirche getauft worden!) Ein ehemaliger Kruzianer<br />

sprach Erinnerungsworte, denen Gesänge des Kreuzchores ein-<br />

geflochten waren, die er noch selbst dirigiert hatte. Diese Sen-<br />

dung war ein Kunstwerk ohne jeden Fehler – ganz <strong>aus</strong>gezeich-<br />

net.<br />

21. April<br />

Heute setzte ich mich auf dem Markte auf eine Bank am<br />

Brunnen, weil ich eine halbe Stunde in dem Blumenladen in<br />

der Schloßstraße gestanden hatte, um eine Fleurop-Sendung<br />

zu Peters Geburtstag aufzugeben. Auf der nächsten Bank saß<br />

ein alter Mann, der nach einer Weile sagte: „Sind Sie nicht der<br />

Lehrer <strong>Pfeifer</strong>?“ – „Das läßt sich nicht leugnen.“ –„Ich habe<br />

sehr gute Erinnerungen an die Zeit, da ich bei Ihnen Schule<br />

hatte.“ – „Wann war denn das?“ – „Nu, ich bin 1913 <strong>aus</strong> der<br />

Schule gekommen, das ist so 1910 gewesen. Sie haben uns nie<br />

geprügelt, und es war immer schön.“ Das ist also über 60 Jahre<br />

her – merkwürdig, wie dauerhaft das Gedächtnis ist, sogar bei<br />

einem einfachen Stuhlbauer. […]<br />

Erstaunlich ist die Geschäftigkeit, mit der im Westen an<br />

„Bildung, Ausbildung, Fortbildung“ getestet wird und noch er-<br />

staunlicher das Ausspenden von Milliarden für die Schulen<br />

und Hochschulen. Die Zahlen gehen in astronomische Größen.<br />

Wenn ich damit die kärglichen Beträge vergleiche, mit denen<br />

man unsere Arbeit bedachte. Heute bezieht da ein Lehrer in ei-<br />

nem Monat eine Summe, die wir etwa in einem Jahre bekom-<br />

men haben – immer so am Rande des Existenzminimums und<br />

genötigt, durch Privatstunden ein paar Mark hinzuzuverdienen,<br />

eine Beschäftigung, die ich seit meinem 15. Lebensjahre <strong>aus</strong>-<br />

geübt habe. Freilich, gelernt hab ich sehr viel dabei. Als Hilfs-<br />

lehrer erteilte ich fünf Tage in der Woche früh von 6 bis 8 Uhr<br />

Englisch an einer Handelsschule, um 8 Uhr begann dann der<br />

normale Unterricht. 32 Pflichtstunden in der Woche, Klassen<br />

bis etwa 50 Kinder, Korrekturen, Vorbereitungen, nachts für die<br />

zweite Prüfung zu arbeiten. Von diesen Mühen haben die Leute<br />

heute keine Ahnung. Sie machen jedes Jahr mehrere große Rei-<br />

sen; hoffentlich werden sie dabei gescheiter, als wir es wer-<br />

den konnten.<br />

304 305<br />

4. Mai<br />

Hilfslehrer um 1900<br />

Drei (3!) Katzen blieben zugleich vor meinem Fenster ste-<br />

hen, sie sahen den Eichhörnchen zu, die ihrerseits stutzten.<br />

Einander mißtrauisch, ja feindselig zu begegnen, scheint das<br />

Grundgesetz des Verkehrs zu sein. Mozart ist die Ausnahme,<br />

die dissonanten Geräusche die Regel. Jetzt kommt ein Har-<br />

fenspiel, [Jan Ladislav] Dussek – dieses Instrument gefällt mir


1971 Technisierung des Denkens<br />

besonders, nicht nur weil David damit bei Saul böse Geister<br />

bannte. Daß Wagner gelegentlich mal acht Harfen klingen läßt,<br />

ist für mich das Beste an ihm, dem Untergangstrompeter. Lei-<br />

der zieht heute keine Harfenjule mehr durchs Land. So etwas<br />

konnte man vor 70 bis 80 Jahren noch erleben. Es war ein Aus-<br />

klingen der Romantik. Das hörte auf: die Bettelmänner ver-<br />

schwanden, die Slovaken, die Tontöpfe in Draht einstrickten,<br />

die italienischen Gipsfiguri-Händler, die großen, dunkelbraunen<br />

Dalmatiner, die mit Schwämmen beladen waren, die Ratten-<br />

und Mäusefallenverkäufer, die H<strong>aus</strong>ierer mit Knöpfen, Zwirn<br />

und Nadeln. Das war unser Ersatz für den heutigen Kinobesuch<br />

und den Fernseher, der den Leuten Kleister ins Gehirn streicht.<br />

Unsre Bettelmusikanten kamen ohne Programm und Ansage,<br />

manchmal als Quartett von Blechbläsern oder als einzelne Fied-<br />

ler, Harmonikaspieler oder als Harfenjule. Und die „armen Rei-<br />

senden“, die nur ihren Bettelspruch sagten – aber die Scene<br />

belebten. Jetzt wird die „sociale Ordnung“ nicht mehr von sol-<br />

chen Randfiguren belebt, die unsre Phantasie belebten.<br />

13. Mai<br />

In einem Bericht über „Amerikanisches Erziehungswe-<br />

sen“ erklang der Satz: „Jeder Erwachsene kann unterrichten“<br />

– nach der Meinung eines „bedeutenden“ amerikanischen pä-<br />

dagogischen Autors. Das ist der Weg zur Aufhebung alles wis-<br />

senschaftlichen Nachdenkens über alles menschliche Handeln.<br />

Man übertrage das getrost etwa auf die Medizin und sage „Je-<br />

der kann heilen“. So wie ja auch jeder „reden“ kann – leider re-<br />

den viele Unsinn. Daß das bei einer kleinen Verletzung gesagte<br />

Sprüchlein: „Heile, heile Kätzchen ... Kätzchen hat en Schwanz<br />

– nu ists wieder ganz“ oder das Prügeln der Tischecke, an die<br />

sich das Kind gestoßen hat, eine schmerzstillende Wirkung<br />

hervorbringen kann wie eine vom Arzt verordnete Schmerztab-<br />

lette, ist nicht zu bezweifeln; das sind suggestive Methoden,<br />

die instinktiv etwas Richtiges tun, ohne von der Kompliziertheit<br />

des Vorganges etwas zu ahnen. Vielleicht bringt die wachsende<br />

Technisierung das Denken zum Absterben. Maschinen erzeugen<br />

neue Maschinen, die durch Drücken von Knöpfen von jedem<br />

in Gang gebracht werden können; die Knopfdrücker haben nur<br />

noch Sorgen, die wachsende Freizeit zu gestalten.<br />

Damit wäre der Gegenpol von Goetheschem Bildungsstre-<br />

ben erreicht. Er sah auch das:<br />

„Daß sich ein großes Werk vollende,<br />

genügt ein Kopf für t<strong>aus</strong>end Hände.“ 8<br />

306 307<br />

14. Mai<br />

„Höchsttemperatur 25°“ – das gibt „Hitzeferien“, falls es<br />

um 10 Uhr stattfindet. Das gabs einmal als angenehme Ge-<br />

schenke der Sonne an Schulkinder und ihre Lehrer, die sich<br />

genau so kindlich darüber freuten. Das war vor dem ersten<br />

Weltkriege, als noch niemand sich träumen ließ, welch unge-<br />

mütliche Zeiten einmal kommen würden. Den Begriff „gemüt-<br />

lich“ und „ungemütlich“ sollte man mal psychologisch analy-<br />

sieren. Ob es etwas Ähnliches noch heute gibt in einer Zeit, in<br />

der nicht nur Abgase verrückter Betriebsamkeit die Luft „ver-<br />

schmutzen“, sondern – kaum bemerkt – dazu die giftigen Nebel<br />

grenzenloser Heuchelei, die alles durchdringt bis in die Träume.<br />

– Achte mal bei der Durchsicht der Zeitung auf Berichte über<br />

„Dürer-Ehrungen“ in der DDR. Schneide dies alles <strong>aus</strong>, es dürf-<br />

ten sich namhafte Beiträge zur Gegenwartskunde zusammen-<br />

finden! Man hätte das bereits bei den Beethoven-Gedenktagen<br />

Ende 1970 tun sollen.<br />

Die scharfe Abgrenzung gegen Westberlin wird unglaubli-<br />

cherweise von Schwächlingen jetzt glatt überwunden: den in<br />

8 F<strong>aus</strong>t II. Fünfter Akt. Mitternacht: „Daß sich das größte Werk vollende, / Genügt ein<br />

Geist für t<strong>aus</strong>end Hände.“


1971 „Grundtoffel“<br />

den Potsdamer Fluren wachsenden Spargelstangen gelingt es<br />

mit Hilfe der Aufkaufstellen Mauer und Stacheldraht schnell zu<br />

übersteigen, für Westgeld, versteht sich. Selbst Kleingärtner<br />

nützen die hohen Preise und verzichten darauf, in unbegrenz-<br />

ter Verfressenheit ihre Gewächse selbst zu verzehren. „Übe Ent-<br />

haltsamkeit!“ So tragen die kapitalistischen Schlemmer zur mo-<br />

ralischen Erziehung bei, zu Askese und Selbstbeschränkung.<br />

Die Tatsche der Heuchelei beweist die Ungiltigkeit der These<br />

von einer Herrschaft des Materialismus.<br />

20. Mai<br />

Himmelfahrt. Daß Dürer mal paar Bauern zeichnete, macht<br />

ihn zum „revolutionären Graphiker“ – erstaunlich, wenn man<br />

anderseits die 96 Platten vom Triumph Kaiser Maximilians, die<br />

„Passionen“, „Marienleben“, das große Wiener Bild mit dem<br />

Gewimmel der „Allerheiligen“ bedenkt (diese „Heiligen“ sind<br />

wohl revolutionäre Arbeiter?), dann wird man diese neue „Ein-<br />

ordnung“ Dürers in ein historisches Schema schwer begreifen.<br />

2. Juni<br />

Karl Foerster sagte einmal angesichts eines Geschichtsbu-<br />

ches: „Ich kenne noch alle Zahlen der ganzen Weltgeschichte<br />

– ich weiß bloß nicht, was dabei passiert ist.“ Hinter diesem<br />

scheinbaren Witz steckt die sehr ernste Wahrheit, daß kein His-<br />

toriker weiß, was in den Menschen vergangener Zeiten leben-<br />

dig war, weil jeder im Erleben seiner Zeit befangen ist. Dar<strong>aus</strong><br />

erklärt sich die große Verschiedenheit historischer Darstellun-<br />

gen. Das wird jetzt bei der unterschiedlichen Deutung Dürers<br />

ganz besonders deutlich.<br />

2. Juli<br />

Vorige Woche fuhr eine Windhose vorüber, die einen sel-<br />

tenen Baum auf dem Friedhofe – hinter der oberen Halle –<br />

schwer beschädigte. Der Friedhofsgärtner Schön brachte mir<br />

einen Zweig, um zu erfahren, was für ein Baum das sei. Es ist<br />

ein Zürgelbaum, der im mittleren Nordamerika zu H<strong>aus</strong>e ist und<br />

hier nur in Parkanlagen vorkommt. Das obere Friedhofsgelände<br />

hinter der oberen Halle bis zur Hainichener Straße bewirtschaf-<br />

tete vor 50 bis 100 Jahren ein Baumgärtner, Herr Hunger 9 , und<br />

dieser Zürgelbaum (Celtis occidentalis) ist ein Rest <strong>aus</strong> jener<br />

Zeit. Ich vermute, daß die hier und da noch vorhandenen sel-<br />

tenen Bäume, der Trompetenbaum an der Girokasse, Akazien,<br />

Ginkgo, alte Eiben, Catalpa im Garten des Seifenbergmann an<br />

der Kriebsteiner Straße, Magnolien, alte Rhododendren noch<br />

von jenem alten Gärtner gepflanzt wurden. Das Holz des Zür-<br />

gelbaumes ist sehr hart und auffallend schwer, das Laub sehr<br />

schön angeordnet, so daß die Blätter einander möglichst we-<br />

nig beschatten. Denn jedes Blatt ist eine <strong>aus</strong>gestreckte Hand,<br />

die Lichtenergie auffängt, mit deren Hilfe jede Pflanze Stärke<br />

und Zucker aufbaut. Das mache man sich immer wieder klar,<br />

wenn man an einem Getreide- oder Kartoffel- oder Rübenfelde<br />

vorbeikommt oder unter einem Obstbaum steht, dort Schat-<br />

ten suchend, der nur dadurch zustande kommt, daß das Laub<br />

die Sonnenstrahlen einfängt als Energiequelle zum Betrieb sei-<br />

ner chemischen Laboratorien, die eben in den Blättern zu se-<br />

hen sind.<br />

308 309<br />

15. Juli<br />

Als ich als kleiner Junge meinen Vater mit Fragen nach dem<br />

jeweils einzelnen plagte, was mir zu Gesicht oder ins Gehör<br />

kam, nannte er mich „einen Grundtoffel“; ich wollte von al-<br />

lem den Grund wissen, wohl oft von Dingen, deren Begrün-<br />

dung überhaupt noch niemand kannte. Dieser Wesenszug hat<br />

mich nicht verlassen. Der Mensch ist wohl bereits von frühster<br />

9 Carl Friedrich Moritz Hunger (1839–1927), Kunst- und Handelsgärtner.


1971<br />

Jugend an mit ganz bestimmten Antrieben <strong>aus</strong>gestattet, die ihn<br />

nie verlassen und seine Entwicklung sein Leben lang bestim-<br />

men. Trotz aller Rückschläge. Denn noch heute bedrängen mich<br />

Fragen, die ohne Antwort bleiben oder mehrere verschiedene,<br />

ja entgegengesetzte Auskünfte zulassen.<br />

16. Juli<br />

Photographien auf Gräbern fand ich schon vor 80 Jahren auf<br />

einem Friedhofe im Riesengebirge. Auch in Feldkirch in Vorarl-<br />

berg sah ich solche Bilder. Ich erinnere mich auch, daß mein Va-<br />

ter – für Leute <strong>aus</strong> dem Riesengebirge – solche Photographien<br />

auf Porzellanplatten malte, die dann auf Grabsteinen ange-<br />

bracht wurden. Kleine Portraits wurden auch als Broschen auf<br />

Porzellanplatten gemalt, vor allem von gestorbenen Kindern.<br />

21. Juli<br />

Bei Ratzel („Über Naturschilderung“ S. 299) stehen fol-<br />

gende schöne Gedanken: „Die Naturschilderung kann nicht<br />

ohne innere Wärme arbeiten. Ich möchte sagen: Wenn der Ge-<br />

ograph schildert, müsse sich sein Herz verdoppeln; denn er<br />

braucht ein Herz für die Welt, die er sieht, und ein Herz für die<br />

Sprache, in der er nun denkt und dichtet. Das ist so, wie der<br />

Goldschmied sich an den Edelsteinen freut, die er faßt, der<br />

Kunsttischler an den Masern des Holzes“ (wie z.B. der Drechs-<br />

ler Auerbach in Seiffen, bei dem wir die schönen Sachen sa-<br />

hen), „das er verarbeitet, und beide zugleich an dem Werke,<br />

das sie mit diesen schönen Stoffen bilden. Man fühlt es jeder<br />

Schilderung an, ob eine Freude am Werk darin ist oder nicht;<br />

denn nur von ihr kann die Wärme kommen, die der Schilde-<br />

rung Leben gibt, und es erwächst dar<strong>aus</strong> das Verständnis für<br />

die Sprache und für das, was damit zu machen ist.“<br />

Als Ratzel 1904 plötzlich starb, wurde der Breslauer Prof.<br />

Partsch sein Nachfolger in Leipzig. Er trat sein Amt als Ordina-<br />

rius an mit der Bemerkung: „Von jetzt an wird in Leipzig wie-<br />

der exakte Geographie betrieben.“ Das sah praktisch so <strong>aus</strong>:<br />

Als ein Prüfungskandidat unsicher war in der Beantwortung<br />

der Frage, ob Aschaffenburg rechts oder links vom Main liege,<br />

ließ er ihn gleich durchfallen. Es schien ihm zu gefallen, von<br />

den Kandidaten gefürchtet zu sein. Solche Kathedermonarchen<br />

gab es also auch in früheren Zeiten. Dabei war er ein sehr ge-<br />

lehrtes H<strong>aus</strong>, dessen zweibändiges Werk über Schlesien noch<br />

heute sehr gesucht ist. Aber der Apostel sagte bereits: „Es un-<br />

terwinde sich nicht jedermann, Lehrer zu sein!“ [Jakobus 3,1]<br />

310 311<br />

28. Juli<br />

Unter den noch täglich erscheinenden Grünfinken ist einer,<br />

der eine Art Mütze <strong>aus</strong> senkrechten kleinen Federchen trägt. Er<br />

fühlt sich dadurch scheinbar als eine Art König und verjagt ge-<br />

legentlich andere. Der Ursachenzusammenhang ist wie immer<br />

unklar: macht ihn die Krone anmaßend? Oder ist sie der äu-<br />

ßere Ausdruck seiner herrischen Natur? Friedliche Leute sind<br />

die Kleiber, von denen einige Junge jetzt früh an das Fenster<br />

kommen, sich neugierig umschauen und den Betrachter durch<br />

die sehr harmonische Farbenwahl ihres Anzuges erfreuen, des-<br />

sen Aussehen sich seit den Tagen, da sie am Ende der Eiszeit<br />

<strong>aus</strong> Noahs Arche davonflogen, kaum geändert hat. Da blieb der<br />

so beliebte „Fortschritt“ <strong>aus</strong> – wie in der Kunst. Es war sehr er-<br />

freulich, in einer Sendung zu hören, daß es in der Kunst keine<br />

Entwicklung gebe. Das ist meine alte Auffassung, und man ist<br />

wohl immer erbaut, seine eigene Meinung von andern bestä-<br />

tigt zu hören.<br />

18. August<br />

Der Lehrer Friedrich Ratzel<br />

Hier gab es keine normalen Briefumschläge, nur so blö-<br />

des Format, daß man den Brief eine zusätzliche Falte brechen<br />

mußte. Als ich den Dresdenern an diesem Beispiele etwas Lack


1971 Fischer von <strong>Waldheim</strong><br />

an der musterhaften Planwirtschaft abkratzen wollte, belächel-<br />

ten sie das (meine geringe politische Urteilskraft) und schick-<br />

ten heute 200 Umschläge, davon Du gleich den ersten be-<br />

kommst – bloß um mir zu zeigen, daß es hier alles gibt! Eben<br />

nicht, sondern die Großstädte werden bevorzugt beliefert.<br />

30. August<br />

Gestern sagte Dr. Toepel, ich hätte sollen Professor wer-<br />

den, ich frage mich, weshalb? warum? wozu? Das ist mal eine<br />

Berufung gewesen mit hohem socialem Ansehen; davon brö-<br />

ckelte jedoch nach dem ersten Weltkriege bereits eine Verzie-<br />

rung nach der andern ab, und es blieb immer weniger übrig. Da<br />

lobe ich mir so einen Kleiber vor meinem Fenster, der – stets<br />

in gleicher eleganter Kleidung – täglich dahin fliegt, wo er hof-<br />

fen kann, etwas zu finden, keine Verordnungen zu lesen hat,<br />

dem die Meinungen andrer über ihn völlig gleichgiltig sind. […]<br />

Eben kam ein Zaunkönig an mein Fenster! Immerhin etwas, ei-<br />

nen König zu bewirten!<br />

16. Oktober<br />

Morgenstern 10 ist nicht ungeschoren hinüber gekommen.<br />

Die Zöllner – und die noch übleren Zöllnerinnen – tragen nicht<br />

dazu bei, das Ansehen des Staates zu erhöhen. Es gilt wohl<br />

noch der Spruch des Plautus: „Oderint, dum metuant“ (Mö-<br />

gen sie hassen, wenn sie nur fürchten), den schon Cicero häu-<br />

fig zitierte. Es ist das Wesen der Geschichte, daß Zustände fort-<br />

dauern und nur die Menschen wechseln, die diese herbeifüh-<br />

ren und die sie zu ertragen haben. Man kann von Glück reden,<br />

wenn man nicht der ersten Gruppe angehört.<br />

10 Der Lehrer Lothar Morgenstern (1884–1972) kam wie <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> 1908 an die<br />

Volksschule in <strong>Waldheim</strong>, beide unterrichteten auch an der Volkshochschule, sie<br />

wohnten im gleichen H<strong>aus</strong>.<br />

21. Oktober<br />

Ich lege Dir das Programm bei von der Feier für „Fischer<br />

von <strong>Waldheim</strong>“ 11 , die ich mir gestern abend im Rath<strong>aus</strong>e anhörte,<br />

zwei, drei Begrüßungssätze des Bürgermeisters [Helmut<br />

Saupe] (die er ablas!), Musik: der Geiger spielte – obwohl vom<br />

Gewandh<strong>aus</strong> – nur den ersten Beethoven <strong>aus</strong>wendig; bei allen<br />

anderen Sachen bediente er sich eines Notenständers. Die „Lesungen“<br />

über Fischer besorgten ein paar Oberschülerinnen. Da<br />

sie ungeschickt plaziert waren und viel zu leise sprachen, war<br />

an keinem Orte ein Satz zu verstehen. Ebenso verklangen die<br />

Goethe-Gedichte – ebenfalls Schülerinnen – ohne daß jemand<br />

etwas davon vernahm. Büttner, <strong>aus</strong> dessen Buche Abschnitte<br />

vorgelesen wurden, war auch da und erhielt am Ende – wie die<br />

Musikanten – ein paar rote Nelken. Ansonsten war das ein Programm,<br />

wie es etwa 1910 vom Dürer-Bund 12 aufgebaut wurde.<br />

10. November<br />

Ich besuchte gestern abend das „Museum“ des ***, der<br />

mich dringend darum gebeten hatte, seine Sachen einmal anzusehen.<br />

Da erinnerte manches an Goethes Besuch bei dem<br />

Sonderling Beireis 13 in Helmstedt 1805. In dem selbstgebauten<br />

Geniste hinter dem H<strong>aus</strong>e mit seinem Laden, den der Sohn<br />

jetzt hat, gibt es eine Menge ganz unvermuteten Raumes, den<br />

11 Anläßlich seines 200. Geburtstags, s. Brief vom 1. November 1965, Anm.<br />

12 Der Dürerbund wurde 1902 in Dresden als überparteiliche Kultur- und Bildungsver-<br />

einigung von dem Her<strong>aus</strong>geber der Zeitschrift Der Kunstwart, Ferdinand Avena-<br />

rius (1856–1923), gegründet. Der ästhetischen Erziehung des Volkes, dem Natur-<br />

schutz und der Heimatpflege dienend, veranstaltete er u.a. Vortragsabende mit<br />

Musik und Lichtbildern, die das Gemüt der Besucher erreichen wollten.<br />

13 Seinen Besuch bei dem Professor der Medizin, Chemie, Physik und Botanik an der<br />

Universität Helmstedt, Gottfried Christoph Beireis (1730–1809), schildert Goethe<br />

in Tag- und Jahreshefte. 1805. Zu seiner Sammlung von Münzen, Mineralien, <strong>aus</strong>-<br />

gestopften Vögeln, Gemälden gehörten auch Vaucansonsche Automaten wie die<br />

körnerfressende, -verdauende und -<strong>aus</strong>scheidende mechanische Ente, die aber<br />

nicht mehr richtig funktionierte.<br />

312 313


1971 New Education Fellowship<br />

keine Baubehörde kennt und der auf keiner Karte verzeichnet<br />

ist. Darin findet sich außer dem sehr interessanten Gewächsh<strong>aus</strong>e<br />

ein Sammelsurium sehr verschiedener Sachen:<br />

alte Uhren, alte Geigen, Dreschflegel, Hufeisen, die für hufkranke<br />

Pferde nach Maß angefertigt sind, alte Spieldosen (alles<br />

spielbar!), Muscheln, Steine, eine riesige Briefmarkensammlung,<br />

alte Bücher, Bierhumpen, Apothekengeräte, Waffen-Raritäten,<br />

die von ganz verschiedenen Wünschen von Menschen<br />

verschiedener Zeiten gefertigt worden sind, alte Möbel, Zinngeräte.<br />

Wenn das geschickt an die verschiedenen Sammler verkauft<br />

würde – es käme ein schönes Stück Geld her<strong>aus</strong>. In einer<br />

geräumigen Werkstatt mit Werkzeugen sehr verschiedener<br />

Gewerbe setzt er jedes Stück soweit wieder in Stand, daß es<br />

benutzbar ist. Der Mann selber ist ein Museumstück, mit seiner<br />

lebhaften Erzählergabe, erstaunlich. Er ist als Sohn eines<br />

französischen Studenten des Technikums Mittweida bei Pflegeeltern<br />

in R<strong>aus</strong>chenthal aufgewachsen. Sein daher stammendes<br />

französisches Temperament ist unverkennbar, es erklärt manches.<br />

Seine Kriegserinnerungen behielten Erstaunliches; er hat<br />

als Fahrer des Generals Speidel viele Länder Europas durchfahren<br />

und dabei Phantastisches erlebt, das nicht erfunden sein<br />

kann. Spät fuhr er mich dann in meine Turmstraße, das sparte<br />

mir diese Bergwanderung.<br />

11. November<br />

Gestern wurde daran erinnert, daß vor 50 Jahren die „Psychologischen<br />

Typen“ von C. G. Jung erschienen sind, sechs<br />

Vorträge dieses Schweizer Gelehrten und Schülers von Freud<br />

durfte ich 1923 von ihm hören und <strong>aus</strong> dem Englischen dolmetschen<br />

auf der Konferenz der „New Education Fellowship“ in<br />

Montreux am Genfer See. Da hielt man mich für „einen Enggländer“,<br />

so sagte jemand <strong>aus</strong> der Schweiz. Das ist also ein halbes<br />

Jahrhundert her, daß ich diesen See erlebte und an Byrons<br />

Insel spazierte, an Chateau Chillon. Da war es herrlich warm.<br />

12. November<br />

In einer Besprechung eines Stückes moderner Musik sagte<br />

ein „Sachverständiger“, daß der besprochene Komponist in<br />

sein Werk „aktuelle Geräusche einmontiert“ habe! Das bestä-<br />

tigt meine Auffassung, daß moderne Kunst – aller Art: Litera-<br />

tur, Musik, Malerei und vieles sonst – Ingenieurarbeit ist, daß<br />

also Konstruktives, Maschinelles dort entsteht, wo früher das<br />

Genie am Werke war, das beim Ingenieur nur noch in der Be-<br />

rufsbezeichnung vorherrscht, in einem Berufe, der es vor allem<br />

mit dem zu tun hat, was auf mathematischen Grundlagen be-<br />

ruht. Ist das etwa bei Lyrik denkbar? Das zu begreifen, fällt mir<br />

schwer. Freilich, schon Spinoza schrieb eine „Ethica more geo-<br />

metrico demonstrata“.<br />

29. November<br />

Daß eine Dichtung – wie Schillers „Tell“ oder „Wallenstein“<br />

– nicht als „Geschichtsquelle“ anzusehen ist, versteht sich. Das<br />

Kunstwerk wächst in anderer Weise als die sogenannte „exakte<br />

Forschung“, von der bezweifelt werden kann, welcher Grad von<br />

Genauigkeit überhaupt erreichbar ist. Ranke wollte erzählen,<br />

„wie es wirklich gewesen“ 14 ist – ein großer Vorsatz. Nur bleibt<br />

es fraglich, ob so etwas überhaupt möglich ist. Jean-Marie Gu-<br />

yau, ein französischer Philosoph, schrieb den Satz: „L’humanité<br />

marche enveloppée dans la voile inviolable de ses illusions“<br />

= „Die Menschheit schreitet dahin, eingehüllt in den unverletz-<br />

baren Schleier ihrer Illusionen“ – das kann man wohl kaum wi-<br />

derlegen. Vorwissenschaftliche geistige Haltungen beeinflussen<br />

zu oft schon die Wahl der Quellen, der Stoffe, der Akzente, die<br />

der „Wissenschaftler“ setzt. Naturwissenschaften können Expe-<br />

rimente wiederholen und die Vorgänge erneut betrachten – Ge-<br />

schichte ist einmalig und nicht wiederholbar.<br />

14 Bei Leopold von Ranke (1795–1886) „eigentlich“ statt „wirklich“. In: Sämmtliche<br />

Werke. Bd. 33/34, Leipzig 1874, S. VII.<br />

314 315


316 317<br />

1972<br />

7305 <strong>Waldheim</strong> i. Sa., den 3. Januar<br />

Ich erhielt eine Autobiographie 1 von dem weltberühmten<br />

Cellisten Pablo Casals, der am 30. Dez. 95 Jahre alt wurde und<br />

jetzt in den französischen Pyrenäen lebt. Ich hörte ihn etwa vor<br />

38 Jahren in einem Konzert in Chemnitz. Und heute schickte mir<br />

Frl. Schilling 2 ein kleines Hesse-Buch „Lektüre für Minuten“, ein<br />

Taschenbuch <strong>aus</strong> dem Suhrkamp-Verlag. Diese Buchidee hatte<br />

ich auch mal gehabt: <strong>aus</strong> dem Gesamtwerke eine Gruppe von<br />

Aphorismen her<strong>aus</strong>zuziehen.<br />

22. Januar<br />

Heute werden die „Vereinigten Staaten von Europa“ in<br />

Brüssel gegründet. Das dürfte in den künftigen Geschichtsbü-<br />

chern ein bemerkenswertes Datum werden.<br />

25. Januar<br />

Schwerdgeburth: Das bei mir hängende – letzte – Portrait<br />

Goethes ist eine Bleistiftstudie zu einem Kupferstich; eine Ab-<br />

bildung eines Plattenzustandes des Bildes von 1832 findest Du<br />

bei Dir in dem Goethe-Bilderbuche 3 von Hans Wahl und Anton<br />

1 Licht und Schatten auf einem langen Weg, Frankfurt am Main 1971.<br />

2 Mit der Sekretärin Ilse Schilling (1911–2001) <strong>aus</strong> Hannover war <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> <strong>aus</strong> der<br />

Goethe-Gesellschaft, der beide angehörten, bekannt.<br />

3 Goethe und seine Welt.


1972 Mädel mit großen Pistolen<br />

Kippenberg, das unter Mitwirkung von Ernst Beutler 1932 ge-<br />

druckt wurde auf Seite 235. Lies dazu die Textbemerkung auf<br />

Seite 302 rechte Spalte unter Nr. 235.<br />

29. Januar<br />

Von Stups erhielt ich einen sehr lieben Brief, für den ich ihr<br />

recht zu danken habe.<br />

Der [Geburts-]Tag verlief recht in Ruhe: ich hatte beizei-<br />

ten auch Hans in Dresden gebeten, bei diesem Wetter nicht<br />

hierher zu kommen – und das war gut so, denn es sind heute<br />

früh hier etwa 12 Grad Kälte gewesen, wenn nicht noch mehr.<br />

Wenn ich bei solchen Temperaturen jemand meinetwegen un-<br />

terwegs weiß, dann hab ich dauernd Sorgen; denn das War-<br />

ten an der Haltestelle, der vielleicht kalte Omnibus (erst neu-<br />

lich ist einer nach Dresden kalt gefahren), die Möglichkeit, eine<br />

Grippe zu bekommen – das alles bestimmt mich, niemand zu<br />

einer Fahrt hierher meinetwegen zu ermuntern. Am Vormittag<br />

kam Ilse Schlesier (die Mutter von Konrad und Bernhard, in-<br />

zwischen Großmutter eines Sohnes von Konrad), Herr Heinrich,<br />

Herr Morgenstern und der neue Pfarrer Schleinitz. Das hab ich<br />

ganz gut überstanden. Den Nachmittag saß ich in meinem Bau<br />

in gewohnter Stille. […]<br />

Auf meine Bitte hat Hans sehr genau ermittelt, was über<br />

das Schicksal des ersten Dramaturgen der Dresdener Theater<br />

in den zwanziger Jahren – Karl Wollf 4 – zu ermitteln war. Ich<br />

fürchtete, dieser hochbegabte Mann sei – als Jude – 1933 mit<br />

umgekommen, weil ich bisher nichts erfahren konnte. Glückli-<br />

cherweise ist er gleich nach der Machtübernahme durch Hitler<br />

<strong>aus</strong>gewandert, und noch 1944 sind Arbeiten von ihm, die er<br />

4 Der Autor und Dramaturg Karl Wollf (1876–1952), Mitglied der Schopenhauer- und<br />

der Kleist-Gesellschaft, emigrierte über die Tschechoslowakei und Frankreich nach<br />

England.<br />

drüben geschrieben hat, in Amerika gedruckt worden. Ich bin<br />

stets froh, wenn ich von einem höre, der den Barbaren noch<br />

hat entgehen können, ehe es zu spät war. Ich hörte gestern<br />

nachmittag einen Vortrag eines jüdischen Rabbiners, dessen<br />

Gedanken sehr das Denken anregen konnten.<br />

16. Februar<br />

Du wirst heute Deine Arbeit beendet haben; denn die<br />

„Schulferien“ haben wohl jetzt nur die Schulkinder, die sich<br />

in dieser Zeit in Manövern üben. Ich sah erst gestern wieder<br />

ein paar 11–12jährige Mädel mit großen Pistolen – alles für<br />

den Frieden. Denn wenn erst alle umgeschossen sind, ist der<br />

„Friede“ hergestellt. Und die Schafsnation preist, was gerade<br />

als Mode gilt. Vorige Woche kam so ein Ding, das sich Lehrer<br />

nennt, mit einem halben Dutzend Jungen, 12–14 Jahre, von de-<br />

nen auch 3 oder 4 mit Kleinkalibergewehren bewaffnet waren.<br />

Da können sie dann Partisanenkrieg machen. Wie sie mit den<br />

Atombomben fertig werden, bleibt ihnen genau so überlassen<br />

wie den Hitlerjungen 1945 die sogenannten Panzerfäuste, mit<br />

denen diese Knaben nach der bereits offenkundigen Nieder-<br />

lage den Endsieg „erringen“ wollten. Intelligentes Handeln und<br />

Dummheiten unterscheiden sich darin, daß Dummheiten wie-<br />

derholt werden, ja in endloser Folge auftreten, während eine<br />

kluge Tat als Ausnahme zu merken ist. Intelligenz ist keine an-<br />

steckende Krankheit.<br />

17. Februar<br />

Es kam wieder mal im Radio ein sehr interessanter Fall von<br />

„Verlesen“ (= falsch lesen) her<strong>aus</strong>. Die Ansagerin des Program-<br />

mes kündigte einen Titel an: „Die Kunst der Erde“, es han-<br />

delte sich jedoch um einen Vortrag über „Die Kunst der Rede“<br />

– höchst interessant, diese Vorwegnahme des Vokals und die<br />

damit verbundene Entstellung des Sinnes. S. Freud hätte das<br />

318 319


1972 Goethe als Wirtschaftskraft<br />

Beispiel mit Freuden aufgenommen. Er schrieb eine psycho-<br />

logische Analyse zu dem Thema: „Versprechen, verlesen, ver-<br />

schreiben“ 5 . Leider hab ich diese Arbeit nicht. Ich las sie etwa<br />

vor 50 Jahren in einem Exemplar der Landesbibliothek. Auch<br />

die Fehlhandlungen verlaufen irgendwelchen psychischen Leit-<br />

linien gemäß.<br />

23. Februar<br />

„Verwirrte Rede zu verwirrtem Handeln erfüllt die Welt“ 6 , so<br />

lautet ein Satz <strong>aus</strong> dem letzten <strong>Briefe</strong>, den Goethe fünf Tage<br />

vor seinem Tode an Wilhelm von Humboldt schrieb. Daß dies<br />

so lange dauern werde, hat er vielleicht bereits geahnt. Ob er<br />

sich allerdings die babylonische Sprachverwirrung schon so<br />

vorstellen konnte, wie man sie heute erlebt – das wage ich zu<br />

bezweifeln. Es ist doch erstaunlich, welche Erfindungskraft sich<br />

im Erfinden von Vokabeln und Phrasen offenbart, die die Wirk-<br />

lichkeit verschleiern und vollkommen nichts enthalten. Klares<br />

Denken wird dabei vollständig in Nebel gehüllt.<br />

24. Februar<br />

Heute kam das Goethe-Jahrbuch für das Jahr 1971 mit dem<br />

Bericht über die letzte Hauptversammlung in der Pfingstwo-<br />

che, die mit der Aufführung von „Jery und Bätely“ in Tiefurt en-<br />

dete, die Du doch gesehen und gehört hast. Es ist das letzte,<br />

das Wachsmuths Einfluß noch zeigt – was ich wenigstens hoffe.<br />

Denn gelesen hab ich nur das Inhaltsverzeichnis. Du wirst wohl<br />

den Bericht über die Versammlung mit dem vergleichen können,<br />

was Du selbst in Weimar erlebt hast. Interessant ist stets am<br />

Ende des Bandes die Bibliographie: wo und in welchen Spra-<br />

5 Sigmund Freud, Zur Psychopathologie des Alltagslebens (Über Vergessen, Verspre-<br />

chen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum), Berlin 1904.<br />

6 „Verwirrende Lehre zu verwirrtem Handeln waltet über die Welt.“ Brief vom 17.<br />

März 1832.<br />

chen sind Goethe-Ausgaben oder Schriften, die sich mit ihm be-<br />

fassen, erschienen. Für den flüchtigen „Durchblätterer“ des Bu-<br />

ches ist das vielleicht nicht so wichtig. Aber man bedenke, wie<br />

viele verschiedene Sprachen bringen Übersetzungen! Dort müs-<br />

sen also Leute sein, die sich für Goethe interessieren, denn das<br />

übersetzen und das Drucken dieser Werke kostet einiges Geld,<br />

das doch wieder durch erwartete Käufer hereinkommen muß.<br />

Rechne die Papierfabriken dazu, die Setzer, Drucker, Buchbin-<br />

der, Buchhändler, Maschinenhersteller, Transportarbeiter – und<br />

Du siehst eine recht ansehnliche Menschenmenge am Werke,<br />

die heute noch von Goethe ihren Lebensunterhalt erwerben.<br />

Es ist gut, sich dies mal anschaulich deutlich zu machen. Wer<br />

dem ganz genau nachforschen könnte, dürfte ein Buch schrei-<br />

ben können über „Goethe als Wirtschaftskraft“. Das klingt zwar<br />

recht trocken, aber hier zeigt sich die Kraft der Idee und ihre<br />

Wirkung in die wirtschaftliche, ganz materielle Welt. Und ob<br />

das in socialistischen oder kapitalistischen Ländern geschieht,<br />

ist gleichgiltig: denn überall muß für geleistete Arbeit der Lohn<br />

bezahlt werden. Ob ein Staatsverlag oder private Verleger die<br />

Kosten berechnen und die Gewinne einstecken, ist dabei ne-<br />

bensächlich. Jedenfalls kommen hunderte von Familien zusam-<br />

men, die in den verschiedenen Ländern von Goethe und der<br />

Verbreitung seiner Werke leben können.<br />

28. Februar<br />

Der Ausschnitt über den Lärm lag nicht in dem <strong>Briefe</strong>. Dazu<br />

hat Schopenhauer 7 vor mehr als hundert Jahren sich sehr an-<br />

schaulich vernehmen lassen. Er konnte damals noch keine Vor-<br />

stellung davon haben, was auf diesem Gebiete von Reizer-<br />

scheinungen alles möglich und wirklich geworden ist. Wie hat<br />

er sich über das Peitschenknallen der Kutscher aufgeregt! Das<br />

7 <strong>Arthur</strong> Schopenhauer, Über Lärm und Geräusch.<br />

320 321


1972 Weltpostverein<br />

Hupen der Autos erlebte er nicht mehr, es hat inzwischen auch<br />

aufgehört. Dafür knattern Motorräder und Flugzeuge, und der<br />

Mensch gewöhnt sich an alles. Oder – er richtet seine Aufmerk-<br />

samkeit auf bestimmte Ziele und stellt damit seine Aufnahme-<br />

bereitschaft für andre Empfindungen ab; das gibt es auch. Jetzt<br />

ist erstmal die „Luftverschmutzung“ Mode. Diese fiel mir zu-<br />

erst 1928 in London sehr auf. Als ich nach Leipzig zurückkam,<br />

machte die rührige Messestadt geradezu den Eindruck eines<br />

Dorfes. Nun ja: erst tut man alles Mögliche zur „Hebung des<br />

Verkehrs“, dann bemühen sich andre die auch gern etwas „or-<br />

ganisieren“ wollen, um die Beseitigung der neuen Übelstände.<br />

Als die Propeller des Zeppelin die Luft mit Geräusch erfüllten,<br />

wurde dies damals mit einem gewissen Genuß aufgenommen.<br />

Ich höre noch Dr. Naumann 8 am Bahnhof, als er dem auch nicht<br />

geräuschlosen Rangieren von Güterwagen zusah, <strong>aus</strong>rufen:<br />

„Sehen Sie, da oben rollen meine ersten Wagen wieder nach<br />

Dänemark!“ Musik war ihm das Rangiergeräusch, das ihm das<br />

Abrollen seines Steinmehles in die Koppenhagener Terracotta-<br />

werke ankündigte! („Verschreiben“: Doppel-p unter dem Vor-<br />

wirken des Doppel-r in terra!)<br />

Etwa 1929 wurde ein „Anti-Lärm-Verein“ 9 gegründet – na-<br />

türlich mit gehörigem Lärm der Gründer, die um ihre Parole<br />

Leute sammeln wollten, die Vereinsbeiträge zahlten, Versamm-<br />

lungen besuchten, Vorträge (= Lärm!) anhörten und „Entschlie-<br />

ßungen“ faßten. Dies Sch<strong>aus</strong>piel wiederholt sich, wenn auch<br />

die Ziele wechseln, mit denen der Rummel in Gang gesetzt<br />

wird. („Gegen den Lärm der Großstadt!“ – „Gegen die provinzi-<br />

elle Verschlafenheit kleinstädtischer Existenz!“ – „Belebung des<br />

Reiseverkehrs!“ – „Großkundgebung!“ und sooo weiter!)<br />

8 Martin Naumann, Stein- und Terrazzowerke, <strong>Waldheim</strong>, Bahnhofstraße 39.<br />

9 S. Brief vom 6. Februar 1968.<br />

322 323<br />

16. März<br />

Bereits 6 Uhr war ich in meiner Kl<strong>aus</strong>e nach der Fahrt auf der<br />

Autobahn über Leisnig. Ich ließ wieder einen „F<strong>aus</strong>t“vortrag 10<br />

ohne Manuskript laufen, hoffentlich ohne dabei den grauen<br />

Staub der Langenweile aufgewirbelt zu haben. […] Bei diesem<br />

Spaziergang durch Goethes „F<strong>aus</strong>t“ – das Stück spielt durch<br />

3000 Jahre – schwebt man dauernd in der Versuchung, Ausbli-<br />

cke nach sehr vielen Seiten zu eröffnen, weil der Reichtum an<br />

Beziehungen unendlich bleibt. Es ist doch so, als ob bei je-<br />

dem Satze immer mehr „Obertöne“ hörbar werden, die dem,<br />

der dies sozusagen das erste Mal genauer vernimmt, nicht be-<br />

wußt werden. Aber einiges <strong>aus</strong> der Fülle muß hörbar und sicht-<br />

bar gemacht werden.<br />

30. März<br />

Das Buch über die Geschichte des Verlages Reclam 11 heb<br />

bitte für mich auf. Es ist ganz interessant, diese Historie zu le-<br />

sen, die ein Jahrhundert überblickt, das man selber zu einem<br />

großen Teil vergehen sah. Jetzt ist der Verlag in zwei Anstalten<br />

zerfallen, der eine im Osten, in Leipzig, der andere im Westen,<br />

ich glaube in Stuttgart. Es ist also ähnlich wie beim Insel-Ver-<br />

lag, bei Gustav Fischer in Jena und wohl noch einigen anderen.<br />

Diederichs scheint keine Niederlassung mehr in Jena zu haben;<br />

er besteht nur noch in Westdeutschland. Auch das „danken wir<br />

dem Führer“!<br />

6. April<br />

Eben wurde an den vor 75 Jahren gestorbenen Generalpost-<br />

meister von Stephan, der 1831 geboren ist, erinnert. Er begrün-<br />

10 Die Vorträge zu Goethes F<strong>aus</strong>t (oder auch zu Wilhelm Meister, zu Shakespeare, zu<br />

E. T. A. Hoffmann) waren Lesungen mit Kommentaren, die <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> zu ver-<br />

schiedenen Zeiten und vor wechselnden Hörerkreisen veranstaltete.<br />

11 125 Jahre Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig, Leipzig 1953.


1972 Berühmte Sachsen<br />

dete eine gut arbeitende deutsche Post, gründete den Welt-<br />

postverein und sagte: si vis pacem, para concordiam [wenn du<br />

Frieden willst, sorge für Eintracht]. 12 Auch die Postkarte ist seine<br />

Erfindung. Wie würde er heute staunen über den Zeitaufwand<br />

der Post bei der Beförderung eines <strong>Briefe</strong>s! Ich glaube, die Zug-<br />

vögel besorgten das schneller; man sollte sich Brieftauben hal-<br />

ten. Aber diese würden vielleicht abgeschossen.<br />

18. April<br />

Dr. Toepel gab mir einen Band von Franz Kafka zu lesen mit<br />

– ich verstehe von dem, was ich bisher las, nichts. Ich las ei-<br />

nige Kapitel des Romans „Das Schloß“, zu dem mir offenbar<br />

der Schlüssel fehlt, so daß ich durch diese Lektüre in den Zu-<br />

stand völliger Hilflosigkeit gerate. Vielleicht ist das die Absicht<br />

des Autors.<br />

21. April<br />

Die Lektüre des für mich schwierigen Kafka bestärkt mich<br />

nur noch mehr in meinen Ahnungen. Ich werde am Sonntag mal<br />

Dr. Toepels Ansicht zu Kafka zu erfahren suchen. Aber vielleicht<br />

weicht er auch <strong>aus</strong>. Ich kenne niemand mehr, mit dem man<br />

sich unbefangen unterhalten kann und begreife Goethes Alters-<br />

meinung, daß der alte Mensch allein steht, er wird nicht mehr<br />

von seinesgleichen beurteilt und – das ist meine Ansicht – er<br />

erfährt auch die Urteile von seinesgleichen nicht. Die „Zeitge-<br />

nossen“ sind alle jünger, haben ganz andere Vorstellungen als<br />

Basis ihrer Urteile, und die „Alten“ sind ihnen mehr als gleich-<br />

giltig, sie sind „abgeschrieben“, altes Eisen, Müll, Umweltver-<br />

schmutzung.<br />

12 Abwandlung von „si vis pacem, para bellum“ = „wenn du Frieden willst, rüste<br />

zum Kriege“.<br />

324 325<br />

16. Mai<br />

Eben erhielt ich die Nachricht, daß Irene gut in Nürnberg<br />

eingetroffen ist. Von Dir kam keine Post. Von Peter [Weiße]<br />

eine Anfrage nach allen „berühmten Leuten Sachsens“, die ich<br />

nicht so <strong>aus</strong> dem Ärmel beantworten kann, wenn ich das ge-<br />

nau nehmen will. Denn Rich. Wagner, H. Schütz, Kolbe, Klin-<br />

ger, Kuehl, Bantzer, George Bähr, König Johann, Treitschke, Be-<br />

bel, Ulbricht, die Neuberin, Lessing, Fichte, Körner, Kügelgen,<br />

Marschner, Nietzsche, Lamprecht, Agricola, Apianus, Beckert,<br />

Carus, Rietschel, Richter (Ludw.), Julius Otto, Silbermann, Gott-<br />

sched, Nieritz, Naumann, Händel, Kuhnau, Palitzsch, [an den<br />

Rand geschrieben:] Oberreit, Lehmann, Peschel, Pöppig, Rin-<br />

gelnatz, Bierbaum, Rob. Schumann, Fürst Pückler – die mir so<br />

auf Anhieb eben einfallen, genügen nicht; da gibt es sicher<br />

noch manchen, dessen Namen mir jetzt nicht gegenwärtig ist.<br />

Ein guter Computer müßte allerdings augenblicklich alle Quer-<br />

verbindungen verknüpfen, z.B. auf Fragen wie die folgenden<br />

blitzschnell antworten: welche Maler, Architekten, Bildhauer,<br />

Philosophen, Ärzte, Erfinder, Chemiker, Physiker u.s.w. wa-<br />

ren Sachsen? Welche waren blond? Schwarz? Raucher? Trinker?<br />

Junggesellen? Starke Esser? Arme Schlucker? Erfolgsmenschen?<br />

Vergessene Alte? Pilzsucher? Tierfreunde? Wanderer? Gartengo-<br />

kel? Sportler?<br />

25. Mai<br />

Es wäre vielleicht im Laufe der Zeit belehrend, die in der<br />

Zeitung abgedruckten Photographien mit den Physiogno-<br />

mien der Macht zu sammeln (mit Namen und Zeitangabe).<br />

Das müßte durch einige Jahre oder Jahrzehnte fortgesetzt wer-<br />

den. Dabei könnten sich gemeinsame Züge zeigen, die zwei-<br />

fellos vorkommen – ebenso wie Gruppenbilder von Polizisten<br />

anders <strong>aus</strong>sehen dürften wie die von einer Bäckerinnung oder<br />

von Gärtnern.


1972 Biologisch-dynamische Wirtschaftsweise<br />

3. Juni<br />

Das Buch von dem Doktor Heim 13 ist wohl so eine Art bio-<br />

graphischer Roman. Man sollte ein sehr altes Buch wieder auf-<br />

legen, in dem vor vielen Jahren gesammelte Anekdoten un-<br />

ter dem Titel „Der alte Heim“ 14 zu finden waren und das leider<br />

nicht mehr zu bekommen ist. (Beispiel: Eine alte Dame, von Mi-<br />

gräne geplagt, kommt zu Heim mit der Frage, ob es richtig sei<br />

– wie ihr geraten worden – Sauerkraut auf den Kopf zu legen<br />

als Heilmittel. Und er antwortet: „Ich würde dann noch eine<br />

Bratwurst darüber legen.“) Dieser Arzt ist ein berühmtes Berli-<br />

ner Original gewesen, das ist eine <strong>aus</strong>gestorbene Menschenart;<br />

an die Stelle dieser phantasievollen Köpfe traten Apparate und<br />

Karteien, in denen kein Platz für Spaß und Humor ist. (Halte<br />

also Bratwurst im Medikamentenschranke im Vorrat!)<br />

6. Juni<br />

Ein Kurzbericht über biologisch-dynamische Wirtschafts-<br />

weise belebte Erinnerungen an die zwanziger Jahre, als<br />

Schwarz in Worpswede 15 damit begann. Die Sache scheint sich<br />

weiter zu entwickeln, trotz der bedeutenden Hindernisse, die<br />

sich da entgegenstellen. Die Sache ist sehr interessant, bedau-<br />

erlicherweise bin ich zu alt, sonst würde ich mich recht gern<br />

mit dieser Kulturform befassen. Da hat einer in Blaubeuren eine<br />

Methode gefunden, Müll in hochwertigen Kompost zu verwan-<br />

13 Gemeint ist der Roman des DDR-Autors Ernst Keienburg, Doktor Heim, Berlin 1969.<br />

14 Das Buch über den Berliner Arzt Ernst Ludwig Heim (1747–1834) gab 1846 Georg<br />

Wilhelm Keßler her<strong>aus</strong>.<br />

15 Der Anthroposoph Max Karl Schwarz (1895–1963), Maler und Gartenarchitekt, er-<br />

warb 1923 den Birkenhof und anschließend den Barkenhof in Worpswede und<br />

richtete dort <strong>aus</strong>gehend von den Ideen Rudolf Steiners auf Grundlage der bio-<br />

logisch-dynamischen Wirtschaftsweise eine Demeter-Gärtnerei ein. <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong><br />

kannte vermutlich seine Veröffentlichungen in der Gartenschönheit, etwa den<br />

Aufsatz Der Gartenorganismus von 1933. Vgl. Charlotte Reitsam, Das Konzept der<br />

„bodenständigen Gartenkunst“ Alwin Seiferts, Frankfurt am Main u.a. 2001.<br />

deln, mit dem er so <strong>aus</strong>gezeichnete Erfolge hat, daß gärtneri-<br />

sche Betriebe, trotz der Transportkosten, solchen Kompost <strong>aus</strong><br />

100 Kilometer Entfernung holen. Da nun die Müllbeseitigung<br />

den Städten schweres Kopfzerbrechen macht, ist es denkbar,<br />

daß von dieser Seite her diese Kompostbereitung einen Auf-<br />

schwung erlebt, den niemand ahnen konnte. Das ist eine Art<br />

von „Goldmacherei“.<br />

326 327<br />

11. Juni<br />

Es wird sehr von mir bedauert, daß Du heute nicht hier den<br />

„Messias“ von Händel in der Kirche hörtest. Hier hat der Kan-<br />

tor Ihl 16 ein Meisterstück geboten. Denn es gehört schon etwas<br />

dazu, einen Chor von etwa 70 Sängern erstmal zusammenzu-<br />

bringen und mit ihm das Werk einzuüben; dazu ein Orchester,<br />

das sehr sauber und genau spielte und einige Solisten. Zwei<br />

Dutzend Autos und ein Omnibus <strong>aus</strong> Mügeln standen vor der<br />

Kirche; von dieser kleinen Stadt hatte er eine Ergänzung des<br />

Chores herangeholt. Schön war es auch, daß sich eine große<br />

Zuhörerschaft eingefunden hatte. So viele Leute fanden sich<br />

in der Kirche wohl lange nicht zusammen, dieses Werk zu hö-<br />

ren, das Händel 1742 in 24 Tagen geschrieben und zum ers-<br />

ten Male in Dublin vorgetragen hatte und von dem an die Lon-<br />

doner, die es nach dem großen Erfolge in Irland erst später zu<br />

hören bekamen. Das war der eigentliche Beginn von Händels<br />

Anerkennung in London, wo er dann immer wieder gewünscht<br />

wurde, so daß Händel einem Waisenh<strong>aus</strong>e in London von den<br />

Einnahmen nach und nach eine viertel Million Goldmark über-<br />

weisen konnte.<br />

16 Wolfgang Ihl, Kantor und Leiter des Kirchenchores an der Stadtkirche St. Nicolai in<br />

<strong>Waldheim</strong> seit 1960. Außer dem Messias wurden unter seiner Leitung u.a. auch<br />

das Weihnachtsoratorium und die Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach<br />

aufgeführt.


1972 Gespräche mit Max Josef Metzger<br />

22. Juni<br />

Herrn Mittag traf ich, beladen – war er – mit Salatköpfen,<br />

Radieschen und dergleichen! Das ist doch komisch, daß die<br />

Leute vom Dorfe in der Stadt die Dorfgewächse einkaufen müs-<br />

sen, weil es „in Kriebethal nichts gibt!“ Außerdem trägt er die<br />

Waren <strong>aus</strong> dem Kreise Döbeln über die Grenze in den Kreis<br />

Hainichen! Ohne Zoll zu bezahlen. Welche wirtschaftlichen Ver-<br />

wirrungen das anrichten muß! Ein Kopf Salat kostet noch 35<br />

Pfennige statt eines Fünfers wie früher, also das siebenfache.<br />

Aber „man darf nicht vergleichen“. Was müssen die Leute frü-<br />

her gesündigt haben, daß sie so niedrige Preise zahlen muß-<br />

ten. Oder ist der jetzige Salat wertvoller? Freilich, damals wußte<br />

man noch nicht die Lehre von den Vitaminen, und für die Glau-<br />

benslehren muß gezahlt werden.<br />

3. Juli<br />

Daß die Wirklichkeit der Französischen Revolution den<br />

Jean Jacques Rousseau – der sie geistig vorbereiten geholfen<br />

– schwer enttäuscht und ihn vielleicht sogar auf die Guillotine<br />

gebracht hätte, ist höchstwahrscheinlich. Sein „Emile“ gibt das<br />

Beispiel einer im Grunde aristokratischen – oder wie man heute<br />

sagen würde – elitären Erziehung; dagegen läuft heute der<br />

„Trend“ in dem Vektor der Massendressur. Jene Bemühungen<br />

strebten danach, die Fähigkeiten des Einzelnen zu beobachten<br />

und zur Entwicklung zu bringen; man ging also vom Vorhande-<br />

nen <strong>aus</strong> – heute hat man andere Ziele: homogene Massen für<br />

vor<strong>aus</strong>bestimmte Zwecke abzurichten. Statt „Berufswahl“ nach<br />

Begabung und Neigung gibt es „Berufslenkung“ auf den „ge-<br />

sellschaftlichen Bedarf“ hin.<br />

5. Juli<br />

Gestern übertrug man, leider nicht vollständig, die köstliche<br />

Schulmeister-Kantate von Telemann, die wir einmal in der Nasch-<br />

marktbörse hörten. Schon lange suchte ich hier die Schallplatte<br />

zu beschaffen, die man zwar nicht im Paket schicken aber im<br />

Koffer mitnehmen kann. Sie ist offenbar hier nicht erschienen.<br />

„Wer die Musik nicht gerne höret,<br />

wer diese Kunst nicht liebt und ehret,<br />

der ist und bleibt ein Asinus:<br />

i – a – i – a – ein Asinus!“<br />

328 329<br />

12. Juli<br />

Gewiß – man wird sparsamer im Kaufen von Büchern, ich<br />

bestellte mir trotzdem eine Dokumentation über das Leben ei-<br />

nes katholischen Klerikers, Metzger, der von den Nazis umge-<br />

bracht wurde. 17 Ich hab mit ihm 1920 in Steiermark etwa zehn<br />

Tage lang jeden Morgen von 6–8 Spaziergänge um eine große<br />

Wallfahrtskirche gemacht und diesen Mann sehr schätzen ge-<br />

lernt. In etwa einer Woche soll ich das Buch haben, wie mir<br />

H[err] Münch versicherte. Hoffentlich ist die Auflage nicht be-<br />

reits vergriffen; das ist ja meist der Fall: man erfährt etwas von<br />

der Existenz eines Buches erst, wenn es nicht mehr existiert.<br />

Gestern ging ein langer, elegant gekleideter Herr über den<br />

Friedhof, ein Fremder, den ich beim Kragen nahm und ihn zu<br />

dem Kinde von Georg Kolbe führte, wo er staunend hörte, was<br />

ich ihm da kurz zu berichten hatte. Keiner von uns weiß, wer<br />

der andre war.<br />

17 Kl<strong>aus</strong> Drobisch, Wider den Krieg. Dokumentarbericht über Leben und Sterben des<br />

katholischen Geistlichen Dr. Max Josef Metzger, Berlin (DDR) 1970. Die Begeg-<br />

nung zwischen Max Josef Metzger (1887–1944) und <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> könnte 1925<br />

auf der Konferenz des Internationalen Versöhnungsbundes in Gaming (Österreich)<br />

stattgefunden haben, an der Metzger, der Gründer des Friedensbundes deutscher<br />

Katholiken, teilnahm. Wegen seines Programms für ein demokratisches, soziales,<br />

entmilitarisiertes friedliebendes Gemeinwesen nach der Entmachtung Hitlers, der<br />

Bestrafung der Schuldigen und Enteignung des Großgrundbesitzes wurde er 1943<br />

verhaftet, vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und 1944 in Brandenburg-<br />

Görden hingerichtet.


1972 „Helden der Geschichte“<br />

[17. Juli] Montag<br />

Im Radio kam ein klärendes Bild von dem ehemaligen Leip-<br />

ziger Oberbürgermeister Goerdeler 18 , der in Hitlers Auftrag im<br />

Februar 1945 ermordet wurde. Eine Luftwaffenhelferin hatte sich<br />

die <strong>aus</strong>gesetzte Prämie von 100 000 Mark „verdient“, dadurch,<br />

daß sie ihn auf einem Bahnhof erkannte und rasch anzeigte.<br />

Goerdeler war im Jahre 1944 in einem Komplott von Generälen;<br />

er wollte, daß Hitler festgenommen und von einem ordentli-<br />

chen Gericht zur Verantwortung gezogen werde. Das „Attentat“<br />

Stauffenbergs lehnte er ab, um einen neuen Staat nicht mit der<br />

Ermordung Hitlers zu beginnen. Zehn Wochen später etwa kam<br />

„der Führer“ durch Selbstmord um. An die Jagd auf Goerdeler<br />

erinnere ich mich noch. Es war eine furchtbare Zeit.<br />

22. Juli<br />

Hitler erbaute sich am Anblick der Filme, auf denen 1944<br />

(und wohl schon vorher) die Hinrichtungen der Verschwörer vom<br />

20. Juli 1944 aufgenommen worden waren. Der Prolet, der Ge-<br />

freite des ersten Weltkrieges genoß die von ihm verfügte Ermor-<br />

dung von Generälen <strong>aus</strong> alten Adelshäusern. Napoleon mordete,<br />

ebenso wie Stalin. Man könnte eine Sammlung von Biographien<br />

„Helden der Geschichte“ zusammenstellen – lauter Henkers-<br />

knechte. Von Kain bis heute! Aber sie werden heutzutage alle<br />

freigesprochen, und eine verbrecherfreundliche Psychoanalyse<br />

liefert die Vorwände, jede Untat zu rechtfertigen, zu erklären.<br />

18 Carl Friedrich Goerdeler (1884–1945), 1930–1937 Oberbürgermeister von Leipzig,<br />

hatte Verbindung zur Opposition gegen Hitler, sowohl im Oberkommando der<br />

Wehrmacht als auch im Kreisauer Kreis. Als Kanditat für den zukünftigen Reichs-<br />

kanzler <strong>aus</strong>ersehen, wurde er 1944 verhaftet, zum Tode verurteilt und kurz vor<br />

Kriegsende 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.<br />

330 331<br />

29. Juli<br />

Das hat Hesse freilich nicht verdient, von den Nichtstuern<br />

zum Heiligen ernannt zu werden. Es ist schon so, wie ich Dir<br />

gestern schrieb: in den Jahren von vielleicht 1880 bis 1950 wur-<br />

den die Menschen bis aufs äußerste gequält, geängstet, mit<br />

Arbeit beladen, und die Nachkriegsgeneration erholt sich von<br />

den Mühen der Großväter. Denke an die schlimmen Jahre, die<br />

Dein Vater 19 zu überstehen hatte: die Glasfabrik, die Schule,<br />

der Dienst in den Krankenhäusern (12 Stunden mindestens täg-<br />

lich). Und das war kein Einzelschicksal. Es hatte damals z.B. in<br />

Zschopau noch die „Streichschule“ gegeben: in Stoffdrucke-<br />

reien wurden Kinder von 6–8 h früh in einer Fabrik damit be-<br />

schäftigt, die Holzplatten, in die Muster für Stoffdruck geschnit-<br />

ten waren, mit Farbe zu bestreichen und dem Drucker zu rei-<br />

chen, der sie auf Stoff („Blaudruck“) für Schürzen und Kleider<br />

abdruckte. Nach der Schule ging die Arbeit weiter. Andre Kin-<br />

der hatten nachmittags Schule und arbeiteten in der Fabrik,<br />

wenn die erste Abteilung in der Schule war. Erst ab 1897 ging<br />

man daran, die Kinderarbeit in Fabriken abzuschaffen; das ging<br />

nicht schnell, denn die „heilige Wirtschaft“ widersetzte sich<br />

solchen Eingriffen. Die Arbeitsbelastung der Erwachsenen war<br />

auch wesentlich größer als etwa nach 1950. Und die neue Ge-<br />

neration ruht sich nun von den Anstrengungen der Großväter<br />

<strong>aus</strong>. Die Langeweile zu vertreiben braucht sie „Unterhalter“. Da<br />

ist für einige Zeit Hermann Hesse dran.<br />

13. August<br />

Vor einiger Zeit las ich von Franz Kafka ein Roman-Frag-<br />

ment, „Das Schloß“, <strong>aus</strong> dem ich nicht klug werden konnte.<br />

Da gab mir am vorigen Sonntage Dr. Toepel ein in den hiesigen<br />

19 Georg Sauer schrieb eine Selbstbiographie, die <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> einband, s. auch Brief<br />

vom 14. März 1966.


1972 Olympiade in München<br />

„Germanistischen Studien“ (Her<strong>aus</strong>geber Prof. Dr. Hans Kauf-<br />

mann, Prof. Dr. Gerh. Scholz u. Prof. Dr. Hans-Günther Thal-<br />

heim) erschienenes Buch von Kl<strong>aus</strong> Hermsdorf. 20 Das ist eine<br />

<strong>aus</strong>gezeichnete Arbeit. Aus dieser wird klar, wie sich die Düster-<br />

nis Kafkas entwickeln mußte: er war deutschsprachiger böhmi-<br />

scher Jude, hatte einen unverständigen Vater, der als kleinbür-<br />

gerlicher Unternehmer in einem gewissen Wohlstand sein Geld<br />

verdiente; nach dem Besuche eines Gymnasiums studierte er<br />

Jura und wurde Verwaltungsjurist bei einer Unfallversicherung,<br />

wo ihm die Sturheit der Unternehmer und das Elend verun-<br />

glückter Arbeiter Kummer machten, fand keine Möglichkeit sich<br />

zu verheiraten und starb schließlich an einer Tuberkulose, wohl<br />

noch nicht 40 Jahre alt. Also ein von allen Seiten gestörtes Le-<br />

ben, <strong>aus</strong> dessen sich überschneidenden Spannungen sich das<br />

Trübe, Verschwommene des Werkes verstehen läßt. Denn es ist<br />

eigentlich alles gegen ihn: der verständnislose Vater, die Deut-<br />

schen (weil er Jude ist), die Tschechen (weil er Deutscher und<br />

Jude ist), die profitgierigen Unternehmer (wenn er den Arbei-<br />

tern zu ihrem Rechte verhelfen will), wohl auch manche Arbei-<br />

ter (wenn er ihnen nicht mehr Unfallrente bewilligen kann, als<br />

das Gesetz und seine Auftraggeber festsetzten) – da kann einer<br />

schon den Verstand verlieren, abgesehen von seinem langsa-<br />

men Eingehen an seiner Krankheit. Und die Prager Juden waren<br />

auch untereinander zerstritten; das weiß ich <strong>aus</strong> einer Tagung<br />

in Prag, wo ich als Berater und Übersetzer eine Woche bei Prag<br />

jüdische und tschechische Journalisten und Ärzte kennenlernte.<br />

Das war zu dem noch eine geistige Auslese, von denen man et-<br />

was Sinn für „Reconciliation“ erwarten konnte. Die „Fellowship<br />

of Reconciliation“ hatte mich dahin geschickt. 21<br />

20 Kafka. Weltbild und Roman, Berlin 1961.<br />

21 Die jährlichen Konferenzen des Internationalen Versöhnungsbundes fanden an ver-<br />

schiedenen Orten in verschiedenen Ländern statt: 1928 in Klanovice bei Prag. Dort<br />

gehörte die Organisation „Neues Jerusalem. Internationale Abrüstungsbewegung<br />

26. August<br />

Eben r<strong>aus</strong>cht der Beginn der Münchener Olympischen Spiele<br />

<strong>aus</strong> dem Radio – das muß ein gewaltiger Auftrieb von Menschen<br />

sein. „Die größten Teilnehmerzahlen“, die meisten …, alles im<br />

Superlativ. Selbstbewußtsein oder „Selbstest“-Bewußtsein. […]<br />

Entscheidend ist freilich, zu welchen Zielen einmal diese die<br />

Welt umspannende Gemeinsamkeit angewendet werden wird.<br />

Diese organisatorisch und technisch einzuüben – das dürfte der<br />

tiefere Sinn der Olympiade sein. Der Sport ist der Stab, an dem<br />

sich die zarte Pflanze „Weltfrieden“ emporranken könnte. Diese<br />

Überlegung sollte recht ernst genommen werden.<br />

5. September<br />

Der olympiadische Jubel ist nun durch die Ermordung<br />

zweier Israelis im olympischen Dorf durch einige Araber schwer<br />

gedämpft worden. Mitten in der Civilisation herrscht die Barbarei.<br />

9. September<br />

Gestern kam ich auf dem Markte in einen Guß und stellte<br />

mich in eine H<strong>aus</strong>tür, wo mir eine Frau klagte, daß in <strong>Waldheim</strong><br />

„nichts los“ sei. Früher hätte die Volkshochschule doch etwas<br />

geboten. Sie hatte sich bei der jetzigen Einrichtung um Teilnahme<br />

an einem Kurs für Englisch bemüht. Dieser kam nicht<br />

zustande, weil sich „zu wenige“ gemeldet hatten. Hier gibt es<br />

wohl nur noch einen Kunstgeschichtskurs, den eine 83jährige<br />

<strong>aus</strong> Leisnig hält. Da könnte ich mich also um eine „Beschäftigung“<br />

bewerben – aber „das lassen wir“ 22 , wie schon Mephistopheles<br />

sagt. Über Nacht erinnerte ich mich an meine Arbeiten<br />

mit der Volkshochschule, die ich hier von 1920–1933 23 betrieb.<br />

in der Tschechoslowakei“ dem Versöhnungsbund an. <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> war zu der Zeit<br />

gewähltes Mitglied im Arbeits<strong>aus</strong>schuß des deutschen Zweigs des Bundes.<br />

22 F<strong>aus</strong>t II. Zweiter Akt. Hochgewölbtes enges gotisches Zimmer.<br />

23 <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> war zu der Zeit der Direktor der <strong>Waldheim</strong>er Volkshochschule.<br />

332 333


1972<br />

Von den damaligen Mitarbeitern lebt nur noch Herr Morgenstern.<br />

Wir hatten damals über 300 Hörer, bis die Nazis im März<br />

1933 die Sache zerschlugen. „Alles im Leben ist nur für eine<br />

Spanne Zeit.“ 24<br />

14. September<br />

Die Überlegungen zu dem Kolbetexte, die ich nur im Kopfe<br />

wälzte, beginnen langsam sich zu ordnen. Nun will ich mir erst<br />

mal dann Schreibmaschinenpapier zu kaufen suchen – wenn es<br />

so etwas gibt. Das ist keineswegs sicher. Sonst muß ich dieses<br />

gelbliche verwenden, auf das ich eben schreibe.<br />

26. September<br />

Heute hoffe ich den Kolbe-Aufsatz 25 so weit zu beenden,<br />

daß ich ihn für die Abschreiberin noch auf der Maschine einmal<br />

schreibe. Denn ich möchte meine Handschrift nicht zum Entziffern<br />

weiter geben. Ende Oktober erhalte ich die Kopien der Bilder<br />

von Frl. Rieger. Dann mache ich die Mappen fertig. Da gibt<br />

es wieder einen Engpaß, der heißt Pappdeckel! Wahrscheinlich<br />

beziehe ich diese <strong>aus</strong> dem Westen, wohin sie vielleicht erst exportiert<br />

worden sind. Sokrates hatte schon recht, zu sagen, das<br />

Beste sei ein ungestörter, tiefer Schlaf.<br />

4. Oktober<br />

Daß der gespreizte Stil in der besagten Hesse-Biographie 26<br />

abschreckend wirkt, kann jeder merken. Und vielleicht ist es<br />

Absicht und Auftrag des Schreibers, unter dem Schein moderner<br />

„Wissenschaftlichkeit“ den Dichter Hermann Hesse so darzustellen,<br />

daß Leser, die es <strong>aus</strong>halten, das Buch zu Ende zu lesen,<br />

am Schlusse doch vorläufig genug haben und aufhören –<br />

24 Aus der Erzählung Pole Poppenspäler von Theodor Storm.<br />

25 Für den von <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> verfaßten und selbstgebundenen 15-seitigen Aufsatz Ge-<br />

org Kolbe fertigte die <strong>Waldheim</strong>er Fotografin Ilse Rieger die Reproduktionen an.<br />

26 Eike Middell, Hermann Hesse. Bilderwelt seines Lebens, Leipzig 1972.<br />

oder gar nicht damit anfangen, Hesses Werke selber zu lesen.<br />

Da wirkt diese „Abwehr-Literatur“ ganz brauchbar: es werden<br />

manche darauf verzichten, sich Hesse-Bücher hereinschicken<br />

zu lassen. Das ist doch brauchbarer als das Konfiszieren oder<br />

Zurücksenden von Päckchen, die hereingeschickt werden (mit<br />

Hesse-Büchern). Die scheinbare „Objektivität“ des Berichtes ist<br />

keine kleine Sache, der Verfasser hat sich ganz hübsch angestrengt,<br />

dem Leser den Blick zu verwirren.<br />

8. November<br />

Nun [<strong>aus</strong> Nürnberg zurück] ist zu bedenken, wie ich ein<br />

paar Bananen und andern Krimskrams in Deine Hände geben<br />

kann; nach ängstlichen Vermutungen – das ist schon der richtige<br />

Ausdruck für die Begleitgefühle beim Überschreiten der<br />

Grenze – weil man nie weiß, was alles den Leuten einfallen<br />

kann, ging alles wider Erwarten gut. Es scheint, die Ost-West-<br />

Verhandlungen waren bereits teilweise wirksam, denn die Zöllner<br />

erschienen überhaupt nicht, es wurde nur nach Pässen und<br />

Geld gefragt. Das hätte man vorher wissen sollen; leider läßt<br />

sich in diesen Dingen noch weniger etwas vor<strong>aus</strong>sagen wie bei<br />

der Wetterbeurteilung.<br />

18. Dezember<br />

Nebel und grauer Himmel. Wer dieser „Ganzheits-Psychologe“<br />

war – ja, das weiß ich nicht. Es gab da einen Professor<br />

Felix Krüger 27 , mit dem ich mal scharfe Klingen kreuzte, wobei<br />

sich Litt 28 auf meine Seite stellte.<br />

27 Der Philosoph und Psychologe Felix Krüger (1874–1948), Nachfolger von Wilhelm<br />

Wundt in Leipzig, war der Begründer der Zweiten Leipziger Psychologenschule auf<br />

der Grundlage der genetischen Ganzheits- und Strukturpsychologie (1917).<br />

28 Theodor Litt (1880–1962), Professor für Philosophie und Pädagogik in Leipzig,<br />

Nachfolger von Eduard Spranger veröffentlichte 1920 in Leipzig seine Schrift Be-<br />

rufsstudium und „Allgemeinbildung“ auf der Universität.<br />

„Abwehrliteratur“<br />

334 335


1972 Die Dresdner Gehe-Stiftung<br />

20. Dezember<br />

Krüger hatte gesagt – etwa 1920 oder 21 auf einer Ver-<br />

sammlung sächsischer Volkshochschulleiter, die etwa 6–8 Tage<br />

dauerte und in Leipzig stattfand: „Das Drängen der Volksschul-<br />

lehrer, eine Universitäts<strong>aus</strong>bildung zu erhalten sei nur <strong>aus</strong> dem<br />

Wunsche nach höherer Bezahlung zu erklären.“ Und dagegen<br />

lief ich Sturm und sagte ihm, daß wir, die wir im Amte ste-<br />

hen, für den Berufsnachwuchs eine akademische Ausbildung<br />

erstrebten, sei <strong>aus</strong> unserer Einsicht zu erklären, daß das nö-<br />

tig sei. Der Bauer auf dem Dorfe hole einen akademisch <strong>aus</strong>-<br />

gebildeten Tierarzt, wenn seine Kuh krank sei, gehe zu einem<br />

auf der Universität <strong>aus</strong>gebildeten Pfarrer, nur für seine Kinder<br />

begnüge er sich mit einem nicht gehörig vorgebildeten Lehrer.<br />

Wir, die wir im Amte stehen, haben von der Bezahlung künf-<br />

tig <strong>aus</strong>gebildeter Lehrer gar keinen Pfennig zu erwarten. Aber<br />

wir zahlen heute bereits in eine Stipendienkasse für künftige<br />

Lehrerstudenten jeden Monat einen Sonderbeitrag, um einen<br />

Fond für diesen Zweck zu schaffen, in der Einsicht, daß auch<br />

ferner intelligente Arme eine Hilfe für das Studium brauchen.<br />

Sollte das Streben nach höherer Ausbildung nur auf materielle<br />

Antriebe zurückgehen, dann ist es sehr zu bedauern, daß je-<br />

mand des höheren Gehaltes wegen danach strebt, Universitäts-<br />

professor mit guter Bezahlung zu werden. Dieses Geständnis<br />

eines heutigen Professors ist uns peinlich, da unsere Vorstel-<br />

lung von idealistischen Antrieben des Professors zerstört wird.“<br />

Da saß Herr Prof. Krüger etwas bedeppert da – und Litt unter-<br />

strich meine Sätze. Soo war das. Der Beifall der Versammlung<br />

war mir sicher.<br />

28. Dezember<br />

Ich überdachte jetzt einmal meine Erinnerung an Lehrer, de-<br />

nen ich seit 83 Jahren vieles verdanke: ich kam auf 36 Namen,<br />

lauter tüchtige Leute, nicht nur angestellte „Lehrer“, auch Men-<br />

schen, die mir leise geholfen haben, wie z.B. der alte Biblio-<br />

thekar Dr. Schuchardt in Dresden in der „Bibliothek der Gehe-<br />

Stiftung 29 “, die in Dresden an der Sophienkirche stand. Das<br />

war die Stiftung eines Chemie- und Arzneimittelwerkes, noch<br />

im vorigen Jahrhundert gegründet. Was hab ich dort nicht al-<br />

les gelernt!<br />

29 Die Dresdner Gehe-Stiftung geht auf den Drogisten und Großkaufmann Ludwig<br />

Gehe (1810–1882) zurück. Die 1885 eröffnete Bildungsstätte, die volkswirtschaft-<br />

liche und staatswissenschaftliche Kenntnisse vermitteln und vertiefen wollte,<br />

stand mit ihren Vorträgen auf diesen Gebieten und mit ihrer großen Bibliothek<br />

jedermann offen, vgl. Sächsische Lebensbilder, Bd. 2, Leipzig 1939, S. 179–192.<br />

– Die Schriften von Paul Ottomar Schuchardt (*1856) behandeln Themen, die von<br />

einer Staatsverfassung für das mittlere Europa bis zum Schutz landschaftlicher<br />

Schönheit reichen.<br />

336 337


338 339<br />

1973<br />

7305 <strong>Waldheim</strong> i. Sa., den 13. Januar<br />

„Things seen are mightier than things heard“ 1 – das ist<br />

Shakespeares Vorgefühl der Fernsehmaschinen, mit deren Hilfe<br />

die genormten Zeitgenossen auf die raffinierteste Weise herge-<br />

stellt werden. Zu der Herstellung sind nicht nur Techniker der<br />

Filmarbeit, sondern vor allem Psychologen eingespannt, die<br />

nach sehr sorgfältigen Überlegungen die Scenen durchdenken,<br />

mit deren Hilfe – den Zuschauern unbewußt – das Bewußtsein<br />

nach den Wünschen der Auftraggeber allmählich umgebildet<br />

wird. Da wird recht raffiniert gearbeitet. Wer in diesen Guckkas-<br />

ten schaut, weiß nicht, was da mit ihm selbst angestellt wird.<br />

Er sitzt unmittelbar an einem Ansteckungsherd. Jacob Burck-<br />

hardt sagte: „ich möchte diese Zeit nicht mehr erleben!“ 2 Und<br />

dabei hatte er noch keine Ahnung, wie rasch der sogenannte<br />

„technische Fortschritt“ Waffen liefern sollte, die alles Frühere<br />

unglaublich übertreffen, wobei die Atombombe nicht mal die<br />

schlimmste ist.<br />

Ein alter Chinese sagte: „Der sollte getötet werden, der ein<br />

Kunstwerk durch einen gemeinen Blick schändet!“ Da sah mal<br />

einer vielleicht vor t<strong>aus</strong>end Jahren tief in das Geschehen – nur<br />

hatte er eine übertriebene Meinung vom Wirkungsgrad der To-<br />

desstrafe.<br />

1 Der Ausspruch stammt <strong>aus</strong> dem Versepos Enoch Arden (50. Strophe) des englichen<br />

Dichters Lord Alfred Tennyson (1809–1892). Ähnliche Wendungen finden sich<br />

auch bei Shakespeare.<br />

2 Brief an Hermann Schauenburg vom 28. Februar/5. März 1846.


1973 Ärzte am Wochenende<br />

13. Februar<br />

Heute vor 28 Jahren wurde meine Schwester 3 in Dresden<br />

von den Amerikanern ermordet. Das war auch ein Dienstag –<br />

wie heute – und gerade Fastnacht. Die „Geschichtsschreiber“<br />

berichten: „Sie kamen bei einem Bombenangriff um.“ Warum<br />

wählt man diese abschwächende Ausdrucksweise?<br />

20. Februar<br />

Die Frage nach der französisch-deutschen Literaturbezie-<br />

hung kommt von einem sehr netten Mann, Ingenieur, jetzt<br />

seit etwa zwei Jahren Rentner, der französisch und deutsch als<br />

Sprachen von Kindheit an beherrscht, in Genf geboren, Mutter<br />

Französin; er selber war oft viele Monate des Jahres als Ver-<br />

treter einer Augsburg-Nürnberger Weltfirma in Paris und Lon-<br />

don. Als Rentner legte er einen Garten an, studierte Botanik<br />

jetzt und Pflanzenphysiologie, zeichnete sich jede neu ge-<br />

sehene Pflanze in ein Skizzenbuch. Also ein sympathischer<br />

Mensch. Seine Kinder alle drei „Spätentwickler“, die zwei- bis<br />

dreimal im Gymnasium sitzen blieben und mühselig zum Abitur<br />

kamen – aber: der eine ging danach als „Entwicklungshelfer“<br />

in ein Elendsviertel von Negern in Amerika, kam mit sehr gu-<br />

ten Sprach- u. Menschenkenntnissen zurück und ist jetzt eine<br />

Art „Empfangschef“ bei AEG, wo er Ausländer (die für Millio-<br />

nen zuweilen ganze Elektrizitätswerke kaufen) in Nürnberg zu<br />

„betreuen“ hat, die ihm danach noch oft sehr dankbare <strong>Briefe</strong><br />

schreiben, spielt oft in der Lorenzkirche Orgel. Die Tochter ist<br />

Dolmetscherin eines großen Betriebes in Stuttgart, sie lernte<br />

Französisch in Paris, Englisch in London, erwarb dort Sprach-<br />

3 <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s Schwester Josefa, seit 1916 als Zeichnerin im Elektrobetrieb Sachsen-<br />

werk Dresden tätig, machte sich selbständig und gründete mit einer Tschechin zu-<br />

sammen die Lichtp<strong>aus</strong>anstalt <strong>Pfeifer</strong> und Husek, die bis 1945 bestand. Die unver-<br />

käuflichen Exemplare von <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s Buch Technik der geistigen Arbeit (Dres-<br />

den 1914, Privatdruck) stapelten sich in ihrer Dresdner 5-Zimmerwohnung.<br />

diplome. Der jüngste Sohn, Cello- und Orgelspieler – dreimal<br />

sitzen geblieben – mußte Soldat werden, trat aber trotz güns-<br />

tiger Bedingungen nach sechs Monaten wieder <strong>aus</strong> und stu-<br />

diert Theologie.<br />

26. Februar<br />

Ärzte am Wochenende – ja, wenn ich den Betrieb bei Dr.<br />

Toepel beobachte, wird mir deutlich, daß der Arzt doch eben<br />

auch nur ein Mensch ist – kein Jupiter. Von Montag früh bis Frei-<br />

tag abend eine Hetzjagd durch eine Menge nicht vorhersehba-<br />

rer Fälle in Sprechstunden und Besuchen, am Sonnabend Er-<br />

ledigung besonders nötiger Krankenbesuche. Nachlesen über<br />

zweifelhafte Angelegenheiten quer durch das weitverzweigte<br />

Gebiet der verschiedensten Krankheiten. Berichte, Studium<br />

neuer und neuster Anordnungen der Medizinalbürokratie, der<br />

neuen Nummern von Fachzeitschriften. Wer dabei noch ein Ste-<br />

ckenpferd reitet, ist anzustaunen, wie etwa Dr. Büttner, der<br />

aber sich scheinbar vor einer Ausweitung der Praxis hütet.<br />

Sonst wäre nicht zu erklären, wie er neben seinem Berufe noch<br />

Zeit und Muße findet, im Aktenstaube der Vergangenheit her-<br />

umzustöbern. Er ließ ein Heft drucken – das ich Dir schicken<br />

werde – in dem er das Ergebnis seiner Nachforschungen über<br />

die ärztliche Versorgung der Stadt <strong>Waldheim</strong> von den Anfängen<br />

bis etwa zum Jahre 1900 (Dr. Mohr 4 wird noch genannt) mit der<br />

Genauigkeit eines Chronisten darstellt. Neben den Ärzten wer-<br />

den auch Zahnbrecher, Bader, Barbiere erfaßt. Solchen „Zeit-<br />

vertreib“ kann sich doch nur einer leisten, der an andern Stel-<br />

len Beanspruchungen abzuweisen versteht. Ich brauche keinen<br />

„Zeitvertreib“, weil ich keine Zeit habe, die vertrieben werden<br />

müßte. Bei Goethe heißt es: „Was aber ist deine Pflicht? Die<br />

Forderung des Tages!“ 5 Und diese „Forderung“, die mir ins<br />

4 S. Brief vom 26. Juli 1961, Anm.<br />

5 Maximen und Reflexionen (Hecker: 443).<br />

340 341


1973 „An die Freude“ – 1918<br />

H<strong>aus</strong> schneit, jagt mich von einer Sache zur andern. Letzte Wo-<br />

che türmten sich Goethe-Bände um mich, seine Bemerkungen<br />

über Nürnberg zusammenzufassen, das ergab etwa 10 solche<br />

eng beschriebenen Seiten vom Format dieses Briefbogens und<br />

Einsichten zu dem Thema „Goethe als Reisender“. Gewiß, ich<br />

könnte derartige Wünsche weniger <strong>aus</strong>führlich erfüllen; dabei<br />

ergäbe sich dann ein ungutes Gefühl gegenüber dem Fragen-<br />

den – wie gegenüber Goethe. Nur in dem Falle Neroslow ent-<br />

schloß ich mich zur Ablehnung. Der Arzt wird von Goethes „For-<br />

derung des Tages“ weit dringlicher in die Zange genommen.<br />

7. März<br />

Gestern wurde mir mitgeteilt, daß ich ab 1. April meinen<br />

Garten aufzugeben habe, da dort gebaut werden solle. Wer<br />

dahinter steht, weiß ich nicht. Ich habe in diesen Tagen einen<br />

„Schätzer“ <strong>aus</strong> Döbeln zu erwarten, der die eventuell zu zah-<br />

lende „Entschädigung“ für vorhandene Bäume, Laube u.s.w.<br />

feststellen werde. So sieht die „Menschlichkeit“ im Alltag also<br />

<strong>aus</strong>. Nun weiß ich nicht, ob ich zu Deinem Geburtstage nach<br />

Leipzig kommen kann, da der Zeitpunkt der Schätzung noch<br />

nicht bekannt ist. Seit 61 Jahren hatte ich das Land in Pacht.<br />

Kaufen darf man es auch nicht, da der Boden hierzulande dem<br />

Staate gehört; die H<strong>aus</strong>besitzer besitzen nur noch das H<strong>aus</strong>.<br />

Ein altes „Vorkaufsrecht“ gilt nicht mehr. So wird man nach und<br />

nach abspaziert.<br />

15. März<br />

Dr. Mohrs Geburtstag. Eine Amaryllis entwickelt einen Blü-<br />

tenschaft, der noch in der Knospe steht und in diesem Zu-<br />

stande so anmutige Kurven zeigt, daß ich gleich meinen Aqua-<br />

rellblock nahm, um dieses Bild farbig festzuhalten; denn er<br />

verändert sich doch mit jeder Minute ferneren Wachstums. Die<br />

Blattgröße (des Zeichenblockes) reichte gerade, diesen schö-<br />

nen Trieb in Lebensgröße zu malen. Und ich muß froh sein, das<br />

noch zu können. Man muß sich nur entschließen, Farben, Pin-<br />

sel und Wasser zusammenzuholen. Schönes wächst da so still<br />

vor sich hin, das für längere Zeit zu bewahren durch<strong>aus</strong> mög-<br />

lich ist. Jetzt gefällt mir das Bild sogar selber.<br />

342 343<br />

16. März<br />

Wechselnde Wolken ziehen vorüber, ab und zu ein Strahl<br />

Sonnenschein.<br />

Gestern abend war Beethovens „IX. Sinfonie“ zu hören.<br />

Im Jahre 1918 hörte ich sie in Dresden in der Hauptprobe des<br />

Palmsonntagskonzertes; beim Verlassen des Opernh<strong>aus</strong>es er-<br />

schallte der Ruf der Extrablattverkäufer in den <strong>aus</strong> Luftschutz-<br />

gründen finsteren Straßen: „Paris unter deutschem Feuer!“ Das<br />

war ein starker Gegensatz zu dem eben gehörten Liede an die<br />

Freude! An diesem Abende wurde zum ersten Male bei Paris<br />

das neue „weittragende“ Geschütz auf Paris abgefeuert. Irrsinn<br />

scheint der Sinn der Geschichte zu sein.<br />

16. März<br />

Franz Schubert „Messe G-Dur“ wird jetzt geboten, nach-<br />

dem ein „Stabat mater“ von Vivaldi verklang. Gute Musik bleibt<br />

noch immer das Beste.<br />

Heute blühte die größte der Amaryllisknospen auf. Da er-<br />

scheinen herrliche Formen, die nun bereits viele Jahrt<strong>aus</strong>ende,<br />

vielleicht Zehnt<strong>aus</strong>ende von Jahren den Gewächsen eingeboren<br />

sind. Das ist eine tröstliche Erkenntnis.<br />

27. April<br />

Man sah in der Antike in Kristallen und Mineralen geheim-<br />

nisvolle Kräfte, die zu Göttern und Menschen Beziehungen ha-<br />

ben (z.B. Amethyst bewahre vor „Trunkenheit“!) So war dem<br />

wendigen Götterboten Merkur – „Gott des Handels und der


1973<br />

Diebe“, der Flügel an den Füßen trug – das Quecksilber zu-<br />

geordnet, wohl infolge seiner raschen Beweglichkeit; Blei galt<br />

dem alten Saturn. Mir ist das seit Kindertagen geläufig: bei der<br />

Zubereitung des Goldes für die Porzellanmalerei – ich hatte<br />

das Gold oft zu reiben – wurde etwas „Merkur“ beigemischt.<br />

Mein Vater, der das Zauberwerk selber vollendete, nannte das<br />

Quecksilber immer „Merkur“. Aus Gold wurde ein kleiner Krater<br />

auf einer starken Glasplatte – auf der es gerieben wurde – er-<br />

richtet und in den Krater ein kleiner Tropfen Quecksilber (Mer-<br />

kur) gegeben, der dann mit dem Golde verrieben wurde. Der<br />

Krater hielt das eilige Quecksilber, da Gold schwerer ist (spe-<br />

zif. Gewicht 19,3, Quecksilber 13,6). Damit das Quecksilber, der<br />

Merkur also, nicht auf der Platte davoneile, war die Goldkra-<br />

tersperre nötig. Der Merkurtropfen wäre nur auf einer vollkom-<br />

men ebenen Platte liegen geblieben. Daß Dein Tisch etwa völ-<br />

lig eben sei – das glaubst Du – stimmt nicht. Solche vollkom-<br />

mene „Ebene“ herzustellen ist sehr schwer oder das Geschenk<br />

eines seltenen Zufalles.<br />

30. April<br />

Während der Nazizeit hat Th. Mann – vom sicheren Port<br />

<strong>aus</strong>, erst <strong>aus</strong> Küßnacht in der Schweiz, dann von Amerika <strong>aus</strong><br />

– sich deutlich gegen die vernehmen lassen, die ihn seines Be-<br />

sitzes in München und Nidden beraubten und ihm den „Ehren-<br />

doktor“ absprachen. Aber seine politischen Sünden beging er<br />

bei Beginn des ersten Weltkrieges 1914, dann in den „Betrach-<br />

tungen eines Unpolitischen“ etwa 1917. Es sind doch 1914 ne-<br />

ben Hauptmann und Mann sehr viele „Prominente“ der natio-<br />

nalen Suggestion zum Opfer gefallen, nur H. Hesse nicht, der in<br />

seinem offenen Aufruf „O Freunde, nicht diese Töne!“ 6 bereits<br />

1914 sich klar <strong>aus</strong>sprach.<br />

6 In: Neue Zürcher Zeitung vom 3. November 1914.<br />

344 345<br />

3. Mai<br />

Gestern konnte man die Rede von H. Böll hören, die er in<br />

Stockholm pflichtgemäß als „Empfänger des Nobelpreises für<br />

Literatur“ zu halten hatte, eine Rede, die bewies, daß auch<br />

dieses Komitee etwas auf den Hund gekommen ist. Wenn<br />

es nichts Besseres gibt als die kunstgewerbliche Wortbaste-<br />

lei des H. Böll, dann soll man den Preis solange aufheben, bis<br />

irgendwo wieder ein echter Dichter auftaucht, was durch<strong>aus</strong><br />

möglich ist. Man kann nur den König von Schweden beklagen,<br />

der dem Preisträger wohl noch für den <strong>aus</strong>gebreiteten Kram<br />

danken mußte. Nun ja, es wird vieles „<strong>aus</strong>gebreitet“.<br />

4. Mai<br />

Mit dem dicken Wälzer über Rolland und den Krieg 7 bin ich<br />

ganz schön voran gekommen. Dabei wird vieles <strong>aus</strong> jener Zeit<br />

wieder erinnert, <strong>aus</strong> dem ersten Weltkrieg zunächst, da man<br />

noch nicht ahnen konnte, daß dies erst das Vor spiel späterer<br />

Ereignisse war und man glaubte, am Ende, also 1918/1919 solle<br />

eine „neue“ Zeit beginnen! Wie völlig anders entwickelte sich<br />

diese Geschichte; mancher, der da mit „gestaltete“, dürfte sich<br />

wohl später selber gefragt haben, wie er eigentlich dazu kam,<br />

sich für ein wahnsinniges Unternehmen ins Zeug zu legen. Oder<br />

haben diese Leute das vergessen? Ihre SA-Uniformen, die Mär-<br />

sche und Fahrten nach Nürnberg zum „Parteitage“, nach Ber-<br />

chtesgaden?<br />

24. Mai<br />

„O Freunde, nicht diese Töne!“<br />

Den dicken Wälzer <strong>aus</strong> Paris über Romain Rolland (716 Sei-<br />

ten!) las ich zu Ende, ohne eine Zeile zu überspringen. Das<br />

Buch ist außerordentlich wichtig, da es über den ersten Welt-<br />

krieg, über die von allen Seiten – besonders von den Franzo-<br />

7 René Cheval, Romain Rolland, l’Allemagne et la guerre, Paris 1963.


1973 Dritter Weltkrieg vor der Tür<br />

sen – angefochtene Haltung von Romain Rolland genau berich-<br />

tet; jede Angabe wird quellenmäßig belegt. Eine deutsche Aus-<br />

gabe wäre sehr nötig, aber es besteht keine Aussicht, daß sie<br />

gedruckt werde, ich würde das sofort übersetzen.<br />

30. Mai<br />

Der Germanist, der auf der letzten Tagung der Goethe-Ge-<br />

sellschaft sprach und der ein Franzose war – Grappin hieß er<br />

wohl – hat auch zu dem Thema „Romain Rolland und Deutsch-<br />

land im ersten Weltkriege“ ein Buch 8 geschrieben, allerdings<br />

nicht von dem Umfange des Parisers Cheval („Romain Rolland,<br />

l’Allemagne et la Guerre“), etwa 780 Seiten. Man sollte auch<br />

mal eine Arbeit der Gegner Rollands lesen, deren es in Frank-<br />

reich sehr viele gab, die ihm seine Stellung über den Nationen<br />

nicht verzeihen konnten, vor allem seinen Aufruf „Au-dessus de<br />

la mêlée“ (Über dem Getümmel), der als „Überheblichkeit“ von<br />

vielen Franzosen abgelehnt wurde. Jedenfalls hat man ihm das<br />

Leben sehr sauer gemacht.<br />

4. August<br />

Ich traf am Briefkasten Dr. Büttner und bestellte mir bei ihm<br />

noch drei Exemplare seiner Arbeit, die nur mit großer Mühe<br />

zum Drucke gelangt ist; es ist die Übersicht über die Waldhei-<br />

mer Ärzte. Er hat außer der vielen Arbeit noch die Hälfte der<br />

Druckkosten bezahlt: 400 Exemplare kosteten 4000 M, also<br />

das Stück, für 5 Mark verkauft, kostet ihn 10 Mark. Dabei ist<br />

freilich kein „Geschäft“ zu machen. Nur ein sehr großer Verlag<br />

kann sich solche Kalkulationen leisten, wenn ihm das, was er<br />

an einer Veröffentlichung verliert, durch den Überschuß beim<br />

Verkaufe einer anderen Sache wieder eingebracht wird. Wenn<br />

8 Vermutlich Pierre Grappin, Le Bund Neues Vaterland (1914–1916). Ses rapports avec<br />

Romain Rolland, Lyon und Paris 1952.<br />

das nicht gelingt, steht er eines Tages vor dem Nichts. Brock-<br />

h<strong>aus</strong> gab das Hauptwerk Schopenhauers, „Die Welt als Wille<br />

und Vorstellung“, das 1819 erschien, zum größten Teil in die<br />

Papiermühle, um wenigstens ein weniges zu retten. Daher sind<br />

die wenigen damals verkauften Exemplare der ersten Auflage<br />

dieses später so berühmten Werkes heute im Antiquariat sehr<br />

teuer – wie seltene alte Briefmarken.<br />

16. Oktober<br />

Eine Minute Krieg kostet etwa eine Million – wer diese in<br />

Empfang nimmt, hat natürlich ein Interesse am Fortgang dieses<br />

„Geschäftes“. Denn was der eine <strong>aus</strong>gibt, wird von einem an-<br />

dern „eingenommen“. Das spielt sich ohne Gemütsbeteiligung<br />

ab. Andere Gemüter werden mit „Nachrichten“ gefüttert.<br />

29. Oktober<br />

Daß am letzten Donnerstag der dritte Weltkrieg genau<br />

vor der Tür stand, scheinen noch nicht alle gemerkt zu ha-<br />

ben. Allein in West-Europa (Westdeutschland, Frankreich) stan-<br />

den 400 000 wohlgerüstete Amerikaner mit Marschgepäck und<br />

Ausgangssperre bereit, auch an den Tasten zur Auslösung der<br />

Atombomben lagen die Finger bereit. „Konfrontation der Su-<br />

permächte“ sagt man statt „Krieg“, der angeblich den Frieden<br />

schaffen soll. Zudem sind die Amerikaner gegen Europa u. bes.<br />

Westdeutschld. vergrollt, weil Brandt ihnen nicht erlaubte, von<br />

Bremerhaven <strong>aus</strong> am. Kriegsmaterial an Israel zu verschiffen.<br />

9. November<br />

Heute ist der 9. November: an diesem Tage brach 1918 das<br />

Deutsche Reich zusammen, am Tage zuvor flüchtete der Kaiser<br />

nach Holland; in Kiel leitete ein Matrosenaufstand eine Art Re-<br />

volution ein. Es sind alle Einzelheiten noch zu erinnern. Ich war<br />

am 8. in Leipzig und sah dort nachmittags ½ 4 h den Beginn<br />

346 347


1973 Zerstreute Hefte<br />

auf den Straßen und im Hauptbahnhofe, sinnlose Schüsse in<br />

das Glasdach des Bahnhofes, Züge überfüllt von Soldaten, Ge-<br />

schrei an jeder Haltestelle 9 – keine Ahnung dessen, was kom-<br />

men sollte.<br />

23. November<br />

Heute sollte der Ofenrußer kommen – ja er sollte, aber er<br />

kam nicht. Also hab ich den Ofen angeheizt. Denn wozu soll<br />

ich in der kalten Stube warten, da verschieben wir das. Früher<br />

machte unsereiner das selber. […]<br />

Die Folgen der Ölsperre kann niemand mehr überschauen –<br />

hier werden Schäden von unerhörtem Ausmaße angerichtet. Die<br />

H<strong>aus</strong>haltheizung und die Spazierfahrten im Auto sind nicht ein-<br />

mal das Wichtigste; man denke an ölverbrauchende Betriebe,<br />

die stillgelegt werden, an den riesigen Lastautoverkehr von Han-<br />

del und Versorgung, dieser Krieg greift in wenigen Wochen in<br />

Millionen Häuser schädigend ein. Wenn man sich jetzt auch wie-<br />

der auf die Kohlenvorräte besinnt, werden diese nicht im Augen-<br />

blick verfügbar, weil die Ölöfen dazu nicht verwendbar sind.<br />

24. November<br />

Heute begegnete mir eine frühere Schülerin <strong>aus</strong> dem Jahre<br />

1928 auf dem Markte; das ist also 45 Jahre her. Sie erzählte,<br />

daß sie sich von ihren alten Schulheften jener Zeit wieder eins<br />

hervorgesucht habe, in dem damals von mir das Thema erör-<br />

tert war: „Pflanzen <strong>aus</strong> aller Welt blühen an unserem Fenster“.<br />

Sie blühten damals wirklich auf den Fenstern des Klassenzim-<br />

mers. Daran wurde allerhand <strong>aus</strong> der Pflanzengeographie, der<br />

9 <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s Sohn Hans schildert diesen Tatbestand in einem Brief an Fritz Mierau<br />

vom 22. Februar 1994: Von Leipzig nach <strong>Waldheim</strong> fuhren keine Züge mehr, Ar-<br />

thur <strong>Pfeifer</strong> sprach mit den Eisenbahnern, und Vater und Sohn durften mit einem<br />

Militärzug mitfahren.<br />

Physiologie, der Botanik, der Geschichte gelernt – und, wie sich<br />

zeigt, mit dauerhaftem Erfolge. Sie erzählte von einer Reise im<br />

letzten Sommer nach Mittelasien, von der sie allerhand Zwie-<br />

belgewächse mitgebracht habe, die sie dort <strong>aus</strong> dem Boden<br />

der Steppe <strong>aus</strong>gegraben und gut nach H<strong>aus</strong>e gebracht habe –<br />

alles in Erinnerung an jenen „Schulunterricht“. Das stand aller-<br />

dings nicht im „Lehrplan“, ist auch heute dort nicht vorhanden.<br />

Damals konnte sich der Lehrer noch etwas einfallen lassen. Es<br />

zeigt sich dabei, daß die genaue Darstellung klar erfaßbarer<br />

Einzelheiten, an deren Betrachtung das Verstehen allgemeiner<br />

Gesetzmäßigkeiten entwickelt wird, die am meisten einpräg-<br />

same Wirkung hat.<br />

29. November<br />

Die Schülerin von 1928/30 hieß damals Wagner und wohnte<br />

in der Richzenhainer Straße. Ihr Vater war, wenn ich recht erin-<br />

nere, in einer Schuhfabrik beschäftigt. Ich hab keine „Gesam-<br />

melten Werke“ vorzuweisen, sondern nur das, was man unter<br />

dem Titel „Zerstreute Hefte“ bezeichnen kann.<br />

3. Dezember<br />

Für heute war eine gewisse Milderung der Kälte angesagt,<br />

aber noch merke ich nichts davon. In Bayern sollen stellen-<br />

weise 27 Grad Kälte gemessen worden sein. Im Jahre 1890 gab<br />

es einen ähnlichen kalten Winter. Damals ist mir zum ersten<br />

Male der wunderbare Bau kleinster Schneeflocken deutlich ge-<br />

worden. Ich fing auf meiner Schiefertafel einige kleinste Stern-<br />

chen auf und betrachtete sie mit der Lupe, die stets auf dem<br />

Arbeitstische meines Vaters lag. Dabei erlebte ich jenes „Stau-<br />

nen“, das Plato als den Beginn der Wissenschaft ansah. Seit<br />

jener Zeit Platos hat sich die Aufgabe des Lehrers nicht gewan-<br />

delt, eben jenes Erlebnis des Staunens hervorzurufen. Nicht al-<br />

len ist dies bekannt.<br />

348 349


350 351<br />

1974<br />

7305 <strong>Waldheim</strong> i. Sa., den 2. Januar<br />

Erfreulich war eine Vorlesung <strong>aus</strong> einem Buche eines rus-<br />

sischen Schriftstellers Bulgakoff, der eine Biographie von Mo-<br />

lière geschrieben hat. Was da zu hören war, erinnerte an die<br />

kunstvollen Arbeiten von Stefan Zweig über das Leben gro-<br />

ßer Schriftsteller. Mir fiel ein, daß etwa 1925 ein Mann des Na-<br />

mens Bulgakoff bei mir war; der könnte der Vater dieses Au-<br />

tors gewesen sein; er war der letzte Sekretär von Leo Tolstoi<br />

gewesen. 1<br />

15. Januar<br />

Gestern redete mich der Schulleiter Schmidt auf der Straße<br />

an, ich solle mir etwas von der Gewerkschaft zum Geburts-<br />

tage wünschen (für 100 M!) Ich hab das sofort dankend abge-<br />

lehnt. Aber er will noch mal zu mir kommen, zu fragen, ob mir<br />

nicht doch etwas eingefallen sei! Sie mögen für das Geld auf<br />

1 Der russische Schriftsteller Michail Bulgakow (1891–1940), der das Buch Das Leben<br />

des Herrn Molière (Berlin 1970) schrieb, ist mit dem russischen Pazifisten Valen-<br />

tin Bulgakow (1886–1966) nicht verwandt. Valentin Bulgakow, 1923 <strong>aus</strong> der Sow-<br />

jetunion <strong>aus</strong>gewiesen, lebte als Vorsitzender des Vereins der russischen Schrift-<br />

steller und Journalisten und des russischen Zweiges des Internationalen Versöh-<br />

nungsbunds in der Tschechoslowakei. Er schrieb Bücher über Tolstoi und die<br />

Tolstoianer. Vortragsreisen mit Themen wie Tolstoi und der Vegetarismus; Tolstoi<br />

als Kriegsgegner; Tolstoi–Lenin–Gandhi; Das religiöse Leben in Sowjetrußland<br />

führten ihn durch ganz Europa. 1927 besuchte er den damaligen Sekretär des<br />

deutschen Zweiges des Internationalen Versöhnungsbundes, Pfarrer Alfred Dedo<br />

Müller in Ziegra bei <strong>Waldheim</strong>. In diese Zeit wird auch sein Besuch bei <strong>Arthur</strong><br />

<strong>Pfeifer</strong> gefallen sein.


1974 Rücktritt von Willy Brandt<br />

dem Schulgelände ein paar Bäume oder einige Rhododendren<br />

pflanzen lassen – das werde ich ihm sagen. Wenn man mich<br />

doch in Ruhe ließe! Ich kann doch nichts dafür, so alt gewor-<br />

den zu sein.<br />

Kissinger reist in diesen Tagen täglich zwischen Jerusalem<br />

und Assuan hin und zurück; das sind pro Reise 1000 km Luftli-<br />

nie, also etwa von München nach Rügen. Wir kommen in die-<br />

ser Zeit von hier nach Grimma, etwa 40 km!<br />

Heute bekam ich die neue Kohlenkarte. Ich hab doch noch<br />

genug von dieser Sache. Erstmal abwarten; wer weiß denn, ob<br />

man das Zeug braucht. Interessant ist daran nur, daß nach 29<br />

Jahren so etwas noch „auf Karten“ geliefert wird.<br />

2. Februar<br />

In der vielen Post kamen auch <strong>Briefe</strong> von Schülern alter Zei-<br />

ten, von solchen von 1917 und von Leuten, die ich 1953/54 bis<br />

zum Abitur in Döbeln hatte. Das sind doch auch bereits zwan-<br />

zig Jahre her. Und nun sitze ich hier, diese Wünsche zu „ver-<br />

danken“, wie es im Schweizerdeutsch heißt. Schöne Blumen in<br />

Fülle. Ein Glückwunsch vom Staatsrat in Berlin, von der Stadt,<br />

von der Gewerkschaft, von den Kollegen – und dabei ist es<br />

doch kein Verdienst, neunzig Jahre alt zu werden.<br />

7. Februar<br />

Gestern war meine gesamte Tagesleistung die, sechs <strong>Briefe</strong><br />

zu schreiben (also zwölf Seiten), zu mehr reichte es nicht. Mit-<br />

ternacht hörte ich glockenrein das A-Dur Trio von Haydn – eine<br />

wunderbare Sache – und das „Forellenquintett“ von Franz Schu-<br />

bert. Solche Musik bleibt das Beste von allem Betrieb der Zeit.<br />

Heute scheinen alle Vögel der Umgebung sich bei mir zu<br />

versammeln; eine Amsel setzte sich flötend auf das Brett am<br />

Fenster noch während ich Futter <strong>aus</strong>streute. Finken und Mei-<br />

sen – über dreißig bevölkerten erst den Baum vor dem Fenster<br />

und sorgten dann dafür, daß ich heute noch einmal Futter zu<br />

streuen habe. Das tu ich gern.<br />

352 353<br />

8. April<br />

Gestern eine „Leseprobe“ <strong>aus</strong> dem „Archipel“ 2 – ganz<br />

furchtbar! Viele Beurteilungen früherer Ereignisse sind umzu-<br />

werten. Aber gewisse Mächte werden das zu verhüten wissen.<br />

Wenn Du wüßtest, was das besagt!<br />

13. April<br />

Schopenhauer begrüßte die „Abwesenheit von Übeln“. Die<br />

andre Haltung – zunächst das Gute zu sehen und das Schöne –<br />

ist wohl mehr zu empfehlen. Diese glückliche Begabung erlebte<br />

ich am schönsten <strong>aus</strong>gebildet bei Karl Foerster, dem selbst<br />

Herbstlaub auf einem Wege nicht die Verdrossenheit wecken<br />

konnte, die viele Leute dabei empfinden. Und ebenso der Or-<br />

chideenzüchter de Kruif in Babelsberg, der bei einer Betrach-<br />

tung seiner Schätze zu mir sagte: „Regen Sie sich nicht auf,<br />

wenn an einer Pflanze ein gelbes Blatt zu sehen ist, wir kriegen<br />

auch mal ein graues Haar.“<br />

7. Mai<br />

Zudem waren die Berichte zu hören über den Rücktritt von<br />

Bundeskanzler Brandt. Das erfolgte wie ein greller Blitzschlag,<br />

der für viele Länder aufschreckend gekommen ist. Es ist so wi-<br />

derwärtig, zu wissen, daß ein Schurkenstreich diese Änderung<br />

bewirkte. 3 Es wäre zu lernen, die Bedeutung eines großen ein-<br />

zelnen Mannes gegenüber der Masse richtig einzuschätzen.<br />

Vielleicht werden die Wühlmäuse, die sich hier betätigten, erst<br />

2 Alexander Solshenizyn, Der Archipel GULag, Bern, München 1973. Dokumentation<br />

über die sowjetischen Straflager.<br />

3 Der persönliche Referent Brandts, Günter Guillaume (1927–1995), entpuppte sich<br />

als Spion der DDR.


1974 „F<strong>aus</strong>t“-Kurs<br />

sehr spät einsehen, was sie damit angerichtet haben, wenn<br />

diese überhaupt fähig wären, ihr Tun in seinen Folgen zu beur-<br />

teilen. Ich bezweifle das.<br />

Abgeschoben<br />

Umgebracht<br />

{<br />

{<br />

12. Juni<br />

Merkwürdiges ist zu beobachten:<br />

1. Brandt – Träger des Friedensnobelpreises – wurde<br />

abgedrängt<br />

2. Scheel – ein geschickter Friedensstifter – auf ein<br />

totes Gleis geschoben<br />

3. Nixon – der die Supermächte zu fesseln verstand –<br />

wird zum Abtreten aufgefordert<br />

4. Kissinger – der mit unerhörtem Fleiße unter großen<br />

Anstrengungen Kriegsherde <strong>aus</strong>zulöschen sucht – wird<br />

über Nacht fast zum Entschluß zurückzutreten gebracht<br />

5. Lumumba – der an der Befriedung des schwarzen<br />

Erdteils arbeitete – wurde ermordet<br />

6. Kennedy – der sich um den Weltfrieden bemühte –<br />

wurde ermordet<br />

7. Hammarskjöld – Generalsekretär der Uno, der sich<br />

um Frieden bemühte – kam über Afrika auf ungeklärte<br />

Weise um<br />

8. M. L. King – der Negerpriester – wurde ermordet<br />

Diese Liste fiel mir über Nacht ein. Es liegt der verbindende<br />

Gedanke nahe, daß hinter diesen Taten Leute stehen, die stark<br />

an der Erhaltung des Krieges interessiert sind, weil Kapitalien,<br />

die im Kriege verbraucht werden, ungleich höhere Zinsen tra-<br />

gen als jede andre Art von Kapitalanlage.<br />

29. Juli<br />

Dieser Sommer ist seltsam: noch nicht einmal war es mög-<br />

lich, im Garten von Dr. Toepel den Sonntagskaffee zu genießen;<br />

gestern wieder kühler Wind. […]<br />

Am Sonnabend beginne ich vor<strong>aus</strong>sichtlich bei Gottfried<br />

mit etwa 5–6 Leuten einen „F<strong>aus</strong>t“-Kurs. Es wird wohl einiges<br />

dabei mir einfallen.<br />

354 355<br />

31. Juli<br />

Ob die „F<strong>aus</strong>t“-Lesung irgend etwas Besondres werde, läßt<br />

sich nicht vorher sagen. Gottfried und Christian und die bei-<br />

den Frauen und noch ein Freund [Reinhard Mehnert] von Gott-<br />

fried sind vor<strong>aus</strong>sichtlich die Teilnehmer. – Mörike kann 1821<br />

nur „F<strong>aus</strong>t I“ gekannt haben. Der „Urf<strong>aus</strong>t“ ist erst von Erich<br />

Schmidt im Jahre 1887 in einer Abschrift der Frl. von Göchhau-<br />

sen in Dresden gefunden worden. Das ist die Abschrift des Ma-<br />

nuskriptes, das Goethe <strong>aus</strong> Frankfurt mit nach Weimar brachte,<br />

als er 1775 im November dort eintraf, ohne zu ahnen, daß<br />

<strong>aus</strong> diesem Besuch eine Bindung für das ganze Leben wer-<br />

den sollte. Weder sein Vater noch seine Freunde in Frankfurt<br />

und Darmstadt hielten die Reise für gut und sinnvoll. Und viele<br />

„Psychologen“ bemühten ihre „Wissenschaft“, diesen Entschluß<br />

Goethes <strong>aus</strong> dem Widerspruch zwischen Vätern und Söhnen<br />

„dialektisch“ zu erklären. Der II. Teil wurde erst 1831 im Au-<br />

gust beendet und in einem Pakete eingesiegelt, da Goethe den<br />

Druck nicht erleben wollte und seine von ihm ernannten Tes-<br />

tamentsvollstrecker mit der nach seinem Tode zu veranstalten-<br />

den Her<strong>aus</strong>gabe beauftragte. Im Jahre 1832 starb Goethe und<br />

1834 erschien bei Cotta als Nachlaßband das Werk, das viele<br />

Jahrzehnte überhaupt nicht oder falsch verstanden wurde, wie<br />

in dem Jahrhundert nach Goethes Tode allgemein Schiller als<br />

der erste Meister galt. Man könnte einige Bände zu dem Titel<br />

schreiben „Der mißverstandenen Goethe“. Also Mörike wußte<br />

nichts von „F<strong>aus</strong>t II“ – im Jahre 1821 – da war vieles überhaupt<br />

erst im Kopfe des Dichters vorhanden, und andere hatten eine<br />

Fortsetzung versucht. Ich las ihn zuerst etwa 1895/96 – das ist<br />

also schon einige Zeit her. Die erste Vorstellung auf dem Kö-


1974 Sprachkunstwerke und Naturwunder<br />

niglichen Hoftheater Dresden – mit bedeutenden Sch<strong>aus</strong>pielern<br />

– sah ich 1899 auf dem „Rennplatz“ im III. Rang für 0,60 M.<br />

Es gab in der Mitte des III. Ranges zwei Stehplätze. Da stellte<br />

man sich ½ 4 h nachmittags an, ½ 6 h begann die Vorstellung,<br />

und die versammelten Zuschauer rasten im Wettlaufe die drei<br />

Ränge hinauf, einen dieser Plätze zu ergattern. Die Vorstellung<br />

dauerte über 5 Stunden, weil es weder Drehbühne noch Ver-<br />

senkbühne damals gab, und dadurch wurden P<strong>aus</strong>en nötig.<br />

12. August Montag<br />

Das Wetter ist hier wieder trübe mit gelegentlichen Schau-<br />

ern. Ob das „Eichbergfest“ daran schuld ist? Die Anziehungs-<br />

kraft dieser Volksbelustigung scheint ziemlich groß zu sein; auf<br />

dem Markte und an Straßenrändern standen sehr viele Autos.<br />

Dann ist wohl der Zweck erreicht, der doch „Geldbeschaffung“<br />

für den „Verschönerungsverein“ vor Jahren bereits war. Nur<br />

über das, was unter „Verschönerung“ verstanden wird, scheint<br />

man unter sich nicht klar zu sein. „Schön“ ist es jedenfalls<br />

nicht, daß vor dem architektonisch besten Bau 4 der Stadt, der<br />

vom Sohne Sempers erbauten Girokasse, wo das wertvollste<br />

Kunstwerk der Stadt steht – die „Große Knieende“ von Kolbe<br />

– ein großes Parolen- oder Reklameplakat den Blick verdeckt.<br />

Aber diesen Ban<strong>aus</strong>en ist doch nicht beizukommen.<br />

2. Oktober<br />

Aus der Nürnberger Zeitung erhielt ich einen Bericht über<br />

eine sechs Tage dauernde Aufführung in Dornach (Schweiz), wo<br />

eine ungekürzte Darstellung von „F<strong>aus</strong>t I“ und „F<strong>aus</strong>t II“ geboten<br />

worden ist: 5000 Hörer <strong>aus</strong> der ganzen Welt. Nebenbei erwähnte<br />

4 Das Gebäude, das Elemente des Klassizismus und des Jugendstils vereint, war ur-<br />

sprünglich ein Hotelbau (Hotel Deutsches H<strong>aus</strong>), erbaut 1870 von Manfred Sem-<br />

per (1838–1913); ab 1920 diente es als städtische Sparkasse; s. auch Brief vom<br />

24. Dezember 1965.<br />

der Reporter: „Die Albernheit, mit der der 225. Geburtstag Goe-<br />

thes in der deutschen Öffentlichkeit vielfach gefeiert wurde, läßt<br />

den Verdacht entstehen, daß wir uns dieses störenden, weil tie-<br />

fen Geistes bewußt und endgiltig entledigen wollen.“<br />

14. Oktober<br />

Das Gerede, der zweite Teil von Goethes „F<strong>aus</strong>t“ sei ein<br />

unverständliches „Alterswerk“, ist nur ein dummes Geschwätz<br />

von Leuten – auch Professoren – denen es an Fleiß fehlte, den<br />

allerdings oft sehr verschlungenen Gedankenwegen Goethes zu<br />

folgen; sie sind zu faul sich anzustrengen, zu unwissend, die<br />

reichen Beziehungen des Werkes, das einen Zeitraum von drei-<br />

t<strong>aus</strong>end Jahren umfaßt, zu entdecken und die Geheimnisse zu<br />

entziffern. Ich bin gespannt darauf, zu merken, ob es gelingen<br />

wird, das einigermaßen verstehbar zu deuten. Es muß vor al-<br />

lem erreicht werden, daß der Leser nicht den Mut sinken läßt,<br />

sich anzustrengen. Das muß allerdings gefordert werden – der<br />

Schöpfer des Werkes hat es doch vorgeleistet.<br />

Das ist bei der Naturbetrachtung nicht anders, einer freut<br />

sich, <strong>aus</strong> der Ferne große blühende Phloxfelder zu sehen, der<br />

andre stellt sich Zweige davon in die Vasen, der dritte beob-<br />

achtet in seinem Garten das Wachstum, der vierte untersucht<br />

Einzelheiten mit dem Mikroskop und schließlich bemühen sich<br />

andere, durch gelenkte Züchtungsversuche zu neuen Sorten zu<br />

kommen – aber überall bleibt als Vor<strong>aus</strong>setzung der Fleiß, das<br />

Bestreben, sich um immer tieferes Erkennen zu bemühen. Also<br />

gleichviel, ob einer in die Sprachkunstwerke von Shakespeare<br />

oder Goethe einsteigt oder ob er irgendwelchen Naturwundern<br />

bis in alle erkennbaren Einzelheiten nachgeht. Das war es, was<br />

Goethe vor vielen anderen vor<strong>aus</strong> hatte: sich keine Mühe ver-<br />

drießen zu lassen – und dies bis zum letzten Tage, wie der Brief<br />

an Wilhelm von Humboldt vom 17. März 1832 beweist. 5<br />

5 S. Brief vom 23. Februar 1972.<br />

356 357


1974 Internationaler Versöhnungsbund<br />

21. Oktober<br />

In den Leistungen von Karl Foerster wurden noch einmal im<br />

abgelaufenen Jahrhundert Kräfte des klassischen Zeitalters ge-<br />

sammelt. Sein Vater, der Astronom der Berliner Sternwarte 6 war<br />

– in diesem Garten sammelten die Kinder ihre ersten Gartener-<br />

lebnisse – ist 1832 geboren, also im Nachklang der Goethezeit<br />

jung gewesen. So hat Karl Foerster – als Erholung vom bestan-<br />

denen Abitur – den ganzen Goethe durchgelesen; dann ging er<br />

– zum höchsten Erstaunen der Bekannten (<strong>aus</strong> dem gehobenen<br />

Bürgertum) – in die praktische Lehre als Gärtner, der Beruf, den<br />

er „von der Pike auf“ erlernen mußte. Und den hat er dann zu<br />

einer vorher nicht geahnten Höhe entwickelt. Erst fing er mit<br />

dem Garten an der Sternwarte an, der bald nicht mehr genügte<br />

– und dann bebaute er die große Anlage in Bornim bei Pots-<br />

dam, wo neue Sorten gezüchtet und entwickelt, fremde an das<br />

hiesige Klima gewöhnt, gekreuzt, gesteigert, <strong>aus</strong>gelesen wur-<br />

den. Erst als dieses ganze praktische Gartenwesen schon eine<br />

gewisse Höhe erreicht hatte, kam das Buch „Vom Blütengar-<br />

ten der Zukunft“ 1917 im „Furche-Verlag“ her<strong>aus</strong> und eroberte<br />

sich die Welt, nicht nur als „Bilderbuch“, sondern es regte an,<br />

solche Gärten zu bauen. Man darf sagen: Karl Foerster hat da-<br />

mals in Deutschland die ganze Steingarten- und Staudengar-<br />

tenpflege hervorgezaubert, die in vielen Städten und Ländern<br />

sich angesiedelt hat, bis der zweite Weltkrieg alles zerstörte.<br />

Ob der Sinn für dieses Pflanzenleben wieder einmal erwachen<br />

wird, läßt sich nicht vor<strong>aus</strong>sehen – vorläufig drohen andere<br />

Schwierigkeiten für die kommenden Jahrzehnte.<br />

An meinem Hibiscus bildet sich eine Knospe heran, ich bin<br />

gespannt, ob dieser südliche Strauch eine Blüte entfalten wird.<br />

Ich lasse ihn keinen Tag unbeachtet. Leider kann ich ihm keine<br />

Sonne spenden, die er gern haben möchte. Man sollte ein Bil-<br />

6 Wilhelm Foerster (1832–1921), seit 1865 Direktor der Berliner Sternwarte.<br />

derbuch von der Sonne herstellen, das könnte eine große Ar-<br />

beit werden, mit Dichtungen aller Zeiten, mit Mozart-Musik.<br />

4. November<br />

Schüler einer 10. Klasse erhielten einen Fragebogen mit 23<br />

Fragen zu „F<strong>aus</strong>t I“! Daß da bei dieser Durchleuchtung der Leh-<br />

rer mehr von den Kindern gefordert wird, als ihnen zuzumu-<br />

ten ist, wird den Fragestellern offenbar nicht klar. Außerdem<br />

werden nicht nur Wissenselemente geprüft, sondern persönli-<br />

che Auffassungen durchforscht. Mephistopheles scheint Unter-<br />

staatssekretär geworden zu sein.<br />

23. November<br />

Heute 20 Uhr ist der Helena-Akt im II. Teil von „F<strong>aus</strong>t“ den<br />

Hörern nahe zu bringen; das ist nicht so einfach, wie das schei-<br />

nen mag, denn inhaltlich wie der sprachlichen Form nach ist<br />

dies etwa der Himalaya der Weltliteratur, von dem im Laufe der<br />

letzten 150 Jahre nicht wenige abgestürzt sind. Da vergehen<br />

auf wenigen Seiten 3000 Jahre Weltgeschichte. Und eine Ah-<br />

nung von der Größe dieses Werkes muß doch mindestens ge-<br />

weckt werden. Goethe sagt einmal: „Das Beste, was wir von<br />

der Geschichte haben, ist der Enthusiasmus, den sie erregt.“ 7<br />

Das trifft hier besonders zu.<br />

26. November<br />

Schönen Dank für den eben erhaltenen Brief. Die anstren-<br />

gende Dolmetscherarbeit hab ich reichlich kennen gelernt in<br />

den Jahren 1920–1932! 8 In Montreux, in Sandwich, in Canter-<br />

bury, in Bilthoven (bei Utrecht in Holland), im Schwarzwalde in<br />

Königsfeld, in Steiermark. Man ist dabei angespannt auf jedes<br />

7 Maximen und Reflexionen (Hecker: 495).<br />

8 S. Chronik.<br />

358 359


1974<br />

Wort – und das wird um so anstrengender, wenn bei Diskus-<br />

sionen Franzosen, Deutsche, Engländer, Amerikaner abwech-<br />

selnd um Verständigung sich bemühen, Leute darunter – ich<br />

erinnere einen höheren Beamten <strong>aus</strong> Lyon mit einer unerhör-<br />

ten Sprechgeschwindigkeit – und draußen sieht man das Cha-<br />

teau Chillon, wo Byron eine Zeit verbrachte, sich im Genfer See<br />

spiegeln, den weißen Mont Blanc in den blauen Himmel ragen,<br />

sieht die Cathedrale von Canterbury in herrlicher englischer Go-<br />

tik, sieht die Weite der Nordsee – und lehnt am Türpfosten zwi-<br />

schen zwei großen Sälen, <strong>aus</strong> deren einem die Ohren englische<br />

und amerikanische Reden fangen, um sie deutsch in den an-<br />

dern Raum zu übersetzen; 1100 Zuhörer! Na ja, das war einmal.<br />

Die Energie von damals, die möchte ich wieder haben; aber da-<br />

mit ist es vorbei.<br />

360 361<br />

1975<br />

7305 <strong>Waldheim</strong> in Sachsen, den 5. Januar<br />

Sturm und Unwetter wüten, die Straßenglätte dauert an;<br />

denn Schneeflocken sind spärlich verteilt und dünn; die Tem-<br />

peratur immer um Null Grad herum. Auch hier haben Stürme<br />

die Bäume <strong>aus</strong>geästet. Das erzählte Herr ***, der mich einmal<br />

besuchte. Dabei ist sein Garten doch noch etwas geschützt<br />

durch die bebaute Umgebung, wo sich der Wind beim Anprall<br />

an die Gebäude etwas erschöpft. Diese Unwetter dauern nun<br />

schon über eine Woche an. Am schlimmsten sollen die Stürme<br />

in England gewütet haben und an den Küsten der Nordsee,<br />

an einer Stelle 400 Meter Deiche weggerissen, so daß die Flu-<br />

ten in das Land rasen und die Leute <strong>aus</strong> ihren Häusern her-<br />

<strong>aus</strong>gebracht werden müssen. In England gab es vierzig Tote<br />

durch die Stürme. Die Natur kann also auch Revolution ma-<br />

chen und unerwartete Zerstörungen anrichten. Auf den Inseln<br />

soll die Lage für viele Menschen recht bedroht sein. Manche<br />

werden vom Lande <strong>aus</strong> durch Abwerfen von Nahrungsmitteln<br />

und Decken versorgt. Ein Flug kann nur dort Leute her<strong>aus</strong>ho-<br />

len, wo sich für das Landen der Maschine ein Platz vorfinden<br />

läßt. Dazu diese Stürme, mit Geschwindigkeiten, die etwa hin-<br />

reichen von hier, von <strong>Waldheim</strong> <strong>aus</strong>, in einer Stunde noch fünf-<br />

zig Kilometer über Berlin hin<strong>aus</strong> zu stürmen, von hier bis Ber-<br />

lin sind 180 Kilometer; der Wind legte in einer Stunde bis zu<br />

230 Kilometer zurück. 200 000 Leute sollen von dem Sturm be-


1975 „Der Archipel Gulag“<br />

troffen sein. 1,2 Millionen Kubikmeter Holz riß der Sturm um,<br />

als ob er Vergißmeinnicht pflückte. Und für heute abend wer-<br />

den neue Stürme erwartet.<br />

7. Januar<br />

Regenschirme werden wieder vorüber getragen, schein-<br />

bar wird der Atlantische Ozean als Regen über Europa <strong>aus</strong>ge-<br />

gossen. Da ist es also ganz gut, nicht an einem Flußrande zu<br />

wohnen, sondern auf dem Berge, so schwierig es ist, hinauf<br />

zu kommen. Aber einer Überschwemmung ist diese Wohnlage<br />

doch vorzuziehen.<br />

In einem alten Hefte über <strong>Waldheim</strong>, das vor dem ersten<br />

Weltkriege gedruckt ist und außer dem Text Inserate von Wald-<br />

heimer Geschäften und Betrieben enthält, kann man erfahren,<br />

was seit jener Zeit alles verschwunden ist: Geschäfte, Vereine<br />

und dergleichen. Dabei ist noch nicht einmal alles festgehalten,<br />

dessen man sich noch erinnern kann. Und dieses Welken einer<br />

Stadt mag an anderen Orten ähnlich vor sich gegangen zu sein.<br />

Das „verwirrte Handeln“, von dem Goethe fünf Tage vor seinem<br />

Tode schrieb, scheint sich fortzusetzen.<br />

9. Januar<br />

Eine Vorlesung <strong>aus</strong> dem Buche von Solshenizyn, „Der Ar-<br />

chipel Gulag“, brachte Furchtbares zu Gehör. Diese Welt ist<br />

zum Untergange reif. Kein Wunder, daß die Sonne sich das<br />

nicht mehr ansehen mag. Eine klägliche Rolle spielte M. Gorki 1<br />

1 Vom 20.–23. Juni 1929 besuchte Maxim Gorki (1868–1936) das sowjetische Arbeitser-<br />

ziehungslager auf den Solowki-Inseln im Weißen Meer; obwohl er die inszenierte<br />

Vorführung der guten Lebensbedingungen der Gefangenen sehr wohl durch-<br />

schaute und ein mutiger Junge ihm die Unmenschlichkeit des Lagerregimes ge-<br />

schildert hatte (er wurde nach Gorkis Abreise mit 300 anderen erschossen), lobte<br />

Gorki die Einrichtung, vgl. Solshenizyn, Der Archipel GULag. Folgeband: Arbeit<br />

und Ausrottung, Seele und Stacheldraht, Bern 1974, S. 58–61; vgl. auch Dmitri<br />

in dem Berichte. Etwas Intelligenz allein und ein geschicktes<br />

Durchsetzungsvermögen, die eigenen Interessen vorteilhaft zu<br />

lenken, genügen nicht, einen „erfolgreichen Schriftsteller“ zu<br />

einem bedeutenden Menschen zu entwickeln. Das zu beobach-<br />

ten gaben die letzten Jahrzehnte mehrfach gute Gelegenheiten,<br />

und recht trostlose Helden des Tages dämpfen jede Begeiste-<br />

rung. Sich mit Pflanzen und Tieren zu befassen, erscheint sinn-<br />

voller als jede Betrachtung menschlicher – meist unmenschli-<br />

cher – Verhaltensweisen.<br />

13. Januar<br />

Von Dr. Toepels soll ich Dich herzlich grüßen. Ein Traktorist<br />

<strong>aus</strong> Schönberg 2 , der mich gestern zu Dr. Toepel fuhr und der<br />

den „F<strong>aus</strong>t“-Kurs mitgemacht hatte, bat mich um eine Fortset-<br />

zung mit Shakespeare. Dazu werde ich mir nun etwas einfal-<br />

len lassen müssen. Vielleicht beginne ich mit dem „Sommer-<br />

nachtstraum“. Erst muß ich meine „Frühjahrs-Müdigkeit“ wirk-<br />

sam bekämpfen. Das ist eine lästige Sache. Fleiß ist nur an<br />

meinem Futterplatze am Fenster zu beobachten.<br />

17. Januar<br />

Spengler ahnte mit seinem „Untergang des Abendlandes“<br />

den Gang der Weltgeschichte. Als das Buch erschien, glaubten<br />

wir noch, uns gegen diesen Verlauf wehren zu können! Aber die<br />

Übel waren stärker.<br />

5. Februar<br />

Dienstag abend brachte das Radio eine Darstellung von der<br />

Zerstörung von Dresden am 13. Februar 1945. Dar<strong>aus</strong> wurde<br />

S. Lichatschow, Hunger und Terror. Mein Leben zwischen Oktoberrevolution und<br />

Perestroika, Ostfildern 1997, S. 95–114.<br />

2 Reinhard Mehnert; nach einer Schlosserlehre nahm er ein Theologiestudium am<br />

Paulinum in Berlin auf.<br />

362 363


1975 Vietnam im Fernsehsessel<br />

deutlich, daß der Befehl dazu eindeutig gegen die vorherigen<br />

Einwände und den Widerstand des Kommandeurs der Flug-<br />

zeuggeschwader erfolgte. Leider siegte die Gehorsamspflicht<br />

über die moralischen Hemmungen derer, die den Befehl des<br />

obersten Vorgesetzten <strong>aus</strong>zuführen hatten. Churchill wird da-<br />

mit eindeutig von der Anklage belastet, dieses Verbrechen an-<br />

geordnet zu haben. Das war ein Vergeltungsschlag für das, was<br />

die deutsche Heeresleitung in England verübt hatte. […]<br />

Über die unzuverlässige Art und Weise, wie „Geschichte“<br />

geschrieben wird, konnte ich einige Einsicht gewinnen. Es ist<br />

doch wohl ein Irrtum, zu glauben, man wisse von der Vergan-<br />

genheit mehr als von der Zukunft. Die Vorsokratiker hatten<br />

bereits klarere Vorstellungen als die, die heute geläufig sind.<br />

Ranke wollte in seinen Büchern darstellen, „wie es wirklich ge-<br />

wesen ist“. Sein Irrtum war die Annahme, daß sich das <strong>aus</strong> al-<br />

ten Urkunden und Erzählungen berichten lasse.<br />

26. März<br />

Ein arabischer König 3 wurde ermordet. Ich erinnere mich<br />

noch, welches Aufsehen 1894 die Ermordung des Präsidenten<br />

von Frankreich Sadi Carnot erregte; heute macht so ein Be-<br />

triebsunfall noch kaum einen Eindruck. Das mag wohl mit der<br />

Entwertung des Lebens zu erklären sein, die seit 1914 mehr<br />

und mehr zugenommen hat. Heutzutage wurden die Kriegsge-<br />

biete in Vietnam zu Arbeitsplätzen der Fernsehgesellschaften,<br />

die bemüht sind, durch „Originalaufnahmen“ des Unglücks an-<br />

ziehende Programme zusammenzustellen, ohne die Unkosten<br />

gestellter „Aufnahmeobjekte“ tragen zu müssen. Kommt gele-<br />

gentlich dabei ein Reporter um, wird er durch einen andern er-<br />

setzt. Der Film photographierter Kriegsereignisse wird mit Flug-<br />

zeugen zu den Fernsehsendern befördert, und der friedliche<br />

3 König Faisal von Saudi-Arabien (1905–1975).<br />

Spießer kann schon eine Woche später die moderne Schlacht,<br />

den Zug der Flüchtlinge, die zerstörten Häuser von seinem<br />

„Fernsehsessel“ <strong>aus</strong> betrachten. Der „Fortschritt“ läuft hörbar<br />

über den Globus.<br />

27. März<br />

Heute war ein Kurzbericht über Ernst Jünger zu hören, des-<br />

sen Bücher hier freilich nicht angeboten werden. Als neues von<br />

ihm wurde der Titel „Philemon und Baucis“ genannt. Na ja,<br />

wir werden es nicht zu lesen bekommen, da er hier keine Gel-<br />

tung hat. Die „Vorschrift“ kommt eben „vor“ der Schrift. Und<br />

wer sind die „Vorschreiber“? Und so etwas nennt sich „Demo-<br />

kratie“! Die Zustände sind nicht wie im alten Rom, sondern be-<br />

schränkter, aber da hilft kein Fluchen. Nur gut, daß man mit<br />

seinen Gedanken alle Grenzen überschreiten kann. (Ich unter-<br />

drücke einige allgemein verständliche Ausdrücke.)<br />

364 365<br />

26. April<br />

Als ich vor Jahrzehnten Abiturienten darauf hinwies, Psych-<br />

iatrie zu studieren, weil die Zukunft viele Irrenärzte brauchen<br />

werde, glaubte man das kaum; heute höre ich, daß der Bedarf<br />

schneller gewachsen ist, als zu vermuten war: in Westdeutsch-<br />

land allein fehlen ein paar t<strong>aus</strong>end Irrenärzte. […] Es wurde be-<br />

merkt, daß die Zahl der <strong>aus</strong>zubildenden Psychiater mindestens<br />

verdoppelt werden müsse, um nur den dringendsten Bedarf zu<br />

decken. Der Wahnsinn brach 1933 <strong>aus</strong>: Nietzsches im Wahnsinn<br />

geschriebenes Buch „Der Wille zur Macht“ wurde das Evange-<br />

lium der Nazipartei. Jede Machtgruppe schafft sich einen „Heili-<br />

gen“, auf dessen Botschaft sie schwört, aber gelesen wurde sie<br />

stets nur von wenigen; diese Bibeln stehen vorn in den Bücher-<br />

schränken: erst Hitlers „[Mein] Kampf“, der dann von Marx und<br />

Lenin abgelöst und in den Hintergrund geborgen wurde; freilich<br />

sehen diese Bücher noch nach Jahren sehr neu und geschont


1975 Konserven des Geistes<br />

<strong>aus</strong>. Das geschah doch auch mit der Bibel im letzten Jahrhun-<br />

dert. Ich sah einmal im Museum in Chemnitz das „Werk“ von<br />

Hitler, das eine Kunstschreiberin auf Pergament vollständig ab-<br />

geschrieben hatte. Wohin mag das gekommen sein? Das war<br />

schon ein sehr hoher Materialwert. Verschwendung war das.<br />

28. Mai<br />

Daß da in Weimar die Blumen auf Christianes Grab gestoh-<br />

len werden, das ist allgemeiner Gebrauch hier auf dem Fried-<br />

hofe. „Es lösen / Sich alle Bande frommer Scheu“ 4 ; manche<br />

sammeln ihre „Geburtstagssträuße“ einfach auf dem Friedhofe,<br />

zumal die Blumenläden oft nichts anzubieten haben. Man-<br />

ches auf den Gräbern stellten Leute hin, die von <strong>aus</strong>wärts ka-<br />

men und dies mitbrachten. Kein Chronist der Zeitgeschichte<br />

hält das in seinen Aufzeichnungen fest, weil es nichts Außeror-<br />

dentliches ist, wie das in früheren Zeiten der Fall war. Die ei-<br />

nen kommen mit Blumen zu dem Friedhofe, die andern tragen<br />

sie wieder hin<strong>aus</strong>.<br />

30. Mai<br />

Der Cactus Grusoni, der bereits über 20 Jahre bei mir am<br />

Fenster steht, ist doch in den Jahren ganz schön herangewach-<br />

sen, freilich bis er die Größe eines Hockers haben wird, dürften<br />

noch 70 Jahre vergehen. Er ist der praktische Philosoph in der<br />

Pflanzenwelt: er verringert seine Oberfläche, damit wird er we-<br />

niger verletzbar und besetzt sich mit scharfen Lanzen, die An-<br />

greifer abzuwehren. Die Verkleinerung der Oberfläche macht ihn<br />

sicher vor den Gefahren des Wassermangels, da sich die Was-<br />

serabgabe verringert. Das alles stärkt seine Lebens<strong>aus</strong>sichten.<br />

4 Aus Schillers Gedicht Das Lied von der Glocke.<br />

366 367<br />

4. Juni<br />

Heute erhielt ich die Liste „Neuerwerbungen“ <strong>aus</strong> der Lan-<br />

desbibliothek, das Heft vom April. Das macht einen ärmlichen<br />

Eindruck. Es umfaßt zwar 68 Seiten; es findet sich kaum etwas,<br />

das mich locken könnte, es zu bestellen. Zunächst ist der „Zu-<br />

wachs“ recht unterernährt: es wimmelt von kleinen Schwärt-<br />

chen, einer Unmenge von kleinen „Katalogen“ von Kunst<strong>aus</strong>-<br />

stellungen, von denen jeder die Zahl der vorhandenen Bücher<br />

um einen Titel vermehrt. Auf diese Weise ist es leicht, von über<br />

„eine Million vorhandener Bände“ zu sprechen. Überwiegend<br />

liest man slawische Titel. Daß es hier soviele Benutzer geben<br />

sollte, die fließend diese Sachen lesen, ist recht unwahrschein-<br />

lich. Aber Kataloge und Bücherregale füllen sich damit. Es mag<br />

auch daran liegen, daß es nur noch wenige Autoren hier geben<br />

wird, die Wesentliches verfassen. Natürlich ist auch nicht <strong>aus</strong>-<br />

zuschließen, daß mein Begriffsvermögen und mein Interesse an<br />

diesen Büchern – den Konserven des Geistes – allmählich ge-<br />

schrumpft sind. Was einen fesseln kann, erscheint nicht, und<br />

was erscheint, das geht mich kaum etwas an. Freilich die Zahl<br />

der möglichen Käufer ist durch die Teilung Deutschlands stark<br />

gesunken, man überlegt sich, was man verlegen und drucken<br />

kann, ohne daß der Verlag sein Vermögen dabei verliert.<br />

16. Juni<br />

Schönen Dank für den eben erhaltenen Brief sowie für die<br />

beigelegten Umschläge. Aber das war nicht nötig, Dich zu be-<br />

rauben. Ich weiß mir zu helfen und reiche noch lange mit Hilfe<br />

meines Kleistertopfes. Warum soll ich nicht <strong>aus</strong> zwei gebrauch-<br />

ten Umschlägen einen brauchbaren herstellen? Das ist weni-<br />

ger langweilig, als sich in einem Laden mit den Redensarten<br />

abfertigen zu lassen, daß es demnächst dies und jenes ge-<br />

ben soll. Ich hab es gründlich satt, Ladenredensarten anzuhö-<br />

ren. Im Gegensatz zu der Zeitmeinung, daß „Kontakte“ zu stif-


1975 Pferde in der Apotheke?<br />

ten seien, breche ich diese lieber ab. Die Ärmlichkeit kenne ich<br />

– neuere Bestätigung brauch ich nicht. Den Engländern ging<br />

es auch besser, als sie noch in splendid isolation auf ihrer In-<br />

sel h<strong>aus</strong>ten.<br />

25. Juni<br />

Ein Fehler liegt vor, wenn man versäumte, in den guten frü-<br />

heren Zeiten die Kataloge aller großen Kunstsammlungen nach<br />

und nach zu kaufen. Das wäre jetzt ein großer Schatz. Stelle<br />

Dir vor, Du streckst nur die Hand <strong>aus</strong> und Du hast den Katalog<br />

der Sammlungen des Louvre, des Vatikans, des Britischen Mu-<br />

seums, der Berliner Sammlungen, der von Florenz, Wien, Zü-<br />

rich, Basel, Eremitage bei Petersburg, Metropolitan-Museum in<br />

New York und so weiter zu Deiner Verfügung! Ein Welt-Museum<br />

im H<strong>aus</strong>e! Man brauchte ein großes Regal, das alles aufzustel-<br />

len, aber man wanderte ohne Mühe rund um die Welt und tief<br />

in die Zeiten.<br />

Gestern abend wurde durch einen Bericht über den Röhm-<br />

Putsch 5 von 1934 sehr anschaulich klar, wie fragwürdig „Ge-<br />

schichte“ ist. Zwei Tage nach jenem Ereignis – wobei in ver-<br />

schiedenen Orten 1700 Menschen etwa ermordet worden sind<br />

– befahl Göring, alle das Ereignis betreffenden Akten sofort zu<br />

verbrennen, und er sorgte dafür, daß dies erfolgte! Wer soll<br />

heute darüber noch etwas wissen! Zumal bereits damals Fal-<br />

sches verbreitet wurde. Ob es sich um einen Entscheidungs-<br />

kampf zwischen SS und SA handelte, ob man Wissende <strong>aus</strong>rot-<br />

ten wollte – wer weiß, was wirklich war? Und da sich alles wie-<br />

derholt, ist bei allen wichtigen Ereignissen die Unklarheit über<br />

die Ursachen, die Begründungen, den Verlauf das einzige, das<br />

5 Ernst Röhm (1887–1934), früher Vertrauter von Adolf Hitler, der diesem als Stabschef<br />

der SA mit ihren 4,5 Millionen Mitgliedern zu mächtig wurde und den er wegen<br />

angeblichen Putschversuchs erschießen ließ.<br />

gewiß bleibt. Und der alle paar Jahrzehnte neu gebraute Brei<br />

der „Überlieferung“ wird den Kindern bereits in Schulen in das<br />

Gehirn gestrichen, teilweise von Leuten, die daran glauben! So-<br />

bald die Glaubenssätze den neu auftretenden Machthabern un-<br />

bequem werden, streicht man alles und erfindet Neues. Jedes<br />

„Ereignis“ ist das Ergebnis von Willensentschließungen leben-<br />

diger Menschen; und diese sind schwer zu durchleuchten.<br />

368 369<br />

21. Juli<br />

Eben war zu hören: „Der alte Mensch ist eine Belastung der<br />

Gesellschaft“ – das mag stimmen, wenn es von den Betroffe-<br />

nen auch nicht gern gehört wird. Und da wurde nun von den<br />

Sportärzten den Alten empfohlen, Sport zu treiben, natürlich<br />

nicht wild drauflos, sondern nach einer „eingehenden sport-<br />

ärztlichen Untersuchung“. Da nun die alten Leute heute fast ein<br />

Drittel der Bevölkerung betragen, ergibt sich dar<strong>aus</strong> eine be-<br />

achtliche Erhöhung der Zahl derer, die den Sportarzt aufsuchen.<br />

Denn ohne diese Untersuchung besteht die Gefahr, daß der zu<br />

Beratende eine falsche Sportart betreibt und sich selbst schä-<br />

digt. (Wenn er etwa Briefmarken sammelt statt Fußball zu spie-<br />

len!) Für den Reitsport muß der Sportarzt bestimmen, welche<br />

Art von Pferd gerade dieser oder jener zu Behandelnde zu wäh-<br />

len hat: der eine soll ein Pferd nehmen, das weich auftritt, der<br />

andere im Gegenteil eins mit hartem Tritt. Du siehst, der Sport-<br />

arzt ist weitsichtig. Denn er weiß genau, welches Tier gerade<br />

der zu Untersuchende zu wählen hat. Von sich <strong>aus</strong> nimmt einer<br />

vielleicht eins, das für ihn ganz ungeeignet ist. Das kann näm-<br />

lich erst durch genaue Untersuchung der Bauch- und Rücken-<br />

muskeln des künftigen Reiters vom Sportarzt gefunden wer-<br />

den. Ob es die Pferde in der Apotheke gibt? Und wer bezahlt<br />

das, sprach der König.


1975 Krieg als Geschäft<br />

26. August<br />

Das <strong>aus</strong> dem Wiener Verlag stammende Liederbuch ge-<br />

hört zu den besten Sachen dieses Gebietes; leider wird es hier<br />

kaum mehr zu bekommen sein, wie alle guten Druckwerke. Die<br />

„Wiener Schulreform“ in den ersten zwanziger Jahren nach dem<br />

1. Weltkriege brachte viele sehr schöne Sachen hervor, auch<br />

auf künstlerischem Gebiete. Wien–Sachsen–Hamburg, das wa-<br />

ren damals die Orte, an denen der Aufschwung der Schule vor-<br />

anging. In Göttingen baute man geschickt erdachte Lehrmittel,<br />

das war eine recht schöne Zeit.<br />

27. Oktober<br />

Der Besuch eines früheren Schülers <strong>aus</strong> Döbeln [Fritz Mie-<br />

rau], der von Berlin kam, war recht erfreulich. Er arbeitet als<br />

Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Er war gerade zu ei-<br />

ner „Tagung in Weimar“ gewesen und hielt die Wanderungen,<br />

die er vor den Verhandlungen früh von 7–9 Uhr allein durch<br />

den Weimarer Park gemacht, für den besten Ertrag der Veran-<br />

staltung. Er hatte begriffen, daß dieser Park ein lebendes Werk<br />

Goethes ist, auch daß eine Parkanlage in die Zukunft gerichtet<br />

ist; denn dem Pflanzer steht ein in Jahrzehnten zu erwartendes<br />

Bild der Landschaft vor Augen. „Jetzt nur Stangen, diese Bäume<br />

/ Geben einst noch Frucht und Schatten.“ 6<br />

Außer einem Zettel, auf dem vermerkt ist, daß jede Gas-<br />

stelle jederzeit zugänglich sein soll, kam nichts und niemand;<br />

man hat also auf Kommando immer zu H<strong>aus</strong>e zu sein. Von Gas<br />

oder von Reparaturleuten ist keine Spur zu finden; sie drehten<br />

bisher nur die Hauptleitung ab. Wenn solches den Elektrikern<br />

und den Wasserleuten auch noch einfallen sollte, kann man<br />

sich noch mehr in Anspruchslosigkeit üben. Das Leben bleibt<br />

ein dauernder Erziehungsvorgang.<br />

6 Aus Goethes Gedicht Hoffnung.<br />

28. Oktober<br />

Krieg, Kriegslieferungen (eine ganz wichtige Sache, die Mil-<br />

lionen „Arbeit und Brot“ bringt), tägliche Berichte über die<br />

Herzanfälle eines großen Verbrechers 7 , Fußballsiege, Gebrüll<br />

der 65 000 Zuschauer bei einem Fußballspiel, Türkei bekommt<br />

von USA für 17 Milliarden Dollar Waffen geliefert, vielleicht er-<br />

halten deren Gegner die ähnlichen Lieferungen, falls sie Dollar-<br />

milliarden haben – so und so weiter laufen die Meldungen rund<br />

um den Globus. Blind sind die meisten, die <strong>aus</strong> dem Getöne<br />

nicht den Untergang her<strong>aus</strong>hören. Aber in einem kleinen Gar-<br />

ten unten an der Turmstraße blühen noch jetzt Rosen und Dah-<br />

lien, ohne vom Frost beschädigt zu sein; kommen Eichhörn-<br />

chen und Vögel an den Futterplatz an meinem Fenster, wer-<br />

fen die durch das Geäste des Baumes hüpfenden Vögel schöne<br />

Schattenbilder auf meinen Vorhang. Eben sitzen wieder Eich-<br />

hörnchen mit buschigem Winterpelzchen vor mir. Man muß bei-<br />

des sehen: das Schöne in der Natur und die unerquicklichen<br />

Streitereien in der sogenannten Menschenwelt, die im heiligen<br />

Lande ihre Waffen gegeneinander abschießen und amerikani-<br />

schen Rüstungsgeschäften zu hohem Gewinn verhelfen – eine<br />

Narrenwelt, deren die großen Gelder gewinnenden Drahtzieher<br />

im Dunklen bleiben. Redet doch mal einer, dann erschrickt man<br />

ob der geistigen Dürftigkeit, mit der die Welt „regiert wird“.<br />

7305 <strong>Waldheim</strong> in Sachsen, den 6. November<br />

(ehedem „Königreich Sachsen“, in dem Dresden „Haupt-<br />

stadt u. Residenzstadt des Kgr. Sachsen“ hieß)<br />

Zum Bestehen der Fahrprüfung meinen Glückwunsch. Ich<br />

erinnere mich an die, die ich etwa 1936 oder 1937 ablegte. Der<br />

Prüfer, ein gefürchteter Dr. ing. von den Chemnitzer Staatslehr-<br />

anstalten, fuhr mich an, warum ich den Wagen auf der Straßen-<br />

7 Gemeint ist der spanische Diktator Francisco Franco (1892–1975).<br />

370 371


1975 Buchbinden<br />

mitte führe, statt mehr rechts zu lenken. Märzensonne schien,<br />

es war ein stilles Dorf. Memmendorf bei Öderan. Als er <strong>aus</strong>ge-<br />

grunzt hatte, rannte ein vierjähriges Dorfkind von rechts her<br />

über die Straße, und ich brauchte dem Prüfer nur zu antwor-<br />

ten: „Darum!“ Erstaunt fragte er zurück, woher ich das vor-<br />

her habe wissen können. „Aus meiner Kenntnis der Kinder!“<br />

Daß in einem besonnten H<strong>aus</strong>winkel in dieser Jahreszeit Kinder<br />

spielen, die beim Wahrnehmen eines Geräusches neugierig die<br />

Straße überqueren, mußte ich dem Manne erst klar machen. Da<br />

schwieg er und erklärte die Prüfung für bestanden, ließ mich<br />

aber noch an den tollsten Verkehrsknoten von Chemnitz fah-<br />

ren. Na, das war deshalb nicht schwer, weil man da nur die<br />

Ampeln zu beachten hatte. Über das „Darum!“ freue ich mich<br />

stets, wenn ich mich an jene Sache erinnere. Vor 40 Jahren gab<br />

es in England keine Autofahrer-Prüfung. Zu einer Konferenz in<br />

Canterbury kam eine mir von früher her bekannte 65 Jahre alte<br />

Dame in einem englischen Auto angerollt. Ich sagte: „Na nu,<br />

Miss Stevenson 8 , haben Sie noch eine Autoprüfung abgelegt?“<br />

Antwort: „Wieso? Hier fährt man – ist aber für jeden Schaden<br />

voll verantwortlich; das ersetzt jede Prüfung!“<br />

8. November Montag<br />

Gestern Sonntag: Mittags die Tochter von Franke über En-<br />

ergetik und die erste Synthese einer organischen Verbindung<br />

durch Wöhler 1828, dann bei Dr. Toepel über aktuelle Pro-<br />

bleme, abends mit Gottfried über Plutarch. So ein Rentner ist<br />

sehr beschäftigt, ohne eigentlich etwas zu tun.<br />

8 Zu der Begegnung mit Lilian Stevenson, Mitglied des Internationalen Versöhnungs-<br />

bundes, kam es 1928 beim Internationalen Jugendlager des Bundes in Sandwich<br />

bei Canterbury, vgl. auch: Lilian Stevenson, Zehn Jahre internationaler Friedensar-<br />

beit. Die Geschichte des Internationalen Versöhnungsbundes, Vorwort von Fried-<br />

rich Siegmund-Schultze, Wien 1929.<br />

10. November (Geburtstag v. Schiller u. Luther)<br />

Nötige Buchbinderarbeiten müssen erledigt werden: das<br />

Namenverzeichnis zu meinem großen Atlas, das Musiklexicon<br />

von Riemann zeigen zu starke Gebrauchsspuren, und beide<br />

Bücher sind große Wälzer. Ich staune darüber, wie liederlich<br />

doch solche starken Anstrengungen <strong>aus</strong>gesetzte Bücher in den<br />

Buchhandel gebracht worden sind. Ich hab einige Sachen, die<br />

250 Jahre alt sind und viel sorgfältiger von den alten Handwer-<br />

kern gebunden worden sind. Oder dachten diese Leute von<br />

1900 bis heute nur an Bücher, die dauernd in Bücherschränken<br />

stehen u. mal des Abstaubens wegen her<strong>aus</strong> kommen? Wahr-<br />

scheinlich dachten sie überhaupt nicht und sparten am fal-<br />

schen Ort. Selbst das „Wörterbuch der obersächsischen Mund-<br />

arten“ mußte kuriert werden, es kam 1914 her<strong>aus</strong>. Denk ich an<br />

die heutigen „Taschenbücher“, die gelumbeckt 9 sind, denke ich<br />

ihrer mit Groll. Keins kann man richtig aufschlagen, stets lie-<br />

gen die Seiten gekrümmt; das hat mühsames Lesen zur Folge,<br />

weil das Auge sich der Krümmung der Seiten wegen auf jeder<br />

Zeile mehrmals an die verschiedenen Entfernungen anpassen<br />

muß, ganz abgesehen davon, daß sie leicht <strong>aus</strong>einanderbre-<br />

chen können, weil sie nicht geheftet, sondern nur am Rücken<br />

geleimt sind, weshalb sie nicht eben liegen. Dieser unange-<br />

brachte Geiz mißfällt mir sehr. Wie dauerhaft ist da mein al-<br />

ter Plutarch und der alte Montaigne. Der „Fortschritt“ der Ma-<br />

schineneinbände ist höchst fragwürdig. Ganz zu schweigen<br />

von den Heftungen mit Drahtklammern, die durchrosten und<br />

an den Heftstellen Rostflecken hinterlassen. Man sollte ein-<br />

mal alte und neue Arbeiten zu einer Ausstellung versammeln.<br />

„Nischt wie Unannämlichkeeten!“<br />

9 Verfahren der Klebebindung, benannt nach dem Erfinder Emil Lumbeck (1886–<br />

372 373<br />

1979).


1975<br />

29. Dezember<br />

In Japan werden japanische Ausgaben von Werken Hermann<br />

Hesses millionenweise gedruckt und verkauft. Wir leben da in<br />

einer Wüste, in der „Kultursteppe“.<br />

„Nebel behindert den Verkehr“ – das ist mehr als eine Wet-<br />

teransage. Der Gehirnnebel entwickelt sich täglich. […]<br />

Im Radio wurde „gelehrt“ geredet über „Angst in der<br />

Schule“! Da ich mich dazu nie verstanden habe, muß ich doch<br />

ein minderer Magister gewesen sein. Nie begriff ich, daß die Er-<br />

zeugung von Angst der Bildung dienlich sein könnte.<br />

374 375<br />

1976<br />

7305 <strong>Waldheim</strong> in Sachsen, den 17. Mai<br />

Warum soll ich nicht den Dornburger Spruch 1 schreiben<br />

können? Das müßte noch möglich sein. Meine Behinderung<br />

ist die Herzbeschädigung, die mich hindert, in der Gegend mit<br />

Höhenunterschieden herumzusteigen; abwärts zu gehen, das<br />

gelingt, aber aufwärts ist es schlecht bestellt. Goethe besaß<br />

Pferde, Wagen, Kutscher, Diener, Proviantkörbe mit Frühstück<br />

und eine Tasche für Weinflaschen – und einen goldenen Becher<br />

für diesen Wein.<br />

19. Mai<br />

Obwohl Gewitter in der Luft zu liegen scheinen, fiel noch<br />

kein Tropfen auf den trockenen Boden. Kein Luftzug ist zu be-<br />

merken.<br />

Eben kam Dr. Toepel wieder und verordnete ein neues Me-<br />

dikament.<br />

22. Mai<br />

Der Regen kam gerade recht; denn die Trockenheit nahm<br />

so zu, daß hier das Gießen von Gärten verboten wurde, um<br />

dem Wassermangel vorzubeugen. Natürlich liefen Gartenbesit-<br />

zer mit Gießkannen durch die Gegend, weil sie das erhalten<br />

wollten, was sie gerade gepflanzt hatten. Jeder sucht zuerst,<br />

1 „Gaudeat ingrediens, laetetur et aede recendens / His qui praetereunt det bona cunc-<br />

ta Deus.“ In der Übertragung Goethes: „Freudig trete herein und froh entferne<br />

dich wieder! / Ziehst du als Wandrer vorbey, segne die Pfade dir Gott!“


1976 Gestalten wie von Wilhelm Busch<br />

„das Seine“ zu retten. Berthold Körting 2 , ein in Europa arbei-<br />

tender Gartenarchitekt von einiger Berühmtheit, sagte mir bei<br />

einem Gang durch seinen Garten in Berlin: „In diesem Garten<br />

wird nichts gegossen und nichts gedüngt – da bleiben die Ge-<br />

wächse, die diesen Bedingungen ‚gewachsen sind‘.“ Das ist<br />

eine natürliche Auslese; am Leben bleibt, was den von dieser<br />

Natur gegebenen Bedingungen gewachsen ist. In der Wüste er-<br />

hält sich dann nur die Welwitschia mirabilis, die bei abnormer<br />

Dürre sich vom Boden löst und vom Winde an einen andern<br />

Ort bringen läßt, eine Pflanzenwanderung mit Hilfe der Luftbe-<br />

wegung.<br />

28. Mai<br />

Gestern war doch der im Westen noch gefeierte Himmel-<br />

fahrtstag, der hier nicht mehr Feiertag, weil der Himmel doch<br />

täglich vorhanden ist und Fahrten dahin nicht nötig sind. „Hier<br />

ist der Himmel auf Erden!“ Ich hörte einmal in einem Kloster<br />

in Vorarlberg (Kloster Wesemlin war das, in der Gegend von<br />

Feldkirch in der Schweiz) an diesem Tage eine Predigt mit dem<br />

Thema „Hier ist der Himmel auf Erden und hier ist die Pforte<br />

des Himmels“ 3 . Die Pförtner waren Mönche des Augustineror-<br />

dens. Nun, sie mußten in diesen Bereichen Bescheid wissen.<br />

Das Beste war der Gesang des Mönchschores. Und eine herrlich<br />

blühende Frühlingswiese mit blauem Salbei, von dem früher<br />

eine rot blühende Gartenform in städtischen Grünanlagen vor-<br />

2 Den Maler und Gartenarchitekten Berthold Körting (1883–1930), Mitglied im Deut-<br />

schen Werkbund, lernte <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> vermutlich über Karl Foerster kennen, der<br />

in seinem Nachruf Neue Wege der Gartenkunst in der Zeitschrift Gartenschön-<br />

heit (November 1930) ein lebendiges Bild von Körting zeichnet. Körting wohnte<br />

in Potsdam-Neubabelsberg, Berliner Straße 124 (jetzt Rudolf-Breitscheid-Straße<br />

211); den angrenzenden Garten, den <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> besuchte, haben der Architekt<br />

Peter Behrens und Körting selbst in der Gartenschönheit (1926, S. 280–286)<br />

sehr eindrucksvoll beschrieben.<br />

3 Nach 1. Mose 28,17<br />

kam. Dieser blaue Salbei wächst auch auf Parkwiesen im Parke<br />

von Weimar; den roten sah ich mal in einer Anlage in Magde-<br />

burg, es ist schon sehr lange her, da regierte noch der Schwe-<br />

denkönig Gustav Adolf, der 1632 gefallen ist in einer Schlacht<br />

bei Lützen. Er war [so] unvorsichtig, auf einem Schimmel in die<br />

Schlacht zu reiten. Das Pferd hat mir leid getan.<br />

376 377<br />

29. Mai<br />

So ein Sonnabend hier verläuft wie einst vor 80–100 Jahren<br />

und noch länger zurück, wie ein damaliger Sonntag in England<br />

oder in der Lüneburger Heide. Die Straße bleibt völlig leer. Die<br />

Autobesitzer fuhren am Morgen irgendwohin, die Straße bleibt<br />

ohne Figuren. Kinder sind kaum vorhanden. Niemand führt ei-<br />

nen Hund <strong>aus</strong>, denn diese wurden selten und werden höchstens<br />

noch im Zoologischen Garten zu treffen sein oder sie fahren in<br />

einem Auto vorbei und schauen würdig <strong>aus</strong> dem Fenster. Vormit-<br />

tags kratzen manche jedes Unkraut weg, das längs der Mauer<br />

zu wachsen wagte. Es herrscht Ordnung. Malerische Gruppen<br />

von schwatzenden Frauen – wie sie Zille gelegentlich zeichnete<br />

– sitzen wahrscheinlich im Café. Irgendein alter Mann stakt mit<br />

seinem Stocke die Straße hinab, sich seine Sonntagszigarre zu<br />

holen oder zwei Stunden im Ratskeller zu sitzen oder im „Vete-<br />

ranenclub“ am Markte. Da laufen Gestalten, die Wilhelm Busch<br />

entworfen haben könnte. Und das ist doch schon recht lange<br />

her; denn W. Busch starb 1908, sofern ich recht erinnere.<br />

30. Mai<br />

Einige Tage – vier – sah ich keinen Menschen. Heute klin-<br />

gelts: einer, der 1911 in einer Klasse saß und in Stollberg im<br />

Erzgebirge lebt, besuchte mich. Das ist doch eine gehörige<br />

Weile her, wenn man das eigene Dasein als Maß der Zeit be-<br />

trachtet; an der Gesamtgeschichte gemessen ist es freilich eine<br />

kurze Zeit. Wie schnell wird doch ein kleiner Schuljunge zum


1976 Der berühmte 17. Juni<br />

Großvater, der mit seinem Enkel einen alten Lehrer besucht,<br />

dessen er sich noch erinnert, <strong>aus</strong> der „Goldenen Zeit“, einige<br />

Jahre vor dem ersten Weltkriege. Gingen damals die Uhren<br />

langsamer? Lebten Kalender länger als jetzt? Wie lange dauerte<br />

es, bis wieder Weihnachten kam! Es ist ein Unterschied zwi-<br />

schen dem vom Gang der Sterne bestimmten Ablauf der Jahre<br />

und dem persönlichen Erleben der vergangenen Zeit.<br />

16. Juni<br />

Morgen ist der berühmte 17. Juni, der als Feiertag gilt zur<br />

Erinnerung der etwa 1953 versuchten Berliner „Befreiungsbe-<br />

wegung“ – allerdings beachtet dies nur der Westen, hier weiß<br />

man nichts davon.<br />

Nach einer Abbildung der einfachen Päonie werde ich for-<br />

schen. Diese Form ist die ursprüngliche, <strong>aus</strong> Mazedonien hier-<br />

her gekommene Ahne der heute üblichen gefüllten Formen. Die<br />

„gefüllten“ erlebten die Metamorphose, das heißt: Staubblätter<br />

wandelten sich in Blütenblätter um. Der Vorgang ist sehr schön<br />

an einer Blüte einer Teichrose zu betrachten; da kannst Du<br />

alle Übergangsstufen vom Staubblatt zum Blütenblatte in ei-<br />

ner Blüte finden. „Madame Charles Levesque“ heißt die weiße<br />

Paeonie. Züchte eine hellblaue und Du erntest ein Vermögen.<br />

Z.B. verkaufte etwa 1926 einer in Crimmitschau eine sehr dun-<br />

kelrote – fast schwarze – Rose für zehnt<strong>aus</strong>end Dollar an einen<br />

Amerikaner, der durch Vermehrung dieser Pflanze ein sehr gu-<br />

tes Geschäft machte. Das Geld liegt auf der Straße.<br />

24. Juni<br />

Das heiße Sommerwetter scheint sich auf eine gewisse<br />

Dauer einzurichten. Im Jahre 1911 war die Elbe in Dresden völ-<br />

lig <strong>aus</strong>getrocknet, man konnte trockenen Fußes die Flußrinne<br />

an jeder Stelle überschreiten. Auch in den neunziger Jahren er-<br />

lebte man das bereits einmal. Hoffentlich bleibt hier nicht eines<br />

Tages das Leitungswasser weg. Man hat zwar schon das Gie-<br />

ßen von Gärten verboten, aber wer richtet sich nach Vorschrif-<br />

ten, zumal wenn er fürchtet, daß seine Pflanzen verdorren. Da<br />

kommt immer mal jemand mit einer Gießkanne.<br />

378 379<br />

24. Juli<br />

Die rosa blühenden Winden wecken Erinnerungen an Kin-<br />

dertage. In Dresden gab es damals noch unbebaute Landstü-<br />

cke – Sandboden – auf denen gespielt wurde. Über die Hänge<br />

liefen viele Ranken der Ackerwinde, die ihre Blüten rasch<br />

schlossen, sobald Wolken die Sonne verhüllten. Sie zeigten<br />

das Wetter an.<br />

29. Juli<br />

Walther von der Vogelweide soll <strong>aus</strong> einem „Vogelweidhof“<br />

in Tirol stammen; er war zeitlebens ein „fahrender Sänger“ (al-<br />

lerdings ohne Auto oder Fahrrad, sondern per pedes apostolo-<br />

rum [zu Fuß wie die Apostel] ), der als „Gast“ von einem Adels-<br />

sitz oder Bischofshofe zum andern wanderte, sich so durchfres-<br />

send, heute wird ein beliebter Sänger von der „Gastspiel- und<br />

Konzertdirektion“ vermittelt und in Autos von Ort zu Ort ge-<br />

bracht. In Würzburg wurde er begraben. Ob ein Futterplatz auf<br />

seinem Grabe heute noch erhalten ist, wie er gewünscht hatte,<br />

weiß ich nicht; leider kam ich niemals in das schöne Würz-<br />

burg. Das ist eine alte „Pfaffenstadt“ zu beiden Seiten des Mai-<br />

nes, von Weinbergen umgeben. Es soll sich eine gewisse „Vor-<br />

nehmheit“ erhalten haben. Rokoko. Vierzehn Statuen von Til-<br />

man Riemenschneider könnten schon eine Reise dahin lohnen,<br />

die leider unmöglich ist, weil man jenseits der deutsch-deut-<br />

schen Grenze kein Geld hat, da der Export von „Devisen“ ver-<br />

boten ist und man mit Beschlagnahme rechnen muß, falls man<br />

bei dem Versuche gefaßt wird, das eigene Geld an einem an-<br />

deren Orte <strong>aus</strong>zugeben.


1976 Im „All“ bin ich auch in meiner Stube<br />

11. August<br />

(Tag der Verfassung vor der Nazizeit) Turner hat in London<br />

am Strand ein eigenes Museum, in dem seine schönen Bilder<br />

vereinigt sind. Es ist zu bedauern, daß es für uns unmöglich ist,<br />

diese herrlichen Sachen zu betrachten.<br />

25. August<br />

Gelenau liegt im Erzgebirge, etwas höher wohl als Zscho-<br />

pau, ein langgestreckter Ort in 895 Meter Höhenlage; in der<br />

Nähe liegen Thum und Ehrenfriedersdorf, ehemalige Bergbau-<br />

orte. Dort wurden – wie Du bei Deiner Ankunft hören wirst – die<br />

Glocken geläutet, sobald „fürstliche Personen“ dort einfuhren.<br />

Zu besuchen sind da die Greifensteine und die Kirche zu Ehren-<br />

friedersdorf. Nimm mit einem Tonbandgerät das Begrüßungs-<br />

geläute auf, das bei Deiner Einfahrt erklingen wird. Der Granit<br />

der Greifensteine enthält Apatit, Nakrit, Turmalin, Topas, Zinn-<br />

erz. „Veilchenstein“ ist ein von einer winzigen Alge bewohn-<br />

ter Stein, dessen Oberfläche bei Feuchtigkeit einen Veilchen-<br />

duft abgibt, der von der Alge stammt. Eine solche Erscheinung<br />

kommt auch im Riesengebirge vor. Ob Du freilich spazierenge-<br />

henderweise einen größeren Topas finden kannst, ist Glücks-<br />

sache; es gibt da auch einen Topas, dessen Farbe heller ist als<br />

Bernstein. (Bernstein ist kein Stein!) Früher gab es am Schne-<br />

ckenstein noch größere Topase, das ist jedoch vor 60–70 Jah-<br />

ren gewesen. Inzwischen dürfte da viel von den Mineralien „ab-<br />

geklopft“ sein. Nun, Du wirst sehen, was da noch vorhanden<br />

ist. Zu wünschen ist, daß sich ordentliche Verpflegung in diese<br />

Gegend verirre. Das ist nicht nur „ein Transportproblem“, meist<br />

ist nichts da, das zu transportieren lohnt, und die Wagen fah-<br />

ren leer und täuschen nur etwas vor, um die Leute „darüber<br />

hinwegzutäuschen“, daß nichts da ist. Das dauert nun bereits<br />

Jahrzehnte, „mär hams awer klei gemärgt!“<br />

„Es sind Maßnahmen vorgesehen auf dem Sektor – – –.“<br />

15. September<br />

Das Herbstwetter ist doch noch recht sommerlich; ich heize<br />

nur den Hund. Wäre ich besser dran, kaufte ich mir einen Pu-<br />

del, aber der wäre wohl lieber woanders als bei solchem Inva-<br />

liden, obwohl er sich dessen Zustand noch weniger vorstellen<br />

kann als irgendwer. Goethe schätzte die Hunde nicht; nun er<br />

hatte genug Menschen um sich, die diese Vierbeiner ersetzten.<br />

Schopenhauer erfreute sich an einem Pudel als „Menschen-Er-<br />

satz“. Ich könnte doch ein freundlich grinsendes kleines Croco-<br />

dil bei mir unterbringen? Und am Friedhof einen Stand mit ech-<br />

ten Crocodilsthränen aufbauen? Daran ist doch „Bedarf“, der<br />

gedeckt zu werden sich lohnen könnte.<br />

17. September<br />

Rum ist schon gut, nur muß man bedauernd beobachten,<br />

daß bei Gebrauch der leere Teil der Flasche sich vergrößert,<br />

daß das Nichts ein wachsendes Etwas wird. Sonntag bleib ich<br />

lieber noch in meinem Bau und fahre nicht zu Dr. Toepel. – Ich<br />

glaube, in meiner Ecke hab ich gelegentlich etwas von dem<br />

Erdbeben im Friaul wahrgenommen. Solche Stöße laufen wel-<br />

lenförmig über sehr weite Strecken der Erdkruste. – Daß sich<br />

Flieger mit ihren nicht riesigen Höhen im „All“ bewegen, ist<br />

eine lächerliche Rede. Im „All“ bin ich auch in meiner Stube.<br />

Außerhalb des Alls ist wahrscheinlich das „Nichts“, das sehr<br />

groß sein kann und die politischen Groß- und Lautschnäbler<br />

aufnehmen sollte.<br />

21. September<br />

Ich kann niemand mehr etwas beibringen!<br />

380 381


<strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> (1884–1976)<br />

Chronik<br />

382 383<br />

1884<br />

Josef Theobald <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> wurde am 29. Januar als Sohn des Glas- und<br />

Porzellanmalers Josef <strong>Pfeifer</strong> (1856–1942) und seiner Ehefrau Hedwig, geb.<br />

Renker (1860–1917), Inhaberin einer Leihbücherei für Hoffräulein, in Dres-<br />

den geboren.<br />

1902–1906<br />

1904<br />

1907<br />

1908<br />

1911<br />

1913<br />

1914<br />

Nach einer Bäckerlehre Besuch des Friedrichstädter Lehrerseminars in Dres-<br />

den; einer seiner Lehrer am Seminar und sein späterer Förderer war Paul<br />

Weinhold.<br />

Wegen Lehrermangels Hilfslehrer im öffentlichen Schuldienst, zuerst in Dres-<br />

den-Blasewitz, dann in oder bei Riesa. Gasthörer bei dem Geographen Fried-<br />

rich Ratzel (1844–1904) in Leipzig.<br />

Anstellung als ständiger Lehrer im sächsischen Schuldienst. Im Oktober Im-<br />

matrikulation an der Universität Leipzig für Pädagogik und neue Sprachen.<br />

Abbruch des Studiums; Heirat mit Margarete Weiße (1886–1967); im Sep-<br />

tember Geburt des Sohnes Hans (1908–2002). Anstellung als Volksschulleh-<br />

rer in <strong>Waldheim</strong>.<br />

Geburt der Tochter Irene (1911–1996).<br />

Wegen Lungentuberkolose von Januar bis Dezember Sanatoriumsaufenthalt<br />

in der Schweiz.<br />

Ausgemustert. Veröffentlichung seines Buches „Technik der geistigen Arbeit“<br />

im Selbstverlag, Dresden.


Abb. Titelblatt des Buches Technik der geistigen Arbeit, Dresden 1914.<br />

Abb. links: Registereintrag der Universität Leipzig, 1908.<br />

384 385


1916<br />

Teilnahme an einem Gartenbaukursus in Bautzen.<br />

1919<br />

Mitbegründer von Volkshochschulen in Sachsen und Thüringen; Mitbegrün-<br />

1920<br />

1922<br />

1923<br />

dung der Volkshochschule <strong>Waldheim</strong> nach Beratung mit dem Schulreformer<br />

Siegfried Kawerau (1866–1936), der Volkshochschulpädagogin, Soziologin<br />

und Anthropologin Gertrud Hermes (1872–1942) und dem Zoologen Richard<br />

Woltereck (1877–1944) in seiner Wohnung in <strong>Waldheim</strong>, Turmstraße 15. Ver-<br />

mutlich Teilnahme an der Gründungskonferenz des International Fellowship of<br />

Reconciliation (Internationaler Versöhnungsbund, IVB) in Bilthoven (Holland).<br />

Leiter der Volkshochschule <strong>Waldheim</strong> (bis 1933). Abonnement der von dem<br />

Staudengärtner Karl Foerster (1874–1970) mitbegründeten Zeitschrift Gartenschönheit.<br />

Bekanntschaft mit dem Pfarrer <strong>aus</strong> Ziegra bei <strong>Waldheim</strong> Alfred Dedo Mül-<br />

ler (1890–1972), dessen Predigten er zum Zweck einer späteren Veröffentli-<br />

chung mitschrieb.<br />

Mitarbeit in der sächsischen Lehrplankommission unter seinem früheren<br />

Lehrer Paul Weinhold. Teilnahme an der internationalen Konferenz des New<br />

Education Fellowship (Bund für Neue Erziehung) in Montreux (Schweiz), wo<br />

er Vorträge von C. G. Jung ins Englische dolmetschte.<br />

1924<br />

Wahl in den Arbeits<strong>aus</strong>schuß des deutschen Zweigs des IVB. Mit seinem<br />

Sohn Hans und der Lehrerin Gerda Baumann (1893–1975) Teilnahme an der<br />

Konferenz des IVB in Königsfeld/Schwarzwald; als IVB-Mitglieder anwesend<br />

waren auch Richard Woltereck und Alfred Dedo Müller, der als Nachfolger des<br />

Berliner Pfarrers und Sozialpädagogen Friedrich Siegmund-Schultze (1885–<br />

1969) ab 1925 Sekretär des deutschen Zweiges des IVB war.<br />

1925<br />

Auf der Jahresversammlung des deutschen Zweigs des IVB in Leipzig mit<br />

Richard Woltereck und Gerda Baumann (Kassenführerin) in den Arbeits<strong>aus</strong>schuß<br />

wiedergewählt. Teilnahme an der Konferenz des IVB in Gaming/<br />

Steiermark (Österreich), wo er den katholischen Pazifisten und Begründer<br />

des Friedensbundes Deutscher Katholiken und der Una-Sancta-Bewegung<br />

Max Josef Metzger (1887–1944) kennenlernte.<br />

1926<br />

Konfirmation seiner Kinder Hans und Irene bei Alfred Dedo Müller in Ziegra.<br />

Teilnahme an der Tagung des IVB in Oberammergau (Österreich), an<br />

der Gandhis Sekretär Charles Freer Andrews (1871–1940) teilnahm, der eine<br />

Vortragsreise durch Deutschland machte und dabei auch auf der Vorstandssitzung<br />

des deutschen Zweigs des IVB im Oktober in Leipzig sowie an der<br />

Volkshochschule Leipzig sprach.<br />

1927<br />

Jahresversammlung des deutschen Zweigs des IVB in Sonnefeld bei Coburg,<br />

auf der er mit Gerda Baumann und Alfred Dedo Müller erneut in den Arbeits<strong>aus</strong>schuß<br />

gewählt wurde; neben dem Leipziger Pädagogen Waldus Nestler<br />

(1887–1954) und dem Solinger Pfarrer Hans Hartmann, führenden Mitgliedern<br />

des Versöhnungsbundes, hielt er den Vortrag Das Problem der Erziehung<br />

zum Frieden in der Schule.<br />

1928<br />

In dem von Alfred Dedo Müller her<strong>aus</strong>gegebenen Buch Friedrich Wilhelm<br />

Foerster und die wirkliche Welt (Zürich 1928) ist er mit dem Beitrag Weltanschauungschaos<br />

und Schularbeit vertreten. Teilnahme an der Ostertagung<br />

des IVB in Klanovice bei Prag (Tschechoslowakei). Wiederwahl in den Arbeits<strong>aus</strong>schuß<br />

des deutschen Zweigs des IVB in Leichlingen bei Solingen.<br />

Von Juli bis August Englandaufenthalt: Studium der Schulverhältnisse in London,<br />

dessen Ergebnisse in seinem Bericht über Beobachtungen in England<br />

(13 S.) für die sächsische Schulbehörde niedergelegt sind. Im August Teilnahme<br />

am Internationalen Jugendlager des IVB in Sandwich bei Canterbury,<br />

wo er u.a. Gandhis Sekretär, Charles Freer Andrews, und die englische Chronistin<br />

des IVB, Lilian Stevenson, traf.<br />

In den endzwanziger Jahren rege Öffentlichkeitsarbeit (Vorträge, Zeitungsartikel),<br />

Besuche bei Karl Foerster in Potsdam-Bornim und dem Gartenarchitekten<br />

Berthold Körting (1883–1930) in Potsdam-Neubabelsberg.<br />

1931<br />

Vermutlich Teilnahme an der Konferenz des IVB in Lunteren bei Arnhem<br />

(Holland). Thema der Konferenz: Die Prinzipien der Bewegung in ihrer praktischen<br />

Anwendung auf die großen politischen und sozialen Fragen der Gegenwart.<br />

Besuch des Dresdner Zirkusdirektors Hans Stosch-Sarrasani (1873–<br />

1934) in <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s Wohnung in <strong>Waldheim</strong>; seine Forderung nach Steuererleichterungen<br />

wurde von <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> und Alfred Dedo Müller, der in<br />

Dresden eine diesbezügliche aufsehenerregende Rede hielt, nachdrücklich<br />

unterstützt. In der Programmzeitschrift Sarrasani, Heft 7 erschienen unter<br />

dem Titel Der Zirkus unter dem Gesichtswinkel der Pädagogen Beiträge von<br />

<strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> und Hans Hartmann.<br />

386 387


Abb. Sitzungsprotokoll der Jahresversammlung des deutschen Zweigs des Internationalen<br />

Versöhnungsbundes in Sonnefeld bei Coburg, 1927.<br />

Abb. Seite <strong>aus</strong> der Programmzeitschrift Sarrasani (Heft 7, Dresden 1931) mit Beiträgen<br />

von <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> und Hans Hartmann.<br />

388 389


1932<br />

Vermutlich Teilnahme an der Konferenz des IVB in Bad Boll/Baden-Württemberg.<br />

Betreuung von Erwerbslosen in <strong>Waldheim</strong>. In Vorahnung des Kommenden<br />

Bewerbung um eine Lehrerstelle in Birkwitz bei Dresden.<br />

1933<br />

Im März Beurlaubung vom Dienst wegen „Gefährdung des nationalen Aufb<strong>aus</strong>“.<br />

Beschuldigung: Abfällige Bemerkungen zur nationalsozialistischen<br />

Bewegung; als Leiter der Volkshochschule Marxist und Pazifist; Mitarbeiter<br />

des Pazifisten Friedrich Wilhelm Foerster (1869–1965). Haft in einem Keller<br />

in Döbeln. Von April bis Juli Unterricht in der Schloßbergschule in Döbeln. Im<br />

Juli Eintritt in den Nationalsozialistischen Lehrerbund. Im November Vertreterlehrer<br />

in Sitten bei Leisnig. Scheidung. Herzbeschwerden.<br />

1934<br />

Aufforderung durch das sächsische Ministerium für Volksbildung, sich in einem<br />

anderen Schulbezirk zu bewerben. Bewerbung in Crimmitschau abgelehnt.<br />

Anstellung an der Volksschule in Zschopau; Amtsantritt im September;<br />

im Dezember Bestätigung als ständiger Lehrer durch Paul Weinhold.<br />

1935<br />

Beginn des Briefwechsels mit Gerda Baumann in Agra (Schweiz), der bis zu<br />

ihrem Tod fortdauerte. Ab Juli Titel Oberlehrer.<br />

1936<br />

Verwarnung der Schulbehörde, er solle seine Sticheleien gegen die nationalsozialistische<br />

Weltanschauung und Politik unterlassen.<br />

1939<br />

Treudienstehrenzeichen in Silber; Beamter auf Lebenszeit.<br />

1941<br />

Im November wird vom Bezirksschulamt Flöha ein Dienststrafverfahren gegen<br />

ihn eingeleitet. Begründung: Herabsetzung des deutschen Wesens und<br />

englandfreundliche Haltung.<br />

1942<br />

Im September Hauptverhandlung vor der Dienststrafkammer Dresden. Urteil:<br />

Kürzung der Bezüge um ein Fünftel auf 3 Jahre. Im Oktober Antrag der<br />

Einleitungsbehörde Flöha auf Entfernung <strong>aus</strong> dem Dienst. Im November Verwarnung<br />

der Gestapo Chemnitz. Im Dezember Hauptverhandlung vor dem<br />

Reichsverwaltungsgericht Berlin: Der Antrag der Einleitungsbehörde in Flöha<br />

wird zurückgewiesen, die Gehaltskürzung wird bestätigt.<br />

Abb. Deckblatt zu den Akten der Hauptverhandlung vor dem Reichsverwaltungsgericht<br />

Berlin, 1942.<br />

390 391


1943<br />

1945<br />

1946<br />

1947<br />

1948<br />

1949<br />

Schlechter Gesundheitszustand: Herzbeschwerden, Schlaflosigkeit, Kopf-<br />

schmerzen, Rheumatismus, Depressionen und eine verminderte Redefähig-<br />

keit, so daß er damit rechnete, den Lehrerberuf aufgeben zu müssen. Erho-<br />

lungsaufenthalt in Volderwildbad/Tirol vom 1. bis 27. Februar. Am 17. Mai<br />

Anstellung an der Volksschule in Oederan. Dort auch Kreisbeauftragter für Ko-<br />

ordinierung und Versand der von den Schülern gesammelten Heilpflanzen.<br />

Zusammenbruch auf der Straße in Oederan im März; zwei Wochen dienst-<br />

unfähig. Nach Kriegsende Rückkehr nach <strong>Waldheim</strong>. Aufnahme der Tochter<br />

des Bruders seines Schwiegersohnes Renate Strauß in seinen H<strong>aus</strong>halt (bis<br />

1949).<br />

Ab Januar Leiter der Volksschule in <strong>Waldheim</strong>. Neben Verwaltung und Unter-<br />

richt galt es vor allem Heizmaterial und für 1900 Kinder Schuhe, Schulbücher,<br />

Schulhefte und Schulspeisung zu besorgen. Ausbildung und Prüfung von<br />

Neulehrern. Im Herbst Angebot von Schuldirektor Kurt Schumann, in seiner<br />

Prima am Gymnasium in Zschopau Deutsch oder andere von <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong><br />

gewünschte Fächer zu unterrichten.<br />

Außer der Volksschule <strong>Waldheim</strong> unterstanden noch 14 Landschulen seiner<br />

Leitung. Um der Beanspruchung gewachsen zu sein bekam er von seinem<br />

H<strong>aus</strong>arzt Adolf Mohr jeden Sonntag eine Traubenzuckerspritze; in besonde-<br />

ren Situationen, z.B. vor Vorträgen, nahm er das Medikament Pervitin. Im<br />

November bescheinigte ihm das Staatliche Gesundheitsamt 50 % Schwer-<br />

beschädigung. Karl Foerster bot ihm an, an einer seiner Publikationsreihen<br />

mitzuarbeiten.<br />

Im Februar erhielt er einen Schwerbeschädigten<strong>aus</strong>weis und eine Tbc-Zusatz-<br />

karte für Butter und Milch. Vortrag über den <strong>Waldheim</strong>er Bildhauer Georg<br />

Kolbe (1877–1947) im Rath<strong>aus</strong>. Im Kulturbund Vortrag Aus dem Wundergar-<br />

ten der Sprache. Kurse für Neulehrer in <strong>Waldheim</strong> über Geschichte der Päd-<br />

agogik, Methodik, Psychologie, Geographie und in Zschopau über Methoden<br />

grafischer Darstellung.<br />

Neben Schulleitung und Unterricht Geographiestunden an der Volkshoch-<br />

schule, Lehrerfortbildung und Kurse für jugendliche Gefangene im Zucht- Abb. Bürgschaft von <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> für Erich Strauß, 1946.<br />

392 393


1950<br />

1951<br />

1952<br />

1953<br />

1954<br />

1957<br />

h<strong>aus</strong> <strong>Waldheim</strong> über den Erfinder Ernst Abbe und berühmte Naturforscher<br />

und Ärzte. Am 11. Juli Entlassungsschreiben des Kreisschulrates. Im Museum<br />

der Burg Kriebstein Beteiligung am Aufbau der geologischen Abteilung unter<br />

der Leitung von Reinhold Herrmann. Teilnahme an der Geographentagung<br />

in Dresden-Wachwitz mit <strong>aus</strong>gezeichneten Vorträgen, u.a. von Gotthold Wei-<br />

cker. Am 15. November Beginn seines Unterrichts an der Lessing-Oberschule<br />

in Döbeln in den Fächern Kunsterziehung und Geographie (bis 1954). (Um-<br />

fang seiner Tätigkeit: 12 Stunden Kunsterziehung und 3 Stunden Erdkunde<br />

an der Oberschule Döbeln, 10 Stunden für Lehramtsbewerber, 4 Stunden<br />

für die Gefangenen, 2 Stunden Volkshochschule, 10 Stunden für einzelne<br />

Bedürftige.)<br />

Beginn der Mitgliedschaft in der Goethe-Gesellschaft, an deren Jahrestagun-<br />

gen in Weimar er regelmäßig teilnahm. Briefwechsel mit Hermann Hesse.<br />

Vortrag auf der Geographentagung in Leipzig. Vortrag Vom Werden des Ge-<br />

nies auf den Bach-Feiern in Kriebethal (vor der Belegschaft der Maschinen-<br />

<strong>aus</strong>leihstation) und im <strong>Waldheim</strong>er Rath<strong>aus</strong>.<br />

Vorträge in verschiedenen Städten, z.B. Über das Schöne und Erhabene in<br />

der Natur.<br />

Kulturgeschichtliche und geographische Exkursionen mit seinen Schülern<br />

nach Jena, Weimar, Naumburg, Leipzig.<br />

Exkursion mit Schülern nach Rochlitz auf die Wechselburg. Nimmt weiter das<br />

Medikament Pervitin.<br />

In einer Schweizer Zeitung erschien seine Rezension des Buches Nietzsche<br />

und sein Zarathustra in psychiatrischer Beleuchtung (Affoltern 1954) von<br />

dem Schweizer Psychiater Max Kesselring, die er auf Wunsch von dessen<br />

Bruder geschrieben hatte.<br />

Herstellung von über 50 Kristallmodellen <strong>aus</strong> Pappkarton, die er in einem<br />

Seminar an der Freiberger Bergakademie vorstellte.<br />

394 395<br />

1959<br />

1960<br />

1964<br />

1965<br />

1969<br />

1972<br />

1973<br />

1974<br />

1975<br />

1976<br />

Im Winter Krankenh<strong>aus</strong>aufenthalt im Kreiskrankenh<strong>aus</strong> Technitz.<br />

Beginn des Briefwechsels mit der Leipziger Lehrerin Gertrud Schade. Wäh-<br />

rend eines Besuchs bei seiner Tochter Irene in Nürnberg hörte er einen<br />

Vortrag von Martin Niemöller. Im Dezember Teilnahme an einem Absolven-<br />

tentreffen in der Döbelner Lessing-Oberschule.<br />

Angebot des Insel-Verlages in Leipzig, an der Kommentierung des Briefwech-<br />

sels Goethe/Zelter mitzuarbeiten, die Zusammenarbeit kam aber nicht zu-<br />

stande. Von Mai bis Juli Neuordnung der Steinsammlung in der Volksschule<br />

Döbeln-Großbauchlitz.<br />

Testament. Reise durch Westdeutschland; Besuche bei der Tochter Irene in<br />

Nürnberg, bei seinem Freund Helmut Seidel und dessen Frau in Schwerte/<br />

Westfalen und bei der Familie des Arztes Gustav Kröpp in Löhne.<br />

Ehrenabzeichen des Deutschen Kulturbunds nebst Urkunde.<br />

F<strong>aus</strong>t-Kurs. Herstellung einer Mappe mit Text und Bildern über die Werke von<br />

Georg Kolbe in <strong>Waldheim</strong>.<br />

Zum Geburtstag Präsentkorb der Volkssolidarität. Zusammenstellung aller<br />

Bemerkungen Goethes über Nürnberg.<br />

Gratulation des Staatsrates der DDR, der Stadt <strong>Waldheim</strong> und der Gewerk-<br />

schaft zum 90. Geburtstag. F<strong>aus</strong>t-Kurs vor einem kleinen privaten Interes-<br />

sentenkreis.<br />

Vorbereitungen auf einen Shakespeare-Kurs.<br />

Tod am 29. Oktober in <strong>Waldheim</strong>.


Abb. Erste Seite des Briefs <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s an Gertrud Schade vom 8. November<br />

1960.<br />

Register<br />

Die Seitenverweise zu Angaben in der Chronik und zu zusätzlichen biographi-<br />

schen Angaben in den Anmerkungen, besonders zu Personen <strong>aus</strong> <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s<br />

Verwandten- und Bekanntenkreis, sind kursiv hervorgehoben.<br />

Abbe, Ernst 394<br />

Abeken, Bernhard Rudolf 253<br />

Adenauer, Konrad 128<br />

Agricola, Georg 325<br />

Albert, sächsischer Kronprinz 236, 239<br />

Albertus Magnus 124<br />

Aldrin, Edwin 263<br />

Alexander III., der Große, von Mazedonien 29, 246<br />

Allmers, Hermann 261, 262<br />

Andrews, Charles Freer 387<br />

Angelus Silesius (eigentl. Johannes Scheffler) 99, 100<br />

Ammianus Marcellinus 216<br />

Anna Amalia, Herzogin von Weimar 88, 141<br />

Antiphon 91<br />

Apian(us), Petrus 325<br />

Archer, John 142<br />

Aristeides 154, 254<br />

Aristoteles 202<br />

Armstrong, Neil 263<br />

Artemis (Verlag) 252<br />

Auerbach, Max 310<br />

Bach, Johann Sebastian 40, 42, 87, 88, 131, 267, 281, 282, 394<br />

Bach, Rudolf 126<br />

Backh<strong>aus</strong>, Wilhelm 281<br />

Bähr, George 325<br />

Bäßler, Bruno 81<br />

Bäumler, Ernst 229<br />

Balzac, Honoré de 251<br />

Bantzer, Carl Ludwig Noah 304, 325<br />

Barth, Johann Ambrosius (Verlag) 244<br />

Baumann (Geschäft in <strong>Waldheim</strong>) 194<br />

396 397


Baumann, Gerda 12, 126, 234, 386, 387, 390<br />

Bebel, August 325<br />

Beckert, Fritz 304, 325<br />

Becket, Thomas 295<br />

Beckett, Samuel 280, 283<br />

Beethoven, Ludwig van 42, 54, 65, 102, 103, 107, 281, 307, 313, 343<br />

Beireis, Gottfried Christoph 79, 313<br />

Benn, Gottfried 82<br />

Bentzien, Hans 130<br />

Berbig, Familie 208<br />

Bereis, Rudolf 79<br />

Bergmann, Ulrich 101<br />

Bernhardt, Sarah 299<br />

Beutler, Ernst 162, 176, 318<br />

Bickel, August 39<br />

Bierbaum, Otto Julius 325<br />

Biermann, Wolf 7<br />

Bismarck, Otto von 196, 226<br />

Blok, Alexander 51<br />

Boccaccio, Giovanni 156<br />

Böhme (H<strong>aus</strong>meister in Kriebethal) 271<br />

Böll, Heinrich 230, 345<br />

Böttiger, Carl August 234<br />

Borchert, Wolfgang 229<br />

Bosse, Gerhard 69, 71<br />

Brahms, Johannes 262, 300<br />

Brandt, Willy 283–285, 347, 353, 354<br />

Brauchitsch, Manfred von 37, 38<br />

Brauchitsch, Walther von (Onkel des vorigen) 38<br />

Braun, Heinrich 179, 180<br />

Brecht, Bertolt 47<br />

Brjussow, Waleri 51<br />

Brockes, Barthold Heinrich 123<br />

Brockh<strong>aus</strong>, F. A. (Verlag) 253<br />

Brockh<strong>aus</strong>, Friedrich 253<br />

Brockh<strong>aus</strong>, Heinrich 253<br />

Brückner, Christian und dessen Eltern 49, 50<br />

Bruyningh, Nicolaes 286<br />

Buber, Martin 177, 178<br />

Buber-Neumann, Margarete 229<br />

Buchwald, Eberhard 49<br />

Buddha s. Gautama<br />

Büchner, Georg 40<br />

Büttner, Johannes W. E. 139, 167, 313, 341, 346<br />

Bulgakow, Michail 351<br />

Bulgakow, Valentin 351<br />

Bund für Neue Erziehung (New Education Fellowship) 314, 386<br />

Burckhardt, Carl Jacob 80<br />

Burckhardt, Jacob 18, 23, 25, 27, 28, 33, 35, 67, 91, 103, 196, 197, 339<br />

Busch, Paul 183<br />

Busch, Wilhelm 156, 214, 233, 377<br />

Byron, George Gordon Noël Lord 314, 360<br />

Caesar, Gaius Julius, römischer Kaiser 82, 202<br />

Caligula, römischer Kaiser (eigentl. Gaius Julius Caesar Germanicus) 194<br />

Carl August, Herzog von Weimar 55, 88, 141, 158, 166, 249, 253<br />

Carl Friedrich, Herzog von Weimar (Sohn des vorigen) 253<br />

Carnot, Sadi 364<br />

Carson, Rachel 262<br />

Carus, Carl Gustav 325<br />

Casals, Pablo 192, 317<br />

Casanova, Giovanni Giacomo de Seingalt 182<br />

Cassius, Gaius Longinus 202<br />

Castro, Fidel 175<br />

Cellini, Benvenuto 125<br />

Chesterfield, Lord (Nachfahre des folgenden) 64<br />

Chesterfield, Philip Dormer Stanhope of 64, 158<br />

Chesterfield, Philip Stanhope of (Sohn des vorigen) 64, 158<br />

Cheval, René 345, 346<br />

Chladni, Ernst Florens Friedrich 270<br />

Chopin, Frédéric 160<br />

Christian, d.i. Christian Schlesier<br />

Christiane d.i. Christiane von Goethe<br />

Chrustschow, Nikita 44, 104<br />

Churchill, Sir Winston 231, 364<br />

Cicero, Marcus Tullius 67, 298, 312<br />

Collins, Michael 263<br />

Columbus (Kolumbus), Christoph 285<br />

Confuzius (Konfuzius) 200<br />

Constantin (Konstantin) I., der Große, römischer Kaiser 29, 104<br />

Corelli, Arcangelo 40<br />

Coster, Charles de 163, 241<br />

Cotta, J. F. (Verlag) 355<br />

Cremer, Fritz 130<br />

Czerny, Carl 119<br />

398 399


Daheim 232<br />

Daily Worker 210<br />

Dalcroze s. Émile Jaques-Dalcroze<br />

Dante Alighieri 34, 202, 245<br />

David, jüdischer König 306<br />

Devonshire, William Spencer Cavendish, Herzog von 27<br />

Diederichs, Eugen (Verlag) 323<br />

Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung 194<br />

Dilthey, Wilhelm 274<br />

Dionys(ios) von Halikarnass(os) 67<br />

Döbereiner, Johann Wolfgang 158<br />

Döhlert (H<strong>aus</strong>wirt) 37, 134<br />

Dostojewski, Fjodor 246, 261<br />

Drechsel, Max 139<br />

Dreßner, Johannes 139<br />

Drobisch, Kl<strong>aus</strong> 329<br />

Dürer, Albrecht 200, 276, 277, 300, 307, 308<br />

Dürerbund 313<br />

Dussek, Jan Ladislav 305<br />

Eberhard I. im Bart (Barbatus), Herzog von Württemberg 175<br />

Ebert, Friedrich 260<br />

Eckermann, Johann Peter 176, 253<br />

Ehlers, Fritz 293<br />

Ehrenburg, Ilja 47<br />

Eichendorff, Joseph Freiherr von 251<br />

Elisabeth, Hl. von Thüringen 295<br />

Elisabeth I., englische Königin 28, 295<br />

Engewald, Kurt 85<br />

Erasmus von Rotterdam 18, 156<br />

Erhard, Ludwig 128<br />

Erika d.i. Erika Groth<br />

Ernst Heinrich, sächsischer Prinz 260<br />

Essex, Robert Devereux, Graf von 28<br />

Euripides 68<br />

Faisal, König von Saudi-Arabien 364<br />

Fichte, Johann Gottlieb 325<br />

Fiedler, Joseph 243<br />

Fischer, Gustav (Verlag) 323<br />

Fischer, Peter 48<br />

Fischer von <strong>Waldheim</strong>, Johann Gotthelf 167, 313<br />

Flesch, Carl 165<br />

Foerster, Friedrich Wilhelm 12, 65, 387, 390<br />

Foerster, Karl (Bruder des vorigen) 12, 44, 65, 106, 144, 224, 228, 292, 293, 308,<br />

353, 358, 386, 387, 392<br />

Foerster, Wilhelm (Vater der beiden vorigen) 358<br />

Fornarina 185<br />

Fränzchen d.i. Franz Weißker<br />

Franco, Francisco 371<br />

Franke und dessen Tochter 372<br />

Frankfurter Allgemeine Zeitung 81<br />

Fredericia (Pseudonym von Walter Petwaidic) 293<br />

Freud, Sigmund 92, 314, 319<br />

Friedenthal, Richard 176<br />

Friedrich, deutscher Kaiser (preußischer König) 260<br />

Friedrich I. Barbarossa (Kaiser Rotbart), deutscher Kaiser 174, 284<br />

Friedrich II., römischer Kaiser 301<br />

Frisch, Max 229<br />

Furche-Verlag 358<br />

Galsworthy, John 79, 181<br />

Gandhi, Mahatma 387<br />

Ganghofer, Ludwig 232<br />

Gartenbauverein <strong>Waldheim</strong> 181<br />

Die Gartenlaube 232<br />

Gartenschönheit 386<br />

Gaulle, Charles de 291<br />

Gautama Buddha 201<br />

Gehe, Ludwig (Gehe-Stiftung) 337<br />

Geßner, Salomon 123<br />

Geymüller, Heinrich Baron von 197<br />

Gießmann, Ernst-Joachim 91<br />

Girnus, Wilhelm 181, 182, 217, 219, 256, 258, 262<br />

Gisela d.i. Gisela Schade<br />

Glock und Lutz (Verlag) 64<br />

Gluck, Christoph Willibald 85<br />

Goebbels, Joseph 160, 210, 252<br />

Göchh<strong>aus</strong>en, Luise von 355<br />

Goerdeler, Carl Friedrich 330<br />

Göring, Hermann 82, 140, 368<br />

Goethe, Christiane von geb. Vulpius (Goethes Frau) 134, 158, 366<br />

Goethe, Johann Caspar (Goethes Vater) 355<br />

Goethe, Johann Wolfgang von 15, 20, 25, 28, 29, 32, 35, 45, 49, 52–55, 58, 61,<br />

65, 68, 73–77, 85–88, 97, 98, 102, 105, 109, 111, 112, 115, 117, 120, 125,<br />

126, 128, 131–133, 145, 153, 156, 158–162, 165–167, 169, 171, 176, 178, 181,<br />

400 401


182, 185, 187–189, 194, 200, 202, 204, 206, 209, 217, 228, 230, 234, 245,<br />

249, 250, 252, 253, 255, 256, 258, 259, 266, 270, 272, 283, 285, 293, 294,<br />

307, 313, 317, 320, 321, 323, 324, 333, 341, 342, 355–359, 362, 363, 370,<br />

375, 381, 395<br />

Goethe, Katharina Elisabeth (Goethes Mutter) 158<br />

Goethe, Ottilie von (Goethes Schwiegertochter) 158<br />

Goethe, Walther von (Goethes Enkel) 134<br />

Goethe-Gesellschaft 45, 58, 170, 249, 346<br />

Goethe-Jahrbuch 73, 74, 169, 249, 320<br />

Götting, Gerald 208<br />

Goetz, Curt 64<br />

Gorki, Maxim 51, 217, 362<br />

Gottfried d.i. Gottfried Schlesier<br />

Gottsched, Johann Christoph 325<br />

Goya, Francisco José de 192<br />

Gräf, Hans Gerhard 86<br />

Grappin, Pierre 346<br />

Grass, Günter 230<br />

Greco, El 192<br />

Grimm, Hans 191<br />

Grock (Pseudonym von Adrian Wettach) 257<br />

Groth, Erika geb. Strauß 236, 239<br />

Groth, Karin (Tochter der vorigen) 168, 236, 239<br />

Grundig, Hans 64<br />

Günther, Anton 281<br />

Guillaume, Günter 353<br />

Gustav II Adolf, schwedischer König 377<br />

Guyau, Jean-Marie 315<br />

Gysi, Kl<strong>aus</strong> 200<br />

Haase, Gerhard 181, 182<br />

Haeckel, Ernst 153<br />

Händel, Georg Friedrich 160, 281, 325, 327<br />

Hager, Kurt 104<br />

Hammarskjöld, Dag 354<br />

Hartmann, Hans 387, 389<br />

Hartsch, Erwin 64<br />

Haueis, Albert 193<br />

Hauptmann, Gerhart 109, 344<br />

Haydn, Joseph 14, 103, 160, 352<br />

Hebbel, Christian Friedrich 123, 124<br />

Hebel, Johann Peter 19, 20<br />

Hecker, Jutta 126<br />

Hecker, Max (Vater der vorigen) 126<br />

Heem, Jan Davidsz de 170<br />

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 57, 186<br />

Heim, Ernst Ludwig 326<br />

Heimburg, Wilhelmine 232<br />

Heimeran (Verlag) 60<br />

Heimeran, Ernst 60<br />

Heinemann, Fritz 185<br />

Heinemann, Gustav 260<br />

Heinrich der Löwe, Herzog von Bayern und Sachsen 284<br />

Heinrich VIII., englischer König 29, 295<br />

Heinrich, Walter 318<br />

Henschel, Anneliese 274<br />

Herbart, Johann Friedrich 158<br />

Herdan-Zuckmayer, Alice 229<br />

Herder, Johann Gottfried 97<br />

Hermann der Cherusker (Arminius) 65, 218<br />

Hermann, Paul 202, 220, 302<br />

Hermes, Gertrud 386<br />

Hermsdorf, Kl<strong>aus</strong> 332<br />

Herrmann, Reinhold 136, 394<br />

Hertel, Johannes 153<br />

Hesse, Adele (Schwester von Hermann Hesse) 279<br />

Hesse, Hermann 12, 25, 47, 50, 57, 58, 103, 144, 158, 177, 178, 184, 188, 192, 193,<br />

244, 246, 248, 249, 262, 270, 278, 279, 317, 331, 334, 335, 344, 374, 394<br />

Hesse, Hermann (Großvater des vorigen) 270<br />

Hesse, Johannes (Vater von Hermann Hesse) 270, 279<br />

Hesse, Martin (Sohn von Hermann Hesse) 193<br />

Hesse, Ninon (Frau von Hermann Hesse) 279<br />

Heuss, Theodor 124, 260<br />

Hey, Wilhelm 212<br />

Hindenburg, Paul von 260<br />

Hitler, Adolf 29, 175, 185, 196, 202, 246, 260, 276, 300, 318, 330, 365, 366<br />

Hoche, Alfred Erich 227, 289<br />

Hochhuth, Rolf 229, 231, 232<br />

Hofmannsthal, Hugo von 80<br />

Holbein, Hans 200<br />

Homer 202<br />

Houben, Heinrich Hubert 253<br />

Huizinga, Johan 209<br />

Humboldt, Alexander von 35<br />

Humboldt, Wilhelm von 320, 357<br />

Hunger, Carl Friedrich Moritz 309<br />

402 403


Hunnius, Monika (Nichte von Hermann Hesse) 270<br />

Huth, Franz 227<br />

Ihl, Wolfgang 327<br />

Insel-Verlag 323, 395<br />

Internationaler Versöhnungsbund (International Fellowship of Reconcilation) 332,<br />

359, 386–388, 390<br />

Irene d.i. Irene Strauß<br />

Jacobi, Friedrich Heinrich 158<br />

Jahn (Ofensetzer) 112, 113<br />

Jahn, Frieda 69<br />

Jaques-Dalcroze, Émile 201<br />

Jaspers, Karl 113, 124<br />

Jean Paul 98<br />

Jericke, Alfred 74<br />

Jessenin, Sergej 51<br />

Jesus Christus 59<br />

Johann, sächsischer König 245, 325<br />

Johannes, Apostel 276<br />

Joseph II., deutscher Kaiser 200<br />

Jünger, Ernst 365<br />

Jung, Carl Gustav 314, 386<br />

Kästner, Erich 113<br />

Kafka, Franz 324, 331, 332<br />

Kafka, Hermann (Vater des vorigen) 332<br />

Kant, Hermann 255<br />

Kant, Immanuel 25<br />

Kappus, Franz Xaver 219<br />

Karin d.i. Karin Groth<br />

Karl I., der Große, römischer Kaiser 74, 104<br />

Kaufmann, Hans 332<br />

Kawerau, Siegfried 386<br />

Kayser, Hans 143–147<br />

Keienburg, Ernst 326<br />

Kellermann, Bernhard 265<br />

Kennedy, John Fitzgerald 354<br />

Kepler, Johannes 146<br />

Kesselring, Max 288, 394<br />

Kessler, Georg Wilhelm 326<br />

Kestner, August (Sohn von Charlotte und Johann Christian Kestner) 230, 231<br />

Kestner, Charlotte (Lotte) geb. Buff 230<br />

Kestner, Johann Christian (Mann der vorigen) 158, 231<br />

King, Martin Luther 354<br />

Kippenberg, Anton 318<br />

Kissinger, Henry 352, 354<br />

Klinger, Max 325<br />

Klopstock, Friedrich Gottlieb 194<br />

Knackfuß, Hermann 278<br />

Knye, Dr. 159<br />

König, Johannes 208<br />

Körner, Christian Gottfried 325<br />

Körner, Theodor 325<br />

Körting, Berthold 376, 387<br />

Kokoschka, Oskar 193<br />

Kolbe, Georg 11, 112, 114, 171, 213, 293, 325, 334, 356, 392, 395<br />

Kolbig, Joachim 63<br />

Kollwitz, Käthe 260<br />

Kompert, Leopold 123<br />

Kowa, Victor de 64<br />

Kröpp, Friedrich 163, 302, 395<br />

Kröpp, Gustav (Vater des vorigen) 47, 163, 187, 301, 302, 395<br />

Kröpp, Margret (Frau des vorigen) 163, 301, 302, 395<br />

Krüger, Felix 335, 336<br />

Kruif, de (Orchideenzüchter) 353<br />

Kube, Felix von 292<br />

Kubin, Alfred 114<br />

Kügelgen, Gerhard von 325<br />

Kuehl, Gotthardt 304, 325<br />

Kuhnau, Johann 325<br />

Kunis, Dr. 138<br />

Lamprecht, Karl Gotthard 325<br />

Langner, Heinrich 169, 206, 207, 211<br />

La Roche, Sophie von 153, 158<br />

Lavater, Johann Caspar 158<br />

Lawrence, Thomas Edward 80, 82<br />

Lehmann, Johann Gottlob 325<br />

Lehzen, Marina 141, 230<br />

Leibniz, Gottfried Wilhelm 183<br />

Leitzmann, Albert 126<br />

Lenin, Wladimir Iljitsch 105, 365<br />

Lenz, Johann Georg 167<br />

Leonardo da Vinci 200<br />

Lessing, Gotthold Ephraim 18, 181, 182, 325<br />

404 405


Lessing, Theodor 215, 322<br />

Lichtenberg, Georg Christoph 117, 182, 183<br />

Liebknecht, Karl 82<br />

Lili d.i. Elisabeth Schönemann<br />

Litt, Theodor 63, 335, 336<br />

Logau, Friedrich von 99<br />

Lotte d.i. Charlotte Kestner<br />

Ludwig XIV., französischer König 100, 101<br />

Ludwig, Emil 159<br />

Lübke, Heinrich 260<br />

Luise, Kronprinzessin 226<br />

Lumbeck, Emil 373<br />

Lumumba, Patrice 354<br />

Luther, Martin 181, 208, 373<br />

Luxemburg, Rosa 82<br />

Lydenberg, Harry Miller 142<br />

Majakowski, Wladimir 47<br />

Mann, Thomas 102, 103, 107, 231, 295, 344<br />

Mann, Victor 112<br />

Mark Aurel 218<br />

Mark Twain 100, 101<br />

Markert (Schneider) 17<br />

Marlitt, Eugenie 232<br />

Marschner, Heinrich August 325<br />

Marx, Karl 28, 181, 182, 185, 196, 200, 203, 365<br />

Mauersberger, Rudolf 304<br />

Maximilian I., deutscher Kaiser 308<br />

Maximilian Franz von Österreich 103<br />

May, Frau 194<br />

Mayer, Hans 45, 114, 115<br />

Mehnert, Reinhard 355, 363<br />

Mendelssohn-Bartholdy, Felix 301<br />

Menuhin, Yehudi 53, 76, 294<br />

Merck, Johann Heinrich 25, 88, 141<br />

Merian, Maria Sibylla 245<br />

Metternich, Clemens Fürst von 169<br />

Metzger, Max Josef 329, 386<br />

Metzner, Werner 112, 114<br />

Meyer, Johann Heinrich 55, 74, 75, 97, 126, 158<br />

Middell, Eike 334<br />

Mierau, Fritz 15, 16, 47, 49, 50, 370<br />

Mierau, Sibylle 15<br />

Mierau, Sieglinde 15<br />

Millet, Jean-François 99<br />

Mitchell, Edgar 298<br />

Mittag, Herr 328<br />

Mörike, Eduard 53, 355<br />

Mohammed, Prophet 201<br />

Mohr, Adolf 341, 342, 392<br />

Molière, Jean-Baptiste 92, 351<br />

Montaigne, Michel de 373<br />

Der Morgen 77<br />

Morgenstern, Lothar 232, 312, 318<br />

Moritz, Karl Philipp 88<br />

Morus, Thomas 295<br />

Mozart, Wolfgang Amadeus 40, 42, 53, 65, 90, 113, 160, 197, 200, 265, 281, 287,<br />

305, 359<br />

Müller, Alfred Dedo 12, 386, 387<br />

Müller, Friedrich von (Kanzler Müller) 25, 161<br />

Müller, Rudolf 149<br />

Müller, Sokrates 296<br />

Münch, Rudolf 168, 184, 234, 244, 329<br />

Münchh<strong>aus</strong>en, Börries von 53<br />

Müntzer, Thomas 295<br />

Muret-Sanders (Wörterbuch) 180<br />

Napoleon I. Bonaparte 28, 29, 185, 284, 330<br />

Naumann, Bruno 325<br />

Naumann, Martin 322<br />

Nero, römischer Kaiser 246<br />

Neroslow, Alexander 243, 303, 304, 342<br />

Neroslow, Gertrud 243, 303<br />

Nestler, Waldus 387<br />

Neuber, Friederike Caroline (die Neuberin) 325<br />

Neuenhahn, Gisela (geb. Schade) 15<br />

New Education Fellowship (Bund für Neue Erziehung) 314, 386<br />

Newton, Isaac 170<br />

Ney, Elly 91<br />

Nicolai, Christoph Friedrich 27<br />

Niekisch, Ernst 235<br />

Niemöller, Martin 38, 395<br />

Nieritz, Gustav 325<br />

Niethammer sen., Albert 101, 102<br />

Nietzsche, Friedrich 57, 107, 108, 182, 196, 288, 325, 365, 394<br />

Nikisch, <strong>Arthur</strong> 236<br />

406 407


Nixon, Richard 264, 354<br />

Nobel, Alfred (Nobel-Preis) 178<br />

Noth, Gottfried 255<br />

Noth, Mathilde (Tante des vorigen) 255<br />

Nowakowski, Elisabeth 149, 243<br />

Oberreit, Hermann 152, 325<br />

Occident (Verlag) 143<br />

Oeser, Adam Friedrich 52<br />

Oistrach, David 76<br />

Opitz, Heinz 243<br />

Ornstein, Richard 169<br />

Ottilie d.i. Ottilie von Goethe<br />

Otto, Julius 325<br />

Ovid 218<br />

Pabst, Waldemar 82<br />

Pacelli, Nuntius (später Papst Pius XII.) 231<br />

Pädagogischer Verein <strong>Waldheim</strong> 98<br />

Palitzsch, Johann Georg 325<br />

Palmer, Harold Edward 180<br />

Partsch, Joseph 310, 311<br />

P<strong>aus</strong>e, Otto (Firma P<strong>aus</strong>e und Leonhard) 17<br />

Penzel (Notenbankdirektor) 242<br />

Peschel, Carl Gottlieb 325<br />

Pestalozzi, Johann Heinrich 35, 91, 158<br />

Pestalozziverein 94, 95<br />

Peter d.i. Peter Weiße<br />

Petrarca, Francesco 202<br />

<strong>Pfeifer</strong>, <strong>Arthur</strong> 7–16, 383–395<br />

<strong>Pfeifer</strong>, Hans (Sohn von <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>) 11, 18, 151, 227, 318, 383, 386, 387<br />

<strong>Pfeifer</strong>, Hedwig (Mutter von <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>) 236, 239, 383<br />

<strong>Pfeifer</strong>, Irene s. Irene Strauß<br />

<strong>Pfeifer</strong>, Josef (Vater von <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>) 18, 310, 344, 383<br />

<strong>Pfeifer</strong>, Josefa (Schwester von <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>) 150, 340<br />

<strong>Pfeifer</strong>, Margarete geb. Weiße (Frau von <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>) 11, 383<br />

<strong>Pfeifer</strong>, Werner 135<br />

Pflugk, Henriette von 149<br />

Philipp II., spanischer König 29<br />

Philipp III., spanischer König 232<br />

Picasso, Pablo 192<br />

Pieck, Wilhelm 260<br />

Piper und dessen Vater 279<br />

Pius XII., Papst 231<br />

Planck, Erwin 170<br />

Planck, Max (Vater des vorigen) 170<br />

Plato 55, 137, 144, 202, 265, 349<br />

Plautus, Titus Maccius 312<br />

Plutarch 202, 372, 373<br />

Pönisch, Gerhard 42, 90, 228<br />

Pöppig, Eduard Friedrich 325<br />

Pückler-Muskau, Fürst Hermann von 266, 325<br />

Pythagoras 146, 242<br />

Quack, Friedrich 208<br />

Rabelais, François 243, 244<br />

Räder, Erich 260<br />

Raffael 185, 200<br />

Ranke, Leopold von 315, 364<br />

Ratzel, Friedrich 99, 310, 383<br />

R<strong>aus</strong>chenbach, Gunther (Vetter von Konrad Schlesier) 93<br />

Reclam, Philipp jun. (Verlag) 323<br />

Regis, Gottlob 244, 245<br />

Reinhard d.i. Reinhard Mehnert<br />

Reinhard d.i. Reinhard Schlesier<br />

Rembrandt 173, 286<br />

Renate d.i. Renate Strauß<br />

Renker (Großmutter von <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>) 149, 236, 239, 299<br />

Reuter, Fritz 261<br />

Reuter, Hans-Heinrich 73<br />

Richard III., englischer König 298<br />

Richter, Ludwig 325<br />

Rickert, Heinrich 240<br />

Ried, Georg 229<br />

Rieger, Ilse 92, 334<br />

Riemann, Hugo 42, 102<br />

Riemenschneider, Tilman 379<br />

Riemer, Friedrich Wilhelm 158, 234<br />

Rietschel, Ernst Friedrich August 325<br />

Rilke, Rainer Maria 219<br />

Ringelnatz, Joachim 325<br />

Röhm, Ernst 368<br />

Rolland, Romain 102, 103, 105, 109, 345, 346<br />

Roosa, Stuart 298<br />

Rosegger, Peter 232<br />

408 409


Rost (Buchhandlung) 183<br />

Rousseau, Jean-Jacques 158, 161, 328<br />

Rowohlt (Verlag) 252<br />

Rudolph I. von Habsburg, deutscher König 284<br />

Rümelin, Gustav 58<br />

Runge, Philipp Otto 158<br />

Russell, Lord Edward Frederick Langley 46<br />

Rütten & Loening (Verlag) 233<br />

Sächsischer Lehrerverein 148<br />

Sailer-Jackson, Otto 251<br />

Sallust 80<br />

Salomo, jüdischer König 158, 298<br />

Sandner, Karl 47, 243<br />

Sarrasani 387, 389<br />

Sarrasani s. Stosch-Sarrasani<br />

Sartre, Jean-Paul 113<br />

Sauer, Georg 23, 26, 32, 93, 119, 159, 179, 195, 331<br />

Sauer, Johanna 23, 32, 88, 93, 119, 143, 159, 168, 179, 220<br />

Saul, jüdischer König 306<br />

Saupe, Helmut 313<br />

Schade, Gertrud 7–9, 15, 180, 395<br />

Schade, Gisela (Stups) (Tochter der vorigen) 7, 15, 19, 31, 41–43, 53, 60, 68, 71,<br />

90, 102, 105, 180, 190, 318<br />

Schade, Ingrid (Schwester der vorigen) 7<br />

Scheel, Walter 354<br />

Schiller, Friedrich von 20, 54, 68, 76, 97, 107, 126, 133, 159, 255, 315, 343,<br />

366, 373<br />

Schilling, Ilse 317<br />

Schleinitz, Ulrich 318<br />

Schlesier, Bernhard (Sohn von Hans und Ilse Schlesier geb. R<strong>aus</strong>chenbach) 184,<br />

195, 228, 318<br />

Schlesier, Christian (Sohn von Paul und Erika Schlesier geb. Thäßler) 204, 264,<br />

355<br />

Schlesier, Christine (Frau von Gottfried Schlesier) 15, 355<br />

Schlesier, Gottfried (Sohn von Paul und Erika Schlesier) 15, 187, 355, 372<br />

Schlesier, Hans (Onkel des vorigen) 195<br />

Schlesier, Ilse geb. Frega (Frau von Christian Schlesier) 355<br />

Schlesier, Ilse geb. R<strong>aus</strong>chenbach (Frau von Hans Schlesier) 184, 205, 318<br />

Schlesier, Konrad (Sohn der vorigen) 93, 195, 318<br />

Schlesier, Reinhard (Sohn von Paul und Erika Schlesier) 66<br />

Schmidt, Eberhard 351<br />

Schmidt, Erich 355<br />

Schmidt, Hermann Otto 207<br />

Schmidt, Margarete 65, 158<br />

Schneider, Karl 180<br />

Schön, Erich 309<br />

Schönemann, Elisabeth (Lili) 176<br />

Schönert, Renate 69, 71<br />

Scholz, Gerhard 332<br />

Schopenhauer, <strong>Arthur</strong> 182, 255, 321, 347, 353<br />

Schröder, Ralf 217<br />

Schubarth, Karl Ernst 132<br />

Schubert, Franz 282, 343, 352<br />

Schuchardt, Paul Ottomar 337<br />

Schütz, Heinrich 325<br />

Schultz, Christoph Ludwig Friedrich 132, 158<br />

Schumann, Karsten 113, 185, 186, 281<br />

Schumann, Kurt (Vater des vorigen) 11, 62–64, 93, 106, 113, 214, 218, 281, 392<br />

Schumann, Martha (Frau des vorigen) 281<br />

Schumann, Robert 325<br />

Schunke (Geschäft in <strong>Waldheim</strong>) 194<br />

Schurig, <strong>Arthur</strong> 90<br />

Schwarz, Max Karl 326<br />

Schweitzer, Albert 87, 138<br />

Schwenk, Theodor 126<br />

Schwerdgeburth, Carl August 317<br />

Seidel, Helmut 11, 47, 56, 61, 110, 127, 162, 163, 180, 209, 212, 214, 218, 222,<br />

296, 395<br />

Seidel, Ina 207, 208<br />

Semper, Gottfried 356<br />

Semper, Manfred (Sohn des vorigen) 356<br />

Senff, Wilhelm 51<br />

Seume, Johann Gottfried 98<br />

Sévigné, Marie de Rabutin-Chantal Marquise de und deren Tochter 100, 101<br />

Shakespeare, William 58, 59, 106, 131, 202, 213, 227, 245, 295, 297, 301, 339,<br />

357, 363, 395<br />

Shaw, George Bernard 225<br />

Shepard, Alan 298<br />

Siegmund-Schultze, Friedrich 386<br />

Silbermann, Gottfried 325<br />

Sinn und Form 182<br />

Sokrates 55, 154, 242, 264<br />

Solshenizyn, Alexander 353, 362, 363<br />

Sophokles 68, 131<br />

Speckter, Otto 212<br />

410 411


Speidel, Hans 314<br />

Spengler, Oswald 363<br />

Spinoza, Baruch (Benedict) 315<br />

Spitzweg, Carl 228, 256, 257<br />

Spoerl, Alexander 230<br />

Sporschil, Johann 64<br />

Spranger, Eduard 63<br />

Stalin, Jossif Wissarionowitsch 246, 330<br />

Stauffenberg, Kl<strong>aus</strong> Graf Schenk von 330<br />

Stein, Charlotte von 156, 157<br />

Stein, Gottlob Friedrich (Fritz) Konstantin Freiherr von 158<br />

Steiner, Rudolf 144<br />

Stephan, Heinrich von 323<br />

Sternberg, Kaspar Graf von 158<br />

Stevenson, Lilian 372, 387<br />

Stifter, Adalbert 14, 65, 102, 110, 123, 124, 265<br />

Stockh<strong>aus</strong>en, Karlheinz 294<br />

Stolberg, Auguste Louise Gräfin zu 125, 158<br />

Stoph, Willi 284, 285<br />

Storm, Theodor 110, 334<br />

Stosch-Sarrasani, Hans 251, 387<br />

Stradivari, Antonio 71<br />

Strauß, Erich (Schwiegersohn von <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>) 93, 392, 393<br />

Strauß, Frieder (Sohn des vorigen) 13, 21, 181<br />

Strauß, Herbert (Bruder von Erich Strauß, Vater von Renate Strauß) 392<br />

Strauß, Irene geb. <strong>Pfeifer</strong> (Tochter von <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> und Frau von Erich Strauß)<br />

11, 21, 222, 383, 387, 395<br />

Strauß, Johann 281<br />

Strauß, Renate verh. Schmidt-Rhaesa (Tochter von Elfriede und Herbert Strauß)<br />

297, 392<br />

Str<strong>aus</strong>s, Richard 103<br />

Strauß, Sibylle (Tochter von Irene und Erich Strauß) 13, 21, 181<br />

Stuckmann, Heinz D. 230<br />

Stups d.i. Gisela Schade<br />

Suhrkamp (Verlag) 281, 317<br />

Suttner, Bertha von 298, 299<br />

Tacitus, Publius (oder Gaius) Cornelius 216<br />

Taylor, Frederick Winslow (Taylor-System) 175<br />

Telemann, Georg Philipp 328<br />

Tennyson, Lord Alfred 339<br />

Thalheim, Hans-Günther 332<br />

Thomas von Aquin(o) 245, 295<br />

Thukydides 67<br />

Thyssen-Bornemisza, Heinrich Baron 124<br />

Tizian 192<br />

Töpel, Curt 80, 213, 215, 216, 219, 227, 255, 271, 278, 312, 324, 331, 341, 354,<br />

363, 372, 375, 381<br />

Tolstoi, Leo 351<br />

Trebra, Friedrich Wilhelm Heinrich von 158<br />

Treitschke, Heinrich 325<br />

Tschirschky und Bögendorff, Heinrich Leopold von 210<br />

Tunger, Albrecht 66<br />

Turner, William 380<br />

Ulbricht, Walter 104, 175, 260, 325<br />

Die Union 130, 160<br />

Unruh, Fritz von 292<br />

Veil, Wolfgang Heinrich 159<br />

Velhagen & Klasings Monatshefte 232<br />

Verlag Freies Geistesleben 127<br />

Villers, Alexander von (Alexandre de) 216, 291<br />

Vischer, Friedrich Theodor 58, 131<br />

Vivaldi, Antonio 343<br />

Völkischer Beobachter 210<br />

Voigt, Christian Gottlob von 158, 249<br />

Voigt, Gunter 36<br />

Voigt, Paul (Großvater des vorigen) 36<br />

Voltaire 188<br />

Vulpius, Christiane s. Christiane von Goethe<br />

Vulpius, Wolfgang 134<br />

Waagen, Gustav Friedrich 27<br />

Wachsmuth, Andreas Bruno 74, 176, 256, 320<br />

Wagner (Schülerin von <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>) und deren Vater 349<br />

Wagner, Richard 103, 196, 306, 325<br />

Wahl, Hans 317<br />

Walther, Alwin (Auto-Walther) 183<br />

Walther von der Vogelweide 229, 379<br />

Weber, Gertrud 62<br />

Weber, Heinz 138<br />

Wegerdt, Christian 48<br />

Weicker, Gotthold 62, 63, 394<br />

Weinhold, Paul 383, 386, 390<br />

Weinreich, Dr. (Senftenberg) 253<br />

Weiße, Margarete s. Margarete <strong>Pfeifer</strong><br />

412 413


Weiße, Peter 304, 325<br />

Weißker, Franz 153, 184<br />

Wellm, Alfred 264<br />

Wendt und Kühn (Grünhainichen) 245<br />

Wendt, Erich 124<br />

Widerstand 235<br />

Wiechert, Ernst 151<br />

Wieland, Christoph Martin 91<br />

Wilde, Oskar 251<br />

Wilhelm I., preußischer König 260<br />

Wilhelm II., deutscher Kaiser 174, 260, 296<br />

Winckelmann, Johann Joachim 51, 111<br />

Winkler, Herr 17<br />

Wittig, Doris und deren Vater 59<br />

Wöhler, Friedrich 372<br />

Wölfflin, Heinrich 276–278<br />

Wolf (Rath<strong>aus</strong> <strong>Waldheim</strong>) 183<br />

Wolf, Christian 47<br />

Wolf, Friedrich August 111<br />

Wollf, Karl 318<br />

Wollrad, Rolf 243<br />

Woltereck, Richard 386<br />

Xerxes I., persischer König 185, 246<br />

Zelter, Carl Friedrich 126, 158, 395<br />

Zille, Heinrich 377<br />

Zimmermann, Artur 210<br />

Zöphel, Kurth 70<br />

Zuckmayer, Carl 223<br />

Zweig, Arnold 51<br />

Zweig, Stefan 351<br />

Zwillinge d.s. Sibylle und Frieder Strauß<br />

Danksagung<br />

Für Hinweise und Mitteilungen zum Leben und Wirken <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s, des Schul-<br />

reformers und Lebenslehrers, des streitbaren Pazifisten und praktischen Philoso-<br />

phen, des Goethe-, Schopenhauer- und Burckhardtliebhabers, des Bewunderers<br />

der Musik- und Kristallwelt, des in Literatur und Kunst Bewanderten, des Garten-<br />

freunds und Blumenmalers, des Hand-Werkers (Bäckers, Buchbinders, Fotografen,<br />

Modellbauers) – des Enzyklopädisten, danken wir auf das herzlichste Elisabeth<br />

Albert (Kriebethal), Ellen Bertram (Deutsche Bibliothek, Leipzig), Ursula Böhme<br />

(Ev.-Luth. Kirchgemeinde <strong>Waldheim</strong>), Ester Böhmer (<strong>Waldheim</strong>), Christian Brück-<br />

ner (Dettenheim), Frau Buschmann (Stadtverwaltung Zschopau), Ute Dürr (Karls-<br />

ruhe), Marianne Foerster (Potsdam-Bornim), Viktoria Fuchs (Deutsches Literatur-<br />

archiv, Marbach), Frau Ganz (Sächsisches Staatsarchiv Leipzig), Huldrych Gastpar<br />

(Schweizerisches Literaturarchiv Bern), Martina Geigenmüller (Universitätsarchiv<br />

Leipzig), Erika Groth (München), Ullrich Hahn (Villingen), Frau Hartisch (Bundes-<br />

archiv Berlin), Frau Hartmann (Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden), Frau B.<br />

Hengst (Stadtverwaltung <strong>Waldheim</strong>), Wolfgang Ihl (<strong>Waldheim</strong>), Uwe Krenzlin (Mit-<br />

teldeutscher Rundfunk, Leipzig), Frau E. Kretzschmar (Sächsisches Staatsarchiv<br />

Leipzig), Charlotte Kunze (Zschopau), Sabine Landes (Insel-Verlag, Frankfurt am<br />

Main und Leipzig), Jörg Limberg (Stadtverwaltung Potsdam), Frank-Michael Loebe<br />

(Zwickau), Julius Markschiess-van Trix (Berlin), Reinhard Mehnert (Ostrau/Sa.),<br />

Torsten Metelka (Berlin), Sibylle Mierau (Berlin), Norbert Müller (Leipzig), Sa-<br />

rah Müller (Stadtarchiv Hannover), Gisela Neuenhahn (Potsdam), Heinrich Neyer<br />

(<strong>Waldheim</strong>), Andreas Pehnke (Chemnitz), Maria Pehta (Rathenow), Hans <strong>Pfeifer</strong><br />

† (Dresden), Herrn Pfirschke (Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden), Frau M.<br />

Prätzel (Städtisches Zentrum für Geschichte und Kunst Riesa), Gunter Rentzsch<br />

(Goethe-Gesellschaft, Weimar), Familie Gottfried Schlesier (<strong>Waldheim</strong>), Johanna<br />

Renate Schmidt-Rhaesa (Osnabrück), Gisela und Christian Schneider (Wald-<br />

heim), Hermann und Traudel Schneider (Döbeln), Karsten Schumann (Buseck),<br />

Uwe Schweikert (Stuttgart), Christa Stache (Evangelisches Zentralarchiv Berlin),<br />

Erich und Irene Strauß † (Nürnberg), Maria von Tiesenh<strong>aus</strong>en (West Vancouver),<br />

Albrecht Tunger (Trogen/Schweiz), Martin Viergutz (Berlin), Johannes Vogel (Frei-<br />

tal-Wurgwitz), Gunter Voigt (Potsdam), Rainer Voigt (Chemnitz), Christa und Peter<br />

Weiße (Gera), Ute Wiesner (Stadtverwaltung Döbeln), Herrn Zarwel (Bundesarchiv<br />

Berlin), Hans Zeidler (Chemnitz), Eberhard Zimmermann (Dresden).<br />

414 415


416<br />

Abbildungsnachweis<br />

Christian Brückner: Umschlagvorderseite (Foto)<br />

Bundesarchiv, Berlin: S. 391<br />

Evangelisches Zentralarchiv, Berlin (Sig. 51/J IVe): S. 388<br />

<strong>Freundeskreis</strong>es „<strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>“ e.V., Archiv, <strong>Waldheim</strong>: Umschlagvorderseite (Fak-<br />

simile), S. 385, 396<br />

Erika Groth: Umschlaginnenseite (1, 2, 6)<br />

Sammlung Julius Markschiess-van Trix: S. 389<br />

Sammlung Sieglinde und Fritz Mierau: S. 393<br />

Sammlung Gisela Neuenhahn: Umschlag (Zeichnung), Umschlagrückseite (Foto),<br />

Umschlaginnenseite (3, 4, 7)<br />

Sammlung Gottfried Schlesier: Umschlaginnenseite (8)<br />

Sammlung Johannes Vogel: Umschlaginnenseite (5)<br />

Universitätsarchiv Leipzig: S. 384

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